Herrscherpanegyrik unter Trajan und Konstantin: Studien zur symbolischen Kommunikation in der römischen Kaiserzeit 3161492129, 9783161492129

Welche Funktion erfüllte die Herrscherpanegyrik der römischen Kaiserzeit? Handelte es sich hierbei um "propagandist

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German Pages 454 [456] Year 2007

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik
Kapitel eins: Der Panegyricus des Plinius: Formierung einer Tradition
1. Der Stellenwert der Panegyrik in Rom
2. Von der gratiarum actio zum Panegyricus
3. Der Tyrann, die Topik und das Problem der Glaubwürdigkeit
4. Vom erzwungenen Spektakel zur selbstbewußten Inszenierung
5. Die Konstituierung des trajanischen Principats im Ritual
a) Kommando und Kameraderie
b) Der Adventus Trajans in Rom
c) Princeps in senatu
d) Akklamationen und Affekte
6. Der Herrscher als Chamäleon: Ein Princeps, viele Rollen
a) Nusquam ut deo
b) Recusatio
c) Plinius und der Senat
d) Der Panegyricus als Selbstrechtfertigung
7. Zusammenfassung
Kapitel zwei: Bild und Selbstbild des Redners von der hohen Kaiserzeit bis zur Spätantike: Zwischen Schule und Forum
1. Von Plinius zu den gallischen Rhetoren: „Dilettantismus“ und Profession
2. Der vielfache Nutzen der Rhetorik: Eumenius von Augustodunum
3. Eine Rhetorik der Form
Zweiter Teil: Stadt und Kaiser – Konstantin im Spiegel der Panegyrik
Historische Situierung
Kapitel drei: Panegyricus Latinus V (VIII): Die gratiarum actio Augustodunums
1. Redner und Anlaß
2. Historischer Kontext
3. Struktur und Funktion des Exordiums
a) Das Exordium in Theorie und Praxis der epideiktischen Rede
b) Propositio und Divisio
4. Die narratio – Von Römern und Aeduern
a) Konstantin in Augustodunum – Der Adventus als Heilsgeschehen?
b) Die Städte und der Kaiser: Formen der Kommunikation
c) „Die Mühen des Bittens ersparen“: Rituale des Antiritualismus I
d) Ein Kaiser in Tränen
e) Vom Zeichenwert der Tränen und der Funktion des Mitleids
f) Rituale der Nähe, Zeremoniell der Distanz
g) Zwei Wege, eine Wohltat zu erweisen: Rituale des Antiritualismus II
h) iure oder iuste? – Der Kaiser als Mittler zwischen Recht und Billigkeit
5. Die Peroratio
6. Zusammenfassung: Zwischen rationaler Verwaltung und personaler Herrschaft – Die Dankrede als Mittel des Statuserhalts
Kapitel vier: Panegyricus Latinus XII (IX): Sich einflüstern ins Ohr des Kaisers
1. Historischer Kontext
2. Der Redner
3. Das Exordium
4. Die narratio
a) Der Kaiser als Souverän über die Zeichen
b) Wider die Spezialisten: divinatio per naturam
c) Strategien der Vereinnahmung I: Konstantin als Verehrer Apolls
d) Strategien der Vereinnahmung II: Konstantin als „Bischof“
e) Tyrannentopik und ‚Kampf der Werte
f) Noch einmal: Kommando und Kameraderie
g) Eine Stadt befreien
h) Vom Wert der Wunden
i) Triumph oder Adventus? Das Problem und die Lösung Konstantins
j) Triumph oder Adventus? Die Lösung des Panegyristen
5. Die Eroberung Roms in der herrscherlichen Selbstdarstellung
a) Der ingressus Augusti in der Repräsentationskunst
b) Dies munerum: Die Inszenierung des Kaisers
c) Aneignung und Korrektur – Zur Münzprägung Konstantins
6. Die Germanenkriege Konstantins
7. Zusammenfassung
Ergebnis
Literaturverzeichnis
1. Quellen
a) Textausgaben
b) Münzkataloge
2. Sekundärliteratur
Stellenregister
1. Antike Autoren
2. Inschriften
3. Münzen
Sach- und Personenregister
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Herrscherpanegyrik unter Trajan und Konstantin: Studien zur symbolischen Kommunikation in der römischen Kaiserzeit
 3161492129, 9783161492129

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Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies and Texts in Antiquity and Christianity Herausgeber/Editor: Christoph Markschies (Berlin) Beirat/Advisory Board Hubert Cancik (Berlin) · Giovanni Casadio (Salerno) Susanna Elm (Berkeley) · Johannes Hahn (Münster) Jörg Rüpke (Erfurt)

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Christian Ronning

Herrscherpanegyrik unter Trajan und Konstantin Studien zur symbolischen Kommunikation in der römischen Kaiserzeit

Mohr Siebeck

Christian Ronning, geboren 1973; Studium der Alten Geschichte, Mittleren Geschichte, Lateinischen Philologie und Politikwissenschaft in Münster; 2003 Promotion; wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der LMU München, Lehrstuhl für Alte Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

e-ISBN PD F 978-3-16-11341-1 ISBN 978-3-16-149212-9 ISSN 1436-3003 (Studien und Texte zu Antike und Christentum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

Vorwort Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Sommersemester 2003 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommen worden ist. Die Arbeit wurde von Prof. Dr. Johannes Hahn betreut, das Korreferat hat Prof. Dr. Norbert Ehrhardt übernommen, der auch den ersten Anstoß zur Beschäftigung mit dem Thema gegeben hatte. Beiden bin ich zu großem Dank verpflichtet: für vielfältige Anregungen als akademische Lehrer, aber auch große Geduld, wertvolle Hilfen und ein offenes Ohr im Entstehensprozeß dieser Studie und darüber hinaus. Die Dissertation ist aus einem Forschungsvorhaben im Teilbereich B 2 des SFB 493 „Funktionen von Religion in antiken Gesellschaften des Vorderen Orients“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft hervorgegangen. Als althistorischer Leiter des Teilprojektes und direkter Betreuer hat mir Johannes Hahn nicht nur die Möglichkeit zur Mitarbeit in einem weitgespannten Forschungsvorhaben gegeben, sondern auch alle Freiheiten gelassen; der Fortgang der Arbeit wurde von ihm mit stetem Ansporn und kritischem Rat begleitet. Gemeinsam mit Frau Prof. Dr. Barbara Aland hat er es zudem verstanden, unsere interdisziplinär besetzte Forschergruppe immer wieder in fruchtbaren Austausch über die Fächergrenzen hinweg zu bringen. Viele der hier vertretenen Interpretationen sind denn auch im Gespräch mit meinen dortigen Kolleginnen und Kollegen entstanden. Neben dem Sonderforschungsbereich ist mir aber auch das Seminar für Alte Geschichte in Münster in jeder Hinsicht ein idealer Ort für das Lernen und Forschen gewesen. Trotz dessen vorzüglicher Bibliothek kann die vorliegende Arbeit nicht den Anspruch erheben, die umfangreiche Literatur zu den bearbeiteten Themenkreisen gänzlich erfaßt zu haben. Es mußte vielmehr eine dem Untersuchungsschwerpunkt angepaßte Auswahl getroffen werden. Die Leserinnen und Leser bitte ich um Nachsicht für entsprechende Lücken. Wichtige Impulse hat diese Arbeit aber auch von anderen Seiten erfahren. So schulde ich Herrn Prof. Dr. Hagen Keller großen Dank für vielfältige Einblicke in das Arbeitsfeld der „Symbolischen Kommunikation“, die er mir als Studentischer Hilfskraft an seinem Lehrstuhl mit aller Offenheit gewährt hat. Von Prof. Dr. Adolf Köhnken habe ich im Umgang mit

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Vorwort

antiken Texten Begeisterungsfähigkeit lernen dürfen. Und die Münchner althistorischen Kolleginnen und Kollegen haben mich nicht nur herzlich aufgenommen, sondern mir auch eine denkbar gute Arbeitsatmosphäre geschaffen. Stets konnte ich mich bei alldem auf die Unterstützung von Freunden verlassen, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen: Insbesondere Katrin Haghgu, Sabine Panzram und Andrea Sinn haben unterschiedliche Versionen der Arbeit gelesen und kommentiert und dabei die Launen des Verfassers ertragen. Verena Schulze, Ruth Tieskötter und Nina Wienker waren bei der Beschaffung von Literatur behilflich. Eva Baumkamp ist mir sowohl bei der Endredaktion als auch bei der Erstellung des Registers eine in vieler Hinsicht unschätzbare Hilfe gewesen. Und Alexandra Röhr und Carlos da Silva Pinto haben mich mit wunderbaren Essenseinladungen über die Endphase der Dissertation gerettet. Nicht genug danken kann ich meinen Eltern, die mich zu jeder Zeit unterstützt und meinem Vorhaben ihr unablässiges Vertrauen entgegengebracht haben. Schließlich bin ich dem Herausgeber der „Studien und Texte zu Antike und Christentum“, Herrn Prof. Dr. Christoph Markschies, für die Aufnahme in die Reihe äußerst verbunden. Mein Dank gilt darüber hinaus den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages Mohr Siebeck für die zuvorkommende und kompetente Betreuung der Drucklegung.

München, im Dezember 2006

Christian Ronning

Inhaltsverzeichnis Vorwort ...................................................................................................................................V Einleitung .................................................................................................................................1 Erster Teil:

Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik Kapitel eins: Der Panegyricus des Plinius: Formierung einer Tradition..............................24 1. Der Stellenwert der Panegyrik in Rom...............................................................................24 2. Von der gratiarum actio zum Panegyricus ........................................................................32 3. Der Tyrann, die Topik und das Problem der Glaubwürdigkeit ..........................................45 4. Vom erzwungenen Spektakel zur selbstbewußten Inszenierung ........................................50 5. Die Konstituierung des trajanischen Principats im Ritual ..................................................65 a) Kommando und Kameraderie.......................................................................................65 b) Der Adventus Trajans in Rom ......................................................................................69 c) Princeps in senatu ........................................................................................................89 d) Akklamationen und Affekte .........................................................................................95 6. Der Herrscher als Chamäleon: Ein Princeps, viele Rollen ...............................................106 a) Nusquam ut deo ..........................................................................................................112 b) Recusatio ....................................................................................................................115 c) Plinius und der Senat ..................................................................................................118 d) Der Panegyricus als Selbstrechtfertigung ..................................................................126 7. Zusammenfassung ............................................................................................................129 Kapitel zwei: Bild und Selbstbild des Redners von der hohen Kaiserzeit bis zur Spätantike: Zwischen Schule und Forum ...........................................137 1. Von Plinius zu den gallischen Rhetoren: „Dilettantismus“ und Profession .....................139 2. Der vielfache Nutzen der Rhetorik: Eumenius von Augustodunum.................................151 3. Eine Rhetorik der Form ....................................................................................................174 Zweiter Teil:

Stadt und Kaiser – Konstantin im Spiegel der Panegyrik Historische Situierung ..........................................................................................................189 Kapitel drei: Panegyricus Latinus V (VIII): Die gratiarum actio Augustodunums ..............................................................191 1. Redner und Anlaß.............................................................................................................191 2. Historischer Kontext.........................................................................................................200

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Inhaltsverzeichnis

3. Struktur und Funktion des Exordiums.............................................................................. 209 a) Das Exordium in Theorie und Praxis der epideiktischen Rede................................... 218 b) Propositio und Divisio................................................................................................ 225 4. Die narratio – Von Römern und Aeduern........................................................................ 226 a) Konstantin in Augustodunum – Der Adventus als Heilsgeschehen?.......................... 232 b) Die Städte und der Kaiser: Formen der Kommunikation ........................................... 240 c) „Die Mühen des Bittens ersparen“: Rituale des Antiritualismus I.............................. 245 d) Ein Kaiser in Tränen................................................................................................... 254 e) Vom Zeichenwert der Tränen und der Funktion des Mitleids .................................... 257 f) Rituale der Nähe, Zeremoniell der Distanz ................................................................. 266 g) Zwei Wege, eine Wohltat zu erweisen: Rituale des Antiritualismus II .................................................................................... 273 h) iure oder iuste? – Der Kaiser als Mittler zwischen Recht und Billigkeit ................... 282 5. Die Peroratio .................................................................................................................... 286 6. Zusammenfassung: Zwischen rationaler Verwaltung und personaler Herrschaft – Die Dankrede als Mittel des Statuserhalts ...................................................................... 287 Kapitel vier: Panegyricus Latinus XII (IX): Sich einflüstern ins Ohr des Kaisers .............................................................. 291 1. Historischer Kontext ........................................................................................................ 291 2. Der Redner ....................................................................................................................... 296 3. Das Exordium................................................................................................................... 298 4. Die narratio...................................................................................................................... 300 a) Der Kaiser als Souverän über die Zeichen.................................................................. 301 b) Wider die Spezialisten: divinatio per naturam........................................................... 308 c) Strategien der Vereinnahmung I: Konstantin als Verehrer Apolls ............................. 314 d) Strategien der Vereinnahmung II: Konstantin als „Bischof“...................................... 317 e) Tyrannentopik und ‚Kampf der Werte‘ ...................................................................... 320 f) Noch einmal: Kommando und Kameraderie............................................................... 325 g) Eine Stadt befreien ..................................................................................................... 327 h) Vom Wert der Wunden .............................................................................................. 329 i) Triumph oder Adventus? Das Problem und die Lösung Konstantins ......................... 331 j) Triumph oder Adventus? Die Lösung des Panegyristen ............................................. 337 5. Die Eroberung Roms in der herrscherlichen Selbstdarstellung ........................................ 342 a) Der ingressus Augusti in der Repräsentationskunst.................................................... 342 b) Dies munerum: Die Inszenierung des Kaisers............................................................ 351 c) Aneignung und Korrektur – Zur Münzprägung Konstantins...................................... 357 6. Die Germanenkriege Konstantins..................................................................................... 371 7. Zusammenfassung............................................................................................................ 372 Ergebnis................................................................................................................................ 381 Literaturverzeichnis.............................................................................................................. 389 1. Quellen ............................................................................................................................. 389 a) Textausgaben.............................................................................................................. 389 b) Münzkataloge ............................................................................................................. 389 2. Sekundärliteratur .............................................................................................................. 389

Inhaltsverzeichnis

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Stellenregister.......................................................................................................................421 1. Antike Autoren ...........................................................................................................421 2. Inschriften ...................................................................................................................436 3. Münzen .......................................................................................................................437 Sach- und Personenregister ..................................................................................................439

Einleitung Anläßlich des Geburtstags des Kaisers erhob sich ein Grieche aus Kleinasien, den Anwesenden bekannt als Philosoph und ausgezeichneter Redner; er würde Trajan, seinem ‚Freund‘, einen Vortrag halten über das Wesen des wahren und gerechten Königtums, die . Was er zu sagen hatte, war den Gebildeten in seinem Publikum nicht unbekannt; es fußte auf Platon, reichte sogar weiter zurück, und war bei unzähligen ähnlichen Gelegenheiten zu hören gewesen, gehörte zum staatsphilosophischen Rüstzeug einer reichsweiten, zweisprachigen Elite, der Gemeinschaft der    1. Originalität nahm der Sprecher aber auch nicht für sich in Anspruch; er ging das Problem offensiv an: Habe denn Sokrates den Besserwissern nicht die rechte Antwort gegeben, als sie ihn der ewigen Wiederholung überführen wollten? – Wir wissen ja, daß Lügner vieles sagen, und immer in anderer Form, aber denjenigen, die sich an die Wahrheit halten, will nichts Anderes einfallen als immer wieder die Wahrheit. Und überhaupt kennzeichne dies doch Menschen von besonderen Befähigungen, daß sie Mal um Mal über das sprächen, worauf sie sich verstünden: der Arzt über Wohlbefinden und Krankheit, der Steuermann über Jahreszeiten, Winde und Gestirne, der Philosoph vor dem Herrscher eben über Herrschaft und Anleitung der Menschen2. Nur wer bei seinem Thema bleibe, erfülle also die ihm gestellte Aufgabe; Wiederholung bürgt für Sachverstand und Ernsthaftigkeit des Anliegens. Der hier so nachdrücklich der Forderung nach dem stets Neuen entgegenzutreten scheint, ist Dio Cocceianus, genannt Chrysostomus („Gold-

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P. BROWN, Macht und Rhetorik in der Spätantike. Der Weg zu einem „christlichen Imperium“, München 1995 (engl. 1992), 50–63. 75–80. Vgl. zur welterklärenden Funktion der Paideia/eruditio liberalis: Clemens, Recognitiones 1,25 (Rufin): Narrandi ordinem et lucidius ea quae res expetit proferendi eruditio nobis contulit liberalis; S.G. MACCORMACK, Art and Ceremony in Late Antiquity, The Transformation of the Classical Heritage 1, Berkeley/Los Angeles/London 1981, 3 f.; C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors. The Panegyrici Latini. Introduction, Translation and Historical Commentary with the Latin Text of R.A.B. Mynors, The Transformation of the Classical Heritage 21, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1994, 16–24. 2 Dion Chrys., Or. 3,25–28.

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Einleitung

mund“), aus dem bithynischen Prusa3, das Jahr wahrscheinlich 103 oder 104 n. Chr.4, der Ort Rom5. Es handelte sich nicht um sein erstes Zusammentreffen mit dem Kaiser; bereits einige Jahre zuvor, kurz nachdem Trajan die Herrschaft angetreten hatte, war Dio Gelegenheit gegeben worden, seine Begabung mit einer ähnlichen Rede unter Beweis stellen. Aber nicht alles war Talent: Hineingeboren in die Oberschicht seiner Heimatstadt, hatte er eine umfassende Bildung genossen; auch rhetorisches Rüstzeug war ihm in intensiver Unterweisung vermittelt worden, nicht zuletzt die Kunst der Festrede, die Epideixis. Es ging dabei nicht um ein l’art pour l’art, sondern um handfeste Techniken der Selbstbehauptung und sozialen Distinktion; Bildung und Macht formen eine Einheit. Als Erwachsener engagierte sich Dio, wie es Männern seines Standes entsprach, in vielfacher Weise für Prusa, aber auch für den eigenen Ruhm: durch Stiftungen, die bereits sein Vater angeschoben hatte, aber auch durch die Übernahme von Gesandtschaften, durch Verhandlungen mit den Statthaltern der Provinz, ja sogar am Kaiserhof. Dio gehörte zur Elite des Reichs, sicher nicht zur engeren Führungsschicht, aber doch zu den lokalen und regionalen Magnaten mit guten Beziehungen zur Administration und gar zur Zentrale des Imperiums. Unter Domitian fiel er in Ungnade und wurde verbannt; er durfte sich weder in Italien noch in der Heimat aufhalten und führte ein Leben der Wanderschaft. Mit dem Sturz des „Tyrannen“ und dem Principat der „guten“ Kaiser Nerva und Trajan stieg sein Stern jedoch wieder – und strahlte besonders hell bei den feierlichen Gelegenheiten, an denen man ihn aufforderte, den Herrscher des Reiches über die Grundlagen der wahren, wohlgegründeten Macht zu unterrichten. Doch trotz seines Wiederaufstiegs sah sich Dio noch immer als „der Wanderer“, anspruchslos gekleidet, das Haar ungepflegt, anspruchslos in seiner sonstigen Lebensführung, scheinbar ungeschliffen und nachlässig in der Wortwahl, ganz unbeirrbar aber in seinen Forderungen nach gedankli-

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Vgl. zur Person S. SWAIN, Hellenism and Empire. Language, Classicism, and Power in the Greek World. AD 50–250, Oxford 1996, 187–241; C.P. JONES, The Roman World of Dio Chrysostom, Cambridge (Mass.)/London 1978. Zu den Reden über das Königtum J.L. MOLES, The Kingship Orations of Dio Chrysostom, Papers of the Leeds International Seminar 6/ARCA 29, Leeds 1990, 297–375. 4 Zur Datierung: H. VON ARNIM, Leben und Werke des Dio von Prusa, Berlin 1898, 405; vgl. J.L. MOLES, Kingship Orations, 360 f. 5 Darauf weisen zumindest die innertextuellen Hinweise; T. WHITMARSH, Greek Literature and the Roman Empire. The Politics of Imitation, Oxford 2001 (Ndr. 2004), 186– 189. 325–327, vertritt hingegen die Ansicht, dies sei reine Autorenfiktion und rekonstruiert als Aufführungskontext eine epideiktische Darbietung in einem der urbanen Zentren des griechischen Ostens.

Einleitung

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cher Schärfe und untadeligem Handeln6. Das Exil habe ihn verwandelt, von einem Schönredner und Liebhaber der Bonmots hin zu einem Mann, der freimütig und ohne Rücksicht auf Äußerlichkeiten darlegt, was er als Wahrheit erkannt hat7. Man muß ihm das Konversionserlebnis nicht abnehmen, und viele seiner Zeitgenossen, gerade diejenigen, die ihn gut kannten, haben dies entschieden nicht getan8. Darauf kam es aber vielleicht nicht unbedingt immer in dem Maße an, wie es der moderne Beobachter mit seinen Vorstellungen von „Authentizität“ zu postulieren geneigt ist. Dio hatte sich vielmehr entschlossen, gegenüber dem Kaiser und seinen Mitbürgern eine bestimmte Rolle anzunehmen; sie würde in Zukunft sein Handeln orientieren und wies auch bereits in ihren Äußerlichkeiten auf Inhalt und Duktus seiner Ausführungen voraus. Diese Pose ist die des unstet Umherziehenden, des Beladenen und des Dulders, der Anfechtungen und Gefahren immer wieder zu trotzen versteht: Odysseus, Herakles, Diogenes9. Mühsal und Verzicht eröffnen ihm im Gegenzug eine bislang ungekannte Freiheit. So soll es auch in der Geburtstagsansprache für Trajan sein. Wie Diogenes sich vom großen Alexander nicht einschüchtern ließ, sondern ihn zur Selbsterkenntnis zwang, will auch Dio seinem Herrscher begegnen10. Doch Trajan ist nicht der jugendlich-ungestüme Makedonenherrscher, und Dio heißt ihn auch nicht aus der Sonne treten: Der Kaiser schätzt Aufrichtigkeit, ist den unvernünftigen Genüssen nicht ergeben, unterwirft sich den Anstrengungen seiner Aufgaben, hält sich an die Lehren der Alten, nutzt die ihm gegebene Macht in vorbildlicher Weise, den Gesetzen gehorchend11. Dios Gestus unerschrockenen Freimuts droht angesichts eines

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Zu „Erscheinungsbild und Stilisierung“ des Philosophen s. J. HAHN, Der Philosoph und die Gesellschaft. Selbstverständnis, öffentliches Auftreten und populäre Erwartungen in der hohen Kaiserzeit, HABES 7, Stuttgart 1989, insb. 33–45; vgl. zur Ikonographie auch P. ZANKER, Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst, München 1995, 242–248. 7 Vgl. J.L. MOLES, The Career and Conversion of Dio Chrysostom, JHS 98, 1978, 79– 100; S. SWAIN, Hellenism and Empire, 188–190. 8 Dion Chrys., Or. 47,25; vgl. S. SWAIN, Hellenism and Empire, 232. Zur Rollenpluralität der Philosophen im Alltag im Unterschied zu ihrer Stilisierung als Asketen: P. ZANKER, Maske des Sokrates, 222 f. 9 S. SAÏD, Dio’s Use of Mythology, in: Dio Chrysostom. Politics, Letters, and Philosophy, ed. by S. Swain, Oxford 1999, 161–186, hier 166–168; vgl. T. WHITMARSH, Greek Literature, 156–167, der nicht nur ein Bemühen Dios zur (ironischen) Bekräftigung der abgenutzten Topoi des freimütigen, ja widerständigen Philosophen ausmacht, sondern auch die Verschränkung mit der Außenrepräsentation Trajans als diese Freimut geradezu fordernden Herrschers hervorhebt. 10 Insb. Dion Chrys., Or. 4, nach J.L. MOLES, Kingship Orations, 299 f. 348–350. 361, früher als Or. 3 zu datieren. 11 Dion Chrys., Or. 3,3–5.

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Einleitung

solch vorzüglichen Gegenübers ins Leere zu laufen12, ja unpassend zu wirken. Fast scheint es, der Redner wolle nicht das ideale Königtum dem Kaiser als Leitbild vor Augen führen, sondern forme eben dies Leitbild nach den Zügen des Princeps13. Wie kann, das ist der Kern des Dilemmas, philosophische Protreptik mit dem festlichen Anlaß zusammengebracht werden, der nach einer Lobrede verlangt? So muß Dio zurückgreifen auf die Zeit der Verbannung, hinweisen auf die Maßnahmen Domitians. Alle seien sich doch bewußt, welchen Preis er für seine unverstellten Worte unter dem Gewaltherrscher hatte zahlen müssen; wer in Lebensgefahr nicht von der Wahrheit abgewichen sei, werde dies doch sicher nicht tun, wo offene Worte ausdrücklich erwünscht seien. Was ist zu tun, wenn Aufrichtigkeit wie Lobhudelei klingen muß? Wenn Ironie und intellektuelle Schärfe nicht mehr verfangen, also kaum noch Platz für einen Diogenes oder auch nur Sokrates ist, die man sich schlecht offene Türen einrennend vorzustellen vermag? Der Philosoph benötigt so das Gegenbild des Tyrannen (oder zumindest des überheblichen Banausen), um der gewählten persona angesichts der prekären Materie Würde zu verleihen. Die Wahrheit sprechen um jeden Preis, , wird zum Leitmotiv seiner Rede, Schmeichelei, , zu seinem Kontrapunkt14. Schönreden zerstört die Glaubwürdigkeit, des Sprechers wie des Adressaten, der Schmeichler betätigt sich als „Falschmünzer“, der jeden Kredit zerstört; weder dem Empfänger seines geheuchelten Lobs noch sich selbst erweist er damit einen Gefallen15. Das Ringen um Glaubwürdigkeit ist also auch ein Ringen um Inszenierungen. Alles ereignet sich gleichsam auf offener Bühne. Der Kaiser und sein Laudator stehen einer gewaltigen Masse von Zuschauern gegenüber, die aufmerksamst verfolgen, was auch immer geschieht. Die Menschen sind ohne Ausnahme Beobachter und Zeugen der innersten Regungen des Herrschers (       ); nichts kann verborgen bleiben, so wenig wie die Sonne im Dunkeln ihre Bahn zu ziehen vermag16. Dio beschreibt Herrschaft als Schauspiel, als eine Abfolge von signifikanten Gesten und Worten, als unentwegter Prozeß des Deutens und Schließens, dem nie etwas entgeht. Dies sei dem König/Kaiser Ansporn für „Werke der Tugend“ (!  ), aber auch Ansporn für andere: 12

Ähnlich P. DESIDERI, Dione di Prusa. Un intellettuale greco nell’impero romano, Firenze 1973, 297–299; C.P. JONES, Roman World, 119 f.; J.L. MOLES, Kingship Orations, 360. 13 C.P. JONES, Roman World, 120: „the model king is himself modelled on Trajan“. 14 Ein ähnliches Verständnis von Rhetorik vertrat zeitgleich auch Quintilian, mit einem Rückgriff auf Cicero: Inst. XII 2,5 (cuncta, quae de aequo, iusto, vero, bono ... dicantur, propria esse oratoris); vgl. T. MORGAN, Literate Education in the Hellenistic and Roman Worlds, Cambridge 1998, 231. 15 Dion Chrys., Or. 3,12 f. 17–24. Vgl. T. WHITMARSH, Greek Literature, 194 f. 16 Dion Chrys., Or. 3,11.

Einleitung

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Wer möchte sich der Strahlkraft des Tapferen, Rechtschaffenen, hart Arbeitenden, in allem Beherrschten entziehen, wenn er dessen mitreißende Tatkraft vor Augen hat?17 Sichtbarkeit meint hier Antrieb und Rechenschaft zugleich, also sich zu bewähren, ein Vorbild zu geben und damit die eigene Stellung zu legitimieren. Aufgabe des Philosophen (und des Redners, sofern er sich weise nennen darf) ist es, hierfür die Kriterien zu benennen: Was ist der gute König (" ), was zeichnet ihn aus und was hebt ihn ab vom Herrscher, der nur vorgibt, ein solcher zu sein (  #  $%)?18 Auch hier wieder Sichtbarkeit, aber auch der Trug des Scheins, Inszenierungen und Charaden: Für den unkundigen Betrachter mag es nicht immer leicht sein, den wahren Monarchen, Hirt des Volkes, von seinem Zerrbild zu unterscheiden. Er benötigt Anleitung. Auch dies ist eine Funktion der Rede. Bewußt spricht Dio von Prusa als Grieche und auf Griechisch19; beides ist Teil seiner Rolle und seines Auftritts. Doch diese so dezidiert hellenische und philosophische Rede fällt in ein ebenso unverwechselbar römisches Umfeld, die aula Caesaris erfüllt von Männern in der Toga, Senatoren und amici des Princeps. Hier und dort mochten sich andere Gesichter und Kleidungsstile in die Menge mischen, die von „Spezialisten“ wie Kriton, dem Leibarzt Trajans – oder eben von Dio selbst. Die Oberschicht der Weltmacht hatte sich freilich griechisches Bildungsgut schon lange zueigen gemacht. Und doch erbaute sich der Gelehrte Philostrat einige Jahrzehnte später an einer Anekdote, die auf den Militär Trajan mit seinen Wurzeln auf der (aus östlicher Perspektive kulturfernen) iberischen Halbinsel zielte. Der Kaiser habe Dio gebeten, ihn auf seinem Triumphwagen zu begleiten, sich dann oftmals zu ihm umgedreht und gesagt: „Ich verstehe zwar nicht, was du sagst, aber ich liebe dich wie mich selbst.“20 Nun sind die Griechischkenntnisse Trajans anderwärts gut belegt21 und die geschilderten Ereignisse wohl kaum historisch. Die Episode deutet aber an, daß in den Augen einiger die griechische Herrschaftsphilosophie und die Praxis der römischen Principes nicht immer ineinander übersetzbar waren; 17

Dion Chrys., Or. 3,7–9. Dion Chrys., Or. 3,25. Vgl. J.L. MOLES, Dio Chrysostom, Greece, and Rome, in: Ethics and Rhetoric. Classical Essays for Donald Russell on His Seventy-Fifth Birthday, ed. by D. Innes/H. Hine/Chr. Pelling, Oxford 1995, 177–192, hier 192. 19 Vgl. T. WHITMARSH, Greek Literature, 200: „the kingships enact, for the benefit of their Greek audience, a drama of cultural hegemony between Roman power and Greek paideia.“ 20 Philostr., VS 488. Th. SCHMITZ, Trajan und Dio von Prusa. Zu Philostrat. Vit. Soph. 1,7 (488), RhM 139, 1996, 315–319; L. PERNOT, La Rhétorique de l’Empire ou comment la rhétorique grecque a inventé l’Empire romain, Rhetorica 16, 1998, 131–148, hier 146; vgl. J.L. MOLES, Kingship Orations, 300 f. 21 Cass. Dio LXVIII 3. 7; Plin., Paneg. 47,1. 18

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daß man in Rom den Worten der gelehrten Graeci zwar gern lauschte, doch keinen Zugang zu dem Kern ihrer Lehren hatte – die Philhellenen auf dem Kaiserthron, die Trajan folgen sollten, einmal ausgenommen22. So wird hier auch sichtbar, daß bei allen Konvergenzen, die sich in Jahrhunderten des Kulturkontaktes entwickelt hatten, in einigen Punkten als gravierend betrachtete Unterschiede blieben. Anziehung machten die Griechen auf römischer Seite wohl aus, ein echtes Verstehen waren sie aber nicht immer bereit, den Herrschern über den Mittelmeerraum zuzugestehen. Kulturelle und geistige Überlegenheitsgefühle griechischer Intellektueller hintangestellt, bleibt zu betonen, daß eine grundlegende Anschlußfähigkeit ihrer Ausführungen auch in einem stadtrömischen Kontext gegeben sein mußte. Der Rezeptionsrahmen, die Formen und Prämissen ihrer Reden, der Kommunikation über Herrschaft also waren in Hellas und Rom in mancher Hinsicht vergleichbar und einleuchtend: die allumfassende visuelle Präsenz des führenden Mannes23, die Möglichkeit und Notwendigkeit, aus seinem Auftreten Schlüsse auf das Innere ziehen zu können24. Auch massive Zweifel an der Glaubwürdigkeit des gesprochenen Wortes waren den Römern gewiß nicht fremd; der Überprüfbarkeit der Gesten die „Falschmünzerkunst“ des Wortes gegenüberzustellen, lag ihnen so wenig fern wie Dio. Überhaupt finden sich eine Reihe von Themen und Zugriffsweisen der „philosophischen“ Redekunst Dios – wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit zu zeigen sein wird – gleichermaßen in der lateinischen Festrhetorik des jüngeren Plinius wieder: und dies in einem Umfang, daß sowohl eine Abhängigkeit des einen vom anderen25 als auch eine gemeinsame Inspiration der beiden durch den Kaiserhof26 in der modernen Forschung vertreten wurde. Man war sich also einig in einer gewissen Skepsis gegenüber der Rhetorik, zumal gegenüber den Festreden, freilich ohne von beidem lassen zu 22

Vgl. die in Teilen abweichende Interpretation der Passage bei T. WHITMARSH, Greek Literature, 214–246. Whitmarsh betont stark die unterschiedlichen „Masken“ Dios und die daraus resultierende Doppelbödigkeit seiner Reden und seines Auftretens. Offen bleibt jedoch die Frage, wie stark der Anteil der Ironie in Dios Reden tatsächlich ist; zumindest in den sog. „kingship orations“ (or. 1–4) scheint mir die Deutung Whitmarshs im einzelnen zu voraussetzungsreich zu sein. 23 Vgl. nur Cic., Rosc. Am. 22 (über Sulla). 24 Q. Cic., Comm. pet. 44: vultu ac fronte, quae est animi ianua; Cic., Pis. 1: voltus denique totus, qui sermo quidam tacitus mentis est; Sest. 17–19: vultum atque incessum animis intuemini: facilius eorum [sc. Gabinius/Piso] facta occurrent mentibus vestris, si ora ipsa oculis proposueritis. 25 J. MORR, Die Lobrede des jüngeren Plinius und die erste Königsrede des Dio von Prusa, Troppau 1915; F. TRISOGLIO, Le idee politiche di Plinio il giovane e di Dione Crisostomo, Il pensiero politico 5, 1972, 3–43. 26 C.P. JONES, Roman World, 118 f. 123.

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können oder zu wollen. Chrysostomus wußte der Kritik zu begegnen, die offenbar auch anläßlich seines Auftritts vor Trajan in der Luft lag, und er ging offensiv in die Auseinandersetzung. Reden, so führt er aus, ist Handeln, es gehorcht denselben Motiven und Bedingungen, ist nicht bloßer Ornat und Beiwerk. Der Redner steht gerade nicht außerhalb des allgegenwärtigen , sondern ist Teil davon, bewegt sich insofern ebenso auf der großen Bühne wie andere Akteure27. Das Wirken des verantwortungsvollen Redners ist daher ein umfassendes; er weist denjenigen Menschen, die mit einer entsprechenden Disposition ausgestattet sind (bei anderen kann er keinen Erfolg haben), Richtung und gibt ihnen Antrieb auf dem Weg zur Perfektion28. Mit seiner Kenntnis von den #! der Weisen schafft er einen Bezugsrahmen, in dem die einzelnen Handlungen der Menschen, und zuallererst die des Kaisers, zu bewerten sind. Zugleich etabliert er sich als quasi politischer Akteur, dessen Status und Prestige mit der mustergültigen Umsetzung seiner Aufgabe verflochten sind. Doch wie weit ist diese Konzeptualisierung der Rhetorik von spezifischen Faktoren, etwa von der sogenannten Zweiten Sophistik beeinflußt – als Übernahme ihres Selbstverständnisses oder auch als Gegenreaktion auf sie? Sophistenkritik ist ein wesentliches Element der Rede; eine Eigenart Dios, Ergebnis eines internen Konkurrenzkampfes, oder echtes Problem seiner Zeit, das Rückschlüsse auf Selbstbild und Stellung des Redners in der römischen Welt der hohen Kaiserzeit erlaubt? Und in welchem Maße lassen sich seine Ausführungen tatsächlich auch auf die römische, d.h. die lateinische Rhetorik übertragen, auf ihre Voraussetzungen, ihr Personal und ihre Wahrnehmung? Dio gibt mithin eine Rezeptionsweise vor, die kritisch zu überprüfen ist, und dies sowohl für die Darstellung und Wahrnehmung des herrscherlichen Handelns als auch im Hinblick auf den Stellenwert der Rhetorik wie des Orators im kaiserzeitlichen Rom. Dabei ist weder seinen Selbstauskünften allzu blauäugig zu vertrauen, noch dürfen sie von vornherein verworfen werden; auch die Stilisierung, mag sie noch so offensichtlich erscheinen, birgt vielfältige Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich der gesellschaftlichen Wertvorstellungen einer Epoche, ihres Rollenspektrums, auch im Blick auf Strategien der Positionierung innerhalb der sozialen Hierarchie. Vor allem aber lassen sich auf diesem Weg Informationen über den Kommunikationsstil bestimmter Gruppen zu bestimmten Zeiten erheben und die relevanten und Kommunikationsgefüge geradezu kartieren. Sucht man in den rhetorischen Produkten einer Gesellschaft nicht allein nach den Stilfiguren und Schlußrhythmen, beschränkt man sich nicht auf die Identi27 28

Dion Chrys., Or. 3,14; J.L. MOLES, Kingship orations, 354. Dion Chrys., Or. 1,8.

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fizierung von Topoi, sondern setzt beides in Beziehung zu ihrem sozialen, kulturellen und politischen Umfeld, dann ist eine historische Deutung auch des scheinbar immer Gleichen und auf sich selbst Bezogenen möglich. Es wird dann deutlicher, wer die Menschen waren, die solche Reden verfaßten und vortrugen, wie sie ihre Rolle begriffen, wogegen sie sich zu behaupten hatten, mit welchem Material sie hantierten und vor allem: aus welchem Grund. Ausgehend von der hier vorgelegten knappen Interpretation einiger zentraler Passagen aus der dritten Rede Dios über das ideale Königtum, mit den Postulaten des Philosophen und Rhetors als Sonde, soll im folgenden anhand einiger ausgewählter Festreden der römischen Kaiserzeit den Formen und Parametern herrscherlichen Handelns sowie seiner kommunikativen „Verarbeitung“ nachgegangen werden. Einen zentralen Bezugspunkt dieser Untersuchung bildet die inzwischen breiter rezipierte, aber letztlich auf Max Weber zurückgehende Beobachtung, daß Herrschaft einen Resonanzboden benötigt, nur existiert, wenn sie als solche wahrgenommen und zumindest bis zu einem gewissen Grade akzeptiert wird29. Dios Diktum vom Tun des Kaisers und den unweigerlich auf ihn gerichteten Blicken aller nimmt diese Erkenntnis in einer spezifisch antiken (oder auch spezifisch vormodernen) Weise gleichsam vorweg30. Von besonderem Interesse ist aber die bei Dio schon ausformulierte intrikate Verknüpfung der Herrschaft sowie ihrer Sichtbarkeit und unmittelbaren Überprüfbarkeit mit der auslegenden und kommentierenden Aufgabe des Redners. Auf diesen Komplex richtet sich der Fokus der vorliegenden Arbeit.

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M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Frankfurt a.M. 2005 (zuerst 1910), insb. 157: „Ein bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis.“ Vgl. K.-S. REHBERG, Die „Öffentlichkeit“ der Institutionen. Grundbegriffliche Überlegungen im Rahmen der Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, hg. v. G. Göhler, Baden-Baden 1995, 181–211; G. GÖHLER/R. SPETH, Symbolische Macht. Zur institutionentheoretischen Bedeutung von Pierre Bourdieu, in: Institution und Ereignis, hg. v. R. Blänkner/B. Jussen, Göttingen 1998, 17–48. Das Akzeptanzmodell hat Egon Flaig erstmals in einer größeren Studie auf antike Verhältnisse angewendet: E. FLAIG, Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich, Historische Studien 7, Frankfurt a.M./New York 1992. 30 Dies ist für den römischen Bereich in letzter Zeit mehreren Studien zugrundegelegt worden; vgl. v.a.: K. HOPKINS, From Violence to Blessing. Symbols and Rituals in Ancient Rome, in: City States in Classical Antiquity and Medieval Italy, ed. by A. Molho/K. Raaflaub/J. Emlen, Stuttgart 1991, 479–498; E. FLAIG, Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom, Historische Semantik 1, Göttingen 2003; A. CORBEILL, Nature Embodied. Gesture in Ancient Rome, Princeton (N.J.) 2004; A. BELL, Spectacular Power in the Greek and Roman City, Oxford 2004.

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Bei aller Plausibilität für den modernen Sozialwissenschaftler und trotz seiner Vereinbarkeit mit Weberschen Kategorien ist das dionische Modell historisch gesehen nicht ohne Probleme: Die römische Welt des 2. Jh.s war schon lange keine klassische face-to-face-Gesellschaft mehr31 – oder war dies nur noch in Teilen, vielleicht in den Poleis Bithyniens, ganz sicher aber nicht auf der Ebene der Großstadt Rom oder gar des gesamten Reichs. Das   der Herrschaft konnte allenfalls einem relativ kleinen Kreis Zugang bieten, und auch dies – abgesehen vom engsten Umfeld des Kaisers – nur periodisch. Daraus ergibt sich ein Paradoxon von einigem Gewicht: Eine Gesellschaft, die in hohem Maße auf Präsenz und Sichtbarkeit angelegt war, konnte beides lediglich in sehr begrenztem Maße gewährleisten. Der Principat hatte diese durch die Expansion Roms an sich schon prekäre Unmittelbarkeit noch einmal entscheidend eingeschränkt: Was sich in der Republik vor aller Augen vollzog, war nun in den geschlossenen Bereich des Palastes gewandert. Die allermeisten Bewohner des Imperiums hatten unter diesen Bedingungen schlicht nie die Möglichkeit, in der Weise als  zu fungieren, wie es Dio beschreibt und voraussetzt. Für die Senatsaristokratie, vielleicht auch für die führenden Schichten wichtiger Städte im Reich galt diese Einschränkung zwar nur begrenzt; aber auch für sie war die Nähe zum Kaiser, das heißt eben auch: beobachtende und deutende, kontrollierende Nähe, ein knappes Gut. So ist es nur konsequent, wenn die Anlässe, bei denen der Princeps in der beschriebenen Weise erfahrbar war: etwa kaiserliche Stadteinzüge, Circusspiele, Feste und Feiern, Rituale und Zeremonien, mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht wurden. Ein förmlicher Ausschluß von einem solchen Ereignis war Disziplinierungsinstrument und im Grunde schon Strafe für Fehlverhalten. Unbotmäßige Senatoren mußten derlei Maßregelung befürchten32, und für Verbannte gar galt generell, daß sie sich an keinem Ort aufhalten durften, den der Kaiser besuchte oder durch den er auch nur reiste33. Systematisch schloß man sie vom visuellen – und erst recht physischen – Kontakt mit dem Herrscher aus. Auf der anderen Seite konnte kaum etwas soviel Unmut erregen, wie ein Princeps, der sich den Blicken entzog: der in stets verschlossener Sänfte reiste (Marc Anton, aber auch

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Zur Konzeption vgl. P. LASLETT, The Face To Face Society, in: DERS., Philosophy, Politics and Society, Oxford 1967, 157–184 (zuerst 1956). 32 Vgl. R.S. ROGERS, The Emperor’s Displeasure – amicitiam renuntiare, TAPhA 90, 1959, 224–237. 33 So Dig. 48,22,18 pr. (Callistratus): relegatus morari non potest Romae, etsi id sententia comprehensum non est, quia communis patria est: neque in ea civitate, in qua moratur princeps vel per quam transit, iis enim solis permissum est principem intueri, qui Romam ingredi possunt, quia princeps pater patriae est.

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Augustus34) oder sich wie ein wildes Tier in die düsteren Ecken seines Hauses verkroch (Domitian35). Die große Signifikanz der Gesten in der Antike, die den modernen Menschen beinahe als Überdeterminierung erscheinen will, hat auch darin eine Erklärung. Daß Berichten über solche „Schauspiele“ fast zwangsläufig enorme Bedeutung zuwachsen mußte, wird vor diesem Hintergrund deutlich. Denn je mehr Aussagekraft einer jeden Geste und einem jeden Auftritt zugeschrieben wurde, desto einleuchtender ist es auch, daß ihre Fixierung und Deutung in Texten zu einem zentralen Anliegen aller Beteiligten wurde. Auch eine Entwicklung hin zu hochverdichteten visuellen Versatzstücken (oder, wie von G. Seelentag vorgeschlagen: Visiotypen36), zu quasi genormten Bild-Bausteinen, zu Aby Warburgs „Schlagbildern“37 erscheint in diesem Kontext nur folgerichtig: Sind Präsenz und Sichtbarkeit eher die Ausnahme als die Regel, wird beides aber in besonderer Weise prämiert, bedarf es einer relativ überschaubaren Zahl von Bildchiffren, um auch über größere (zeitliche und räumliche) Entfernungen hinweg Wiedererkennbarkeit zu garantieren und damit die gewünschte Gegenwärtigkeit zu erzeugen. Letzte Windung in der Bedeutungsspirale: Die Ekphrasis, die anschauliche Wiedergabe eines Bildes (auch eines Bildes von Handlungen) mit Worten, rangiert nicht zufällig hoch auf der Skala literarischer Fertigkeiten38. Das oben beschriebene Paradoxon des Visuellen in der römischen Gesellschaft förderte insofern quasi systemimmanent Stereotypisierungen und Repetition. Das immer Gleiche hatte offenbar „Sinn“ – in Dios Lesart verbürgten die rekursiven Elemente, Versatzstücke und Chiffren ja nichts Anderes als die Wahrheit. Es sind damit also die beständig wiederkehrenden Inszenierungen herrscherlichen Handelns, die Rituale und Zeremonien und ihre Wiedergabe in (gerade auch sprachlichen) Bildern, die einen besonderen Stellenwert in ei34

Cic., Phil. 2,105–108; Suet., Aug. 53. Vgl. D. BARGHOP, Forum der Angst. Eine historisch-anthropologische Studie zu Verhaltensmustern von Senatoren im Römischen Kaiserreich, Historische Studien 11, Frankfurt a.M./New York 1994, insb. 13–16; M. JEHNE, Augustus in der Sänfte. Über die Invisibilisierung des Kaisers, seiner Macht und seiner Ohnmacht, in: Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, hg. v. G. Melville, Köln/Wien/Weimar 2005, 283–307. 35 Plin., Paneg. 48,3. 36 G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians. Herrschaftsdarstellung im Principat, Hermes ES 91, Stuttgart 2004, insb. 303. 37 Hierzu vgl. M. DIERS, Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1997, insb. 25–31; M. WARNKE, Vier Stichworte: Ikonologie – Pathosformel – Polarität und Ausgleich – Schlagbilder und Bilderfahrzeuge, in: Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, hg. v. W. Hofmann/G. Syamken/M. Warnke, Frankfurt a.M. 1980, 53–83, insb. 75–83. 38 Vgl. G.A. KENNEDY, A New History of Classical Rhetoric, Princeton (N.J.) 1994, 206.

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ner auf Visualität ausgerichteten politischen Kultur einnehmen. Sie müssen daher auch im Zentrum dieser Untersuchung stehen, insbesondere unter dem Aspekt der Verknüpfung von bildlichen, performativen und sprachlichen Elementen. Die Begriffe des „Rituals“ bzw. des „Rituellen“ soll mithin weit gefaßt werden, also nicht allein der Benennung kultisch-sakraler Handlungen dienen, sondern alle (in Performanzen umgesetzten) Regelkomplexe bezeichnen, die unter anderem im Wege der Stilisierung oder Stereotypisierung Abläufe in sozialen Gruppen und Institutionen strukturieren. Von großer Bedeutung ist die besondere Expressivität, die gesteigerte Zeichenhaftigkeit in diesem Sinne ritueller Handlungen, die ihre Wirkung zu einem großen Teil durch Elemente der unmittelbaren Darstellung sowie der Symbolisierung entfalten; Rituale stellen Handlungsmuster zur Verfügung, indem sie sie gleichsam „aufführen“. Sie sind nicht als Gegenbegriff zum Politischen zu verstehen, sondern vielmehr als ein Teilbereich davon, als ein besonderer Handlungsmodus oder Kommunikationscode im Feld sozialer Beziehungen39. Diese zunächst auf den Regelungscharakter abstellende Arbeitsdefinition muß jedoch durch die Warnung Pierre Bourdieus vor einer starren und allzu modellhaften Auffassung von gesellschaftlichen Ritualen ergänzt werden40. Denn erst aus der Perspektive des Beobachters fügen sich Bourdieu zufolge die einzelnen Sequenzen einer rituellen Handlung zu einem „Räderwerk von Praktiken der Pflichtschuldigkeit. ... [S]elbst dann, wenn die Dispositionen der Handelnden so perfekt wie möglich aufeinander abgestimmt sind und die Verkettung von Aktionen und Reaktionen von außen völlig vorhersehbar erscheint, [herrscht] so lange Ungewißheit über den Ausgang der Interaktion, wie die Handlungsfolge unabgeschlossen ist“41. An die Stelle von mechanischen Handlungen tritt bei solcher Betrachtungsweise selbst in scheinbar routinemäßigen Vorgängen die Improvisation. In dem hier vertretenen Verständnis sind Rituale mithin weder unabänderlich noch gänzlich frei verfügbar; sie lassen sich 39 S.F. MOORE/B.G. MYERHOFF, Secular Ritual: Forms and Meanings, in: Secular Ritual, ed. by S.F. Moore/B.G. Myerhoff, Assen 1977, 3–24. Eine Übersicht über moderne Ritualtheorien findet sich z.B. bei Chr. WULF, Anthropologie. Geschichte – Kultur – Philosophie, Reinbek b. Hamburg 2004, 191–209. Vgl. auch die Textsammlung von A. BELLIGER /D.J. KRIEGER (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Opladen/Wiesbaden 1998. Zur Anwendbarkeit dieses erweiterten Ritualbegriffs auf vormoderne Gesellschaften G. ALTHOFF, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, insb. 9–31, und N. BOURQUE, An Anthropologist’s View of Ritual, in: Religion in Archaic and Republican Rome and Italy. Evidence and Experience, ed. by E. Bispham/C. Smith, New Perspectives on the Ancient World 2, Edinburgh 2000, 19–33. 40 P. BOURDIEU, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1993 (frz. 1980), 148. 41 Ebda., 181, vgl. 192.

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manipulieren und instrumentalisieren, üben aber ihrerseits einen gewissen Formzwang aus. Und auf diesem Wege, angesichts dieses eingebauten, aber zugleich sooft unsichtbar gemachten Moments der Improvisation und damit der Flexibilität, werden sie zu tauglichen Medien der Kommunikation. Wer aber trägt in der römischen Kaiserzeit diese Rituale, wie verhalten sie sich zu sozialer Hierarchie und Herrschaftsbeziehungen, vor allem jedoch: wie werden sie der Kraft des Ephemeren und der räumlichen Begrenzung entzogen? Wie läßt sich nicht zuletzt die Wahrnehmung von Ritualen und die Decodierung der hierin eingeschriebenen Botschaften steuern? Nach welchen Parametern erfolgt überhaupt die erforderliche Entschlüsselung? Für Dio von Prusa war zumindest letzteres das eigentliche Feld der Rhetorik. In der althistorischen Forschung hat man konsequenterweise lange Zeit beides: die politischen Rituale und Zeremonien ebenso wie die festlichen Reden vor dem und über den Kaiser unter den Begriffen der „Propaganda“ oder neutraler: „Herrschaftsrepräsentation“ behandelt42. Rasch, und zum Teil weitgehend unhinterfragt, wurde die „Zentrale“ des Reichs, wurde der Hof als steuerndes Element einer möglichst bruchlosen, möglichst positiven und insofern manipulativen Darstellung und Deutung des Kaisers angesehen. Angesichts des ja gar nicht zu leugnenden Machtgefälles konnte in diesem Modell den Verkündern der Botschaften nichts anderes als die Funktion eines Sprachrohres zugewiesen werden. Dieser Erklärungsansatz hat sich als zu reduktionistisch erwiesen; inzwischen arbeitet man mit flexibleren Ansätzen43, die Konsens und Akzeptanz in den Vordergrund rücken und Herrschaft als einen fortlaufenden kommunikativen Prozeß verstehen44, in dem Botschaften in beide Richtungen transportiert und – in entsprechender Einkleidung – selbst Forderungen und verhüllte Kritik an den Herrscher herangetragen werden. Auch das Gewicht der Inszenierung gemeinschaftlichen Handelns sowie der Selbstinszenierung einzelner Akteure für Genese, Stabilisierung und Wandel sozialer Hierarchien wird heute in gesteigertem Maße wahrgenommen. Gegenüber der älteren Forschung verschieben sich die Parameter von einem statischen Blick auf die Materialität der Symbole und ihre Aussage in Richtung auf eine Analyse der sozialen Praxis, auf eine Pragmatik der Symbole. Dies impliziert auch eine Öffnung des Blickes für semantische 42

A. ALFÖLDI, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, Darmstadt 31980 (zuerst 1934/5). 43 Überblick: M. ZIMMERMANN/G. WEBER, Propaganda, Selbstdarstellung, Repräsentation. Die Leitbegriffe des Kolloquiums, in: Propaganda – Selbstdarstellung – Repräsentation im römischen Kaiserreich des 1. Jhs. n. Chr., hg. v. Dens., Historia ES 164, Stuttgart 2003, 11–40. 44 G. SABBAH, De la Rhétorique à la communication politique: les Panégyriques latins, BAGB 1984, 363–388. Zuletzt G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 30–34.

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Differenzen, für Transformationen in Gebrauch und Hermeneutik und für die ‚feinen Unterschiede‘. Kommunikation mit Symbolen, Repräsentation insgesamt kann daher nicht mehr als eine Einbahnstraße aufgefaßt werden, auch nicht als Privileg des Herrschers, durch das sich dessen Souveränität beliebig perpetuieren ließe. Andreas Alföldis klassische Untersuchung der ‚monarchischen Repräsentation im römischen Kaiserreiche‘ hat sich damit nicht überlebt, sie ist aber in einen breiteren kulturgeschichtlichen Kontext zu stellen. Neben den stabilisierenden, konservierenden Elementen und Effekten der Rituale ist daher vor allem auch ihre Funktion in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung zu untersuchen. Doch soll hier auch gegenüber den neueren Ansätzen einer weiteren operativen Öffnung das Wort geredet werden. So ist mit der Vorstellung der Prozeßhaftigkeit und der damit verbundenen, übergeordneten Zielgerichtetheit aller Handlungen und Kommunikationen brechen. Erst dieser Schritt ermöglicht eine unvoreingenommene Lektüre der einschlägigen Quellen – Texte wie auch Monumente. Losgelöst von Konsens- und Akzeptanzparadigmen müssen die Zeugnisse zunächst aus sich selbst verstanden werden. Dies gilt besonders für die Festreden und bedeutet, sie nicht in erster Linie als mehr oder minder seriell erzeugte Elemente zu betrachten, die sich zu einem bestimmten Herrscherbild fügen lassen, sondern fordert die intensive Beschäftigung mit dem Einzelzeugnis, mit der einzelnen Rede und ihren jeweiligen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen. Die Grundlinien und Voraussetzungen einer solchen Interpretation sind die folgenden: In einem aus dem späten dritten Jahrhundert nach Christus stammenden Handbuch der Epideiktik, das dem Rhetor Menander zugeschrieben wird45, findet sich eine Art kommentierter Musterreden, die als Leitfaden für die wichtigsten zeremoniellen Anlässe antiken Lebens gedacht sind. Es handelt sich hierbei um vorstrukturierte Topoigerüste, die im Grunde nur noch mit den jeweils aktuellen Daten aufgefüllt werden mußten46. So gibt es bei Menander detaillierte Anweisungen für das Herrscherlob, für eine Abschiedsrede vor dem Antritt von Reisen, für Hochzeitsreden, Trostreden bei Trauerfällen und für Ansprachen bei Statthalterempfängen. Was zu sagen war und wie es gesagt werden sollte, ergab sich also weitgehend aus dem Anlaß, aus der Beschaffenheit des Publikums und vor allem aus der gewachsenen Tradition des entsprechenden Sub-Genres und seinen Regeln.

45 Zu ihm D.A. RUSSELL/N.G. WILSON, Menander Rhetor. Edited with Translations and Commentary, Oxford 1981, xxxiv–xl, und nun M. HEATH, Menander. A Rhetor in Context, Oxford 2004, insb. 93–131. 46 Vgl. L. PERNOT, Les topoi de l’éloge chez Ménandros le Rhéteur, REG 99, 1986, 33–53.

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Je länger diese Traditionskette wurde, desto stärker wurde der Spielraum des einzelnen Redners offenbar eingeengt. Dieser großen Regelungsdichte stand seit je der Anspruch des Festredners gegenüber, der seine eigene Eloquenz, ja Virtuosität bisweilen offen herausstellt, in der Regel jedoch in einen Bescheidenheitstopos einkleidet. Helmut Schanze hat die innere Spannung der Epideiktik auf folgenden Nenner gebracht: „Festreden sind, trotz des Kunstanspruchs, im höchsten Maße heteronom, obwohl gerade dieses Genre die größte Souveränität des Redners erfordert.“47 Doch es ist eine produktive Spannung: Virtuosität kann sich gerade darin beweisen, mit den äußeren Zwängen, mit den Vorschriften der Gattung in kreativer Weise umzugehen und die Elemente aus dem Baukasten der rhetorischen ars immer wieder neu zu kombinieren – genau dies entsprach ja antikem Kunstverständnis. Der Verfasser einer Festrede war mit der Aufgabe konfrontiert, aus der Fülle des Materials, das ihm der konkrete Anlaß bot, das Angemessene und Ansprechende auszuwählen und in die von der Rhetoriktradition vorgegebenen Strukturen zu überführen. Antike Epideixis entsteht mithin durch das Filtern und Formen und Arrangieren von Information. Was am Ende dieses Verfahrens übrigbleibt, ist in gewisser Weise substanziell verändert: Es hat den Charakter des Akzidentellen verloren und Signifikanz gewonnen. In einer Festrede erhält auch das an sich Triviale den Charakter des Außergewöhnlichen, ein vorher vielleicht unbeachtetes Geschehen wird zum Ereignis, oder – in der Sprache der Panegyrik – zum miraculum aufgewertet48. Die Traktierung der Wirklichkeit durch die epideiktische Rhetorik erfüllt mithin in gewisser Weise selbst rituelle Funktionen49. Aus den antiken Rhetorik-Traktaten erhellt aber auch ein dezidiert performativer Charakter epideiktischer Rede. Die in der römischen Kaiserzeit institutionalisierte gratiarum actio, ebenso aber auch das Enkomion, der &%" #!, der  " #!, der " #! als bedeutende Unterarten der Epideiktik weisen sich schon in ihrer Bezeichnung als „Sprechakte“ aus; sie sind nicht allein Reden, sondern zugleich auch – wie schon Dio behauptete – soziale und politische Handlungen. Dies läßt sich auch theoretisch abstützen: W. Beale hat anhand dieser Beobachtung 47

H. SCHANZE, Festrede und Festspiel. Konstellationen und Widersprüche, in: Fest und Festrhetorik. Zu Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik, hg. v. J. Kopperschmidt/Dems., Figuren 7, München 1999, 345–351, hier 345. 48 M.-C. L’HUILLIER, L’Empire des mots. Orateurs gaulois et empereurs romains. 3e et 4e siècles, Centre de Recherches d’Histoires Ancienne 114, Paris 1992, 132. 49 In dieser Frage sind die Ausführungen von J.Z. SMITH, Ritual und Realität, in: Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, hg. v. A. Belliger/D.J. Krieger, Opladen/Wiesbaden 1998, 213–226 (engl. 1982), insb. 213 f., aufschlußreich; Smith beschreibt den Prozeß, durch den im sakralen Raum, im Bezirk des Rituals, alles (gerade auch Zufälle), mit Signifikanz und Regularität versehen wird.

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eine Abgrenzung der Epideiktik von den beiden anderen Redegenera vorgenommen: Epideiktische Rede stellt eine Handlung oder doch die Teilnahme an einer Handlung dar, genus deliberativum und genus iudiciale hingegen machen Aussagen über die Welt der Handlungen50. Epideiktik ist nicht nach dem Prinzip von Rede und Gegenrede organisiert; sie ist daher nicht im direkten Bezug auf einen vorhergehenden oder folgenden Redner zu verstehen, sondern in Relation zu einer „nonspeaking audience“. Nicht der Sieg in der Debatte ist angestrebt, sondern es gilt vielmehr, eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen. Epideiktik ist daher per se „situating speech“51. Ihre Wirkungsweise liegt nicht in der Übermittlung von Botschaften, die diskursiv in Handlung umgesetzt werden, sondern vielmehr in der Projektion von „Situationen“52 vermittels der Produktion von Kontexten, die bestimmte Handlungen nach sich ziehen beziehungsweise den nun gültigen Handlungsspielraum definieren53. Die epideiktische Rede vermittelt auch in dieser Hinsicht „organizing images“54, und zwar wiederum durchaus in Analogie zum Ritual55. Marie-Claude L’Huillier hat in ihrer 50

W.H. BEALE, Rhetorical Performative Discorse: A New Theory of Epideictic, Ph&Rh 11, 1978, 221–246, hier 225 f. 51 W.T. WHEELOCK, The Problem of Ritual Language: From Information to Situation, JAAR 50, 1982, 49–71, hier 59. 52 Zum Begriff der „situation“ vgl. W.T. WHEELOCK, Ritual Language, 63: „In a situation, a set of existing physical entities come together in a delimited space and time and interact in accordance with a culturally predefined set of roles and relationships.“ In diesem Zusammenhang ist auch auf J. KOPPERSCHMIDT, Zwischen Affirmation und Subversion. Einleitende Bemerkungen zur Theorie und Rhetorik des Festes, in: Fest und Festrhetorik. Zu Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik, hg. v. Dems./H. Schanze, Figuren 7, München 1999, 9–21, zu verweisen. Kopperschmidt bezeichnet (13 f.) die Epideiktik als „anti-monologisch“ und „a-diskursiv“. Sie ist anti-monologisch, „sie muß es sein, weil sie kein Artikulationsmedium von Meinungen im strikten Wortsinn von subjektiven Stellungnahmen ist, die erst im Kontext anderer auf sie rekurrierender und mit ihnen konkurrierender Reden ihre Plausibilität unter Beweis stellen. Die antike Rhetoriktheorie kennzeichnete diese Gattungsspezifik der epideiktischen Rede im Unterschied zur deliberativen und judizialen entsprechend referenztheoretisch: epideiktische Rede bezieht sich auf ‚certa‘, will sagen: auf Gegenstände, die keiner diskursiven Klärung bedürfen und insofern auch jeder Widerrede und jedem Widersprechen-Wollen ihren bzw. seinen funktionalen Sinn bestreiten müssen. Die epideiktische Rede ist m.a.W. konstitutionell nicht nur anti-monologisch, sondern auch a-diskursiv.“ (14). 53 W.T. WHEELOCK, Ritual Language, 60–62. 54 J.W. FERNANDEZ, The Performance of Ritual Metaphors, in: The Social Use of Metaphor. Essays on the Anthropology of Rhetoric, ed. by J.D. Sapir/J.C. Crocker, University of Pennsylvania Press 1977, 100–131, hier 101. 55 Vgl. J. PLATVOET, Ritual in Plural and Pluralist Societies. Instruments for Analysis, in: Pluralism and Identity. Studies in Ritual Behaviour, ed. by J. Platvoet/K. Van der Toorn, SHR 67, Leiden/New York/Köln 1995, 25–51, hier 32. 35 f.; M.F. CARTER, The Ritual Functions of Epideictic Rhetoric: The Case of Socrates’ Funeral Oration, Rhetorica 9, 1991, 209–232. Carter wählt einen explizit funktionalistischen Ansatz: „I argue that

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umfassenden Arbeit zum Corpus der Panegyrici Latini diese Art der Kommunikation als Ritualisierung oder Theatralisierung von Information bezeichnet56. Und so ist offenbar epideiktischer Rhetorik eine figurative Qualität eigen, eine Bildhaftigkeit, die vergegenwärtigend und präsentativ wirkt57. Denn sie bewegt sich im Bereich der ' ! 58, also im Bereich prinzipiell unumstrittener, allgemein zustimmungsfähiger Aussagen und Sachverhalte. Wo diese Übereinstimmung nicht von vorneherein gegeben oder ihre Tragfähigkeit zweifelhaft erscheint, muß der Redner Anschluß an sichereren Grund schaffen, d.h. er ist gezwungen, argumentativ vorzugehen und die postulierte Einmütigkeit erst herzustellen59. Die an ihn gerichtete Herausforderung besteht darin, zunächst einmal das Sujet so zu präsentieren, daß es den Präferenzen und Erwartungen des Auditoriums entspricht. Stellt man des weiteren in Rechnung, daß die epideiktische Rede ihren Ort im Kontext von Fest und Feier hat60, dann dürfen die Sinneseindrücke nicht vernachlässigt werden, die sie auf die Zuschauer ausübt: Es sind zu einem beträchtlichen Teil auch ihre „äußeren“ Aspekte, ihre Rhythmisierung, ihre Stilmittel, der Klang der Worte, die den Reiz für die Zuschauer epideictic may be understood as ritual, indeed that epideictic is successful insofar as it achieves the qualities of ritual.“ (212). Für ihn besitzt ein Ritual drei basale Funktionen: (1) Es generiert „a kind of knowledge“; (2) es konstituiert Gemeinschaft (community); und (3): es vermittelt den Teilnehmern „guidance in conducting their lives“ (213). 56 M.-C. L’HUILLIER, L’Empire des mots, 128. 139 („information ritualisée“) bzw. 137. 57 Zu diesem präsentativen Charakter des Rituals W. BRAUNGART, Ritual und Literatur, Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 53, Tübingen 1996, 112. 115; M.F. CARTER, Ritual Functions, 228, mit starker Betonung der ästhetischen Komponente der Epideiktik. Vgl. auch M.-C. L’HUILLIER, L’Empire des mots, 133: „Icône et récit se mêlent ainsi dans l’éloge“; es entsteht ein „portrait discursif“ (134). 58 Men. Rh. II 368,3–5; 444,28; L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge dans le monde gréco-romain, Vol. I/II, EAug Série Antiquité 137/138, Paris 1993, 676. 59 Vgl. CH. PERELMAN, Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation, München 1980 (frz. 1977), 4 et passim; L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 678 f. 689; R. PARIS, Konsens, Fiktion und Resonanz. Über einige Wirkungsbedingungen ritueller Kommunikation, in: Fest und Festrhetorik. Zu Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik, hg. v. J. Kopperschmidt/H. Schanze, Figuren 7, München 1999, 267–280, betont, daß nicht eine Herstellung oder Aufrechterhaltung dieser Übereinstimmung das Ziel der Festrede sei, sondern vielmehr die Pflege von ‚Konsensfiktionen‘ (274 f.). Es geht nicht um tatsächliche Einheit, sondern um (zumindest temporäre) Einigkeit in der Wahrnehmung eines in der Tat fiktiven Konsenses: „Die Festrede definiert die Wirklichkeit der Gemeinschaft und die Gemeinschaft als wirklich.“ (274). 60 Zur Rede im Kontext der Feier vgl. E. MIKLAUTZ, Feste. Szenarien der Konstruktion kollektiver Identität, in: Fest und Festrhetorik. Zu Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik, hg. v. J. Kopperschmidt/H. Schanze, Figuren 7, München 1999, 193–206, zur Rolle des Sprechers: 200–202.

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ausmachen. Die Rede wird damit zu einer „fête des mots”61. Rainer Paris spricht in diesem Zusammenhang vom „Primat der ästhetischen Kognition“62. Zeit und Ort der Feier sind festgelegt, der Teilnehmerkreis ist in aller Regel durch vorhergehende Einladungen, durch Institutionalisierung der Teilnahme oder durch Zugangskontrollen eingegrenzt. Die Rollen sind zugewiesen, die Redner vorbestimmt, das Auditorium nimmt in womöglich hierarchischer Sitzordnung die Plätze ein, der Vortragende tritt an das Pult oder an eine andere herausgehobene Stelle. Der mitteleuropäische Verhaltenskodex schreibt stilles Zuhören während der Rede und mindestens höflichen Applaus danach vor; Störer werden mehr oder weniger dezent beruhigt oder des Ortes verwiesen. Für die epideiktische Rede der römischen Zeit galt dies so nicht: Die Schaudeklamationen der Sophisten waren stets in der Gefahr, von Zwischenrufen unterbrochen zu werden; bei Festrede vor dem Kaiser allerdings war das undenkbar. Das äußere setting, die Zeremonie fungiert durchweg als Rahmung des Textes. Bestandteil dieses Rahmens sind auch Erwartungen, was Art, Inhalt und Qualität der zu hörenden Rede anbetrifft; ihnen nicht zu folgen, wäre eine Brüskierung des Publikums und ein Verstoß gegen das Zeremoniell: Feierliche Anlässe erfordern eine besondere Stilhöhe des Vorgetragenen und eine besondere Stilisierung des Vortragens. Grundlegend ist dabei die triadische Struktur der Festrede: Die übliche Redesituation Redner – Auditorium wird hier dadurch modifiziert, daß unter der Zuhörerschaft mit dem formalen Adressaten der Ansprache einer bestimmten Person eine vor allen anderen herausgehobene Rolle und Funktion zugewiesen wird. An ihn richtet sich der Redner, auch wenn seine Aussagen genauso sehr die übrigen Zuhörer gewinnen sollen. Dieser formale Adressat stellt im Sonderfall des Enkomions zudem den Gegenstand der Rede dar; und seine Reaktion auf das Vorgetragene ist zwar durch die Regeln der Höflichkeit nicht völlig frei, aber doch die maßgebliche. Mit Rainer Paris: „Was immer A [der Redner] sagt, wird deshalb im Horizont aller Beteiligten zuallererst als eine Art ‚Beziehungsstatement‘ verstanden, als Stellungnahme gegenüber dem Dritten [dem formalen Adressaten] und dem, was er für die Gruppe repräsentiert. Es ist diese gesteigerte Präsenz des Dritten und die Beziehungsdominanz der Festrede, die der Situation ihr eigentümliches Gepräge gibt, aber auch ihre Gefahren und Risiken ausmacht.“63 Epideiktische Rede bedeutet daher immer auch Fokussierung; im Falle der Herrscherpanegyrik meint dies Fokussierung auf den Kaiser, sei er zum 61

L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 662. R. PARIS, Konsens, 268. 277. 63 Ebda., 270 f. 62

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Zeitpunkt der Rede physisch anwesend oder nur moralisch präsent. Die Paris’sche Kategorie der Beziehungsdominanz erlaubt es darüber hinaus, einen weiteren Zug der Panegyrik auszumachen: Sie thematisiert zuerst und vor allem das Verhältnis zwischen dem Herrscher und der politischen Gemeinschaft, die der Festredner repräsentiert. Ginge die Epideiktik dagegen in bloßer Propaganda auf, würde sie ihre Funktion als „Beziehungsstatement“ völlig verlieren und zu einer Leerform verkümmern. Die hier vertretene Vorgehensweise mit ihrem Postulat der umfassenden Analyse der Einzelzeugnisse erlaubt nur eine Konzentration auf eine überschaubare Zahl von Fallbeispielen. Der Schwerpunkt wird daher auf einer Auswahl besonders profilierter Reden liegen. Den Anfang bildet dabei eine Untersuchung der gratiarum actio des Plinius an Trajan, und dies aus zweifachem Grund: Sie ist nicht nur nahezu zeitgleich zu Dios dritter Rede   und richtet sich an denselben primären Adressaten, sondern hat vor allem eine kaum zu überschätzende formative Wirkung auf die spätere Entwicklung der Textgattung in Rom ausgeübt. Erst am Anfang der Spätantike läßt die Überlieferung dann wieder eine detaillierte Untersuchung vollständig auf uns gekommener Festreden zu: Eine Mainzer Handschrift hat uns ein beindruckendes, vermutlich ursprünglich in Gallien zusammengestelltes Corpus von insgesamt zwölf epideiktischen Reden erhalten, die als Panegyrici Latini bezeichnet werden64. Als zeitlich früheste Rede ist in diese Sammlung auch der Panegyricus des Plinius auf Trajan eingefügt worden, es folgen vier Ansprachen, die in die Zeit der ersten und zweiten Tetrarchie fallen, fünf Reden aus konstantinischer Zeit, die gratiarum actio des Claudius Mamertinus an Julian und ein Panegyricus des Pacatus, der sich an Theodosius I. richtet. Für das Jahrhundert von 289 bis 389 gewinnen wir mit diesem Corpus einen guten Einblick in die Kultur der Festrede im lateinischsprachigen Westen des Imperium Romanum. Und die im Corpus angelegte Gegenüberstellung von „klassischem“, plinianischem Modell und seinen späteren Umsetzungen soll auch hier beibehalten werden; an die Lektüre des Panegyricus wird sich die exemplarische Interpretation zweier Festreden aus konstantinischer Zeit anschließen. In einem Zwischenschritt wird jedoch zunächst versucht werden, die Entwicklung der Rolle und der sozialen Stellung des (Fest)Redners von der frühen Kaiserzeit bis in das 4. Jahrhundert nachzuzeichnen. Dafür sollen zum Teil neue Wege gegangen werden. Denn das Corpus der Panegyrici Latini bietet aufgrund seiner dichten Überlieferung von Reden unterschiedlicher, zu einem Großteil anonymer Verfasser, aber auch aufgrund der Tatsache, daß in ihm die Traditionsbildung einer gallo-römischen „RhetorikSchule“ zu fassen ist, einen Kontrast zu dem Material, das für die griechi64

Dazu unten Kap. 2.

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sche Sophistik der Kaiserzeit vor allem im Werk des Philostrat, für die spätere Zeit in den Vitae des Eunap bereit liegt. Die in den letzten Jahren vorgelegten Studien, die einer historischen Soziologie der antiken Rhetorik den Weg bereitet haben, schöpfen vorwiegend aus diesem griechischen Fundus65. Hier aber soll insbesondere am Beispiel des in Augustodunum (Autun) lehrenden Rhetors Eumenius das Selbstverständnis der professionellen lateinischsprachigen Redner dieser Zeit einer näheren Betrachtung unterzogen und damit ein erster Baustein für eine entsprechende Beschäftigung auch mit der Rhetorik und den Rhetoren im Westteil des Reiches gelegt werden. Auf diesem Weg wird gewährleistet, daß die Interpretationen der einzelnen spätantiken Reden nicht durch unerkannte Veränderungen der historischen und sozialen Rahmenbedingungen zwischen Plinius und Eumenius an Aussagekraft einbüßen. Die Eigenarten des Corpus der XII Panegyrici Latini, sein gallischer Bezug, der Rekurs auf die diokletianische und nachdiokletianische Herrschaftskonzeption machen die Texte zu einer ebenso schwierig zu handhabenden wie perspektivenreichen Quelle. Durch die Edition von Édouard Galletier66, die breit angelegte, computergestützte Auswertung von MarieClaude L’Huillier67 sowie den Gesamtkommentar von Barbara S. Rodgers und C.E.V. Nixon68 ist die Materie trotz dieser Schwierigkeiten inzwischen gut erschlossen worden und erlaubt nun eine detaillierte Interpretation auch unter historischen Fragestellungen. Den Festreden auf Diokletian und Maximian hat Roger Rees dementsprechend vor einigen Jahren eine in der Herangehensweise vorbildhafte Monographie gewidmet69; dem Panegyricus auf Konstantin des Jahres 310 galt bereits im Jahr 1990 die umfassend kommentierende Dissertation von Brigitte Müller-Rettig70. Dieselben Quellen hier noch einmal in extenso zu behandeln, bot sich nicht an; sie werden an gegebener Stelle kontrastierend oder bestätigend in die Untersuchung einbezogen. Um die Möglichkeit des Vergleichs zu eröffnen und unterschiedliche rhetorische Strategien herauszuarbeiten, schien es statt dessen sinnvoll, spätantike Festreden einander gegenüberzustellen, die un65

So vor allem TH. SCHMITZ, Bildung und Macht. Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophistik in der griechischen Welt der Kaiserzeit, Zetemata 97, München 1997, und M. KORENJAK, Publikum und Redner. Ihre Interaktion in der sophistischen Rhetorik der Kaiserzeit, Zetemata 104, München 2000; auch P. BROWN, Macht und Rhetorik, stützt sich vor allem auf Zeugnisse aus dem Osten. 66 Les Panégyriques Latins. Vol. I–III. Texte établi et traduit par E. Galletier, Paris 1949–1952–1955. 67 M.-C. L’HUILLIER, L’Empire des mots. 68 C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors. 69 R. REES, Layers of Loyalty in Latin Panegyric. AD 289–307, Oxford 2002. 70 B. MÜLLER-RETTIG, Der Panegyricus des Jahres 310 auf Konstantin den Großen. Übersetzung und historisch-philologischer Kommentar, Palingenesia 31, Stuttgart 1990.

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ter demselben Herrscher – Konstantin –, in ähnlichen Kontexten und jeweils an den Kaiser adressiert, vorgetragen wurden. Die Wahl fiel hier zum einen auf den sogenannten Panegyricus Latinus V (aus dem Jahr 311), zum anderen auf Panegyricus Latinus XII (313). Den Kern beider Reden bildet ein zentrales rituelles Ereignis: die Ankunft des Kaisers, der Adventus. Während in der ersten Rede das Ritual auf seine Bedeutung für eine gallische Provinzstadt, die Konstantin durch seinen Besuch ehrt, hin ausgedeutet wird, konzentriert sich der spätere Panegyricus auf einen Stadteinzug von geradezu welthistorischen Dimensionen, den Adventus Konstantins in Rom am Tag nach der Schlacht an der Milvischen Brücke. Worin unterscheiden sich diese Darstellungen, welche Gemeinsamkeiten sind aber auch zu verzeichnen? Die Analyse aller behandelten Reden folgt einem definierten Schema, das den Text jeweils aus seiner historischen und rhetorischen Situation heraus zu begreifen sucht: Nach der Erhebung von Kontext und setting wird daher zunächst eine Grobgliederung ihres Aufbaus vorgeschlagen. Es folgt eine Analyse der oratorischen Selbstaussagen, um schließlich im argumentatorischen Hauptteil der Reden den Aspekten der Sichtbarkeit nachzuspüren, wie sie schon anhand der Ausführungen des Dio Chrysostomus deutlich wurden. Wie werden diese Elemente in der jeweiligen Rede eingesetzt, an welcher Stelle erscheinen sie, welche rhetorische Funktion kommt ihnen zu? Aber auch: Woher stammen die Bilder, wie sind sie vernetzt mit anderen Medien, anderen Kommunikationssträngen? Liegen hinter den rhetorisch funktionalisierten Darstellungen tatsächliche Ereignisse, und, soweit sich dies herausarbeiten läßt: Was war deren ursprünglicher Zeichenwert? Es geht also auch darum, den Quellenwert der kaiserzeitlichen Festrhetorik für Rituale und Zeremonien abzuschätzen. Übergeordnetes Ziel ist aber, auf der Basis der Einzelstudien zu einem multipolaren Bild der Präsentation, Repräsentation und Kommunikation von Herrschaft im Imperium Romanum zu gelangen. Die Reden müssen zunächst als in unterschiedlichem Grad autonome Schöpfungen von Männern betrachtet werden, die sich (in der Regel) eben nicht als bloße Sprachrohre begriffen, aber ebensowenig voreilig für eine bestimmte politische Agenda in Beschlag genommen werden dürfen. Dabei ist in letzter Konsequenz auch zu fragen, in wieweit Herrschaft in ihren unterschiedlichen Facetten überhaupt der eigentliche Bezugspunkt dieser Texte und ihrer Verfasser ist. Dieser Ansatz wendet sich insofern bewußt von der bislang fast ausschließlich – einen Wendepunkt stellt die genannte Arbeit von Rees dar – praktizierten Herangehensweise an die lateinische Panegyrik des dritten und vierten Jahrhunderts ab: Ausgehend von einem seriellen Charakter der Festreden, sind in der Vergangenheit vor allem einschlägige Topoi und Motivkomplexe aus den Reden herausgelöst und somit isoliert von ihrem

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ursprünglichen Kontext betrachtet worden. Die konkrete Wirkweise der Topoi, aber auch der argumentative Charakter und die Funktion jedes einzelnen Panegyricus für sich ist dabei meistenteils verlorengegangen71. Eben dieser Eigenwert soll Rede und Redner zurückgegeben werden.

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Vgl. vor allem die Studien von R.H. STORCH, The XII Panegyrici Latini and the Perfect Prince, AClass 15, 1972, 71–76; M. MAUSE, Die Darstellung des Kaisers in der Lateinischen Panegyrik, Palingensia 50, Stuttgart 1994. Der Wert dieser Studien für ihre je spezifische Fragestellung soll damit jedoch nicht in Frage gestellt werden.

Erster Teil:

Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

Kapitel eins

Der Panegyricus des Plinius: Formierung einer Tradition 1. Der Stellenwert der Panegyrik in Rom Die lateinische Panegyrik der Kaiserzeit stellt eine Sonderform der antiken Beredsamkeit dar. Der Begriff hat seinen Ursprung in den Reden, die anläßlich von (pan)hellenischen Festversammlungen, !, gehalten wurden, und ist erstmals von Isokrates auf seine im Jahr 380 v. Chr. vollendete, fiktive Rede an das versammelte Hellas angewandt worden1. Die Panegyrik gehört formal dem !  (  # (lat. genus demonstrativum), der darstellenden Rede, an, die ihre Ausformung im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. erhielt, insbesondere durch die Sophisten Thrasymachos, Gorgias und Theodoros sowie durch den bereits genannten Isokrates2, letzterer selbst Schüler des Gorgias. Die Funktion der Epideixis bestand generell darin, ein Kollektiv, eine Stadt, einen Gegenstand etc. für seine Qualitäten zu loben bzw. ob seiner Mängel zu tadeln. Darüber hinaus sollte sie Gelegenheit bieten, die rhetorischen Fähigkeiten des Redners zu präsentieren. Vorläufer lassen sich bis in die archaische Literatur Griechenlands zurückverfolgen, aber bereits in den alt-orientalischen Kulturen ausmachen3; und im Athen der klassischen Zeit wurde mit dem ( & #! eine Unterform der Epideixis gleichsam institutionalisiert4. Es handelte sich hierbei um ein Kollektivlob anläßlich des staatlichen Begräbnisses für die im Krieg gefallenen Politen; die Leichenrede des Perikles ist in der Form, die ihr Thukydides gegeben hat5, nur das bekannteste Beispiel6. Erst im 1

Vgl. R. VOLKMANN, Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht, Leipzig 21885 (Ndr. 1987), 344 f. u. den Überblick bei C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 1–3. Zu Isokrates: A. LESKY, Geschichte der griechischen Literatur, Bern/München 31971 (Ndr. 1993), 656 f. 2 Cic., Orat. 11,37–12,39. 3 TH.C. BURGESS, Epideictic Literature, Chicago Studies in Classical Philology 3, 1902, 89–261, hier 91–103. Generell G.A. KENNEDY, Comparative Rhetoric. An Historical and Cross-Cultural Introduction, New York/Oxford 1998, 21. 121 f. 222 f. et passim; J. WALKER, Rhetoric and Poetics in Antiquity, Oxford 2000, 4–7 et passim. 4 L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 84–92, 19. Quint., Inst. III 4,5, faßt den Epitaphios explizit unter das dritte Genus. 5 Thuk. II 35–46.

Kapitel eins: Der Panegyricus des Plinius

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Laufe des vierten Jahrhunderts entwickelte sich daraus in Griechenland das Prosaenkomion auf Einzelpersonen; auch hier kommt Isokrates eine Archegetenfunktion zu7. Schließlich übertrug sich die Bezeichnung Panegyrik von der engen Bedeutung einer Festrede auf die Lobrede insgesamt8; in der hohen Kaiserzeit und besonders in der Spätantike wird selbst in den Rhetoriktraktaten systematisch der Begriff Epideiktik durch den der Panegyrik ersetzt9. Die römische Rhetoriktheorie10 tat sich mit der Adaptation der Epideiktik an die Verhältnisse der res publica Romana schwer11. So orientiert sich

6 Dazu N. LOREAUX, L’Invention d’Athènes. Histoire de l’oraison funèbre dans la « cité classique », École des Hautes Études en Sciences Sociales – Centre de recherches historiques, Civilisations et Sociétés 65, Paris 1981, insb. 42–56. 227–265. 7 Isokr., Euagoras 5–11; S.M. BRAUND, Praise and Protreptic in Early Imperial Panegyric: Cicero, Seneca, Pliny, in: The Propaganda of Power. The Role of Panegyric in Late Antiquity, ed. by M. Whitby, Mn.S 183, Leiden/Boston/Köln 1998, 53–76, hier 54–57; L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 19–22; vgl. Pline le Jeune, Panégyrique de Trajan. Préfacé, édité et commenté par M. Durry, Paris 1938, 28 f. 8 Cic., Orat. 37; Quint., Inst. III 8,7: etiam in panegyricis petatur audientium favor, ubi emolumentum non utilitate aliqua, sed in sola laude consistit. C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 1 f.; J. MARTIN, Antike Rhetorik. Technik und Methode, HdAW II.3, München 1974, 198–202. 204 f. 9 S. FORNARO, Art. Panegyrik I, DNP 9, 2000, 240–242; L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 38 f. Dies gilt freilich nicht für die Theoretiker der Epideiktik selbst – die ‚Epideiktik-Spezialisten‘ –, die weiterhin die Bezeichnung Panegyrikos für die traditionelle Festrede anläßlich einer )!  reservieren; vgl. dazu Men. Rh. I 365,30. 10 Der deutsche Sprachgebrauch ermöglicht es leider nicht, die essentielle Differenzierung von praktischer (‚Oratorik‘) und theoretischer Redekunst (‚Rhetorik‘) nachzubilden, die in der Antike stets beachtet wurde; Rhetorica und Oratorica sind gerade in Rom zwei voneinander getrennte Bereiche mit unterschiedlicher Form und Wertigkeit – geht es in den Rhetorica darum, in Auseinandersetzung mit den griechischen Vorläufern technische Anweisungen für die gekonnte Produktion von Reden zu liefern, liegt der Schwerpunkt bei den oratorischen Schriften (also v.a. auch dem Spätwerk Ciceros) auf einem holistischen Bild des Redners als politischer Figur, seiner sozialen Stellung und ethischen Prämissen – ein Grund dafür, daß sich diese Schriften kaum zu Lehrzwecken eignen und formale Beredsamkeit eben nicht vermitteln. Quintilian versucht eine Synthese, aber auch er bleibt den normativen Vorstellungen Ciceros zum Redner als vir bonus verpflichtet. Vgl. Quint., Inst. I praef. 9; XII 1,1; Cic., de Orat. I 64–73. 128. 202 f.; III 93– 95; Sen., Contr. I praef. 9; D.H. BERRY/M. HEATH, Oratory and Declamation, in: Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period. 330 B.C. – A.D. 400, ed. by St.E. Porter, Leiden/New York/Köln 1997, 393–420, hier 393. Einen Überblick über die frühe römische Rhetorik und ihre politischen Implikationen gibt F. PINA POLO, Contra arma verbis. Der Redner vor dem Volk in der späten römischen Republik, HABES 22, Stuttgart 1996, 65–93; zu Ciceros Intentionen insb. G. ACHARD, Pourquoi Cicéron a-t-il écrit le De oratore, Latomus 46, 1987, 319–329. Wichtig und hilfreich auch M. KRAUS, Art. Exercitatio, HWRh 3, 1996, 71–123, insb. 75 f. (Verhältnis von technischer und ethischer Bildung im römischen Diskurs).

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

die wohl früheste umfassende und vollständig erhaltene lateinische Abhandlung, die anonyme Schrift Rhetorica ad Herennium12, weitgehend an den griechischen Vorbildern und faßt den Zuständigkeitsbereich des genus demonstrativum – in Übereinstimmung mit Aristoteles13 – als denjenigen von Lob und Tadel14 (haec causa dividitur in laudem et vituperationem15). Ihr Autor betont zugleich aber auch, daß diese Redegattung in der praktischen – das heißt hier: römischen – Beredsamkeit keinen hohen Stellenwert habe (raro accidit in vita) und in eigenständiger Form (separatim) nicht sehr häufig gebraucht werde16. Sie dürfe dennoch nicht vernachlässigt werden, weil einzelne Passagen des Lobes oder des Tadels durchaus in den beiden anderen Redegattungen – Gerichtsrede und Beratungsrede – Platz und Funktion besäßen. Entsprechend galt als originär römisch im Bereich des genus demonstrativum lediglich die laudatio funebris, die besondere Form der Leichenrede17. In den Ausführungen Ciceros steht sie, ähnlich wie beim Auctor ad 11

Vgl. etwa G. ACHARD, La communication à Rome, Paris 1991, 73–81; G.A. KENThe Genres of Rhetoric, in: Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period. 330 B.C. – A.D. 400, ed. by St.E. Porter, Leiden/New York/Köln 1997, 43–50, hier 46. 12 Zur Ziesetzung des auctor, die gerade auch in einer rhetorischen Aufrüstung der homines novi bestand, s. Rhétorique à Herennius, ed. par G. Achard, Paris 1989, XXVIII–XXXII. LI. 13 Aristot., Rh. I 3,3, vgl. I 2. 14 Diese Dichotomie ist vor allem theoretischer bzw. doktrinärer Natur, eher auf die Schule als auf die Praxis bezogen; öffentlicher Tadel ist stets zwiespältig und in keinem politischen System gern gesehen – es sei denn als Invektive gegen einen überwundenen inneren oder drohenden äußeren Gegner. Die zeremonielle Epideiktik ist in der Grundaussage affirmativ; und der Verfasser der unter dem Namen des Menander überlieferten Traktats über die Epideiktik hat am Beginn der Spätantike daraus die Konsequenz gezogen, den Tadel als aristotelische Kategorie zwar anzuführen, aber für das eigene Handbuch nicht weiter zu verfolgen: Men. Rh. I 331,15–19. Vgl. TH.C. BURGESS, Epideictic Literature, 110. In den kaiserzeitlichen Agonen wird diese Einengung auf das lobende Element regelrecht institutionalisiert: M. FANTUZZI, Art. Epideiktische Literatur, DNP 3, 1997, 1099–1101. 15 Rhet. Her. III 6,10; vgl. I 2,2 u. Cic., Inv. I 5,7. 16 Rhet. Her. III 8,15. 17 Dion. Hal. V 17,2–4; Plb. VI 53,2 f. 54,1 f.; Cic., Brut. 16,61 f. (zur Überlieferung der laudationes in den Familien und ihrem hohen Grad an historischer, schönfärberischer Verfälschung). W. KIERDORF, Laudatio Funebris. Interpretationen und Untersuchungen zur Entwicklung der römischen Leichenrede, Beiträge zur Klassischen Philologie 106, Meisenheim a. Glan 1980, insb. 5 f. 49–58; W. EISENHUT, Einführung in die antike Rhetorik und ihre Geschichte, Darmstadt 51994 (zuerst 1974), 46–50; S.G. MACCORMACK, Latin Prose Panegyrics: Tradition and Discontinuity in the Later Roman Empire, REAug 22, 1976, 29–77, hier 33–35; C. NICOLET, Le métier de citoyen dans la Rome républicaine, Paris 1976, 460–467; E. FLAIG, Die pompa funebris. Adlige Konkurrenz und annalistische Erinnerung in der Römischen Republik, in: Memoria als Kultur, hg. v. O.G. OexNEDY,

Kapitel eins: Der Panegyricus des Plinius

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Herennium, zusammen mit dem Zeugenlob bei der Prozeßführung (laudatio iudicialis18) im Vordergrund der Anmerkungen zum laudatorischen Genus. Aufgrund der vermeintlichen Randständigkeit dieser Abteilung der Redekunst bleiben seine diesbezüglichen Angaben denn auch bewußt knapp19. In diesen Verfahrensweisen wird nicht zuletzt die nahezu obsessive Auseinandersetzung der römischen Rhetorik mit der Frage nach dem politischen Gebrauchswert der Epideiktik deutlich. Zugleich verbergen sich hinter ihnen zwei grundlegende normative Annahmen über den Status der öffentlichen Rede: (1) Sie besitze nicht allein eine kommunikative Funktion, sondern sei vielmehr Handlung und ziele qua Persuasion auf Auslösung von gewünschten Handlungen beim Adressaten (soweit durchaus im Einklang etwa mit dem Denken Platons)20; (2) der römische Orator – und dies gilt nun im Unterschied zu Griechenland – sei untrennbar mit Rede und Redegegenstand verbunden; Argumentation ist nicht zuallererst Beweisführung mit (rational nachvollziehbaren, ‚objektiven‘) Argumenten, sondern Persuasion durch die auctoritas des Sprechers21. Dies hieß im Umkehrschluß, daß Gegenstand und Genre dem Redner und seiner gravitas angemessen sein mußten. Für den Autor der Rhetorica wie auch für Cicero scheint dies in erster Linie für die Rede vor Gericht oder politischen Gremien gegolten zu haben, für die Epideiktik jedoch nur in Ausnahmefällen. Die frühe römische Rhetoriktheorie wies mithin der Epideiktik zwei Aufgabenfelder zu: Sie sollte zum einen dazu dienen, als Teil der politischen oder juridischen Auseinandersetzung der jeweiligen Argumentation zusätzliche Plausibilität zu verleihen; dies galt offenbar vor allem für Ar-

le, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121, Göttingen 1995, 115–148, bes. 129: laudatio funebris. 18 G. LAFAYE, Art. Laudatio, Dictionnaire des antiquités grecques et romaines d’après les textes et les monuments 3, ed. par C. Daremberg/E. Saglio, 1904, 995–998, insb. 995 f. 19 Cic., de Orat. II 341–349, insb. 341: quod nos laudationibus non ita multum uti soleremus, totum hunc segregabam locum … nostrae laudationes, quibus in foro utimur, aut testimoni brevitatem habent nudam atque inornatam aut scribuntur ad funebrem contionem, quae ad orationis laudem minime accomodata est; vgl. II 43–47. Cic., Inv. I 5,7, übernimmt die aristotelische Definition der Epideiktik als um die materiae Lob und Tadel gruppiert; W. KIERDORF, Laudatio Funebris, 52 f. 20 Etwa Cic., de Orat. I 30: neque vero mihi quicquam … praestabilius videtur. quam posse dicendo tenere hominum mentis, adlicere voluntates, impellere quo velit, unde autem velit deducere; vgl. Platon, Gorg. 452d–454e. 21 Dazu die Überlegungen von F. DUPONT, Le sujet de discours politique en Grèce et à Rome, Lalies 5, 1983, 265–274; vgl. K.-J. HÖLKESKAMP, Oratoris Maxima Scaena: Reden vor dem Volk in der politischen Kultur der Republik, in: Demokratie in Rom? Die Rolle des Volkes in der Politik der Römischen Republik, hg. v. M. Jehne, Historia ES 96, Stuttgart 1995, 11–49, insb. 17–25.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

gumente ad hominem22, zu deren Illustration die darstellende Rede in Anwendung kommt, indem gelobt oder getadelt, der Charakter der Protagonisten also je nach Interessenslage in vorteilhafter oder abträglicher Weise beleuchtet wird. Zum anderen gab es den lateinischsprachigen Theoretikern zufolge mit der Leichenrede in Rom auch eine formal durchgehend demonstrative Redeform. Allerdings wird auch die laudatio funebris von ihnen wiederum politisch interpretiert, nämlich in der politischen Auseinandersetzung der gentes verortet: Nach Ciceros Meinung dienten deren in abenteuerlicher Weise beschönigte genealogische Konstruktionen als ornamenta ac monumenta in der Konkurrenz der großen republikanischen Familienverbände um Ansehen und Einfluß23. In seinem Spätwerk Orator grenzt Cicero die Epideiktik dann jedoch scharf von der praktischen Beredsamkeit ab und verlagert sie gleichsam in den vorpolitischen Raum, von der „römischen“ Öffentlichkeit des Forums in die „griechische“ Privatheit der Palaestra: Die hier nun ausdrücklich als Stilform definierte Epideiktik erfüllt für ihn eine „Ammenfunktion“, sie ermöglicht die Aneignung syntaktischer, metrischer und lexikalischer Gewandtheit (verborum copia) und bereitet somit auf die wahre rednerische Auseinandersetzung in der politischen Debatte oder im Prozeß vor24. Die eigene oratorische Tätigkeit des Konsulars Cicero geriet zu den generalisierenden Darlegungen seiner rhetorischen Schriften freilich zunehmend in Widerspruch. So nahmen seine Reden in den 50er und 40er Jahren des ersten vorchristlichen Jahrhunderts immer stärker epideiktische Formen an: Konnte seine Pompeius-Panegyrik in pro lege Manilia (66 v. Chr.) noch unter die von Cicero selbst gebildete Kategorie der „empfehlenden“ Rede fallen, so war in L. Calpurnium Pisonem (55 v. Chr.) doch eine aus-

22 Vgl. Aristot., Rh. I 9, 1367b 36 f. Verbindung von genus demonstrativum und loci a personis: Cic., Inv. II 59,177; vgl. D.A. RUSSELL, Greek Declamation, Cambridge u.a. 1983, 46 f.; G.A. KENNEDY, The Genres of Rhetoric, 44. 23 Cic., Brut. 16,62. Vgl. Liv. VIII 40,3–5. Hierzu jetzt U. W ALTER, Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom, Studien zur Alten Geschichte 1, Frankfurt a.M. 2004, 89–108, insb. 105–107. 24 Cic., Orat. 11,37–13,42 (die nutrix-Funktion bildet dabei den Rahmen der Ausführungen zur Epideiktik): Cicero faßt die Epideiktik hier bezeichnenderweise vor allem als Stilform für alle Arten von Reden quae absunt a forensi contentione (37; vgl. 42: pompae quam pugna aptius, gymnasiis et palaestrae dicatum, spretum et pulsum foro). Der Orator bringt sie nicht zum öffentlichen Einsatz, dennoch besitzt sie wegen ihres propädeutischen Wertes eine Existenzberechtigung. Bei Cicero läßt sich zudem die auch von Quintilian (Inst. III 4,6–8) diskutierte Tendenz zur Gegenüberstellung nur zweier Redegattungen, nämlich der politischen (negotialis) und der epideiktischen ausmachen. (Part. 69 f.). L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 33. 52; S. MATUSCHEK, Art. Epideiktische Beredsamkeit, HWRh 2, 1994, 1258–1267, insb. 1261 f.

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gewachsene Invektive25, und waren die Caesarianae pro Marcello, pro Ligario und pro rege Deiotaro (46 bzw. 45 v. Chr.) regelrechte Lobreden respektive (im Falle der Marcellus-Rede) gratiarum actiones – mithin protopanegyrics, wie sie Susanna Morton Braund genannt hat26. Die politische Entwicklung holte also den Theoretiker Cicero in gewisser Weise ein, und mit dem Aufkommen der ‚großen Männer‘ in Pompeius und Caesar gewann auch die Lobrede auf lebende Personen in Rom an Boden. Wie der Orator zeigt, führte das faktische Vordringen des dritten genus causarum in der Praxis jedoch zunächst keineswegs zu einer Aufwertung durch den Theoretiker Cicero. Vielmehr verfolgte er in dieser Hinsicht eine Strategie der Eskamotage, indem er die Epideiktik zum einen zu einer Stilkategorie, zum anderen zu einem Propaedeuticum erklärte. Analog ordneten auch die gängigen Rhetoriklehren Lob und Tadel dem Bereich der Elementarübungen zu27. Im griechischen wie im römischen Bereich bilden sie Bestandteile der auf die eigenständige Ausarbeitung und Darbietung von Reden vorbereitenden Progymnasmata. In dieser die oratorische Praxis entscheidend vorprägenden Konzeption figurieren das Enkomion und sein Konterpart, der Psogos, als Bausteine, die erst in der höheren Ausbildungsstufe der Deklamation mit anderen Elementen zu einer vollgültigen Übungsrede vernetzt werden. Wenn Cicero also die Epideiktik als untergeordnete, propädeutische Form betrachtet, so ging dies nicht (oder nicht allein) mit der römischen Redepraxis, sondern zu einem großen Teil auch mit der herrschenden doctrina einher. Zudem wurde diese Lesart von der stetig steigenden Bedeutung einer effektheischenden Deklamationsweise gestützt28, die bereits Seneca pater beklagte29. In der Tat empfand man 25 S. KOSTER, Die Invektive in der griechischen und römischen Literatur, Beiträge zur klassischen Philologie 99, Meisenheim a. Glan 1980, 210–281, insb. 129. 210 f. 281 zum Stellenwert der Pisoniana, mit der die Invektive erstmals zur Literaturform ‚großen Stils‘ wird. 26 S.M. BRAUND, Praise and Protreptic, 55. 27 Quint., Inst. II 4,20 f.; Theon, Progymn. 9, 109,19–112,21; Aphthonius, Progymn. 8 u. 9; M. KRAUS, Art. Exercitatio, 76–80; s. grundsätzlich zur Bedeutung der Progymnasmata für die rhetorisch-literarische und soziale Initiation des jungen Griechen bzw. Römers: R. WEBB, The Progymnasmata as Practice, in: Education in Greek and Roman Antiquity, ed. by Y.L. Too; Leiden/Boston/Köln 2001, 289–316. 28 Vgl. Suet., de Gramm et rhet. 25,13. Zur Entwicklung der römischen Deklamation: S.F. BONNER, Roman Declamation in the Late Republic and Early Empire, Berkeley/Los Angeles 1949, 1–50; D.H. BERRY/M. HEATH, Oratory and Declamation, 393–420; W. STROH, Declamatio, in: Studium declamatorium. Untersuchungen zu Schulübungen und Prunkreden von der Antike bis zur Neuzeit, hg. v. B.-J. Schröder/J.-P. Schröder, BzA 176, München/Leipzig 2003, 5–34 (mit aktueller Bibliographie: 6 f. Anm. 5); D. GALL, Römische Rhetorik am Wendepunkt. Untersuchungen zu Seneca pater und Dionysios von Halikarnassos, in: Studium declamatorium. Untersuchungen zu Schulübungen und Prunkreden von der Antike bis zur Neuzeit, hg. v. B.-J. Schröder/J.-P. Schröder, BzA 176,

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diese Art des Vortrags als eine Art Epideiktik ad inspiciendum delectationis causa30, was den Rhetoriklehrern gegenüber um eine seriöse Ausbildung besorgten Eltern einiges an Rechtfertigung abverlangen sollte31. Die Beredsamkeit des Hörsaals galt als problematisch, da man sie für eine im spezifischen Sinne epideiktische, nämlich auf Zurschaustellung der Eloquenz und nicht auf Persuasion oder sachliche Erläuterung zielende Redeform hielt32. Dieser Sachverhalt erleichterte es nun Cicero, die Epideiktik gleichsam aus dem öffentlichen Raum hinauszudefinieren: Es konnte sie dort gar nicht geben. Im Umkehrschluß bedeutete dies für die Selbstdarstellung Ciceros aber auch: Was immer er als vir bonus in der Kurie oder auf dem Forum vortrug, galt ihm und hatte anderen definitionsgemäß zu gelten als genus deliberativum oder genus iudiciale, mithin als ernstzunehmende Beiträge. Er leistete damit einer paradoxen Entwicklung Vorschub: Der faktischen und praktischen Aufwertung einer in der Doktrin noch immer (und immer stärker) diskredierten Redegattung. Im Laufe der Kaiserzeit deutete sich dann jedoch auch auf der Ebene des theoretischen Diskurses eine beginnende Neubewertung der Epideiktik an. Ausgangspunkt hierfür bildeten die veränderten soziopolitischen Rahmenbedingungen. Der Principat verlangte eine Reihe von Festreden zu einer Vielzahl von zeremoniellen Anlässen, etwa bei Herrscherankünften, Geburtstagen und Jubiläen innerhalb der Herrscherfamilie; und regelmäßig auch Dankreden der Konsuln am Tage ihres Amtsantritts. Dem paßte sich München/Leipzig 2003, 107–126; J. FAIRWEATHER, The Elder Seneca and Declamation, in: ANRW II.32.1, Berlin/New York 1984, 514–556; R.A. KASTER, Controlling Reason: Declamation in Rhetorical Education at Rome, in: Education in Greek and Roman Antiquity, ed. by Y.L. Too; Leiden/Boston/Köln 2001, 317–337; W.M. BLOOMER, Schooling in Persona: Imagination and Subordination in Roman Education, ClAnt 16, 1997, 57–78. 29 Sen., Contr. I praef. 6–10. 30 Cic., Orat. 11,37. Cicero baut hier in der Tat auf Aristot., Rh. I 3,1–3 auf, der die Genres von der Position des Adressaten her unterscheidet. Kommt in der deliberativen und forensischen Rede dem Zuhörer die Funktion des ) zu, so ist es in der demonstrativen Rede die des %#; vgl. TH.C. BURGESS, Epideictic Literature, 92; G.A. KENNEDY, The Genres of Rhetoric, insb. 43 f. Aber die griechische Wirklichkeit war komplexer als die aristotelische Theorie! Denn nach dem Zeugnis des Thukydides vermochten gerade die attischen Demagogen durch einen gewissermaßen epideiktischen Vortragsstil die Zuhörer zu Zuschauern ihrer Worte zu machen und auf diesem Weg in der Debatte zu triumphieren: Thuk. III 38,4 (Zuhörer des Kleon als  * #!%); dazu G. WOEHRLE, Actio: Das fünfte officium des antiken Redners, Gymnasium 97, 1990, 31–46, hier 34. Vgl. auch J. WALKER, Rhetoric and Poetics, 9–14. 31 Quintilian subsumiert auch die Schuldeklamationen, die doch eigentlich zur deliberativen oder forensischen Beredsamkeit hinführen sollten, jedenfalls zum Teil unter die so verstandene Epideiktik: Inst. II 10,12; Men. Rh. I 331,16–18 muß sie dagegen explizit hinausdefinieren. L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 40 f. 32 S. auch S.F. BONNER, Roman Declamation, 48 f. 72.

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auch die innerrhetorische Debatte an: So verteidigte Quintilian am Ende des ersten Jahrhunderts die Epideiktik sowohl in der griechischen Form der paränetischen Panegyrik33 als auch in der römischen Gestalt der laudatio funebris als eine durch Funktion oder Herkommen politische Redegattung. Gerade in ihrer römischen Ausformung sei die epideiktische Rede weit mehr als ein Schaustück rhetorischer Brillianz34. Eine strikte Abgrenzung von politischer und nicht-politischer Rede, wie sie Aristoteles vorgenommen habe, entspreche daher nicht der Realität. Man müsse vielmehr diese Dichotomie in das epideiktische Genus selbst hineinholen, innerhalb dessen es eben Reden mit politischer Wirkabsicht und Reden mit rein literarisch-künstlerischem Anspruch gebe (ad solam compositae ostentationem)35. Entsprechend breiter legt Quintilian seine Ausführungen zur Epideiktik an und schließt nun etwa Hymnen auf Götter, das Städtelob und auch ausgefallenere Dinge wie laudes somni oder das ärztliche Lob auf bestimmte Speisen mit ein36. Auch wenn der Rhetoriklehrer sich offenbar letztlich nicht zu einer eindeutigen Stellungnahme durchringen konnte37, erkannte er mithin zum einen ausdrücklich den politischen Charakter einiger Arten des genus demonstrativum an und fügte zum anderen die gesamte Bandbreite der im griechischen Bereich entwickelten epideiktischen Spielarten in seine Konzeption ein. Mit Quintilian wurde eine unverkürzte Epideiktik auch auf der Ebene theoretischer Durchdringung in Rom heimisch38. Und sein Schüler C. Plinius Caecilius Secundus39 erblickte, wie die Analyse seines Panegyricus zeigen wird, in der Lobrede eine auch ihm 33 Quint., Inst. III 4,14: formam suadendi habent [sc. panegyrici] et plerumque de utilitatibus Graeciae loquuntur: ut causarum quidem genera tria sint, sed ea tum in negotiis tum in ostentatione posita. Vgl. TH.C. BURGESS, Epideictic Literature, 95 f. 34 Quint., Inst. III 7,2: mos Romanus etiam negotiis hoc munus inseruit (gemeint ist hier das funus publicum, wozu W. KIERDORF, Laudatio Funebris, 53). 35 Quint., Inst. III 7,1–4, Zitat 3; vgl. III 4,6. 16; G.A. KENNEDY, The Genres of Rhetoric, 45. 36 Quint., Inst. III 7, 6–9 (Hymnen). 26 (Städtelob). 29 (Schlaf/Speisen). 37 Quintilian bleibt selbst bei der Bestimmung des von dieser Gattung abgedeckten Bereichs unschlüssig. Inst. III 4,12–14 setzt er sich mit der Bedeutung des griechischen (  # in Unterscheidung von (!% # auseinander; letzteres sei als genus laudativum nur ein Bestandteil der weiterreichenden Epideiktik. Aber was soll (  # bedeuten? Quintilian nennt zwei offensichtlich kursierende Auffassungen: a) Es bezeichnet den Rahmen für die Zurschaustellung rednerischer Virtuosität (ostentatio), dieser Bedeutung neigt er zu; b) es bezieht sich auf die Beschaffenheit des Redegegenstandes, also etwa auf die Eigenschaften einer zu lobenden oder tadelnden Person (demonstratio; ähnlich bereits Cic., Inv. II 4,13), worin er allerdings eine falsche Übersetzung aus dem Griechischen erblickt. Wie die voranstehend angeführten Stellen zeigen, läßt Quintilian sich tatsächlich alle Optionen offen und benutzt mal die eine, mal die andere Lesart. S. auch L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 36–39. 38 Vgl. ebda., 106 f. 39 Zur Schülerschaft des Plinius vgl. Plin., Epist. II 14,9 (praeceptor meus); VI 6,3.

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als einem bonus civis40 durchaus angemessene und wirksame Form der Persuasion, die gleichermaßen der veränderten Staatsform und seiner eigenen Stellung als Senator Rechnung trug41. Zwischen dem Auctor ad Herennium und Plinius war also nicht nur ein Wandel in der Bedeutung der Epideiktik für die römische Redepraxis erfolgt, sondern auch eine schrittweise Neubewertung im theoretischen Diskurs. Bereits Cicero hatte der politischen Realität der untergehenden Republik darin Tribut zollen müssen, daß er mehr und mehr epideiktische Elemente in seine Reden einfließen ließ. Er suchte dies zu verbergen, indem er in seinen theoretisierenden Texten kurzerhand die Epideixis als propädeutische Übung kategorisierte; „politische“ Reden hingegen waren per definitionem nicht epideiktisch, also konnten es auch seine Beiträge nicht sein. So wollte er dem Odium entgehen, als Lobredner der Großen zu gelten – lieber war ihm die Rolle dessen, der Männern wie Pompeius und Caesar auf gleicher Augenhöhe Rat erteilte. Die auf ihn folgenden Autoren brauchten, insoweit sie über Rhetorik reflektierten, solche Rücksichten nicht im gleichen Maß zu nehmen: Quintilian, auch Sueton, zogen ihr Prestige aus der Nähe zum Hof, aber auch aus ihrer formalen Souveränität über die Redekunst, die nun tatsächlich zu einer ars wurde. Zugleich entwickelte sich die Fähigkeit, Lob in ansprechende Formen zu kleiden, von einer marginalisierten Hilfsdisziplin zu einer politischen Tugend – noch nicht immer offen eingestanden, aber doch stets deutlich zu verspüren.

2. Von der gratiarum actio zum Panegyricus Lebhaftes Zeugnis von der Etablierung der Epideiktik als politische Redeform im kaiserzeitlichen Rom legt die gratiarum actio ab, die Plinius im Jahre 100 vor dem Senat anläßlich des Antritts seines Suffektkonsulats hielt und die bis heute unter dem Titel Panegyricus bekannt ist. Vergleichbare Reden, in denen der neue Konsul dem Kaiser seinen Dank für das anvertraute Amt abstattete, hatten sich offenbar schon seit augusteischer Zeit eingebürgert42. Sie wurden im Senat vorgetragen und traten an die Stelle 40

Plin., Epist. III 18,1; vgl. Plin., Paneg. 2,1. Vgl. M.P.O. MORFORD, iubes esse liberos: Pliny’s Panegyricus and Liberty, AJPh 113, 1992, 575–593, insb. 575–579. 585 f. 592 f. 42 Vgl. Ov., Pont. IV 4,35–41; Laus Pisonis 68–71; Plin., Epist. II 1,5; III 13; III 18,1: Officium consulis iniunxit mihi, ut rei publicae nomine principi gratias agerem; VI 27,1; Plin., Paneg. 1,2; 90,3; Fronto, Ad M. Caes. II 2 (p. 17–21 v.d.H.) u. II 4 (p. 24 f. v.d.H.); Pan. Lat. III; Auson., Grat. act.; M. DURRY, Panégyrique, 3–5; B. RADICE, Pliny and the Panegyricus, G&R 15, 1968, 166–172, hier 166; M.L. PALADINI, La „gratiarum actio“ dei consoli in Roma attraverso la testimonianza di Plinio il Giovane, Historia 10, 1961, 41

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der in der Republik üblichen Dankreden der Konsuln an den populus und an die patres43. Doch hatte sich in der Übergangszeit ihre Funktion in bestimmter Hinsicht erweitert. Denn dem Zeugnis des Plinius zufolge war der Status der kaiserzeitlichen Reden zwiefach: Zum weitaus größeren Teil sei seine Ansprache eine publica gratiarum actio – auf Geheiß des Senats und im Namen der res publica (imperio senatus, auctoritate rei publicae) (Paneg. 1,2) – für die Verdienste des Kaisers. Der Hauptteil der plinianischen Rede (c. 25–55) stellt getreu dieser Ankündigung in der Tat im wesentlichen ein klassisches Lob herrscherlicher Tugenden, der militärischen und insbesondere der zivilen Leistungen Trajans dar44 und ist nur sehr mittelbar auf das Konsulat des Plinius bezogen. Aus einer generalisierenden Angabe im Exordium des Panegyricus ergibt sich, daß dies kein Zufall war, sondern Danksagungen dieser offiziellen Art global den munera gelten sollten (munera tua praedicare), die der Kaiser der res publica erwiesen hatte45. Erst in ihrem wesentlich kürzeren zweiten Teil bringt die gratiarum actio des Plinius dann auch den persönlichen Dank des Konsuls an den Kaiser zum Ausdruck (c. 90). Die Verbindung von öffentlichem Auftrag und ‚privatem‘ Anliegen war an der Wende vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert fest etabliert:

356–374; A.N. SHERWIN-WHITE, The Letters of Pliny. A Historical and Social Commentary, Oxford 21985 (zuerst 1966), 251; S.G. MACCORMACK, Latin Prose Panegyrics, 35 f.; P. FEDELI, Il ‚Panegirico‘ di Plinio nella critica moderna, in: ANRW II.33.1, Berlin/New York 1989, 387–514, hier 400–404; G.A. KENNEDY, A History of Rhetoric. Vol. II: The Art of Rhetoric in the Roman World (300 B.C.–A.D. 300), Princeton (N.J.) 1972, 543 f.; M. HAMMOND, Pliny the Younger’s Views on Government, HSPh 49, 1938, 115– 140, hier 120; L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 52 f. 108; F. MILLAR, The Emperor in the Roman World (31 BC – AD 337), Ithaca (N.Y.) 1977 (Ndr. 1992), 307 f.; nun G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 220–222 (mit nicht in allem zutreffender Einschätzung der Forschungsgeschichte). 43 Etwa Cic., Leg. agr. 2,1: Est hoc in more positum, Quirites, institutoque maiorum, ut ei qui beneficio vestro imagines familiae suae consecuti sunt eam primam habeant contionem, qua gratiam benefici vestri cum suorum laude coniungant.; C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 3. 44 A. BREMERICH-VOS, Art. Dankrede, HWRh 2, 1994, 405–412, hier 408; J. MESK, Zur Quellenanalyse des Plinianischen Panegyricus, WS 33, 1911, 71–100, hier 75. 45 Plin., Paneg. 4,3; vgl. J. MESK, Die Überarbeitung des Plinianischen Panegyricus auf Traian, WS 32, 1910, 239–260, hier 244. Zu stark hingegen die Einschränkung von G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 222–224, der jede Verbindung zum Dank für die Verleihung des Konsulats kappt – dagegen spricht aber schon die historische Genese aus dem Dank des neugewählten Konsuls an die contio für die Wahl, vgl. insb. nochmals den Beginn der zweiten Rede Ciceros de lege agraria.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik in consuetudinem vertit, ut consules publica gratiarum actione perlata suo quoque nomine, quantum debeant principi, profiteantur.46

Diese Mischform sei, so Plinius, im Konkreten allerdings auch deshalb unumgänglich geworden, weil Trajan jegliche private, also im Namen eines Individuums vorgetragene Abstattung von Dank ihm gegenüber ablehne und man daher auf offizielle Akte verwiesen sei47, bei denen der Redner im Namen der Allgemeinheit spreche. Die private Danksagung ließ sich so im Schutz eines öffentlichen Mandates ausführen. In der Einleitung seiner Rede führte Plinius darüber hinaus auch einen Senatsbeschluß an, durch den solche zeremoniellen Dankreden institutionalisiert worden waren: parendum est senatus consulto, quod ex utilitate publica placuit, ut consulis voce sub titulo gratiarum agendarum boni principes, quae facerent, recognoscerent, mali, quae facere deberent.48

Von einem rhetorisch-analysierenden Standpunkt aus ist diese Passage als Verpflichtungstopos zu bestimmen und erfüllt darüber hinaus die Funktion eines Kontextualisierungshinweises: Plinius legitimiert mit dem Verweis auf das Senatsconsult nicht nur seinen Auftritt, er präsentiert sich auch als Sprecher der gesamten res publica. Es ist allerdings umstritten, inwieweit seine Paraphrase dem tatsächlichen Wortlaut des Beschlusses entspricht; unter Verdacht ist vor allem die angebliche Zielsetzung der Konsulatsreden geraten, für die, folgt man der Lesart des Plinius, Herrscherparänese bzw. kritik verbindlich vorgeschrieben worden wären49. Daß in der Tat so offen und für alle Zeiten die gratiarum actio in ein richtiggehendes Tribunal 46 Plin., Paneg. 90,3. Einen parallelen Aufbau mit Zweiteilung in publica und privata gratiarum actio weist auch Ciceros pro Marcello auf; dazu J. MESK, Quellenanalyse, 82. 47 Plin., Paneg. 4,2 f.; R. VOLKMANN, Rhetorik der Griechen und Römer, 342 f. 48 Plin., Paneg. 4,1. Vgl. 1,2; 90,3. 49 Für die Authentizität F. RÖMER, Das senatus consultum bei Plinius, Paneg. 4, 1, WS N.F. 4, 1970, 181–188; M.L. PALADINI, La „gratiarum actio“, insb. 362 f.; vgl. N. MÉTHY, Éloge rhétorique et propagande politique sous le Haut-Empire. L’Exemple du Panégyrique de Trajan, MEFRA 112, 2000, 365–411, hier 368 f. Ablehnend: M. DURRY, Panégyrique, 3 und 89 z.St.; B. RADICE, Pliny and the Panegyricus, 168 f. Mir scheint Plinius hier die tatsächliche Formulierung des SC in einer Interpretation wiederzugeben, die immerhin eine beträchtliche Anschlußfähigkeit bei seinem Publikum besessen haben muß. Allerdings zeigt die sprachliche Form doch deutlich, daß es sich nicht um ein direktes Zitat aus dem Beschluß handeln dürfte: Kann man tatsächlich eine Institution (die wiederkehrende Dankrede) schaffen, um sie im gleichem Atemzug zu einem Deckmantel (sub titulo) für etwas ganz Anderes (die Herrscherparänese/kritik) zu machen? Daß der Senat zudem öffentlich die Möglichkeit anerkannt haben sollte, daß eines seiner Mitglieder eine Dankrede auf einen malus princeps halten könnte, ist schlicht nicht denkbar. Das SC enthielt also in seinem Wortlaut wahrscheinlich nichts von dem an dieser Stelle für den Argumentationsgang Geforderten, so daß Plinius allenfalls am erschlossenen ‚Geist‘ des Beschlusses entlangformulieren konnte.

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über die Tätigkeit des Princeps umgewandelt worden sein sollte, ist nicht recht vorstellbar. Der Senat dürfte nicht viel mehr getan haben als die eingespielte soziale und politische Praxis der gratiarum actiones der Konsuln an den Princeps in juristische Formen zu gießen. Für die Zwecke des Plinius hätte dies allein nicht viel hergegeben. Er nutzte daher einen offenbar bestehenden Interpretationsspielraum in der Formulierung des senatus consultum und machte es so zu einem Ausgangspunkt dafür, seine eigene Funktion als Dankredner aufzuwerten: Auf diese Weise konnte er nun seine laudatorische Aufgabe als eine indirekte Kontrolle der Herrschaftsausübung mit staatlichem Mandat deuten50. Diese Lesart schloß nahtlos an die weitergehenden Absichten des Plinius an, der wohl von vornherein – wie im übrigen für alle seine bedeutenden Reden51 – eine Überarbeitung und anschließende Publikation der gratiarum actio anstrebte52. Gegenüber seinem Briefpartner Vibius Severus erklärte er, Verschriftlichung und Edition sollten dazu dienen, mit dem Lob des gegenwärtigen Princeps den zukünftigen Herrschern – und doch wohl auch Trajan selbst für die kommenden Jahre53 – ein exemplum zu überliefern; dies ist wohl nicht von ungefähr ziemlich genau die Intention, die Plinius auch dem Senatsbeschluß zuschrieb: primum ut imperatori nostro virtutes suae veris laudibus commendarentur, deinde ut futuri principes non quasi a magistro, sed tamen sub exemplo praemonerentur, qua potissimum via possent ad eandem gloriam niti. nam praecipere, qualis esse debeat princeps, pulchrum quidem, sed onerosum ac prope superbum est; laudare 50 U. HÄFELE, Historische Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, Diss. Freiburg i. Brsg. 1958, 4–6 (s. auch 16 f. für eine Zusammenstellung der entsprechenden Antithesen), ist zuzustimmen, wenn sie die in der angeblichen Formulierung des Senatsbeschlusses angelegte Dichotomie von boni und mali principes zugleich als Leitmotiv der gesamten Rede identifiziert. Plinius interpretiert anscheinend das SC in Richtung auf diesen Grundgedanken, um der Anlage seiner Rede eine größere Dignität zu verleihen. 51 Vgl. Plin., Epist. I 2,1 u. 5; I 8,2 f.; I 20,9; II 5,1–9; IV 5,3 f.; V 12; VII 12; VII 17,7; IX 13,24; IX 28,5. Dazu A. WEISCHE, Plinius d. J. und Cicero. Untersuchungen zur römischen Epistolographie in Republik und Kaiserzeit, in: ANRW II.33.1, Berlin/New York 1989, 375–386, hier 382; E. FANTHAM, Two Levels of Orality in the Genesis of Pliny’s Panegyricus, in: Signs of Orality. The Oral Tradition and Its Influence in the Greek and Roman World, ed. by E.A. Mackay, Mn.S 188, Leiden/Boston/Köln 1999, 221–237, hier 225–230. 52 G.A. KENNEDY, Art of Rhetoric, 544, hält Überarbeitung und Publikation der gratiarum actio für einen Sonderfall, der sowohl dem Geltungsbedürfnis des Plinius als auch der spezifischen politischen Lage zu Beginn einer Herrschaft, die sich erst etablieren mußte, geschuldet sei. Vgl. aber Plin., Epist. II 1,5 zur gratiarum actio des Verginius Rufus, die bereits die Form eines liber grandior (volumen) hatte; es ist durchaus denkbar, daß ein Prachtexemplar der Rede jeweils dem Princeps überreicht wurde. Vgl. auch M. DURRY, Panégyrique, 5. 53 Plin., Paneg. 43,3: tene, Caesar, hunc cursum!

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik vero optimum principem ac per hoc posteris velut e specula lumen, quod sequantur, ostendere idem utilitatis habet, adrogantiae nihil.54

So wird in der Konzeption des Plinius die Lobrede zum Fürstenspiegel55, und damit zu einem politischen Akt: Der Autor bewahrt sich eine unabhängige, kritisch-distanzierte Stellung gegenüber dem Kaiser – zugleich Adressat und Gegenstand seiner Rede –, indem er über die ursprüngliche Kommunikationssituation, über Anlaß und Zweck der Rede hinausgeht und ihr eine bleibende herrschaftsleitende Funktion zuweist56. Plinius sorgte also nicht nur durch den Verweis auf den Senatsbeschluß – beziehungsweise auf seine Interpretation des SC –, sondern auch durch die flankierende Publikation von Briefen, die sein Tun erläutern sollten, dafür, daß sein Publikum diese von ihm beanspruchte Autonomie stets vor Augen behielt57. Hier scheint noch die oben beschriebene Sorge Ciceros durch, sich durch eine reine Lobrede als politisch ernstzunehmender Bürger zu disqualifizieren. Für den Römer blieb eine laudatio ohne adhortativ-kritischen Charakter, die Leichenrede immer ausgenommen, untragbar. 54

Plin., Epist. III 18,2 f. Vgl. M.L. CLARKE, Rhetoric at Rome. A Historical Survey. Revised and with a new introduction by D.H. Berry, London 31996, 107–109. 55 D. FEURSTEIN, Aufbau und Argumentation im Plinianischen Panegyricus. Untersuchungen zur Intention der Überarbeitung, Diss. Innsbruck 1979, will im gesamten Panegyricus eine kritische Paränese in Absetzung von der Selbstdarstellung Trajans erkennen. Gegen eine solche – in der Tat zu einseitige – Interpretation hat sich K. STROBEL, Zu zeitgeschichtlichen Aspekten im ‚Panegyricus‘ des jüngeren Plinius: Trajan – „Imperator invictus“ und „novum ad principatum iter“, in: Zur Deutung von Geschichte in Antike und Mittelalter, hg. v. J. Knape/Dems., Bamberger Hochschulschriften 11, Bamberg 1985, 7–112, hier 9–12, vehement ausgesprochen. Die Rede sei vielmehr ‚ein in seinem Charakter in hohem Maße offiziöses Zeugnis für die Selbstdarstellung und Herrschaftspropaganda der ersten Regierungsjahre Trajans‘ (9), an der ‚Existenz adulatorischer Rechtfertigungspropaganda für ihn im Panegyricus‘ sei nicht zu zweifeln. Abgesehen von dem problematischen, da anachronistischen Propagandabegriff unterschätzt Strobel m.E. die programmatischen Ambitionen des Plinius, der eben nicht nur der devote und selbstzufriedene Opportunist ist (vgl. ebda. 11 f.; auch dies letztlich vom modernen Standpunkt aus gedacht), sondern handfeste Interessen vertritt, die er, verständlich genug, nicht konfrontativ, sondern gerade in Anlehnung an die Schlagworte trajanischer Außendarstellung entwickelt – welche er im übrigen teilt. Vgl. SH. BARTSCH, Actors in the Audience. Theatricality and Doublespeak from Nero to Hadrian, Revealing Antiquity 6, Cambridge (Mass.)/London 1994, 149; M. HAMMOND, Pliny the Younger’s Views on Government, 120 f.; J.M. SCHULTE, Speculum Regis. Studien zur Fürstenspiegel-Literatur in der griechisch-römischen Antike, Antike Kultur und Geschichte 3, Münster 2001, 218–227. Zur Kritik an der älteren Deutung auch G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Trajans, 214– 216. 56 TH.C. BURGESS, Epideictic Literature, 137 f., siedelt den Panegyricus auf der Schnittstelle von " #! und  -Literatur an. 57 Zur Intention des Plinius bei der Edition seiner Briefe und deren kommentierender Funktion gerade auch mit Hinblick auf seine ebenfalls veröffentlichten Reden sowie als „dokumentarische Autobiographie“: A. WEISCHE, Plinius d. J. und Cicero, 384.

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In dieser Tradition stehend, setzt Plinius sowohl in seinen begleitenden Briefen als auch in der Lobrede selbst drei grundlegende Kautelen für das genus laudativum an: Das Lob auf den Kaiser muß wahrhaftig sein (veris laudibus), es muß sich um einen in der Tat ausgezeichneten Herrscher handeln (optimus princeps, hier wie auch sonst auf Trajan bezogen58) und es muß einen gewissen Grad an Freiwilligkeit besitzen59. Hierzu gehört auch, daß Plinius sich die aristotelische Unterscheidung von   und (!+  zu eigen macht und analog zwischen lobenswerten Taten und dem Lob der Person als charakterlicher Einheit differenziert60. Einzelne Taten können auch bei schlechten Herrschern Zustimmung finden – niemals aber der malus princeps selbst. Wahres Lob muß daher auf den ganzen Menschen zielen und nicht bei seinen facta haltmachen; Wahrhaftigkeit ist nur aus dem Gesamtbild zu gewinnen. So kann nur als optimus gelten, bei wem nichts zu verschleiern, bei wessen Darstellung nichts auszulassen ist. Aus einer Lobrede werde unter diesen Umständen eine sachliche Darlegung61. Plinius nennt damit die Bedingungen, unter denen Panegyrik für einen römischen Bürger und Senator zu einer Handlung werden kann, die seiner dignitas entspricht. Er definiert, wann – und erläutert damit zugleich, warum – die Rede von einem simplen Herrscherlob und einer ausgefeilten Epideixis rhetorischer Fähigkeiten zu einem politischen Akt wird. Seine Anmerkungen zur Enkomiastik führen dabei auf eine Grundproblematik öffentlicher Rede in autoritär strukturierten Gesellschaften, eine Problematik, die sich für die auf das gesprochene Wort fixierten antiken Gesellschaften in nochmals verschärfter Form stellte: Das politische System ließ nichts Anderes als affirmative Aussagen zur Person, zum Charakter und zu den Handlungen des Herrschers zu; das traditional verankerte Wertegefüge derselben Gesellschaft ging jedoch von der vollen Zurechenbarkeit der Worte zu ihrem Sprecher aus. Geheucheltes Lob mochte unter diesen Umständen eine Überlebensstrategie sein – sie stellte aber Ehre und Autorität 58 Vgl. auch Cass. Dio LXVIII 23,1 f.; zur Titulatur, ihrer ‚inoffiziellen‘ Anwendung auf frühere Kaiser und schließlich ihrer ofiziellen Übertragung durch Senatsbeschluß auf Trajan im Jahr 114: R. FREI-STOLBA, Inoffizielle Kaisertitulaturen im 1. und 2. Jahrhundert, MH 26, 1969, 18–39, insb. 26–29; M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, in: CAH XI2, ed. by A.K. Bowman/P. Garnsey/D. Rathbone, Cambridge 2000, 84–131, hier 103. 113; M. FELL, Optimus Princeps? Anspruch und Wirklichkeit der imperialen Programmatik Kaiser Trajans, Quellen und Forschungen zur Antiken Welt 7, München 1992, 68. 59 Plin., Paneg. 55,9. 60 Plin., Paneg. 56,1: Propositum est enim mihi principem laudare, non principis facta. Nam laudabilia multa enim mali faciunt, ipse laudari nisi optimus non potest. Vgl. Aristot., Rh. I 9,32–34 (1367b 27–33); L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 119 f.; M. VALLOZZA, Art. Enkomion, HWRh 2, 1994, 1152–1160, hier 1155 f. 61 Plin., Paneg. 56,1: nihil velandum est, nihil omittendum u. 56,2: Non omnia eius modi, ut is optime te laudasse videatur, qui narraverit fidelissime?

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

des Redners in Frage. Auf diesen doppelten Druck wußte Plinius mit den analysierten Aussagen zu reagieren, die einer Sprechakttheorie avant la lettre gleichkommen62. Daß er aber die Notwendigkeit einer solchen sprachlichen Operation überhaupt sah, deutet nochmals auf das genannte Auseinandertreten von Kommunikationsformen und -möglichkeiten auf der einen sowie sozialen Werthierarchien auf der anderen Seite hin. Doch nicht nur die Benennung der conditio sine qua non für ein wahrhaftiges und daher mit der Würde des Sprechers zu vereinbarendes Lob dient Plinius als möglicher Ausweg aus diesem Dilemma: Aus seinen Briefen lassen sich auch grundsätzliche Überlegungen über das Lob als soziale Handlung herauslesen, die in eine ähnliche Richtung (und über die bisherige Argumentation hinaus) führen. Bei der Betrachtung der römischen Enkomiastik im weiteren Sinne – also nicht nur bezogen auf den Kaiser, sondern auf die viri clari überhaupt, das heißt hier konkret: auf die Helden der Republik ebenso wie auf die Mitglieder der senatorischen „Opposition“ gegen Nero und Domitian –, entwickelt Plinius eine Position, die als repräsentativ für seine Zeit gelten darf63. So erblickt er im Lob überragender Tugend nicht nur ein Gebot der Achtung vor überragenden Leistungen, sondern auch den Ursprung für ein vermehrtes Ansehen des so Preisenden selbst: Scias ipsum plurimis virtutibus abundare, qui alienas sic amat64. Die Veröffentlichung lobenswerter Handlungen anderer ist aus seiner Sicht also ebenso verdienstvoll, wie diese Taten selbst zu vollbringen – zu übertreffen nur noch dadurch, sie zu vollbringen und von ihnen schreibend zu künden65. Plinius hält sich nicht nur für einen dieser schreibenden beati, er glaubt auch an die „Spiegelfunktion“ seines Lobs, das unweigerlich auf ihn selbst zurückfallen werde66. So verstandenes öffentliches Loben ist daher auch in dieser Hinsicht nicht nur keineswegs ein Genre von zweifelhaftem Status; es ist auch und vor allem eine Verpflichtung eines Mitglieds der

62 Ich beziehe mich insbesondere auf das Konzept von J.R. SEARLE, Was ist ein Sprechakt?, in: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, hg. v. U. Wirth, Frankfurt a.M. 2002, 83–103 (engl. 1991). 63 Zum folgenden vgl. H. KRASSER, Claros colere viros oder Über engagierte Bewunderung. Zum Selbstverständnis des jüngeren Plinius, Philologus 137, 1993, 62–71; M. LUDOLPH, Epistolographie und Selbstdarstellung. Untersuchungen zu den ‚Paradebriefen‘ Plinius des Jüngeren, Classica Monacensia 17, Tübingen 1997, 76–82. 64 Plin., Epist. I 17,3. 65 Plin., Epist. VI 16,3: Equidem beatos puto, quibus deorum munere datum est aut facere scribenda aut scribere legenda, beatissimos vero quibus utrumque. (Kontext ist die Bitte des Tacitus um genauere Informationen zum Tode von Plinius’ Onkel, um diesen möglichst wahrheitsgetreu darstellen zu können – quo verius tradere posteris possis); ein ähnlicher Gedanke bereits Sall., Cat. 3,1. 66 H. KRASSER, Claros colere viros, 70.

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Oberschicht – und es vermehrt seine dignitas und damit seinen sozio-politischen Status. Für die Epideiktik gab es also Plinius zufolge in der frühen Kaiserzeit auch in politicis ein reichliches und angesehenes Betätigungsfeld. Bei aller Ambivalenz des Genres, mit der der Senator sich beständig auseinandersetzen mußte, konnte er sich im Falle seiner gratiarum actio für das Konsulat immerhin auf einen Senatsbeschluß berufen, durch den diese zeremoniellen Reden institutionell und sozial legitimiert wurden. Vor diesem Hintergrund wollte Plinius seinen Panegyricus verstanden wissen, und im Hinblick auf diesen Anspruch ist die Rede auch im folgenden kritisch zu analysieren: als ein politischer Akt, als „noble“ Aufgabe eines Mitglieds der römischen Oberschicht, das berechtigtes Lob mit paränetischer Absicht ausspricht und für diese Leistung mit Anerkennung bedacht zu werden erwartet. Die heutige Forschung geht davon aus, daß bei dem komplexen Redaktionsprozeß, dem Plinius seine Dankrede nach dem Vortrag in der Kurie unterzog, ihr Volumen um den Faktor 2 bis 5 zunahm67. Denn Plinius rezitierte die Rede während dreier Tage vor einem ausgewählten Publikum68, holte danach mehrfach die Voten von Freunden ein, verbesserte, arbeitete um, wie er es auch sonst zu tun pflegte69. Die ursprünglich recht kurz gehaltene gratiarum actio wurde im Verlauf dieser Revision in ein weit ausgreifendes Enkomion umgearbeitet. Es ergab sich für die abschließende,

67 J. MESK, Überarbeitung; M. DURRY, Panégyrique, 5–8; A.N. SHERWIN-W HITE, The Letters of Pliny, 251 f.; G.A. KENNEDY, Art of Rhetoric, 545. K. STROBEL, Zeitgeschichtliche Aspekte, 70 Anm. 5, argumentiert für eine Verdoppelung des ursprünglichen Umfangs im Zuge der Überarbeitung. Vgl. Quintilian zur Diskussion um das statthafte Maß der Überarbeitung von Reden für die Publikation (Inst. XII 10,49–55). 68 Plin., Epist. III 18,4: per biduum convenerunt, cumque modestia mea finem recitationi facere voluisset, ut adicerem tertium diem, exegerunt. 69 Zur grundsätzlichen Vorgehensweise des Plinius bei der Überarbeitung vgl. Plin., Epist. VII 17,7: nullum emendandi genus omitto. ac primum, quae scripsi, mecum ipse pertracto; deinde duobus aut tribus lego; mox aliis trado adnotanda notasque eorum, si dubito, cum uno rursus aut altero pensito; novissime pluribus recito ac, si quid mihi credis, tunc acerrime emendo; vgl. VIII 19,2; I 8. Offenbar legte Plinius die Rede selbst, deren Umfang durch Zeitvorgaben notwendigerweise beschränkt war, von vornherein sprachlich und syntaktisch auf eine spätere Erweiterung an: Hierzu der Vorschlag von G. CALBOLI, Pline le Jeune entre pratique judiciaire et éloquence épidictique, BAGB 1986, 357–374, insb. 359–366. Zur Funktion des wechselseitigen consilium innerhalb der verschiedenen (auch ‚literarischen‘) Freundeskreise: A.-M. GUILLEMIN, Pline et la vie littéraire des son temps, Collection des Études Latines 4, Paris 1929, 42–56.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

publizierte Fassung, so wie sie uns heute überliefert ist, die folgende Disposition in sieben größeren Abschnitten70: I. II. III. IV. V. VI. VII.

Exordium (c. 1–4) Werdegang Trajans bis zum Principat (c. 4–24) Leistungen Trajans für die res publica (c. 25–55) Trajans drittes Konsulat (c. 56–80) Trajans Privatleben (c. 81–89) Persönlicher Dank des Plinius (c. 90–93) Peroratio (c. 94–95).

Mit einiger Wahrscheinlichkeit wurden allerdings gegenüber der Vortragsfassung hinsichtlich der inventio keine größeren Erweiterungen vorgenommen, sondern vordringlich die bereits vorhandenen Topoi weiter ausformuliert und ausgeschmückt71. Alle Versuche, die ursprüngliche Version zu rekonstruieren, stützen sich auf tatsächliche oder angebliche Brüche, vermeintlich harsche Übergänge und gedankliche Abschweifungen in der publizierten Fassung; entsprechend unsicher und vom Geschmack des Forschers abhängig sind die Ergebnisse – eine verlässliche Schichtenanalyse ist kaum möglich72. Die Grundaussage des Panegyricus wird aber auch schon in der Erstfassung enthalten gewesen sein; ohnehin trat Plinius mit seiner revidierten und erweiterten Fassung schon relativ kurze Zeit nach dem Vortrag (in den Jahren 101 oder 102) an die Öffentlichkeit73, und in 70 Vgl. W. KÜHN, Plinius der Jüngere – Panegyrikus. Lobrede auf den Kaiser Trajan, herausgegeben, übersetzt und mit Erläuterungen versehen von W.K., TzF 51, Darmstadt 1985, 9–12, der im wesentlichen M. DURRY, Panégyrique, 7, folgt; s. auch R. VOLKMANN, Rhetorik der Griechen und Römer, 341 f. 71 Dies resultiert aus Plin., Epist. III 18,1; dazu J. MESK, Überarbeitung, 240 f.; G. KENNEDY, Art of Rhetoric, 546. 72 So jetzt auch G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 217 f., im Anschluß an E. FANTHAM, Two Levels of Orality. 73 M. DURRY, Panégyrique, 9–15; K. STROBEL, Zeitgeschichtliche Aspekte, 9; S. FEIN, Die Beziehungen der Kaiser Trajan und Hadrian zu den litterati, BzA 26, Stuttgart/Leipzig 1994, 145 f.; J. BENNETT, Trajan – Optimus Princeps. A Life and Times, London/New York 1997, 64, hält – wie bereits J. Carcopino – auch eine Veröffentlichung erst in den Jahren 103/104 für möglich. G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 218, will hingegen als terminus ante quem für die Veröffentlichung den September des Jahres 100 bestimmen können; eine Publikation noch im Monat des Vortrags erscheint aber angesichts des komplexen Redaktionsprozesses kaum möglich. Zur älteren Diskussion vgl. P. FEDELI, ‚Panegirico‘, 408–411, der eine rasche Publikation mit Blick auf eine breitere politische Wirkung der Rede für geboten hält. Überblick über die Forschungsgeschichte auch bei N. MÉTHY, Éloge rhétorique, 367 Anm. 7. M.E. darf aber ungeachtet der Datierungsfrage nicht übersehen werden, daß gerade der von Plinius gewählte ‚öffentliche‘ Redaktionsprozeß die Aufmerksamkeit und die Beteiligung der von ihm intendierten Adressaten sicherstellen konnte.

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der Zwischenzeit dürfte er das Interesse der entsprechenden senatorischen und ritterlichen Kreise durch zahlreiche Rezitationen wach gehalten haben. Die eine wie die andere Version war ein Beitrag des Plinius zur Debatte um den optimus princeps in den ersten Jahren der Herrschaft Trajans, und sie ist nicht von diesem breiteren Diskurs zu trennen. Es soll und kann gleichwohl nicht bestritten werden, daß Plinius – neben diesem politischen Anliegen – als Literat auch sprachlich-stilistisch Maßstäbe setzen wollte74: Aus seinen Selbstauskünften ergibt sich, daß er als Ergebnis der Revision nicht nur einen wesentlich längeren, von den Beschränkungen der Vortragssituation befreiten Text, sondern auch ein bewußt artifizielles Lesestück anstrebte75. Nicht wenig Energie dürfte daher bei der Redaktion gerade in sprachliche elegantia geflossen sein. Beides aber gehörte zusammen: der würdevolle Inhalt und der gelungene sprachliche Ausdruck76. Plinius traf bei diesem Bemühen auf eine starke (attizistische) Strömung, die auch für die publizierte Form einer Rede extreme Reduktion im 74

Zum Verhältnis von literarischen und politischen Ambitionen des Plinius vgl. S. FEIN, Die Beziehungen der Kaiser Trajan und Hadrian zu den litterati, 142–147; vgl. auch H.-P. BÜTLER, Die geistige Welt des jüngeren Plinius. Studien zur Thematik seiner Briefe, Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften N.F. II.38, Heidelberg 1970, 41–57. Es wäre aber verfehlt, hinter dem ‚otium–negotium-Konflikt‘ literarischen Eskapismus walten zu sehen. Plinius strebt auf dem einen wie auf dem anderen Gebiet nach sozialer Distinktion – Kriterium bleibt stets das decorum/honestum; vgl. etwa Plin., Epist. I 9; III 1,11 f.; IV 23 (dignitas, honor und amicitia als Triebkräfte für den Redner); VII 15; VIII 21. E. FANTHAM, The Contexts and Occasions of Roman Public Rhetoric, in: Roman Eloquence. Rhetoric in Society and Literature, ed. by W.J. Dominik, London/New York 1997, 111–128, hier 124, betrachtet Plinius als atypisch für seine Zeit; er repräsentiere „the literary side of oratory“. Plinius selbst und seine Freunde sehen aber gerade den auch literarisch ambitionierten Redner als Idealtypus des Orator im Principat an – die Abgrenzung von den gleichsam berufsmäßigen Rednern im Senat und vor den Gerichtshöfen, die nichts anderes als delatores darstellen, wird sowohl in den Briefen des Plinius als auch in den Werken des Tacitus deutlich. 75 Plin., Epist. III 18. Dagegen grundsätzlich (und normativ) zum Verhältnis von vorgetragenem und veröffentlichtem Redetext (der Lesetext sei monumentum actionis): Quint., Inst. XII 10,49–57 (vgl. jedoch das zumindest in Teilen zustimmende Aristotelesreferat III 8,63 f.); Quintilian bezieht sich aber auf Reden überhaupt, insbesondere Gerichtsreden. Für die Epideiktik liegen die Dinge von Beginn an anders: Bereits Aristoteles sieht sie vor allem als zu lesende Texte an, deren eigentliches Charakteristikum – Stil geht vor Inhalt – sich eben erst bei der Lektüre voll entfalten könne: Aristot., Rh. III 1,7. 12,5 f. TH.C. BURGESS, Epideictic Literature, 106. 76 Nach welchen Kriterien die römische Oberschicht auch eminent politische Reden beurteilte, zeigt der Durchgang durch die Beredsamkeit der römischen Kaiser von Caesar bis Nero bei Tacitus, Ann. XIII 3: Stil, Fähigkeit zum Extemporieren, Schlagfertigkeit, Angemessenheit! Vgl. auch Fronto, ad Verum 2,1,10 (p. 123,7–20 v.d.H). Die Sorge um die sprachliche Ausgestaltung war also von ebenso großer Bedeutung wie der Inhalt. Vgl. auch A.E. ORENTZEL, Orator Emperors in the Age of Pliny, CB 63, 1981, 43–48.

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Sinne des brevitas-Ideals forderte77. Er folgte ihr trotz mancher Konzession an die Vertreter solcher severitas letztlich nicht78. Zunächst jedoch wendet auch Plinius sich vorderhand gegen den ausschweifenden, süßlichen Stil, der insbesondere unter den Vorgängern Trajans gepflegt worden sei. Diese Abgrenzung von den dulcia und blanda erfolgte offenbar aus politischen Gründen ebenso wie aus solchen sozialer Distinktion: Könne er, wie er wolle, sei auch er im Grunde Anhänger des strengen, elitären Stils79. So versichert Plinius in einem Brief an seinen Freund Celer, natürlich seien nur die Stellungnahmen der certi selecti, der wahren, handverlesenen Kenner für ihn ausschlaggebend80. Aber selbst in diesem Schreiben klingt seine Befürchtung durch, daß allzu große Nüchternheit im Ausdruck den Kreis der Leser und Hörer über Gebühr einschränke: nec persuadere mihi possum non et cum multis et saepe tractandum, quod placere et semper et omnibus cupias81. Für den Panegyricus gelte dies in besonderer Weise: Es sei der stilus laetior zu bevorzugen, da doch die striktere Ausdrucksweise dem größeren Publikum als gekünstelt erscheinen könne82. Plinius sah sich also seinen Freunden und Standesgenossen gegenüber zur Rechtfertigung verpflichtet: Die von ihm gewählte Stilform stand unter dem Verdacht der Banalität – und dahinter verbarg sich die Auffassung, Elite definiere sich auch und besonders über die Form des sprachlichen Ausdrucks83. Geschmack war sozial kodiert84. Die Grundfrage lautete daher,

77 Plin., Epist. I 20; A. RIGGBY, Pliny on Cicero and Oratory: Self-Fashioning in the Public Eye, AJPh 116, 1995, 123–135, hier 123–127; insb. auch A.-M. GUILLEMIN, Pline et la vie littéraire, 79–88; A.D. LEEMAN, Orationis Ratio. The Stylistic Theories and Practice of the Roman Orators, Historians and Philosophers. Vol. I, Amsterdam 1963, 324–328. 78 Anders G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 255. 79 Plin., Epist. III 18,10: non ideo tamen segnius precor, ut quandoque veniat dies (utinamque iam venerit!), quo austeris illis severisque dulcia haec blandaque vel iusta possessione decedant (vgl. II 19,5–6). Die Begeisterung des Plinius für den vordergründig gelobten strengen Stil ist doch sehr gedämpft. Zwar gibt er vor, den Tag herbeizusehnen, an dem andere Stilformen endlich weichen, doch räumt er dem ausgreifenderen Stil durchaus eine iusta possessio ein. 80 Plin., Epist. VII 17,12: ego enim non populum advocare, sed certos electosque soleo. 81 Plin., Epist. VII 17,15. Vgl. G. BINDER, Öffentliche Autorenlesungen. Zur Kommunikation zwischen römischen Autoren und ihrem Publikum, in: Kommunikation durch Zeichen und Wort. Stätten und Formen der Kommunikation im Altertum IV, hg. v. Dems./K. Ehlich, BAC 23, Trier 1995, 265–332, hier 298 Anm. 120. 82 Plin., Epist. III 18,10. 83 Plin., Epist. III 13,3: disponere apte, figurare varie nisi eruditis negatum est. Vgl. auch Cic., Orat. 69–74 (die Fähigkeit, den jeweils angemessenen Stil zu finden, ist basal); de Orat. I 94; Quint., Inst. VIII praef. 13; XII 10,17.

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auf welchen Adressatenkreis man zielte, welche Stilhöhe man demzufolge wählte; dies würde Auskunft darüber geben, wo sich der Autor nicht nur literarisch, sondern auch politisch und gesellschaftlich positionierte. Plinius war vor diesem Hintergrund von der doppelten Angst getrieben, entweder von seinen Freunden als Leichtgewicht verspottet oder von einem größeren Publikum (einschließlich des Kaisers?) als ein ebenso arroganter wie affektierter Neo-Aristokrat abgelehnt zu werden85. Und so beruft er sich beinahe verzweifelt gegenüber Celer auf die Maxime sua cuique ratio recitandi86 – ein jeder müsse die ihm eigene Art der Rezitation finden. Insofern ist die Auseinandersetzung mit seinen puristischen Kritikern, gegen die er vor allem Cicero selbst ins Feld zu führen suchte87, nicht zuletzt unter dem Aspekt der Leserorientierung zu sehen: Plinius strebte für den Panegyricus – und offenbar auch für seine dichterischen Werke – über die literarischen Zirkel hinaus eine breitere, die mediocriter docti88 umfassende Öffentlichkeit an, auch dies eine Manifestation seines weitreichenden, ebenso literarische wie politische Motive umfassenden, Anspruchs89. Sabine G. MacCormacks Auffassung, der Panegyricus sei in erster Linie als ein literarisches Opus und erst in zweiter Linie als ein politisches Werkzeug anzusehen („the essential link with politics was still lacking“)90, ist insofern zu korrigieren. Stildiskussion schließt politischen Anspruch und politische Rezeption keineswegs aus91; beide Aspekte gehören in der 84 Vgl. Cic., Brut. 111 f. 117. 135. 165. 180. 201 f. 224. 227. 258. 325–327; de Orat. III 52–55. J.-M. DAVID, Eloquentia popularis et conduites symboliques des orateurs de la fin de la République: problèmes d’efficacité, QS 12, 1980, 171–211. 85 Zum prekären Aufstieg des Plinius insbesondere unter Domitian vgl. K. STROBEL, Laufbahn und Vermächtnis des jüngeren Plinius, in: Beiträge zur Geschichte, hg. v. W. Huß/Dems., Bamberger Hochschulschriften 9, Bamberg 1983, 37–56. 86 Plin., Epist. VII 17,1. 87 Vgl. A. RIGGBY, Pliny on Cicero and Oratory. Zur Cicero-aemulatio des Plinius Epist. I 5,12; IV 8,4. 88 Plin., Epist. I 10,5; vgl. IX 17; insb. III 18,9 mit Bezug auf den Panegyricus; A.-M GUILLEMIN, Pline et la vie littéraire, 85. 87. 89 Der angestrebte Adressatenkreis der publizierten Fassung geht weit über diejenigen hinaus, die der recitatio beiwohnten; der Panegyricus richtet sich an alle, die des Lateinischen mächtig sind: Plin., Epist. III 18,9 (Panegyricus); II 10,3 (generell zur Reichweite „guter“ Literatur). 90 S.G. MACCORMACK, Latin Prose Panegyric, 36 f., Zitat 36. 91 I. KÖNIG, Traianus civilis princeps, in: Traian in Germanien – Traian im Reich. Bericht des dritten Saalburgkolloquiums, hg. v. E. Schallmayer, Bad Homburg v.d.H. 1999, 31–36, 32 f. geht davon aus, „daß die Rede im Hinblick auf ihre Veröffentlichung auch inhaltliche Veränderung oder zumindest Präzisierung erfuhr, die den Standpunkt des politischen Freundeskreises um Plinius verdeutlichen sollte.“ Die von ihm als Beleg angeführte Passage Epist. III 18,6–10 läßt sich freilich nicht in der suggerierten Weise lesen. Für die Umarbeitung der Rede in ein senatorisches politisches Manifest besteht jedenfalls kein Anhaltspunkt. Insofern berechtigt die Kritik von K. STROBEL in dem ansonsten we-

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gebildeten römischen Oberschicht untrennbar zusammen92. Hinzu kommt: Die wiederholten Rezitationen seines Textes waren nicht einfach eine Reihe mehr oder weniger unterhaltsamer Zusammenkünfte, bei denen einer Salongesellschaft schriftstellerische Fingerübungen vorgetragen wurden93. Plinius überarbeitete in diesem Prozeß vielmehr eine Rede, die er ja zuvor tatsächlich gehalten hatte, in der Kurie, mithin an einem politischen Ort, vor dem Princeps und den Senatoren, der politischen und gesellschaftlichen Elite Roms. Mitglieder der Oberschichten sind es nun auch, die bei der Revision hinzugezogen werden. Die Rezitation gilt ihnen als ein Teil des negotium, ist ein officium, für den Vortragenden ebenso wie für den Zuhörer94; durch den Vortrag, die erwartete Kritik der Zuhörer (bzw. der Briefpartner) sowie durch die Einarbeitung der Korrekturen wird die oratio schließlich zu einem Gemeinschaftswerk der herrschenden Klasse Roms95. Der Rede wird so zusätzliches Gewicht gegeben. Zudem kann sie nun – von den Beschränkungen, die Ort, Anlaß und die zur Verfügung stehende Zeit dem Redner auferlegten, befreit – in eine „angenehme“ Form gebracht und zu einem Monument der libertas, der dank Trajan neugewonnen Redefreiheit, werden: at cui materiae hanc sedulitatem praestiterunt? nempe quam in senatu quoque ubi perpeti necesse erat, gravari tamen vel puncto temporis solebamus, eandem nunc et qui recitare et qui audire triduo velint, inveniuntur, non quia eloquentius quam prius, sed quia liberius ideoque etiam libentius scribitur. accedet ergo hoc quoque laudibus principis nostri, quod res antea tam invisa quam falsa nunc ut vera, ita amabilis facta est.96

Das von Plinius erwartete Echo war – nach seinen diesbezüglichen Briefen zu schließen – zwar zugestandenermaßen kein im heutigen Sinne politigen der vorgenommenen historischen Parallelisierungen problematischen Beitrag: Plinius und Domitian: Der willige Helfer eines Unrechtssystems? Zur Problematik historischer Aussagen in den Werken des jüngeren Plinius, in: Plinius der Jüngere und seine Zeit, hg. v. L. Castagna/E. Lefèvre, BzA 187, München/Leipzig 2003, 303–314, hier 307 f. 92 Vgl. nun auch G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 249–258, der im einzelnen allerdings zu anderen Ergebnissen hinsichtlich der Funktion der Rezitation gelangt. 93 Zur Rezitation allgemein vgl. E. FANTHAM, Literarisches Leben. Sozialgeschichte der römischen Literatur von Cicero bis Apuleius, Stuttgart/Weimar 1998, 199–209; G. BINDER, Autorenlesungen, 265–332. 94 Plin., Epist. VIII 21,4; II 19; III 18,4; IV 5; VI 15; I 13,6 (audiendi officium): G. BINDER, Autorenlesungen, insb. 287–290. 300–302. 309; S. FEIN, Die Beziehungen der Kaiser Trajan und Hadrian zu den litterati, 142–146. 95 Plin., Epist. I 2. 8,2; III 13. 15,3; IV 9,23; V 3. 12; VI 17. 33; VII 4,10; VIII 12,1. 19,2. 21,5 f. F. DUPONT, Recitatio and the Reorganization of the Space of Public Discourse, in: The Roman Cultural Revolution, ed. by Th. Habinek/A. Schiesaro, Cambridge 1997, 44–59, insb. 52–56. 96 Plin., Epist. III 18,6 f.

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sches. Aber er war gerade auf eine Reaktion auf seine Begabung als orator aus, und dies nur literarisch verstehen zu wollen, wäre auch für die Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert eine unzulässige Verkürzung eines viel umfassenderen, emphatischen und geradezu holistischen Rednerbegriffes. Vor diesem Hintergrund ist die Klassifizierung seiner Rhetorik als ‚politisch‘ oder ‚unpolitisch‘ (oder eher ‚politikfern‘, wie MacCormack zu implizieren scheint) ein nicht adäquater Modernismus97: Plinius hätte die Unterscheidung wohl gar nicht nachvollziehen können. Seine Frage würde eher lauten: Ist es gute Rhetorik oder schlechte Rhetorik?98 Der politische Aspekt schrieb sich also sowohl in die Rede selbst als auch in den Überarbeitungsprozeß und die Publikation ein. Wie aber verhielt sich dieser Anspruch zur Materie selbst sowie zu den Regeln und Zwängen des Genres?

3. Der Tyrann, die Topik und das Problem der Glaubwürdigkeit Der Spielraum des epideiktischen Redners in der Kaiserzeit war gleich in zweifacher Hinsicht stark eingegrenzt. Auf ihm lasteten auf der einen Seite die Vorgaben der Textform, auf der anderen Seite der Erwartungsdruck, der vom laudandus ausging, zumal wenn es sich hier um den Herrscher Roms handelte. Beide Faktoren wirkten in Richtung auf ein möglichst umfassendes Lob: Das Genre erforderte Fülle des Ausdrucks99, der Kaiser 97

Vgl. aber G. BINDER, Autorenlesungen, 287, der im Laufe des ersten nachchristlichen Jahrhunderts vermehrt politische Aspekte (in unserem Sinne) bei den Rezitationen ausmacht, was sich nicht zuletzt auch in der zunehmenden Überwachung der Vorträge niederschlage. Hierzu Tac., Dial. 2–3, zu den Rezitationen des Maternus: offendisse potentium animos diceretur (2,1); vgl. (auf einem weitaus harmloseren Niveau) Plin., Epist. IX 27,2, zur versuchten „Zensur“ einiger Zuhörer einer Historien-Rezitation, die ihre eigene unrühmliche Vergangenheit nicht ausgebreitet sehen wollten. 98 Wie sehr Rhetorik und in unserem Verständnis politische Betätigung im römischen Denken verklammert sind, zeigt nicht zuletzt der taciteische Dialogus de oratoribus: Das Bild des Redners bleibt an öffentliche Wirksamkeit gebunden; ironischerweise kann sich auch der ‚Aussteiger‘ Maternus, der von der Rhetorik zur Tragödiendichtung gewechselt ist, seiner rhetorischen Ausbildung nicht entziehen – seine Stücke geraten ihm zu Manifesten des Widerstandes. Inmitten des vermeintlichen Verfalls römischer Beredsamkeit wird die rhetorisch beeinflußte Dichtung zu einem politischen Genre; zur Strategie des Tacitus und zur Funktion der Maternus-Figur vgl. A. KÖHNKEN, Das Problem der Ironie bei Tacitus, MH 30, 1973, 32–50. 99 Vgl. Men. Rh. II 368,1–369,17. Die geforderte copia ist zuallererst ein Indikator für das Gewicht des Redegegenstandes, dann aber auch des Redners, der sich selbst und sein Talent in der möglichst ‚vollen‘ Behandlung eines möglichst schwerwiegenden Stoffes beweisen kann. Für Plinius, der noch immer in der römischen Tradition einer Höherbewertung der Gerichts- und der Beratungsreden gegenüber der Epideiktik steht, ist damit ein Problem gegeben: Die Gegenwart läßt fast nur noch solche Reden zu, in denen der Stellenwert der Persuasion ambivalent ist; sie stehen nicht in einer direkten Konkur-

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

strebte naturgemäß nach der Vollkommenheit des Lobpreises. Darüber hinaus hatte ein Redner wie Plinius soziale Konventionen und einen Ehrenkodex zu berücksichtigen, der einen senatorischen Orator darauf verpflichtete, sein Gesicht zu wahren und nicht auf hemmungslose Schmeichelei zu verfallen; gesellschaftliches Ansehen und rednerische Glaubwürdigkeit zugleich standen auf dem Spiel. Nicht ohne Grund ist adulatio ein geradezu stehendes und äußerst kritisch behandeltes Thema etwa der taciteischen Geschichtsschreibung100, nicht umsonst bemüht sich Dio Chrysostomus in seiner wohl ebenfalls an Trajan gerichteten dritten Rede über zwei Dutzend Kapitel hinweg, den Eindruck der Schmeichelei zu vermeiden101. Im plinianischen Panegyricus ist das Bemühen, sich von anderen Rednern und ihrer Art des Lobens abzusetzen, auch über die bereits besprochenen grundsätzlichen Reflexionen hinaus deutlich zu erkennen102. Neben die ethischen, sozialen und politischen Zweifel an der Enkomiastik trat auch ein handfestes literarisch-rhetorisches Problem. Denn um 100 n. Chr. hatten die Römer schon längst registriert, daß ein schließlich doch begrenzter Vorrat an Topoi des Herrscherlobs103, der im wesentlichen auf einem eingeschliffenen Kanon von Tugenden aufbaute104, grundsätzlich Gefahr lief, renzsituation von Rednern als Politikern, die auf eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung drängen. Vgl. Plin., Epist. IX 2,2; III 20,10; Tac., Dial. 41. Wo die beratende Rede noch einen Ort hat, im consilium des Princeps, soll sie kurz und prägnant und sachorientiert sein, kann also nicht der Selbstdarstellung des Orators im traditionellen Sinne dienen: Plin., Epist. VI 22,2. Vgl. A. RIGGBY, Pliny on Cicero and Oratory, 123–135. Zur copia: J.-C. MARGOLIN, Art. copia, HWRh 2, 1994, 385–394, insb. 385–388; Cic., de Orat. I 59. 100 Etwa Tac., Ann. I 7,1; II 32,2; 38,5; III 65; IV 6,2; 9,2; VI 32,4; XI 25,2–5; XIV 64; vgl. Cass. Dio LII 35,2; R. MELLOR, Tacitus, New York/London 1993, 95–105; R. H. MARTIN, Tacitus, London 1981, 126. 164. 178; DERS., Structure and Interpretation in the ‘Annals’ of Tacitus, in: ANRW II.33.2, Berlin/New York 1990, 1500–1581, insb. 1538 f.; generell zu adulatio: J.E. LENDON, Empire of Honour. The Art of Government in the Roman World, Oxford 1997, 113–120. 101 Dion Chrys., Or. 3,2 f. 12–25, s. auch o., Einleitung. 102 Vgl. etwa Plin., Paneg. 1,6: tantumque a specie adulationis absit gratiarum actio mea quantum abest a necessitate; 2,3; 41,3 f.; 54,1. 5; 55,9; 56,1; vgl. Plin., Epist. VI 27,2 (mit Bezug auf eine vorangehende Dankrede des Plinius nach seiner Designation zum Suffektkonsul, A.N. SHERWIN-WHITE, The Letters of Pliny, 387). Dazu M.P.O. MORFORD, iubes esse liberos, 583 f. 103 Plinius nennt selbst Paneg. 3,4 die folgenden: humanitas, frugalitas, clementia, liberalitas, benignitas, labor und fortitudo. 104 So referiert schon Cicero als angemessene und übliche Topoi des Herrscherlobs: fortem, iustum, severum, gravem, magni animi, largum, beneficum, liberalem: hae sunt regiae laudes (Cic., Deiot. 26). Die lateinische Rhetoriktheorie hat mögliche Topoi des Lobes ebenfalls (wiederum mit griechischen Vorläufern) systematisiert; so bereits Rhet. Her. III 6,10; Cic., Inv. II 53,159 (virtus: prudentia, iustitia, fortitudo, temperantia); II 59,177 (valetudo, dignitas, vires, velocitas; honos, pecunia, affinitas, genus, amici,

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das Publikum mit der Zeit zu langweilen und Überdruß hervorzurufen105. Mangelnde variatio vermochte das ohnehin schon bestehende Glaubwürdigkeitsdefizit zusätzlich zu verschärfen. Plinius stand dieses Problem nur zu klar vor Augen106. Es war für ihn um so größer, als er seine Dankrede an Trajan bereits relativ kurz nach dessen Herrschaftsantritt hielt. Der Prinzipat Nervas war eine kurze Episode geblieben; als die eigentliche Vergleichsgröße für den neuen Kaiser fungierte daher ohne Zweifel weiterhin Domitian, der im Jahr 96 einer Palastintrige zum Opfer gefallen war. Vier Jahre später war die Erinnerung an seine Herrschaft – und offenbar auch an die Domitian-Panegyriken – noch frisch. Das neue Regime aber wollte sich schon aus Legitimationsgründen radikal von dem letzten Flavier absetzen und brachte dies im symbolischen Akt der damnatio memoriae auch offiziell zum Ausdruck107. Für Plinius bedeutete dieser Schritt nicht nur, daß er in seiner Rede jeden expatria, potentia, cetera, quae simili esse in genere intelligentur); vgl. auch Cic., de Orat. II 44–47. 342 f.; Part. 22,74–23,79; Quint., Inst. III 7,12–16. Dabei gilt schon Aristoteles (Rh. I 9), dann auch Cicero, was Quintilian knapp wie folgt formuliert: animi semper vera laus (Inst. III 7,15). Im wesentlichen läßt sich dies auf die vier Kardinaltugenden zurückführen; und doch will keiner der antiken Rhetoriker die äußeren Güter als Fundorte für Lobreden ausschließen, es müsse nur auf die ehrenhafte Nutzung dieser vorgefundenen Vorteile und Befähigungen abgestellt werden (quod iis honeste sit usus: Quint., Inst. III 7,13; vgl. Cic., Inv. II 59,177 f.; de Orat. II 46. 342). Vgl. die Definition, die Theon, Progymn. 9 für das Enkomion (als Hauptgegenstand der Epideiktik) gibt (Sp. II, 109,20): (!+ # ( #! ( &,% " ! * ’ - .%  * $% !*   /  #% . Dazu J. MARTIN, Antike Rhetorik, 198–202; TH.C. BURGESS, Epideictic Literature, 113 f. 119–127. Vgl. S.M. BRAUND, Praise and Protreptic, 57, zum „pool of virtues“ des Herrscherlobs. 105 Etwa Tac., Dial. 19,5 (Aper): novis et exquisitis eloquentiae itineribus opus est, per quae orator fastidium aurium effugiat. Trotz aller Bemühungen um einen ansprechenderen Stil ist Plinius an dieser Aufgabe im Urteil moderner Interpreten scheinbar katastrophal gescheitert, wie die geradezu emotionalen Reaktionen auch ausgewiesener Plinius-Experten auf die Lektüre zeigen; vgl. nur A.N. SHERWIN-WHITE, Pliny, the Man and His Letters, G&R 16, 1969, 76–90, hier 77: „The speech is terrible – because Pliny took all the space he could, elaborated everything, repeated everything“; ähnlich B. RADICE, Pliny and the Panegyricus, 169. Für weitere Urteile in dieser Richtung s. R. REES, To Be and Not to Be: Pliny’s Paradoxical Trajan, BICS 45, 2001, 149–168, hier 150 Anm. 10. 106 Vgl. Plin., Paneg. 55,3: Simul cum iam pridem novitas omnis adulatione consumpta sit, non alius erga te novus honor superest, quam si aliquando de te tacere audeamus; und Epist. III 13,2: in hac nota, vulgata, dicta sunt omnia (anderes Verständnis der Stelle bei: M. DURRY, Panégyrique, 33, der die Worte auf die allen zeitgenössischen Lesern bekannten Ereignisse in den ersten Jahren der Regierungszeit Trajans, nicht auf die Topoi des Enkomions an sich, bezieht; so nun auch wieder G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 227); vgl. auch M. VIELBERG, Bemerkungen zu Plinius d.J. und Tacitus, WJA 14, 1988, 171–183, hier 174 f. 107 C.W. HEDRICK, History and Silence: Purge and Rehabilitation of Memory in Late Antiquity, Austin 2000, 89–136.

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pliziten, namentlichen Verweis auf Domitian peinlich vermeiden mußte. Es verbot sich nunmehr eigentlich auch geradezu, dieselben Topoi auf Trajan anzuwenden, die kurz zuvor noch zum Lob des inzwischen geächteten Vorgängers benutzt worden waren108. Da dies aber aus Gründen der Genrebindung und des damit verknüpften, im wesentlichen geschlossenen Tugendkataloges kaum möglich war, konnte Plinius die Glaubwürdigkeit seiner Rede und das Ansehen der eigenen Person nur dadurch wahren, daß er das Herrscherlob auch inhaltlich und argumentativ von Grund auf neu fundierte. Dies jedenfalls formulierte er selbstbewußt als Anspruch an sich selbst und andere: Equidem non consuli modo, sed omnibus civibus enitendum reor, ne quid de principe nostro ita dicant, ut idem de alio dici potuisse videatur. quare abeant ac recedant voces illae, quas metus exprimebat: nihil quale ante dicamus; nihil enim quale antea patimur; nec eadem de principe palam quae prius praedicemus: neque enim eadem secreto quae prius loquimur. discernatur orationibus nostris diversitas temporum, et ex ipso genere gratiarum agendarum intellegatur, cui, quando sint actae.109

In der Idealvorstellung also korrespondiert der Inhalt der Rede mit der Form der Herrschaft, ist an der Rede ablesbar, unter welchem und insbesondere unter was für einem Herrscher sie gehalten worden ist. Plinius geht aber noch weiter und stellt heraus, daß es in der Vergangenheit eine deutliche Differenz zwischen den öffentlichen Lobreden und dem, was insgeheim geredet wird, gab (palam praedicemus – secreto loquimur). Stets blieb ein Arkanbereich, in dem andere Dinge gesagt wurden als in der Öffentlichkeit110. Unter Trajan sei nun allerdings der Zeitpunkt erreicht, zu dem auch im privaten, vertrauten Gespräch das Lob des Kaisers unzweideutig ist und die Inhalte der im Geheimen ausgetauschten Meinungen, der

108 Die Aufgabe des Plinius stellte sich auch deshalb als um so schwieriger dar, weil weder bei den Topoi noch in der sachlichen Grundlage ein großer Bruch zu erkennen war; in vielen Politik-Bereichen ist eine große Kontinuität von Domitian über Nerva zu Trajan zu beobachten: K.H. WATERS, Traianus Domitiani Continuator, AJPh 90, 1969, 385–405, passim; M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 10–108; grundsätzlich U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 28: „fast an allen Stellen [an denen Trajan mit den priores principes verglichen wird, d. Vf.] handelt es sich um den Unterschied der Gesinnung, der inneren Haltung; das heißt, es ist ein Unterschied, der nicht an der Sache selbst gezeigt wird bzw. gezeigt werden kann, sondern auf der Interpretation des Plinius beruht.“ 109 Plin., Paneg. 2,1–3. 110 Tac., Agr. 2,3, geht noch weiter, wenn er beklagt, daß unter der Tyrannis des Domitian die Äußerung der wahren Meinung über den Kaiser durch ständige Bespitzelung ganz unmöglich wurde (adempto per inquisitiones etiam loquendi audiendique commercio).

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Tischgespräche und auch der offiziellen Lobreden einander entsprechen111. Das ist für Plinius der einzig wünschenswerte Zustand, den es weder vor dem optimus princeps gegeben habe, noch der von seinen Nachfolgern leicht wieder zu erreichen sein werde112. Er ist ihm zugleich ein Kriterium für die „neue“ Art der Panegyrik. Die plinianische Vision eines Idealzustandes, in der die Wahrhaftigkeit öffentlicher Rede außer Zweifel steht, weil sie sich mit den „privaten“ Gesprächen deckt und somit kein Raum für erzwungene oder heuchlerische Schmeichelei bleibt, stützt sich freilich in paradoxer Weise ihrerseits auf einen Topos der Lobrede, der bereits bei Isokrates zu finden ist. Und die Vorstellung findet sich auch in der lateinischen Literatur, nämlich bei Seneca wieder: eadem de illo homines secreto locuntur quae palam; aus dieser Quelle wird der Panegyrist geschöpft haben113. Plinius konnte und wollte also entgegen seiner Beteuerung nicht wirklich aus dem Bannkreis der Enkomiastik und ihres rhetorischen Arsenals ausbrechen. Selbst da, wo er um Absetzung bemüht zu sein scheint, um die Rede zu retten, blieb er doch auf die längst ausgetretenen Pfade verwiesen. Plinius korrigiert sich in einer Hinsicht jedoch an anderer Stelle in seiner Dankrede stillschweigend selbst. Auch unter Trajan klafften nämlich noch öffentliche und private Äußerungen über den Kaiser auseinander, dieses Mal freilich unter veränderten und bislang nicht gekannten Vorzeichen: Aufgrund der Abneigung des Princeps gegen Schmeichelei werden die wahren, jetzt überaus positiven Gefühle der Bevölkerung noch immer nicht frei geäußert: Queri libet, quod in secreta nostra non inquirant principes, nisi quos odimus ... quod gaudium exsultationemque deprenderes!114. Erst hier geht Plinius offenbar wirklich über die überkommene Topik hinaus. Er deckt dabei seinem Publikum gegenüber einen für die Beurteilung der uns überlieferten antiken Enkomiastik gewichtigen Umstand auf: Die Lobrede gehört trotz allem dem Bereich der öffentlichen Repräsentation an, besitzt dadurch ostentativen Charakter115 und gehorcht unab111 Plin., Paneg. 53,6: Quo constantius, patres conscripti, et dolores nostros et gaudia proferamus ... Hoc secreta nostra hoc sermones hoc ipsae gratiarum actiones agant. 112 Zur kaum jemals wieder zu erreichenden Exzellenz Trajans vgl. Plin., Paneg. 20,6; 44,3 f.; 59,2; 64,3; 69,3; 73,6; 75,5; 88,9. U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 6 f. 113 Isokr., Or. II (ad Nicoclem), 30; Or. III (Rede des Nikokles), 60; Sen., Clem. I 13,5; J. MESK, Quellenanalyse, 79. 114 Plin., Paneg. 68,6–7. 115 Vgl. Quint. Inst. III 4,13 f.: sed mihi (  # non tam demonstrationis vim habere quam ostentationis videtur et multum ab illo (!+ 0 differre; nam ut continet laudativum in se genus, ita non intra hoc solum consistit. an quisquam negaverit panegyricos (   esse? atqui formam suadendi habent et plerumque de utilitatibus Graeciae loquuntur: ut causarum quidem genera tria sint, sed ea tum in negotiis, tum in

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änderlich anderen Regeln als die (vermeintlich) inhaltlich wie formal nicht-standardisierte private Konversation. Dies klingt im unmittelbaren Zusammenhang harmlos und mag der modernen Kritik ohnehin banal erscheinen, erhält jedoch einen besonderen Stellenwert dadurch, daß es bei Plinius zu einem Teil der innerpanegyrischen Diskussion wird. Je offener aber die Diskrepanz zwischen der privaten und der veröffentlichten Meinung zu Tage tritt, desto prekärer gestaltet sich wiederum unter den plinianischen Prämissen die Situation des Lobredners. Das Wesen der Panegyrik sowie ihr Sitz im Leben drohen systemisch, ihre Funktion gemäß der von Plinius formulierten Kriterien der Wahrhaftigkeit und Authentizität zu unterminieren, insofern die Enkomiastik ea ipsa und alternativlos einen Sonderdiskurs darstellt. Einen Weg aus diesem Dilemma weist auch der Panegyricus nicht. Damit bleibt festzuhalten, daß Plinius mit seinen Forderungen nach einer neuen Topik und einer neuen Verankerung im Alltagsdiskurs zunächst scheitert – und dieses Scheitern auch einräumt.

4. Vom erzwungenen Spektakel zur selbstbewußten Inszenierung Plinius ist sich also der Diskrepanz zwischen der wahrgenommenen und im Privaten artikulierten politischen und gesellschaftlichen Realität des Principats einerseits und dem veröffentlichten Diskurs über die Zeitumstände andererseits sehr wohl bewußt gewesen. Um dem zunehmenden Auseinandertreten dieser beiden Ebenen der Kommunikation entgegenzuwirken und seinem Anspruch auf einen Neuansatz in der Panegyrik gerecht zu werden, lenkt er den Blick von der durch Topoi geprägten, sorgfältig ausgearbeiteten Festrede daher auf andere Kommunikationsszenarien. Er sucht nach Situationen und Kontexten, in denen für eine Einstudierung von Äußerungen und Verhaltensweisen, die die Zustimmung zum Princeps sichtbar machen sollen, keine Zeit bleibt. Er sucht nach denjenigen Konstellationen in der Interaktion von Kaiser und Senat beziehungsweise plebs, in denen alles Eingeübte und Vorbereitete hinweggetragen wird, kurz: quae fingendi non habent tempus116. Dieses erlebte Moment der Authentizität will der Lobredner zum Axiom seiner eigenen Worte machen, auch wenn sie notwendigerweise selbst nicht spontan sein können, sondern einem langen Vorbereitungsprozeß unterliegen. Dieser umfaßte gemäß der rhetorischen Lehre zunächst die intellectio, dann die officia (oder opera) oratoris (inventio, dis-

ostentatione posita. nisi forte non ex Graeco mutantes demonstrativum vocant, verum id sequuntur, quod laus ac vituperatio quale sit quidque demonstrat. Vgl. J. RÜPKE, Art. Epideixis, DNP 3, 1997, 1101 f. 116 Plin., Paneg. 3,1.

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positio, elocutio, memoria, actio)117; im Falle des Plinius kam noch die Überarbeitung für die Publikation hinzu, der neben dem öffentlichen Vortrag noch eine Reihe von Rezitationen, Gespräche mit Kritikern und die Korrespondenz mit Freunden vorausgingen (s.o.). Wollte Plinius angesichts dieses sehr artifiziellen Prozesses seinen eigenen Authentizitätsansprüchen auch nur in Ansätzen gerecht werden, so mußte er sich für seine Rede vor allem um die Mimesis von Spontaneität unter Beibehaltung literarischer Konventionen bemühen, also um die textuelle Inszenierung einer ungefilterten, originären Manifestierung innerer Überzeugungen. Dabei hat es den Anschein, daß Plinius um dieser Inszenierung willen die Oberfläche seines Redetextes – nicht nur auf der stilistischen, sondern vor allem auch auf der inhaltlichen Ebene – gleichsam aufrauht, indem er die Grundannahmen der Epideiktik dekonstruiert, und zwar sowohl im Panegyricus selbst als auch in der begleitenden Korrespondenz. Er thematisiert die problematische Topik, entlarvt die grundsätzliche Manipulierbarkeit von Redner und Auditorium durch äußeren Zwang, die fehlende Garantie für die Authentizität der Worte und verstößt zudem mit seinen massiven Angriffen auf Domitian gegen eine zumindest in der späteren Rhetoriklehre geradezu fundamentale Vorschrift, keine Kritik an früheren Herrschern zu üben118. Plinius geht den umgekehrten Weg der in den (nicht nur antiken) Handbüchern normierten Rhetorik: Wo es andernorts darum zu tun ist, Glaubwürdigkeitsprobleme nach Möglichkeit zu verschleiern und eine glatte Fassade zu schaffen, zeigt er die Zerklüftungen des genus119. Zwar nutzt Plinius dazu die auch in der Rhetoriktheorie punktuell empfohlenen Techniken der Selbstreferenz von Autor und Rede, indem er sowohl über die eigene Person und Funktion reflektiert als auch Status und Gliederung des Textes immer wieder verdeutlicht; doch setzt er sie anders ein. Denn die beschriebenen Kunstgriffe hatten nach Ansicht der maßgeblichen Rhetoriklehrer ihren Sinn darin, unmittelbar affirmativ zu wirken, die Position des Orators zu stärken, den Vortrag transparent zu gestalten

117 J. MARTIN, Antike Rhetorik, 11 f.; G. UEDING/B. STEINBRINK, Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart/Weimar 1994, 209–232. Cic., Inv. I 7,9 führt sie als partes rhetoricae artis. 118 Men. Rh. II 376,31 – 377,2, wo dies als $ gilt. Für Plinius hingegen wird die Kritik an schlechten Vorgängern geradezu zu einer Bürgerpflicht, die dem guten Princeps geschuldet ist: vgl. Plin., Paneg. 53,3. 3; 68,7; U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 22–25. 119 P.-L. MALOSSE, Sans mentir (ou presque): La dissimulation des faits gênants dans la rhétorique de l’éloge, d’après l’exemple des discours royaux de Libanios, Rhetorica 18, 2000, 243–264; F. AHL, The Art of Safe Criticism in Greece and Rome, AJPh 105, 1984, 174–208.

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und die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewährleisten120. Im Vergleich dazu spielt Plinius gleichsam über Bande: Selbstreferenz und Textstrukturierung dienen ihm als Nachweis eines kritisch-bewußten Umgangs mit dem Genre. Seine geschickte Problematisierung der bislang üblichen Theorie und Praxis der Epideiktik erlaubt es ihm, den zuvor nur behaupteten radikalen Neuanfang in der Panegyrik zu plausibilisieren121. Die Strategie der kritischen Selbstreflexion legt aber nur den Grundstein für eine Wiedergewinnung der Authentizität. Den eigentlichen Hebelpunkt findet Plinius in einer stärkeren Gewichtung narrativer Elemente zulasten der rhetorischen Topik: Nicht abstrakte Tugenden werden aufgelistet, sondern die Darstellung körperlicher Performanz tritt in den Vordergrund. So jedenfalls ist es zu verstehen, daß Plinius zur Untermauerung seiner Ausführungen über das Verhältnis von Kaiser und Senat wiederholt auf die Handlungen Trajans und der patres, auf ihre Mimik und Gestik deutet. Als Beweis für die Wahrhaftigkeit seiner Ausführungen fungieren die Interaktionen von princeps und viri boni im Raum: Sicherste Indizien sind dem Redner in dieser Hinsicht spontane, visuell zu verifizierende Äußerungen der Zustimmung und der Freude, der Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit122. Seine Zuhörer konnten mithin beständig an Verhaltensweise und Körpersprache des Kaisers und seiner Umgebung ablesen, daß die Ausführungen des Panegyristen tatsächlich zutreffen. Und seinen Lesern würde ein Nachvollzug aufgrund des narrativen Stils seiner veröffentlichten Rede auch in Zukunft stets möglich sein. Den Ausdrucksmitteln des Körpers wurde von Plinius also gegenüber rein sprachlicher Artikulation ein höherer Grad an Verbindlichkeit zugemessen. Er übernahm damit zunächst nur die Grundauffassung antiker Anthropologie, der zufolge die innere Einstellung (animus) eines Menschen

120 LIER,

So Cic., Orat. 40,137–41,140; [Dion. Hal.] 273 (U./R.). S. auch M.-C. L’HUILL’Empire des mots, 176–180; vgl. S.G. MACCORMACK, Latin Prose Panegyrics,

32 f. 121

R. REES, To Be and Not To Be, 165, sieht den angestrebten Neubeginn in der großangelegten und durch das Stilmittel der Antithese gestützten Präsentation Trajans als Paradoxon aus Princeps und privatus; S.M. BRAUND, Praise and Protreptic, 68, will die Innovation in der für das Genre neuen „broader political vision“ erkennen, die Plinius mit seiner Rede verfolgt (ähnlich M.P.O. MORFORD, iubes esse liberos, 578). Die einschlägigen programmatischen Äußerungen des Panegyristen richten sich aber vor allem auf eine neue Fundierung der Glaubwürdigkeit des Kaiserlobs, was auch bei der Analyse eine stärkere Beachtung dieses Aspektes erfordert. 122 Plin., Paneg. 67,1: Quae enim illa gravitas sententiarum, quam inadfectata veritas verborum, quae adseveratio in voce, quae adfirmatio in vultu, quanta in oculis habitu gestu, toto denique corpore fides! Dazu E. FANTHAM, Two Levels of Orality, 233. Vgl. Plin., Paneg. 71,6; 75,6.

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vor allem an seiner Mimik und Gestik ablesbar war123. Den Körper sah man daher als wichtigstes Ausdrucksmedium gerade in Hinsicht auf die Glaubwürdigkeit eines Sprechers und die seinen Worten zugrundeliegenden Emotionen an. Diese Überzeugung floß auch in die Rhetoriktheorie ein, was sich nicht zuletzt im Primat der actio oder pronuntiatio (griech.  #) gegenüber den anderen Produktionsstadien einer Rede niederschlug. Insbesondere die römischen Rhetoriker betonten diese Erkenntnis unter Verweis auf das autoritative Urteil des hochgeschätzten Demosthenes immer wieder124: Gerade in der Körperlichkeit der oratorischen Aufführung soll das 1 des Agierenden hervortreten125. Wenn ein Redner mithin Glaubwürdigkeit vor allem durch seine Körpersprache gewann, spiegelte Plinius diesen Effekt noch im Lesetext seiner Rede: Schilderungen von Bewegungsabläufen und Gesichtsausdruck werden zentrale narrative und argumentative Bausteine des Panegyricus. Plinius griff für die Charakterisierung Trajans und der Senatoren also nicht so sehr auf deren Worte, sondern vielmehr auf ihr öffentliches Auftreten zurück. Gewichtige Sprachhandlungen werden an körperliche Performanz zurückgebunden. Gleiches gilt auch für die zentralen Aussagen, die der Redner selbst über die Protagonisten macht: In der Regel illustriert er seine Wertungen durch deskriptive Partien, die ihr Verhalten beleuchten, mehr als Reden, Erlasse oder Taten dies könnten. Auf diesem Wege findet eine Reihe von Ritualbeschreibungen ihren Weg in den Panegyricus: So bereitet ein Kapitolgang Nervas als Dankesfeier anläßlich eines 123 Überlegungen zur tiefen Verwurzelung der Zuschreibung höherer Glaubwürdigkeit an die nonverbale Kommunikation in einer phylogenetisch (und ontogenetisch) jüngeren Entwicklung der Informationsübermittlung vermittels der Sprache bei: V. SAFTIEN, Rhetorische Mimik und Gestik. Konturen epochenspezifischen Verhaltens, AKG 77, 1995, 197–216, hier 198–201; vgl. weiter J.-C. SCHMITT, Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, Stuttgart 1992 (frz. 1990), 39. 47 f.; F. GRAF, Gestures and Conventions: The Gestures of Roman Actors and Orators, in: A Cultural History of Gesture. With an Introduction by Sir Keith Thomas, ed. by J. Bremmer/H. Roodenburg, Ithaca/New York 1992, 36–58, insb. 40 f.50 f.; M. BETTINI, ‚Einander ins Gesicht sehen‘ im Antiken Rom. Begriffe der körperlichen Erscheinung in der lateinischen Kultur, Saeculum 51, 2000, 1–23, insb. 9–11. Zur Körpersprache als ‚soziales Bedeutungssystem‘: A. HAHN, Kann der Körper ehrlich sein?, in: Materialität der Kommunikation, hg. v. H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer, Frankfurt a.M. 21995, 666–679, insb. 670–675. 124 Aristot., Rh. III 1 (1403b); Cic., Orat. 17,56; de Orat. III 213 f.; Quint., Inst. XI 3, 1–9; vgl. Rhet. Her. III 19; Quint., Inst. X 1,16 f. G. UEDING/B. STEINBRINK, Grundriß der Rhetorik, 230–232; G. WOEHRLE, Actio: Das fünfte officium des antiken Redners, 31–46; J. ENDERS, Delivering Delivery: Theatricality and the Emasculation of Eloquence, Rhetorica 15, 1997, 253–278. 125 Vgl. Cic., de Orat. II 182. 184. Vgl. E. FANTHAM, Ciceronian Conciliare and Aristotelian Ethos, Phoenix 27, 1973, 262–275; W.W. FORTENBAUGH, Benevolentiam conciliare and animos permovere: Some Remarks on Cicero’s De oratore 2.178–216, Rhetorica 6, 1988, 259–273.

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Sieges in Pannonien die Adoption Trajans vor126; die Sieghaftigkeit des neuen Kaisers wird durch eine fiktionale Triumph-Ekphrasis verdeutlicht127; die programmatische civilitas128 Trajans läßt sich ebenso wie die gewaltsame Herrschaft Domitians jeweils an Kaiserreisen, Adventus und egressio ablesen129; die Einstellung der principes gegenüber dem Senat (und der plebs) ergibt sich aus ihrem Verhalten bei den Zeremonien der Konsulwahlen, der vota, der largitio und der salutatio sowie aus ihrem Verhalten bei Convivien130, die allesamt Formen symbolischer Kommunikation darstellen. Bei der Präsentation herrscherlichen Verhaltens durch Plinius kommt gerade auch den Dimensionen des Raumes (Nähe bzw. Distanz) und der Zeit (ruhige Gelassenheit bzw. Eile) eine entscheidende Rolle als Indikatoren zu. Der vorbildliche Princeps begibt sich in den öffentlichen Raum der Bürger, ohne sich abzuschirmen; er widmet sich den Senatoren und amici, denen gar die Verfügungsgewalt über den Zeithaushalt des ersten Mannes im Staat zugestanden wird131. Die rhetorische Strategie der Narrativierung und Betonung performativer Elemente war für Plinius aber nicht risikolos. Denn auf der einen Seite galt der Körper den Römern zwar als verläßlicher Spiegel der innerpsychischen Vorgänge; auf der anderen Seite aber mußte ihn der Orator disziplinieren, waren die Bewegungen und die Mimik ebenso einzustudieren (und damit eigentlich unzulässig zu verfremden!), wie der Tonfall und die Wortwahl, die Anordnung der Gedanken und die stilistische Ausgestaltung Sorgfalt erforderten132. Dieser paradoxe Zwang zur gegebenenfalls auch 126

Plin., Paneg. 8. Cass. Dio LXVIII 3,3 f. Laut Cedrinus, Comp. Hist. 433 f. (PG 121, 473) stammten die litterae laureatae aus Pannonien von Trajan selbst, so daß die Siegesnachricht zugleich eine Legitimation für die Adoption des erwiesenermaßen erfolgreichen Feldherrn darstellte. Dazu J. BENNETT, Trajan, 45–47. 127 Plin., Paneg. 16 f. Diese Passage wird in der Forschung der Überarbeitung der Rede für die Publikation zugewiesen und auf den ersten Dakerkrieg mit dem Triumph Ende 102 bezogen. Unklar ist, ob sie aus den ersten Tagen des Krieges oder aus der Zeit nach dessen Beendigung stammt – im letztgenannten Fall wäre sie ein vaticinium ex eventu; vgl. M. DURRY, Panégyrique, 13 f.; J. MESK, Überarbeitung, 248. 128 Zum Konzept der civilitas wegweisend: A. W ALLACE-HADRILL, Civilis Princeps: Between Citizen and King, JRS 72, 1982, 32–48. 129 Plin., Paneg. 20–26. 130 Plin., Paneg. 48; vgl. S.M. BRAUND, The Solitary Feast: A Contradiction in Terms?, BICS 41, 1996, 37–52. 131 Plin., Paneg. 48. 132 Vgl. etwa Cic., Orat. 18,59 f.: ut imago est animi vultus, sic indices oculi; Cic., de Orat. III 216 (ed. K. Kumaniecki): omnis enim motus animi suum quendam a natura habet vultum et sonum et gestum; Quint., Inst. I 11,3; Pan. Lat. 2,37,2: intimos mentis adfectus proditor vultus enuntiat. Zur kanonischen Verbindung von Inhalt, Wortschmuck und stimmlichem wie körperlichem Ausdruck Cic., Inv. I 7,9: pronuntiatio est ex rerum et verborum dignitate vocis et corporis moderatio.

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manipulativen Verwendung der Körpersprache rückte die rhetorische actio beinahe zwangsläufig in die Nähe der Bühnenkunst. Für die antike Kritik stand die oratorische Performanz jedenfalls in der steten Gefahr, in eine Imitation und damit in Entfremdung des Redners von seiner politischen Existenz abzugleiten. Was an den Schauspielern so sehr abstieß (und paradoxerweise auch so sehr anzog), war ihr Aufgehen in jeder angetragenen Rolle, ohne Rücksicht auf Status und decus (mithin auf soziale Kongruenz und biographische Kohärenz). Anders als der ideale Orator spricht und handelt der Schauspieler nicht im Namen eines anderen (seines Klienten, der Gens, der politischen Gemeinschaft etc.), sondern als ein anderer. Aufgabe der Histrionen war also nicht die Darstellung ihres eigenen 1, sondern die temporäre Annahme eines fremden. Dies stand den Pflichten eines Mitglieds der römischen Oberschichten entgegen und mußte die Verwirkung der damit verknüpften politischen Teilhabe- und Teilnahmerechte implizieren. Die Tätigkeit der Schauspieler konnte und durfte daher nicht im politischen Raum stattfinden, nicht negotium oder gar officium sein. Theater und öffentliches bürgerliches Leben wurden strikt voneinander getrennt, gerade weil sie in der römischen Welt so viele strukturelle Gemeinsamkeiten besaßen. Konsequent zog der Auftritt auf der Bühne infamia nach sich133. Bei allen darstellenden Tätigkeiten war mithin streng darauf zu achten, nicht eine fremde persona anzunehmen, sondern vielmehr den eigenen, ehrenhaft erworbenen Status sichtbar zu machen – nicht demonstratio, sondern significatio galt als Ideal134. Rechtverstandene actio dient der Verdeutlichung dessen, wer man ist, und nicht der substanzlosen Projektion. Von hieraus konnte dann auch eine ehrlose Theatralität (ars histrionalis) von einer gesellschaftlich geforderten Inszenierung des Selbst unterschieden werden. Doch diese scheinbar klare Scheidung drohte in der Kaiserzeit gefährlich zu verwischen. Mit den gewandelten politischen Rahmenbedingungen 133 Dig. 3,2,1; Nep., praef. 5; F. DUPONT, L’Acteur-Roi ou le théâtre dans la Rome antique, Realia, Paris 1985, 95–98. Seit der späten Republik galt zudem, bekräftigt durch mehrere Senatsbeschlüsse, daß der Auftritt von Senatoren und Rittern in der Arena oder auf der Bühne für diese infamia nach sich zog. Dies geschah zuletzt im Jahre 19 n. Chr. durch ein in fragmentarischer Form überliefertes SC: AE 1978, 145; Text, Übersetzung, Kommentar und Interpretation jeweils bei: B. LEVICK, The Senatus Consultum from Larinum, JRS 73, 1983, 97–115; E. BALTRUSCH, Regimen morum. Die Reglementierung des Privatlebens der Senatoren und Ritter in der römischen Republik und frühen Kaiserzeit, Vestigia 41, München 1988, hier 195–206; Neuedition mit Übersetzung und Kommentar nun W.D. LEBEK, Standeswürde und Berufsverbot unter Tiberius: Das SC der Tabula Larinas, ZPE 81, 1990, 37–96, insb. 43–58; W.D. LEBEK, Das SC der Tabula Larinas: Rittermusterung und andere Probleme, ZPE 85, 1991, 41–51. Zu den SCC in dieser Sache ab 38 v. Chr. vgl. Cass. Dio XLVIII 43,2 f.; LIV 2,5; LVI 25,7 f.; Suet., Aug. 43,3. Tib. 35,2. 134 Cic., de Orat. III 220.

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veränderte sich auch die Perzeption, der Blickwinkel der Aristokratie auf die zuvor hochgeschätzten ostentativen Formen gesellschaftlicher Interaktion135. Besonders problematisch wurde dies offenbar – wir müssen uns in dieser Frage im wesentlichen auf die tendenziöse senatorische Geschichtsschreibung verlassen – unter den Kaisern Caligula136, Nero137 und schließlich Domitian: So hat es den Anschein, daß der Senat sich in der Herrschaftszeit der Julio-Claudier und der Flavier an ein Paradigma der Theatralität politischer Interaktion hatte gewöhnen müssen, das ihren eigenen Distinktionsansprüchen oftmals nicht mehr gerecht wurde. Immer wieder fühlte man sich zur Teilnahme an einer Art Staatsschauspiel verpflichtet138, bei dem einzig der Kaiser über die einzunehmenden Rollen entschied. Und so spricht auch Plinius im Paneygricus davon, daß unter den früheren Kaisern die Senatoren regelrecht zu Schauspielern (histriones) herabgewürdigt worden seien139. Dies ist wörtlich wie auch im übertragenen Sinne zu verstehen: Caligula, Nero und Domitian ließen Senatoren als Schauspieler oder Gladiatoren auftreten. Aber selbst die Sitzungen des Senats konnten ebenso wie die politischen Großrituale Roms in dieser Zeit von den politischen Eliten negativ als spectaculum erkannt werden. Besonders ehrzerstörend wirkte die Alternativlosigkeit, die offenkundige Unmöglichkeit, sich dieser Inszenierung zu entziehen140 – Nero ließ den Senatoren, die bei seinen Iuvenalia auftraten, angeblich gar die Maske vom Gesicht herunterreißen141. Selbst das scheinbar unbeteiligte Publikum lief stets Gefahr, in

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Zu Formen der Interaktion in republikanischer und augusteischer Zeit: E. FLAIG, Politisierte Lebensführung und ästhetische Kultur. Eine semiotische Untersuchung am römischen Adel, Historische Anthropologie 1, 1993, 193–217; A. FELDHERR, Spectacle and Society, 4–19. 51–81 et passim. 136 Etwa Cass. Dio. LIX 16; A. W INTERLING, Caligula. Eine Biographie, München 2003, insb. 93–102. 135–139. 137 SH. BARTSCH , Actors in the Audience, 1–36; A.J. W OODMAN, Amateur Dramatics at the Court of Nero: Annals 15.48–74, in: Tacitus and the Tacitean Tradition, ed. by T.J. Luce/A.J. Woodman, Princeton (N.J.) 1993, 104–128. 138 TH. HABINEK, Seneca’s Renown: Gloria, Claritudo, and the Replication of the Roman Elite, ClAnt 19, 2000, 264–303. 139 Plin., Paneg. 54,1. Vgl. Tac., Hist. II 62,2; Ann. XIV 14,3 f. 15. 20,4; Cass. Dio LXI 17,3–5. 19 f.; H. LEPPIN, Histrionen. Untersuchungen zur sozialen Stellung von Bühnenkünstlern im Westen des Römischen Reiches zur Zeit der Republik und des Principats, Antiquitas I.41, Bonn 1992, 143–150. Zum sozialen Status der Schauspieler in der römischen Welt vgl. L. FRIEDLÄNDER, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von Augustus bis zum Ausgang der Antonine. Vol. II, Leipzig 101922, 19–21; H. LEPPIN, a.a.O., 135–168. 140 Vgl. etwa Tac., Ann. XIII 15 f.; Cass. Dio LXI 20,3–5; LXIII 15,2 f.; Suet., Vesp. 4,4; SH. BARTSCH, Actors in the Audience, 31–35 et passim. 141 Cass. Dio LXI 19,3; H. LEPPIN, Histrionen, 143.

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das Stück miteinbezogen zu werden, dessen Spielregeln vom Princeps bestimmt wurden und dessen Einsatz die eigene Existenz war. Es kam für Plinius nun darauf an, die senatorische Performanz wieder von der ars histrionalis unterscheidbar zu machen. Genauer: Er mußte aufzeigen, daß unter Trajan eine solche Differenzierung wieder möglich war. Damit ist die Betonung der spontanen, nicht einzustudierenden Gesten der Zustimmung zu erklären. Angesichts des grundsätzlichen Schaucharakters aller Interaktion zwischen Kaiser und Senat, Kaiser und populus, Kaiser und res publica konnte die von Plinius behauptete Leitdifferenz des trajanischen Principats gegenüber dem Dominat seiner Vorgänger ja nicht auf einem simplen Weniger an Inszenierung und Expressivität gründen, sondern nur auf einer anderen Form des Ausdrucks. Was nun entfiel, war ein zwangsweises und entehrendes Zurschaugestelltwerden durch den „Tyrannen“. Es stand den Senatoren Plinius zufolge nun wieder frei, sich zu exponieren und expressiv ihren Meinungen und Standpunkten Öffentlichkeit zu verschaffen; niemand habe mehr fürchten müssen, stets unter Beobachtung zu stehen und für mißliebige Gesten, Mimik, Ausrufe zur Verantwortung gezogen zu werden; niemand vor allem sei gezwungen worden, gegen seinen Willen, seine Überzeugungen und seinen Stand an kaiserlichen spectacula teilzunehmen und sich so gegebenenfalls vor aller Augen auf das Niveau eines bezahlten Schauspielers zu erniedrigen. Für Trajans junge Herrschaft gelte daher endlich wieder: nemo e spectatore spectaculum factus142. Diese Darstellung scheint keine reine Schönfärberei gewesen zu sein. Jedenfalls empfand man es nicht so. Immer wieder wurde auf den Fall des alternden Schriftstellers Silius Italicus verwiesen, dem Trajan freigestellt hatte, seinem Adventus in Rom fernzubleiben143. Die Angelegenheit fand große Aufmerksamkeit in Senatskreisen, wie im folgenden noch zu zeigen sein wird. Bedeutend war sie wohl vor allem wegen ihrer kontrastiven Wirkung: Unter Nero hatte die ostentative Weigerung, an zentralen Akten der Zustimmung zum Kaiser und seiner domus – unter anderem der Divinisierung der Poppaea – weiter mitzuwirken, zum vielbeachteten Untergang des Thrasea Paetus geführt144. Der Philosoph und Konsular war den unter142

Plin., Paneg. 33,3. Plin., Epist. III 7,6 f. Vgl. J. LEHNEN, Adventus Principis. Untersuchungen zu Sinngehalt und Zeremoniell der Kaiserankunft in den Städten des Imperium Romanum, Prismata 7, Frankfurt a.M./Berlin/Bern 1997, 239 f. 144 Tac., Ann. XIV 12,1; XVI 21 f. 26–29. Dazu V. RUDICH, Political Dissidence under Nero. The Price of Dissimulation, London/New York 1993, hier 76–81. 165–179; vgl. K. HELDMANN, Libertas Thraseae servitium aliorum rupit. Überlegungen zur Geschichtsauffassung im Spätwerk des Tacitus, Gymnasium 98, 1991, 207–231. Zu einer alternativen Lesart, die auch innersenatorische Konflikte einbezieht, s. Dirk BARGHOP, Der Fall des Thrasea Paetus. Die Ausgrenzung des Nichtangepaßten und das Andere des senatorischen Habitus, Traverse 3, 1996, 21–33. Vgl. bereits DERS., Forum der Angst. Eine 143

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schiedlichen Schauspielen kaiserlicher Macht ferngeblieben und hatte sich dabei unter anderem mit privata clientium negotia entschuldigen lassen; er habe, so seine Ankläger, sogar die Teilnahme an den vota und Opfern für den Kaiser und seine himmlische Stimme verweigert, obwohl er als einer der Quindecimviri dazu verpflichtet war145. Und schließlich sei er den Iuvenalia Neros ferngeblieben, während er doch selbst in seiner Heimatstadt bei den von Antenor begründeten Spielen habitu tragico aufgetreten war146. Diese Haltung wurde als offene, fundamentale Opposition zum Princeps gewertet: secessionem iam id et partes et, si idem multi audeant, bellum esse.147 Was Tacitus zufolge besonders an diesem Protest Thraseas und seiner Anhänger verstörte, war der zeichenhafte Charakter, die nach außen hin deutlich in Habitus und Mimik zum Ausdruck gebrachte Dissidenz148. Der Kaiser reagierte auf die Provokationen des Senators zunächst mit einem ebenso symbolischen Gegenschlag: dem ausdrücklichen Verbot, an Ritualen teilzunehmen, die das Verhältnis von Princeps und res publica zum Ausdruck brachten. So wurde Thrasea Paetus verwehrt, sich seinem Rang gemäß an der Gesandtschaft zu beteiligen, die der Senat nach Antium unternahm, um Nero zur Geburt seiner Tochter zu gratulieren. Ebenso schloß man ihm von dem Geleit aus, das die Senatoren dem Kaiser gewährten, als er gemeinsam mit Tiridates, dem neuen König Armeniens, von Kampanien nach Rom reiste. Allgemein galt diese Weisung Neros nicht nur als Schmach für den Konsular, sondern auch als Ankündigung eines baldigen gewaltsamen Todes; zumindest war es aber der politische Exitus Thraseas149. Die Auseinandersetzung zwischen Thrasea Paetus und Nero spitzte sich auf diese dramatische Weise zu, weil beider Anspruch auf gloria auf dem Spiel stand. Ruhm und daraus resultierende Führungsansprüche konnte im überkommenen römischen Denken nur einer der beiden Akteure, und zwar ausschließlich auf Kosten des jeweils anderen, erringen150. Der Konflikt historisch-anthropologische Studie zu Verhaltensmustern von Senatoren im Römischen Kaiserreich, Historische Studien 11, Frankfurt a.M./New York 1994, 113–120. 145 Tac., Ann. XVI 22,1. 146 Tac., Ann. XVI 21,1. 147 Tac., Ann. XVI 22,2. 148 Tac., Ann. XVI 22,2: et habet sectatores vel potius satellites, qui nondum contumaciam sententiarum, sed habitum vultumque eius sectantur, rigidi et tristes, quo tibi [sc. Neroni] lasciviam exprobrent. 149 Tac., Ann. XVI 24,1; XV 23,4: praenuntiam imminentis caedis contumeliam; vgl. R.H. MARTIN, Structure and Interpretation, 1572. 150 Nach TH. HABINEK, Seneca’s Renown, 271 f., impliziert der republikanische Begriff gloria einen unteilbaren Konflikt, weil er auf ein Nullsummenspiel hinausläuft. In der politischen Auseinandersetzung der Republik erfolgte Distinktion kompetitiv, durch sichtbare Unterwerfung und Verdrängung von Mitbewerbern. Nero sah in Thrasea offen-

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mußte in der Öffentlichkeit und gleichsam vor aller Augen ausgetragen werden, weil Ansehen und Macht an Sichtbarkeit gebunden blieben. Wenn auch unsere Quellen, vor allem Tacitus, in Neros Drang zur Zurschaustellung pathologische Züge erkannten (es bleibt aber zu fragen, ob des Kaisers Wahn nicht eher in der Verwechslung von metaphorischer und realer Bühne lag), so zeigt doch das Beispiel Thraseas, daß auch auf der Gegenseite mit Visualisierungsstrategien gearbeitet wurde und werden mußte. So tun sich in der Rivalität von Kaiser und Senator zwei divergierende Stile der Interaktion auf: Nero verfolgte offenbar (zumindest aus Sicht seiner Kritiker) eine Politik der tiefgreifenden ‚Theatralisierung‘ der römischen Gesellschaft151, in der soziopolitische Konkurrenz zum musischen Agon transformiert werden sollte. Thrasea und seine sectatores stellten dem die römische gravitas und eine strikte Differenzierung von Theater und traditionsgesättigtem Ritual entgegen152: So war es dem Senator zwar erlaubt, an den rituellen, dem Gründerheros Antenor gewidmeten ludi cetasti153 teilzunehmen, nicht aber an den artistischen Iuvenalia, die ein hellenisierender Potentat neu zu einrichten geruhte. Das Problem lag in Charakter und Legitimation der unterschiedlichen Darbietungen begründet. Nero schuf beständig neue spectacula und verlangte zudem vom Senat eine Intensivierung der rituellen Verehrung der Domus Augusta, für deren Form und Genese in den Augen Thraseas die Präzedenz fehlte – mithin galten sie ihm als Schaustellungen, die sich durch deformitas auszeichneten und nur dehonestamentum erwarten ließen154. Durch die Nachgiebigkeit der Mehrheit der Senatoren drohten, so legt das Verhalten Thraseas nahe, diese als Monstrositäten wahrgenommenen Aktivitäten eines Künstler-Kaisers aber zu Ritualen zu gerinnen, denen verbindlicher Charakter zukommen und von denen bindende Wirkung ausgehen würde. Thrasea hingegen beharrte auf dem – antiquierten – Standpunkt, daß Teilnahme und Einstellung zum Ritual kongruent sein müßten. Abstinenz von den Schauspielen Neros war daher für ihn eine Frage der Ehre wie der Freiheit, für die „Partei“ Neros hingegen eine Frage der secessio und des Bürgerkrieges. Wenn sowohl bar einen solchen Rivalen um den Ruhm, der über politischen Einfluß bestimmte und auf dem seine Macht gründete. Vgl. auch Tac., Ann. XVI 26,3. 151 Vgl. A.J. W OODMAN, Amateur Dramatics at the Court of Nero: Annals 15.48–74, in: Tacitus and the Tacitean Tradition, ed. by T.J. Luce/A.J. Woodman, Princeton (N.J.) 1993, 104–128, hier 120 mit Anm. 69, zum theatralischen Kaiser als gesellschaftlichem Rollenmodell, und R. RILINGER, Seneca und Nero. Konzepte zur Legitimation kaiserlicher Herrschaft, Klio 78, 1996, 130–157. 152 Zu dieser Unterscheidung vgl. Quint., Inst. I 11,18; Macr., Sat. III 14,14; H. LEPPIN, Histrionen, 142. 153 Hierzu J. LINDERSKI, Games in Patavium, Ktèma 17, 1992, 55–76. 154 Tac., Ann. XIV 21,3 f. (die Neronia verlaufen hier wider Erwarten ohne größere Entehrung), XVI 4,1 (ludicra deformitas).

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Thrasea Paetus als auch Seneca nun während ihrer vom Kaiser erzwungenen Selbsttötung Libationen auf Iuppiter Liberator darbrachten155, ist dies nicht nur ein allzu deutlicher Bezug auf das ruhmvolle Ende des Sokrates gewesen; sie manifestierten damit auch die finale Freiheit, ihr Lebensende selbst in Szene zu setzen und so den Regieambitionen Neros wenigstens in extremis noch etwas entgegenzusetzen156. Die zunehmende Einpressung des politischen Diskurses in (erzwungene beziehungsweise systemisch geforderte) Konsens-Rituale, die keinen offen ausgetragenen Dissenz gestattete, stellte die Akteure vor die folgenschwere Wahl zwischen Teilnahme und Akzeptanz auf der einen sowie Fernbleiben und Distanzierung auf der anderen Seite. Das Verhängnis des neronischen und domitianischen Principats scheint es gewesen zu sein, daß beide in der Perspektive der Senatoren nur die Wahl zwischen absolutem Einschluß und bedingungslosem Auschluß gelten ließen und alle Möglichkeiten der Evasion ausschalteten157. Dies diente andererseits Tacitus zu seiner großen Klage auf die Intransigenz der senatorischen „Opposition“158, die den Inszenierungen der Kaiser eine Art unbelehrbaren Ritualismus entgegensetzte und so ihren Untergang heraufbeschwor. Sein Agricola ist daher konsequent als Symbolfigur einer kompromißbereiten Funktionselite angelegt159. Plinius verfolgte dazu gewissermaßen eine Komplementärstrategie, indem er das Bild eines idealen Kaisers zeichnete, der die traditionellen symboli-

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Tac., Ann. XV 64,4; XVI 35,1. Vgl. auch Tac., Ann. XVI 19 f. zum gewissermaßen ,anti-stoisch‘ inszenierten Selbstmord Petrons, der es sich zudem nicht nehmen ließ, dem Kaiser zum Schluß noch ein Billett mit einer genauen Auflistung dessen sämtlicher Verbrechen und sexueller Verfehlungen zu übersenden und Nero somit – anders als die meisten anderen überführten ,Verschwörer‘– die finalen Schmeicheleien zu versagen. Zum Komplex auch C. EDWARDS, Acting and Self-Actualisation in Imperial Rome: Some Death Scenes, in: Greek and Roman Actors. Aspects of an Ancient Profession, ed. by P. Easterling/E. Hall, Cambridge et al. 2002, 377–394. 157 Vgl. auch Suet., Nero 37,3, für die Kompromißlosigkeit, mit der Nero den rituellen Rahmen von Adventus und Profectio nutzte, um demonstrativ den Konsens mit dem Senat aufzukündigen: certe neque adveniens neque proficiscens quemquam [sc. senatorem] osculo impertiit ac ne resalutatione quidem. 158 K.A. RAAFLAUB, Grundzüge, Ziele und Ideen der Opposition gegen die Kaiser im 1. Jh. n. Chr.: Versuch einer Standortbestimmung, in: Opposition et résistances à l’Empire d’Auguste à Trajan, ed. par A. Giovannini/D. van Berchem, Entretiens sur l’Antiquité classique 33, Vandœuvres 1986, 1–63. 159 Vgl. K. VON FRITZ, Tacitus, Agricola, Domitian and the Problem of the Principate, CPh 52, 1957, 73–97; S. DÖPP, Tacitus’ Darstellungsweise in cap. 39–43 des Agricola, WJA N.F. 11, 1985, 151–167; A. STÄDELE, Tacitus über Agricola und Domitian (Agr. 39–43), Gymnasium 95, 1988, 222–235; G. PETERSMANN, Der ‚Agricola‘ des Tacitus: Versuch einer Deutung, in: ANRW II.33.3, Berlin/New York 1991, 1785–1806, insb. 1800–1806. 156

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schen Kommunikationsformen (wieder) in den Vordergrund rückt und zugleich die Freiwilligkeit der Teilnahme betont. Allein das angebliche Fehlen von offenem und verstecktem Zwang unter der Herrschaft Trajans vermochte es für sich genommen aber auch in der Sichtweise des Plinius noch nicht, der zeichenhaften Interaktion neue Bedeutung zu verleihen und ihr den Stellenwert eines tatsächlichen Indikators für politische Stimmungslagen, für den Konsens von Princeps und Senat zurückzugeben. Und so wirkt der Panegyricus des Plinius wie eine doppelte Beschwörung der Authentizität nicht nur der öffentlichen Rede, sondern auch der gewachsenen Zeremonien und Rituale des Principats. Er ist eine Selbstbeschwörung des Senators, der sich und seine Standesgenossen dazu auffordert, die von Trajan gewährte Ausdrucksfreiheit zu nutzen und der in den vorangegangenen Jahrzehnten eingeübten (dis)simulatio ein Ende zu bereiten. Der Panegyricus ist aber auch ein Appell an den Princeps, der neuen Aufrichtigkeit in Wort und körperlichem Ausdruck Glauben zu schenken, und zwar sowohl der eigenen als auch der seiner Mitbürger: crede nobis, crede tibi!160, lautete Plinius zufolge eine Akklamation des Senats an Trajan während der nominatio der Magistrate durch den Kaiser. Wenn diese Nachricht, woran zu zweifeln es keinen Grund gibt, zutrifft, dann ist die Betonung der Antithese von erzwungener Heuchelei unter Domitian und freier Artikulation unter Trajan nicht allein ein rhetorischer Einfall des Lobredners, sondern ein brennendes Anliegen der gesamten Senatsaristokratie gewesen161, das gerade auch bei hoch zeremoniellen Anlässen zur Artikulation gelangte. Plinius jedenfalls weist wiederholt beinahe verzweifelt nicht nur auf das veränderte Verhalten aller Beteiligten, sondern auch auf die trotz der Erfahrung mit der „Tyrannis“ Domitians weiter lebendige Differenzierungsfähigkeit des römischen Volkes hin162, die eine 160 Plin., Paneg. 74,2; vgl. auch 54,5: At nunc quis nostrum tamquam oblitus eius de quo refertur censendi officium principis honore consumit? Tuae moderationis laus haec constantia nostra est, tibi obsequimur quod in curiam non ad certamen adulationum sed ad usum munusque iustitiae convenimus, hanc simplicitati tuae veritatique gratiam relaturi, ut te quae vis velle, quae non vis nolle credamus. 161 Die römische Oberschicht ist sehr vorsichtig geworden: So schließt Plinius nicht aus, daß in einer nicht spezifizierten Zukunft wieder Ehrungen und Akklamationen auf den Kaiser erzwungen werden könnten: Plin., Paneg. 88,10; U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 8; H. NESSELHAUF, Tacitus und Domitian, Hermes 80, 1952, 222–245. 162 Etwa Plin., Paneg. 2,6: et populus quidem Romanus dilectum principum servat. Daß Plinius an dieser Stelle zwischen plebs urbana und Senat unterscheide und ersterer undifferenziertes Lob jedes beliebigen Kaisers unterstelle, wie G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 225, hervorhebt, geht an der Intention des Redners vorbei: Vielmehr wird betont, daß das römische Volk auch in weniger glücklichen Zeiten trotz der vom Tyrannen erzwungenen Zustimmungen sehr wohl fein auseinanderhält, was es denn lobt.

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erfolgreiche Semiotisierung des neuen Kommunikationsstils überhaupt ermöglicht. „Sinn“ erhält ein solches positives Verhalten des Kaisers nämlich erst dann, wenn in der Tat weiter die boni principes im Urteil der Mitund Nachwelt von den mali geschieden werden, Rollenkonformität also auf Honorierung (im Wortsinne) rechnen kann. Glaubt man den Ausführungen des Senators, dann herrschte in der Kurie nun eine Atmosphäre demonstrativer Offenheit163, ebenso demonstrativ unterdrückten Kaiserlobs164 und harter Kritik an früheren principes165. Trajan hat den Senatoren Freimut geradezu befohlen und damit eine neue Art des Umgangs vorgegeben166. Die Rahmenbedingungen für diese wiederbelebte, auf der politischen Bühne gut ausgeleuchtete Offenheit der Meinungen bildeten sein bei Herrschaftsantritt brieflich dem Senat gegebenes und beeidetes Versprechen, keines seiner Mitglieder hinrichten oder ächten zu lassen167, sowie die von Plinius behauptete, sicher ebenfalls offiziell verlautbarte Beseitigung der Delation und der maiestas-Prozesse als Herrschaftsmittel168 – auch wenn die Realität anders aussah und Trajan letztlich trotz aller Bekundungen des Gegenteils nicht völlig auf delatores verzichten zu können glaubte169. Zudem führte der Kaiser als weitere Geste die in Was für das Volk insgesamt gilt, muß der Senat um so mehr beherzigen (2,7): quid nos ipsi? divinitatem principis nostri, an humanitatem, temperantiam, facilitatem, ut amor et gaudium tulit, celebrare universi solemus? Iam quid tam civile, tam senatorium, quam illud additum a nobis ‘Optimi’ cognomen? quod peculiare huius et proprium arrogantia priorum principum fecit. An keiner Stelle im Panegyricus wird im übrigen der Begriff populus Romanus synonym mit plebs oder gar pejorativ verwendet. Wie genau Plinius hier auf korrekten Wortgebrauch achtet, zeigt Paneg. 32,1: partem aliquam populi plebisque Romanae. 163 Plin., Paneg. 62,4; vgl. 56,1. 164 Plin., Paneg. 54,5. 165 Plin., Paneg. 53,3; vgl. 45,3; 55,6 f. 166 Plin., Paneg. 66,4: Iubes esse liberos: erimus; iubes quae sentimus promere in medium: proferemus. Vgl. M. VIELBERG, Bemerkungen zu Plinius d.J. und Tacitus, 176 f. 167 Cass. Dio LXVIII 5,2. Trajan wiederholte damit ein Versprechen, das bereits Nerva gegeben hatte und vielleicht auf Bemühungen zurückging, die auf Ausgleich für die in der Lex de imperio Vespasiani verbrieften Kompetenzen des Princeps gerichtet waren: A.R. BIRLEY, The Oath Not to Put Senators to Death, CR 12, 1962, 197–199. 168 Plin., Paneg. 34 f.; vgl. 42,1 f.; Epist. X 82 (Trajan an Plinius); Tac., Hist. I 2,3. Trajan knüpft in der Beseitigung der maiestas-Anklage an Maßnahmen seines Vorgängers Nerva an: Cass. Dio LXVIII 1,2. M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 87. 169 K.H. W ATERS , Traianus Domitiani Continuator, 390. Nach Suet., Dom. 9,3, schritt Domitian aber bereits gegen die Delation ein, was Plinius hier völlig ausblendet. Daß für Plinius auch unter Trajan die Gefahr der Denunziation und Delation nicht auf immer gebannt war, zeigt sein Appell in Paneg. 62,9: Persta, Caesar, in ista ratione propositi, talesque nos crede, qualis fama cuiusque est. Huic aures huic oculos intende: ne respexeris clandestinas existimationes nullisque magis quam audientibus insidiantes susurros. Vgl. auch Plin., Epist. I 5; IX 13. Allerdings sind für die Regierungszeit Trajans nur zwei

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erster Linie symbolisch zu verstehende geheime Abstimmung im Senat bei der Wahl der Magistrate ein170. Plinius benennt drei Ebenen der Teilnahme an der Inszenierung der res publica: Hören, Sehen, Empfinden (aures, oculi, animi)171; eine vierte Ebene, die der verbalen Artikulation, zieht sich darüber hinaus als roter Faden durch die Rede; sie ist der Gegenstand der Rede und wird durch die Rede selbst verwirklicht. Plinius diskutiert in diesem Zusammenhang intensiv das Verhältnis von inszenierter Sprache (Inszenierung von Sprache) und formelhafter Sprache. Zwei Stellen im Panegyricus bieten hierzu die maßgeblichen Informationen: (1) An die oben bereits besprochene Ankündigung, nicht den ausgetretenen Pfaden der Lobredner der vorigen Zeit folgen und statt dessen auch in einer vorbereiteten Rede die Spontaneität und Authentizität von Akklamationen beibehalten zu wollen, schließt Plinius einen Vergleich zwischen dem genus laudativum und religiöser Sprache an: Formeln könne er in seiner Dankrede auch deshalb meiden, weil selbst die Götter nicht durch das meditatum carmen des Betenden, sondern durch dessen Aufrichtigkeit erfreut würden172. (2) An anderer Stelle weist Plinius in bezug auf den Princeps darauf hin, daß dieser zwar anläßlich seines Amtsantritts als Konsul „genau dasselbe gesagt“ habe wie seine Vorgänger: „Aber keiner vor dir fand Vertrauen.“173 Aus dem unmittelbaren Kontext läßt sich der Inhalt dieser als formelhaft ausgewiesenen Aussagen des Kaisers präzisieren: Es sind gerade die Aufforderungen zur freien Meinungsäußerung, zur Mitregentschaft des Senats und zur Orientierung am

Hochverratsprozesse gegen Senatoren überliefert, vgl. M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 103; A. GIOVANNINI, Pline et les délateurs de Domitien, in: Opposition et résistances à l’Empire d’Auguste à Trajan, ed. par A. Giovannini/D. van Berchem, Entretiens sur l’Antiquité classique 33, Vandœuvres 1986, 219–248, insb. 229 f., bezieht delatio im Panegyricus auf den fiskalischen Zugriff bei Erbstreitigkeiten (vgl. Paneg. 43,1 f.). 170 Plin., Epist. III 20 (zu beachten ist aber die durchaus realistische Einschätzung des tatsächlichen, sehr eng gesteckten Spielraumes, der dem Senat damit gegeben wird); IV 25; R. FREI-STOLBA, Untersuchungen zu den Wahlen in der römischen Kaiserzeit, Zürich 1967, 210 f.; J. BENNETT, Trajan, 107. Der Kaiser selbst blieb an den Abstimmungstagen dem Senat fern: R.J.A. TALBERT, The Senate of Imperial Rome, Princeton (N.J.) 1984, 182. 171 Plin., Paneg. 66,4. 172 Plin., Paneg. 2,1 f.; 3,1 f. u. 5. Vgl. M.P.O. MORFORD, iubes esse liberos, 584: „his praise of the princeps (so he would have us believe) is based on facts and on the circumstances of speech, and is not therefore just a repetition of empty formulae.“ 173 Plin., Paneg. 66,3; Omnes ante te eadem ista dixerunt, nemini tamen ante te creditum est. (Übers. W. Kühn). Belege dafür, daß Plinius hier zutreffend den formelhaften Charakter der Aussagen Trajans herausgehoben hat, bei U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 31 Anm. 1.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

Staatswohl! Und deren Umsetzung stellt der Lobredner ja ansonsten beständig als Alleinstellungsmerkmal der Herrschaft Trajans dar174. Plinius macht mit dieser scheinbaren Paradoxie deutlich, daß die ‚Normalstufe‘ verbaler Kommunikation zwischen Senat (respektive einzelnen Senatoren) und dem Princeps eben der Gebrauch einer zunächst unproblematischen Formelsprache sei. Doch sieht er sich mit einer fortschreitenden Sinnentleerung dieses Codes konfrontiert. Für die sprachlichen Transaktionen zwischen Herrscher und sozialer Elite kündigt Plinius als Konsequenz daraus an, die relevanten Parameter neu zu bestimmen; ihm zufolge besteht der notwendige – und unter Trajan bereits erreichte – Wandel in einer Verschiebung von der sprachlichen Korrektheit der Formeln zu einer wechselseitigen Adäquanz von Einstellung und sprachlichem Ausdruck. Da die innere Einstellung aber wiederum nur formal erfaßt werden kann, strebt der Redner damit gleichsam auch kommunikationstheoretisch und historisch abgesichert eine Verschiebung von den verba allein auf vox und motus an. Dennoch konnte es Plinius (und Trajan!) nicht in erster Linie darum gehen, eine neue Programmatik und eine neue offizielle Sprache zu (er)finden: Der Principat gründete seit Augustus alternativlos auf der doppelten Fiktion fortdauernder libertas175 und ungebrochener Kontinuität der res publica. Diese Schlagworte für sich genommen waren auch unter den Gewaltherrschern ohne Zweifel stets begrüßenswert gewesen – sie waren laut Plinius in der Vergangenheit nur nicht ernst gemeint gewesen und dienten lediglich der Bemäntelung einer auf Unterdrückung zielenden Politik. Das Gesagte galt für nicht mehr als reine Fassade, die dazu dienen sollte, geradezu das Gegenteil der veröffentlichten Agenda zu betreiben. So herrschte am Anfang des zweiten Jahrhunderts nicht nur eine massive Verunsicherung der politischen und sozialen Eliten über die Aussagekraft ihrer Kommunikationsformen176, es fehlte auch den Inhalten, den zentralen Begriffen der politischen Ideologie immer mehr an Glaubwürdigkeit, ohne daß sich eine Alternative greifen ließ. Der Senat war aus Erfahrung vorsichtig geworden, der Princeps mußte dementsprechend sowohl von der eigenen Aufrichtigkeit als auch von derjenigen der Senatoren – so ist das crede nobis crede tibi! der patres zu verstehen – erst ‚überzeugt‘ werden. Die Akklamation glich mithin beinahe einer magischen Formel, die eine Wendung zum Besseren befördern sollte. 174

Plin., Paneg. 66,2. Grundlegend: CH. WIRSZUBSKI, Libertas als politische Idee im Rom der späten Republik und des frühen Prinzipats, Darmstadt 1967 (engl. 1950). 176 Tacitus (Agr. 2,3–3,1) führt dies auf die Unterdrückung und Überwachung der Kommunikation überhaupt unter Domitian zurück (adempto per inquisitiones etiam loquendi audiendique commercio) sowie auf ein durch die systematische Vernichtung der boni verschüttetes Praxiswissen, das nur schwer wieder zu beleben sei: sic ingenia studiaque oppresseris facilius quam revocaveris. 175

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5. Die Konstituierung des trajanischen Principats im Ritual Mit seiner forcierten rhetorischen Strategie, das Problem der diskreditierten Formeln der Epideiktik beim Namen zu nennen und offensiv anzugehen, hatte Plinius eine Verschiebung vom gesprochenen Wort auf das zeichenhafte Gebaren – das offenbar doch weniger kontaminiert und eher revitalisierbar erschien – als Fundus für seine Argumentation angestoßen. Konsequent mußte damit die Ekphrasis symbolischer Handlungen als Mittel der Darstellung an Gewicht gewinnen. Plinius wählte dabei drei große Sachzusammenhänge aus, um die Qualitäten Trajans als Princeps darzustellen. Dies ist zunächst sein Verhalten als Heerführer gegenüber den milites, keine Innovation des Plinius, sondern Bestandteil des Herrscherlobs von Anbeginn – Eigengewicht gewinnt dieser Komplex von Topoi erst im Gesamtkonzept des Panegyricus. Den zweiten Themenkreis bildet der Einzug Trajans in Rom vom Oktober des Jahres 99, sein erstes Auftreten als Kaiser in der Hauptstadt des Reiches, über anderthalb Jahre nach seiner Erhebung zum Augustus177. Trajans Amtsführung als consul III im darauf folgenden Jahr 100 können als dritter Schwerpunkt der Darstellung bei Plinius gefaßt werden. Die folgende Detailanalyse orientiert sich in ihrer Gliederung bewußt am Aufbau des Panegyricus, um Gedankenführung und Argumentation des Redners transparenter werden zu lassen. a) Kommando und Kameraderie Plinius referiert nach dem Exordium des Panegyricus zunächst die Adoption Trajans durch Nerva178, den Tod und die Konsekration des alten Kaisers (c. 4,4–11), sodann – verbunden mit einer knappen, lückenhaften Darstellung seines bisherigen Werdegangs – die militärischen Verdienste Trajans (c.12–19). Auffällig ist, daß über Herkunft und frühe Jugend des späteren Princeps alle Informationen fehlen. Er tritt uns erstmals als tribunus militum entgegen179: In einer kühnen Hyperbel verkündet der Redner, Trajan habe, noch fast ein Kind, seinen Vater bei einem Partherfeldzug unterstützt. Kurze Zeit darauf muß er in Germanien gestanden sein: cum puer admodum Parthica lauro gloriam patris augeres, nomenque Germanici iam tum mererere, cum ferociam superbiamque Parthorum ex proximo auditus

177 Zur Chronologie vgl. D. KIENAST, Römische Kaisertabelle. Grundzüge einer römischen Kaiserchronologie, Darmstadt 21996, 122. 178 Plin., Paneg. 8; vgl. Cass. Dio LXVIII 3,3 f. M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 94– 96; J. BENNETT, Trajan, 45–48. Zu den Hintergründen der Adoption vgl. K. STROBEL, Zeitgeschichtliche Aspekte, 26–51. 179 Plin., Paneg. 14 f.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik magno terrore cohiberes, Rhenumque et Euphraten admirationis tuae societate coniungeres ... Et necdum imperator, necdum dei filius eras.180

Plinius knüpft hieran den Marsch Trajans von Hispanien nach Germanien an. Als Germaniae bella (c. 14,5) umschrieben, bleibt jedoch der Grund für diese Truppenverlegung im Andeutungshaften – Domitian hatte das hispanische Heer in die Colonia Agrippinensis beordert, um die zur Niederschlagung des Saturninus-Aufstandes eingesetzten Truppen zu verstärken181. In die gesamte – nur dürftig chronologische und in dieser Form beschönigende – Abhandlung der militärischen Laufbahn Trajans legt Plinius wiederholt Topoi des kameradschaftlichen Umgangs des Heerführers mit seinen Mannschaften ein (c. 13; c. 14,2–4; c. 15,5; c. 19,3 f.: sic imperatorem commilitonemque miscueras). Mit der Darstellung Trajans als Kommandant, der sich zugleich auch den Lasten des einfachen Soldaten unterzieht, greift Plinius einen Aspekt der virtus militaris auf, den der Kaiser selbst mit hoher Intensität verkündete und der offenbar auf große Resonanz stieß182. Trajan stellte sich so in eine Tradition, die in die Anfänge des Principats zurückreichte: Bereits Caesar hatte seine Truppen in adlocutiones als commilitones angesprochen183. Eine Intensivierung erfuhr diese Art der Stilisierung des Princeps und Imperator in der Folgezeit offenbar vor allem in Zeiten der Herausforderung bzw. der Neubegründung von Herrschaft: So wurde im Vierkaiserjahr der Imperator als commilito der ihn favorisierenden Legionssoldaten zu einem stehenden Motiv der Selbstdarstellung der verschiedenen Usurpatoren184. Auch für Trajan, der sich ja auf keine Dynastie stützen konnte und zudem der erste nicht aus Italien stammende Kaiser war185, scheint dieser Appell an die Loyalität der Truppen eine besondere Bedeutung gewonnen zu haben. Er verwendete den Terminus commilito nicht nur in offiziellen Dokumenten186, sondern ließ sich auch auf der Trajanssäule, gleichsam seinem monumentalen Rechenschaftsbericht für die beiden Dakerkriege, in 180

Plin., Paneg. 14,1. J. BENNETT, Trajan, 42–44; M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 96. 182 Cass. Dio LXVIII 23,1 f. verknüpft die Verleihung des Beinamens mit dem Bericht über das Verhalten Trajans auf dem Marsch: Er mischt sich zu Fuß unter die Soldaten, führt sie in das Gefecht, überwindet mit ihnen gemeinsam die Flüsse. 183 Suet., Caes. 67,2; 68,1. Vgl. App., bell. civ. II 72; III 65; IV 90. Hierzu und im folgenden H.-U. INSTINSKY, Wandlungen des römischen Kaisertums, Gymnasium 63, 1956, 260–268 (dazu die kritischen Anmerkungen von J. STÄCKER, Princeps und miles. Studien zum Bindungs- und Nahverhältnis von Kaiser und Soldat im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr., Spudasmata 91, Hildesheim/Zürich/New York 2003, 91 Anm. 5); J.B. CAMPBELL, The Emperor and the Roman Army. 31 B.C. – A.D. 235, Oxford 1984, 32–59. 184 Tac., Hist. II 11 (Otho); I 52 (Vitellius); II 5 (Vespasian/Titus). 185 Vgl. Cass. Dio LXVIII 4,1 f. 186 Dig. 29,1,1; J.B. CAMPBELL, The Emperor and the Roman Army, 37–39. 45–48. 181

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dieser Imago abbilden187. Seine Mitkämpfer kannte er, so Fronto, vielfach mit Namen, sowohl mit ihrem offiziellem Namen als auch unter ihrem nom de guerre188. Daß er die Bedeutung der Zustimmung des Heeres für die Begründung und Dauer seiner Herrschaft klar erkannt hatte, wird auch daran deutlich, daß Trajan in seiner Korrespondenz mit Plinius insbesondere im Kontext der jährlichen vota und der Erneuerung des Kaisereides auf die Soldaten als seine commilitones hinwies189. Es kann daher mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, daß Plinius hier ein Motiv übernahm, das in der Selbstdarstellung Trajans bereits während seiner ersten Herrscherjahre einen prominenten Platz einnahm und in erster Linie um die Loyalität des miles warb – nicht zuletzt in Vorbereitung auf die Dakerkriege190. So konnte Olivier Richier, diese Beobachtung bestätigend, auch in der trajanischen Münzprägung neben einer Betonung der fides exercituum, der disciplina militaris191 das stark pointierte Bild des Kaisers „en posture de guerrier“ ausmachen192. Dieses Vorgehen war aber um so geeigneter, als es sich nicht in einem an die Legionen gerichteten Hinweis erschöpfte, der ein besonderes Nahverhältnis verhieß: Insbesondere durch die Vermittlung der griechischen Epideiktik war die Darstellung des Kaisers als Mit- und Vorkämpfer für den gebildeten Römer schon seit langem zu einem auch literarischen Motiv geworden: Bereits bei Isokrates findet sich der Herrscher, der die Mühen der Soldaten teilt, ja, sie als erster und an vorderster Front auf sich nimmt193. So griff auch Dio Chrysostomus in einer seiner Trajanspanegyriken das Bild des Königs als Kamerad seiner Soldaten auf und formulierte 187 M. FELL, Optimus Princeps?, 90, betont den Aspekt der cura des Kaisers für das Heer, die sich aus der Unterwerfung unter die Mühen des Marsches ebenso ergibt wie aus der Überwachung der Befestigungsarbeiten oder aus der Sorge für den Beistand der Götter durch den Vollzug der Opfer. Vgl. auch R. SCHEIPER, Bildpropaganda der römischen Kaiserzeit unter besonderer Berücksichtigung der Trajanssäule in Rom und korrespondierender Münzen, Habelts Dissertationsdrucke Reihe Klassische Archäologie 15, Bonn 1982, 185–187, mit einer Übersicht über die Szenen, in denen Trajan persönlich an der Seite der Soldaten in Aktion tritt. Szene XCVII schließlich zeigt den Kaiser galoppierend an der Spitze seiner Truppen im Gefecht, dazu F. LEPPER/SH. FRERE, Trajan’s Column. A New Edition of the Cichorius Plates. Introduction, Commentary and Notes, Gloucester/Wolfboro (N.H.) 1988, 143–146. 188 Front., Princ. hist. 9; J. STÄCKER, Princeps und miles, 94. 189 Plin., Epist. X 53. 101. 103; vgl. 52. 100 (Plinius an Trajan); vgl. G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 277 f. 190 Vgl. J. STÄCKER, Princeps und miles, 134. 191 So auch P.L. STRACK, Untersuchungen zur römischen Reichsprägung des zweiten Jahrhunderts. Vol. I: Die Reichsprägung zur Zeit des Traian, Stuttgart 1931, 43. 80–83. 192 O. RICHIER, Les thèmes militaires dans le monnayage de Trajan, Latomus 56, 1997, 594–613, insb. 608–612, Zitat 609. 193 Isokr., Euag. 29–36.

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es geradezu als Norm194. Als Bestandteil eines traditionellen Herrscherbildes, das die Tugenden des Monarchen in umfassender Weise betonte, war der Kaiser als commilito also auch der senatorischen Elite vermittelbar – ganz abgesehen davon, daß militärische Tugend und Opferbereitschaft von jeher den Führungsanspruch der römischen Nobilität untermauert hatte. Plinius zeigt hier seine Fähigkeit, die Topoi des Herrscherlobs so mit Inhalt zu füllen, daß zugleich spezifische Themen der herrscherlichen Selbstdarstellung integriert werden konnten. Er verknüpft dies mit einer elaborierten Vergleichung: Trajan wird dabei zunächst generell den Befehlshabern aus der Frühzeit Roms gleichgestellt – die Feinde sehen ihn als Romanum ducem unum ex illis veteribus et priscis, quibus imperatorium nomen addebant contecti caedibus campi et infecta victoriis maria195. Sodann wird er konkreter als dem Vorbild eines Fabricius, Scipio oder Camillus gewachsen bezeichnet. Dies sei um so bemerkenswerter, als sich das Interesse der Vorgänger Trajans am Kriegswesen auf passives Zuschauen beschränkt und somit politisches Machtstreben kein Äquivalent auf der Ebene militärischen Verdienstes mehr gefunden habe196. Und schließlich zieht Plinius eine Parallele zwischen Trajan als Heerführer unter Domitian und den Taten des Hercules im Auftrag des Eurystheus: Beide haben den Tyrannen gleichermaßen Bewunderung und Furcht abgenötigt. Die Hercules-Parallele findet sich auch in der ersten Rede des Dio Chrysostomus  ; und bereits im Jahre 100 ließ Trajan Münzen mit der Legende HERCULES GADITANUS prägen – beide Redner nahmen also von der offiziellen Selbstdarstellung des Princeps ihren Ausgangspunkt und bezogen sie sodann auf die Kernpunkte ihrer jeweiligen Aussagen über Trajan: (1) die Antithese zu Domitian (als Aktualisierung des mythischen Eurystheus); (2) der labor des Princeps (Heros) für das Reich; (3) die besondere Beziehung zwischen Trajan (Hercules) und Iuppiter (Zeus)197. Der Einsatz Trajans im Dienste des „Tyrannen“ Domitian wird so mit Sinn versehen – und zwar als Bewährungsphase eines Heros. Zugleich aber entfaltet sich für Plinius unter dem Heerführer Trajan eine neue Qualität der Feldzüge: Der Princeps vermeidet wann immer möglich den Krieg, ohne ihn freilich zu scheuen, wenn er unausweichlich wird. Sein Ruf und seine Erfolge reichen in der Regel hin, den Feind zu verschrecken und aus Invasoren früherer Zeiten vor der Stärke Roms

194

Dion Chrys., Or. 1,28 f. Plin., Paneg. 12,1. 196 Plin., Paneg. 13,4 f. 197 Plin., Paneg. 14,5. Vgl. Dion Chrys., Or. 1,48–84; P.L. STRACK, Reichsprägung I, 95–104; C.P. JONES, Roman World, 117 f.; J.L. MOLES, Kingship Orations, 297–375, insb. 323–337; nun auch G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 284–287. 195

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Flüchtende zu machen198. Darüber hinaus erweist sich der Trajan des Panegyricus als Reformer des Heeres, der die alte Disziplin wieder in die Truppen zurückträgt – und aufgrund seiner Fähigkeiten und seiner Haltung gegenüber Offizieren und Mannschaften anders als frühere Principes Usurpation nicht fürchten muß199. Der neue Kaiser durchbricht den verhängnisvollen Kreislauf, den das Mißtrauen der Herrscher gegenüber den Kommandeuren einerseits und die Angst der Heerführer vor Neid, Mißgunst und Nachstellungen des Princeps andererseits gebildet hatten, indem er allen Angehörigen seiner Armeen den nötigen Spielraum bietet, um durch Leistung Anerkennung und Distinktion zu erringen200. Hier wird deutlich, daß Plinius und mit ihm wohl die Mehrheit der Senatoren von ihrem neuen Kaiser vor allem eines erwarteten: Berechenbarkeit und Stabilität. b) Der Adventus Trajans in Rom Als Grundton hatte Plinius somit schon in diesem ersten Teil der Disposition, den er in den großen Linien der Biographie Trajans bis zu seinem Herrschaftsantritt widmete201, die Leutseligkeit des Kaisers angeschlagen. 198 Plin., Paneg. 12; 14,1; 16,2–5. G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 264– 269, erkennt in dieser Betonung der Abschreckung der Gegner und der damit verbundenen Vermeidung des tatsächlichen Waffengangs eine implizite Ablehnung eines erneuten militärischen Einsatzes Trajans und insb. der dann unvermeidbaren Abwesenheit des Kaisers von Rom. 199 Vgl. auch Cass. Dio LVIII 7,5; J. STÄCKER, Princeps und miles, 95. 200 Plin., Paneg. 18 f., insb. 18,3; E. FLAIG, Geschichte ist kein Text. „Reflexive Anthropologie“ am Beispiel der symbolischen Gaben im römischen Reich, in: Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. FS Jörn Rüsen, hg. v. H.W. Blanke/F. Jaeger/T. Sandkühler, Köln/Wien 1998, 345–360; vgl. auch DERS., Für eine Konzeptionalisierung der Usurpation im spätrömischen Reich, in: Usurpation in der Spätantike, hg. v. F. Paschoud/J. Szidat, Historia ES 111, Stuttgart 1997, 15–34. 201 Plinius hält sich im Aufbau seiner Rede nicht strikt an die vorgegebenen Muster; Quintilian zufolge bestanden beim Verfassen einer Lobrede grundsätzlich zwei Optionen der Disposition: (a) eine Anordnung des Tatenberichtes per tempus, also ein strikt chronologischer Aufbau; oder alternativ (b) eine Gliederung per virtutes, bei der die nennenswerten Taten des laudandus jeweils einzelnen Tugenden zugeordnet werden: also ein systematischer Aufbau. So etwa Quint., Inst. III 7,15: animi semper vera laus, sed non una per hoc opus via ducitur. namque alias aetatis gradus gestarumque rerum ordinem sequi speciosius fuit, ut in primis annis laudaretur indoles, tum disciplinae, post hoc operum id est factorum dictorumque contextus, alias in species virtutum dividere laudem, fortitudinis, iustitiae, continentiae ceterarumque, ac singulis adsignare, quae secundum quamque earum gesta erunt. Vgl. auch Cic., de Orat. II 345; Rhet. Her. III 115. Als untergeordnetes Gliederungsprinzip stand zudem eine Reihung per species zur Verfügung, die nach einzelnen Aspekten oder Wirkbereichen, insbesondere nach Taten in Krieg und Frieden, unterschied. Hierzu W. KIERDORF, Laudatio Funebris, 73. 75–80. Vgl. die allerdings wesentlich späteren Anweisungen Menander Rhetors (II 372,25 – 373,17; 419,11 – 420,27).

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Dieses Motiv führte Plinius fort, als er zum Einzug Trajans in Rom überging. Die Beschreibung dieses Adventus schließt den ‚historischen‘ Überblick über das Wirken des Kaisers ab und lenkt das Interesse des Publikums nun auf das Verhältnis von Princeps und Urbs (c. 20–24). Die beiden Teile werden durch ein programmatisches Iam te civium desideria revocabant, amoremque castrorum superabat caritas patriae verbunden202. Diese Formulierung überdeckt den Umstand, daß sich Trajan seit Jahren nicht mehr in Rom aufgehalten und auch zu seinem formellen Herrschaftsantritt nach dem Tode Nervas die Hauptstadt des Reiches nicht betreten hatte203. Nach dem (vermeintlichen) Senatskaiser Nerva204, der freilich den Praetorianern und ehrgeizigen senatorischen Befehlshabern letztlich nicht gewachsen war205, deutete diese langwährende Absenz womöglich einen gegenüber den politischen Institutionen Roms distanzierteren, auf den Legionen ruhenden Principat an206. Für Trajan wie für den Senat bestand also

Plinius hingegen ordnet zunächst chronologisch, führt dann die munera auf und expliziert schließlich nochmals die überragende virtus Trajans anhand von Beispielen aus dem häuslich-privaten und dem öffentlichen Sektor. Gerade seine Ausführungen zum dritten Konsulat und seiner Vorgeschichte entspringen mehr der unmittelbaren politischen Zielsetzung und Wirkabsicht des Verfassers als dem Wunsch nach einer lehrbuchmäßigen Strukturierung der Rede. 202 Plin., Paneg. 20,1. 203 J. BENNETT, Trajan, 45 f.; M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 101 f. J.D. GRAINGER, Nerva and the Roman Succession Crisis of AD 96 – 99, London 2003, 103–125, sieht die Gründe für die Abwesenheit Trajans in Bemühungen zur Reorganisation der Garde und den damit verbundenen Aspekten seiner persönlichen Sicherheit sowie in einer strategischen Neuorientierung in bezug auf die Donaugrenze. Vgl. auch G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 113–157, der den Schwerpunkt auf die Bemühungen des Kaisers um den Aufbau einer „militärischen Imago“ legt. 204 Mart. X 72,9: Kaiser Nerva sei iustissimus omnium senator. Vgl. R.J.A. TALBERT, Senate, 164. 205 Plin., Paneg. 6–8; der wesentliche Unterschied zwischen Nerva und Trajan besteht nach Plinius in der Unfähigkeit des ersteren, sich gegenüber der Garde zu behaupten und generell die disciplina der milites aufrechtzuerhalten; vgl. die Übersicht über die einschlägigen Stellen bei U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 9. In der Darstellung sowohl des Plinius (Paneg. 5,5 – 6,4; 8,4 f.) als auch Cassius Dios (LXVIII 3,3 f.) ist die Adoption Trajans geradezu ein Befreiungsschlag Nervas angesichts der Übergriffe des Militärs. M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 94 f. J. BENNETT, Trajan, 46 f. Zur Herrschaft Nervas und den Kämpfen um seine Nachfolge nun J.D. GRAINGER, Nerva and the Roman Succession Crisis; W. ECK, Traian – Der Weg zum Kaisertum, in: Traian. Ein Kaiser der Superlative am Beginn einer Umbruchzeit?, hg. v. A. Nünnerich-Asmus, Mainz 2002, 7–20; DERS., An Emperor is Made: Senatorial Politics and Trajan’s Adoption by Nerva in 97, in: Philosophy and Power in the Graeco-Roman World. Essays in Honour of Miriam Griffin, ed. by G. Clark/T. Rajak, Oxford 2002, 211–226. 206 Vgl. J.D. GRAINGER, Nerva and the Roman Succession Crisis, 117 f.

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durchaus die Notwendigkeit, in einer öffentlichen Demonstration ihre Positionen und die Stellung zueinander zu klären207. Die plinianische Darstellung der Abreise Trajans vom Heer und seines Zuges nach Italien ist so auch erkennbar daraufhin konzipiert, die ‚civile‘ Seite des Kaisers effektvoll zu betonen: iter inde placidum ac modestum et plane a pace redeuntis208. Plinius beginnt mit einem Topos: Angesichts des Vorbeizugs Trajans mit seinem Gefolge habe kein Vater und kein Ehemann um die Sicherheit der Frauen fürchten müssen – vom Redner als Gemeinplatz ausgewiesen durch den Zusatz: adfectata aliis castitas, tibi ingenita at innata, interque ea quae imputare non possis209. Diese Kennzeichnung als Inventar der Rhetorik in Verbindung mit der signalisierten Praeteritio … imputare non possis hat eine doppelte Funktion: Sie soll zum einen die Überlegenheit Trajans gegenüber der nur vorgegebenen Tugendhaftigkeit anderer betonen, zum anderen diesen Topos, der durch mißbräuchliche Anwendung ‚verdächtig‘ geworden war, für das Kaiserlob retten. Es folgen Ausführungen über den geringen Aufwand, der für die Reise des Herrschers betrieben worden sei210. Kontrastiv wird dem das Itinerar Domitians entgegengestellt; dessen Fahrten hätten in einem solchen Maße einer Verheerung des Durchzugsgebietes geglichen, daß nun den Provinzialen der Unterschied zwischen dieser Art zu reisen und einem wahren Adventus eines Princeps erläutert werden mußte211. Zu diesem Zweck erließ Trajan ein Edikt, das die Veröffentlichung sämtlicher Ausgaben vorsah, offenbar in Gegenüberstellung zu dem impensum Domitians. Plinius amplifiziert diese Anordnung, wenn er in ihr eine Orientierungsmarke und einen Prüfstein für künftige Herrscher sieht, der es den Menschen erlaube, anhand der Aufwendungen auf den Charakter des jeweiligen Kaisers zu schließen212. Den entsprechenden historischen Hintergrund für diese rhetorische Auxesis bildete die Tatsache, daß die Kaiserreisen eine immer schwerere Belastung für die Städte in den Provinzen bedeuteten, so daß

207

In Rom bestand offenbar hoher Erwartungsdruck hinsichtlich des verzögerten Erstadventus des Kaisers, vgl. Mart. X 6 u. 7. M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 102. Zur besonderen Bedeutung des ersten stadtrömischen Adventus eines Kaisers, der außerhalb der Hauptstadt seine Herrschaft angetreten hatte, ST. BENOIST, Rome, le prince et la Cité, Le nœud gordien, Paris 2005, 54–60. 208 Plin., Paneg. 20,1. 209 Plin., Paneg. 20,2. 210 Plin., Paneg. 20,3. 211 Plin., Paneg. 20, 4: Persuadendum provinciis erat illud iter Domitiani fuisse, non principis. 212 Plin., Paneg. 20,5 f., insb. 6: propositisque duobus exemplis meminerint perinde coniecturam de moribus suis homines esse facturos, prout hoc vel illud elegerint.

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nach dem reisefreudigen Hadrian schließlich Antoninus Pius die auf die Gemeinden entfallenden Kosten gesetzlich begrenzen lassen sollte213. Abermals ist nun ein Bruch in der Gedankenführung zu verzeichnen: Plinius schiebt ein Kapitel über Trajans verspätete, erst auf den deutlichen Wunsch der Bevölkerung erfolgte Annahme des Titels pater patriae ein (c. 21)214. Offenkundiges Ziel dieser Digressio215 ist es, die Titulatur auszudeuten und ihr eine Entsprechung im Verhalten des Kaisers, mithin Handlungsrelevanz zuzumessen; dem Konzept des pater patriae entsprechen hier die von Trajan gelebten Tugenden der benignitas und indulgentia. Die Abschweifung dient zugleich dazu, den Übergang Trajans vom Militär zum privatus zu unterstreichen, der sich in der gesamten Adventus-Zeremonie vollzieht216. Trajan, so wird von Plinius vorwegnehmend interpretiert, integriert sich wieder vollkommen in die Bürgerschaft, ohne daß seine inzwischen erfolgte Statuserhöhung und die Herrschaftsübernahme dem im Wege stünden: ut reversus imperator qui privatus exieras, agnoscis agnosceris! Eosdem nos eundem te putas, par omnibus et hoc tantum ceteris maior quo melior217. Plinius schließt nun die eigentliche Adventus-Darstellung mit der Überleitung an: Ac primum qui dies ille, quo exspectatus desideratusque urbem tuam ingressus es! Iam hoc ipsum, quod ingressus es, quam mirum laetumque! nam priores invehi et importari solebant, non dico quadriiugo curru et albentibus equis sed umeris hominum, quod adrogantius erat. Tu sola corporis proceritate elatior aliis et excel-

213 Hist Aug., Pius 7,11; vgl. auch Tac., Hist. II 62,1 (Vitellius). H. HALFMANN, Itinera principum. Geschichte und Typologie der Kaiserreisen im Römischen Reich, HABES 2, Stuttgart 1986, 70. 110; J. LEHNEN, Adventus Principis, 110–114; P. DUFRAIGNE, Adventus Augusti, Adventus Christi. Recherche sur l’exploitation idéologique et littéraire d’un cérémonial dans l’antiquité tardive, EAug 141, Paris 1994, 47–49. 214 In der Tat führte Trajan den Titel offiziell bereits spätestens im Oktober 98 (CIL II 4672; vgl. RIC II 250–259 no. 91–228; 277–285 no. 459–589), wie inschriftlich belegt ist; die recusatio bewirkte also auch hier nur eine kurze, aber symbolträchtige Hinauszögerung des Unvermeidlichen. M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 103 m. Anm. 130. 215 Zur rhetorischen Bedeutung der digressio vgl. Cic., de Orat. II 80 (ornandi aut augendi causa); Quint., Inst. IV 3,1–17. U. EIGLER, Art. Exkurs, DNP 4, 1998, 345 f.; S. MATUSCHEK, Art. Exkurs, HWRh 3, 1996, 126–136, insb. 126–129. 216 Plin., Paneg. 21,3 f. Plinius bezieht an dieser Stelle ganz deutlich die zivilen Tugenden der benignitas und indulgentia auf den pater patriae-Titel, der von der Benennung Trajans als imperator und Caesar abgesetzt wird und eine neue Ebene im Verhältnis von princeps und cives bezeichnet. Dies ist um so auffälliger, als dieser Titel bis in augusteische Zeit vor allem auf militärische Schutzleistungen Anwendung fand: s.o. und A. ALFÖLDI, Der Vater des Vaterlandes im römischen Denken, Darmstadt 1971, 46 f. 217 Plin., Paneg. 21,4.

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sior non de patientia nostra quendam triumphum, sed de superbia principum egisti.218

Die Formulierung ac primum – „doch zunächst“ – zeigt an, daß für Plinius ein logischer Zusammenhang zwischen den im vorausgegangen Kapitel gelobten Qualitäten des Kaisers und seinem späteren Auftreten in Rom besteht – zugleich schließt sie den Exkurs und nimmt die historische Erzählung wieder auf. Zuerst ist der Adventus zu beschreiben, um dann begründet auf die Berechtigung des Titels pater patriae und die unverbrüchliche Nähe des Herrschers zu den Bürgern Roms schließen zu können. Deren enge Bindung wird bereits durch die Bezeichnung der Stadt als Urbs tua und den Verweis auf die freudige Erwartung ihrer Einwohner angedeutet. Es folgt eine Charakterisierung des ingressus, die anspielungsreicher kaum sein könnte. Der Adventus Trajans zu Fuß wird dem Triumph entgegengesetzt, bei dem der siegreiche Feldherr auf einem vierspännigen, von weißen Pferden gezogenen Wagen zum Kapitol zog. Schärfer noch verwahrt sich der Redner allerdings gegen einen Einzug in die Stadt „auf den Schultern der Menschen“, quod adrogantius erat. Er bedient sich hierbei einer literarischen Anspielung auf sein Vorbild Cicero, der von sich selbst behauptet hatte, bei seiner Rückkehr aus dem Exil von den Bürgern Roms gleichsam auf den Schultern in die Stadt getragen worden zu sein219. Der rhetorische Kontext war bei dem republikanischen Redner allein ein sehr spezifischer; denn Cicero nutzt in einer längeren Ausführung seinen triumphalen Adventus dazu, den eigenen Status und die eigene Beliebtheit mit der sozialen Isolation seines Gegners Piso zu kontrastieren, der sich bei Nacht habe in die Stadt schleichen müssen220. Dort dient die Ankunft in Rom mithin als Indikator für politischen Einfluß; an der Größe des Geleites, das amici und Klienten dem heimkehrenden Senator gewähren, läßt sich seine Stellung in der res publica so deutlich wie kaum sonst ablesen. In der Tat war die Adventus-Zeremonie wohl in erster Linie ein soziales Disziplinierungsinstrument, insofern es von politisch Verbündeten und Klienten ein Bekenntnis einforderte, das Verbindlichkeit besaß, weil es unter den Augen aller stattfand221. Plinius jedoch nutzt diese Form sozialer 218

Plin., Paneg. 22,1 f. Vgl. 24,5. Cic., P. red. in sen. 39; vgl. Dom. 75–76; Pis. 51–52; Sest. 131; Att. 4,2. Hierzu auch ST. BENOIST, Rome, 68. 220 Cic., Pis. 53–55. 221 Besonders deutlich wird dies Cic., Mur. 68–71: quid habet admirationis tali viro advenienti, candidato consolari, obviam prodisse multos? quod nisi esset factum, magis mirandum videretur. … num aut criminosum sit aut mirandum, qua in civitate rogati infimorum hominum filios prope de nocte ex ultima saepe urbe deductum venire soleamus, in ea non esse gravatos homines prodire hora tertia in campum Martium, praesertim talis viri nomine rogatos? Quid? si omne societates venerunt … quid? si multi homines nostri ordinis honestissimi; quid? si illa officiosissima quae neminem patitur non honeste in ur219

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Interaktion, um ein Charakterbild Trajans zu zeichnen. Der Adventus erscheint hier als ‚civile Form‘ des Triumphs, als Ausdruck der Bescheidenheit des Princeps. Denn der Verzicht auf einen Triumphzug ist auch ein Verzicht darauf, sich der Bevölkerung in der Gestalt und im Ornat Iuppiters zu zeigen: Das Gesicht des Triumphators war traditionell mit Mennige rot gefärbt, er trug die toga picta und wurde mit Lorbeer bekränzt222. Der wahre Triumph Trajans ist vielmehr ein metaphorischer: Er zelebriert nicht die Überhöhung des Siegers über fremde Völkerschaften, sondern den Bruch mit dem Hochmut und der Anmaßung früherer Principes223. Andererseits steht er aber auch nicht in der Adventus-Tradition der ausgehenden Republik – Trajans Einzug in die Stadt dient in der Darstellung des Plinius nicht als Instrument des innenpolitischen Machtstrebens, zielt nicht auf Konfliktaustrag und Statusdemonstration, sondern hat die Funktion, seine Eingliederung in die Bürgerschaft zu verdeutlichen: Tu sola corporis proceritate elatior aliis et excelsior, non de patientia nostra quendam triumphum, sed de superbia principum egisti224. Im folgenden legt Plinius eine Schilderung der Begeisterung der römischen Bevölkerung angesichts des vorbeiziehenden Kaisers ein (c. 22,2–5); es handelt sich einmal mehr um eine Auxesis, die die Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen, Geschlechter und Altersstufen belegen und anschaulich machen soll: Tam aequalis ab omnibus ex adventu tuo laetitia

bem introire tota natio candidatorum, si denique ipse accusator noster Postumus obviam cum bene magna caterva sua venit, quid habet ista multitudo admirationis? Ommitto clientis, vicinos, tribulis … ; hoc dico, frequentiam in isto officio gratuitam non modo dignitati nullius umquam sed ne voluntati quidem defuisse. Vgl. W.K. LACEY, Coming Home, in: DERS., Augustus and the Principate. The Evolution of a System, ARCA 35, Leeds 1996, 17–56, hier 18–21; Chr. RONNING, Stadteinzüge in der Zeit der römischen Republik. Die Zeremonie des Adventus und ihre politische Bedeutung, in: Einblicke in die Antike. Ort – Praktiken – Strukturen, hg. v. Dems., München 2006, 57–86. 222 Plin., Nat. XXXIII 111 f.; Mart. VIII 65; E. KÜNZL, Der römische Triumph. Siegesfeiern im antiken Rom, München 1988, 85–108; M. R.-ALFÖLDI, Bild und Bildersprache der römischen Kaiser. Beispiele und Analysen, Kulturgeschichte der antiken Welt 81, Mainz 1999, 83; J. RÜPKE, Domi militiae. Die religiöse Konstruktion des Krieges in Rom, Stuttgart 1990, 217–234. Skeptisch gegenüber der Überhöhung des Triumphators: T. ITGENSHORST, Tota illa pompa. Der Triumph in der römischen Republik, Hypomnemata 161, Göttingen 2005, insb. 165–167. 223 Dennoch ist es keine Kritik am Triumph an sich oder an triumphierenden Kaisern schlechthin, wie G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 274, meint. Vielmehr ist der Modus dieses Prozessionsrituals gegenüber der Siegesfeier eben ein anderer, und für einen ersten Einzug in die Stadt der Adventus adäquater, weil er leisten kann, was ein Triumph nicht vermag: die direkte Begegnung zwischen dem Einziehenden und den begrüßenden Bürgern (affabilitas bzw. facilitas): zu diesem Aspekt vgl. J. LEHNEN, Adventus Principis, 50. 224 Plin., Paneg. 22,2.

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percepta est, quam omnibus venisti225. Die Möglichkeit, den Princeps mit eigenen Augen sehen zu können, ist nicht nur ein ungewohntes Schauspiel (insolitum spectaculum), sondern löst auch quasi-religiöse Affekte aus: So strömen nicht zuletzt die Kranken zum Kaiser hin, wo sie Heilung erhoffen – ad conspectum tui quasi ad salutem sanitatemque prorepere226. Sowohl in seiner militärischen als auch in seiner zivil-politischen Führung wird der Kaiser einem billigenden Blick unterworfen: Frauen brechen in Jubel aus, als sie in Trajans Auftreten seine Tugenden erkennen: cum cernerent cui principi cives, cui imperatori milites peperissent227. Die Menschen drängen sich auf den Dächern der Häuser am Durchzugsweg des Kaisers, die Straßen füllen sich, alles drängt auf den Kaiser zu228, strebt nach Nähe. Von diesem Gesamtpanorama aus nimmt Plinius nun Einzelszenen in den Blick, die den Kaiser in Kontakt mit einzelnen sozialen Gruppen zeigen: Gratum erat cunctis, quod senatum osculo exciperes, ut dimissus osculo fueras; gratum, quod equestris ordinis decora honore nominum sine monitore signares; gratum, quod tantum ultro clientibus salutatis quasdam familiaritatis notas adderes; gratius tamen, quod sensim et placide et quantum respectantium turba pateretur incederes, quod occursantium populus te quoque, te immo maxime artaret, quod primo statim die latus tuum crederes omnibus.229

Trajan bezeugt drei Personenkreisen besonderen Respekt, wenn auch in jeweils differenzierter Form: Er akzeptiert den Kuß der Senatoren, spricht die führenden Ritter ohne Hilfe des Nomenklators mit ihrem Namen an, tauscht mit den Klienten230 sichtbare Zeichen der Vertrautheit. Aber auch dem übrigen Volk entzieht er sich nicht, wird nicht abgeschirmt, sondern schreitet langsam durch die Menge und läßt die Spitzen der römischen Gesellschaft abwechselnd an seiner Seite gehen. Die Liktoren dienen diesmal nicht dazu, die Hoheit des Kaisers zu demonstrieren231, sie bahnen ledig225

Plin., Paneg. 22,5. Plin., Paneg. 22,3. Vgl. Suet., Vesp. 7; Tac., Hist. IV 81 f.; G. WEBER, Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike, Historia ES 143, Stuttgart 2000, insb. 129. 382–386; J. AMAT, Songes et visions. L’Au-delà dans la littérature latine tardive, EAug, Paris 1985, 37 f. 204 f.; D.S. POTTER, Prophets and Emperors. Human and Divine Authority from Augustus to Theodosius, Revealing Antiquity 7, Cambridge (Mass.) 1994, 173; R. MACMULLEN, Constantine and the Miraculous, GRBS 9, 1968, 81-96. 227 Plin., Paneg. 22,3. 228 Plin., Paneg. 22,4. 229 Plin., Paneg. 23,1 f. 230 Nach R.P. SALLER, Personal Patronage under the Early Empire, Cambridge u.a. 1982, 68, sind hier die Klienten Trajans aus der Zeit vor seinem Herrschaftsantritt gemeint. 231 Zur Funktion der Liktoren und der von ihnen geführten fasces als Ausdruck der maiestas vgl. A.J. MARSHALL, Symbols and Showmanship in Roman Public Life: the Fasces, Phoenix 38, 1984, 120–141; B. KÜBLER, Art. Lictor, RE XIII 1, 1926, 507–518, 226

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lich mit gewisser Zurückhaltung den Weg durch die drängende Menge232. Soldaten aus dem Gefolge Trajans haben die Militärkleidung abgelegt und passen sich dem Verhalten der Bürger an233. Vergleicht man diese Beschreibung mit ähnlichen Verhaltensschemata in anderen Quellengattungen, so fallen die Parallelen zu den Erwartungen auf, die die Römer an die Bewerber um Ämter richteten. Im an Cicero adressierten sogenannten commentariolum petitionis werden entsprechende Ratschläge für eine erfolgreiche Kandidatur entwickelt. Man möge sich mit einer ständigen Begleitung von Menschen jeden angesehenen Geschlechts, Alters und Standes umgeben (cuiusque generis et ordinis et aetatis, 34); Verbindlichkeit und Leutseligkeit (comitas, 42) seien herauszustellen, alte Freundschaften und Verbindungen zu festigen, neue zu schließen, nicht zuletzt mit den principes: per eos reliquam multitudinem facile tenebis (30–40, Zitat 30). Neben diesen persönlichen Beziehungen müsse der popularis ratio ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet werden: dicendum est de illa altera parte petitionis, quae in populari ratione versatur. Ea desiderat nomenclationem, blanditiam, adsiduitatem, benignitatem, rumorem, speciem in re publica.234

Aber auch für einen entsprechenden Prunk ist zu sorgen: tota petitione cura, ut pompae plena sit, ut inlustris, ut splendida, ut popularis sit, ut habeat summam speciem ac dignitatem …235.

Einseitige Stellungnahmen zugunsten einer Person oder einer bestimmten (umstrittenen) Angelegenheit seien zu vermeiden; vielmehr sollen alle drei maßgeblichen Bezugsgruppen der res publica – Senatoren, Ritter und multitudo – aufgrund der bisherigen Lebensführung und Haltung des candidatus den Eindruck gewinnen, er werde stets um ihre Vorteile bemüht sein236. Ausschlaggebend sind mithin gezielte, in ihrer Szenographie überzeugende Gesten der „Jovialität“, wie dies Martin Jehne genannt hat237. Alle drei gehier 508 f.; vgl. Cass. Dio XXXVI 52,3 zur Funktion des Liktors, die angemessene Ehrerbietung gegenüber dem Imperiumträger notfalls zu erzwingen. Zu möglichen Sicherungsmaßnahmen bei einer Kaiserankunft J. LEHNEN, Adventus Principis, 125–127. 232 Zum summovere vgl. Liv. III 45; Plut., Pomp. 22; App., bell. civ. I 78. 233 Plin., Paneg. 23,3. 234 Q. Cic., Pet. 41. 235 Q. Cic., Pet. 52. 236 Q. Cic., Pet. 53. Vgl. A. Y AKOBSON, Elections and Electioneering in Rome. A Study in the Political System of the Late Republic, Historia ES 128, Stuttgart 1999, 72– 75. 84–90; R. MORSTEIN-MARX, Publicity, Popularity and Patronage in the Commentariolum Petitionis, Classical Antiquity 17, 1998, 259–288; R. URBAN, Wahlkampf im spätrepublikanischen Rom: Der Kampf um das Konsulat, GWU 10, 1983, 607–622. 237 M. J EHNE, Jovialität und Freiheit. Zur Institutionalität der Beziehungen zwischen Ober- und Unterschichten in der römischen Republik, in: Mos maiorum. Untersuchungen

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nannten Gruppen treten auch bei der Beschreibung des Plinius wieder auf: Senatoren und Ritter, die mit ihrem Namen begrüßt werden – um so erstaunlicher angesichts der langen Abwesenheit Trajans. Auch die eigenen Klienten aus der plebs werden vorgelassen und jedem verdeutlicht der Kaiser so die bestehende familiaritas238. Und in der Zeit nach dem feierlichen Einzug wiederholte sich dieses Schema: Der Kaiser habe sich zu Fuß unter die Menschen gemischt, wer wollte, habe zu ihm treten, mit ihm reden und ihn ein Stück begleiten können: ambulas inter nos non quasi contingas, et copiam tui non ut imputes facis239. Die Handlungen des Princeps folgten mithin – zumindest in der plinianischen Perspektivierung – den Regeln, die ein römischer Politiker, zumal bei der Bewerbung um ein Amt, zu befolgen hatte. Trajan hat sich damit, so Plinius an einer späteren Stelle, am Tage seines Einzugs als vollendeter Princeps erwiesen, der die für einen Neuling charakteristische Zurückhaltung (pudor incipientis) mit der Souveränität eines erfahrenen Herrschers (securitas olim imperantis) zu verbinden versteht240. Plinius kann und will die bereits lange erfolgte Installation Trajans als Herrscher nicht leugnen; er stellt aber heraus, daß dieser in seinem ganzen Auftreten wie ein Politiknovize um die Unterstützung der res publica in ihren wesentlichen Konstituenten warb. Der Redner folgt der einmal eingeschlagenen Interpretationsrichtung auch, wenn er den Zug des Kaisers zum Tempel des Iuppiter darstellt. Er ruft dabei die Adoption durch Nerva, die ebenfalls auf dem Kapitol vor einer imaginären contio hominum deorumque verkündet und durch die Zustimmung des Volkes bekräftigt worden war241, sowie die von einem Herrschaftsomen242 begleitete Profectio Trajans anläßlich seiner Statthalterschaft in Germanien in Erinnerung. Aber auch religiöse Aktivitäten geraten zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik, hg. v. B. Linke/M. Stemmler, Historia ES 141, Stuttgart 2000, 207–235. 238 Plin., Paneg. 23,2: gratum, quod tantum ultro clientibus salutatis quasdam familiaritatis notas adderes. 239 Plin., Paneg. 24,3. 240 Plin., Paneg. 24,1: iunxisti enim ac miscuisti res diversissimas, securitatem olim imperantis et incipientis pudorem. 241 Plin., Paneg. 8, insb. 3 (Zitat); 10,2 (senatus populique consensum). Nach der Adoption wurde Trajan der Caesartitel verliehen (Cass. Dio LXVIII 3,3 f.), er erhielt zudem die tribunicia potestas, den Imperatortitel et omnia pariter et statim factus es, quae proxime parens verus tantum in alterum filium contulit (Plin., Paneg. 8,6) – gemeint ist Vespasian, der nur Titus zum Mitregenten machte; vgl. K. STROBEL, Zeitgeschichtliche Aspekte, 27; J. BENNETT, Trajan, 48. Zur Verbindung von recusatio, Antragung des Amtes durch die Menschen sowie göttliche und durch omina bekräftigte Auswahl durch die Götter s. J. BÉRANGER, Recherches sur l’aspect idéologique du Principat, Schweizer Beiträge zur Altertumswissenschaft 6, Basel 1953, 154–156. 242 Plin., Paneg. 5,2–4; vgl. Epist. X 102. D.S. POTTER, Prophets and Emperors, 162.

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in das Blickfeld: Der Zugweg wird von Altären gesäumt, auf denen die Bürger für die salus principis opfern, von der auch ihr eigenes Heil abhinge243. Abschließend wird berichtet, daß Trajan sich in den Palast begeben habe, als ob er lediglich ein Privathaus (domus privata) und nicht die Residenz eines Monarchen betrete. Auch dies sei ein Ausdruck seiner moderatio, die sich zudem beständig in seiner Mimik abzeichne244. Die cives begeben sich ebenfalls nach Hause, um dort weiter ihrer Freude Lauf zu lassen; aber an dieser Stelle fügt Plinius einmal mehr eine ambivalente Aussage ein – dort in den Privathäusern könne die wahre, aufrichtige Freude – gaudii fides – gelebt werden, weil kein Zwang zur Simulation besteht (ubi nulla necessitas gaudendi est)245. Er unterminiert damit zumindest teilweise den Aussagewert seiner so eindrücklichen Ritualdarstellung; einmal mehr deckt er den Inszenierungscharakter symbolischer Kommunikation im Principat auf, und damit auch die Manipulierbarkeit öffentlicher Zeremonien. Die Aufrichtigkeit der Freude wird demzufolge in letzter Konsequenz erst garantiert durch ihre Fortsetzung im privaten Bereich. Dies reiht sich ein in das grundsätzliche und immer wieder zu beobachtende Bestreben des Plinius, eine möglichst große Kongruenz von öffentlichem und nichtöffentlichem Reden über den Herrscher herauszustellen (s.o.). Die Botschaft des Plinius lautet an dieser Stelle: Trajan kodiert in seinem öffentlichen, ritualisierten Auftreten zentrale Aussagen über den von ihm intendierten Herrschaftsstil. Zum Teil greifen diese Codes auf traditionelle Zeichen zurück, zum Teil bricht der neue Princeps bewußt mit dem Zeremonialstil seiner direkten Vorgänger. Garanten der Kongruenz von Signifikant und Signifikat lassen sich aber erst im außerrituellen Bereich finden: in der nicht-regulierten Kommunikation der domus privata. Das sich anschließende Kapitel des Panegyricus erhellt die für Plinius programmatische Bedeutung des Adventus Trajans weiter; erst die Ankunft in Rom ist der wirkliche Beginn seiner Herrschaft, und dieser Beginn trägt schon das Ideal eines Principats in sich. Und folgerichtig führt Trajan die während des Adventus gezeigte Umgänglichkeit fort: Er duldet den Fußfall der Senatoren nicht, gewährt ihnen statt dessen auch weiterhin das osculum zur Begrüßung, schließt also an die Umgangsformen und gegenseitigen

243 Plin., Paneg. 23,5. Zu Opfern für die salus des Princeps vgl. nur die Arvalakten (für die Zeit Trajans leicht zugänglich bei E.M. SMALLWOOD, Documents Illustrating the Principates of Nerva, Trajan and Hadrian, Cambridge 1966, Nr. 1 u. 3–4). K.H. SCHWARTE, Salus Augusta Publica. Domitian und Trajan als Heilsbringer des Staates, in: Bonner Festgabe Johannes Straub, hg. v. A. Lippold/N. Himmelmann, Beihefte der Bonner Jahrbücher 39, Bonn 1977, 225–246. 244 Plin., Paneg. 23,6. 245 Plin., Paneg. 23,6.

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Respekterweisungen des republikanischen Systems an246. Er bewegt sich in der Stadt zu Fuß fort, verzichtet auf das Privileg des Reitens247 oder des Wagenfahrens, das mit einer Vergrößerung der Distanz einherginge. Der Zugang zum Princeps ist auf diese Weise für alle frei, auch die Gelegenheit zum vertrauten sermo248. Wo allerdings Plinius unspezifisch von cives spricht, meint er die Kreise der Senatsaristokratie und die angesehensten Ritter. Primäre Bezugsgruppe bleibt damit diejenige Schicht, der sowohl der Redner selbst als auch sein Publikum angehören. Unter diesen Bedingungen kann sich Plinius sehr deutlich zu einer de facto monarchischen Staatsform bekennen: Regimur quidem a te et subiecti tibi, sed quemadmodum legibus sumus: nam et illae cupiditates nostras libidinesque moderantur, nobiscum tamen et inter nos versantur. Emines excellis ut Honor, ut Potestas, quae super homines quidem, hominum sunt tamen.249

Auch formal wird nun der Rahmen wieder geschlossen. Plinius nimmt die Bemerkungen vom Beginn der Adventus-Ekphrasis wieder auf und setzt das Zu-Fuß-Gehen Trajans von der Fortbewegung seiner Vorgänger in einer Sänfte ab (illos ... umeri cervicesque servorum super ora nostra ... vehunt)250. Was Trajan von diesen Herrschern unterscheidet, ist die von ihm verbürgte und souverän demonstrierte libertas, die an die Stelle des metus aequalitatis tritt. Seine Manifestation der Gleichberechtigung der gesell-

246 Plin., Paneg. 24,2: non tu civium amplexus ad pedes tuos deprimis, nec osculum manu reddis; manet imperatori quae prior oris humanitas, . Vgl. Fronto, ad Verum I 7 (p. 111 f. v.d.H. = II 238–240 Haines). Das Gegenbild ist etwa Caligula, Cass. Dio LIX 27,1. 29,5 und Nero, Suet., Nero 37,3. Vgl. W. KÜHN, Der Kuß des Kaisers. Plinius paneg. 24,2, WJA N.F. 13, 1987, 263–271; M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 102 f.; G. BINDER, Art. Kuß II A 1., DNP 6, 1999, 940 f.; D. CLOUD, The Client-Patron Relationship: Emblem and Reality in Juvenal’s First Book, in: Patronage in Ancient Society, ed. by A. Wallace-Hadrill, Leicester-Nottingham Studies in Ancient Society 1, London/New York 1989, 205–218; T. JOHNSON/CHR. DANDEKER, Patronage: Relation and System, in: Patronage in Ancient Society, ed. by A. Wallace-Hadrill, Leicester-Nottingham Studies in Ancient Society 1, London/New York 1989, 219–242; R. MACMULLEN, Corruption and the Decline of Rome, New Haven (Conn.)/London 1988, 63; R.P. SALLER, Personal Patronage, 58–69, insb. 61. 247 Seit der Zeit Caesars war es als besondere Ehrung des Princeps aufgefaßt worden, ihm den Einzug in die Stadt zu Pferde anzutragen, besonders nach militärischen Erfolgen (Cass. Dio XLIV 4,3; XLVIII 31,3; XLIX 15,1; LIV 33,5) Vgl. ST. BENOIST, Rome, 37– 48. Der Adventus des Vitellius im Jahr 69 in der Hauptstadt wurde auch wegen des Gebrauch des Pferds mit Befürchtung betrachtet und von Tacitus in die Nähe einer feindlichen Besetzung gerückt: Hist. II 89,1. 248 Plin., Paneg. 24,2 f.; J.E. LENDON, Empire of Honour, 49. 133–136. 249 Plin., Paneg. 24,4. 250 Vgl. Suet., Dom. 19.

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schaftlichen Führungsschichten251 mit dem Kaiser – allerdings mit der Reservatklausel einer umfassenden, vor allem moralischen Orientierungsfunktion des Princeps, die Plinius ausdrücklich anerkennt – trägt nun wiederum zur Erhöhung Trajans bei: te ad sidera tollit humus ista communis252. Der freiwillige Verzicht Trajans auf deutliche Formen der sozialen und politischen Distinktion ist Bestandteil eines unausgesprochenen Paktes, der ihm gerade diesen Zuwachs an dignitas und auctoritas verleiht und seine auch kultische Verehrung für senatorische Kreise annehmbar macht. An die Beschreibung des Einzugs des neuen Kaisers in seine Hauptstadt schließt der Festredner die Beschreibung der kaiserlichen liberalitas an (c. 25–26). Wie die Sehnsucht der Bürger Trajan aus den Provinzen und vom Heer nach Rom zurückgerufen und seinen amor castrorum besiegt hatte, so stellt Plinius auch nun die Großzügigkeit des Princeps gegenüber dem populus Romanus in ein Spannungsverhältnis zu seinen Gunsterweisen an das Heer. Aufgrund der Bedeutung dieser Handlungen sei eine Praeteritio bei diesem Thema sicher fehl am Platze: nisi vero leviter attingi placet locupletatas tribus datumque congiarium populo et datum totum, cum donativi partem milites accipissent253. Während die Soldaten bislang nur einen Teil des versprochenen Antrittsdonativs erhalten hatten, läßt Trajan das der Bevölkerung Roms ausgesetzte Congiarium nun nach seiner Ankunft in voller Höhe auszahlen. So sei ihm ein Ausgleich gelungen – aequati sunt enim populo milites eo quod partem sed priores, populus militibus quod posterior sed totum statim accepit. Trajans Geldgeschenk für die Legionen, verbunden mit seiner jahrelangen Anwesenheit im Felde, dem ostentativen Nahverhältnis des Princeps zu seinen milites254 war geeignet gewesen, senatorische Befürchtungen hinsichtlich eines Kaisers der Soldaten zu nähren. Plinius balanciert dies durch seine Herausstellung des Congiariums in voller Höhe aus – und „widerlegt“ die sich dabei geradezu aufdrängende Lesart, dies könne nun eine Bevorzugung der stadtrömischen Bevölkerung vor dem Heer bedeuten, nur halbherzig. Politische Raison legt ihm nahe, die aequalitas von milites und populus in der Gunst des Kaisers zu betonen. Im Rahmen des Möglichen ist er aber bemüht, die Gewichte zugun251 S. auch Plin., Paneg. 60,7, wo die symbolische Kommunikation im trajanischen Principat als ein regelrechtes Gabentauschsystem beschrieben wird: efficis enim ut tantum tibi quisque praestitisse videatur, quantum a te recepit. Quid isti benignitati precer, nisi ut semper obliges obligeris, incertumque facias, utrum magis expediat civibus tuis debere tibi an praestitisse? Der Kontext weist hier u.a. das Konsulat als Ressource in dieser Ökonomie des Ranges und der gegenseitigen Anerkennung aus, über die ausschließlich der Princeps verfügt und die in besonderer Weise akkumuliert werden kann. Vgl. Plin., Epist. II 1,5. 252 Plin., Paneg. 24,5. 253 Plin., Paneg. 25,2. 254 J. S TÄCKER, Princeps und miles, 387–389.

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sten des letzteren zu verschieben. Damit schließt der Redner zugleich eine zweite, mehr angedeutete als ausgesprochene Klammer um den Adventus Trajans: die Konkurrenz von Heer und stadtrömischer Bevölkerung mit dem Senat an der Spitze um die größte Nähe zum neuen Princeps. Die Rückkehr Trajans nach Rom war, das zeigen auch die Quellen, die uns hierfür neben der Lobrede des Plinius zur Verfügung stehen, sorgfältig orchestriert. Ihr Vorlauf muß mit einer Welle verdichteter Kommunikation einhergegangen sein, die nicht allein die konkrete logistische Abwicklung der Zeremonie betraf. Naturgemäß ist dieser Komplex nur noch bruchstückhaft erkennbar, die erhaltenen Fragmente lassen den gewaltigen Umfang aber noch erahnen. Neben der bereits erwähnten Publikation des Reiseaufwands ist eine rege Korrespondenz mit den führenden Männern Roms anzunehmen, soweit sich diese nicht ohnehin im Gefolge des Kaisers befanden. In der Briefsammlung des Plinius ist ein Schreiben erhalten geblieben, das in ähnlicher Form wohl auch andere Senatoren an Trajan gerichtet hatten (Epist. X 10,2): Obviam iturus, quo maturius, domine, exoptatissimi adventus tui gaudio frui possim, rogo permittas mihi quam longissime occurrere tibi. Plinius ersucht hier um die Erlaubnis, dem Princeps möglichst weit entgegenreisen zu dürfen. Dies setzt eine gewisse Kenntnis der vom Hof eingeschlagenen Route voraus, mithin einen regen Fluß von Informationen. Aus dem Schreiben selbst aber wird deutlich, daß der occursus nicht mehr ohne weiteres in das Belieben der römischen Bürger gestellt war; vielmehr achtete man sehr genau darauf, wer wo und wann mit dem Kaiser zusammentraf, weil man sich hieraus zu Recht Aufschluß über Ansehen und Einfluß des Betreffenden versprach255. Ein gewisses Maß an Kontrolle war seitens der aula Caesaris daher unumgänglich256, wollte man nicht in einen unabsehbaren Konflikt über Dignitäten, individuelle Verdienste, kaiserliche Freundschaft usw. und der damit einhergehenden Destabilisierung der Aristokratie geraten257. Entsprechend versuchte auch der Senat als Gesamtheit, steuernd einzugreifen – gewöhnlich ergingen se-

255

Zum Brief des Plinius vgl. A.N. SHERWIN-WHITE, Pliny, 576; G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 198–211. Beide gehen davon aus, daß der Bitte nicht stattgegeben wurde. 256 Zur Funktion des kaiserlichen Hofes A. WINTERLING, Aula Caesaris. Studien zur Institutionalisierung des römischen Kaiserhofes in der Zeit von Augustus bis Commodus (31 v.Chr. – 192 n.Chr.), München 1999, 94–96. 257 Als wie fragil dieses Geflecht betrachtet wurde, zeigt ein Brief an Calestrius Tiro (Epist. IX 5, insb. 3), in dem Plinius Ratschläge für die bevorstehende Statthalterschaft erteilt: quod eum modum tenes ut discrimina ordinum dignitatumque custodias; quae si confusa turbata permixta sunt, nihil est ipsa aequalitate inaequalius.

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natus consulta258, die bestimmte, angesehene Männer aus der Mitte der Versammlung beauftragten, dem Kaiser in einer Art „Vorempfang“259 entgegenzugehen; dieser lag noch vor dem eigentlichen occursus260, der näher an Rom stattfand. Solche konzertierten Aktionen der patres sind von Initiativen wie der des Plinius methodisch schärfer zu trennen, als dies Joachim Lehnen getan hat261. Insbesondere greift es wohl zu kurz, den Adventus als „ein Ritual, in dem die Zusammengehörigkeit der Senatorenschaft wie auch des Ritterstandes als politisches Ereignis ihre symbolische Darstellung erfuhr“262 zu analysieren. Dies hieße, der historiographisch-panegyrischen Glättung eines in Tat und Wahrheit hoch dynamischen und unterhalb der Oberfläche kontroversen Zeichenkomplexes gewissermaßen auf den Leim zu gehen. Daß Geschichtsschreibung und „Staatsreliefs“ den Senat wie auch den ordo equester als Einheit darzustellen pflegen, ist Teil einer Konsensfiktion. Erhebt man dagegen den Befund für die einzelne Herrscherankunft, auch jenseits in sich formalisierter Darstellungsweisen, werden bereits auf dieser Mikroebene die Brüche deutlich. Daß der Kaiser und sein Umfeld demgegenüber regulierend eingriffen, akzeptierten die principes viri offenkundig und versuchten, durch passende Gesuche einen Vorteil gegenüber ihren Konkurrenten zu gewinnen. Im Vergleich zu Republik und augusteischem Principat ist damit geradezu eine Inversion der Bedeutung des occursus verbunden: Begriff man es noch unter Augustus als eine hohe Ehre für den Heimkommenden, wenn ihm die Spitzen des Staates bis weit vor die Stadt entgegenzogen263, so ver258

Zu den Senatsdekreten O. NUSSBAUM, Art. Geleit, RAC 9, 1976, 908–1049, hier

972. 259

So J. LEHNEN, Adventus Principis, 128 f. 236–239, mit zahlreichen Belegen. Ebda., 135–145. 261 Lehnen sieht ebda., 241–243, ausgehend von Flaig, sehr wohl das Element des innersenatorischen Kampfes um „Kaisernähe“. Es wird aber nicht deutlich, wie sich dies zu dem von ihm immer wieder betonten Auftreten „geschlossener Gruppen“ (232) verhält. Namentlich Plinius „weiß“ eben augenscheinlich nicht, „wer in der Hierarchie vor oder hinter ihm stand“ (243) – er versuchte, gerade unter Umgehung des Senats als Gremium und in privater Korrespondenz, seinen Platz in der Hierarchie überhaupt erst herauszufinden. Die Rangstufen der Ämter allein boten zwar ein weiterhin notwendiges, aber kein hinreichendes Orientierungswissen mehr. 262 Ebda., 243. 263 Vgl. z.B. Res gest. div. Aug. 11–12,1: Bei der Rückkehr des Augustus aus dem Osten ziehen ihm die Spitzen des Staates drei Tagesreisen weit entgegen; W.K. LACEY, Coming Home, 18 f.; des weiteren: App., bell. civ. V 130; Cass. Dio XL 15,3; LIV 1,3; LVI 1,1 f. Cic., Att. XIII 50,3–4 zeigt, welche Überlegungen die römische Oberschicht 45 v. Chr. angesichts der bevorstehenden Ankunft Caesars und der Frage eines occursus anstellten (wozu ST. BENOIST, Rome, 30 f.). Ambivalent ist Cic., Phil. 2,78 (vgl. Plut., Marc. Ant. 11,1) zu werten: Marcus Antonius eilt dem aus Spanien zurückkehrenden 260

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schoben sich die Gewichte in den folgenden Jahrzehnten stetig, ohne daß freilich die ursprüngliche Bedeutung ganz verloren ging – im Fokus stand nun jedenfalls nicht mehr das Ansehen des Heimkehrenden, das jeder Diskussion a priori entzogen war; Relevanz gewann in stärkerem Maße die dignitas der ihn begrüßenden Männer und die Konkurrenz zwischen diesen um die knappe Ressource der Nähe zum Princeps. Für Plinius gab es allerdings hinsichtlich des occursus bei der Heimkehr Trajans offenkundig nichts zu berichten, das sich für die angemessene Darstellung der eigenen Stellung nutzen ließ – dieser Bestandteil des Ritualkomplexes taucht im Panegyricus folglich auch nicht auf. Um so eingehender wird der Einzug in die Stadt beschrieben; der Panegyrist betont, mit wie wenig Distanz Trajan auf seinem festlichen Weg durch die Straßen Roms den Senatoren und führenden Rittern begegnete. Hier – vor den Augen der gesamten Bürgerschaft – erwies sich nun nicht zuletzt auch die Potenz jedes einzelnen der bedeutenden oder sich für bedeutend haltenden Männer als Patron, über dessen Vermittlung sich gegebenenfalls Gehör beim Kaiser erhalten ließ264. Ein zweiter Brief des Plinius ergänzt das Bild der Ausgestaltung und Organisation der Herrscherankunft um eine weitere Facette (Epist. III 7). Es handelt sich hierbei um die oben bereits angerissene Episode um Silius Italicus. Plinius berichtet in einem Schreiben an Caninius Rufus, einen Ritter aus dem heimatlichen Comum, vom Tode des Silius. Der Konsular hatte sich seit geraumer Zeit aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit aus der Stadt auf seinen Landsitz in Kampanien zurückgezogen. Als er ein unheilbares Geschwür an sich entdeckte, beschloß er, sich zu Tode zu hungern. Obwohl durch delationes unter Nero befleckt, zählte er doch noch immer zu den Spitzen der römischen Gesellschaft (fuit inter principes civitatis, 4), seine morgendlichen Audienzen waren gut besucht265; einer seiner Caesar bis nach Narbo entgegen, andere Senatoren immerhin mehrere Tagesreisen weit (wohl bis nach Oberitalien). Antonius wollte nach Cicero durch diese Demonstration seiner Loyalität eine Festigung seiner Position bei Caesar erreichen; Plutarch berichtet denn auch von einer sichtbaren Aufwertung des Antonius, dem Caesar erlaubte, gemeinsam mit ihm im Reisewagen nach Rom zurückzufahren. 264 Zu diesem Komplex grundlegend E. FLAIG, Loyalität ist keine Gefälligkeit. Zum Maiestätsprozeß gegen C. Silius 24 n. Chr., Klio 75, 1993, 289–305. 265 Vgl. E. LEFÈVRE, Plinius-Studien V. Vom Römertum zum Ästhetizismus. Die Würdigungen des älteren Plinius (3, 5), Silius Italicus (3, 7) und Martial (3, 21), Gymnasium 96, 1989, 113–128, hier 118–123. Lefèvre deutet (119) das plinianische sine potentia, sine invidia zur Stellung des Silius als „ohne Macht“ (dagegen die Übersetzung von H. KASTEN, Plinius der Jüngere. Briefe, Zürich 1995, 145: „ohne Geltungsbedürfnis, ohne Neider“). Deutlich ist jedenfalls das Bemühen des Plinius, die ungebrochene Beliebtheit des Silius, auch als Mittelpunkt eines Kreises von docti, herauszustellen, zugleich aber auch die Tatsache, daß er an den politischen und gesellschaftlichen Konkurrenzkämpfen seiner Zeit nicht mehr aktiv beteiligt war. Wie weit ein solcher Rückzug bei

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Söhne hatte es ebenfalls zum Konsulat gebracht und damit den Rang des Vaters über den Generationswechsel hinaus zu bewahren vermocht. Silius nun zog es vor, trotz der Ankunft des Kaisers seine Villa bei Neapel nicht zu verlassen – ein Umstand, den Plinius gebührend betont. Und Trajan habe dieses Verhalten geduldet; beider Haltung verdiene ob dieses eindrucksvollen Beweises von libertas großes Lob: ne adventu quidem novi principis inde commotus est: magna Caesaris laus sub quo hoc liberum fuit, magna illius qui hac libertate ausus est uti. (6–7)266. Die geduldete Abwesenheit des Silius dokumentierte, daß die Teilnahme an Ritualen nicht erzwungen wurde, Fernbleiben keine Sanktionen nach sich zog. Sein Beispiel und die Reaktion des Plinius darauf zeigen aber auch, daß es sich um einen Sonderfall handelte267 – und daß solche Sonderfälle genauestens registriert und als Anhaltspunkt für den Charakter kaiserlicher Herrschaft genommen wurden. Zugleich ist klar erkennbar, daß geduldete Absenz bei den großen Ritualen des Principats wohl nur am Ende einer Laufbahn möglich war; anders als Thrasea Paetus wollte Silius offenkundig kein Signal setzen – außer daß er sich endgültig vom Leben der Stadt und seinen Verpflichtungen zurückgezogen habe. Erst in der Lesart des Plinius und der Weitergabe an seine Briefpartner wurde daraus ein wahrlich politischer Akt, ein Manifest der zurückgewonnenen Freiheit. Man muß davon ausgehen, daß Silius sich vorab mit seiner Krankheit und seinem Alter bei Trajan entschuldigt und dieser huldvoll geantwortet hatte; daß er vor allem aber für eine entsprechende Verbreitung dieser Geste in der Senatorenschaft zu sorgen wußte. Auch dies gehörte zur planmäßigen Vorbereitung der Herrscherankunft. Der neue Principat benötigte augenfällige Beweise seines milden Charakters. Und Leute wie Plinius griffen solche eher anekdotenhaften Ereignisse begierig auf, um sich der Richtigkeit ihrer Einschätzung Trajans zu versichern. Noch ein weiteres Element in der möglichst effektvollen Vorbereitung des Adventus läßt sich ausmachen: Bereits seit dem Herrschaftsantritt Trajans stieß die kaiserliche Münze Stücke mit dem Bild der Fortuna aus, das Füllhorn im Arm, die Hand auf einem Steuerruder, welches auf einem Schiffsbug aufsetzt268. Diese Ergänzung der gängigen Fortuna-Ikonographie durch das Schiffselement weist wohl auf eine nicht-allegorische Legleichzeitiger Aufrechterhaltung einer dichten Kommunikation überhaupt möglich war, und nicht vielmehr einer gewisse Naivität des Plinius entspringt, sei zumindest als Frage formuliert. 266 Vgl. Trajans Verzicht auf vollständige Anwesenheit bei der salutatio: Plin., Paneg. 48,2; A.N. SHERWIN-WHITE, Pliny, 228. 267 J. LEHNEN, Adventus Principis, 239 f., schließt aus der Episode auf eine generelle Anwesenheitspflicht aller Senatoren, zumindest beim ersten Adventus eines neuen Kaisers in der Stadt. 268 RIC II 245 no. 3. 13; 246 no. 14; 247 no. 34; vgl. 276 no. 441.

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sung des Bildes hin. Gemeint war also eine tatsächliche Reise des Kaisers, die Gottheit ist als Fortuna Redux zu deuten269, die seit der augusteischen Zeit untrennbar mit dem kaiserlichen Adventus verbunden war: Anläßlich seiner Rückkehr aus dem Osten im Jahr 19 v. Chr. hatte der erste Princeps der Göttin einen Altar gestiftet, an dem die Vestalinnen jährlich zu den Augustalia Opfer in Erinnerung an seine Ankunft zelebrieren sollten270. Vor diesem Hintergrund ergibt sich folgende Deutung der Emissionstätigkeit Trajans: Von Beginn seines Prinzipats an verkündete er im Bild der neuen Münzen die feste Absicht, möglichst bald in die Hauptstadt des Reichs zurückzukehren271. Bis in das Jahr 100 lassen sich Stücke mit dieser Thematik verfolgen, also einige Zeit über seine tatsächliche Rückkunft hinaus; wahrscheinlich sollte die Erinnerung an dieses Großereignis und der Schutz der Göttin, der auf dem Kaiser ruhte, noch eine Weile wachgehalten werden. In ähnlicher Weise ließ Trajan dann auch das mit dem Adventus verbundene Congiarium an die Bevölkerung Roms kommemorieren272. Mit diesem dichten kommunikativen Aufwand, der in Form von Briefen, Edikten und der Münzprägung getrieben wurde, stimmten sowohl der Princeps und seine engsten Berater als auch die Magistrate Roms und einzelne Senatoren auf die lange herausgeschobene Ankunft des neuen Kaisers ein. Sorgfältig wurde die Bevölkerung auf dieses Ereignis vorbereitet, dessen Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann. Ist es aber, zumindest in seiner Gänze, als ein „Konsensritual“ zutreffend kategorisiert, als „Ausdruck des consensus universorum“ ebenso wie der „symbolische[n] Einheit des sozialen Körpers der Stadt“, Signal der „Bereitschaft zur Loyalität“ gegenüber dem Kaiser und Manifestation der sie tragenden Kräfte?273 Seine republikanischen Wurzeln: die doppelte Semantik von demonstrativer Unterstützung eines bestimmten nobilis wie von Erfüllung einer besonderen Freundes- oder Klientenpflicht, hatte der Adventus auch in der Kaiserzeit nicht verloren. Sie mußte aber notwendigerweise transponiert, den veränderten politischen Gegebenheiten angepaßt werden. Wie heikel diese Operation war, zeigt der Umstand, daß Octavian nach seinem Sieg über Marcus Antonius für eine Zeit den Adventus zu einem regelrechten 269

P.L. STRACK, Reichsprägung I, 76–79. R. Gest. div. Aug. 12,1; Cass. Dio LIV 10; Fast. Amiterni (A. DEGRASSI, Inscr. It. XIII 2, 519); ST. BENOIST, Rome, 43; W.K. LACEY, Coming Home, 45; D. KIENAST, Augustus. Prinzeps und Monarch, 3., durchgesehene und erweiterte Auflage, Darmstadt 1999, 94; J. LEHNEN, Adventus Principis, 63–65; F. COARELLI, s.v. Fortuna Redux, Ara, LTUR II, ed. by E.M. Steinby, Rom 1995, 275. 271 P.L. STRACK, Reichsprägung I, 79. 272 RIC II 272 no. 380 f. (COS II PP CONG PR SC); P.L. STRACK, Reichsprägung I, 84–89; G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 180 f. 273 Vgl. J. LEHNEN, Adventus Principis, 280–283, Zitate 281. 270

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„non-événement formel“274 umgestaltet hat – sein Einzug in die Stadt fand von nun an bei Nacht statt – eine Praxis, die noch für Cicero Audruck mangelnden Rückhalts gewesen war275. Doch ließen sich occursus und ingressus so zunächst umgehen, und damit alle Probleme einer Neudefinition seiner Stellung276. Erst im konsolidierten Principat nahm man die Herrscherankunft wieder regelmäßig bei Tage vor. Nun ging es jedoch nicht mehr darum, die besondere Verbundenheit mit einem führenden Mann der res publica darzutun, der seinerseits in Konkurrenz zu anderen Aristokraten stand. Jetzt galt es, den einen princeps civitatis, den parens publicus gebührend zu begrüßen. Die Stellung des Heimkommenden konnte nun nicht mehr fraglich sein; wohl aber, wie wir gesehen haben, der Status derjenigen, die ihm entgegenzogen. Der spezifischen Leistung des kaiserzeitlichen Adventus sind wir damit einen Schritt näher gekommen; die abschließende Klärung steht aber noch aus. Betrachtet man die oben erhobenen und besprochenen Informationen zum Adventus Trajans daher genauer, wird die Notwendigkeit einer differenzierten Analyse deutlich. Keiner der Beteiligten scheint, in welcher Form auch immer, Akzeptanz oder Zurückweisung des neuen Herrschers thematisiert zu haben. Jedoch wurde zum Beispiel am Exemplum des Silius Italicus erleichtert und bestätigend festgestellt, daß sich der Stil kaiserlichen Handelns offenkundig verändert hatte. Hierin deutete sich ein neues Verhältnis von Princeps und Senat an, nach den gewaltsam ausgetragenen Konflikten unter der Herrschaft Domitians277. Darüber hinaus sah man in dem Adventus unter den Senatoren vor allem die Möglichkeit zu einer individuellen Positionierung im Macht- und Ranggefüge des Reichs; Männer wie Plinius suchten, ihre vermeintliche Nahbeziehung zum Kaiser vor großem Publikum zu inszenieren. Und Trajan kam ihnen dabei soweit entgegen, wie es seine Interessen an einer Stabilisierung innerhalb der Oberschichten zuließen. Seine Klienten wurden beim Einzug in die Stadt gebührend hervorgehoben, die Senatoren und wichtige Vertreter des Ritterstandes persönlich begrüßt. Dies waren Vorgänge von höchster Relevanz: Schließlich erwartete man allseits von Trajan Auskunft darüber, wie mit 274 So ST. BENOIST, Rome, 42–48, Zitat 42; Cass. Dio LIV 10,4; Suet., Aug. 72,2; 82; für frühere Beispiele vgl. Plut., Pomp. 26,1; App., bell. civ. V 74; W.K. LACEY, Coming Home, 47. 275 Cic., Q. frat. III 1,24; Att. II 1,5; Phil. 2,76. 276 Die profunde „Unsicherheit in den senatorischen Verhaltensweisen und Kommunikationsformen“ angesichts der „Monopolisierung“ der Herrschaftsressourcen für die Person des Princeps und den damit verbundenen „Sinn“verlust hat D. BARGHOP, Forum der Angst, insb. 13–16, Zitate 14 f., herausgearbeitet. 277 Vgl. insbesondere die gescheiterte Usurpation des Saturninus sowie das Vorgehen gegen Helvidius Priscus d.J. und seinen Kreis. Zu letzterem R.S. ROGERS, A Group of Domitianic Treason-Trials, CPh 55, 1960, 19–23.

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den Profiteuren und den tatsächlichen oder vorgeblichen Gegnern der Herrschaft Domitians umgegangen würde278. Gerade der labile Principat Nervas hatte nur zu deutlich gemacht, wie sehr die Dinge in dieser Hinsicht noch immer im Fluß waren. Trajan selbst hatte anderes im Blick. Auch er zweifelte nicht an der Akzeptanz seiner neuerrungenen Macht – andernfalls hätte er auf der Anwesenheit etwa des Silius Italicus bestehen müssen. Wenn das Ritual tatsächlich eine prekäre Akzeptanz zum Gegenstand gehabt hätte, wären Lücken nicht zu dulden gewesen. Trajan ging es vielmehr darum, gleich ein ganzes Bündel von Botschaften an das stadtrömische Publikum auszusenden: Zunächst und vor allem ist die Differenzqualität zu Domitian zu nennen, ob real oder konstruiert. Jedenfalls hatte sich die Herrschaft des letzten Flaviers bereits so weit zu einem Negativexemplum verfestigt, daß es eine erstklassige Folie für entsprechende Performanzen abgab279. Der neue Kaiser folgte zudem sehr bewußt den überlieferten Handlungsschemata der principes viri republikanischer Zeit, und demonstrierte damit seine Einbindung in die maßgeblichen Beziehungsgeflechte der Urbs. Entscheidend war dabei über die Akzentuierung der eigenen Klientel und Freundesbindungen hinaus der betont ehranerkennende Umgang mit den führenden Persönlichkeiten Roms. Ziel war die Sistierung offenbar nicht unerheblicher Unruhe innerhalb der Oberschichten. Die Herrschaft Trajans würde also weder auf dem Heer aufruhen, das ostentativ die Waffen ablegte; noch allein auf den diversen Netzwerken, die Trajan mit seiner spanischen Heimat, mit Gallien und Asia verbanden280. In beiderlei Hinsicht hatten die vergangenen Jahre der stadtrömischen Nobilität durchaus Anlaß zur Sorge gegeben. Derlei Indizien wurden peinlich genau registriert und bedurften 278 Zur den Veränderungen innerhalb der Senatsaristokratie während der flavischen Dynastie vgl. R. MELLOR, The New Aristocracy of Power, in: Flavian Rome. Culture, Image, Text, ed. by A.J. Boyle/W.J. Dominik, Leiden/Boston 2003, 69–101. Mellor weist u.a. darauf hin (101), daß die Promotion militärischer Funktionseliten aus „neuen“ provinzialen Familien neben die alten aristokratischen Familien neue Kreise treten ließ, die die höchsten Ränge für sich beanspruchen – und so selbst für den Princeps zu einer Gefahr werden konnten. 279 Vgl. K. STROBEL, Plinius und Domitian, 305. 280 Vgl. zu einer prosopographischen Auswertung der Personalentscheidungen Trajans in den ersten Jahren seiner Herrschaft J.D. GRAINGER, Nerva and the Succession Crisis, 118–125, der eine signifikant geringe Zahl „aristokratischer Drohnen“ und einen entsprechend hohen Anteil aktiver Heerführer und Verwaltungsfachleute unter den Konsuln dieser Zeit ausmacht. Die Auswahl der Konsuln dokumentierte darüber hinaus zum einen die größere geographische Breite, zum anderen die personelle Kontinuität zum Principat Domitians. Des weiteren fällt auf, daß Trajan im Jahr 100 gemeinsam mit zwei weiteren Senatoren zum dritten Mal das Konsulat bekleidete, also zu diesem Zeitpunkt penibel darauf achtete, neben sich weitere Konsulare höchsten Ranges im Senat zu wissen (s. auch u.).

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der Gegenreaktion, wollte der Kaiser endlose Reibereien innerhalb der Führungsschicht vermeiden. Der Adventus bot willkommene Gelegenheit, im Angesicht der multitudo die Magnaten der Hauptstadt in ihrem Einfluß zu bestätigen. Gelang ihm dieses Manöver, mochte sich der Spielraum bei der Vergabe bedeutender Kommandoposten in den Provinzen entsprechend vergrößern. Wichtiger als die Funktion als Loyalitätsausweis ist mithin die kommunikative Funktion des Adventus einzuschätzen – hier wurde für alle sichtbar geklärt, in welcher Weise Kaiser und Bevölkerung in Zukunft miteinander umgehen wollten281; wurde einzelnen Senatoren und Rittern bedeutet, wo sie in der kaiserlichen Gunst rangierten; wurde der Senat insgesamt für den politischen Bedeutungsverlust symbolisch entschädigt, indem man eben diesen Verlust an Einfluß rituell negierte. Nichts wäre irreführender, als dabei von einer prästabilisierten Ordnung auszugehen – der Adventus gewann seine Kraft gerade aus der herrschenden Unsicherheit über den Stand der Dinge. Das Ritual diente weder der Darstellung einer bereits bestehenden Herrschaftsordnung noch der Herstellung einer solchen – vielmehr zielt es auf die Macht- und Rangarchitektur innerhalb dieser Ordnung und auf die zumindest zeitweilig verbindliche Etablierung eines bestimmten Interaktionsstiles zwischen ihren unterschiedlichen Konstituenten. Dies ist der eigentliche Ort des consensus universorum; die Betonung liegt nicht so sehr auf der ohnehin kaum (oder erst post festum) fraglichen Akzeptanz des Kaisers, sondern im Konsens der relevanten Bevölkerungsgruppen untereinander. Nicht primär die Zustimmung zu diesem Kaiser, sondern die Übereinstimmung aller in einer bestimmten Austarierung der Gewichte und Spielräume ist hier maßgeblich282. Die hohe Flexibilität des Rituals, das eben keinem festen Skript folgte, sondern stets neu szenographiert wurde, ermöglichte erst dieses große Potential kommunikativer Leistungen. Zugleich ist durch einen Blick auf die Briefsammlung des Plinius deutlich geworden, welch hoher Aufwand betrieben wurde, um an dieser Szenographie in angemessener Form beteiligt zu werden. Wenn Plinius den Einzug des Herrschers in die Stadt daher zu einem vielversprechenden Anfang des trajanischen Principats erklärt, zeigt dies gerade das Bedürfnis, die im Ritual inszenierte Botschaft gleichsam festzuschreiben und auf Dauer zu stellen. Dies ist zugleich sicher eine der vorrangigsten Funktionen kaiserzeitlicher Panegyrik. In der plinianischen Darstellung des Adventus erscheint der neue Kaiser als princeps rei publicae, als Leitfigur einer Gesellschaft, die durch aristo281 Zur Bedeutung des „Stils“ der herrscherlichen Selbstdarstellung vgl. K. STROBEL, Plinius und Domitian, 306 f. 282 Die von H.-U. INSTINSKY, Consensus universorum, Hermes 95, 1940, 265–278, zusammengestellten Belege machen gerade diesen Aspekt deutlich.

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kratisch dominierte Personenverbände strukturiert wurde. Die damit verbundenen Verheißungen sah Plinius besonders im Verhalten des Kaisers gegenüber dem und im Senat erfüllt. Zumindest wollte er die positiven Erfahrungen, die er als Senator und Suffektkonsul von Trajans Gnaden mit dem neuen Princeps bislang gemacht hatte, als paradigmatisch für die Zukunft herausstellen. Als letzter großer Komplex ritualisierten Handelns nimmt daher das dritte Konsulat Trajans einen großen Raum im Panegyricus ein: c) Princeps in senatu Plinius geht zunächst auf die Zurückhaltung des Princeps ein, die ihm angetragene Würde anzunehmen. Dabei übergeht er das erste, Trajan noch von Domitian verliehene Konsulat und stellt das zweite, außerhalb Roms in der Regierungszeit Nervas angetretene ganz unter den Aspekt des konsularischen Heerführers republikanischen Zuschnitts (multa post saecula consulis tribunal viridi caespite exstructum)283: Trajan war damals bei seinen Truppen und selbst an den Grenzen des Reiches nicht (wie für die Kaiser üblich) allein in den Bildnissen, den imagines, sondern in eigener Person anwesend (ipse praesens)284. Das dritte Konsulat jedoch fiel dann bereits in Trajans Herrschaftszeit; Plinius zufolge wurde es ihm, wie es der Gewohnheit entsprach, gleich zu Beginn angetragen, aber von Trajan noch um anderthalb Jahre aufgeschoben285. Als Motive für dieses Zögern führt der Lobredner Rücksicht auf die dignitas anderer Konsulare, die der Kaiser nicht durch eine höhere Zahl von Konsulaten ins Abseits stellen wolle, sowie gleichsam verfassungsrechtliche Bedenken an. Plinius weist beschwichtigend auf die Häufungen von Konsulaten auch in der Republik hin, wie sie einem Quinctius Capitolinus oder einem Papirius Cursor zuteil geworden seien286. Er verleiht sodann aber dieser Argumentation mit exempla eine dramatische Wendung, indem er einen fiktiven Einwand Trajans (als Prosopopoiia) einschiebt: At illos res publica ciebat. Diese Bemerkung deckt einmal mehr auf, daß Plinius 283

Plin., Paneg. 56,6. Plin., Paneg. 56,8. 285 Plin., Paneg. 57,2 zeigt die Bedeutung, die dem Antritt des Konsulats in Verbindung mit der Übernahme der Herrschaft zugeschrieben wird: Hoc ergo honore, quem et incipientes principes et desinentes adeo concupiscunt ut auferant [Anspielung auf Neros Absetzung der amtierenden Konsuln und Agieren als consul sine collega angesichts des Vindex-Aufstandes, vgl. Suet., Nero 43,2], tu otioso ac vacante privatis cessisti. Vgl. 58,1–3. 286 Bezeichnenderweise dienen bei Plinius die Principes vor Trajan für diesen nie als Vorbild, sondern lediglich als Kontrastfolie, vor der er sich abhebt; anders die republikanischen Amtsträger, denen normative Funktion zugeschrieben wird. Vgl. U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 33–42. 284

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und auch seinem Publikum sehr wohl bewußt war, in welchem Ausmaß die überkommenen Institutionen und Verfahrensweisen der Republik wirkliche, frei gestaltende Kraft verloren hatten – und diese Einsicht wird auch Trajan zugeschrieben, für den sie angeblich Anlaß zu noch mehr Zurückhaltung war. Wiederum nimmt Plinius einen Wechsel der internen Sprecherrolle vor und entgegnet: Quid? te non eadem res publica, non senatus, non consulatus ipse [sc. ciebant], qui sibi tuis umeris attolli et augescere videtur? Zwar wird hier die Identität der res publica behauptet, die stark metaphorische Sprache zeigt aber, daß die Aufgabe des Senats als Vertreter dieser res publica vor allem im Akklamatorischen und Symbolischen lag287. Der zeitweilige Verzicht Trajans auf das Konsulat galt Plinius ebenso vor allem als ein politisches Signal, und so vergleicht er die recusatio des Kaisers in einer kühnen Hyperbel mit der Einrichtung des Amtes nach der Vertreibung der Könige288. Aus der Konkurrenz mehrerer principes viri um das höchste Amt der res publica libera war der alleinige Zugriff des einen princeps geworden. An ihm liegt es nun, Verzicht zu üben – und damit die Rangdifferenz zur römischen Aristokratie auf ein für die nobiles erträgliches Maß zu begrenzen. Für Plinius sollte die schließlich doch angetretene dritte Amtszeit folgerichtig auch nicht der Prestigesteigerung des Kaisers, sondern der Hebung und Wiederbelebung des Ansehens des Amtes selbst gelten. Zudem sieht der Redner darin eine Gelegenheit, nach dem ‚militärischen‘ zweiten Konsulat nun ein ‚ziviles‘ anzufügen, das der Demonstration der Herrscherqualitäten Trajans vor einem hauptstädtischen Publikum und der Unterwerfung dieser Tugenden unter den kritischen Blick der cives dienen könne289. Auch hier ist das Mißtrauen, das der Senator einem im Felde stehenden und damit der Kontrolle seiner Mitbürger entzogenen Kaiser entgegenbrachte, greifbar. Das Konsulat stellt der Distanz zwischen civis und imperator die Nähe des vollberechtigten Römers zu seinem obersten Magistraten gegenüber. Daher beharrt Plinius auf der in seiner Anschauung konstitutiven Verbindung von Principat und Konsulat: Quousque absentes de absente gaudebimus? Liceat experiri an aliquid superbiae tibi ille ipse secundus consulatus attulerit. Multum in commutandis moribus homi287

Plin., Paneg. 57,3–5 (Zitate: 5). Plin., Paneg. 58,3. Vgl. aber 78,3, wo das Konsulat als spezifisch republikanisches Amt und Erfindung der reciperata libertas bezeichnet und aus diesem Grunde Trajan gedrängt wird, auch ein viertes Konsulat zu übernehmen: non est minus civile et principem esse pariter et consulem quam tantum consulem. S. auch U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 41 f. 57; J. BÉRANGER, Recherches, 150–152. 289 Plin., Paneg. 59,3–6, insb. 3 f.: Gessisti alterum consulatum, scio; illum exercitibus, illum provinciis, illum etiam externis gentibus poteris imputare, non potes nobis ... Aequum est aliquando nos iudicio nostro oculis nostris, non famae semper et rumoribus credere. 288

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num medius annus valet, in principum plus. … cupimus … experiri, an nunc quoque una eademque res sit bonus consul et bonus princeps.290

Plinius drängt darauf, daß das Amt nicht nur übernommen, sondern auch ausgefüllt werde; daß der Kaiser also als Konsul vor den Senat tritt und in dieser Funktion mit ihm agiert291. Ein neues, von gegenseitigem Respekt geprägtes Verhältnis, das der dignitas aller Beteiligten Rechnung trägt, bedeute auch das Ende der Verstellung in der Kurie. In dieser Konstellation werde der Senat wieder ein politisches Gremium, an dessen Votum sich der Kaiser als Oberbeamter orientiert292. Mehr noch, Trajan sieht sich Plinius zufolge selbst als jemand an, der sich während seines ganzen Lebens der Kritik der Senatoren unterzieht, als ob er als permanenter candidatus um die Zustimmung des ersten Standes ohne Unterlaß bemüht sei – ein Muster, das bereits bei der Beschreibung des kaiserlichen Adventus zur Anwendung kam. Auch in diesem Fall wolle der Kaiser als Vorbild verstanden werden293: Quis enim vel uno die reverentior senatus candidatus, quam tu cum omni vita tum illo ipso tempore quo iudicas de candidatis? Trajans drittes und bislang für Plinius augenscheinlich bedeutendstes Konsulat beginnt für den Panegyristen schon mit der Proklamation zum consul designatus 294 in den Comitien: 290

Plin., Paneg. 59,4 f. Diese Rolle Trajans ist bedeutsam; noch bis Vitellius war es üblich, daß der Kaiser in der Kurie als Senator unter Senatoren aufrat. Nun gibt es wieder einen Kaiser im Senat, aber in der Rolle des Oberbeamten und Leiters der Sitzungen; vgl. F. JACQUES/J. SCHEID, Rom und das Reich in der Hohen Kaiserzeit. 44 v. Chr. – 260 n. Chr. Vol. I: Die Struktur des Reiches, Stuttgart/Leipzig 1998 (frz. 31996), 94 f. 292 Plin., Paneg. 62,4 f., insb. 5: Vos ille praesentes, vos etiam absentes in consilio habet. Der Kaiser war freilich auf das Konsulat nicht angewiesen, um mit dem Senat zu agieren; tribunicia potestas und imperium ermöglichten bereits ab Augustus dem Princeps, Senatssitzungen einzuberufen, und diese Vollmacht erscheint in der lex de imperio Vespasiani schließlich ebenso als Institution wie das Recht, eine relatio in persona oder durch Verlesung in den Senat einzubringen: CIL VI 930 = H. DESSAU, ILS 244,4–9. R.J.A. TALBERT, Senate, 164–167. Plinius betont gegenüber diesen Reservatrechten des Princeps hier die aus dem Amt erwachsenden Kompetenzen, die den Kaiser an die Strukturen der res publica rückbinden. 293 Trajan habe dies auch vor dem Senat unterstrichen: adiecisti ut te imitarentur [sc. candidati]: Plin., Paneg. 69,3. U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 119 f., versteht diese imitatio als Ratschlag an bei dieser Wahl gescheiterte Bewerber mit Blick auf einen späteren zweiten Versuch; dagegen wohl richtig R. FREISTOLBA, Wahlen in der römischen Kaiserzeit, 201: Trajan soll als Vorbild der Kandidaten für die unmittelbar bevorstehende Wahl dienen; vgl. M.L. PALADINI, Le votazioni del senato romano nell’età di Traiano, Athenaeum N.F. 37, 1959, 3–133, hier 47 f. 294 Es handelt sich staatsrechtlich um die renuntiatio vor der Volksversammlung; dazu M. DURRY, Panégyrique, 181 z.St.; F. MILLAR, Emperor, 302 f. Vgl. auch Cass. Dio LVIII 20,3 f.; R. FREI-STOLBA, Wahlen in der römischen Kaiserzeit, 22–25. 136 f. 154 f. 211 f. 291

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik Vidit te populus in illa vetere potestatis suae sede; perpessus es longum illud carmen comitiorum nec iam inridendam moram consulque factus es ut unus ex nobis, quos facis consules.295

Die freiwillige Unterwerfung des Princeps unter das Ritual der Konsulwahlen (sollemnia comitiorum296) ist dieser Stelle zufolge um so höher zu bewerten, als sie einer Paradoxie im vollen Wortsinn gleichkommt297. Trajan, der doch das entscheidende Wort bei der Auswahl der Kandidaten hat298, wie auch Plinius wußte, beugt sich selbst einem Verfahren, das im Grunde schon seit langer Zeit leerlief299. Wieder ist es an ihm, durch aktive Teilnahme an einer Zeremonie und durch strenge Beachtung ihres Verlaufsplans dem rituellen Handeln neue Bedeutung zu verleihen. Seine Vorgänger hatten sich hingegen der Wahlprozedur entzogen; ein Bote sollte ihnen aber doch das ohnehin zu erwartende Ergebnis übermitteln300. Plinius erklärt diese Haltung mit einer noch immer wirksamen Aura des Rituals, dessen verpflichtendem Charakter sich selbst der malus princeps nicht verschließen konnte301: So spürten angeblich noch die verworfensten Herrscher, daß es einer religiösen Befleckung gleichkomme, sollten sie als Antipoden des republikanischen Systems an einem eigentlich von ihnen verachteten Wahlakt teilnehmen, der noch immer von religiösen Handlungen begleitet wurde und dessen sie sich im Grunde nicht würdig erwiesen. Partizipation am Ritual setzt den Akteur sowohl der religio deorum als auch dem iudicium hominum aus – einzig Trajan, so sein Lobredner, identifizierte sich voll mit Zeremonie und Amt und war somit zur Teilnahme berechtigt302. Auffällig stark rückt Plinius eine ursprünglich politische Wahl in den Bereich des Rituellen – eine Frage des Respektes vor den Institutionen wird auf eine auch religiöse Ebene transponiert. Weil es für die Comitien keinen Entscheidungsspielraum mehr gab, konstruierte Plinius einen neuen 295

Plin., Paneg. 63,2. Plin., Paneg. 64,1. 297 U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 43–47. 298 Ebda., 120 f. 299 Zu den Wahlen in der Kaiserzeit generell vgl. E.S. S TAVELEY, Greek and Roman Voting and Elections, London 1972, 217–223. 300 Plin., Paneg. 63, 3–8, insb. 3. 301 Zu diesen Funktionen des Rituals: G. LEWIS, Day of Shining Red. An Essay on Understanding Ritual, Cambridge Studies in Social Anthropology 27, Cambridge 1980; C. HUMPHREY/J. LAIDLAW, Die rituelle Einstellung, in: Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, hg. v. A. Belliger/D.J. Krieger, Wiesbaden 1998, 135–155 (engl. 1994); J. PLATVOET, Ritual in Plural and Pluralist Societies, passim. 302 Plin., Paneg. 63,7 f., insb. 8: Non adeo deos hominesque contempserant [sc. superbissimi domini], ut in illa speciosissima sede hominum deorumque coniectos in se oculos ferre ac perpeti possent. Tibi contra et moderatio tua suasit et sanctitas, ut te et religioni deorum et iudiciis hominum exhiberes. 296

Kapitel eins: Der Panegyricus des Plinius

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Bezugsrahmen: Aufgabe der Volksversammlung ist nun nicht mehr die Auswahl des am besten geeigneten Bewerbers, nicht einmal in erster Linie die Artikulation von Konsens. Ihre Bestimmung besteht darin, ein rituelles Feld zu erzeugen, dessen Regeln auch der Princeps nicht manipulieren, denen er sich nur entziehen – wie Domitian – oder fügen – wie Trajan – kann. Die vorbildliche Haltung, die Trajan bei der Wahl gezeigt hatte, behielt er angeblich auch bei der Vereidigung bei, der er sich entgegen dem Brauch ebenfalls unterwarf. Auch hiermit habe er zu erkennen gegeben, daß für ihn innerhalb der Zeremonie keine Unterschiede zwischen Princeps und privatus bestünden, sondern nur die zugedachten rituellen Rollen auszufüllen seien303. Zugleich band er sich durch die eidliche Selbstverfluchung nochmals an den normativen Gehalt des Rituals, das ihn an die staatsrechtlichen Beschränkungen des Amtes gemahnte. Da eine Kontrolle des Princeps im Institutionengefüge nicht vorgesehen war, werden hier die beiden einzigen Instanzen angerufen, die über genug Macht verfügten, den Kaiser in die Schranken zu weisen: der Princeps selbst und die Götter. Plinius argumentiert kontrafaktisch, wenn er betont, daß dies alles bei einer durchgehaltenen recusatio nie bemerkt worden wäre304. Freilich hatten beide Demonstrationen, die vorangehende Ablehnung des Konsulats wie auch die letztendliche Unterwerfung unter das Wahlzeremoniell, ein und dieselbe Zielrichtung: Sie dienten dem Ausdruck der civilitas Trajans. Der Princeps zeigte dieses rollenkonforme Verhalten Plinius zufolge auch gegenüber dem Senat. Der Darstellung des Panegyricus nach betrat Trajan am ersten Tag seiner Amtszeit die Kurie und forderte erst einzelne, dann alle Senatoren dazu auf, die Freiheit des Wortes und die Teilhabe an der Herrschaft nach der Unterbrechung durch Domitian wieder aufzunehmen305. Plinius schließt seine oben schon besprochene Bemerkung über die Abgegriffenheit dieser alten Formel und ihre zurückgewonnene Glaubwürdigkeit an. Er will diese Überzeugung aus dem Inhalt der Rede Trajans, vor allem aber aus der Art des Vortrags gewonnen haben: Equidem hunc parentis publici sensum cum ex oratione eius tum pronuntiatione ipsa perspexisse videor306. Diesen Beweis für die Aufrichtigkeit des Kaisers koppelt der Redner schließlich mit der Evidenz für die entsprechende ungeheuchelte Loyalität der Bevölkerung, indem er auf die alljährliche Erneuerung der vota hinweist307.

303

Plin., Paneg. 64,1–4. Plin., Paneg. 64,1. 305 Plin., Paneg. 66,2. 306 Plin., Paneg. 67,1. 307 Plin., Paneg. 67,4–68,5. 304

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

Die reverentia, die Trajan dem Senat entgegenbrachte, erweise sich im übrigen auch in einer Bevorzugung308 der Angehörigen der alten nobilitas bei der Ämtervergabe309. Damit sei die vorherige – ja systemisch bedingte – Spannung zwischen Princeps und Senatsadel (illos ingentium virorum nepotes, illos posteros libertatis) auf dem Feld der dignitas endgültig aufgehoben310. Als zweite große Gruppe von candidati, die mit Recht auf die Empfehlung des Kaisers hoffen, nennt Plinius qui posteros habere nobiles mererentur, also verdiente Aufsteiger311. Nun könnten auch wieder durch die exzellente Verwaltung der Provinzen der eigene Status erhöht, honor und gloria erworben werden312. Im ganzen gelte mithin: Optime magistratus magistratu, honore honor petitur313. Eine neue Funktion sollten, so Plinius, auch die Kolonien und civitates in den Provinzen erhalten, indem sie durch ihre Dankdekrete dem aus dem Amt scheidenden Statthalter eine Empfehlung für die weitere Laufbahn ausstellen und so eine beschränkte Kontrollmöglichkeit über die mit ihrer Verwaltung beauftragten Beamten zu gewinnen vermögen314. Der Panegyricus entwirft hier ein in sich schlüssiges Bild des Reichs, das alle Ebenen des Staatsaufbaus umfaßt und ihnen einen jeweils eigenen Entfaltungsraum zuweist. Ziel ist es, die Statusinteressen der etablierten Führungsschicht mit Aufstiegsmöglichkeiten neuer Gruppen und Personen zu verbinden und selbst den Provinzialen in dem konstruktiven Wettbewerb um dignitas eine Funktion zuzuweisen. Der Princeps wird nicht mehr als Konkurrent der nobiles gesehen, sondern als neutrale Instanz. Dabei tritt der immanente Widerspruch zu der an anderer Stelle so emphatischen Bezeichnung Trajans als unus ex nobis nicht an die Oberfläche. 308 Nämlich Suspendierung des Mindestalters (69,4) und der vorgeschriebenen Zeitabstände zwischen zwei Magistraturen (69,5); nach R. FREI-STOLBA, Wahlen in der römischen Kaiserzeit, 202 f., reagierte Trajan mit diesen Vergünstigungen auf entsprechende Anträge aus dem Kreis der Senatoren. 309 Vgl. U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 120–122; was sich hinter dem Begriff nobiles verbirgt, muß offenbleiben; zur Diskussion vgl. M. DURRY, Panégyrique, 190 z.St. Aus dem Kontext wird aber deutlich, daß es Trajan hier um eine Einbindung der großen römischen gentes ging; nobiles ist also nur negativ bestimmt, es ist der Gegenbegriff zu den homines novi, zudem solchen aus den Provinzen. 310 Plin., Paneg. 69,4–6; Zitat 5. 311 Plin., Paneg. 70,1 f.; vgl. B.M. LEVICK, Imperial Control of the Elections under the Early Principate: commendatio, suffragatio and ,nominatio‘, Historia 16, 1967, 207230, hier 229. 312 Plin., Paneg. 70,8: At nunc si bene aliquis provinciarum rexerit, huic quaesita virtute dignitas offertur. Patet enim omnibus honoris et gloriae campus: ex hoc quisque quod concupiit petat et adsecutus sibi debeat. 313 Plin., Paneg. 70,8; R. FREI-STOLBA, Wahlen in der römischen Kaiserzeit, 204 f. 314 Plin., Paneg. 70,9. Vgl. aber Tac., Ann. XV 20–22, für die gegenteilige Auffassung (Thrasea Paetus).

Kapitel eins: Der Panegyricus des Plinius

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d) Akklamationen und Affekte Das Auftreten Trajans vor dem Senat ist für Plinius in seiner Grundaussage eine Fortsetzung des kaiserlichen Verhaltens während des Adventus. Dies wird besonders deutlich anhand der plinianischen Schilderung der Magistratswahlen315, die der Senat unter Leitung Trajans wohl am 9. Januar des Jahres 100 vollzog316. Auch hier liegt ein Schwerpunkt der Darstellung im Panegyricus wieder auf Gebärden und Proxemik. So gestaltet Plinius den Höhepunkt der Senatssitzung, indem er in beschleunigtem Rhythmus die civilitas Trajans pointiert: Der Princeps verkündet die Namen der durch Senatswahl benannten Kandidaten für die zur Neubesetzung anstehenden Ämter317, steigt danach318 von seinem Amtsstuhl hinab – devexus in planum –, geht mit einem Kuß auf die erfolgreichen Bewerber zu und verhält sich damit ganz wie die anderen Gratulanten319. Dies bietet dem Redner Anlaß für eine Synkrisis, die einmal mehr die Einzigartigkeit des Vorge315

Zur Wahl der Magistrate in der Kaiserzeit und der Rolle des Princeps vgl. auch Cass. Dio LVIII 20,3–5; H. DESSAU, ILS 944; F. JACQUES/J. SCHEID, Rom und das Reich, 54–58. 79; R.J.A. TALBERT, Senate, 341–345; W.K. LACEY, Nominatio and the Elections under Tiberius, Historia 12, 1963, 167–176; R. FREI-STOLBA, Wahlen in der römischen Kaiserzeit, insb. 203–209; B.M. LEVICK, Imperial Control, 207–230; A.J. HOLLADAY, The Election of Magistrates in the Early Principate, Latomus 37, 1978, 874–893; U. HÄFELE, Historische Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 122–126; F. MILLAR, Emperor, 302 f. Die faktisch bindende Wirkung der kaiserlichen commendatio und suffragatio wird verfahrenstechnisch durch die gesonderte, vor allen übrigen Bewerbern stattfindende Wahl der candidati principis sichergestellt, die die lex de imperio Vespasiani vorschreibt: H. DESSAU, ILS 244,10–14; dazu R. FREI-STOLBA, a.a.O., 187– 189; B.M. LEVICK, a.a.O., 211–213. Vgl. auch Plin., Paneg. 91,4: quia nec fas est adfirmationi tuae derogare. 316 Zur Datierung: M.L. PALADINI, Le votazioni, 42; R. F REI-STOLBA, Wahlen in der römischen Kaiserzeit, 198. 317 Die korrekte Einordnung der Stelle in den gesamten Wahlvorgang ist umstritten: Handelt es sich bei dem candidatos nominare um die Bekanntgabe aller eingegangenen und vom Kaiser vorgeprüften (c. 69,1) Bewerbungen – so B.M. LEVICK, Imperial Control, 219. 222 f. –, um die Bekanntgabe der candidati principis – so U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 122–128 – oder um die durch Akklamation im Senat erstellte endgültige Kandidatenliste, die nun nur noch der renuntiatio vor den Comitien bedurfte – so W.K. LACEY, Nominatio, 169–173, u. R. FREI-STOLBA, Wahlen in der römischen Kaiserzeit, insb. 198–202. 209 f.? Die Tatsache, daß auf das nominare eine allgemeine Gratulationscour folgt, spricht für einen gewissen Abschluß der Prozedur; ich schließe mich daher der letztgenannten Position an, auch wenn ich mit Levick nominare untechnisch verstehe. 318 Von Plinius nur impliziert, aber auch aus Paneg. 95,2 (Wahl des Plinius zum Konsul) ersichtlich, schloß sich an das testimonium bzw. die suffragatio des Kaisers das acclamationibus approbare durch den Senat an: R. FREI-STOLBA, Wahlen in der römischen Kaiserzeit, 205; vgl. U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 126. 319 Plin., Paneg. 71,1.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

hens Trajans im Vergleich zu seinen Vorgängern hervorheben soll320. Der Akzent liegt auf der Sichtbarkeit der symbolischen Handlungen (und damit auf der intentio, mit der Trajan seine humanitas zum Ausdruck bringt321): te magis mirer an improbem illos, qui effecerunt, ut istud magnum videretur, cum velut adfixi curulibus suis manum tantum et hanc cunctanter et pigre et imputantibus similes promerent? Contigit ergo oculis nostris insolita ante facies, princeps aequatus candidatis, et simul stantis intueri parem accipientibus honorem qui dabat.322

Dem respondiert der Senat mit einem Ausruf, der von Plinius ausdrücklich als eine vera acclamatio gekennzeichnet wird: Tanto maior, tanto augustior! 323 Der Verzicht des Kaisers auf eine Demonstration seiner herausgehobenen Stellung dient letztendlich nur der Mehrung seines Ruhmes. Wo die faktische Macht nicht mehr vergrößert werden kann, weil sie ohnehin schon maximal ist, läßt sich nur durch den zeichenhaften Verzicht auf ihre beständige Aktivierung noch ein Effekt erzielen324. Plinius verschweigt dabei die Alternative, vor der Trajan bei seinem Herrschaftsantritt stand: Denn neben dem im Panegyricus artikulierten humanitas-Konzept wäre es auch eine Möglichkeit gewesen, den von Domitian begonnenen Weg zu einer stärkeren Betonung der Göttlichkeit des Kaisers zu beschreiten. Als Drohung respektive Befürchtung scheint diese Option beständig im Hintergrund von Plinius’ Rede zu stehen, und aus diesem Grunde ist der argumentative und sprachliche Aufwand, den der Redner betreibt, um die civilitas beziehungsweise humanitas Trajans zu propagieren, denkbar umfassend. So sucht Plinius wiederum in der pronuntiatio des Kaisers nach Belegen für die Ernsthaftigkeit der Botschaft Trajans, hier am Beispiel der Rede, mit der Trajan die suffragatio seiner Kandidaten325 begleitete: 320

Vgl. M.L. PALADINI, Le votazioni, 54–56. Plin., Paneg. 71,5; U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 123. Intentio meint hier so viel wie Nachdruck, Forcierung, Intensität, die besonders in der Darbietung der Rede zum Ausdruck kommen, vgl. Cic., de Orat. III 22 (bezogen auf die oculi), und Quint., Inst. I 10,25 (vox); Nachweise in OLD, s.v. intentio 2a/b u. 4, 938. 322 Plin., Paneg. 71,2 f. 323 Plin., Paneg. 71,4. 324 Plin., Paneg. 71,4 f. 325 Die Kapitel 69–71 des Panegyricus, die sich auf die Beamtenwahlen im Senat in Vorbereitung der Comitien beziehen, sind in ihrer Deutung äußerst problematisch. Gesichert scheint mir, daß in c. 69–70 die Bestimmung der vom Kaiser u.a. mit einer Empfehlungsrede suffragierten candidati beschrieben wird; c. 71 beginnt in 71,1 mit der Verkündung (nominare) des Ergebnisses der Wahlen insgesamt, also sowohl der Kandidaten Trajans als auch der Kandidaten, die von anderen suffragatores unterstützt wurden (71,6). Soweit stimme ich mit R. FREI-STOLBA, Wahlen in der römischen Kaiserzeit, 198–210, überein. Abweichend von ihr verstehe ich den Aufbau von c. 71 wie folgt: Die 321

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Quippe cum orationi oculos vocem manum commodares, ut si alii eadem ista mandasses, omnes comitatis numeros obibas.326

Trajan erscheint dem erprobten Prozeßredner Plinius als Sachwalter seiner selbst: Er übernimmt die Suffragationsrede persönlich und überträgt sie nicht – wie sonst üblich – dem quaestor principis; der Lobredner wertet dies explizit als die größtmögliche Reverenzgeste gegenüber dem Senat (omnes comitatis numeros obibas). Auf diese Weise sei es nämlich möglich, daß nicht nur seine Worte, sondern auch seine körperliche Präsenz für die von ihm favorisierten Kandidaten zeugen. Indem der Kaiser Gesichtsausdruck und Handbewegungen bewußt dazu einsetzt, den Sinn des Gesagten in aller Anschaulichkeit zu unterstreichen327, folgt er den Grundregeln, die für den Orator als Vertreter eines Mandanten vor Gericht formuliert worden waren. Bereits in den Deklamationen wurden Rollenwechsel eingeübt, die den Redner befähigen sollten, aus unterschiedlichen Perspektiven

§§ 1–3 berichten das exemplarische Verhalten Trajans im Anschluß an diese nominatio (nämlich devexus in planum), § 4 gilt der begeisterten Reaktion des Senats auf die Geste des Kaisers, §§ 5–7 sind nun wieder retrospektiv auf den gesamten Wahlvorgang bezogen. Trajan wird zunächst für seine überzeugende Rede gelobt, dann dafür, daß er bei der Nennung der übrigen suffragatores in die Akklamationen der Senatoren einstimmte (6/7). M.E. kaum abschließend zu entscheiden ist, was Plinius mit der oratio des Kaisers (§ 6) meint. R. FREI-STOLBA, a.a.O., 210 (vgl. M.L. PALADINI, Le votazioni, 56), erblickt in ihr ‚eine kleine Rede‘ in Verbindung mit der Nominierung, in der die Namen der Kandidaten inklusive ‚weiterer Angaben‘ sowie die Namen ihrer Suffragatoren genannt worden seien. Ich halte es für wahrscheinlicher, daß der Terminus oratio die Empfehlungsrede(n) Trajans für seine eigenen Kandidaten meint (paraphrasiert in c. 70). Die suffragatorum nomina, die durch Zurufe der Senatoren und bemerkenswerterweise auch Trajans gebilligt werden, haben ihren Platz eher bei der Vorstellung der Kandidaten, in deren Bewerbungsrede zur Hebung der Wahlchancen auch die Unterstützer genannt wurden (Plin., Epist. III 20,5), als bei dem abschließenden nominare. Dies dürfte wohl kaum als eine oratio bezeichnet worden sein, deren Vortrag besonders zu loben wäre (es hätte eben nur eine ‚kleine‘ Rede sein können). Plinius betont vielmehr, daß Trajan wie jeder andere suffragator auch eine (längere) Empfehlungsrede hielt und daß diese Empfehlungsrede wegen ihrer actio besonders eindrücklich war. Seine comitas bestand darin, sich den gleichen Aufgaben wie jeder andere suffragator zu unterziehen und die Empfehlungsrede – wohl anders als seine Vorgänger – nicht einfach verlesen zu lassen (nur so ist eigentlich ut si alii eadem ista mandasses überhaupt zu verstehen). Vgl. M.L. PALADINI, Le votazioni, 63 Anm. 195; B.M. LEVICK, Imperial Control, 213 f. Zu kaiserlichen Suffragationsreden vgl. Tac., Ann. I 81; XI 21; Suet., Claud. 40; F. MILLAR, Emperor, 306. 326 Plin., Paneg. 71,6. 327 Grundsätzlich zur pronuntiatio als ‚Aufführung‘ oder ‚Rollenspiel‘ P. W ÜLFING, Antike und moderne Redegestik. Eine frühe Theorie der Körpersprache bei Quintilian, in: Kommunikation durch Zeichen und Wort. Stätten und Formen der Kommunikation im Altertum IV, hg. v. G. Binder/K. Ehlich, BAC 23, Trier 1995, 71–90, insb. 72; U. MAIER-EICHHORN, Die Gestikulation in Quintilians Rhetorik, Europäische Hochschulschriften XV.41), Frankfurt a.M. u.a. 1989, 12.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

zu sprechen – Zielvorstellung war das ethicos dicere328. Dabei galt es, sowohl die eigene dignitas zu präsentieren als auch periodisch in die persona des Klienten zu schlüpfen und dem Richter ein Bild von dessen Persönlichkeit und vor allem Rechtschaffenheit zu vermitteln329. Es kam darauf an, das Wohlwollen des Publikums zu gewinnen und damit eine positive Entscheidung vorzubereiten. Dabei wurde nicht so sehr auf schlüssige Argumentation als vielmehr auf die Affizierung des Adressaten gesetzt – bei einer Gerichtsverhandlung stellte der Patronus also die Verzweiflung, Zerknirschung, Trauer seines Mandanten, aber auch Mitleid für den ungerecht Behandelten dar330, während in deliberativen Kontexten entsprechend die eigene und die gravitas des Klienten in Szene gesetzt wurde. Ähnlich ist das Auftreten Trajans zu werten, der hier freilich nicht als Gerichtspatron, sondern als Anwalt in eigener, seines Kandidaten und letztlich des Senats Sache331 agiert. Plinius macht dahingehend zwei Punkte geltend332: (1) Der Kaiser trat selbst in Erscheinung und (2) er gebärdete sich nicht als Princeps, sondern als suffragator senatorius. Das persönliche Auftreten des Kaisers vor dem Senat dient neben der Patronage seiner Kandidaten auch der Demonstration eines ihm vorgeblich eigenen Wesenszuges, der höflichen, respektvollen Umgänglichkeit. Trajan führt für das eine wie das andere Anliegen nicht rationale, faktische Argumente ins Feld, sondern die zeichenhafte Präsenz seines Körpers im politischen Raum. In der Performanz der Rede stellt er sich damit als Ideal eines Princeps zur Schau.

328 Sen., Contr. II 3,23. 4,8; Suas. I 13; Quint., Inst. III 8,51; IV 1,46 f.; VI 2,34. Vgl. Quint., Declam. min. 260; 279,10; S.F. BONNER, Roman Declamation, 52 f.; D.A. RUSSELL, Greek Declamation, 83. 87 f.; W.M. BLOOMER, Schooling in Persona, insb. 58 f. 63–65. 74 f.; R.A. KASTER, Controlling Reason, 319 f.; D.A. RUSSELL, thos in Oratory and Rhetoric, in: Characterization and Individuality in Greek Literature, ed. by Chr. Pelling, Oxford 1990, 197–212, insb. 197–200. 207–209; W. FORTENBAUGH, Art. Ethos (Antike), HWRh 2, 1994, 1517–1525. 329 Vgl. für einen besonders drastischen Fall Quint., Inst. VI 1,24 f.: nonnumquam etiam ipse patronus has partes subit, ut Cicero pro Milone ... maximeque, si, ut tum accidit, non conveniunt ei qui accusatur preces; 25 ... ergo et illi captavit ex ipsa praestantia animi favorem et in locum lacrimarum eius ipse successit; VI 2,34. 330 R. CAMPE, Affizieren und Selbstaffizieren. Rhetorisch-anthropologische Näherung ausgehend von Quintilian ‚Institutio oratoria‘ VI 1–2, in: Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus, hg. v. J. Kopperschmidt, München 2000, 135–152. 331 Indem Trajan die suffragationes anderer angesehener Senatoren unterstützte und sich im ganzen wie einer von ihnen verhielt, ohne auf seine besonderen Rechte zu bestehen: Plin., Paneg. 71,6 f. Trajan spricht also gewissermaßen zugleich in persona sua und in persona senatus. Zur Bedeutung der kaiserlichen laudatio vgl. auch Dion Chrys., Or. 3,131 f.; Tac., Hist. II 82; Plin., Epist. VIII 6,13; J.E. LENDON, Empire of Honour, 134. 332 Plin., Paneg. 71,6.

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Es bleibt bei der Interpretation zu beachten, daß diese Art des Werbens für eine Partei nicht mit den Augen des modernen Menschen als Unsachlichkeit zu verurteilen ist, sondern vielmehr den sozio-politischen Spielregeln Roms entsprach333. Plinius stellt seinem Princeps mithin in der vorliegenden Passage ein hohes Lob für technische Brillanz als Redner und Sachwalter aus, der sein Publikum manipuliert, dessen Manipulation aber nicht nur legitim und allseits akzeptiert, sondern geradezu gefordert ist. Ein Blick auf den historischen Rahmen zeigt zudem, daß die Körpersprache bei Kaiserreden eine gesteigerte und im Vergleich zur senatorischen Rede jedenfalls anders gewichtete Bedeutung besaß. Sie diente nämlich zwangsläufig nicht so sehr dem persuadere, dessen es aufgrund der äußeren Machtverhältnisse ja nicht mehr im gleichen Maße bedurfte – Überzeugung konnte sozusagen atechnisch erzeugt, die gewünschte Reaktion des Publikums allein mit nicht-rhetorischen Mitteln erzwungen werden334. Der Auftritt des Kaisers hatte daher primär die Funktion, seine eigene innere Beteiligung an der verhandelten Sache zum Ausdruck zu bringen. Nur in dieser Hinsicht mußte Persuasion entechnisch bewirkt werden – in der Überzeugung der Zuhörer, daß der Kaiser die Worte, die er sprach, auch so meinte, daß seine Worte echten performativen Wert besaßen. Dies stellte das eigentliche officium des kaiserlichen Redners dar. So war auch hier die suffragatio nicht Inhalt und Ziel der Ansprache, sondern lediglich Instrument zu einer weitergehenden Aussage: Trajan bekundet seine (freiwillige) Unterwerfung unter die ritualisierten Kommunikationsformen des Senats. Plinius berichtet, daß diese Demonstrationen von comitas und civilitas in der Kurie begeistert aufgenommen worden seien: Die Senatoren springen von ihren Sitzen, rufen ihm zu, die Kleidung gerät in Unordnung335. Ihr Gebaren ist in eklatanter Weise gegenläufig zu dem, was Quintilian stellvertretend für die römische Lehrtradition formuliert: Ein Übermaß an Gestikulation, übertriebene Mimik, eine falsche, weil überspannte Tonlage entsprechen nicht dem einem Römer Angemessenen, sondern allein der Bühnenkunst. Mäßigung sei angeraten, „auf daß wir nicht die Geltung und das Gewicht unseres guten Namens einbüßen“ – ne ... perdamus viri boni et gravis auctoritatem336. Dies ist in der Systematik von Quintilians Lehr333

M.E. zu kurz gegriffen daher U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 31 f. 334 Hierzu die knappen, aber anregenden Überlegungen von G.A. KENNEDY, A History of Rhetoric. Vol. III: Greek Rhetoric under Christian Emperors, Princeton (N.J.) 1983, 3. 335 Zum Aufspringen als Beifallsbekundung und Ausdruck des Enthusiasmus in der Antike vgl. C. SITTL, Die Gebärden der Griechen und Römer, Leipzig 1890, 61–63. 336 Quint., Inst. XI 3,183 f., Zitat 184; P. WÜLFING, Antike und moderne Redegestik, 80 f. Quintilian greift hier auch zurück auf Cic., Off. I 124: est igitur proprium munus magistratus intellegere se gerere personam civitatis debereque eius dignitatem et decus

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buch allerdings nur der abschließende, mahnende Kommentar zur pronuntiatio und dem rechten Maß im Einsatz des Körpers während des Vortrags. Wo der Rhetor in die Diskussion einzelner Elemente der Performanz einsteigt, fällt sein Urteil hingegen äußerst differenziert aus. So widmet Quintilian einen langen Abschnitt seiner Ausführungen der Kleidung (cultus) des Redners337: Für den Orator gelten dabei grundsätzlich dieselben Regeln wie für jeden Bürger, mit der einzigen Besonderheit, daß er im Rampenlicht und damit durchgängig unter besonderer Beobachtung steht338. Es folgt eine Abhandlung über die historische Entwicklung der Schnittform der Toga sowie Anweisungen zum korrekten Anlegen dieses Kleidungsstückes. Wir wissen, daß sich die Toga, die in der Republik noch eine körperbetontere Paßform hatte (toga exigua) und so eine relativ ungehinderte Bewegungsfreiheit zuließ, zu einem Bekleidungsstück wandelte, das die Aktionsmöglichkeiten ihres Trägers stark einschränkte339. Im Principat trug man Togen von erheblich größerem Stoffvolumen, das möglichst kunstvoll zu einem sinus arrangiert wurde; diese Form der Toga ließ nur maßvolle Bewegungen zu, zumal ihr Träger stets mit den Stoffmassen zu kämpfen hatte340. Eben dies war ein Mittel, Stand und Würde des Togatus sinnfällig zu machen341, da eine solche Tracht körperliche Arbeit nicht zuließ und mithin wirtschaftliche Autarkie demonstrierte342.

sustinere. E. FANTHAM, Quintilian on Performance: Traditional and Personal Elements in Institutio 11.3, Phoenix 36, 1982, 243–263, insb. 251. 337 Quint., Inst. XI 3, 137–149. 338 Quint., Inst. XI 3,137: Cultus non est proprius oratoris aliquis, sed magis in oratore conspicitur. 339 Cic., Cael. 5,11; Quint., Inst. XI 3, 137 f.; E.H. RICHARDSON/L. RICHARDSON, Ad cohibendum bracchium toga: An Archaeological Examination of Cicero, Pro Caelio 5.11, YCS 19, 1966, 253–268. Zur Entwicklung der Toga auch H.R. GÖTTE, Studien zu römischen Togadarstellungen, Beiträge zur Erschließung hellenistischer und kaiserzeitlicher Skulptur und Architektur 10, Mainz 1989, insb. 3 f. 22–29. Ähnliches galt auch für die Kleidung griechischer Redner der klassischen und hellenistischen Zeit, wie die sog. ‚Mantelmänner‘-Statuen zeigen; die eine freiere Gestikulation behindernde Kleidung sollte die %& des Sprechers unterstreichen. Vgl. Aischin., Tim. 25 f.; W. RAECK, Bilder vom Redner in Griechenland und Rom, in: Rede und Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen, Kolloquium Frankfurt a.M., 14.–16. Oktober 1998, hg. v. Chr. Neumeister/Dems., Frankfurter Archäologische Schriften 1, Möhnesee 2000, 151–166, hier 153–158. 340 So etwa Hor., Epist. I 1,96; vgl. I 14,32; Sat. I 3,31. Vgl. aber Tac., Dial. 39,1, zu der ‚neuen‘ Sitte, vor dem Centumviralgericht nicht mehr in der Toga, sondern der Paenula aufzutreten, die den Gestus völlig unmöglich mache. 341 Tac., Dial. 26,1–3, setzt den Träger der hirta toga von den histriones bzw. deren histrionales modi ab; dazu R. MAYER (ed. and comm.), Tacitus – Dialogus de Oratoribus, Cambridge Greek and Latin Classics, Cambridge 2001, 208. 342 E. FANTHAM, Quintilian on Performance, 250.

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Das zeremonielle Kleidungsstück der römischen Bürger besaß also geradezu eine eigene Semiotik. Und diese machte es auch für den Redelehrer notwendig, dem Umgang mit der Toga einige Beachtung zu schenken. Quintilian beschreibt in seinem Exkurs zuerst die Grundform, in der sie zu Beginn der Rede, im Exordium, zu tragen ist. Aus praktischer Erfahrung werden dann seine Ausführungen stammen, in welcher Weise die Kleidung im Fortgang der Rede verrutschen mag und wie dies zu korrigieren ist. Man kann auch hier wiederum sehen, wie sehr alle Elemente des Vortrags semiotisiert werden: Denn für Quintilian ist es durchaus in der Ordnung, wenn in Partien, die von stärkerer Emotionalität und eindringlicherer Argumentation gekennzeichnet sind, auch eine einigermaßen derangierte Kleidung die innere Beteiligung des Redners zum Ausdruck bringt. Aber dennoch bleiben die Grenzen des noch Tolerablen eng gesteckt (at si incipientibus aut paulum progressis decidat toga, non reponere eam prorsus neglegentis aut pigri aut quo modo debeat amiciri nescientis est343), und ohnehin waren seine Vorstellungen in dieser Frage nicht unumstritten. Interne Textverweise deuten darauf hin, daß etwa der ältere Plinius eine wesentlich striktere Lehre vertrat344. Quintilian berührte mit diesen Vorschriften die ganze Ambivalenz der römischen Vortragskunst, die von Anleihen beim Theater, zugleich aber auch scharfer Abgrenzung von allem Schauspielerischen geprägt war. Man lernte von den Spezialisten für die Inszenierung, durfte aber selbst nicht in den Ruch der ‚Vulgarität‘ und ‚Verweichlichung‘ eines Schauspielers geraten345; nicht allen Rednern gelang diese feine Unterscheidung346. Plinius griff an der genannten Stelle diese normativen Vorstellungen auf und ging zugleich weiter als sein Lehrer; der Enthusiasmus der Senatoren erlangte nämlich – so die Suggestion des Lobredners – gerade dadurch 343

Quint., Inst. XI 3,149. Quint., Inst. XI 3,139–149, insb. 143. 146–148 (Plinius, wohl in den heute verlorenen studiosi; vgl. Plin., Epist. III 3,5). Zu ‚Moden‘ in der actio: Tac., Dial. 20,3. 345 J. ENDERS, Delivering Delivery; Cic., de Orat. I 18; III 216. 220; Quint., Inst., I 11,3: ne gestus quidem omnis ac motus a comoedis petendus est. quamquam enim utrumque eorum ad quendam modum praestare debet orator, plurimum tamen aberit a scaenico, nec vultu nec manu nec excursionibus nimius. nam si qua in his ars est dicentium, ea prima est, ne ars esse videatur; I 12,14; XI 3,181 (ff.): non enim comoedum esse, sed oratorem volo; X 1,119; Sen., Contr. III praef. 3, formuliert folgendes Ideal, das der Redner Cassius Severus verwirklicht habe: pronuntiatio quae histrionem posset producere, tamen quae histrionis posset videri; vgl. Rhet. Her. III 24. 22. 26 (convenit … in gestu nec venustatem conspiciendam nec turpitudinem esse, ne aut histriones aut operarii videamur esse); und Cic., de Orat. I, 128: in oratore … vox tragoedorum, gestus paene summorum actorum est requirendus (dagegen Quint., Inst. XII 5,5: vox … super omnis tragoedos). 346 Vgl. Cic., Brut. 216 f. 225; Gell. I 5; G.S. ALDRETE, Gestures and Acclamations in Ancient Rome, Ancient Society and History, Baltimore/London 1999, 67–73. 344

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Glaubwürdigkeit, daß er die Konventionen des Habitus und der Kleidung ignorierte, daß das Verhalten der Senatoren nicht ihrem nach außen projizierten Bild und Selbstbild, ihrer „öffentlichen Identität“347 mit der statusindizierenden Betonung von dignitas348 und gravitas entsprach349. Überhaupt scheint Plinius im ganzen ein ‚moderneres‘ Redner-Ideal vertreten zu haben; er plädierte auch anderwärts für den risikoreichen Stil, dafür, daß der Redner Emotionen zulassen und sich von ihnen tragen lassen solle350. Nicht-rollenkonformes Auftreten diente ihm nun auch bei der Darstellung des Empfangs Trajans in der Kurie als lobenswerter Indikator für die Unmittelbarkeit der Emotionen. Das Vergessen des Comments in enthusiastischen Akklamationen auf den Princeps liefert den Beweis für die endgültige Durchbrechung des Paradigmas erzwungener Simulation, das in der Vergangenheit für den Senat verbindlich gewesen sei. Folgerichtig ist es für Plinius auch hier weniger der Unterschied im Inhalt als vielmehr in der Art und Weise des Vorbringens von Lob, der die Kommunikation mit einem guten Herrscher von solcher mit einem Tyrannen absetzt: qui amoris ardor, qui stimuli, quae faces illas nobis exclamationes subiecerunt! non nostri, Caesar, ingenii, sed tuae virtutis tuorumque meritorum voces fuerunt, quas nulla umquam adulatio invenit, nullus cuiquam terror expressit. quem sic timuimus, ut haec fingeremus? quem sic amavimus, ut haec fateremur? nosti necessitatem servitutis: ecquando simile aliquid audisti, ecquando dixisti? multa quidem excogitat metus, sed quae adpareant quaesita ab invitis. aliud sollicitudinis, 347

Der Terminus geht zurück auf: P.L. BERGER/TH. LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 51980 (Ndr. 1999), 181. Vgl. auch H. U. GUMBRECHT, Über die allmähliche Verfertigung von Identitäten in politischen Reden, in: Identität, hg. v. O. Marquard/K. Stierle, Poetik und Hermeneutik 8, München 1979, 107–131, insb. 113 f. 348 G. THOME, Zentrale Wertvorstellungen der Römer II. Texte – Bilder – Interpretationen, Bamberg 2000, 117–134, insb. 118–129, analysiert dignitas als „Appellbegriff“ (121) und „Repräsentationswert“ (126). Vgl. zur Illustration und zur Verbindung des dignitas- mit dem gravitas- sowie dem maiestas- Begriff und ihrer Artikulation in Habitus, Ornat und Mimik: Liv. V 41,8 (Galliereinfall in Rom): adeo haud secus quam venerabundi intuebantur in aedium vestibulis sedentes viros, praeter ornatum habitumque humano augustiorem maiestate etiam, quam vultus gravitasque oris prae se ferebat, simillimos diis. 349 Zur gravitas vgl. etwa Cic., Fam. X 12,4; Off. I 86; de Orat. I 31; Mur. 6: illam vero gravitatis severitatisque personam non appetivi, sed ab re publica mihi impositam sustinui, sicut huius imperii dignitas in summo periculo civium postulabat; 66; Cato 3. 58; Plin., Epist. IV 3,2; IX 9,2; Paneg. 4,6; 46,5; 49,7; 67,1; 74,2; 82,8; Tac., Ann. XV 48. Dazu K. GROß, Art. Gravitas, RAC 12, 1983, 752–779, insb. 753–762. Gravitas wird zum Leitbild der römischen Nobilität, ist laut Cicero nicht zuletzt in der Mimik erkennbar (Pis. 24; Sest. 19 f.) und hat von dort aus auch Eingang in die Porträtkunst gefunden: L. GIULIANI, Zur spätrepublikanischen Bildniskunst. Wege und Abwege der Interpretation antiker Porträts, A&A 36, 1990, 103–115, insb. 110–114. 350 Plin., Epist. IX 26,1 f.

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aliud securitatis ingenium est; alia tristium inventio, alia gaudentium: neutrum simulationes expresserint. habent sua verba miseri, sua verba felices, utque iam maxime eadem ab utrisque dicantur, aliter dicuntur. Testis ipse es quae in omnium ore laetitia. Non amictus cuiquam non habitus quem modo extulerat … Quis tunc non e vestigio suo exsiluit? quis exsiluisse sensit?351

Die stärksten Emotionen können dieser Lehre zufolge nicht vollständig simuliert werden; Unglück und Glück haben eine jeweils charakteristische Ausdrucksweise, die auch dann unverkennbar bleibt, wenn die Worte identisch sind. Zwang läßt sich nie ganz verbergen, echte Freude verrät sich selbst. Ebenso drastisch und scheinbar nonkonformistisch wie die Begeisterung der patres gestaltete sich laut Plinius die Reaktion Trajans auf die Bekundung senatorischer Begeisterung: Es treten ihm Tränen in die Augen, er senkt sein Antlitz und errötet. Plinius bezeichnet dies als ein nicht gekanntes Verhalten eines Princeps vor dem Senat; bislang hätten in der Kurie nur Senatoren Tränen vergossen, und zwar, so suggeriert der Redner, aus einem anderen Grund als der nun von ihrer fides bewegte Kaiser352. Auch dies ist in Parallele mit Ausführungen bei Plinius’ Lehrer Quintilian zu sehen; ihm zufolge besitzen die Augen im Bereich der Mimik die größte Ausdruckskraft, durch sie kommt die Seele, das Innerste zum Vorschein. Und besonders die Tränen gelten als mentis indices, „Anzeiger der Denkbewegung“, und zwar von Natur aus353, das heißt: nicht als technisches, manipulatives und manipulierbares, frei verfügbares Instrumentarium. Auf den Ausbruch der Affekte auf seiten der Senatoren antwortet also der Kaiser mit dem Vergießen von Tränen354. Dies treibt den Senat noch weiter an (hoc magis incensi sumus, 73,5), so daß schließlich ein komplexer Prozeß der wechselseitigen Affizierung in Gang gesetzt wird. Plinius überliefert einige der Akklamationen dieses Tages, die trotz der Emotionalität des Ereignisses nun doch sapienter et graviter ausgebracht worden seien: O te felicem!, das bereits besprochene Crede nobis, crede tibi! und schließlich respondierend O nos felices!355. Hier fällt die strikte Paralleli351

Plin., Paneg. 72,5–73,2. Plin., Paneg. 73,4–6, insb. 4: Comprobasti et ipse acclamationum nostrarum fidem lacrimarum tuarum veritate. 353 Quint., Inst. XI 3,75: in ipso vultu plurimum valent oculi, per quos maxime animus emanat … quin etiam lacrimas iis natura mentis indices dedit, quae aut erumpunt dolore aut laetitia manant. So schon Cic., Orat. 18,60: ut imago est animi vultus, sic indices oculi; quorum et hilaritatis et vicissim tristitiae modum res ipsae, de quibus agetur, temperabunt. 354 Auf eine Parallele zu Suet., Aug. 58,2 weist H.-U. INSTINSKY, Consensus universorum, 270, hin. 355 Plin., Paneg. 74,1. 2. 5. Vgl. G.S. ALDRETE, Gestures and Acclamations, 128–164, insb. 139 (Sprache). 149 (Funktion). 352

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tät, die genaue Entsprechung zwischen auf den Kaiser und auf die Senatoren bezogenen Akklamationen ins Auge. Das Verbindungstück ist in der Deutung des Glückes Trajans als eine felicitas animi zu finden: Nicht Reichtum an äußeren Gütern, nicht materielle felicitas, sondern seine glückhafte geistige Disposition setzt Trajan von seinen Vorgängern ab, die sich aus Mißtrauen gegenüber ihren Untertanen allein auf ihre Machtmittel stützten356. Seine felicitas erscheint dabei nicht als von außen kommende Gabe, sie ist nicht als ein Geschenk der Götter, sondern als seine eigene Leistung, als virtus anzusehen357. Denn das „Glück“ des Herrschers besteht darin, daß sich im rituellen Umgang Trajans mit dem Senat auf beiden Seiten und in gegenseitiger Beeinflussung die nötige rituelle Einstellung Bahn bricht. Erst die erfolgte Affektübertragung in beide Richtungen garantiert demnach die Aufrichtigkeit des in der Kurie zelebrierten Konsenses von Princeps und Senat. Ein empfundener und erwiderter amor verbindet den Kaiser und die patres, und in diese Beziehung zwischen den führenden Institutionen des Staates sollen auch die Götter einbezogen werden, die Plinius zum Schutz des Gemeinwesens anruft: Sie mögen die Liebe des Kaisers zu seinem Volke nachahmen358. Trajan wird zum Modell nicht nur der res publica, sondern des gesamten Kosmos, der Götterwelt. Plinius weist darüber hinaus auf einen Sachverhalt hin, der für die Bewertung der symbolischen Interaktion von Princeps und Senat von großer Relevanz ist. In früheren Zeiten habe man lediglich die orationes principum359, also die vom Kaiser in den Senat eingebrachten Anträge und seine Stellungnahmen zu aktuellen Fragen – man wird ergänzen müssen, auch die Senatsbeschlüsse selbst – aufgezeichnet und archiviert, nicht aber die Akklamationen der Senatoren360. Allerdings seien diese auch sowohl der Ehre des Hauses selbst wie des Kaisers abträglich und damit der Überlieferung nicht würdig gewesen. Nun würden jedoch auch die Zurufe den acta publica hinzugefügt und in Bronzetafeln eingegraben. Diese Maßnahme habe dreifachen Nutzen: Has [sc. acclamationes nostras] vero et in vulgus exire et posteris prodi cum ex utilitate tum ex dignitate publica fuit, primum ut orbis terrarum pietatis nostrae adhiberetur testis et conscius; deinde ut manifestum esset audere nos de bonis ma356 Nur so ist wohl die Passage Plin., Paneg. 74,1–5 mit ihren Oppositionen animus – opes und amare – non amari zu verstehen. S. auch 72,3 f. 357 Vgl. auch E. W ISTRAND, Felicitas Imperatoria, Studia Graeca et Latina Gothoburgensia 48, Göteborg 1987, 68–70. 358 Plin., Paneg. 74,4 f., insb. 5: Civitas religionibus dedita … nihil felicitati suae putat adstrui posse, nisi ut di Caesarem imitentur. 359 Dazu R.J.A. TALBERT, Senate, 178–182. 438–459; F. MILLAR, Emperor, 203–206. 277; F. JACQUES/J. SCHEID, Rom und das Reich, 76. 360 Vgl. R.J.A. TALBERT, Senate, 308–323.

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lisque principibus non tantum post ipsos iudicare; postremo ut experimento cognosceretur et ante nos gratos, sed miseros fuisse, quibus esse nos gratos probare antea non licuit. At qua contentione, quo nisu, quibus clamoribus expostulatum est, ne adfectus nostros ne tua merita supprimeres, denique ut in posterum exemplo provideres! Discant et principes acclamationes veras falsasque discernere, habeantque muneris tui quod iam decipi non poterunt.361

Es geht Plinius vor allem anderen darum, das besondere Verhältnis von Princeps und Senat herauszustellen, und dies vor einer reichsweiten Öffentlichkeit zu tun362, den ursprünglichen, sowohl sozial als auch geographisch beschränkten Adressatenkreis zu erweitern (in vulgus exire ... orbis terrarum testis et conscius). Im Vordergrund steht die dankbare Loyalität des Senats, die die Erfüllung einer sozialen Verpflichtung (pietas) darstellt, zugleich aber auch das Recht der Senatoren, in ihren Akklamationen ein Urteil über den Princeps abzugeben. Die Eindringlichkeit ihrer Kundgebungen solle nun für immer als Kriterium für ernstgemeinte Anerkennung fungieren. Zusammenfassend läßt sich für diesen Abschnitt festhalten, daß Plinius dem von ihm erkannten Problem – wie nämlich bei äußerlich ähnlichen Verhaltensäußerungen dennoch die notwendige semantische Differenz erzeugt und sichergestellt werden konnte – auf mehreren Ebenen begegnete, die einander durchdringen und für den modernen Beobachter nicht ohne innere Widersprüche bleiben. Eine Analyse der von ihm berichteten Interaktionen zwischen Princeps und Senat ergibt zunächst, daß sowohl unter Domitian als auch unter Trajan die Senatoren offenbar eine Aufgabe ihrer traditionellen Distinktionsstrategien vollzogen, allerdings mit ganz unterschiedlichen Vorzeichen. An die Stelle der geradezu kanonisch würdevollen Zurückhaltung im körperlichen Ausdruck tritt jeweils ein expressiver und entgrenzter Kommunikationsstil. Unterschiedliche Sphären und Modi der Inszenierungen gehen ineinander über, spectator und spectaculum werden zu instabilen Kategorien, weil nun jeder zu jeder Zeit und an jedem Ort sowohl Zuschauer als auch Akteur sein kann (dies gilt trotz der Verschleierungsstrategien des Plinius gerade auch für die trajanische Zeit, die im Panegyricus geradezu als universales, aber freiwilliges staging erscheint). Dabei wird von Plinius unterstellt, daß entsprechend starke Kräfte auf die patres ausgeübt werden mußten, um eine solche Suspendierung ihrer Gravität zu bewirken. Im Vergleich des Principats Domitians mit dem des 361

Plin., Paneg. 75,3–5. Zu diesem Aspekt vgl. C. ANDO, Imperial Ideology and Provincial Loyality in the Roman Empire, Classics and Contemporary Thought 6, Berkeley/Los Angeles/London 2000, insb. 152–168 u. 199–205. 362

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optimus macht er implizit wie explizit an mehreren entscheidenden Punkten die semantisch relevante Differenz zwischen den auf den ersten Blick identischen Verhaltensweisen der Senatoren fest: (1) Die Lobreden, die Akklamationen und die Rollentransgression in Richtung auf ein schauspielerisches Gebaren, die der Senat unter Domitian vollzog, waren erzwungen und damit in höchstem Maße entehrend; (2) die Senatoren antworteten hingegen unter Trajan mit ihrer echten, spontanen Begeisterung auf Demonstrationen kaiserlicher civilitas, nicht auf einen – aus der Sicht der Senatsaristokratie – übersteigerten Herrscherkult; (3) Körpersprache und Tonfall erlauben nach seiner Überzeugung grundsätzlich eine Unterscheidung von geheuchelter und wahrhaftiger Zustimmung; (4) der expressive Stil der vorwiegend nonverbalen Kommunikation zwischen Senat und Kaiser wird unter Trajan eingerahmt und damit ausbalanciert durch einen betont nüchternen, schlichten Stil der Debatten in der Kurie, der sich mehr um Geschäftsmäßigkeit als um Elogien auf den Kaiser bemüht – und dies ist vor dem Hintergrund zu verstehen, daß es in der frühen Kaiserzeit üblich geworden war, bei jedweder Abstimmung in der Kurie dem obligatorischen adsentior Lobesworte auf den Kaiser hinzuzufügen363; (5) die verbalen und symbolischen Bekundungen der Senatoren unterliegen keiner Kontrolle von seiten des Princeps mehr, eine Vorausberechnung opportuner Stellungnahmen und Gesten sowie ihre Einstudierung sind daher nicht mehr nötig. Offen muß die Frage bleiben, ob Plinius diese Differenz nicht nur hineinlas, also eher Eisegese denn Exegese der Interaktionsformen betrieb. Immerhin konnte er für seine Deutung auf das tatsächliche und zumindest für einen Teil seiner Zuhörer und Leser überprüfbare Verhalten Trajans verweisen, in erster Linie auf dessen Körperlichkeit – und wie diese zu deuten war, hatte ein jeder von ihnen im Zuge der institutio oratoria verinnerlicht.

6. Der Herrscher als Chamäleon: Ein Princeps, viele Rollen Plinius hielt trotz (oder gerade wegen) der veränderten Rahmenbedingungen die Perpetuierung der symbolischen Kommunikationsformen der früheren Zeit für unverzichtbar364. So stellt der Lobredner seinem Kaiser die rhetorische, von diesem selbstverständlich zu verneinende Frage: tu [scil. Traianus] ... liberae civitatis ne simulationem quidem serves ... ?365 Es ist also die simulatio liberae civitatis, eine allgemeine Strategie des ‚als ob‘, 363

Vgl. Tac., Ann. XI 4; Hist. I 85,3; R.J.A. TALBERT, Senate, 252–253. 255–256. Zum Stellenwert des Symbolischen vgl. auch M.P.O. MORFORD, iubes esse liberos, 589. 365 Plin., Paneg. 63,5; dazu SH. BARTSCH, Actors in the Audience, insb. 186 f.; U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 47–55. 364

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die vom Kaiser erwartet wird, und der auch der Panegyrist zuarbeitet. Trajan fügte sich Plinius zufolge in das Institutionengefüge, das aus der Republik überkommen ist, in ganz anderer Weise als seine Vorgänger Domitian und Nero: Er respektiert die Spielregeln, die für die Konsulwahlen gelten, und hält sie gerade auch in bezug auf die eigene Person für verbindlich. So wohnt Trajan anläßlich seines dritten Konsulats der renuntiatio der neuen Oberbeamten in persona bei und bekundet auf diese Weise der Zeremonie und damit der sie tragenden plebs urbana seinen Respekt366. Als Zeremonie weist Plinius diese Proklamation durch die Benennung als longum illud carmen aus und enthüllt damit nolens volens die geschwundene politische Bedeutung der Magistratswahlen (im Sinne einer freien Auseinandersetzung zwischen mehreren wählbaren Kandidaten). Trajan legt im Rahmen dieser Kette ritueller Handlungen den Eid vor den amtierenden Konsuln ab367 und signalisiert dadurch seine Anerkenntnis der traditionellen Ämterstrukturen; er füllt schließlich das Konsulat tatsächlich auch aus, indem er als Leiter der Senatssitzungen auftritt368 – im ganzen agiert er im Bewußtsein, trotz seiner Stellung weiter den Gesetzen untergeordnet zu sein369. Ein genauerer Blick enthüllt, daß diese Vorstellung von einem Monarchen in einem republikanischen System (oder der Fortführung republikanischer Handlungsstrukturen und Institutionen in einer Monarchie)370 im wesentlichen auf der Fähigkeit Trajans beruhte, die unterdeterminierte Position des Princeps in eine Fülle von situationsadäquaten Rollen aufzulösen371 366

Plin., Paneg. 63,1–3. (Zitat 63,2); vgl. 92,3; R. FREI-STOLBA, Wahlen in der römischen Kaiserzeit, 212. 367 Plin., Paneg. 64,1 f. Dazu auch E. FLAIG, Den Kaiser herausfordern, 85 f., der der römischen Volksversammlung den Charakter eines ‚Konsensrituals‘ zuschreibt. Der Klarheit der Konzeption halber sei hier darauf hingewiesen, daß der Begriff des Konsenses in diesem Zusammenhang nicht meinen kann, daß eine Zustimmung des Volkes zum Kaiser ausgehandelt würde; eine solche stand gar nicht zur Debatte, vielmehr geht es um die symbolische Reproduktion der res publica unter den Bedingungen des Principats – die plebs konstituiert sich in den Comitien als populus, der Kaiser tritt in die höchste Magistratur des Staates ein. Der so zelebrierte consensus bezieht sich auf eben diese verfaßte Staatlichkeit, die im Ritual aufscheint, und darauf, daß keine Seite – auch nicht der Kaiser – diese Form der res publica aufkündigt. Dies war systemisch gar nicht möglich, weil Alternativen nicht (und im Grunde bis zum Ende des römischen Reiches nicht) zur Verfügung standen; man konnte jedoch Distanz ausdrücken, indem man nicht persönlich erschien, wie dies Trajans Vorgänger tat – kaum aber diese höchst wirkmächtige Fiktion vollends aufkündigen. 368 Plin., Paneg. 59,2; 60,1–3. 369 Vgl. Plin., Paneg. 55,9 (infinitae potestatis domitor ac frenator); 65,1 (non est princeps super leges sed leges super principem). 370 Zu dieser Konstruktion vgl. auch J. BÉRANGER, Recherches, 153 f. 371 Zu den Rollen des Kaisers allgemein und ihrem Widerschein etwa in der Titulatur vgl. A. PABST, Comitia imperii. Ideelle Grundlagen des römischen Kaisertums, Darmstadt 1997, 46–54. Dies gilt trotz der Kritik Bleickens an der Millar-Formel „the emperor

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– unterschiedliche Rollen in seiner Person zu ‚mischen‘372 – und in den jeweiligen Kontexten die Verhaltenserwartungen in mustergültiger Weise zu erfüllen. Dabei weist Plinius der Stellung des Kaisers, der fortuna principum373, eine Existenz jenseits oder über den Ämterstrukturen zu; Trajan als Konsul hat sich demnach anders – und zwar erhabener – zu verhalten als Trajan als Princeps. Das Konsulat wird nicht als eine Funktion, eine Beigabe des Principats374 verstanden, selbst wenn Iteration und Kontinuation dieser Würde in den Händen der Kaiser unter Trajans Vorgängern, aber auch in seiner eigenen Regierungszeit, diesen Eindruck erwecken könnten. Der Princeps qua Princeps ist für Plinius dagegen vor allem privatus375, das heißt zunächst amtloser Angehöriger seines (senatorischen) Standes. Diese Identifizierung des Principats als inhaltlich nicht definierte, damit auch nicht vollständig institutionalisierte Position, die erst in unterschiedlichen Kontexten aktualisiert werden muß, deckt sich mit den Ergebnissen der von Fergus Millar unternommenen empirischen Analyse des römischen Kaisertums von Augustus bis Konstantin376. In der plinianischen Konzeption wird dem Princeps einerseits eine Art Vorgriffsrecht auf militärische, soziale und politische Führungsstellen zugewiesen, die konkreten Verhaltensvorgaben werden andererseits aus den zugehörigen, zum Teil widerstreitenden Rollen abgeleitet377. Der Kaiser wird mithin gleichsam zu einem Schauspieler, der bruchlos von Part zu Part wechselt. Die Terminologie des Panegyricus spiegelt diesen Grundzug deutlich wider: 44,2: privato iudicio principem geris; 76,1: Iam quam antiquum quam consulare, quod triduum totum senatus sub exemplo patientiae tuae sedit, cum interea nihil praeter consulem ageres! 76,5 [negativ über die Vorgänger Trajans]: Fortasse imperator in senatu ad reverentiam eius componebatur; ceterum egressus statim se recipiebat in principem, omniaque consularia officia abicere neglegere contemnere solebat; 79,5: [Trajan] hic consularibus curis exsolutus principales rewas, what the emperor did“: J. BLEICKEN, Zum Regierungsstil des römischen Kaisers. Eine Antwort auf Fergus Millar, Sitzungsb. der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. XVIII.5, Wiesbaden 1982 7–9. 36 f. 372 Etwa Plin., Paneg. 19,3; vgl. 4,5 f.; 24,1; 59,6; R. REES, To Be and Not to Be, 153 Anm. 30; 155 f. 165 f. 373 Plin., Paneg. 71,5. Vgl. auch U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 21 f., für Belegstellen im Panegyricus, die auf eine Bedeutung von principatus i.S. einer ‚vorgezeichneten Stellung‘ weisen. 374 Zu einem ähnlichen Deutungsansatz vgl. I. KÖNIG, Traianus civilis princeps, 32 f. 375 Plin., Paneg. 59,5; 64,4. Vgl. zur scheinbar paradoxen Verbindung der antithetischen Begriffe princeps und privatus in der Person Trajans R. REES, To Be and Not to Be, 156–160. 376 F. MILLAR, Emperor, ‘Afterword’ zur 2. Aufl. 377 Vgl. auch U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 45– 47.

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sumpsit, tam diligens temperamenti, ut nec consulis officium princeps nec principis consul adpeteret; 85,5: in amicum ex imperatore summitteris, immo tunc maxime imperator, cum amicum agis.378 Es lassen sich neben diesen Beispielen für Trajan in der Rolle des Konsuls bzw. des Senators ebenso zahlreich Belege für hohe Rollenkonformität des Kaisers etwa als miles379 (s.o.) oder als Familienoberhaupt380 anführen. Das dem Prinzipat innewohnende Spektrum von Rollen kam ebenfalls in den Staatsmonumenten trajanischer Zeit zum Ausdruck, so im Bogen von Benevent, den der Senat dem Kaiser widmete, so auch am Eingang zur repräsentativen Basilica Ulpia in Rom: Wenn die These von Paul Zanker zutrifft, stand an jedem der drei Zugänge, die vom Atrium Fori in das Marktgebäude führen, eine Statue Trajans, die ihn in je unterschiedlichem Tätigkeitsbereich zeigte – vermutlich als Feldherr, als Magistrat und als Pontifex381. Diese Annahme wird durch die auf den drei Statuenbasen jeweils angebrachte Inschrift gestützt; Senat und Volk von Rom widmen sie [i]mp. Caesari divi Nervae f. Nervae Traiano Augusto … optime de re publica merito domi forisque382. Für Plinius – wohl kaum anders als für die Dedikanten der genannten Statuen – zeigte sich gerade in der Bereitschaft Trajans, seine Machtposition in eine Vielzahl von exemplarischen Rollen zu differenzieren, ein bedeutsamer Unterschied zu seinen Vorgängern in der Herrschaft; hätten diese doch gefürchtet, bei einem Verhalten wie ein Senator zwangsläufig aufzuhören, auch Kaiser zu sein383. Trajan aber gelang es augenscheinlich, durch seinen Repräsentationsstil – als solchen weist Plinius das Auftreten des Kaisers allein schon durch die Theatermetaphern, insb. agere (s.o.), aus – für die Angehörigen der Oberschicht Roms Identifikationsmöglichkeiten zu eröffnen. Als Vertreter des Senats konnte Plinius daher über Trajan sagen, er sei unus ex nobis, ‚einer von uns‘384. Als Leitfigur, die zur Identifikation einlädt, erscheint der Princeps dann auch in einer ganzen

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Des weiteren Plin., Paneg. 71,1. 3: princeps aequatus candidatis; 2,8. Vgl. Plin., Paneg. 10,3; 13,3; 20,4, insb. 19,3: itaque perinde summis atque infimis carus, sic imperatorem commilitonemque miscueras. Dazu R. REES, To Be and Not to Be, 154–156. 380 Plin., Paneg. 83 f. 381 P. ZANKER, Das Trajansforum in Rom, AA 1970, 499–544, 521 m. Anm. 71. Vgl. nun auch J. PACKER, The Forum of Trajan in Rome. A Study of the Monuments, Berkeley/Los Angeles 1997; G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 344. 382 CIL VI 959 = H. DESSAU, ILS 292; vgl. auch R. SCHEIPER, Bildpropaganda, 150. 383 Plin., Paneg. 63,6: Haec persuasio superbissimis dominis erat, ut sibi viderentur principes esse desinere, si quid facerent tamquam senatores. 384 Plin., Paneg. 2,4; 63,2. 379

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

Reihe von Belegstellen im Panegyricus385. Diese Identifikationsnähe des Kaisers beruht bei Plinius nicht allein auf seinen unterschiedlichen Rollen, in denen er den Verhaltenskodex der ihn jeweils umgebenden Gruppe aufnimmt und sich so denselben Bürden und Beschränkungen unterwirft wie alle anderen auch. Sie basiert mehr noch auf einem Verständnis des Principats als organische Weiterentwicklung der bestehenden Institutionen. Der Unterschied zwischen dem Princeps und den übrigen Bürgern ist daher nur graduell. Obwohl Träger der maiestas, wird er von der übrigen römischen civitas nicht kategorial abgesetzt. Plinius stützt dies mit zwei grundlegenden Aussagen ab: Die erste wird aus der Auseinandersetzung mit dem dynastischen Gedanken entwickelt und kann dabei auf das jeweils unrühmliche Ende sowohl des julisch-claudischen als auch des flavischen Hauses verweisen. Trajan wurde zum Kaiser durch eine Adoption, die in der offiziellen Lesart nur den vorgängigen Willen der Götter vollzog. Nerva als Instrument dieses göttlichen Willens habe dabei keine anderen Kriterien als die der charakterlichen und militärischen Qualifikation zum Herrscheramt gelten lassen: Imperaturus omnibus eligi debet ex omnibus. ... superbum istud et regium, nisi adoptes eum quem constet imperaturum fuisse, etiamsi non adoptasses386. Da demnach grundsätzlich jeder freie römische Bürger bei entsprechender Eignung zum Princeps werden konnte – in der historischen Realität sollte es aber bekanntlich bis in das dritte Jahrhundert dauern, daß jemand anderes als ein Mitglied der senatorischen Familien auf den Thron gelangte387 – war es dem Lobredner möglich, als zweite Prämisse zu formulieren, den Kaiser unterscheide von den übrigen Bürgern nichts als sein überlegener Charakter: par omnibus et hoc tantum ceteris maior quod melior388. Dies schlägt sich auch in dem nieder, was Plinius als ius principis, als Vorrecht des Kaisers, bezeichnet und was global dessen Handlungsrahmen angibt; der Kaiser tue als Princeps nur das, was alle anderen auch zu tun beabsichtigen und für richtig halten, dies aber als erster (primus fecit quod facturi omnes erant, hier bezogen auf Nervas Entscheidung für Trajan als seinen Nachfolger)389. Auf diese Weise wird der Princeps zu der entscheidenden, gleichsam emblematischen Figur, in der sich alle Bürger und somit der Staat selbst aufgehoben finden, der stellvertretend für alle handelt

385 Plin., Paneg. 13,3; 15,4; 20,4; 24,4; 44,1–7; 45; 46,5; 59,5; 71,3. Vgl. grundsätzlich J. BÉRANGER, Recherches, 150–152. 386 Plin., Paneg. 7,6. Zur ‚Elektionstheorie‘ D. TIMPE, Untersuchungen zur Kontinuität des frühen Prinzipats, Historia ES 5, Wiesbaden 1962, insb. 76. 387 R.J.A. TALBERT, Senate, 164. 388 Plin., Paneg. 21,4; vgl. auch 19,2; 24,4; 43,2. 389 Plin., Paneg. 10,2.

Kapitel eins: Der Panegyricus des Plinius

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und mit dem das Schicksal aller steht oder fällt390. Ähnliches scheint auch der Titel pater patriae, den Plinius zuweilen als parens publicus umschreibt, zu meinen. Plinius leitet diese Benennung nämlich aus der erwiesenen Schutzfunktion der politischen und militärischen Führungspersönlichkeit ab391: Der Princeps übt über die res publica gleichsam eine patria potestas aus. So werden die häusliche Gewalt des Familienoberhauptes und die Macht des ersten Mannes im Staat in einem symbolischen Universum überblendet392. Nach dem Vorbild Trajans soll das Leben aller anderen sich formen393, so daß seine Maximen und Taten zu einer ständigen censura werden394. Wieder wird hier implizit Trajan von Domitian abgesetzt, was dem zeitgenössischen Leser kaum entgangen sein dürfte: Trajan führte bewußt Domitians exaltierte censura perpetua offiziell nicht fort395 – Plinius will ihn aber offenbar auch in dieser Hinsicht nicht hinter dem Vorgänger zurückfallen sehen: Nicht die Benennung, sondern die tatsächlich vorbildliche Lebensführung zeichnet Trajan aus und verleiht ihm somit die wahre Funktion, wenn auch nicht den Titel des Zensor396. 390

Plin., Paneg. 72,1: omnia quae facis quaeque facies prospere cedant tibi rei publicae nobis, vel si brevius sit optandum, ut uni tibi in quo et res publica et nos sumus. 391 Plin., Paneg. 21; 26,3; 67,1; 87,1; vgl. 10,6; 53,1 und Plin., Epist. VIII 6,10 (Anrede Neros durch den Senat!). Zur ursprünglichen Bedeutung des Titels und zum folgenden M. STROTHMANN, Art. Pater patriae, DNP 9, 2000, 396, u. DIES., Augustus – Vater der res publica. Zur Funktion der drei Begriffe restitutio – saeculum– pater patriae im augusteischen Principat, Stuttgart 2000, 73–80. Vgl. S.M. BRAUND, Praise and Protreptic, 62 f. 392 Der Gedanke findet sich ausformuliert bei Seneca, Clem. I 14,2: patrem quidem patriae adpellavimus, ut sciret datam sibi potestatem patriam. Vgl. Plin., Paneg. 21,3 f.: nec publicae pietatis intererat quid vocarere, nisi quod ingrata sibi videbatur, si te imperatorem potius vocaret et Caesarem, cum patrem experiretur. ... ut cum civibus tuis quasi cum liberis parens vivis! Cassius Dio (LIII 18,3) führt die Auslegung Senecas fort, sieht aber als Ursprung des Titels eher eine paränetische Absicht als eine Verleihung zusätzlicher Autorität an den Herrscher. Vgl. A. ALFÖLDI, Vater des Vaterlandes, insb. 41–46. 80–101. Zur Vorliebe der lateinischen Panegyrik, die Position des Kaisers gegenüber dem Volk bzw. gegenüber eventuellen Mitregenten oder Vorgängern in Termini der Verwandtschaftsbeziehungen zu fassen, vgl. W.S. MAGUINESS, Some Methods of the Latin Panegyrists, Hermathena 47, 1932, 42–61, hier 59 f. Insbesondere die Umschreibung des Herrschers als Vater seines Volkes ist ein Topos der Epideiktik und der hellenistischen  -Literatur, vgl. Dion Chrys., Or. 1,22 (dazu noch die auf Homer zurückgehende Metapher des Herrschers als Hirte seines Volkes: Or. 4,44): J. MESK, Quellenanalyse, 80, mit Verweis auf Xen., Ages. 7,3: 2  " 3 &#  ( 4 # 5  - " 6  & . 393 Plin., Paneg. 45,4–6; 82,3. 394 Plin., Paneg. 45,6. 395 K.H. W ATERS, Traianus Domitiani Continuator, 393. Vgl. U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 20 f. 396 G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 233 f., interpretiert hingegen die Passage seinem Paradigma des „affirmativen Forderns“ entsprechend dahingehend, Plini-

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a) Nusquam ut deo Deutlich ist es die Darstellung Trajans als princeps civilis, die den Grundton des Panegyricus angibt. Plinius leitet dieses Motiv bereits im Exordium seiner Rede ein, und zwar einmal mehr im Kontext der Unterscheidung ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Kaiser (bzw. principes versus domini oder tyranni). Er nimmt seinen Ausgangspunkt von den unter Domitian gebrauchten Formeln der Kaiserhuldigung als deus oder numen397. Für die Gegenwart seien diese Begriffe nicht mehr angemessen und ihr Gebrauch nicht mehr erzwungen, weil das Wesen der Herrschaft sich geändert habe: An die Stelle der Tyrannis ist die Herrschaft des Bürgers und an die Stelle des dominus der Vater der Bürgerschaft getreten: Nusquam ut deo, nusquam ut numini blandiamur: non enim de tyranno sed de cive, non de domino sed de parente loquimur398. Schmeichelei gegenüber dem Herrscher wird hier vor allem als Rede von der Göttlichkeit des Kaisers verstanden; in der Tat meinen die Autoren des ausgehenden ersten Jahrhunderts mit adulatio und verwandten Begriffen vor allem die Ansprache des Princeps als Gott oder göttliches Wesen; die zentrale Stelle findet sich bei Martial399. Plinius greift diese Kritik an der nun vergangenen Zeit wenig später wieder auf, sucht den behaupteten Wandel unter Verweis auf Trajans Beinamen optimus zu plausibilisieren und fragt: quid tam civile tam senatorium quam illud additum a nobis Optimi cognomen?400. Die Anrede stellt ihn in der Hierarchie der Senatoren an die Spitze, transzendiert sie aber nicht. Der Redner gibt hiermit für das folgende eine Interpretationsanleitung, die es ihm erlaubt, entgegen der vorstehenden Ankündigung, nicht mehr vom Kaiser als Gott zu reden, dennoch genau auf diese Gedankenfigur wiederholt affirmierend anzuspielen – wenn auch in der abgeschwächten Form des dis simillimus princeps401 oder des Kaisers als Stellvertreter des höch-

us artikuliere hier den dringenden Wunsch des Senats, Trajan möge die censura perpetua auch in Zukunft nicht annehmen. 397 Vgl. Suet., Dom. 13; Mart. V 8,1; VII 34,8; X 72,8. Vgl. A.N. SHERWIN-W HITE, The Letters of Pliny, 557 f.; R. REES, To Be and Not to Be, 151, für die Anrede Trajans als dominus in den Briefen des Plinius. 398 Plin., Paneg. 2,3. 399 Mart. X 72; K. SCOTT, The Elder and Younger Pliny on Emperor Worship, TAPhA 63, 1932, 156–165, insb. 156–159. Das heißt wiederum nicht, daß Schmeicheleien gegenüber dem Princeps im modernen Sinne nach dem Ende Domitians verschwunden seien; vgl. Mart. VIII 70; IX 26; X 6. 7. 34. 72; XI 4. 5. 7. W. HOFMANN, Martial und Domitian, Philologus 127, 1983, 238–246. 400 Plin., Paneg. 2,7, vgl. 80 u. 88 zum Iuppiter-Bezug. 401 Plin., Paneg. 1,4; vgl. 7,5, hier verbunden mit der Bezeichung als optimus princeps: quem optimum, quem dis simillimum inveneris. Die Formel selbst ist bereits in der Republik gebräuchlich: Cic., Marc. 8 (von Caesar); vgl. auch Cic., Lig. 38. dazu D.S. LE-

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sten Gottes auf Erden402. Plinius betont freilich bei jeder von ihm suggerierten Annäherung des Kaisers an die göttliche Sphäre, daß dieser sich eine kultische Verehrung – und sei es auch die seines genius – verbitte403. Trajan funktioniert in der Interpretation durch Plinius sogar die alljährliche votorum nuncupatio zu einem Göttergericht über seine Amtsführung um404. Andererseits aber gebietet er über die Fähigkeiten der Götter, die Schnelligkeit seiner Bewegungen übersteigt das menschliche Maß, er hört alles, sieht alles, hilft überall405, allein durch seine allgegenwärtige Präsenz schwinden die Gegner des römischen Volkes406, und Naturkatastrophen ereignen sich nur, um dem Lob auf den Kaiser den nötigen Stoff zu bieten407. So bewegt sich Plinius beständig zwischen zwei Polen des Diskurses über den Herrscher, die für die römische Kaiserzeit und ihr Konglomerat aus republikanischen und hellenistisch-monarchischen Denkweisen kennzeichnend sind: auf der einen Seite die Einordnung des Princeps in die römische Nobilität, innerhalb derer er nur als ein primus inter pares erscheinen sollte, welcher seine Machtmöglichkeiten voller Zurückhaltung (moderatio, bei Plinius auch verecundia, Sinn für das rechte Maß408) selbst beschränkt; VENE,

God and Man in the Classical Latin Panegyric, PCPS 43, 1997, 66–103, insb. 68–

77. 402 Insb. Plin., Paneg. 80; hinzu kommt zudem der Gedanke der Wahl Trajans durch die Götter als imperator, quem di fecissent (5,2; vgl. 8 f., v.a. 9,2: imperatorem non ab exercitus factum; 10,4; 16,5: die Natur fügt sich Trajan). Vgl. auch SH. BARTSCH, Actors in the Audience, 162–164; R. REES; To Be and Not to Be, 162–164. 403 Plin., Paneg. 52. Vgl. zur recusatio honorum divinorum M. CLAUSS , Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, München 1999, 100; U. HUTTNER, Recusatio Imperii. Ein politisches Ritual zwischen Ethik und Taktik, Spudasmata 93, Hildesheim/Zürich/New York 2004, 433 f. 404 Plin., Paneg. 67,3–8, insb. 6: omnibusque annis in consilium de te deos mittis, exigisque ut sententiam suam mutent, si talis esse desieris qualis electus es. Vgl. M. DURRY, Panégyrique, 239 f. Die laut Plinius Paneg. 67,4 von Trajan den Gelübden zugefügte Formel si bene rem publicam et ex utilitate omnium findet sich allerdings nicht in den inschriftlich überlieferten vota von 101 (CIL VI 2074 = H. DESSAU, ILS 5035 = E.M. SMALLWOOD, Documents, Nr. 1). Zu den vota allgemein vgl. W. EISENHUT, Art. Votum, RE Suppl. 14, 1974, 964–973, insb. 969 f.; nun auch J. STÄCKER, Princeps und miles, 345–350. 405 Plin., Paneg. 80,3: O vere principis atque etiam dei curas, … postremo velocissimi sideris more omnia invisere omnia audire, et undecumque invocatum statim velut adesse et adsistere! Die Passage geht auf eine homerische Formel für Helios zurück (Il. III 277; Od. XI 109; XII 323). Vgl. Sen., Clem. I 3,3; 8,4. Der aktuelle Kontext bei Plinius ist die Tätigkeit des Kaisers als Richter, die hier als Ausfluß der Stellvertreterrolle Trajans für Iuppiter imaginiert wird. Zur velocitas vgl. auch 30,5. 406 Plin., Paneg. 16,3: ut vincendus nemo fuerit; 56,6–8. 407 Plin., Paneg. 31,1. 408 moderatio: Plin., Paneg. 3,2; 9,1; 10,3; 16,1–3; 17,4; 23,6; 39,4; 54,5; 55,5; 56,3; 57,5; 58,2; 60,5; 63,8; 78,2; 84,5; verecundia: 55,4; 58,2; 59,2; 60,4; 83,8; vgl. 78,4 (Übertragung auf collegae); s. auch 2,8; 24,1; 47,6; 73,4; 76,8 (pudor). Dazu: R. STAHL,

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und auf der anderen Seite seine Verehrung als Gott oder Halbgott, dem sich Mensch und Natur fügen409. Die Rede des Plinius schwankt damit auf einem Grat zwischen der Präsentation des gegenwärtigen Kaisers als Identifikationsfigur für den bonus civis und seiner vorzeitigen Überhöhung und Mythologisierung410, wenn nicht gar seiner Apotheose. Sie reproduziert zugleich die Spannbreite, die auch der römische Kaiserkult de facto abdeckte, indem er für unterschiedliche Einstellungen zur Frage nach der Göttlichkeit, Gottähnlichkeit oder göttlicher Protektion des Herrschers Ausdrucksmöglichkeiten bot411. Damit stellte Plinius sich in eine breitere Entwicklung, die nicht auf die Rede über den Kaiser beschränkt blieb, sondern auch in Ritualen zum Ausdruck kam. Er löste zugleich aber die Aufgabe, die inkriminierte Anrede Domitians als deus et dominus zwar nicht auf Trajan zu übertragen, aber dennoch nicht im Herrscherlob auf den optimus princeps hinter den nunmehr als adulatio klassifizierten Preisungen des letzten Flaviers zurückzubleiben. Mit der Spannung von civilitas und Gottähnlichkeit oder sogar Göttlichkeit verbindet der Panegyricus des Plinius geschickt den ‚rationalisierenden‘ Diskurs der römischen Oberschichten, insbesondere der Senatsaristokratie, mit der auf einer breiteren Basis stehenden und vor allem in der Münzprägung propagierten ‚charismatischen‘ Legitimation des Principats412. Dient die Betonung der Leutseligkeit Trajans der Kontrolle kaiserlichen Verhaltens, so trägt die Herausstellung metaphysischer Anteile seiner Herrschaft zur Absicherung des soziopolitischen Systems an sich (und damit auch zur Legitimation senatorischer Ansprüche) bei. Plinius gelingt es, die beiden Stränge auch inhaltlich immer wieder miteinander zu verknüpfen, so etwa wenn er den Vergleich seines Kaisers mit Iuppiter zum einen in den Kontext kaiserlicher Rechtsprechung (clementia) stellt, die der Gerechtigkeit der Götter entspreche, und zum anderen auf die Ähnlichkeit der Titulatur der beiden Mächte (optimus princeps – Iuppiter OptiVerecundia und verwandte politisch-moralische Begriffe in der Zeit der ausgehenden Republik, Diss. Freiburg i. Brsg. 1968, 63–96; E. VAUBEL, Pudor, Verecundia, Reverentia. Untersuchungen zur Psychologie von Scham und Ehrfurcht bei den Römern bis Augustin, Diss. Münster 1969, insb. 238 f. 409 S. Plin., Paneg. 16. 410 Plin., Paneg. 15,4: veniet ergo tempus quo posteri visere visendumque tradere minoribus suis gestient, quis sudores tuos hauserit campus ..., quod denique tectum magnus hospes impleveris, ut tunc ipsi tibi ingentium ducum sacra vestigia isdem in locis monstrabantur. 411 Vgl. S.R.F. PRICE, Between Man and God: Sacrifice in the Roman Imperial Cult, JRS 70, 1980, 28–43. 412 Ich folge hier den exzellenten Beobachtungen von A. W ALLACE-HADRILL, The Emperor and His Virtues, Historia 30, 1981, 298–323, insb. 315–319; vgl. S.M. Braund, Praise and Protreptic, 63–66; K.H. WATERS, Traianus Domitiani Continuator, 395 f.

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mus Maximus) hinweist (c. 80 und 88,8)413. Noch eindeutiger als in der Festrede wurde diese Angleichung von Kaiser und Staatsgott allerdings in ‚inoffiziellen‘, von Gemeindeverwaltungen verantworteten Inschriften vorgenommen, in denen Trajan geradezu als PRINCEPS OPTIMUS MAXIMUS figuriert414. Aber selbst in der eher informellen Kommunikation zwischen Plinius und dem Kaiser wurde beständig auf Sprache und Rituale des Kaiserkultes zurückgegriffen. Dies zeigt die Korrespondenz der beiden ebenso wie die Bitte, eine Statue Trajans in einem Tempel in Tifernum aufstellen zu dürfen, den der Senator finanziert hatte415. Auch hier zeigt sich, wie wenig es auf die Fakten an sich ankam – und wie sehr auf ihre „Freiwilligkeit“ und Situations- beziehungsweise Rollenadäquanz. b) Recusatio Um die Akzeptanz der Ehrungen in der Praxis und ihre Ablehnung in der Theorie miteinander zu versöhnen, weist Plinius im Panegyricus wiederholt auf unterschiedliche Formen der recusatio hin, mit der Trajan auf die ihm angetragenen Ehren anfänglich oder gar kategorisch antwortete416: Er habe sich zunächst dem Herrscheramt verweigert417, sodann dem Titel des pater patriae, bis er ihn auch tatsächlich verdient zu haben glaubte418; er 413 S.M. BRAUND, Praise and Protreptic, 62 f.; G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 242. 414 CIL II 2010; II 2054 = H. DESSAU, ILS 304; CIL IX 1455 = H. DESSAU, ILS 6509; CIL XI 1147 = H. DESSAU, ILS 6675; CIL VIII 7967, dazu R. FREI-STOLBA, Inoffizielle Kaisertitulaturen, 28 f.; M. FELL, Optimus Princeps?, 53 f. 56 f. 59. 68 f. 415 Plin., Epist. X 8 u. 9; zur Sprache: Epist. X 59 u. 83; K. SCOTT, Pliny on Emperor Worship, 164. 416 Zum folgenden S.M. BRAUND, Praise and Protreptic, 61 f. Zur prinzipiellen Bedeutung der recusatio: J. BÉRANGER, Recherches, 137–169. Vgl. auch U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 12–15. 19 f. Häfele diskutiert die recusatio auf zwei Ebenen, zum einen anhand der Frage einer ‚persönlichen Führerstellung‘ vs. der Vorstellung eines ‚Amtes, das seinen Inhaber trug‘, zum anderen in bezug auf das Verhältnis von dynastischer Sukzession und Herrschaftsübergang auf einen homo novus. Mit diesen relativ starren Kategorien ist dem Problem nicht beizukommen. Plinius und Trajan bewegen sich in einer Grauzone von Institution und persönlichem Charisma, Wahl des Besten und Wunsch nach dynastischer Kontinuität. Die Frage der ‚Rechtfertigung‘ des Herrschers bezieht sich innerhalb des Panegyricus und der ihn tragenden politisch-sozialen Vorstellungswelt in erster Linie auf das Verhältnis von Princeps und Senat und den Bruch mit der domitianischen Praxis. Ich interpretiere den Panegyricus als Versuch, angesichts eines fortschreitenden Institutionalisierungsprozesses des Principats die Funktion und den Stellenwert zu bestimmen, die den republikanischen Formen politischer Organisation und Interaktion künftig zukommen sollten und konnten. Vgl. D. TIMPE, Untersuchungen zur Kontinuität des frühen Prinzipats, insb. 122–127. 417 Hierzu U. HUTTNER, Recusatio Imperii, 225–231. 418 Die recusatio war auch hier nicht ohne Vorbilder: Suet., Tib. 26,2; Nero 8; Cass. Dio LXIX 3,2 (Caligula); vgl. Hist. Aug., Hadr. 5,4; J. BÉRANGER, Recherches, 276; ge-

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sträubte sich gegen ihm angetragene Konsulate und akzeptierte die Iteration dieser Magistratur nur in Verbindung mit Senatoren als Kollegen, die ebenfalls bereits mehrfach Konsuln gewesen waren419. So hartnäckig sei seine Ablehnung der Konsul-Würden gewesen, daß fast der Verdacht aufgekommen sei, er hielte sie für seiner nicht würdig. Doch sei der wahre Grund in seiner übergroßen Bescheidenheit und dem Respekt vor dem Senat zu suchen420. Damit ist die doppelte Funktion dieser recusationes in der plinianischen Konzeption klar: Sie dienen einerseits der Unterscheidung des moderaten princeps vom titelsüchtigen dominus – in der Tat brachte es Trajan bei einer längeren Regierungszeit auf weniger Konsulate (sechs, davon zwei noch unter Nerva; Domitian ist 17mal Konsul gewesen421, davon siebenmal unter den ersten beiden Flaviern)422 und deutlich weniger Imperatorakklamationen (13 gegenüber 23) als sein Vorgänger423 –, ohne daß aus der geringeren Zahl von Ämtern und Titeln auf geringeres Verdienst geschlossen werden dürfte. Andererseits erhalten die demonstrativen Akte der Zurückweisung eine Fiktion aufrecht: nämlich die simulatio liberae civitatis, die Plinius von seinem Princeps im mindesten verlangt (s.o.). Er unterschlägt bei seiner Gegenüberstellung der beiden Kaiser aber gewichtige, seine Behauptungen stark relativierende Fakten: So hatte der letzte Flavier im Unterschied zu seinen Vorgängern eine Politik verfolgt, die das ordentliche Konsulat dezidiert gerade für Senatoren, die außerhalb der Herrscherfamilie standen, öffnete424. K.H. Waters geht vor diesem Hintergrund nerell: A. PABST, Comtia imperii, 52 Anm. 79; A. ALFÖLDI, Vater des Vaterlandes, 98 f.; U. HUTTNER, Recusatio Imperii, 428 f. 419 Plin., Paneg. 5,5 f. (Herrschaft); 21,1 (pater patriae); 52 (kultische Verehrung); 54,3. 6 f.; 55,4 f. (honores); 56,3; 57; 58,2; 59,1; 60,1 (drittes Konsulat); 84,6. 8 (recusationes der Gattin und der Schwester Trajans). 420 Plin., Paneg. 58f. (mit Kritik an Domitian, qui continuis consulatibus fecerat longum quendam et sine discrimine annum: 58,1). Vgl. M. DURRY, Panégyrique, 173 z.St. G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 234–236, interpretiert die Passage zum einen als implizite Kritik an einer zu hartnäckigen recusatio Trajans, zum anderen als Signal, der Senat sei grundsätzlich mit einer seriellen Übernahme des Konsulats durch den Princeps einverstanden. Ich halte die Ausführungen des Plinius für komplexer: zwar darf (mit Seelentag) die Zurückweisung eines Amtes nicht zu obstinat ausfallen, weil dies als Mißachtung sowohl der Magistratur als auch des offerierenden Senats ausgelegt werden könnte; andererseits birgt eine Aneinanderreihung der Konsulate für den Kaiser die Gefahr, ohne Not wichtiges Spielkapital aus der Hand zu geben – es war entscheidend, daß selbst für den Princeps das Konsulat noch immer eine Position von besonderer Würde darstellte (s.u.). 421 Vgl. auch Suet., Dom. 13. 422 Zu den Unterschieden in der Handhabung der Konsulatsfrage zwischen den Flaviern und ihrem Nachfolger Trajan: J. BENNETT, Trajan, 74. 107. 423 Vgl. M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 104. 106. 424 Dazu B.W. JONES, Domitian’s Attitude to the Senate, AJPh 94, 1973, 79–91, insb. 80–83.

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soweit, einen Unterschied in der Handhabung von Amt und Titulatur zwischen den beiden Kaisern vor allem darin zu erkennen, daß Trajan sich anders allein durch „a certain sense of timing“ von seinem Vorgänger abgehoben habe425. In der Tat übernahm Trajan das Konsulat offenbar nur sehr gezielt anläßlich entscheidender Weichenstellungen in seinem Principat426: so im Jahr 100 in Verbindung mit seinem Herrschaftsantritt in Rom, 101 in Vorbereitung, 103 zu Abschluß des ersten Dakerkrieges, 112 im Vorfeld des Partherzugs427. Doch hatte er (ebenso wie sein Adoptivvater Nerva) nicht abgelehnt, noch unter Domitian als consul ordinarius zu fungieren (91 bzw. 90); ein delikater Umstand, den Plinius hier geflissentlich übergeht. Der ostentative Verzicht auf eine regelmäßige Bekleidung der höchsten Magistratur hatte aber neben der Signalwirkung an den Senatorenstand noch eine quasi systemerhaltende Funktion. Denn die inszenierte Zurückweisung angetragener Ehrungen und Ämter vermochte den Wert dieser honores als symbolisches Kapital für die Herrschaftslegitimation zu einer Zeit zu sichern, in der aus ihnen schon lange keine politischen Macht- und Führungsansprüche mehr abgeleitet werden konnten428. Der Verlust an tatsächlichem Einfluß ergab sich allein schon aus der wachsenden Zahl von Suffektkonsulaten und der damit einhergehenden drastischen Verkürzung der Amtszeit429. Durch die recusatio wurde aber das Konsulat davor bewahrt, vollständig im Principat aufzugehen und ihm gleichsam subsumiert 425

K.H. WATERS, Traianus Domitiani Continuator, 396. U. HUTTNER, Recusatio Imperii, insb. 468, sieht generell in der überwundenen recusatio auch eine Erklärung des Kaisers, aus Verantwortungsbewußtsein – rei publicae causa – die angetragene Aufgabe zu übernehmen. Vgl. C. ANDO, Imperial Ideology, 147. Eine ähnliche Aussageabsicht könnte auch im Falle Trajans vorliegen. 427 J. BENNETT, Trajan, 107. Trajan ging in der Titulatur grundsätzlich neue Wege: In Absetzung von seinen Vorgängern standen die Siegerbeinamen ganz im Vordergrund, auf die Durchzählung der tribunicia potestas sowie der Imperatorakklamationen wurde hingegen in der Regel verzichtet. Der Princeps balancierte diese starke Betonung des militärischen Aspektes aus, indem er den Siegerbeinamen als Kernelementen die Bausteine der Konsulzählung, des Optimus-Titels, schließlich auch des PROCOS hinzufügte: P. KNEIßL, Die Siegestitulatur der römischen Kaiser. Untersuchungen zu den Siegerbeinamen des ersten und zweiten Jahrhunderts, Hypomnemata 23, Göttingen 1969, 58–89, insb. 84–89. 428 Vgl. Epikt., Diss. IV 10,20 f.; F. MILLAR, Emperor, 307. In der Zeit des Plinius gab es weiterhin eine lebhafte Konkurrenz um die republikanischen Ämter. Die Zahl der Bewerber hat die freien Plätze offenbar des öfteren überstiegen: vgl. Plin., Epist. II 9,22; Tac., Ann. XIV 28,1; Suet., Vesp. 2,3; B.M. LEVICK, Imperial Control, 224 f. 429 Plinius selbst macht die potentielle Aushöhlung des Konsulats unter dem Principat sehr deutlich, hier natürlich positiv von Trajan gesprochen: Paneg. 93,1 f.: super omnia tamen praedicandum videtur, quod pateris consules esse, quos fecisti ... ac, si quod forte ex consulatus fastigio fuerit deminutum, nostra haec erit culpa, non saeculi, licet enim quantum ad principem, licet tales consules agere, quales ante principes erant. Vgl. 76,9; U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 58 f. 426

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

zu werden (und so etwa in eine lex de imperio einzufließen). Doch erst die Ergänzung der recusatio durch eine entsprechende magistratische Rollenperformanz, wenn die Geste der Zurückweisung schließlich doch in einer Übernahme des Amtes mündete, fügte eine entscheidende Komponente hinzu. Plinius hebt es entsprechend als besonders erwähnenswert hervor, daß Trajan wenigstens für einige Tage die Agenda eines Konsuls auf sich nahm430. Der Princeps dokumentierte so Respekt vor dem Amt und seiner Tradition. Trajan, der Senat und die Comitien führten konsequent eine Art ausgreifendes Staatsschauspiel auf (longum carmen c. 56–71, s. auch oben) und orientierten sich dabei ostentativ an den Verfahrensregeln, die sich seit der Vertreibung der Könige um das Konsulat herum entwickelt hatten. Was die Anwesenden (jedenfalls in der Darstellung des Panegyricus) wirklich zu verwundern schien, war die Ernsthaftigkeit, die Trajan an den Tag legte – als wäre er der einzige von allen Beteiligten, der nicht wüßte, daß es sich nur um eine Inszenierung handelte. So verstanden es Senatoren und Princeps, die alten republikanischen Rituale und Zeremonien auch in einer faktischen Monarchie vor einem Verlust an Zeichenhaftigkeit und Auzssagerkraft zu bewahren. Entscheidend war auch hier die Umsetzung von „Ideologie“ in Praxis, in Gesten, Bewegungen und Blicke. Der Kaiser erwies damit dem Statusinteresse seiner Standesgenossen die nötige Reverenz, die ihr Ansehen auch bei ihren Klienten, gegenüber der plebs urbana festigte. Und er stellte sicher, daß die Verleihung von Konsulaten auch weiterhin dem Princeps als Mittel zur Disziplinierung und Differenzierung innerhalb der Reichsaristokratie zur Verfügung stand. Denn auch ein honos bedurfte der Pflege. Nur wenn Trajan die Balance zwischen einer regelrechten Usurpation des Konsulats und übertriebener Zurückweisung des Amtes wahrte, wurde er dieser Anforderung gerecht. c) Plinius und der Senat Plinius machte sich trotz allem keine Illusionen über die (real)politischen Möglichkeiten der Senatoren oder die Stellung des Princeps, selbst dann nicht, wenn dieser ein optimus war. Wie sein Freund Tacitus431 bekannte er freimütig, wenn auch nicht ohne Wehmut: sunt quidem cuncta sub unius arbitrio432. Für den Senat blieb nicht mehr viel zu tun übrig, das der Rede 430

Vgl. Plin., Paneg. 59,2. Tac., Dial. 41,4: quid enim opus est longis in senatu sententiis, cum optimi cito consentiant? quid multis apud populum contionibus, cum de re publica non imperiti et multi deliberent, sed sapientissimus et unus?; vgl. Ann. I 4,1; Hist. I 1,6. 432 Plin., Epist. III 20,12, vgl. IV 25,5; Paneg. 72,1. Dazu auch R.J.A. TALBERT, Senate, 172; U. HÄFELE, Interpretationen zum Panegyricus des jüngeren Plinius, 32 f., mit weiteren Belegen. 431

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wert und dem politischen Ehrverständnis angemessen war433. Um so weniger Gelegenheit bot sich für ihn und seine Standesgenossen, de re publica zu sprechen; sei sie doch einmal da, so dürfe man sie nicht verstreichen lassen. Letztlich aber hänge dies alles vom Kaiser ab: quidam tamen salubri temperamento ad nos quoque velut rivi ex illo benignissimo fonte decurrunt434. Licht auf die Stellung des Senats wirft dabei insbesondere ein Brief, den Plinius wohl im Jahr 104435 an Maesius Maximus sandte und in dem der Konsular von einer Neuerung in der Geschäftsordnung des Senats berichtet. Bei den anstehenden Beamtenwahlen hätten alle tabellae verlangt, um ihr Votum abzugeben. Die bisherige Praxis sei unhaltbar geworden: ausufernde Reden, Unruhe, Geschrei, Grüppchenbildung waren ein immer größeres Ärgernis; alles in allem ließen die Angehörigen des ersten Standes die geforderte gravitas censoria alter Zeiten vermissen; mit dem Ergebnis, daß sich nicht die würdigen Kanndidaten (digni) durchsetzten, sondern diejenigen mit den besseren Beziehungen (gratiosi). Es herrschte ein regelrechter favor immodicus. Die mittelfristigen Erfolgschancen, diesem mit der Neuerung einer geheimen Abstimmung entgehen zu können, beurteilte Plinius recht skeptisch: Schließlich werde das neue Verfahren die Schamlosigkeit (impudentia) mancher nur noch befördern, da sie nun nicht mehr der direkten Kontrolle der übrigen patres unterlagen436. Doch daß der eine wie der andere Wahlmodus überhaupt die „würdigeren“ Amtsbewerber vor den Protégés einflußreicher Leute ans Ziel bringen sollte, erscheint entgegen der Beteuerung des Plinius als äußerst unwahrscheinlich. Der Sinn der geheimen Abstimmung kann jedenfalls vorerst nur der gewesen sein, Senatoren mit sich widersprechenden Verpflichtungen davor zu bewahren, sich vor aller Augen festlegen – und dabei einen „Freund“ verärgern zu müssen. Plinius freilich verschleiert dieses Motiv und erklärt den gesamten Komplex zu einer Frage des senatorischen Anstands (oder was man dafür hielt). Nicht von ungefähr ging der Blick dabei zurück auf die von einigen senes noch erinnerten Zeiten: Dort sei noch jene würdevolle Haltung zu finden gewesen, die einem Senator gebührte und 433

Plin., Epist. II 11,1: si quid acti est in senatu dignum ordine illo. Plin., Epist. III 20,10–12. F. BEUTEL, Vergangenheit als Politik. Neue Aspekte im Werk des jüngeren Plinius, Studien zur Klassischen Philologie 121, Frankfurt a.M. u.a. 2000, 248, und M. LUDOLPH, Epistolographie und Selbstdarstellung: Untersuchungen zu den „Paradebriefen“ Plinius des Jüngeren, Class. Mon. 17, Tübingen 1997, 161 Anm. 194, erkennen hierin Kritik am Principat; zurückhaltend E. LEFÈVRE, Plinius’ Klage um die verlorengegangene Würde des Senats (3, 20; 4, 25), in: Plinius der Jüngere und seine Zeit, hg. v. L. Castagna/Dems., BzA 187, München/Leipzig 2003, 189–200, hier 194 Anm. 28. 435 A.N. SHERWIN-W HITE, Pliny, 260. 436 Plin., Epist. III 20,7–9. 434

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die aktuell bedroht erschien437. Bezeichnenderweise machte man sich als Lösungsstrategie nun aber nicht deren (vermeintliche) Praxis der knappen Vorstellungsreden, der ebenso knappen Empfehlungen oder Einwände und des stillen Zuhörens zueigen – dies hätte ja das tatsächliche Problem auch nicht lösen können. Was man statt eines geregelten Konfliktaustrags nunmehr tatsächlich anstrebte, war das Bild eines einmütigen Senats; was man fürchtete, waren dissoni clamores, mißtönendes Geschrei, und indecora confusio, würdeloses Durcheinander. In den Augen des Plinius und seiner Kollegen fehlte es also offenbar an Steuerungsmechanismen für senatorisches Verhalten sowie an Wegen, vorhandenen Dissens zu kanalisieren. Wahrscheinlich ein Jahr später438 setzte sich Plinius wiederum mit Maximus in Verbindung, und noch einmal thematisierte er die Wahlprozedur im Senat. Seine damaligen Befürchtungen hätten sich leider bestätigt: Als man die Stimmtäfelchen auswertete und die Voten der Reihe nach vorlas, sei man auf eine Reihe von Geschmacklosigkeiten gestoßen: multa iocularia atque etiam foeda dictu, in una vero pro candidatorum nominibus suffragatorum nomina inventa sunt439. Die Versammlung habe mit entsprechender Empörung reagiert – und dabei ihre Erwartung zum Ausdruck gebracht, der Princeps möge solche Verfehlungen angemessen ahnden: ‚7  0  8 9 : )‘440, cui multum cotidie vigiliarum, multum laboris adicit haec nostra iners et tamen effrenata petulantia441. Die Senatoren sahen sich demzufolge außerstande – oder stellten sich dieser Frage gar nicht – , derartige Normabweichungen durch eigene Sanktionen zu konterkarieren. Die Täter hätten sich ja nicht zu erkennen gegeben, womöglich sich gar unter die ‚schockierte‘ Mehrheit des Hauses gemischt und gleichermaßen die Frechheit dieser Schmierereien beklagt. Woher Plinius den Optimismus bezieht, Trajan werde gelingen, was der Senat nicht einmal mehr ernsthaft unternahm, nämlich einen angemessenen Geschäftsgang zu gewährleisten und mutwillige Provokateure zu strafen, bleibt unklar. Die eigene Aufgabe sieht er jedenfalls offenkundig durch den Protest-

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Nach E. LEFÈVRE, Plinius’ Klage, 192, muß unter dieser alten Zeit tatsächlich die Zeit der Republik verstanden werden: „Wahrscheinlich erzählen die Alten nicht Selbsterlebtes, sondern das, was sie von ihren Vätern und Großvätern über die Republik gehört haben.“ 438 So A.N. SHERWIN-W HITE, Pliny, 261; für einen kürzeren Abstand plädiert M. SCHULTZ, De Plinii epistolis quaestiones chronologicae, Berlin 1899, 4, vgl. E. LEFÈVRE, Plinius’ Klage, 196. 439 Plin., Epist. IV 25,1. 440 Vgl. Platon, Phaid. 95b, wo # für  8 9 : gebraucht wird. 441 Plin., Epist. IV 25,4.

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sturm erfüllt, der auf die Entdeckung dieses Mißbrauchs der Stimmtafeln unmittelbar folgte und an dem er sich kräftig beteiligt haben dürfte442. Die Aufregung in der Kurie war allerdings nur zu berechtigt, und es ging dabei nicht allein um das skurrile Treiben einiger Verirrter, die um jeden Preis witzig sein wollten. Ihr Verhalten dokumentierte viel mehr, daß diese Wahlen an politischem Gehalt verloren hatten und sich in der Tat das Verhältnis von dignitas und gratia bei der Auswahl zwischen den Kandidaten immer mehr zugunsten des letzteren Faktors verschob: Nichts Anderes bringt das „Versehen“ zum Ausdruck, statt des Namens des favorisierten Bewerbers denjenigen seines Gönners zu notieren443. Sollte wirklich die Verschleierung des favor immodicus Ziel der Änderung im Abstimmungsmodus gewesen sein, war man grandios gescheitert: Ausschlaggebend waren – das wurde hier offenkundig – nicht die Person des zukünftigen Amtsträgers und seine Qualitäten, für die sich seine suffragatores verbürgt hatten. Das Verfahren erschöpfte sich vielmehr darin, die Vorgaben bestimmter mächtiger Männer pflichtschuldig umzusetzen. Nun hatte allerdings auch Plinius nichts dagegen einzuwenden, wenn sein Einsatz für erfolgreiche Kandidaten bekannt wurde, gab dies doch Auskunft sowohl über sein sicheres Gespür für viri boni als auch über sein Ansehen innerhalb der Senatorenschaft und beim Kaiser selbst444. Jedoch blieb ihm bedeutsam, daß er für einen wahrhaft würdigen Mann gutsagte und dieser durch sein Auftreten das in ihn gesetzte Vertrauen bestätigte. Ohne die Fiktion, daß sich hier verdiente Männer für vielversprechende Jüngere einsetzten, mußte die Legitimationsbasis für das ganze Verfahren in Gefahr geraten: Nichts wäre verheerender für das Leitungsgremium Roms, als wenn der Eindruck entstünde, es würde sich nicht eine Leistungselite anhand von überprüfbaren Kriterien periodisch ergänzen445, sondern eine schmale Aristokratie nach Gutdünken unqualifizierte Nachrücker kooptieren. 442 Vgl. die Deutungen der Intention dieses Briefes durch F. BEUTEL, Vergangenheit als Politik, 245 (Mahnung an Standesgenossen), und E. LEFÈVRE, Plinius’ Klage, 199 m. Anm. 52 (Verdeutlichung des eigenen Standpunktes vor der Öffentlichkeit bei Resignation über Verhalten des Senats insgesamt). 443 E. LEFÈVRE, Plinius’ Klage, 196, gewichtet anders: „Boshaft ist es …, wenn dadurch zum Ausdruck gebracht werden soll, ein unfähiger Kandidat habe nur durch die entsprechende Protektion eine Chance, so daß er gebrandmarkt wird.“ Plinius geht es aber in diesem Brief nicht um die Konsequenzen für das Ansehen der einzelnen Kandidaten, sondern für den Senat insgesamt. Das Skandalon muß also auf einer anderen Ebene gesucht werden, als Lefèvre dies tut. 444 Vgl. Plin., Epist. I 17,2; VI 6,9: suscepi candidatum, et suscepisse me notum est; ego ambio, ego periclitor; in summa, si datur Nasoni, quod petit, illius honor, si negatur, mea repulsa est; vgl. II 9,1–3. 445 Plin., Epist. VI 6 zu seiner Unterstützung des Iulius Naso: petit cum multis, cum bonis, quos ut gloriosum, sic est difficile superare.

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Nicht weniger als das senatorische Selbstverständnis stand also auf dem Spiel; der alles entscheidende traditionelle Habitus drohte – vermeintlich oder tatsächlich – durch eine Haltung ironischer Distanz, durch falschverstandene urbanitas abgelöst zu werden. Die Basis wurde brüchig; Geißelungen eines devianten Geschmacks reichten nun nicht mehr hin – und so zeigen auch die ästhetisch-moralischen Kategorien, in denen die Empörung sich äußerte, daß nicht primär eine politische Angelegenheit verhandelt wurde, sondern der verbindliche Lebensstil des ordo in Frage gestellt wurde, eine letztlich viel weiterreichende Erschütterung. Was die normkonforme Mehrheit der Senatoren nicht dulden konnte, war die offene Infragestellung ihrer Verhaltensweisen und der diese unterlegenden Werte. Stabilisierung erhoffte man angesichts der Krise von außen: vom „Zorn“ des Princeps, der auf die mutwilligen Störer niedergehen möge. Andernfalls stand zu befürchten, daß ausgerechnet die unerkannten scurrae unter den Senatoren ihre um Gravität im Auftreten bemühten Kollegen als die eigentlichen Possenreißer entlarvten446. Plinius sah aber offenbar noch einen anderen Ausweg aus dem Dilemma als das strafende Eingreifen Trajans: An Titius Aristo447 wandte er sich brieflich mit der Bitte um eine Auskunft zum Staatsrecht, insbesondere zum ius senatorium448. Er wollte sich bei ihm in einer ähnlich gelagerten Frage zu Verfahrensweisen des Senats rückversichern; konkret ging es wieder um die Abstimmungsmodalitäten, dieses Mal hinsichtlich eines Strafverfahrens in der Kurie. Plinius war mit seiner Ansicht zur Art und Weise der Stimmzählung zwar unter den patres durchgedrungen, wollte seine Meinung aber nun von einem Dritten bestätigen lassen. Die Anfrage begründete er mit einer recht umständlichen, für den Historiker aber bedeutsamen Einleitung, in der er darlegte, wie neu hinzugekommene Senatoren früher die richtige Verhaltensweise im Hohen Haus erlernt hatten, wie also die Geschäftsordnung des consilium publicum üblicherweise tradiert worden sei. Schuldbewußt gesteht er ein, daß er als Mitglied der Versammlung über solche Dinge Bescheid wissen müßte – doch habe die Ge446 So bezeichnet Plinius in einem Brief an Montanus (Epist. VII 29,3) die Ehrenbeschlüsse des Senats für Pallas als quam mimica et inepta. Deutlicher wird er in einem zweiten Schreiben an denselben Adressaten (Epist. VIII 6,3), nachdem er in den Archiven den Wortlaut des Beschlusses nachgelesen hatte: urbanos, qui illa censuerunt, putem an miseros? dicerem urbanos, si senatum deceret urbanitas; miseros, sed nemo tam miser est, ut illa cogatur. ambitio ergo et procedendi libido? sed qui adeo demens, ut per suum, per publicum dedecus procedere velit … Dazu F. BEUTEL, Vergangenheit als Politik, 247. 447 Zur Person Plin., Epist. I 22. Vgl. PIR III, 1898, 329 T 197. S. auch u. bei Anm. 454. 448 Plin., Epist. VIII 14.

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waltherrschaft früherer Zeiten dazu geführt, daß dieses wichtige Praxiswissen bei den patres selbst verloren gegangen sei: priorum temporum servitus … etiam iuris senatorii oblivionem quandam et ignorantiam induxit449. Die Senatoren seien eingeschüchtert gewesen, unfähig, eine eigene Meinung zu vertreten (curiam trepidam et elinguem); ihre Äußerungen hätten ja je nachdem zu Schande oder Lebensgefahr geführt. Der Tätigkeitsbereich sei stark eingeschränkt worden, die Mitglieder des Hauses zu Untätigkeit oder zur Beteiligung an verbrecherischen Beschlüssen gezwungen worden. An einen ernsthaften Geschäftsgang sei damals mithin gar nicht zu denken gewesen450. Vor diesem Hintergrund hatte, so Plinius, die traditionelle Form der Weitergabe von Wissen um Position und Habitus eines Senators zwangsläufig scheitern müssen. Hatten sich ehedem die vielversprechenden jungen Männer Roms entweder ihre eigenen Väter oder angesehene ältere Politiker zu Vorbildern genommen und durch genaue Beobachtung und Nachahmung ihrer Handlungsweisen die verbindlichen Rollenschemata internalisiert451, so verbot sich dies in der Zeit der mali principes von selbst (quid tunc disci potuit, quid didicisse iuvit?452). Von zwei Seiten war das Wissen des Senats um seine Spielregeln und Verhaltensweisen daher prekär geworden: Diejenigen, die ihm in der schlechten Zeit angehörten, vergaßen die gute Praxis ihrer Vorgänger aus Mangel an Gelegenheit zur Anwendung (difficile est tenere, quae acceperis, nisi exerceas); nachrückenden Jüngeren mangelten es aus dem gleichen Grunde an nachahmenswerten Vorbildern: itaque reducta libertas rudes nos et imperitos deprehendit453. So dramatisch, wie Plinius die Situation darstellt, ist sie sicher nicht gewesen. Das Problem entzündete sich konkret an unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie im Senat bei mehreren vorliegenden Anträgen eine Mehrheit zu ermitteln sei, zumal wenn es eine inhaltliche Nähe zwischen mehreren dieser Anträge gab, keiner für sich genommen aber die absolute Mehrheit der Stimmern auf sich vereinigen konnte. Damit war aktuell die Auslegung einer entsprechenden Passage in dem Gesetz verbunden, das der zu entscheidenden Strafsache zugrunde lag. Insofern stellte der von Plinius apostrophierte mos senatorius hier tatsächlich also nur ein Teil des Gesamtkomplexes von Fragen und strittigen Auslegungen dar. Doch wird auch deutlich, daß einerseits zwar unbestritten die Verhandlungen in der Kurie von einem verinnerlichten Wissen um Präzedenzen, legitimen Aus449

Plin., Epist. VIII 14,2. Plin., Epist. VIII 14,8. 451 Plin., Epist. VIII 14,4–6: a maioribus natu non auribus modo, verum etiam oculis disceremus (4). 452 Plin., Epist. VIII 14,8. 453 Plin., Epist. VIII 14,3. 450

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drucksformen und angemessenen Inhalten (eben dem mos senatorius) gesteuert wurde, das von Generation zu Generation über den Weg exemplarischen Verhaltens weitergegeben wurde; andererseits aber, daß für Plinius und seine Zeitgenossen dieses Handlungswissen in einem regelrechten ius senatorium als Teilgebiet des öffentlichen Rechts gleichsam objektiviert (wenn auch nicht verschriftlicht) und damit der gutachterlichen Tätigkeit von Experten zugänglich gemacht worden war. Bei dem um Auskunft angegangenen Titius Aristo handelte es sich nicht von ungefähr um einen der bedeutendsten Juristen seiner Zeit454; in die Digesten Justinians sind mehrere seiner Stellungnahmen, vor allem zum Schuld- und Erbrecht, übernommen worden455. Mit Neratius Priscus stand er offenbar in lebhafter Korrespondenz über rechtliche Probleme. Wie einer Passage bei dem Antiquar Gellius zu entnehmen ist, verfolgte Aristo auch rechtsethnologische beziehungsweise rechtsvergleichende Interessen, nämlich Studien zum alten ägyptischen Recht456. Eines der genannten Digesten-Fragmente könnte darauf hindeuten, daß Aristo gar dem consilium Trajans angehörte457. Mitglied des Senats war er höchstwahrscheinlich jedoch nicht; sein griechischer Name weist zudem auf die Abstammung von einem Freigelassenen hin458. Nach Ansicht des Plinius mußte man also selbst nicht dem consilium publicum angehören, um autoritative Aussagen über die Regeln und Verfahrensweisen der Versammlung geben zu können; vielmehr war der gesamte Bereich einem spezialisierten Wissen zugänglich, das sich nunmehr aus dem Studium von Akten und Schriften speisen konnte, aber eben nicht notwendig aus dem Mitvollzug der Praxis. An Aristo schätzte Plinius jedenfalls, wie er in einem Brief an L. Catilius Severus mitteilt, neben seinem unprätentiösen Auftreten und seiner Hilfsbereitschaft vor allem den großen Fundus an Fakten, antiquarischen Notizen und Beispielerzählungen:

454 Hierzu und im folgenden W. KUNKEL, Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen, Forschungen zum römischen Recht 4, Weimar 1952, 141–144. 318–320. Vgl. PIR III, 1898, 329 T 197; A.N. SHERWIN-WHITE, Pliny, 136 f. 461. 455 Dig. 2,14,7,2; 4,8,40; 19,2,19,2; 20,3,3; 37,12,5; 40,4,46. 456 Gell. XI 18,16. 457 Dig. 37,12,5: Divus Traianus filium, quem pater male contra pietatem adficiebat, coegit emancipare. quo postea defuncto, pater ut manumissor bonorum possessionem sibi competere dicebat: sed consilio Neratii Prisci et Aristonis ei propter necessitatem solvendae pietatis denegata est. Vgl. J. CROOK, Consilium Principis. Imperial Councils and Counsellors from Augustus to Diocletian, Cambridge 1955, 186 no. 323; anders W. KUNKEL, Juristen, 141. 458 Vgl. aber A.R. BIRLEY, Onomasticon to the Younger Pliny. Letters and Panegyric, München/Leipzig 2000, 92.

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Quam peritus ille et privati iuris et publici! quantum rerum, quantum exemplorum, quantum antiquitatis tenet! Nihil est quod discere velis quod ille docere non possit; mihi certe quotiens aliquid abditum quaero, ille thesaurus est.459

Zusammenfassend ergibt sich sowohl aus der Korrespondenz mit Maesius Maximus wie aus derjenigen mit Titius Aristo eine tiefe Verunsicherung des Plinius – immerhin Konsular und somit einer der ranghöchsten Senatoren, die für die Meinungsbildung in der Kurie doch maßgeblich sein sollten – hinsichtlich der „richtigen“ Handlungsweisen im Senat. Für Fragen der Geschäftsordnung war man nun bereit, sich Rat und Anleitung von außen zu holen, von zwar aufgrund ihrer Fachkenntnisse angesehenen, aber sozial niederen Experten. Die inneraristokratische Traditionskette, Voraussetzung für Regelaneignung durch Nachahmung, schien unwiederbringlich abgerissen; die Befragung der senes aus dem eigenen Stand beförderte höchstens noch die Nostalgie, lieferte aber keine Handlungsrezepte mehr. Man versuchte zunächst, die Lücke durch rationale Verfahrensweisen (Abstimmung per tabellas) und faktengesättigtes externes Wissen zu schließen, stieß hier aber schnell auf Quertreiber aus den eigenen Reihen. Die Lösung bot sich in einer Verrechtlichung – und damit wenn schon nicht in einem Eingreifen des Princeps selbst, dann doch in einer Befragung seiner „Kronjuristen“. Für den Senat ergab sich knapp anderthalb Jahrhunderte nach dem Untergang der vetus res publica in den Bürgerkriegen damit eine höchst problematische Situation. Habitus und Praxisformen waren zwar im wesentlichen unverändert geblieben, nicht aber die Felder, auf denen diese sich zeigen und bewähren mußten. Der politische Entscheidungsspielraum der Senatoren war signifikant geschrumpft, man hatte dies in den Kämpfen des Vierkaiserjahres ebenso schmerzhaft erfahren wie unter der Herrschaft Domitians. Das arcanum imperii war gelüftet worden460, und es hatte sich gezeigt, daß dort wenig Platz für die Versammlung der Väter geblieben war. Ihre ureigenste Domäne, das de re publica loqui, war zu einem seltenen Glücksfall geworden; und Männer wie Plinius meinten feststellen zu können, daß viele ihrer Standesgenossen über das nötige Rüstzeug dafür auch nicht mehr verfügten, daß ihnen neben den Kenntnissen – dies galt ja für alle, oder doch die meisten – auch die moralischen Qualitäten fehlten: abzulesen an ihrem ‚geschmacklosen‘, unwürdigen Verhalten. Selbst wenn man konzediert, daß Plinius mit dem angeblich desolaten Kenntnisstand der Senatoren über ihre ureigensten Angelegenheiten kokettiert, um die eigene aufrechte Haltung inmitten solcher Auflösungstendenzen beziehungsweise den eigenen Scharfsinn bei der Rekonstruktion verschütteter ‚guter Praxis‘ um so strahlender erscheinen zu lassen, zeichnen 459 460

Plin., Epist. I 22,2. Tac., Hist. I 4.

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sich doch deutliche Anhaltspunkte für ein problematisch gewordenes senatorisches Selbstverständnis ab. Man zweifelte sicher nicht an dem eigenen sozialen Führungsanspruch und der Legitimität desselben. Man stieß aber auf manifeste Schwierigkeiten bei der Bewahrung und nötigen Anpassung des überkommenen Standesethos an die veränderten und sich weiter verändernden politischen Rahmenbedingungen. Wie dignitas sicherzustellen war, erschien zunehmend fraglich. Das posse etiam sub malis principibus magnos viros esse des Tacitus461 war zu beweisen – und auch die Einfügung in die neue Politik Trajans, die den Machtanspruch des faktischen Alleinherrschers in nichts zurücknahm, dennoch aber nach dem blutigen Ende des Domitian neue Formen suchte, die sich an den alten des augusteischen Principats zu orientieren vorgaben. d) Der Panegyricus als Selbstrechtfertigung Als Ausgleich für die geschwundene Substanz der civitas libera kam es nun also vor allem darauf an, die Senatsaristokratie (aber auch den Ritterstand462) in das monarchische System unter Berücksichtigung ihrer Distinktionsbedürfnisse und ihrer Statusansprüche zu integrieren. Doch die Zusammensetzung der römischen Oberschicht hatte sich seit der späten Republik stark verändert; an die Stelle der alten gentes waren zunehmend die lokalen und regionalen Eliten Italiens und zunächst vor allem auch der westlichen Provinzen getreten, die nun in den Senat aufgenommen wurden. Die Fluktuation blieb hoch, und ständig gelangten neue Männer in die Kurie, die ihren Aufstieg vor allem ihrer Orientierung am Princeps verdankten463. Plinius ist – wie auch Tacitus – exemplarisch für diese Entwicklung464. Er und mit ihm viele andere befanden sich von dorther in einem besonderen Dilemma: Seinen gegenwärtigen Status verdankte er der engen Anlehnung an den Kaiser; sein Sozialprestige würde aber rapide sinken, gälte er als adulator ohne eigene dignitas. Plinius hatte mithin ein vitales Interesse 461

Tac., Agr. 42. Plin., Paneg. 23,1. 463 M. HAMMOND, Composition of the Senate, AD 68–235, JRS 47, 1957, 74–81; K. HOPKINS/G. BURTON, Ambition and Withdrawal: the Senatorial Aristocracy under the Emperors, in: Ders., Death and Renewal. Sociological Studies in Roman History. Vol. II, Cambridge 1983, 120–200; P. GARNSEY/R. SALLER, Das römische Kaiserreich. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Reinbek b. Hamburg 1989 (engl. 1987), 174 f. Für die damit verbundenen soziokulturellen Transformationen vgl. Th. HABINEK, Seneca’s Renown, 264–303; A.N. WALLACE-HADRILL, Roman Arches and Greek Honours: The Language of Power at Rome, PCPS 216, 1990, 143–181; DERS., Mutatio Morum: The Idea of a Cultural Revolution, in: The Roman Cultural Revolution, ed. by Th. Habinek/A. Schiesaro, Cambridge 1997, 3–22. 464 Zum cursus des Plinius vgl. R. S YME, Tacitus. Vol. I, Oxford 1958, 75–85. 462

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an einer Demonstration senatorischer Unabhängigkeit. Voraussetzung dafür war aber, daß zunächst die überkommenen Kommunikations- und Handlungsformen neue Würde erhielten. Denn wie anders hätte er sich als vir gravis und bonus nach altehrwürdigem Muster präsentieren können? Und aus diesem Grunde mußte die erzwungene oder zur Vorteilnahme gesuchte Schmeichelei durch sparsames, dafür aufrichtiges Lob ersetzt werden; mußte der Kaiser den Ämtern und Institutionen, die aus der Republik fortgeführt worden waren, demonstrativ Respekt erweisen; war es schließlich unumgänglich, daß der Senat wieder der Ort für ‚freie‘ Meinungsäußerung werden konnte – ohne bei all diesem den Primat Trajans anzutasten oder auch nur in Frage zu stellen465. Plinius erhob daher in und durch seine Lobrede im Grunde nur einen genuin politischen Anspruch: daß es den Senatoren in Zukunft möglich sein müsse, ihren Aufgaben nachzukommen, sich dem negotium zu widmen, ohne dignitas und Existenz zu gefährden466. Es ging ihm um securitas und vor allem darum, diese mit der auctoritas des Senators und Konsuls vereinbaren zu können467. Deshalb wurde auch moderatio zu einem Zentralbegriff des gesellschaftlichen Diskurses im Übergang vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert: Tacitus forderte sie gar nicht in erster Linie vom Princeps, sondern von den Angehörigen der senatorischen Oberschicht – und meinte damit vor allem Akzeptanz des Principats als historisch notwendige Realität (moderatio wird daher oft auch synonym zu obsequium gebraucht) bei Wahrung des Ansehens468; Plinius machte sie im Panegyricus zu einer der Kerntugenden des Kaisers – und erblickte in ihr vor allem die unbedingte Achtung vor der Dignität des Senats und der Magistrate469. Und so symbolisch, wie die465 Gerade dadurch, daß Trajan den Senatoren jede Möglichkeit bietet, durch die Iteration etwa des Konsulats Prestige und Status zu erhöhen, scheint für Plinius der alte Zustand wiederhergestellt (Paneg. 61,1): equidem illum antiquum senatum contueri videbar, cum ter consule adsidente tertio consulem designatum rogari sententiam cernerem. 466 Plin., Paneg. 44,5: An prava pronaque sunt ad aemulandum quod nemo incolumitatem turpitudine rependit, salva est omnibus vita et dignitas vitae, nec iam consideratus et sapiens, qui aetatem in tenebris agit? Vgl. Plin., Epist. I 5,5–7 (ähnlich Epist. VIII 14,8: dicere, quod velles, periculosum, quod nolles, miserum esset): dem Senator bleibt die Wahl zwischen periculum bei freier Meinungsäußerung und flagitium bei einer Verbeugung vor der Macht – und der von Plinius selbst beschrittene Weg, sich den Fallstricken zu entziehen und die delatores mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen; treffend die Interpretation von SH. BARTSCH, Actors in the Audience, 63–67. S. auch A. WALLACE-HADRILL, The Emperor and His Virtues, 318. 467 Plin., Paneg. 93,1; vgl. K. STROBEL, Zeitgeschichtliche Aspekte, 12; F. BEUTEL, Vergangenheit als Politik, 99 (und öfter). 468 Tac., Agr. 42,3 f.; vgl. 45,2. 469 Vgl. M. VIELBERG, Bemerkungen zu Plinius d.J. und Tacitus, 177–179, der obsequium als ‚Modewort‘ der Zeit um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert bezeichnet (77). Vielberg arbeitet heraus, daß mit moderatio/modestia bzw. obsequium gemeinsam

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se Anerkennung von Plinius gemeint war, der sich kaum zu unrealistischen Machtphantasien verstieg470, gestaltete sich auch in der Tat die Einbeziehung der Kurie in die Politik des Kaisers. Trajan beteiligte den Senat, wann immer es aus rituellen Gründen angezeigt war oder eine Gelegenheit zu programmatischen Aussagen bot: etwa bei den Beamtenwahlen, aber auch – besonders bedeutungsschwanger – bei der Annahme des Friedensgesuches, das der Dakerkönig Decebalus an die patres zu richten von Trajan genötigt wurde, sowie bei der nach dem Bruch der Abmachungen erneut erfolgten Kriegserklärung durch den Senat471. Der Panegyricus des Plinius ist also sicher nicht eine politische Kampfschrift, entstanden aus einer grundsätzlich oppositionellen Haltung zum Principat. Er strebt keine umfassende Revision des politischen Systems an, stellt keineswegs die Position des Kaisers zugunsten einer stärkeren Stellung des Senats in Frage. Nicole Méthy hat eine solche Interpretation der Rede zu Recht mit dem Hinweis auf eine grundsätzlich kritische Haltung des Plinius gegenüber den Standesgenossen verworfen472. Seine fast verzweifelte Einschätzung der Kompetenz der patres ist bei der Korrespondenz über die Frage der Abstimmungen in der Kurie deutlich geworden. Wenn also überhaupt ein „Programm“ im Panegyricus verfolgt wird, so ist es das einer Neubestimmung von Rolle und Funktion des Senats gegenüber einem Princeps, der auf die traditionellen Kommunikationsformen Rücksicht zu nehmen weiß. Insofern ist die Binnenorientierung des Textes nicht zu unterschätzen: ein Aufruf an die Führungselite des Reiches, die verlorengegange Ehre wiederzuerlangen. Ein Princeps wie Trajan – möge er den eingeschlagenen Kurs bewahren! – böte dazu eine realistische Chance. Daß sich ein homo novus wie Plinius dazu berufen sah, besitzt seine eigene Delikatesse. Zugleich ging es im historisch vorbelasteten Genre der konsularischen gratiarum actio aber auch ganz konkret um die Glaubwürdigkeit und das Ansehen des Redners selbst. Um den adulatio-Verdacht zu zermit pudor, verecundia, reverentia Kernbestandteile einer sich in dieser Zeit formierenden Herrscher- und einer komplementären Untertanentopik zu fassen sind – modestia etc. seien als Herrschertugenden, obsequium, verecundia etc. als Untertanentugenden anzusprechen. Wie das plinianische Briefcorpus zeigt, vollzog sich diese Ausformung in einem breiter angelegten Oberschichtendiskurs (ebda., 179–181). Vielberg berücksichtigt m.E. in seiner Analyse jedoch nicht, daß im Panegyricus des Plinius diese zentralen Wertbegriffe nicht starr auf Kaiser oder Senatoren/Untertanen bezogen werden, sondern als wechselseitige Verpflichtungen erscheinen: verecundia und pudor verlangt Plinius gerade auch dem princeps ab! Vgl. auch F. BEUTEL, Vergangenheit als Politik, 95–98. 470 Vgl. Plin., Epist. III 20,10–12 (non numquam de re publica loquerer, cuius materiae nobis quanto rarior quam veteribus occasio tanto minus omittenda est … sunt quidem cuncta sub unius arbitrio ... quidam tamen salubri temperamento ad nos quoque velut rivi ex illo benignissimo fonte decurrunt); IX 2,2. 471 Cass. Dio LXVIII 9,7. 10, 3 f. M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 104 f. 472 N. METHY, Éloge rhétorique, 370 f.

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streuen, bedurfte es eines aufwändigen Beweisverfahrens: ein neues Kaiserlob, das auf Performanz abhebt und Topoi konsequent an erlebte und weiter erlebbare Handlungen zurückbindet.

7. Zusammenfassung Der Panegyricus des Plinius ist das Werk eines Mannes, der nicht nur eine profunde rhetorische Ausbildung durchlaufen, sondern die erworbenen Fertigkeiten bereits in zahlreichen Prozessen und im Senat mit Erfolg eingesetzt hatte. Bei aller Bemühung um Selbstdarstellung und deutlicher Stilisierung mit Blick auf das Vorbild Cicero war diese Beredsamkeit nicht allein auf eine Zurschaustellung überlegener Bildung aus. Der Senator setzte sie vielmehr beständig in der politischen Auseinandersetzung ein, auf welchem Gebiet sich ein großer Teil auch seiner bedeutenden forensischen Reden bewegte. Insbesondere ist hier sein Eintreten für die Angehörigen der senatorischen Opfer Domitians zu nennen473. Ganz ohne Risiko kann diese Betätigung auch unter den boni principes Nerva und Trajan nicht gewesen sein474, doch sie führte ihn zum Suffektkonsulat des Jahres 100; ein Jahr, das eine Reihe äußerst profilierter Konsuln sah475, nicht zuletzt den Kaiser selbst. Die damit verbundene Aufgabe der gratiarum actio muß er mit einigem Erfolg erfüllt haben, jedenfalls zeigt seine weitere Laufbahn als Mitglied des kaiserlichen consilium und als Sonderstatthalter Trajans die positive Einschätzung, die der Princeps ihm entgegenbrachte. Zumindest die überarbeitete Version des Panegyricus gestaltete der Konsular bewußt als eine programmatische Schrift. Aus dem Lob auf den Kaiser entwickelte er so eine Diskussion der in der Tat spannungsreichen Beziehungen zwischen dem Princeps und dem ersten Stand des Reiches. Insofern ist ein Gutteil der bis heute geübten Kritik an seiner Rede letztlich nicht zielführend. Bei allem eingestandenen Bombast und oftmals enervierenden Redundanzen drückt der Panegyricus das Bemühen aus, die inzwischen konsolidierte und akzeptierte monarchische Staatsform mit dem ordo dignitatum in Einklang zu bringen. Zugleich sollten die prekär gewordenen Strukturen der Kommunikation zwischen den beiden Machtzentren des

473

Insb. Plin., Epist. IX 13. Zur Charakterisierung des Plinius und seines politischen Standpunktes s. A.N. SHERWIN-WHITE, Pliny, the Man and His Letters, 76–90. 475 Außer dem Kaiser selbst und Plinius vor allem Frontin und L. Iulius Ursus (PIR IV2, 1952–1966, 295–297 J 630), beide cos. III; vgl. J. BENNETT, Trajan, 75 f. 474

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Staates – das Heer klammerte Plinius in dieser Hinsicht aus – auf eine neue Basis gestellt werden476. Plinius zurrte dabei eine Reihe von Grundpositionen fest, die ihm unveräußerlich erschienen und die offenbar auch Trajan akzeptierte – jedenfalls ließ sich unwidersprochen das Verhalten des Kaisers von Plinius so deuten. An erster Stelle stand dabei der Primat des aus der Republik überkommenen Institutionengefüges. Hierzu gehörte, daß der Senat das qualifizierte Forum für die Bekanntgabe politischer Entscheidungen sein sollte. Dies mußte allerdings nicht notwendig auch heißen, daß die Senatoren an der Entscheidungsfindung zu beteiligen waren. Plinius rührte in keiner Weise an der Kompetenz des Kaisers, rechtsgültige Maßnahmen zu treffen477. Ungeachtet dieser Machtbefugnis des Princeps erwartete er aber von ihm Gesten der reverentia senatus. Auf einer zweiten Ebene unterschied Plinius zwischen dem Herrscher als princeps und – wann immer er dieses Amt bekleidete – als Konsul. An das höchste Amt im römische cursus waren feste Verhaltenserwartungen gebunden, deren Ausfüllung implizit auch vom Kaiser gefordert wurde; zudem wohnte dieser Magistratur eine maiestas inne, die der fortuna principum nur akzidentell zu sein schien beziehungsweise an die Person des Herrschers gebunden blieb – hier sind Ansätze einer Differenzierung in Amtscharisma und persönliches Charisma zu erkennen, die freilich noch nicht systematisiert, sondern von Plinius lediglich situationsbezogen argumentativ verwendet werden. So gelangte der Senator schließlich zu der überraschenden – und normativen – Einsicht, der Status des princeps verweise auf eine Einordnung seines Trägers (als privatus) in die Bürgerschaft, das Amt des Konsuln hebe ihn jedoch (temporär) aus dieser heraus. Des weiteren schied Plinius mit einiger Trennschärfe zwischen princeps und imperator respektive militärischen und zivilen Rollen des Kaisers478. Beide standen zwar in der politischen Realität der Kaiserzeit in einem kaum auflösbaren Interdependenzverhältnis, das Unbehagen des Senators an einem Kaiser, der die ersten anderthalb Jahre seiner Herrschaft bei den Heeren verbrachte, ist aber deutlich. Plinius arbeitete daher den Adventus Trajans in Rom als einen doppelten Trennungsritus aus: Die Herrscherankunft dient in seiner Deutung zum einen zur Abhebung Trajans von Domitian, eine Ebene, in die am Rande auch der religiöse Diskurs und die Frage des Herrscherkultes hineinspielen; sie führt zum anderen zur Differenzierung von domi und militiae und den darin liegenden Implikationen für die 476 G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, 225, hat überzeugend herausgearbeitet, daß es sich bei dem Panegyricus um das „Medium einer Kommunikation [handelt], die exklusiv zwischen dem Senat und dem Kaiser stattfand.“ 477 Vgl. Gai. Inst. I 5; Ulp. Dig. 1,4,1,1 f.; C. ANDO, Imperial Ideology, 154 f. 478 Vgl. noch Plin., Paneg. 91,1: optime principum, fortissime imperatorum.

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Machtbefugnisse des Imperium-Trägers und die Schutzrechte der Bevölkerung. Im Vordergrund stand bei der plinianischen Adventus-Darstellung daher nicht so sehr der consensus, sondern die Differenzierungsfähigkeit Trajans in bezug auf seine Machtstellung generell wie in bezug auf sein Verhältnis zu unterschiedlichen sozialen und politischen Akteuren479. Dies ist die Botschaft, die auch dem Adventus-Relief auf der Stadtseite des im Jahre 114 vollendeten Trajans-Bogens von Benevent entnommen werden kann: Auch hier sind anläßlich der Herrscherankunft Senat, Ritterstand480 und populus dem Kaiser zugeordnet481. Dem Erstadventus Trajans im Rom des Jahres 99 wird dabei – wie bereits im Panegyricus – ein entscheidender Aussagewert für die Herrschaft des Princeps zugestanden: Der genius Senatus überreicht Trajan den Globus als Zeichen der Herrschaft. Streng historisch genommen ist dies ein Anachronismus, denn der Senatsbeschluß, der Trajan bestätigte, war schon im vorangehenden Jahr ergangen. Die Verschmelzung von Adventus und herrschaftslegitimierendem Akt in einer Szene dokumentiert jedoch die Bedeutung, die der Ankunftszeremonie in der spezifischen Situation der ersten Jahre Trajans in besonderer Weise zukam482. Erst in der Begegnung mit den unterschiedlichen Gruppierungen des populus Romanus konstituierte sich sein Principat. Entscheidend ist dabei wiederum nicht die ja gar nicht mehr fragliche Zustimmung der verschiedenen gesellschaftlichen Akteure – sondern die Begründung und Manifestation eines Nahverhältnisses dieses aus der Provinz stammenden und bislang vor allem dem Heer verbundenen Herrschers mit den Bürgern der Reichshauptstadt. In Teilen des Bildprogramms des Monuments von Benevent wurden also nicht zuletzt die Ansprüche des Senats berücksichtigt, der, wie die Bauinschrift ausweist, auch als Auftraggeber fungierte und mit diesem Monument den fortissimus princeps – Tribut an die Sieghaftigkeit des Kaisers483 – ehrte484. Dabei fällt nicht zuletzt auf, daß bei der Gestaltung der 479 Zu vermeintlichen Diskontinuitäten in der herrscherlichen Selbstdarstellung Trajans (in bezug auf ‚military image‘ und ‚relations with the Senate‘) vgl. M. GRIFFIN, Nerva to Hadrian, 98 f. 480 P. VEYNE, Une hypothèse sur l’Arc de Bénévent, MEFRA 72, 1960, 191–219, insb. 196, erkennt in dem togatus nicht die Personifikation des Ritterstandes, sondern des Ordo, mithin der städtischen Kurien. 481 P. DUFRAIGNE, Adventus Augusti, Adventus Christi, 47–49; G. KOEPPEL, Profectio und Adventus, BJ 169, 1969, 130–194, insb. 161–166. 482 Insofern abzulehnen ist die rein allegorische Deutung der Szene durch K. FITTSCHEN, Das Bildprogramm des Trajansbogens zu Benevent, AA 1972, 742–788, insb. 767–770; vgl. dazu die Entgegnung von W. GAUER, Zum Bildprogramm des Trajansbogens von Benevent, JDAI 89, 1974, 308–335, insb. 321. 483 P. VEYNE, Hypothèse sur l’Arc de Bénévent, insb. 211–216, hebt auch für dieses Bauwerk den militärischen Aspekt, die starke Fokussierung auf den Kaiser sowie konsequent den Einfluß des Hofes auf die Ausgestaltung hervor.

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Reliefs auf das Mittel der Bedeutungsgröße – abgesehen von der zweiten, idealisierten Adventusdarstellung in der stadtseitigen Attikazone485– verzichtet wurde: Der Kaiser erscheint genau so groß wie die ihn umgebenden römischen Bürger486. Die Trajanssäule487, besonders aber die ursprünglich vom Trajansforum stammenden, sekundär im Konstantinsbogen verbauten Platten aus dem sogenannten Großen Trajanischen Fries488 hingegen kennen vor allem den „militärischen“ Adventus, wie überhaupt das Forum Traiani – mit den Worten Burkhard Fehrs gesprochen – das „Militär als Leitbild“489 herausstellte. Signifikant erscheint in diesem Zusammenhang auch, daß die Selbstdarstellung Trajans auf seinem Forum „die Rolle des Feldherrn ganz in den Vordergrund rückt“490, während der Aspekt der Sieghaftigkeit im Panegyricus des Plinius seinen Platz im ersten – chronologisch-biographisch strukturierten und klassische Topoi abarbeitenden – Teil der Rede findet, um dann gegenüber den ‚zivilen‘ Herrschertugenden und ihrer praktischen Anwendung ganz zurückzutreten. Relativierend wirkt hierbei jedoch, daß die Dankrede in die Anfangszeit der Herrschaft Trajans 484

CIL IX 1558 = H. DESSAU, ILS 296; G. KOEPPEL, Profectio und Adventus, 167. 169. Vgl. F.J. HASSEL, Der Trajansbogen in Benevent. Ein Bauwerk des römischen Senats, Mainz 1966. 485 Das Attikarelief fällt in der Tat in seiner Bildaussage aus dem sonstigen Programm des Bogens heraus (hierzu und zu den unterschiedlichen Deutungsansätzen W. GAUER, Bildprogramm, 322); es stellt die „Belehnung“ Trajans durch Iuppiter dar (K. FITTSCHEN, Bildprogramm, 780 f.) und überhöht somit die zivile Herrschaftsanerkennung der ersten Adventusszene. Wie auch bei den Attikareliefs der Landseite bedient sich der Künstler eines abstrakt-allegorischen Aussagemodus’, wie um die Darstellungen der darunter liegenden Bilder abzuschließen, gewissermaßen auf den Punkt zu bringen: das Handeln des Kaisers findet die Gunst und das Wohlwollen der Götter. 486 K. FITTSCHEN , Bildprogramm, 785. 487 K. LEHMANN -HARTLEBEN, Die Trajanssäule. Ein römisches Kunstwerk zu Beginn der Spätantike, Berlin–Leipzig 1926, insb. LXXIX–LXXXVI; F. LEPPER/SH. FRERE, Trajan’s Column, 129–136. 488 Hierzu W. GAUER, Ein Dakerdenkmal Domitians. Die Trajanssäule und das sogenannte große trajanische Relief, JDAI 88, 1973, 318–350; J. RUYSSCHAERT, Essai d’interprétation synthétique de l’Arc de Constantin, RPAA 35, 1962/63, 79–100, insb. 89 f.; G. KOEPPEL, Profectio und Adventus, 158–161. 489 B. FEHR, Das Militär als Leitbild. Politische Funktion und gruppenspezifische Wahrnehmung des Traiansforums und der Traianssäule, Hephaistos 7/8, 1985/1986, 39– 60; grundlegend ist der Beitrag von P. ZANKER, Trajansforum, 506 – Anlage und vor allem Bildprogramm des Forums zeigten, „daß Trajan mitten in der Stadt eine Art von steinernem Heerlager hatte aufschlagen lassen“; vgl. aber die Relativierung dieser Thesen durch M. TRUNK, Das Traiansforum. Ein steinernes Heerlager in der Stadt?, AA 1993, 285–291; A. NÜNNERICH-ASMUS, Er baute für das Volk?! Die stadtrömischen Bauten des Traian, in: Traian. Ein Kaiser der Superlative am Beginn einer Umbruchzeit?, hg. v. Ders., Mainz 2002, 97–124, 100 f.; J.C. ANDERSON, The Historical Topography of the Imperial Fora, Collection Latomus 182, Brüssel 1984, 144. 160 f. 490 P. ZANKER, Trajansforum, 543.

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fiel: Bedeutende militärische Erfolge konnten noch nicht vermeldet werden, und Plinius mußte so auf den Kunstgriff einer fiktiven Triumph-Darstellung als Prophezeiung künftiger Sieghaftigkeit ausweichen. Ebenso war der in der Rückschau politisch hochbrisante Marsch Trajans von Hispanien nach Germanien im Jahre 89 rhetorisch aufzuwerten, um ein gewisses Quantum militärischer Leistung darzustellen, mit deren Hilfe die Wahl Trajans zum Nachfolger Nervas legitimiert werden konnte491. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß Plinius vehement das Idealbild eines siegreichen Feldherrn aus der Mitte des Senats und der res publica vertrat; dies ist insbesondere die Fluchtlinie seiner Ausführungen zum zweiten Konsulat Trajans. Für den Senator galt, der Kaiser habe als princeps rei publicae auch ein fähiger Feldherr zu sein – und nicht als gefeierter Imperator automatisch Anrecht auf die führende Stellung im Staat. Trajan hingegen stellte mit Fries, Statuenprogramm und Säule die eigene permanente Sieghaftigkeit in den Vordergrund, auf die hin sich alle anderen Tätigkeitsfelder orientierten und durch die auch das vorderhand nicht-militärische Wirken des Kaisers erst ermöglicht wurde. Eine Entkoppelung der Handlungsfelder – wie sie bei Plinius in der Struktur des Panegyricus doch deutlich sichtbar wird – ist aufgrund der Omnipräsenz des Kaisers und der Bezogenheit der Bilder aufeinander im Bildprogramm des Trajansforums nicht zu erkennen492: Das auf den Monumenten dargestellte segensreiche Wirken des Kaisers für den Staat (Infrastrukturmaßnahmen, Kolonisation etc.) bleibt in seine Aktivitäten als Heerführer eingebettet. Der Bogen von Benevent integriert in dem als ‚Biographie‘ Trajans angelegten Reliefzyklus vollends die Sphären domi und militiae; denn selbst die alimentatio ist in dieser Konzeption nur ein Vorgriff auf die Aushebung neuer Legionen493. Hier liegt ein wesentlicher Punkt der Differenz zwischen dem Kaiser und seinem (vermeintlichen) Lobredner. Die Bildersprache der trajanischen Selbstdarstellung zielt – soweit dies aus den erhaltenen Zeugnissen und unter Hintanstellung chronologischer Probleme beurteilt werden kann – auf einen breiteren Rezipientenkreis als die Rede des Plinius. Tonio Hölscher hat in seiner Analyse von ‚Staatsdenkmal und Publikum‘ im Vergleich der Anlage und Ausstattung von Augustusforum und Trajansforum einen spürbaren Wandel in der Repräsentationskunst und in der von ihr angesprochenen Zielgruppe festgestellt: Die unterworfene Völker symbolisierenden Karyatiden494 von der Portikus des augusteischen Komplexes werden im Bauprogramm Trajans durch den Realismus der Dakerfiguren 491

Vgl. K. STROBEL, Zeitgeschichtliche Aspekte, 13–25. Vgl. R. SCHEIPER, Bildpropaganda, 185–187. 204a/b. 493 P. VEYNE, Hypothèse, 197–201. 215 f. 494 Vitr. I 1,5. 492

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mit gesenktem Haupt und gekreuzten Armen ersetzt. Von der Last der auf ihnen ruhenden Attika werden die Barbaren förmlich niedergedrückt. An die Stelle der augusteischen Statuenreihe, die sich aus summi viri und Gestalten aus der Genealogie des julischen Geschlechts zusammensetzt, treten in der trajanischen Platzanlage eine Auswahl der ‚guten‘ Kaiser und Bildnisse trajanischer Truppenführer und Verwaltungsbeamter. Mit ihren signa und mit Inschriften sind zudem die unter Trajan im Dienst stehenden Legionen vertreten – dominiert aber wird das Trajansforum von Statuen des Herrschers selbst, beginnend mit dem triumphalen Eingangstor, über den equus Traiani im Atrium der Anlage bis hin zur statuarischen Ausgestaltung der Attika der Basilica Ulpia495. Es wird also die (mythische) Genealogie einer aristokratischen Familie durch die imperiale Sukzession der boni principes, werden in den Helden der Vorzeit verkörperte Leitbilder der res publica durch zeitgenössische ‚Identifikationsfiguren‘ – Generäle und Mitglieder der zivilen Führungselite – sowie die Embleme militärischer Einheiten ersetzt. Dies bedeutet zwar keinen völligen Bruch mit der Tradition, ist aber ein Neuansatz in der Legitimationsstrategie. Die Themen, die Plinius im Panegyricus anging, fanden hier keinen oder zumindest keinen prominenten Platz mehr. Die Rede des Senators zielte auf den Senat und dessen Traditionen, Verhaltensmuster, Leitideen und Machtinteressen – bis hin zur Verherrlichung der Restitution der nobilitas durch Trajan. Mit der Formel unus e nobis, dem Verzicht auf eine Profilierung der Herkunft des Kaisers zugunsten der Betonung seiner Auswahl aus dem Kreis der Angesehensten und Fähigsten, die in der Adoption zum Ausdruck kommt, propagierte Plinius eine Staatsform, deren monarchische Spitze aus der senatorischen Leistungselite rekrutiert wird496. Er schloß hier an die zentrale Botschaft der Selbstdarstellung Nervas an, die sich auf den Nenner bringen läßt „that the principate could be the summit of a senator’s ambition.“497 Der plinianische Panegyricus hatte im Vergleich zur Kommunikationsstrategie des Kaisers mithin einen engeren (und zum Teil verschobenen) Fokus. Die Akzentverschiebung aber ist eher als eine intendierte politische Aussage zu werten denn als ein eingeschränkter 495 T. HÖLSCHER , Staatsdenkmal und Publikum. Vom Untergang der Republik bis zur Festigung des Kaisertums in Rom, Xenia 9, Konstanz 1984, insb. 9–12 u. 33–37; R. SCHEIPER, Bildpropaganda, 144–151; vgl. für die Bestandsaufnahme und die grundlegenden interpretatorischen Ansätze P. ZANKER, Trajansforum, 507–521; jetzt auch ausführlich und mit Korrekturen im einzelnen J. PACKER, Forum of Trajan; G. SEELENTAG, Taten und Tugenden Traians, insb. 336–368. 496 Plin., Paneg. 7 f.; vgl. 94,5 – in dieser abschließenden Gebetsformel sucht Plinius den Wunsch nach einem leiblichen Sohn Trajans als dessen Nachfolger mit dem Prinzip der Adoption des Besten zu verbinden. 497 D.C.A. SHOTTER, The Principate of Nerva: Some Observations on the Coin Evidence, Historia 32, 1983, 215–226, Zitat 226.

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Blickwinkel des Senators zu verurteilen. Dies erklärt die intensive Darlegung der Rituale des Konsulats, der Herrscherankunft und der Wahlverfahren. Das alles war den Senatoren in der Grundstruktur natürlich bekannt. Es mußte jedoch von neuem mit ‚Sinn‘ versehen werden. Plinius hob daher zwar die ganze Rollenvielfalt des Princeps hervor, betonte dabei aber die zentrale Bedeutung der Zugehörigkeit zum Senatorenstand, dessen vornehmste politische Bühne die Kurie und das Tribunal des Konsul sein sollte. Feierte der Panegyricus mithin vor allem die freiwillige Eingliederung Trajans in die von den patres repräsentierte und getragene res publica, so setzte das kaiserliche Forum die Sieghaftigkeit des Princeps in Szene, der sich hier als miles und Imperator par excellence auswies498. Plinius diskutierte also nicht vordringlich die Frage der Legitimität der Herrschaft oder der Loyalität der Bevölkerung – beides stand für ihn selbst und sein Publikum letztlich wohl außer Frage. Sein Schwerpunkt lag vielmehr auf der Figur des Kaisers und ihrem hochgradig zeichenhaften Verhalten. Fixpunkt der Aufmerksamkeit sind die Konventionen der formelhaften offiziellen Sprache und die – nach einem guten Jahrhundert des Principatssystems allmählich zweifelhaft werdenden – Interaktionsformen. Mit Blick auf die für das Verhältnis von Senat und Princeps jeweils denkbar ungünstig endenden Dynastien der Julio-Claudier und Flavier erkannte Plinius, daß die Kommunikation zwischen den Hauptakteuren des römischen Staates zunehmend hypertroph geworden waren. Das gesprochene wie das geschriebene Wort waren durch generische Festlegung ohne Rücksicht auf die Erfordernisse des jeweils aktuellen Kontextes regelrecht zu hohlen oder heuchlerischen Phrasen verkommen. Ein gewisser Leidensdruck dürfte für ihn besonders aus der Tatsache erwachsen sein, daß diese Situation den Status des Redners nicht unberührt lassen konnte: Seine eigene dignitas stand damit auch ganz real auf dem Spiel. Die Lösung sah er in einem Rückgriff auf das Repertoire oral geprägter Gesellschaften, also in der Einbeziehung und dem expliziten Verweis auf die actio als Prüfstein für die Zuverlässigkeit der Aussagen über das Verhältnis von Herrscher und Bevölkerung, Princeps und Senat. Der ideale Principat war eine Herrschaftsform der Rituale und symbolhaltigen Inszenierungen. Der auch von Plinius gepflegte civilitas-Diskurs mußte in Handlungen erfahrbar, und diese wiederum als überzeugende Performanzen angelegt sein. Sie bildeten zugleich das argumentative Rüstzeug des Redners. Wo die Topik des Genres und die politischen wie gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihm enge Grenzen setzten, blieb die Anleihe bei der – scheinbaren, da in Tat und Wahrheit hoch artifiziellen – Ursprünglichkeit des körperlichen Ausdrucks und improvisierter sprachlicher Äußerungen: Die Rede selbst sollte nun die vermeintliche Spontaneität von Akklamationen nachahmen. Diese Ora498

Vgl. zur Deutung des Forums M. FELL, Optimus Princeps?, 87–93.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

lität zweiten Grades499 mutet angesichts der Arbeitsweise des Plinius als eine Art Taschenspielertrick an, zeigt aber deutlich die Problemlage auch für die zukünftige Entwicklung.

499 Zum Spektrum zwischen Oralität und Literalität und möglichen „Transkodierungen“ s. den Überblick von W. OESTERREICHER, Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit, in: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, hg. v. U. Schäfer, ScriptOralia 53, Tübingen 1993, 267–292, insb. 277–279. 282– 284.

Kapitel zwei

Bild und Selbstbild des Redners von der hohen Kaiserzeit bis zur Spätantike: Zwischen Schule und Forum „Was ist Rhetorik? Jedenfalls nichts Nützliches, nichts, was in der ‚Gesellschaft‘ etwas einbringt. ... Die Genealogie des antiken Bildungswesens sieht ... so aus: Am Anfang stand die Kultur selbst, dann folgte der Wille zur Kultur, danach die Schule und schließlich das zum Selbstzweck gewordene schulische Exerzitium.“

Der Mensch ist ein rhetorisch begabtes Mängelwesen1. Erst in der Gemeinschaft mit anderen vermag er seine Fähigkeiten zu entfalten und sein eigenes Überleben und das seiner Art zu sichern. Als animal sociale strebt er nach Vergesellschaftung, und seine biologische Ausstattung sichert ihm erst durch ein hochdifferenziertes Sprachsystem die Möglichkeit, komplexe Sozialformen auszubilden. Denn jede gesellschaftliche Organisation setzt Kommunikation voraus: Aktivitäten müssen koordiniert, Absichten verdeutlicht, Informationen über die Außenwelt gesammelt und den einzelnen Mitgliedern der Gruppe nach Bedarf übermittelt werden. Soziale Systeme konstituieren und reproduzieren sich so in Mitteilung und Austausch. Betrachtet man Gesellschaft als ein Netz von Kommunikationen zwischen einer Pluralität von Teilnehmern, so zeigt sich aber auch, daß nicht jedes ihrer Mitglieder zu allen diesen Prozessen gleichermaßen Zugang hat. Je komplexer die Struktur, desto stärker bilden sich Knotenpunkte der Kommunikation aus, desto stärker entwickelt sich aber auch eine Dichotomie von Zentrum und Peripherie. Dies gilt auch für die internen Macht P. VEYNE, Das Römische Reich, in: Geschichte des privaten Lebens. Vol. I: Vom Römischen Imperium zum Byzantinischen Reich, hg. v. Dems., Augsburg 2000 (frz. 1985), 19–228, 35 f. 1 P.L. OESTERREICH, Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Paradeigmata 11, Hamburg 1990, 45.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

strukturen: Macht entsteht dort, wo kommunikative Kontakte gehäuft auftreten; und dort wird die Kommunikationsfrequenz besonders hoch sein, wo Machtzentren angesiedelt sind. Um in einem solchen System bestehen und seinen Interessen Nachdruck verleihen zu können, bedarf es einer gewissen Virtuosität im Umgang mit den Kommunikationsmedien; diese müssen so zum Einsatz gebracht werden, daß mit einem möglichst hohen Grad an Wahrscheinlichkeit bei dem Adressaten der vom Sender gewünschte Effekt bewirkt wird. Wer immer eine gesellschaftliche Führungsrolle beansprucht, muß daher über eine hohe kommunikative Kompetenz verfügen – oder über einen Apparat gebieten, der die geforderten Fähigkeiten als Spezialistenwissen bereitstellt. Offenbar schon in einem sehr frühen historischen Stadium begannen Gesellschaften folglich, eine eigene Disziplin der Rhetorik, eine Art angewandter Kommunikationswissenschaft auszubilden2. Es wurden Leitsätze und schließlich elaborierte Lehrgebäude formuliert, die dazu befähigen sollten, den Prozeß der Mitteilungen, des Austauschs (und der Manipulation) in jeder gewünschten Weise zu gestalten und zu beeinflussen3. Fast zeitgleich mit dem Entstehen der Rhetorik aber regte sich auch die Kritik an der Redekunst, die nicht ganz zu Unrecht als Manipulation verstanden wird. Ihr Wesen bestehe darin, die Botschaft so zu gestalten, daß sie ihr Ziel um jeden Preis erreicht. Der Empfänger soll zu einer Reaktion gezwungen werden, die nicht in jedem Fall seinen objektiven Interessen und seinem Willen entspricht; erfolgreiche Rhetorik bezwingt. Nicht sachliche Überzeugung, nicht die nüchterne Präsentation von Fakten, sondern interessegeleitetes Überreden und suggestives Verfälschen von Sachverhalten sei ihr modus operandi. Im folgenden soll untersucht werden, wie sich der solchermaßen ambivalente Institutionalisierungsprozeß der Rhetorik auf Status, Bild und Selbstbild des Redners in der römischen Kaiserzeit auswirkte. Wie verstanden die Verfasser der Festreden sich selbst, wie wurde ihr Tun eingeschätzt und welche gesellschaftliche Stellung kam ihnen zu? Wo waren sie in der Machtgeographie der antiken Gesellschaft angesiedelt? Und welche Veränderungen lassen sich zwischen einem Redner wie Plinius und seinen spätantiken Nachfolgern, den gallo-römischen Panegyristen, ausmachen?

2 Dazu G. KENNEDY, Comparative Rhetoric. An Historical and Cross-Cultural Introduction, New York/Oxford 1998. 3 R. BARTHES, L’Ancienne rhétorique. Aide-mémoire, Communications 16, 1970, 172–223.

Kapitel zwei: Bild und Selbstbild des Redners

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1. Von Plinius zu den gallischen Rhetoren: „Dilettantismus“ und Profession Auch der orator, ja selbst der laudator Plinius agierte stets als ein Mitglied der römischen Oberschicht; zwar nicht aus der Urbs selbst, sondern aus Oberitalien stammend, war er doch mit weitreichenden Verbindungen zu den führenden Männern seiner Zeit ausgestattet. Nach einer auch unter Domitian kaum gebremsten Karriere gelangte er unter dem optimus princeps Trajan zu einer der höchsten Ehren, die das Reich zu vergeben hatte. Sein Panegyricus, die Dankrede des Suffektkonsuls, ist untrennbar mit diesem hohen sozialen Status verbunden. Das primäre Publikum der Ansprache bildete zwar zunächst der Senat, doch mit der publizierten Form seiner Rede zielte Plinius auf die gesamte gebildete Elite Roms. Und in der umfangreichen Korrespondenz, die die Veröffentlichung flankierte, gab er die nötigen Hinweise, wie sein Elaborat gelesen werden sollte: als programmatische Schrift, die das ideale Verhältnis von Princeps und Senatsaristokratie verkündet, die Spielräume beider Akteure definiert und einen Schlüssel zur Exegese der prägnantesten Formen symbolischer Kommunikation zwischen den entscheidenden Machtfiguren seiner Zeit liefert. Plinius wandte sich nicht allein an den Kaiser; er machte sich auch nicht zum Sprachrohr Trajans – Plinius sprach für sich selbst oder doch für das, was er für das Wohl des Staates hielt, mithin e re publica. Mit einer Klassifizierung als „Schmeichelei“ oder „Propaganda“ ist dem Produkt seiner rhetorischen Begabung daher nicht gerecht zu werden. Eher ist es ein Beispiel intensiven Auslotens der Möglichkeiten, Monarchie und traditionelle Politik- und Gesellschaftsformen zu vereinbaren; der Panegyricus zeichnet ein Bild des idealen Princeps und des idealen Senates, derer es bedarf, um das erhabene Ziel zu erreichen. Plinius mag in der Tat geglaubt haben, dieses Ideal in Trajan zu finden, und er mag auch gehofft haben, daß der Senat nach der Verunsicherung unter Nero und Domitian nun wieder zu würdevollem Handeln zurückkehren werde. Eine tiefe Sorge aber, diese positive Entwicklung könne ein abruptes Ende nehmen, ist im Hintergrund seiner Ausführungen stets zu vernehmen. Die historische Bedeutung des Panegyricus ist jedoch nicht der eigentliche Grund für seine Überlieferung über die Jahrhunderte hinweg. Am Ende des vierten nachchristlichen Jahrhunderts entschloß sich vielmehr ein Lehrer der Rhetorik im fernen Gallien, genauer: in Burdigala – damals ein Zentrum der Unterweisung in lateinischer Rhetorik4 –, Plinius’ Rede als 4 R. ÉTIENNE, Bordeaux antique. Histoire de Bordeaux. Vol. I, Bordeaux 1962, 235– 264; T.J. HAARHOFF, Schools of Gaul. A Study of Pagan and Christian Education in the Last Century of the Roman Empire, Johannesburg 21958, 46–48; jetzt auch H. SIVAN, Ausonius of Bordeaux. Genesis of a Gallic Aristocracy, London 1993, 74–93.

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eine Art Musterexemplar seiner Sammlung von elf epideiktischen Reden aus der Zeit von 289 bis 389 voranzustellen. Vermutlich handelt es sich bei dem Herausgeber um den Rhetor Latin(i)us Pacatus Drepanius, von dem auch die letzte im Corpus erhaltene Rede – ein Panegyricus auf Theodosius – stammt5. Pacatus war unter Theodosius ein Aufstieg vom Rhetorikprofessor aus der gallischen Provinz zum Proconsul von Africa gelungen; bezeichnenderweise trat er dieses prestigereiche Amt im Jahr nach seiner Lobrede auf den Kaiser an. Nach der Statthalterschaft wurde Pacatus wohl eine Position am Hof übertragen, im Jahre 393 amtierte er wahrscheinlich als comes rei privatae. Seine Kontakte erstreckten sich auf so bekannte und einflußreiche Persönlichkeiten des spätantiken Reichs wie Ausonius, Symmachus und vermutlich auch Paulinus von Nola6. Eine sprachliche Analyse der von Pacatus gesammelten Panegyrici hat vielfältige Anleihen bei der plinianischen gratiarum actio, aber auch bei dem Oeuvre Ciceros aufgewiesen (auf den ja seinerseits wieder Plinius umfassend zurückgegriffen hatte). Wie Edouard Vereecke gezeigt hat7, orientierten sich die spätantiken Festreden an diesen Vorbildern mindestens ebenso stark wie an den Lehren der damals einschlägigen rhetorischen Handbücher – von denen uns vor allem die aus dem dritten Jahrhundert stammenden Traktate Menander Rhetors bekannt sind8. Mit dieser Verfahrensweise standen Pacatus und seine gallischen Kollegen nicht allein; Plinius wurde von der literarisch gebildeten Elite im vierten Jahrhundert in5

Diese überzeugende These geht zurück auf R. PICHON, L’Origine du recueil des «Panegyrici Latini», REA 8, 1906, 229–249, hier 244–249. Vgl. DERS., Les derniers écrivains profanes. Les Panégyristes – Ausone – Le Querolus – Rutilius Namatianus, Paris 1906, 285–291. Vgl. auch R. REES, Layers of Loyalty, 22 f. 6 Sid., Epist. VIII 11,1 f.; Auson., Praef. 4,13; Symm., Epist. VIII 12; IX 61 u. 64; Cod. Theod. IX 2,4 (Proconsulat); IX 42,13 (comes rei privatae); PLRE I, 272. Vgl. auch D. NELLEN, Viri litterati. Gebildetes Beamtentum und spätrömisches Reich im Westen zwischen 284 und 395 nach Christus, Bochum 21981, 85 f. (abweichend: Herkunft aus Aginnum); E. GALLETIER, Panégyriques Latins, Texte établi et traduit par E.G. Vol. III, Paris 1955, 48–51; N.K. CHADWICK, Poetry and Letters in Early Christian Gaul, London 1955, 29 f.; R. ÉTIENNE, Bordeaux antique, 250 f.; K.F. STROHEKER, Der senatorische Adel im spätantiken Gallien, Tübingen 1948, 197 Nr. 271; M.-C. L’HUILLIER, L’Empire des mots, 31 f.; C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 437– 441; M. GÜNTHER, Art. Pacatus, DNP 9, 2000, 125; vgl. A. LIPPOLD, Herrscherideal und Traditionsverbundenheit im Panegyricus des Pacatus, Historia 17, 1968, 228–250; J.F. MATTHEWS, Gallic Supporters of Theodosius, Latomus 30, 1971, 1073–1099; S. MRATSCHEK, Paulinus von Nola. Kommunikation und soziale Kontakte zwischen christlichen Intellektuellen, Hypomnemata 134, Göttingen 2003, 31 f. 36 f. 7 E. VEREECKE, Le Corpus des Panégyriques Latins de l’époque tardive: Problèmes d’imitation, AC 44, 1975, 141–157, insb. 154–157. 8 Zu den beiden unter dem Namen Menander überlieferten Traktaten und ihrer Funktion vgl. F. GASCÓ, Menander Rhetor and the Works Attributed to Him, in: ANRW II.34.4, Berlin/New York 1998, 3110–3146, insb. 3118–3126. 3142.

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tensiv rezipiert und als paradigmatisch aufgefaßt – nicht zuletzt von einem Symmachus, der nicht nur in seinen Reden immer wieder aus dem Werk des jüngeren Plinius schöpfte, sondern auch seine Briefsammlung nach dem plinianischen Vorbild konzipierte. Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung, daß Symmachus seine rhetorische Ausbildung an der Universität von Burdigala erhalten hatte9. Insofern wirkte auch der Panegyricus des Plinius stil-, ja geradezu genrebildend, selbst wenn einige Jahrzehnte später ein Ästhet wie Sidonius Apollinaris (ein weiterer gallischer Rhetor!), der sich mit seinen Verspanegyriken selbst auf dem weiten Feld des genus demonstrativum bewegte, die literarische Qualität dieses Werkes eher kritisch einschätzte10. Alles deutet darauf hin, daß die am Ende des vierten Jahrhunderts entstandene Sammlung der XII Panegyrici Latini als ein Konvolut zu Unterrichtszwecken beziehungsweise zu Studien im Bereich der Stilistik und rhetorischen Formelsprache geplant war, nämlich als eine Zusammenstellung besonders gelungener und daher zur Nachahmung empfohlener Reden, als Nachschlagewerk und Inspiration für das Abfassen von Festansprachen. Dabei stammten die elf Reden des späten dritten und des vierten Jahrhunderts offenbar alle aus dem geographischen Umfeld des Kompilators. Insofern fällt die Rede des Plinius doch deutlich aus dem Sammlungsprinzip heraus. Zwischen ihr und dem nächstfolgenden Panegyricus klafft eine Lücke von knapp 200 Jahren, Verbindungsstücke – etwa ein Fronto, der der spätantiken Rhetorik doch als ein zweiter Cicero galt11 – fehlen. Es fällt aber gerade bei der Analyse der Rede des Pacatus auf, daß dieser in einem sehr hohen Maße Formulierungen, zum Teil sogar wortwörtliche Formulierungen aus den anderen Panegyrici des Corpus entliehen hat12. Dies ist ein starkes Indiz dafür, daß Pacatus selbst die entsprechenden Manuskripte als eine Art Handexemplar zur ständigen Konsultation bei der eigenen literarischen Produktion nutzte. Er verfügte dabei neben dem Plinius-Text über Material sowohl aus Augusta Treverorum (Pan. Lat. X u. XI, wohl auch XII) als auch aus Augustodunum (Pan. Lat. V, VI, VII [?], VIII, IX)13, und schließlich vermutlich aus der eigenen, aquitanischen Schultra-

9

Symm., Epist. IX 88; vgl. VI 34. Sid., Epist. VIII 10,3: [Plinius] M. Ulpio incomparabili principi comparabilem panegyricum dixit. 11 Pan. Lat. 8,14,2. 12 Dazu die Übersicht bei R. P ICHON, L’Origine du recueil, 244–247. Vgl. DERS., Les derniers écrivains profanes, 286–288; Ergänzungen bei C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 6 Anm. 19. 13 E. GALLETIER, Panégyriques Latins, Texte établi et traduit par E.G. Vol. I, Paris 1949, p. XII–XVII. 10

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dition (Pan. Lat. IV des Nazarius14). Auch Claudius Mamertinus, dessen gratiarum actio an Julian ebenfalls in den Panegyrici Latini überliefert ist (Pan. Lat. III), stammte aus Gallien oder hat sich zumindest längere Zeit dort aufgehalten15. Das Corpus spiegelt somit die Entwicklung einer spätantiken gallo-römischen Rhetorik, deren Wurzeln in einer intensiven Auseinandersetzung mit den oratorischen Schriften (und wohl weniger den Rhetorica) Ciceros, aber eben auch in der Beschäftigung mit der epideiktischen Beredsamkeit des Plinius lagen16. Plinius galt der spätantiken lateinischen Rhetorik als eine Landmarke, an der man sich abarbeiten, die man – wie Sidonius – bespötteln, an der man aber offenbar nicht vorbeigehen konnte. Dies ist insofern bemerkenswert, als sich die Rahmenbedingungen der lateinischen Panegyrik des dritten und vierten Jahrhunderts zum Teil erheblich von denen des plinianischen Panegyricus unterschieden. Pacatus und seine unmittelbaren Vorgänger waren anders als Plinius professionalisierte Spezialisten auf ihrem Gebiet, Rhetoriklehrer, die für ihre Tätigkeit (ihr artificium) entlohnt wurden; sie setzten sich damit von den zwar gut ausgebildeten, aber betont als Amateure, „Dilettanten“, auftretenden Angehörigen der römischen Oberschicht ab, für die Beschäftigung mit der Redekunst immer ein Teil des studium geblieben war17. Denn im Rom der späten Republik und frühen Kaiserzeit galt, auch wenn bisweilen eine Tendenz zur Aufweichung der harten Haltung gegenüber Fachgelehrten spürbar ist: dignitatem docere non habet18. Immerhin konzedierte Cicero, daß nicht zuletzt aufgrund ihres 14 Auson., Prof. Burdig. 14,8–10; Hieron., Chron. ad ann. 324 (Nazarius rhetor insignis habetur). 336; PLRE I, 618 f.; E. GALLETIER, Panégyriques Latins, Texte établi et traduit par E.G. Vol. II: Les Panégyriques Constantiniennes (VI–X), Paris 1952, 147 f.; R. ÉTIENNE, Bordeaux antique, 250; skeptisch gegenüber einer Herkunft des Nazarius aus Bordeaux C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 334–338; vgl. A.D. BOOTH, Notes on Ausonius’ Professores, Phoenix 32, 1978, 235–249, insb. 244 m. Anm. 27 (Herkunft aus Rom); R.P.H. GREEN, Still Waters Run Deep: A New Study of the Professores of Bordeaux, CQ 35, 1985, 491–506. 15 PLRE I, 340 f. Hiernach war Claudius Mamertinus vielleicht der Sohn oder der Enkel desjenigen Claudius Mamertinus, dem die Panegyrici von 289 und 291 zugeschrieben werden. Vgl. E. GALLETIER, Panégyriques Latins III, 3–5 (Verbindung zu Schulen in Augusta Treverorum beziehungsweise Augustodunum?); C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 386–389; D. NELLEN, Viri litterati, 40 f. 16 Vgl. M.-C. L’HUILLIER, L’Empire des mots, 38 f. 17 Dazu H. DAHLMANN, Der römische Gelehrte, Gymnasium 42, 1931, 185–192. 18 Cic., Orat. 42,144; J. CHRISTES, Bildung und Gesellschaft. Die Einschätzung der Bildung und ihrer Vermittler in der griechisch-römischen Antike, EdF 37, Darmstadt 1975, 211–228. Der Dialogus de Oratoribus des Tacitus spiegelt in eindrucksvoller Weise die Spannung zwischen einem traditionellen Ideal der Ausbildung zunächst in der Familie und in höherem Alter dann in der Begleitung eines angesehenen Redners bei seiner praktischen Tätigkeit einerseits und einer auf eine ars gestützten theoretisch-technischen Vermittlung von Bildung andererseits; so insb. Tac., Dial. 14 f. 19. 28. 31–35.

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Nutzens die bezahlte und spezialisierte Lehrtätigkeit für die Angehörigen anderer als der höchsten Statusgruppen – nämlich iis quorum ordini conveniunt – durchaus ehrenhaft sein könne19. Rhetorik als Schulfach fand Anerkennung, insoweit sie eine propädeutische Unterweisung leistete, aber nicht darüber hinaus20. Zudem galt der Unterricht, den die lange Zeit vor allem aus dem griechischen Osten stammenden Rhetoriklehrer anboten, wegen der mangelnden praktisch-politischen Erfahrung des Lehrpersonals als in den entscheidenden Fragen der Applikation des Erlernten defizient: nec mihi opus est Graeco aliquo doctore, qui mihi pervulgata praecepta decantet, cum ipse numquam forum, numquam ullum iudicium aspexerit ... Hoc mihi facere omnes isti, qui de arte dicendi praecipiunt, videntur; quod enim ipsi experti non sunt, id docent ceteros; sed hoc minus fortasse errant, quod ... pueros aut adulescentulos docere conantur.21

Die Beredsamkeit blieb in der römischen Idealvorstellung mithin vollkommen in die politische Tätigkeit des Vornehmen eingebunden; sie als Fachwissenschaft herauszulösen, erschien daher lange Zeit als wenig sinnvoll oder zumindest als problematisch22. In dieser Isolation mußte sie reine Schulrhetorik bleiben, deren Adept in der Praxis dem vielseitig Gebildeten und Erprobten unterliegen würde23. So blieb für Plinius Rhetorik noch zuallererst ein selbstverständliches Attribut seines sozialen Standes, eine Fähigkeit, die man sich angeeignet hatte und tagtäglich ausübte24. Sein Auftreten als patronus causae war keine Erwerbstätigkeit, sondern ein Teil des sozialen Geflechtes in Rom, ein officium oder beneficium, das durch symbolische Gegenleistungen entlohnt wurde. Finanzielle Abgeltung der Patronatsleistung vor Gericht hatte bereits in der Republik die lex Cincia verboten; zwar nahm Claudius eine Lockerung dieser Regelung vor und setzte eine maximale Vergütung von 10.000 Sesterzen für jeden Fall fest – doch blieb diese materielle Prämierung auch weiterhin stark umstritten25. Das Verbot materieller Entlohnung 19

Cic., Leg. I 151. J. CHRISTES, Bildung und Gesellschaft, 226–228. Cic., de Orat. II 100. 162. J. CHRISTES, Bildung und Gesellschaft, 213. 21 Cic., de Orat. II 75 f. 22 Vgl. Cic., de Orat. I 145 f. Dazu W. STEIDLE, Einflüsse römischen Lebens und Denkens auf Ciceros Schrift De oratore, MH 9, 1952, 10–41, insb. 20; zum kulturhistorischen Hintergrund auch P. ZANKER, Maske des Sokrates, 190–206. 23 Cic., de Orat. I 73. 24 S. auch H. BARDON, La notion d’intellectuel à Rome, StudClas 13, 1971, 95–107; W. RAECK, Bilder vom Redner, 159 (im Vergleich mit Griechenland). 25 Cic., Cato 10; Tac., Ann. XI 5,3. 7,4; XIII 5,1. 42,1; XV 20,3; Cass. Dio LIV 18,2. Vgl. Quint., Inst. XII 7,11; Tac., Dial. 8. M. CRAWFORD, Roman Statutes. Vol. II, BICS Suppl. 64, London 1996, Nr. 47; G. ROTONDI, Leges Publicae Populi Romani. Elenco cronologico con una introduzione sull’attività legislativa dei comizi romani, Mailand 1912 (Ndr. 1962), 261–263; P. STEIN, Lex Cincia, Athenaeum 73, 1985, 145–153. 20

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diente in besonderer Weise der Stabilisierung der römischen Gesellschaftsstruktur, weil es die Möglichkeiten sozialer Aufsteiger, die über keinen gesicherten finanziellen Hintergrund verfügten, stark einschränkte, durch die Übernahme von Mandaten vor Gericht soziales Prestige zu erwerben26. Für die spätantiken gallischen Rhetoren hingegen war die Redekunst ein durchaus probater Weg, Wohlstand, gesellschaftlichen Aufstieg, Einfluß und Ämter überhaupt erst zu erringen27. Sie standen damit im breiteren Strom einer Entwicklung, die nun immer häufiger Männer in die Führungspositionen des Reiches trug, die ursprünglich Bildung als Beruf betrieben hatten – Ausonius sei als Beispiel genannt, aber auch der unglückliche Eugenius, der es immerhin zu einer Art Schattenkaiser des Arbogast brachte. Noch zu Ciceros Zeiten war dies kaum denkbar, und in der Zeit des Plinius konnten Rhetoriklehrer zwar ein stattliches Auskommen erlangen, mußten die hohen Statuspositionen in der Regel aber ihren Schülern überlassen. Und doch ist eine Aufwertung von professionell mit der Rhetorik – und anderen Wissensgebieten wie der Jurisprudenz oder der Medizin – befaßten Männern im Laufe der Kaiserzeit zu beobachten. Dies drückt sich zum Beispiel in der Einrichtung staatlich besoldeter Lehrstühle für lateinische und griechische Rhetorik ab Vespasian sowie in der Befreiung von Rhetoren, Grammatikern (und Ärzten) von kommunalen munera aus28. Aber diese finanziellen Vergünstigungen bedeuteten zugleich staatliche Kontrolle auf allen Ebenen, durch die ordines der Städte, aber auch durch den Kaiser selbst, wie sich dies nicht zuletzt an der Gesetzgebung Julians nachweisen läßt29. 26 Vgl. E. BALTRUSCH, Regimen morum. Die Reglementierung des Privatlebens der Senatoren und Ritter in der römischen Republik und frühen Kaiserzeit, Vestigia 41, München 1989, insb. 63–69; M. JEHNE, Rednertätigkeit und Statusdissonanzen in der späten römischen Republik, in: Rede und Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen, Kolloquium Frankfurt a.M., 14.–16. Oktober 1998, hg. v. Chr. Neumeister/W. Raeck, Frankfurter Archäologische Schriften 1, Möhnesee 2000, 167–189, hier 172–174. 27 Eine bedeutende Rolle spielten neben den Gebühren und Geschenken der Schüler sowie der staatlichen Besoldung offenbar auch Heiratsverbindungen mit den führenden lokalen Grundbesitzerfamilien: R. ÉTIENNE, Bordeaux antique, 254 f., anhand des Materials aus Ausonius für die Verhältnisse in Burdigala. 28 Dazu W. LANGHAMMER, Die rechtliche und soziale Stellung der Magistratus Municipales und der Decuriones in der Übergangsphase der Städte von sich selbstverwaltenden Gemeinden zu Vollzugsorganen des spätantiken Zwangsstaates (2.–4. Jahrhundert der römischen Kaiserzeit), Wiesbaden 1973, 66–72; L. NEESEN, Die Entwicklung der Leistungen und Ämter (munera et honores) im römischen Kaiserreich des zweiten bis vierten Jahrhunderts, Historia 30, 1981, 203–235, hier 218. Vgl. T.J. HAARHOFF, Schools of Gaul, 135–150; S. MRATSCHEK, Paulinus von Nola, 24–26; T. MORGAN, Literate Education, 26 f. 29 Cod. Theod. XIII 3,5 (367); vgl. Cod. Just. X 53,2 (Gordian III.); H.-I. MARROU, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, Freiburg/München 1957 (frz. 31995),

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Auf der anderen Seite erfuhren einzelne Rhetoriklehrer, so sie befähigt erschienen und über entsprechendes Renommee verfügten, bereits ab dem Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts eine Reihe von Ehrungen, die auch individuellen sozialen Aufstieg implizierten: So wurde Quintilian nach dem Rückzug von seinem römischen Lehrstuhl von Domitian zum Erzieher seiner Erben berufen; wohl auf Betreiben des Flavius Clemens erhielt er die ornamenta consularia30. Zur ökonomischen Absicherung trat also eine bedeutende Statusaufwertung hinzu. Aber auch Quintilian hatte freilich nicht als Rhetor begonnen, sondern als Anwalt, und die Auftritte vor Gericht hat er wahrscheinlich auch während seiner Professur nie aufgegeben31. Dem aus Africa gebürtigen und ebenfalls durch Anwaltstätigkeit ausgewiesenen Fronto gelang unter Hadrian gar der Eintritt in den Senat. Antoninus Pius sollte ihm schließlich seinerseits die Ausbildung seiner präsumtiven Nachfolger anvertrauen. Fronto stammte wohl aus der ritterlichen Oberschicht Cirtas, über die entsprechende Finanzmittel verfügte also schon der Vater, und auch sein Bruder wurde in den Senat aufgenommen32. Insofern stand auch Fronto noch zu einem guten Teil in der Tradition des römischen Redners, des vir bonus: „Fronto was not a sophist, not a rhetorician, nor a professional teacher but a Roman orator who was interested in sophistry and rhetoric and became a tutor.“33 Eine Entlohnung für seine Tätigkeit als Erzieher wird dementsprechend auch nirgends erwähnt, statt dessen absolvierte Fronto einen cursus honorum, der ihn im Jahre 143 bis zum Konsulat führte. Eine solche Laufbahn war ohne kaiserliche Protektion zu dieser Zeit nicht vorstellbar. Auch scheint seine Aufgabe bei der Unterweisung der künftigen Herrscher vor allem im Bereich der Stilistik gelegen zu haben, die rhetorische Grundausbildung seiner vornehmen Schüler lag in anderen Händen34. Anhand dieser beiden prominenten Beispiele aus der frühen und hohen Kaiserzeit wird zum einen die Tendenz deutlich, daß eine professionell betriebene Rhetorik die im Zuge des tirocinium fori35 vermittelte praktische 444–446. Zum antiken Lehrbetrieb nun R. CRIBIORE, Gymnastics of the Mind: Greek Education in Hellenistic and Roman Egypt, Princeton (N.J.)/Oxford 2001, 45–73. 30 Quint., Inst. IV praef.; X 1,91 f.; Mart. II 90; Auson., Grat. act. 7,31; G.A. KENNEDY, Art of Rhetoric, 487–494. 31 Quint., Inst. VII 2,24; II 12,12; IV 1,19. 2,86; VI 1,39; VII 2,5; IX 2,73; Mart. II 90. M.L. CLARKE, Quintilian: A Biographical Sketch, G&R 13, 1966, 24–37, insb. 29– 31; G.A. KENNEDY, Art of Rhetoric, 492. 32 E. CHAMPLIN , Fronto and Antonine Rome, Cambridge (Mass.)/London 1980, insb. 9–19. 60–78. 33 G.A. KENNEDY, Art of Rhetoric, 594. 34 Ebda., 599–601. 35 Cic., Cael., 6–11; Brut. 306; Lael. 1; Leg. I 13; Quint., Inst. X 5,19; Tac., Dial. 2,1; 34; P.L. SCHMIDT, Die Anfänge der institutionellen Rhetorik in Rom. Zur Vorgeschichte

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Beredsamkeit schrittweise ablöste und an ihre Stelle ein systematisches, auf einer ars beruhendes Lehrgebäude setzte; zum anderen aber auch, daß diese Rhetorik immer stärker in den Einflußbereich des Kaisertums geriet und ihr Ansehen sowie ihre gesellschaftliche Stellung gerade von dieser Beziehung zum Herrscher ableitete36. Bereits diese Form der professionalisierten Redekunst unterschied sich von der eloquentia und facundia des Plinius, der selbst im Panegyricus noch eine prinzipielle Gleichrangigkeit zwischen Redner und Adressat, Senator und Princeps, behaupten konnte: Trajan sei letztlich, und zeige dies auch beständig in seinem Verhalten, unus ex nobis. Diese Art der Vereinnahmung des Kaisers war der Spätantike bereits im Ansatz verschlossen. Wo Plinius aufgrund seiner Stellung und der herrscherlichen Selbstdarstellung auf einer Ideologie der prinzipiellen Gleichrangigkeit aufsetzen konnte, verbot sowohl der soziale Status der spätantiken Rhetoren als auch die im Laufe des dritten Jahrhunderts zunehmende Übersteigerung des Kaisertums eine solche Argumentation grundsätzlich. Eine weitere Differenz zwischen Plinius, aber auch zwischen Quintilian und Fronto und ihren spätantiken Nachfolgern ergab sich aus der unterschiedlichen Stellung der Redner zum Machtschwerpunkt des Reiches. Plinius befand sich gesellschaftlich und geographisch im Zentrum des Imperium Romanum, die gallischen Redner jedoch gehörten von Rom aus gesehen der Peripherie an. Und als ein Bescheidenheitstopos wurde diese Sichtweise von den Gallo-Romanen selbst wiederholt vorgebracht. So bekundete Pacatus, er stamme vom äußersten Rande Galliens, ab ultimo Galliarum recessu, wo die Sonne im Meer verschwinde37. Mehrfach wiesen die Panegyristen darauf hin, das Lateinische nicht wie die römischen Vorbilder zu beherrschen, man habe es sich erst wie eine Fremdsprache aneignen müssen. Tatsächlich aber erweist sich das Latein der Panegyristen dem Forscher als beinahe klassisch38. Überhaupt hatte sich die Romanisierung im Sinne einer Latinisierung der provinzialen Führungsschichten in den der augusteischen Rhetorenschulen, in: Monumentum Chiloniense. Studien zur augusteischen Zeit. Kieler FS für Erich Burck zum 70. Geburtstag, hg. v. E. Lefèvre, Amsterdam 1975, 183–216, insb. 195. 36 Dazu J. CHRISTES, Bildung und Gesellschaft, 230. Vgl. H.-I. MARROU, Geschichte der Erziehung, 447 f. Besonders eindrücklich in der Gegenüberstellung von republikanischer Verachtung einerseits und Förderung der Rhetorik durch Julian andererseits: Pan. Lat. 3,20,2. 25,3. Vgl. auch T.J. HAARHOFF, Schools of Gaul, 132–135. 37 Pan. Lat. 2,2,1. 38 Pan. Lat. 2,1,3: rudem hunc et incultum Transalpini sermonis horrorem; 12,1,2: Neque enim ignoro quanto inferiora nostra sint ingenia Romanis, siquidem latine et diserte loqui illis ingeneratum est, nobis elaboratum et, si quid forte commode dicimus, ex illo fonte et capite facundiae imitatio nostra derivat. Zur Sprache der Paneygristen: R. PICHON, Les derniers écrivains profanes, 52–59.

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westlichen Provinzen des Imperium Romanum rasch vollzogen. Die lingua Latina fungierte als Verwaltungssprache und damit auch als Kommunikationsmedium mit der Provinz- und Reichsadministration. Sehr früh eignete sich daher die gallische Oberschicht die klassischen litterae an. So herrschte in Gallien bereits seit der frühen Kaiserzeit ein Nebeneinander der einheimischen Sprache und der Sprache der römischen Eroberer – mit einer zweisprachigen Elite als Mittler zwischen beiden39. Diese Entwicklung manifestierte sich etwa in Hybridbildungen der Namensform und letztlich in der kompletten Übernahme des römischen Namensformulars, aber auch in der Koexistenz gallischer Inschriften, gallisch-lateinischer Mischtexte40 sowie rein lateinischer tituli41. Als Sprache des monumental writing war Latein spätestens ab Augustus in Gallien etabliert und hat das Keltische (sowohl als Zeichen- als auch als Sprachsystem) in dieser Hinsicht fast vollkommen verdrängt42. Das Lateinische setzte sich in einem Prozeß der „partiellen Sprachverschiebung“ weiter durch43, bis in die niedrigeren sozialen Strata hinein. Mit dem Vordringen der germanischen Völker am Ausgang der Antike verschwand das Gallische wahrscheinlich vollkommen44. Zumindest in bestimmten Registern sprachlicher Kommunikation bestand ohnehin keine Alternative zum Lateinischen, und es wurde hier gewissermaßen in lateinischen Strukturen gedacht – neben dem Militär, der Verwaltung und dem Handwerk zählte dazu das Schulwesen mit dem Hauptgegenstand der Rhetorik45. Und gerade die dominierende Stellung von aus Gallien und Hispanien stammenden Rhetoren im Rom des ersten nachchristlichen Jahrhunderts zeigt, wie erfolgreich insbesondere die lateinische Kunstprosa in diesen Regionen aufgenommen worden war: die Gallo-Romanen Domitius Afer und Iulius Secundus dominierten die forensi39 Vgl. J. HERMAN, La langue latine dans la Gaule romaine, in: ANRW II.29.2, Berlin/New York 1983, 1045–1060, insb. 1049–1053. 40 Dazu W. MEID, Gallisch oder Lateinisch? Soziolinguistische und andere Bemerkungen zu populären gallo-lateinischen Inschriften, in: ANRW II.2.29, Berlin/New York 1983, 1019–1044. 41 Der epigraphische Befund ist freilich in nur sehr begrenztem Ausmaß aussagefähig hinsichtlich des tatsächlichen Gebrauchs des Lateinischen als gesprochene Sprache; die geringe Zahl von Inschriften in der indigenen Sprache erlaubt keine Rückschlüsse auf die Zahl ihrer Sprecher. Vgl. W.V. HARRIS, Ancient Literacy, Harvard 1989, 176 f. 42 G. W OOLF, Becoming Roman. The Origins of Provincial Civilization in Gaul, Cambridge 1998, insb. 93–98. Vgl. P.A. BRUNT, The Romanization of the Local Ruling Classes in the Roman Empire, in: DERS., Roman Imperial Themes, Oxford 1990, 267–281 u. 515–517 (zuerst 1976); W.V. HARRIS, Ancient Literacy, 175–190. 43 K.H. SCHMIDT, Keltisch-lateinische Sprachkontakte im römischen Gallien der Kaiserzeit, in: ANRW II.2.29, Berlin/New York 1983, 988–1018, hier 1003 f. 44 Ebda., 1004–1009. 45 Dazu K.H. SCHMIDT, Keltisch-lateinische Sprachkontakte, 1005–1009.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

sche Beredsamkeit46, der aus dem spanischen Calagurris stammende Quintilian erhielt den ersten staatlich besoldeten Lehrauftrag für lateinische Rhetorik, Seneca verfaßte die Reden Neros, die Controversiae und Suasoriae seines Vaters erlauben uns noch heute einen Einblick in die zeitgenössische römische Deklamationspraxis. Ein ähnliches Bild gallo-hispanischer Dominanz im Kulturellen ergibt sich, auf den Westteil des Imperiums bezogen, auch für das vierte nachchristliche Jahrhundert47. Dem immerhin aus der Metropole Alexandrien stammenden Claudian war die Gallia doctis civibus geradezu sprichwörtlich48. Das „schlechte“ Latein der gallischen Panegyristen war also sicher nur vorgeschoben. Überhaupt scheint der auch in anderen spätantiken Quellen geführte Diskurs über das Verhältnis von Latein und Gallisch beziehungsweise Keltisch in erster Linie Konstrukt zu sein. Die dort herausgestellte Dichotomie der beiden Sprachen weist, sofern das Keltische überhaupt noch gesprochen wurde, eher auf eine funktionale Diglossie hin; neben das Lateinische als „Hochsprache“ schiebt sich eine zumindest als indigen empfundene Volkssprache49. In diese Richtung deutet, was uns an Spärlichem über den Gebrauch des „Keltischen“ im spätantiken Gallien überliefert ist50. So kämpfte Sidonius Apollinaris gegen das Eindringen eines vermeintlich keltischen Dialektes in die Oberschichtenkommunikation und gegen eine „Barbarisierung“ der lateinischen Sprache51; und in den Dialogi des Sulpicius Severus tritt der Kelte Gallus (sic!) auf, der trotz rhetorischer 46

S. MRATSCHEK, Paulinus von Nola, 22 f. Vgl. K.F. STROHEKER, Der senatorische Adel, 32 f. Die gallo-römische Rhetorik der Spätantike hing allerdings offenbar in besonderer Weise einem eigenen, pathetischtragischen Stil an, wie etwa die Hoffnung des Hieronymus (Epist. 125,6,1), ut ubertatem Gallici nitoremque sermonis gravitas Romana condiret zeigt; er spricht mit Blick auf die gallische Redetradition wiederholt vom Gallicanus cothurnus (Epist. 37,3,1; 58,10,2, vgl. auch D.S. V 31,1); dazu E. NORDEN, Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance. Zweiter Band, zweiter Abdruck, Leipzig 1909, 632–642, insb. 634 f. 48 Claud. 8,582 f. Vgl. T.J. HAARHOFF, Schools of Gaul, 42. 49 Einen neuen Ansatz in der Konzeptualisierung von Zweisprachigkeit in antiken Gesellschaften vertreten auch J.N. ADAMS/S. SWAIN, Introduction, in: Bilingualism in Ancient Society. Language Contact and the Written Text, ed. by J.N. Adams/M. Janse/S. Swain, Oxford 2002, 1–20, insb. 9–12. Funktionale Diglossie in meinem Verständnis bedeutet, daß beiden Sprachen bestimmte Symbolwerte zugeschrieben werden; welche der beiden Sprachen benutzt wird, entscheidet sich aus dem Kommunikationskontext. 50 Vgl. auch die Diskussion bei S. MRATSCHEK, Paulinus von Nola, 28 f., die einen Stolz der gallischen Oberschichten auf keltische Abstammung ausmacht. Was dabei zählt, ist aber doch vor allem der Hinweis auf die alte Aristokratie des eigenen Geschlechtes, das eben schon in der vorrömischen Gesellschaft eine Führungsposition innehatte. Keltizismen mögen in dieser Hinsicht als Indikator für alten Adel gelten; unter dem Aspekt der litterae mußten sie aber problematisch bleiben. 51 Sid., Epist. III 3; vgl. N.K. CHADWICK, Poetry and Letters, 303. 47

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Ausbildung die letzten Spuren der rusticitas in seinem Sprechen nicht zu tilgen vermag52. Beide Texte präsentieren, wie auch die Panegyrici Latini, kontrastiv zu diesen „barbarisierenden“ Tendenzen ein gehobenes Latein als Normsprache für zivilisierte Kommunikation. Sie führen aber weit über eine kritische Beobachtung des empfundenen Sprachwandels durch eine traditionsorientierte Aristokratie hinaus; vielmehr schreiben sie dem idealen, klassischen Latein einen Symbolwert zu, der Romanitas schlechthin evoziert. Der Kampf um die Reinerhaltung der Hochsprache sowie das Bemühen um ein Latine et diserte loqui signalisieren so einen sozialen Anspruch; im Kontext der gallo-römischen Panegyrik unterstrich dies zugleich die unentbehrliche Funktion der Schulen als Vermittler einer kodifizierten Sprache, die Teil des Selbstverständnisses der gallo-römischen Oberschicht war. Zugehörigkeit zu dieser Elite setzte ihre Beherrschung voraus53. Der Bescheidenheitstopos, die Verbeugung der gallischen Redner vor den bedeutenden oratores veteres Roms macht aber vor allem deutlich, welche Bezugsgröße dieser Rhetorik zugrundegelegt wurde: das „reine“ Latein als Sprache des Zentrums des Reiches. Partizipation an dieser Sprache impliziert Partizipation an der Macht. Aber diese Teilhabe, die für Plinius noch selbstverständlich gewesen war, wird nunmehr als individuelle (Bildungs)Leistung dargestellt. Zu erklären, man beherrsche den Code nicht vollkommen, lenkt – wie jede captatio – erst die Aufmerksamkeit auf diesen Code und seine Komplexität; es lädt dazu ein, gerade auch der sprachlich-formalen Seite der Rede Aufmerksamkeit zu schenken und den Redner am Ende einer kritischen Überprüfung von der selbstverkündeten Inkompetenz freizusprechen. Insbesondere aber werden Fragen der Befähigung hinsichtlich des formalen Latein überhaupt erst als Problem in das Bewußtsein gerückt. Geschickt knüpfen die Panegyristen daran einen Diskurs über Zentrum und Peripherie im Imperium Romanum. Die rhetorische Figur des Bescheidenheitstopos reproduzierte dabei eine Raumkonzeption, die in der Kontinuität der klassischen Literatur stand und mit der realen politischen Geographie des dritten und vierten Jahrhunderts de facto nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen war. Das Herrschaftszentrum hatte sich bereits am Ende des zweiten Jahrhunderts von der Urbs abzulösen begonnen, als sich zunehmend ein Reisekaisertum ausbildete, das auf einer Vielzahl von Residenzen in den Metropolen der Provinzen 52 Sulp., Dial. I 4. 27; vgl. J. W HATMOUGH, ;. Being Prolegomena to a Study of the Dialects of Ancient Gaul, HSCPh 55, 1944, 1–85, hier 71 f. 53 Zum Selbstverständnis der Verfasser der Panegyrici Latini aus der tetrarchischen und konstantinischen Zeit als Gallier und Römer vgl. D. LASSANDRO, Sacratissimus Imperator. L’immagine del princeps nell’oratoria tardoantica, Quaderni di „Invigilata Lucernis“ 8, Bari 2000, 14–17.

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basierte54. Herodian hat bekanntlich diese Entwicklung in der prägnanten Wendung zusammengefaßt, Rom sei von nun an dort, wo der Kaiser sich aufhalte55. Das von Diokletian begründete System der Dyarchie und schließlich der Tetrarchie brachte eine weitere Ausdifferenzierung der Machtgeographie mit sich, da sich nun vier mobile Höfe in die Herrschaft teilten. Korrespondierend dazu rückte die praesentia der Kaiser in das Blickfeld, die – wie Roger Rees gezeigt hat56 – nun auf zwei Ebenen verhandelt wurde: als tatsächliche Anwesenheit des Herrschers vor Ort, zelebriert im Adventus; und als eine „metaphysischen Präsenz“, eine Allgegenwart des Herrschers, losgelöst von seinem tatsächlichen Aufenthalt. Bei all diesem aber blieb die Stadt Rom selbst ein Ort von höchster Symbolkraft, noch für Themistios war sie die „Hauptstadt der Triumphe“57. Daß die Stadt für die Selbstdarstellung der Kaiser noch immer eine bedeutende Rolle spielte, macht nicht zuletzt der Besuch Constantius’ II. im Jahre 354 deutlich58. Und auch die Tetrarchen begingen ihre Vicennalien beziehungsweise Decennalien in der Urbs, woran das Fünfsäulen-Monument erinnern sollte59. Die besonders vor dem Hintergrund der rasch wechselnden Kaiser des dritten Jahrhunderts unerhörte Dauer einer solchen Herrschaftszeit ließ sich am eindrucksvollsten im alten Mittelpunkt des Imperiums feiern, der in besonderer Weise Aeternitas verkörperte. Und doch befanden sich die gallischen Rhetoren vielfach dem eigentlichen Zentrum der Macht näher, als es bei der Lektüre ihrer Reden den Anschein hat. Für das Corpus der XII Panegyrici Latini ist festzuhalten, daß eine große Zahl der Festreden in Augusta Treverorum, Kaiserresidenz des Westens und Sitz des Praefectus Praetorio Galliarum, gehalten wurde. 54 E. MAYER, Rom ist dort, wo der Kaiser ist. Untersuchungen zu den Staatsdenkmälern des dezentralisierten Reiches von Diocletian bis zu Theodosius II., Römisch-germanisches Zentralmuseum, Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte – Monographien 53, Mainz 2002, insb. 1–3. 22 –39. 55 Pan. Lat. 11,12,2; Hdn. I 6,5. Vgl. auch Amm. XIV 11,10: non resides sed ultro citroque discurrentes. J. ELSNER, Imperial Rome and Christian Triumph: The Art of the Roman Empire AD 100–450, Oxford/New York 1998, 73; H. HALFMANN, Itinera principum, 151; J. LEHNEN, Adventus Principis, 190; A. PABST, Comitia imperii, 193 f. 56 R. REES, Layers of Loyalty, 1–4. 14–19. 57 Them., Or. 3,41c–42c. Zur Spannung zwischen dem Symbolwert Roms und der Anforderung an den Kaiser, seine cura um das Reich jeweils vor Ort und im Zweifel im Felde bei seinen Soldaten unter Beweis zu stellen: M. CHRISTOL, Le métier d’empereur et ses représentations à la fin du IIIe et au début du IVe siècle, CCG 10, 1999, 355–368. 58 ST. ELBERN, Das Verhältnis der spätantiken Kaiser zur Stadt Rom, RQA 85, 1990, 19–49. 59 A. CHASTAGNOL, Les jubilés impériaux de 260 à 337, in: Crise et redressement dans les provinces européennes de l’Empire (milieu du IIIe – milieu du IVe siècle ap. J.C.). Actes du colloque Strasbourg (décembre 1981), ed. par E. Frézouls, Strasbourg 1983, 11–25, hier 15–17.

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Gallien war unter Maximian und Constantius Chlorus, ebenso in den Anfangsjahren der Herrschaft Konstantins und schließlich unter Gratian einer der Hauptschauplätze herrscherlichen Handelns60; die Rhetoren der Schulen von Augustodunum, später auch von Burdigala sind dabei immer wieder in Kontakt mit dem Hof, wenn nicht gar mit dem Kaiser selbst gekommen61. Wenn sie selbst vor dem Herrscher auftraten, konnten sie dies allerdings gewöhnlich nicht in der Persona der res publica Romana tun, wie es Plinius für sich noch in Anspruch genommen hatte. Doch verfügten sie in aller Regel über ein Mandat, auf das sie sich auch nachhaltig beriefen und das ihrem Wort Gewicht verleihen sollte. Anders als Plinius konnten sie aufgrund ihres anders gearteten sozialen Hintergrundes keine eigene dignitas einbringen – eine Ausnahme mochte allenfalls die an Julian gerichtete Dankrede des Mamertinus bilden, die in mancher Hinsicht dem Panegyricus des Plinius am nächsten kommt. Aber sie fällt ob dieser Eigenschaften auch deutlich aus dem Corpus heraus, das Reden vereint, deren Autoren von den Handschriften in über der Hälfte der Fälle nicht einmal namentlich benannt werden (nämlich Pan. Lat. V–XII, mit der notorisch problematischen Überschrift von Pan. Lat. XI: Eiusdem magistri †memet genethliacus Maximiani Augusti) und dessen ursprünglicher Kern überschrieben war mit panegyrici diversorum VII62.

2. Der vielfache Nutzen der Rhetorik: Eumenius von Augustodunum Zwischen den gallischen Rhetorikschulen und dem Comitatus bestand in mehrfacher Hinsicht ein geradezu osmotisches Verhältnis; Rhetor und Hof waren auch institutionell eng mit einander verflochten. Besonders deutlich wird dies an der Person des Rhetoriklehrers Eumenius, der sich zeitlebens zwischen den Sphären von Schule und Hof bewegte und nach einer Zeit als magister memoriae von Constantius mit dem Wiederaufbau der Maenianae, der Rhetorikschule von Augustodunum, betraut wurde63.

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E.M. WIGHTMAN, Gallia Belgica, London 1985, 202 f. 234–239; H. HEINEN, Trier und das Trevererland in römischer Zeit. 2000 Jahre Trier. Vol. I, Trier 1985, 219–221; W. KUHOFF, Diokletian und die Epoche der Tetrarchie. Das römische Reich zwischen Krisenbewältigung und Neuaufbau (284–313 n. Chr.), Frankfurt a.M. u.a. 2001, 723–726. 61 S.G. MACCORMACK, Latin Prose Panegyrics, 30. 62 Vgl. E. GALLETIER, Panégyriques Latins I, X–XI. 63 Zu seiner Person vgl. E. GALLETIER, Panégyriques Latins I, 103–106; W.S. MAGUINESS, Eumenius of Autun, G&R 21, 1952, 97–103, insb. 99; D. NELLEN, Viri litterati, 19 f.; B.S. RODGERS, Eumenius of Autun, AncSoc 20, 1989, 249–266, hier 249–253; R. REES, Layers of Loyalty, 132–135.

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Dieses Augustodunum, als Nachfolgesiedlung von Bibracte und Hauptort der Aeduer eine augusteische Neugründung64, ist nach allem, was wir wissen, von Beginn an ein wichtiger Stützpunkt für die Romanisierung Galliens gewesen65. Bereits im Jahre 121 v. Chr. hatte eine Interessengemeinschaft zwischen Rom und den Aeduern im Kampf gegen Arverner und Allobrogen bestanden66. Und auch Caesar kooperierte während seines gallischen Feldzuges in zwar nicht immer konfliktfreier Form mit den Aeduern, bis diese in der Schlußphase des Krieges aufgrund innerer Auseinandersetzungen von Rom abfielen67. In dieser langen Vorgeschichte lag die Basis für ein auch von Rom anerkanntes Selbstverständnis des Stammes als Verbündeter Roms, schließlich gar als Blutsverwandte68 – fratres consanguinei populi Romani –69, wie immer wieder von Rednern aus Augustodunum betont wurde70. Auch bei der Einbeziehung der gallischen Provinzen in die politischen Strukturen Roms führten die Aeduer die Entwicklung an: Sie stellten den ersten Flamen des Roma- und Augustuskultes in Lugdunum und die ersten Senatoren, die aus der Gallia Comata stammten71. Ihre Stadt weist zudem eine früh einsetzende Tradition als überregional bedeutende Bildungsstätte auf72. Bereits im Kontext der Revolte des Iulius Sacrovir (21 n. Chr.) findet sie Erwähnung; denn hier habe sich die Jugend der gallischen Aristokratie aufgehalten, um in den artes liberales unterwiesen zu werden73. Für die folgenden Jahrhunderte fehlen allerdings 64 CHR. GOUDINEAU, Conclusion. De Bibracte á Augustodunum, in: Bibracte et les Éduens. À la découverte d’un peuple gaulois, ed. par Chr. Goudineau/Chr. Peyre, Paris 1993, 195–198. 65 G. W OOLF, Becoming Roman, 1–11. Zu den Beziehungen zwischen Rom und den Aedui bis zum Ende des ersten Jahrhunderts v. Chr. s. CHR. GOUDINEAU, Les Éduens aux IIe et Ier siècles avant J.-C., in: Bibracte et les Éduens. À la découverte d’un peuple gaulois, ed. par Chr. Goudineau/Chr. Peyre, Paris 1993, 171–193. 66 Flor. I 37; CHR. GOUDINEAU, Les Éduens, 174 f. 67 Caes., Bell. I 31; VI 12; VII 32 f. 37. 55. 89 f.; VIII 49; CHR. GOUDINEAU, Les Éduens, 177–188. 68 Dazu D.C. BRAUND, The Aedui, Troy and the Apocolocyntosis, CQ 30, 1980, 420– 425. Vgl. W.S. MAGUINESS, Eumenius of Autun, 97 f. 69 Caes., Bell. I 33; Cic., Att. I 19,2; Tac., Ann. XI 25. 70 Pan. Lat. 5,2,4. 3,1–4; 6,22,4; 8,21,2; 9,4,1. 71 Liv., Epit. CXXXIX (Flamen); Tac., Ann. XI 25,1 (primi Aedui senatorum in urbe ius adepti sunt. datum id foederi antiquo, et quia soli Gallorum fraternitatis nomen cum populo Romano usurpant.); G. WOOLF, Becoming Roman, 2 Anm. 3. 72 Vgl. A. STADLER, Die Autoren der anonymen gallischen Panegyrici, Diss. München 1912, 44 f. 73 Tac., Ann. III 43: Augustodunum ... Sacrovir occupaverat, nobilissimam Galliarum subolem, liberalibus studiis ibi operatam, et eo pignore parentes propinquosque eorum adiungeret; PIR IV2, 1952–1966, 267 f. J 539; H.-I. MARROU, Geschichte der Erziehung, 432; T.J. HAARHOFF, Schools of Gaul, 37 f., insb. 38: „If Lyons in these days was the political centre, the intellectual centre was certainly Autun.“

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Nachrichten zu Schule und Stadt, und erst ab der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts gewinnen wir überhaupt ein etwas genaueres Bild von der Bildungsstätte, ihren Lehrern und ihrer offiziellen Funktion. Die Grundlage hierfür bildet eine Rede, die Eumenius im Jahre 298 wohl vor dem Statthalter der Lugdunensis hielt. Er sagt dort von sich selbst, der Kaiser Constantius habe ihn auf eine Stelle berufen, die bereits sein Großvater innegehabt hatte. Dieser hatte an den Maenianae bis zu seinem achtzigsten Lebensjahr, vielleicht als griechischer grammaticus, wohl wahrscheinlicher als Rhetor, gelehrt74. In den turbulenten Ereignissen des dritten Jahrhunderts, insbesondere unter dem sogenannten Gallischen Sonderreich, war die Schule offenbar in eine Krise geraten, die zu einer zwischenzeitlichen Schließung führte75. Zudem wurde bei der Belagerung und Eroberung Augustodunums durch die Truppen des Victorinus auch das Schulgebäude stark in Mitleidenschaft gezogen, so daß sich trotz finanzieller Unterstützung durch Constantius am Ende des Jahrhunderts die Bauten noch immer im Zustand von Ruinen befanden. Immerhin war der Lehrbetrieb inzwischen wieder aufgenommen worden, erfolgte aber noch in privaten Räumlichkeiten76. Eine Schlüsselstellung in dieser Zwischenzeit muß der Rhetor Glaucus eingenommen haben, dem die Wiederbelebung der Maenianae zugeschrieben wird77; bei der Rede des Eumenius war er, nun ein senes, noch zugegen78. Ihm folgte ein weiterer Lehrer der Beredsamkeit, der aber bald verstarb. Und jetzt wurde Leitung der Schule auf kaiser74

Pan. Lat. 9,17,2 f. S. BRANDT, Eumenius von Augustodunum und die ihm zugeschriebenen Reden. Ein Beitrag zur Geschichte der römischen Literatur in Gallien, Freiburg i. Brsg./Tübingen 1882, 5 f. 75 Pan. Lat. 9,17,3: ante ingressum pueritiae meae intermissa fuerit eorum exercendis studiis frequentatio. Aus dem Kontext ergibt sich, daß die zeitweilige Einstellung des Lehrbetriebes noch vor der Eroberung und Zerstörung Augustodunums erfolgt ist. Eumenius, der zum Zeitpunkt der Rede nicht nur bereits Jahre als Rhetor und im Hofdienst abgeleistet hatte, sondern auch Vater eines erwachsenen Sohnes war, muß mithin in einem Alter von 30, eher 40 Jahren gestanden haben. Somit ist eine Datierung der Schulschliessung auf den Beginn der 260er Jahre anzunehmen. So bereits S. BRANDT, Eumenius von Augustodunum, 9; vgl. B.S. RODGERS, Eumenius, 252 f. 76 Pan. Lat. 9,9,1; W.S. MAGUINESS, Eumenius of Autun, 98–100. Zur Eroberung der Stadt durch Victorinus s. auch u., Kap. 3.2. 77 P. VEYNE, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike, München 1994 (frz. 1976), 545, hält Glaucus für den curator rei publicae, dessen Zustimmung für die Genehmigung der pollicitatio des Eumenius unabdingbar war. Die Indizien hierfür sind freilich schwach. Die einzigen Informationen, die wir über Glaucus jenseits seiner Rolle bei der Wiederbelebung der Schule (cuius ... locum ... ab isto venerabili sene ... recoli ornarique) und der Anwesenheit bei der Rede des Eumenius besitzen, beziehen sich auf seine griechische Herkunft und seinen Attizismus. E. GALLETIER, Panégyriques Latins I, 113, referiert frühere Ansichten, die in Glaucus den für den Wiederaufbau der Maenianae zuständigen Architekten sahen. 78 Pan. Lat. 9,17,3 f.

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liche Weisung an Eumenius übertragen. Dieser war offenbar bemüht, das Amt für die Familie zu sichern, seinen Sohn als möglichen Nachfolger in Stellung zu bringen und so eine veritable Rhetoren-Dynastie zu begründen, die bereits drei Generationen umfaßte79. Nicht ohne Stolz verwies Eumenius dabei auf die Herkunft seines Großvaters aus Athen. Der war, so erfährt der Zuhörer, auch in Rom erfolgreich tätig gewesen, bevor er nach Augustodunum gelangte. Seinem Enkel zufolge hatten ihn sowohl der Ruf der Schule als auch das prachtvolle Gebäude dorthin gezogen80. Die Ausführungen des Eumenius über die Geschichte seines Großvaters und die Entwicklung der Schule zeigen, daß Rhetorik als ein innerhalb der Familie tradierbares ‚Handwerk‘ betrachtet wurde, für das es Spezialisten gab, die unter Umständen auch von weither geholt wurden. „Athen“ und „Rom“ fungierten gewissermaßen als Markenzeichen für eine high qualityAusbildung in der Beredsamkeit, und im Falle von Eumenius’ Großvater sogar in der eloquentia utriusque linguae, die in der frühen Kaiserzeit das Oberschichtideal verkörperte und auch am Ende des vierten Jahrhunderts selbst in Gallien noch, wenn auch unter Mühen, aufrechterhalten wurde81. Falls auch der Rhetor Glaucus, wie sein Name nahelegt, aus dem Osten stammte – wenn auch nicht aus Athen selbst (non civitate Atticum, sed eloquio) –, dann muß von einer gewissen überregionalen Ausstrahlung und Anziehungskraft der Maenianae sowie dem Bemühen der Stadt um Rekrutierung insbesondere griechischstämmigen Lehrpersonals ausgegangen werden82. Ein weiterer Einblick in die Organisationsstruktur der Schule ist 79 Ein vollkommen übliches Verfahren, wie ein Blick auf die Verwandtschaftsverhältnisse der Professoren von Burdigala zeigt, über die wir durch Ausonius unterrichtet sind: siehe dazu den Überblick bei R. ÉTIENNE, Bordeaux antique, 241 f. Die Berufung durch den städtischen ordo war diesen Verflechtungen sicher zuträglich. Vgl. auch N.K. CHADWICK, Poetry and Letters, 30–35, für die Familie des Attius Patera, die ausweislich der Nachrichten bei Ausonius über vier Generationen hinweg Lehrpersonal an der Universität von Burdigala stellte und über die Stadt hinaus bis nach Rom Einfluß ausübte. In der ersten Generation finden wir Phoebicius, der seine Position als aedituus eines BelenusTempels aufgibt und an die Schule wechselt; er selbst soll von Druiden abstammen: Auson., Prof. Burdig. 5 u. 10. 80 Pan. Lat. 9,17,3. 81 Quint., Inst. I 4,1. 12,6; Plin., Epist. VI 6,3; Auson., Prof. Burdig. passim. Vgl. Cod. Theod. XIII 3,11 (376), wo zwar eine Stelle für den griechischen Grammaticus in der Residenzstadt Augusta Treverorum vorgesehen ist, aber im Zweifel bleibt, ob sich ein Kandidat dafür findet. R. ÉTIENNE, Bordeaux antique, 237–240, nimmt für Burdigala eine Zahl von fünf lateinischen, drei griechischen grammatici sowie fünf lateinischen Rhetoren an (anders C. JULLIAN, Ausone et Bordeaux. Étude sur les derniers temps de la Gaule romain, Bordeaux 1893, 66 f.; T.J. HAARHOFF, Schools of Gaul, 115). Die neuere Forschung setzt nun wesentlich geringere Zahlen (1–2 Rhetoren, mindestens je ein grammaticus für beide Sprachen) an: vgl. R.P.H. GREEN, Still Waters Run Deep, 495; A.D. BOOTH, The Academic Career of Ausonius, Phoenix 36, 1982, 329–343, insb. 335 f. 82 Vgl. E. GALLETIER, Panégyriques Latins I, 112 f.

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möglich: Eumenius sagt von sich aus, daß er die Stelle des summus doctor an der Schule bekleide. Die Maenianae haben also offenbar über einen umfangreicheren Personalbestand verfügt, waren jedenfalls kein Ein-MannBetrieb83. Die Berufung des Schulleiters erfolgte zumindest in diesem Fall auf Initiative des Kaisers, der auch, was jenseits der großen Metropolen durchaus unüblich war, das salarium übernahm84. Beides läßt auf die Bedeutung schließen, die Constantius der Schule zuschrieb. Wohl nahezu ganz Gallien dürfte in dieser Zeit das Einzugsgebiet der Maenianae gewesen sein85. Eumenius verfügte, das wird an seiner Selbstdarstellung deutlich, über ein ausgeprägtes Bewußtsein von der eigenen Professionalität im Bereich der Textproduktion. Wie bereits oben angedeutet, ermöglichte diese Basisqualifikation ihm ein Wandeln zwischen den Sphären der Schule und des Hofes beziehungsweise der zentralen Reichsverwaltung. Ausschlaggebend für diese Laufbahn scheinen eher formale Befähigung und tatsächlicher praktischer Nutzen als ein emphatischer Bildungsbegriff gewesen zu sein, wie er in der Repräsentation der römischen Oberschichten der Kaiserzeit in besonderem Maße festzustellen ist86. Auffällig ist indes, daß Eumenius in seiner Rede vor dem Statthalter, mit der er die Erlaubnis zur Finanzierung des Lehrbetriebs aus dem ihm gewährten salarium erbat87, nicht das Ansehen der Bildung per se und ihren inhärenten Wert argumentativ in den Vordergrund rückte, sondern ganz pragmatische Gründe. Unterricht in der Rhetorik vermittele die Befähigung zur Rede, und diese diene dem Lob des Kaisers; sie sei aber auch Voraussetzung für die Tätigkeit am Hofe wie in der Reichsverwaltung, ja sogar als Statthalter (dem zu dieser Zeit ja vor allem Funktionen in der Rechtsprechung zukamen). Eumenius’ Ausführungen sind vergleichsweise nüchtern, jedenfalls wenn man sie neben das hält, was etwa Libanius in seiner „Autobiographie“ (Oratio 1) zu seiner Tätigkeit und seiner sozialen Stellung sagt. Es hat den Anschein, daß die Lehrer 83

Pan. Lat. 9,5,3; A. STADLER, Autoren, 45. Hist. Aug., Pius 11,3 (Besoldung von Rhetoren); B.S. RODGERS, Eumenius, 255– 258; anders noch G. BOISSIER, Les rhéteurs gaulois du IVe siècle, Journal des Savants 1884, 5–18 u. 125–140, hier 131, und C. JULLIAN, Histoire de la Gaule. Vol. VIII, Paris 1926, 248 f.; W.H. ALEXANDER, The Professoriate in Imperial Gaul (297 A.D.), Transactions of the Royal Society of Canada 38, 1944, 37–57, hier 53 (Besoldung durch die Stadt); C.E. VAN SICKLE, Eumenius and the Schools of Autun, TAPhA 55, 1934, 236– 243, insb. 237–239, geht davon aus, daß Eumenius zwar von der Stadt besoldet wurde, diese aber die Möglichkeit erhielt, die Ausgaben mit ihrer Steuerschuld zu verrechnen. 85 Vgl. R. REES, Layers of Loyalty, 132; W.S. MAGUINESS , Eumenius of Autun, 100; zur Förderung der Schulen durch Constantius s. auch T.J. HAARHOFF, Schools of Gaul, 37. 86 Vgl. P. ZANKER, Maske des Sokrates, 206–221. 87 Eine eingehende Interpretation der Argumentationsstruktur dieser Rede hat nun R. REES, Layers of Loyalty, 130–152, vorgelegt. 84

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der Beredsamkeit im griechischsprachigen Bereich, beflügelt von den Wertvorstellungen der sogenannten Zweiten Sophistik, für sich selbst als Einzelpersonen viel selbstverständlicher eine gewichtige Position, eine höhere Dignität und politische Handlungsfähigkeit beanspruchten, als dies bei den gallo-römischen Rhetoren der Fall war. Vieles davon ist sicher auf den unterschiedlichen Kontext der beiden Texte zurückzuführen, und Eumenius tat sicher gut daran, sich selbst hier eher zurückzunehmen. Doch tritt auch in anderen Quellen der politische und soziale Anspruch eines Libanius sehr viel unmittelbarer zutage als bei den gallischen Panegyristen. Gemeinsam ist beiden Typen von Rhetoren aber die Überzeugung von der überragenden Bedeutung der von ihnen vermittelten und verwalteten Bildung. So weist Eumenius stolz auf die Lage seiner Schule in der urbanen Topographie Augustodunums hin: Sie befindet sich im Stadtzentrum, an der Hauptstraße, inmitten der von ihm als zentral dargestellten Heiligtümer, zwischen Capitolium und Apoll-Tempel88. Die Maenianae selbst sind für ihn quasi-sakrale Bauwerke: Weihestätten des Hercules. Durch Lage und Funktion stellen sie einen integralen Bestandteil der sakralen Stadtlandschaft dar89. Folglich sei der Verfall der Schulgebäude geradezu eine labes, die sich auch auf den Bereich der Heiligtümer ausdehne und so einer religiösen Befleckung gleichkomme90. Zugleich müßten die Maenianae aber auch als ein wirkungsvolles Symbol für die Romanisierung der Provinz, ja ganz Galliens gelten91. Eumenius sucht den (argumentativen) Anschluß an das Zentrum des Reiches auf zwei Ebenen: Er bindet zum einen die Verhältnisse in Augustodunum an Rom und die römische Geschichte zurück, indem er eine Parallele zur Stiftung des stadtrömischen HerculesTempels durch Fulvius Nobilior zieht92. Dies wiederum öffnet den Horizont in zwei Richtungen: hin zur griechischen Kultur und Mythologie, indem er auf den Kult des Herakles Musagetes verweist, der von Nobilior für Rom adaptiert wurde; und hin zur religiösen Legitimation der Tetrarchie, die sich auf Iuppiter und Hercules als Schutzgötter, numina der Augusti und Caesares beruft93.

88 Pan. Lat. 9,9 f. Zur Lokalisierung der Schulen im höhergelegenen, südwestlichen Teil – der arx – der auf Terrassen angelegten Stadt vgl. jetzt A. REBOURG, L’Urbanisme d’Augustodunum (Autun, Saône-et-Loire), Gallia 55, 1998, 141–236, hier 170–172. 194– 196. S. auch W.S. MAGUINESS, Eumenius of Autun, 99. 89 Vgl. R. REES, Layers of Loyalty, 147–151. 90 Pan. Lat. 9,9, insb. 9,4. 91 Vgl. G. W OOLF, Becoming Roman, 1–4. 9–14. Dieser Anspruch wird, bezogen auf die Schülerschaft der Maenianae, auch Pan. Lat. 9,5,3 deutlich: nobilissimam istam indolem Galliarum. 92 Pan. Lat. 9,7, insb. 9,7,3; vgl. Liv. XXXVIII 9,1–14; XXXIX 4,11 f. 93 Vgl. Pan. Lat. 9,8,1 f.

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Eumenius stellt sich zum anderen aber ostentativ in die Fluchtlinie einer reichsweit zu konstatierenden Sakralisierung von Bildung als  94. So wendet er eine Augenmetapher, die bereits Aelius Aristides für den Hafen der Stadt Smyrna gebraucht hatte95, auf die Heiligtümer Augustodunums an96: Die Tempel sind die Augen der Städte, dienen dem Austausch mit den Göttern. (Libanius sollte ihm in dieser Auffassung übrigens folgen.) Doch erst die Rhetorikschulen komplettierten das Antlitz einer Stadt und ihrer kommunikativen Fähigkeiten: Sie stellen das nötige Rüstzeug für die Kontakte zwischen Herrscher und Reichsbevölkerung zur Verfügung97, sind also gewissermaßen der Mund der Städte98. Die Argumentation des Eumenius verläuft also vielschichtig, führt neben dem Moment des Nutzens auch historische und „ideologische“ Beweggründe an. Dabei wird die Bindung Augustodunums an Rom in einer Weise betont, die der komplexen Struktur des Imperiums entsprach. Gemeint ist eine Verknüpfung, die auf imitatio der Urbs in vor allem religionsgeschichtlicher Hinsicht (konkret: auf dem Kult des Hercules als Patron der freien Künste) beruht, aber auch auf einer Nahbeziehung zu den Herrschern, in denen Rom verkörpert ist, die Rom in den Provinzen – in der Spätantike mithin im ganzen Reich – repräsentieren. Welche Schlüsselstellung dabei allgemein der Beredsamkeit zukam, verdeutlicht bereits der erste Satz der Rede des Eumenius. Denn, so führt der Panegyrist aus, auch der direkte Adressat seiner Ansprache, ein vir perfectissimus99, habe sich ja seit ehedem durch Redegewandtheit ausgezeichnet. Und diese Beredsamkeit, so wird eigens hervorgehoben, habe in jeder Redegattung bestanden: qui semper in omni genere dicendi maxima

94 Vgl. auch Pan. Lat. 9,10,2. 17,1 f.; 3,3,2. R. KASTER, Guardians of Language: The Grammarian and Society in Late Antiquity, The Transformation of the Classical World 11, Berkeley/Los Angeles/London 1988, 15 f. 95 Aristid., Or. 19,3; vgl. Or. 17,18 (Behr). Zur „religiösen Landschaft“ einer Stadt wie Antiocheia in der Darstellung des Libanius vgl. J. HAHN, „Die Tempel sind die Augen der Städte“ – Religiöse Landschaft und Christianisierung in Nordsyrien, in: Religiöse Landschaften, hg. v. Dems., Veröffentlichungen des Arbeitskreises zur Erforschung der Religions- und Kulturgeschichte des Antiken Vorderen Orients und des Sonderforschungsbereichs 493: 4, AOAT 301, Münster 2002, 141–179, insb. 141–147. An anderer Stelle benutzt Libanius ein ähnliches Bild (Or. 30,9) und bezeichnet die Heiligtümer in der Chora als deren „Seele“. 96 Vgl. L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 193 f. 97 Pan. Lat. 9,9,1. 10,2. 98 Ich danke Jörg Rüpke für diesen Hinweis. 99 Es muß sich bei diesem hohen ritterlichen Funktionär entweder um den Statthalter der Lugdunensis oder den Vicarius der dioecesis Galliarum gehandelt haben; so B.S. RODGERS, Eumenius, 263; vgl. W.H. ALEXANDER, Professoriate, 37; R. REES, Layers of Loyalty, 135.

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facultate viguisti100. Dies ist sicher Teil einer Strategie, den Hörer von Beginn an emotional der Botschaft der Rede zu verpflichten, das Interesse zu wecken und Wohlwollen zu schaffen, also: ihm zu schmeicheln. Eumenius folgt hier eindeutig den Anweisungen, die die rhetorischen Handbücher für den Einleitungsteil einer Ansprache bereithielten101. Darüber hinaus unterstrich dieser Einstieg die anhaltende – ja gesteigerte – Bedeutung der Rhetorik für die Legitimation der herrschenden Schicht Roms. Eloquenz war unverzichtbare Befähigung und Statussymbol der oberen Ränge im römischen Reich zugleich102. Eumenius griff dann in bezeichnender Weise die alte Scheidung von rhetorischer Theorie und Praxis, professionellem und gleichsam inhärentem Interesse an der Rhetorik wieder auf: certum habeo, vir perfectissime, non quidem te, qui semper in omni genere dicendi maxima facultate viguisti, sed circumstantium plerosque mirari quod ego, qui ab ineunte adulescentia usque in hunc diem numquam isto in loco dixerim et, quantulumcumque illud est quod labore ac diligentia videor consecutus, exercere privatim quam in foro iactare maluerim, nunc demum sero quodam tirocinio ad insolitum mihi tribunal adspirem, a quo ego me fateor, quamquam mihi sedes ista iustitiae et ed agendum et ad dicendum amplissima videretur, diffisum tamen ingenio meo antehac abfuisse et hoc ipso in tempore, quamvis diversissimum a contentione litium genus orationis habiturum, conscientiae trepidatione revocari.103

Anders als der vir perfectissimus verfügte Eumenius nach eigener Aussage über keinerlei Erfahrung in forensischer Beredsamkeit. Auch dies ist ohne Frage zunächst weiter dem Bereich der captatio benevolentiae zuzuordnen, also ein Bescheidenheitstopos. Doch zieht Eumenius – was wenig glaubwürdig wäre und, viel schwerwiegender, seine Position untergrübe – nicht generell die eigene Redefertigkeit in Zweifel, sondern weist auf das ihm fremde Genre hin. Schnell wird deutlich, daß besonders zwei Aspekte dabei eine Rolle spielen: Es geht Eumenius zunächst darum, die Eigenart des Ortes seiner Rede hervorzuheben104, das tribunal, Platz für die Verhandlung von Rechtsangelegenheiten und damit ein öffentlicher, genuin politischer Ort. Die Leitdifferenz lautet daher für ihn: exercere privatim quam in 100

Pan. Lat. 9,1,1. Dazu u. Kap. 3.3.a). 102 Vgl. auch T. MORGAN, Literate Education, 233: „rhetoric is primarily used to con– trol one’s material and one’s audience, to state one’s identity, beliefs and position in a form which invited not debate or engagement but unciritical assent from the recipient.“ Ähnlich T. WHITMARSH, Greek Literature, 96–108. Zur Bedeutung der „Bildung als Standesideal“ s. auch H. NIQUET, Monumenta virtutum titulique. Senatorische Selbstdarstellung im spätantiken Rom im Spiegel der epigraphischen Denkmäler, HABES 34, Stuttgart 2000, 167–172, dortselbst 168 Anm. 150 f. weiterführende Literatur. 103 Pan. Lat. 9,1,1 f. 104 Pan. Lat. 9,3,2: loci tantummodo insolentia, non dicendi novitate perturber. 101

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foro iactare maluerim – lieber die Abgeschiedenheit der Schule als die Exposition auf dem Forum105. Zum zweiten ist es Eumenius um die Rolle des Redners und den Modus der Aussage zu tun: Er hebt den Unterschied zwischen dem Redelehrer und den patroni forenses hervor; die contentio litium, also die Auseinandersetzung in streitigen Angelegenheiten, fällt nicht in das ihm angestammte Aufgabenfeld106. Offen räumt er ein, daß die Differenz zwischen einer schulmäßigen und einer angewandten Rhetorik, zwischen den secreta studiorum exercitia und der acies fori107, gleich der zwischen einem realen Kampf und seiner bloßen Inszenierung sei108. Eumenius reproduziert damit alle Vorwürfe, die seit Beginn einer schulmäßigen lateinischen Rhetorik gegen diese ins Feld geführt worden waren109. Seine Tätigkeit findet nicht in der Öffentlichkeit statt, sondern an einem zu diesem Zweck separierten Ort; sie hat keine unmittelbaren praktischen Auswirkungen, insofern sie alle Eventualitäten, alle möglichen rhetorischen settings in Trockenübungen nur als Gedankenspiel durchdekliniert und so allenfalls ein Vorgeplänkel, eine prolusio sein kann. Zudem betont er, daß das genus iudiciale, das in allen überlieferten lateinischen Traktaten zur Rhetorik an erster Stelle steht, nicht zu seinem Tätigkeitsbereich gehöre; allein die außergewöhnliche causa dicendi treibe ihn dazu, von der Epideixis zur Gerichtsrede zu wechseln. Aber dies ist lediglich die Oberfläche, eine Fiktion, die auch zur Ideologie des spätantiken Staates gehört. Denn in der Tat ist seine Rede in wesentlichen Teilen epideiktisch, nichts anderes als ein Lob auf die Bemühungen der Kaiser, insbesondere des Constantius, um den Aufbau der Stadt und die Wiederbelebung des Schulbetriebs. Eumenius spricht denn auch freimütig aus, daß seine Rede nichts mit den üblichen Auseinandersetzungen vor Gericht zu tun haben werde – quamvis diversissimum a contentione litium genus orationis habiturum110. Vielmehr bewegt er sich eigentlich auf dem Gebiet der deliberativen Rede, doch ist für diese offenbar kein Platz mehr vorhanden; der direkte Adressat seiner Worte, der Statthalter, fungiert als iudex, Eumenius spricht vor der sedes iustitiae. Sein Anliegen ist die Bestätigung eines Ak105

Pan. Lat. 9,1,1. Pan. Lat. 9,2,2: incognitam mihi sectam forensium patronorum; vgl. 9,3,2. 107 Pan. Lat. 9,2,3. 108 Pan. Lat. 9,2,4 f.: Ibi armantur ingenia, hic proeliantur. Ibi prolusio, hic pugna committitur. Hic plerumque velut sudibus et saxis, illic semper telis splendentibus dimicatur. Hic sudore et quasi pulvere sordidus, illic insignis ornatu laudatur orator, ut, si uterque experiundi causa officia commutent, alium quidam tubarum sonus et strepitus armorum, alium quaedam triumphi scaena deterreat. Es handelt sich dabei um einen Intertext aus Hor., Carm. II 1,21 f. 109 Vgl. Cic., Cael. 47; de Orat. I 147. 157; Quint., Inst. I 2,18; XII 6,4; Tac., Ann. XIV 53,4; Juv. 7,171–175; Petron., Sat. 2,3. 110 Pan. Lat. 9,1,2. 106

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tes traditioneller Munifizenz, er beabsichtigt, als Euerget aus den eigenen Einkünften die Rekonstruktion der Maenianae sine sumptu publico zu finanzieren111. Anders als in der klassischen Zeit stammen die dazu nötigen Mittel aber nicht mehr in erster Linie aus den Erträgen privaten Grundbesitzes, sondern aus den Bezügen, die ihm die res publica gewährt, seinem salarium. Dies ist zwar ein neues Muster individueller Stiftertätigkeit, aber es impliziert nichtsdestoweniger den Anspruch auf einen höheren gesellschaftlichen Rang – der rhetor und scholasticus wird hier zu einer der entscheidenden Figuren städtischen Lebens. Sein Vorhaben bedurfte jedoch der Absicherung und Zustimmung durch den Kaiser, wohl nicht nur, weil Eumenius auf der Soldliste des Hofes stand, sondern auch aufgrund der Folgekosten, die durch eine Wiedererrichtung der Schulgebäude auf Augustodunum zukamen112. Zudem suchte Eumenius offenbar die Position des Schulleiters gegenüber dem städtischen ordo zu festigen, indem er sich bei höchster Stelle rückversicherte. Dem Agieren des Rhetors auf der Ebene lokaler Politik und seiner Aneignung des traditionellen Habitus städtischer Magnaten entspricht eine Betonung der Verknüpfung von Reden und Handeln, von Bildungswert und Handlungsrelevanz der Rhetorik: Constantius habe völlig zu Recht bei der Auswahl des künftigen Leiters der Maenianae genauso viel Sorgfalt walten lassen wie bei allen anderen Regierungsentscheidungen; ihm sei die Vergabe dieses Postens ebenso wichtig wie die Bestellung geeigneter militärischer Kommandeure gewesen113. Denn eine solide Ausbildung in der Rhetorik sei eine Schlüsselqualifikation für die Verwendung in der Finanzverwaltung, als Statthalter oder in einem der zentralen Hofämter114. Selbst 111

Pan. Lat. 9,3,4. P. VEYNE, Brot und Spiele, 545. 113 Dies ist sicher rhetorische Übertreibung; doch das Interesse des Kaisers an einer qualitativ hochstehenden Ausbildungsstätte für das Verwaltungspersonal des Reiches liegt auf der Hand. Vgl. zur Motivation der Kaiser bei der Förderung von Schulen J. CHRISTES, Gesellschaft, Staat und Schule in der griechisch-römischen Antike, in: Sozialmaßnahmen und Sozialfürsorge. Zur Eigenart antiker Sozialpolitik, hg. v. H. Kloft, Grazer Beiträge Suppl. 3, Graz-Horn 1988, 55–74, insb. 68–74. Ob jedoch von einer regelrechten, auf das Hochschulstudium bezogenen „Schulpolitik der Zentralregierung“ (74) ab Diokletian geredet werden kann, erscheint mir fraglich. Der Vorschlag des Eumenius für die weitere Finanzierung der Maenianae ist im Grunde Beleg dafür, daß sich die Initiative der Zentrale nur zu oft in Einzelmaßnahmen erschöpfte, die kaum von einem langfristigen Konzept angeleitet wurden. Ein wesentlich dynamischeres Bild zeichnet R.A. KASTER, Notes on „Primary“ and „Secondary“ Schools in Late Antiquity, TAPhA 113, 1983, 323–346. 114 Pan. Lat. 9,5,3 f.: qui ... praeceptorem ei moderatoremque tribuerunt et inter illas imperatorias dispositiones, longe maioribus summae rei publicae gubernandae provisionibus occupatas, litterarum quoque habuere dilectum neque aliter quam si equestri turmae vel cohorti praetoriae consulendum foret, quem potissimum praeficerent, sui arbitrii 112

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für den Dienst im Heer wird die Unverzichtbarkeit einer solchen Unterweisung behauptet: Credo igitur, tali Caesar Herculius et avi Herculis et Herculii patris instinctu tanto studium litterarum favore prosequitur ut non minus ad providentiam numinis sui existimet pertinere bene dicendi quam recte faciendi disciplinas et pro divina intelligentia mentis aeternae sentiat litteras omnium fundamenta esse virtutum, utpote continentiae, modestiae, vigilantiae, patientiae magistras. Quae universa cum in consuetudinem tenera aetate venerunt, ad omnia deinceps officia vitae et ad ipsa quae diversissima videntur militiae atque castrorum munia convalescunt.115

Aneignung der litterae bedeutet also nicht nur den Erwerb von Kulturtechniken, sondern auch Aneignung einer bestimmten Haltung, Rhetorikunterricht ist auch Unterweisung in Ethik: Rhetorik selbst ist virtus, die alle übrigen virtutes begründet116. Das im Panegyricus inserierte kaiserliche Ernennungsschreiben für Eumenius zeigt, daß hierüber ein fundamentaler Konsens herrschte117. Da die epistula das Produkt einer mit den Absolventen rhetorischer Ausbildung besetzten Kanzlei war, kann eine solche Entsprechung allerdings kaum verwundern. Daß Rhetorik für alle denkbaren öffentlichen Tätigkeiten qualifiziere, war ohnehin Allgemeingut der Kaiserzeit118. Eumenius fügt aber diesem allgemeinen (ethischen) Nutzen der  , die durch den Rhetor vermittelt wird, noch den konkreten Nutzen der Rhetorik als Anleitung zur Beredsamkeit, zum Umgang mit gehobener Sprache, hinzu. Er nennt dabei zwei Bereiche, nun ganz und gar pro domo sprechend: Tätigkeit in der kaiserlichen Kanzlei und Tätigkeit als Orator. Ersteres bedeute, die Entscheidungen der Herrscher in eine bestimmte Form zu bringen, zu verdolmetschen, nämlich caelestia verba et divina sensa principum proloqui119. Die zweite Aufgabe bestehe im Herrscherlob, Eumenius zufolge die vornehmste und sinnvollste Funktion der Beredsamkeit (melior usus eloquentiae)120. Diese doppelte Aufgabenstellung des Herrscherlobs und der Artikulation gemeinsam geteilter Ansichten brachte ein Redner des Jahres 307, der vor Maximian und Konstantin sprach, auf die

esse duxerunt, ne hi quos ad spem omnium tribunalium aut interdum ad stipendia cognitionum sacrarum aut fortasse ad ipsa palatii magisteria provehi oporteret, veluti repentino nubilo in mediis adulescentiae fluctibus deprehensi, incerta dicendi signa sequerentur. 115 Pan. Lat. 9,8,1 f. 116 S. auch Cod. Theod. XIV 1,1: litteratura quae omnium virtutum maxima est; vgl. T. MORGAN, Literate Education, 223. 117 Pan. Lat. 9,14, insb. Abschnitt 4. 118 Vgl. Jul., In Gal. 229 E. H.-I. MARROU, Geschichte der Erziehung, 450–452. 119 Pan. Lat. 9,6,2. 120 Pan. Lat. 9,9,1. 10,2 (Zitat).

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prägnante Formel von praeconium ac veneratio121. Im Zusammenspiel von politischer Macht und rednerischer Begabung soll die Rhetorik dem Schutz des Herrscher, dessen virtus aber der Verkündung durch die oratores anvertraut werden122. Rhetorik gilt Eumenius so gar als integraler Bestandteil römischer Macht und ihre Wiederbelebung als Voraussetzung für die Restitution römischer Weltherrschaft123. Auch von hierher begründet sich die Forderung nach einer angemessenen Unterbringung der Schule, einer sedes propria, die eine würdevolle Repräsentation erlaubt und den öffentlichen Charakter und Nutzen der Einrichtung unterstreicht124. Und was für die Funktion und für die Behausung der Beredsamkeit gilt, wird schließlich auch für den Lehrer selbst in Anspruch genommen: Der Lehrberuf ist ein ehrbarer Beruf, er verleiht Würde und Rang – dies ist die exakte Gegenposition zu der von Cicero referierten Haltung der römischen Elite zu Zeiten der ausgehenden Republik. Eumenius tritt mit dieser Ansicht aber nicht selbst an die Öffentlichkeit, sondern er zitiert aus der sacra epistula, dem Berufungsschreiben, mit dem Constantius ihn an die Spitze der Maenianae beordert hatte: cum honesta professio ornat potius omnem quam destruat dignitatem125. Diese Formulierung wie auch ihr weiterer Kontext verraten aber, daß eine solche Aussage auch am Beginn der Spätantike nicht unumstritten war. Denn Constantius mußte die Versetzung des Eumenius vom Amt des magister memoriae auf einen Lehrstuhl126 sowohl durch die – im Grunde auch wieder problematische, da den Verdacht der cupiditas weckende127 – 121

Pan. Lat. 7,3,1; vgl. auch Pan. Lat. 12,1,1; 8,1,1. 1,2. 2,2; 2,1,1. 2,1 f.; 9,9,1. 10,2. Vgl. die Allegorie Pan. Lat. 9,7,3 zum Verhältnis von Herrschern (verkörpert in Hercules) und Rednern (Musen): Musarum quies defensione Herculis et virtus Herculis voce Musarum. 123 Pan. Lat. 9,19,4. R. REES, Layers of Loyalty, 143. 124 Pan. Lat. 9,8,3: nun sei auch ihre sedes propria wiederzuerrichten, ut, cum ad antiquam firmitatem cultumque reparata sit, multo hic iustius et verius nuncupetur aedes Herculis atque Musarum; 9,9,1: Et sane, vir perfectissime, interest etiam gloriae quam tanti principes tot victoriis ac triumphis merentur ut ingenia quae canendis eorum virtutibus excoluntur non intra privatos parietes, sed in publica ostentatione et in ipso urbis istius ore vegetentur. 125 Pan. Lat. 9,14,4; vgl. ebda.: salvo ... privilegio dignitatis tuae; wiederaufgenommen 16,4; 9,6,2: [Constantius] qui honorem litterarum hac quoque dignatione cumulavit ut me filio potius meo ad pristina mea studia aditum molientem ipsum iusserit disciplinas artis oratoriae retractare. Mit dem Begriff dignitas (dignatio) scheint hier also sowohl eine bestimmte Rangstufe innerhalb der spätantiken Hierarchie als auch der damit verbundene Ehranspruch sowie Besoldung gemeint zu sein. 126 Eine Fehlinterpretation des kaiserlichen Schreibens liegt der Ansicht von W.H. ALEXANDER, Professoriate, 42, zugrunde, Eumenius habe sein Hofamt auch nach Übernahme der Schulleitung beibehalten. 127 Pan. Lat. 9,12,2: Quippe hoc ipso praemii gloria continetur ne id cupiditate quaerendi adfectasse videamur. 122

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Verdoppelung der Besoldung als auch durch den ausdrücklichen Hinweis auf die dignitas der Stellung aufwerten128. Bewußt oder unbewußt, der Kaiser räumt ein, daß die professio, also die Schulleitung in Augustodunum, einen Zuwachs an Ansehen dadurch erfahre, daß ihr Inhaber aus dem Hofdienst kommt129. Auch Eumenius betont in sehr auffälliger Weise, daß seine Versetzung vom Posten des a memoria an die Maenianae keinerlei Zurückstufung bedeute (non utique quia mihi ... vellet aliquid imposita ista professione detrahere)130. Auf jeden Fall implizierte der Wechsel für ihn einen Verlust an Kaisernähe, des Einblicks in die Korrespondenz des Herrschers sowie an Einfluß bei der Vorbereitung von Entscheidungen, die auf Petitionen aus den Provinzen antworteten131; seine Position an der Seite des Herrschers mußte er gegen eine Professur in Gallien eintauschen. Man geht wohl nicht fehl anzunehmen, daß die gesamte Rede, mit der sich Eumenius als Euerget seiner Heimatstadt, als Vertrauensperson des Constantius und als hochqualifizierter Rhetor darstellt, nicht zuletzt auch dazu diente, sein Ansehen in der Heimat zu steigern132. Eumenius stand in vielerlei Hinsicht nicht allein. Durchmustert man das Material, das die Panegyrici Latini zur Stellung des Redners (als Rhetor wie als Orator) im dritten und vierten Jahrhundert bieten, so fällt – wie oben bereits angedeutet – eine enge Verbindung zum Hof ins Auge. Neben Eumenius standen auch die Redner der Jahre 297133, 310134 und wohl auch 291 (und 289)135 im Dienste der Kaiser, und zwar offenbar jeweils als magister memoriae. Sie alle hatten anfänglich eine Tätigkeit als Rhetor ausgeübt und waren wegen ihrer Expertise von ihren Städten mit dem Vortrag von Festreden vor dem Kaiser betraut worden. Die Panegyrici dienten ih128 Salarium: Pan. Lat. 9,11,2: ut trecena illa sestertia, quae sacrae memoriae magister acceperam, in honore privati huius magisterii addita pari sorte geminarent; Ambivalenz der Berufung: Pan. Lat. 9,14,4: nec putes hoc munere ante partis aliquid tuis honoribus derogari. 129 Pan. Lat. 9,6,3: ut professioni ipsi ex eo honore quem gessi adderet dignitatem. 130 Pan. Lat. 9,6,3. 14,4 (ksl. epistula, Zitat s.o.); F. MILLAR, Emperor, 503 f. 131 Zum Aufgabenbereich des magister memoriae: Not. dign. Or. XII 19, Not. dign. Occ. X 17; A.H.M. JONES, The Later Roman Empire: A.D. 284–602. A Social, Economic, and Administrative Survey. Vol. I, Oklahoma 1964 (Ndr. Baltimore 1986), 367 f. u. 504 f.; F. MILLAR, Emperor, 265 f. 132 Vgl. S. BRANDT, Eumenius von Augustodunum, 8 f. 133 Pan. Lat. 8,1,4 f. 134 Pan. Lat. 6,23,1. 135 Wenn die Auflösung der Crux magistri †memet in der Überschrift von Pan. Lat. 11 zu magistri mem et , die O. SEECK, Studien zur Geschichte Diocletians und Constantins. I.: Die Reden des Eumenius, Neue Jahrbücher für Philologie und Paedagogik 58, 1888 (= Jahrbücher für classische Philologie 34, 1888), 713–726, hier 714, vornimmt, zutreffend ist. Vgl. dazu aber die skeptische Untersuchung von R. REES, Layers of Loyalty, 193–204.

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nen als eine Art Leistungsschau, gute Redner konnten auf sich aufmerksam machen und schließlich zum Leiter des scrinium a memoria bestellt werden136. Im Falle des Verfassers von Panegyricus Latinus VIII erfahren wir, daß er als Rhetor mit der Ausbildung der Jugend betraut gewesen war; auf Empfehlung des Constantius hatte er dann bereits einmal in Anwesenheit Maximians feierlich das Wort für eine Lobrede auf den Augustus und seinen Caesar Constantius ergreifen dürfen – mit Erfolg, denn Constantius konnte ihn daraufhin in den Comitatus berufen137. In seiner neuen Funktion begleitete der Rhetor dann die Kaiser unter anderem auf einem Feldzug gegen die Alamannen138. Nach dem Rückzug in den Ruhestand139 wurde ihm schließlich noch einmal eine Gesandtschaft zu Constantius übertragen, dem er zum Sieg über Allectus gratulieren sollte – im Auftrag seiner Heimatstadt Augustodunum, aber auch communi Galliarum nomine140. Auch der uns namentlich ebenfalls unbekannte Redner des Jahres 310 konnte für sich in Anspruch nehmen, diversa otii [fori?] et palatii officia durchlaufen zu haben. In seinem Panegyricus bittet er Konstantin um Protektion nicht nur für seine fünf Kinder, von denen einer als advocatus fisci tätig sei141, sondern auch für all seine Schüler, die ihm ebenfalls als Söhne galten: praeter illos enim quinque quos genui, etiam illos quasi meos numero quos provexi ad tutelam fori, ad officia palatii. Multi quippe ex me rivi non ignobiles fluunt, multi sectatores mei etiam provincias tuas administrant.142

Hier zeigt sich wiederum die Bedeutung der Rhetorikschulen für die Ausbildung von Verwaltungspersonal, und zwar sowohl am Hof als auch in den Provinzen143. Zudem werden die Aufstiegsmöglichkeiten sichtbar, die 136 A. STADLER, Autoren, 38 f., versucht anhand der Angaben in den Panegyrici Latini für das Jahrzehnt von 286–296 eine lückenlose Reihe der magistri memoriae zu rekonstruieren; demnach hatte zunächst der Autor der Panegyrici von 289 und 291, dann der Verfasser von Pan. Lat. VIII und schließlich Eumenius dieses Amt inne. Einen östlichen Vorläufer hat diese Entwicklung in der Bestellung von Sophisten zum ab epistulis Graecis; vgl. dazu E.L. BOWIE, The Importance of Sophists, YCS 27, 1982, 29–59, insb. 39– 59. 137 Pan. Lat. 8,1,1–5. Dazu A. STADLER, Autoren, 23. 38 f.; S. BRANDT, Eumenius von Augustodunum, 10 f. (aber: das genannte Amt sei am Hofe des Maximian angesiedelt gewesen – so auch A. KLOTZ, Studien zu den Panegyrici Latini, RhM 66, 1911, 513– 572, insb. 521–523); R. PICHON, Les derniers écrivains, 277 f. (skeptisch gegenüber der Identifikation des Hofamtes als a memoria); E. GALLETIER, Panégyriques Latins I, 71 f.; C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 104 f. 138 Pan. Lat. 8,2,1. 139 Pan. Lat. 8,1,4. 140 Pan. Lat. 8,9,2. 21,2. 141 Pan. Lat. 6,23,1. 142 Pan. Lat. 6,23,2. 143 W.H. ALEXANDER, Professoriate, 43 f.

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bis hin zu Statthalterschaften reichten. Dieser Befund läßt sich mit anderem Quellenmaterial korrelieren. Es zeigt sich dabei generell, daß ab dem zweiten Jahrhundert verstärkt Rhetoren oder rhetorisch Ausgebildete in die nun ritterlichen Hofämter, insbesondere a memoria und ab epistulis, berufen wurden, ohne daß sie zum Zeitpunkt ihrer Ernennung bereits einen regelrechten ritterlichen cursus vorzuweisen hatten. Ein Zwischenschritt zum Aufstieg in die unmittelbare Umgebung des Kaisers scheint die Position des advocatus fisci gewesen zu sein. Eine klassische Laufbahn als eques und der Aufstieg in die höchsten Ränge konnten sich dann anschließen. Auch hier ist kennzeichnend, daß die soziale Mobilität nach oben im Dienst des Kaisers den Rhetoren erlaubte, gegenüber ihren Heimatstädten als Wohltäter aufzutreten und gegebenenfalls als patronus zu fungieren144. Die Spannbreite der Tätigkeit und der häufige Wandel zwischen „innen“ und „außen“, zwischen Schule, Hof, Reichsverwaltung und Tribunal, wird auch anhand der von Ausonius dargestellten Karrieren der Professoren von Burdigala deutlich145. Als ein wiederkehrendes Muster tritt hier die anwaltliche Praxis neben den Unterricht. Dieser Befund steht im Gegensatz zu der von Eumenius beteuerten Abstinenz von jeder forensischen Ausübung der Beredsamkeit. Allerdings zeigt das Beispiel des Attius Tiro Delphidius, daß das Risiko, bei einer Mitwirkung in Prozessen sehr schnell zum Opfer konkurrierender Machtinteressen zu werden, nicht unterschätzt werden durfte: odia magnis concitata litibus waren eine sehr konkrete Bedrohung146. Für die Verfasser der Panegyrici aus diokletianischer und konstantinischer Zeit läßt sich eine Tätigkeit vor Gericht jedenfalls nicht belegen147, wohl aber eine recht enge Beziehung zu den ordines ihrer Heimat144 Vgl. H. DESSAU, ILS 1459 (Q. Axilius Urbicus, 3. Jh.) sowie 1214 u. 1215 (C. Caelus Saturninus, unter Konstantin); F. MILLAR, Emperor, 83–101, insb. 98. 145 Auson., Prof. Burdig. 2,7–10. 15–18; 17,8–14; 24,7. Vgl. auch Augustin., Conf. VI 11,18–19. R. ÉTIENNE, Bordeaux antique, 255 f. 146 Auson., Prof. Burdig. 5,19–24, Zitat 21. Vgl. PLRE I, 246; Amm. XVIII 1,4. A.D. BOOTH, Notes, 236–239; D. NELLEN, Viri litterati, 30–32. M. HEATH, Menander. A Rhetor in Context, Oxford 2004, insb. 279–291, hat nun das Pendeln der Rhetoren zwischen Deklamation, Gerichtsrede und politischer Ansprache im Rat oder vor der Volksversammlung sehr viel stärker herausgestellt, als dies bislang getan wurde. Demnach spielten die „klassischen“ Betätigungsfelder des rhetorisch Gebildeten auch in Zeiten zunehmender Professionalisierung eine erhebliche Rolle. Für den Fall des Delphidius macht allerdings Ausonius klar, worauf seine forensischen Aktivitäten zielten: seu tu cohortis praesulem praetoriae provinciarum aut iudices coleres, tuendis additus clientibus famae et salutis sauciis (Prof. Burdig. 5,15–18). 147 Eine mögliche Ausnahme könnte allerdings der Redner von Pan. Lat. VI bilden. Für 6,23,1 schlägt E. BAEHRENS statt: hanc meam qualemque vocem diversis otii et palatii officiis exercitam eine Änderung in diversis fori et palatii officiis vor, der sich auch R. PICHON, L’Origine du recueil, 234 f., und D. LASSANDRO in seiner Edition der Panegyrici Latini anschließen. Für sie besteht das Problem darin, daß das handschriftlich überlieferte

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

städte. So traten die Redner der Jahre 297 und 312 jeweils im Auftrag Augustodunums vor den Kaiser148. Beide waren dort als Rhetor tätig, der Verfasser der zeitlich späteren Rede gehörte gar selbst dem Stadtrat an149. Und auch der uns namentlich unbekannte Redner, der sich 310 anläßlich des Stadtgeburtstages von Augusta Treverorum an Konstantin wandte, gibt sich als Bürger von Augustodunum zu erkennen. Im Schlußteil seiner Rede äußert er den Wunsch, der Kaiser möge seine patria demnächst mit einem Besuch beehren150. In wessen Namen sprach er diese Einladung aus? Es gibt keine direkten Hinweise auf eine Beauftragung des Redners durch den Hauptort der civitas Aeduorum; statt dessen finden wir im Exordium die Bemerkung, daß ihm ein Datum für seinen Auftritt erst kurz vorher mitgeteilt worden sei: quoniam maiestas tua hunc mediocritati meae diem in ista civitate celeberrimum ad dicendum dedisset. Er habe sich daraufhin bei der Konzeption der Rede mit anderen besprochen, die ihm dazu geraten hätten, seinen Anfang vom Anlaß der Feierlichkeiten zu nehmen. Dieser Empfehlung wollte er aber nicht folgen, sie deute ihm zu sehr auf ein Extemporieren hin, das für einen Vortrag im Angesicht des Kaisers nicht angemessen sei151. Und so beginnt er mit der origo Constantini; mithin mit dem denkbar konventionellsten Einstieg in ein Herrscherlob152. All dies deutet darauf hin, daß hier ein Redner in das offizielle Festprogramm eingefügt wurde, ohne daß es einen unmittelbar erkennbaren Bezug zu dem Rahmenprogramm gab. Neben einer inhaltlich definierten diplomatischen Mission eines Orators im Auftrag einer öffentlichen Körperschaft (Stadt oder Provinz) gab es also auch den scheinbar eher ‚schmückenden‘ Auftritt als Bestandteil einer Zeremonie. Vielleicht lag hierfür eine Liste in Frage kommender Redner vor, die nach Bedarf vom Hof Redezeit zugeteilt bekaotium nur dann Sinn gibt, wenn es hier synonym für Rhetorik gebraucht wird. Otium könne diese Bedeutung tatsächlich jedoch nicht annehmen. Es darf aber nicht übersehen werden, daß in den Panegyrici das Verhältnis des studium litterarum des Rhetors zu einer Tätigkeit am oder vor dem Hof – also in Verbindung mit dem Kaiser – mit der Antithese privatus – publicus wiedergegeben wird, vgl. Pan. Lat. 5,1,2, ähnlich 8,1,4 f.; 9,6,2; 6,23,3. Für die Selbstbeschreibung des Redners ist die Unterscheidung zwischen Unterricht und öffentlicher Tätigkeit, nicht die zwischen forensischen und administrativen Aktivitäten entscheidend. Es ist m.E. gerade nicht ausgeschlossen, daß in diesem Sinne otium hier als Gegenbegriff zu den officia palatii fungiert. Der Text der Mss. ist also zu halten. E. GALLETIER, Panégyriques Latins II, 32 f., übernimmt die Konjektur ebenfalls nicht, sieht aber im otium sowohl die Tätigkeit als Anwalt als auch die des Rhetors inbegriffen. 148 Pan. Lat. 8,21,2; 5,1,2. 149 Pan. Lat. 5,1,3 f. 150 Pan. Lat. 6,22. 151 Pan. Lat. 6,1,1 f. 152 Pan. Lat. 6,2,1. L. PERNOT, Les topoi de l’éloge chez Ménandros le Rhéteur, REG 99, 1986, 33–53, insb. 35.

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men153. Zum Teil lagen hierfür offenbar Empfehlungen und Wünsche aus dem Kreis der palatini respektive des Herrschers selbst vor, zum Teil aber wohl auch Vorschläge aus den Provinzen. Letzteres wird vor allem wahrscheinlich, wenn man betrachtet, in welchem Maß der Redner von 310 seine Ansprache zwar als Gelegenheit zur Selbstdarstellung nutzte, wie sehr er aber auch seine Heimatgemeinde darin einbezog. Es scheint mir daher denkbar, daß der Redner vom Stadtrat Augustodunums (beziehungsweise von der Rhetorikschule der Maenianae) richtiggehend nominiert wurde. Die Tatsache, daß Konstantin bereits kurze Zeit nach diesem Auftritt tatsächlich nach Augustodunum reiste154, spricht wohl weniger für die Überzeugungskraft des Rhetors als vielmehr dafür, daß entsprechende Planungen und Absprachen zwischen Hof und ordo bereits angelaufen waren. Die Rede diente somit als ein Glied in einer Kette vorbereitender Maßnahmen. Einen Redner aus Augustodunum anzufordern, stellte die Hinwendung des Kaisers zu dieser Stadt heraus. Trifft diese Hypothese zu, dann zeichnet sich in Umrissen ab, wie der Spielraum eines gallo-römischen Rhetors zwischen Einbindung in seine Heimatstadt, Interessen des Hofes an zeremonieller Rhetorik und eigenen Ambitionen als Orator immer wieder sorgsam auszutarieren war. Der Redner hatte demnach bei seinem Vortrag in mehrfacher Hinsicht Rücksicht auf spezifische Interessenlagen zu nehmen. Neben den üblicherweise anzustellenden Überlegungen bezüglich Anlaß, Publikum und Adressat, die als klassische Aufgabe des Redners in die Traktate und Handbücher ab Aristoteles Eingang fanden, waren ins Kalkül einzubeziehen: die Stellung des Redners im Verhältnis zu Hof und Heimatstadt, das Bedürfnis des Hofes nach zeremonieller Rede, der Nachweis eigener oratorischer Qualitäten gerade auch in Konkurrenz zu anderen Rednern, und, insbesondere sofern er mit einem wie auch immer definierten Mandat sprach, der Stand der Beziehungen zwischen Zentrale und Peripherie. Die Frage, in wie weit eine solche Rede nun ein tatsächliches Meinungsbild der Bevölkerung oder doch nur die „Propaganda“ des Herrschers wiedergab, ist also nicht mit einer einfachen Formel zu beantworten155. Es ist jedoch evident, daß offene Kritik am Kaiser sowohl mit Blick auf die faktischen Machtstrukturen als auch hinsichtlich der Einbindung der Reden in einen zeremoniellen Rahmen – aus dem zu fallen nicht nur ein Stilbruch, sondern auch ein handwerklicher Fehler wäre – nicht einmal eine theoretische Opti153 J.A. STRAUB , Vom Herrscherideal in der Spätantike, Forschungen zur Kirchenund Geistesgeschichte 18, Stuttgart 1939 (Ndr. Darmstadt 1964), 150; M. MAUSE, Darstellung des Kaisers, 49 f. Vgl. auch unten Kapitel 4.2. 154 Vgl. Pan. Lat. 5. 155 Für neuere Ansätze in dieser Frage vgl. E. MAYER, Rom ist dort, wo der Kaiser ist, 6–22; M. MAUSE, Darstellung des Kaisers, 43–45.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

on war. Auf der anderen Seite ist den Rhetoren aber auch eine Funktion als Sprachrohr des Hofes nicht ohne wesentliche Einschränkungen zuzuschreiben. Dem stand nicht zuletzt ihr Selbstverständnis entgegen, und auch systemisch mußte für eine Wirksamkeit der Rede zumindest ein Rest an Autonomie und Glaubwürdigkeit des Redners bewahrt werden. Wirft man nun noch einmal einen Seitenblick auf die „Autobiographie“ des Libanius, wird deutlich, wie sehr eine epideiktische Rede, zumal ein  , das Ergebnis eines vielschichtigen Aushandlungsprozesses war. Anhand seines Verhältnisses zum hochgebildeten Strategius Musonianus, praefectus praetorio Orientis156, läßt sich dies exemplarisch betrachten157. Libanius stellt sich in diesem Zusammenhang in erster Linie als Mittler zwischen seiner Heimatstadt Antiocheia und Musonianus, den der Hof mit der Untersuchung von Unruhen dortselbst beauftragt hatte, dar. Bei der Lektüre der entsprechenden Passagen entsteht der Eindruck, daß die Unterhandlungen zwischen den beiden nicht zuletzt subtil inszenierte Auseinandersetzungen um die Form und das Maß der wechselseitigen Ehrerbietung waren. So machte Libanius dem hohen Verwaltungsbeamten täglich seine Aufwartung; dies bedeutete aber auch: Er wurde Tag für Tag vorgelassen und mit einer Unterredung beehrt. Bei einer dieser Begegnungen „forderte“ Musonianus schließlich eine Lobrede ein, die Libanius ihm doch zugesagt habe. Denn der Rhetor hatte ihn im Namen der Stadt bei seiner Ankunft in Antiocheia gemäß der Etikette mit einem kurzen &%" #! begrüßt und dabei das Versprechen gegeben, auf diese Ansprache beizeiten eine längere Rede folgen zu lassen. Musonianus nahm ihm beim Wort. Und der geforderte  , so bedingte er sich nun aus, sollte in allen denkbaren Topoi angemessen ausgearbeitet sein. Eine solche regelrechte Bestellung von epideiktischen Reden durch ihre Adressaten ist im Text des Libanius ein immer wiederkehrendes Motiv, das gleichberechtigt neben dem souveränen Auftritt des Sophisten aus eigener Entscheidung steht. Libanius verstand es aber, auch diese Konstellation so zu stilisieren, daß er in dem Spiel der Kräfte als vollwertiger Partner erscheint. Denn er willigte angeblich nur unter der Bedingung ein, daß er das Enkomion auf Musonianus nicht etwa am Sitz des Praetorianerpräfekten, sondern im Bouleuterion von Antiocheia halten werde, also im Amtslokal des Stadtrates, zugleich eine der üblichen Lokalitäten für sophi-

156 PLRE I, 611 f.; vgl. auch Himer., Or. 62,6; Amm. XV 13,1–2; XVI 9; Eus., v.C. III 53,9. 62,1. Ausweislich Lib., Or. 1,80–84, war Musonianus maßgeblich an der Berufung des Libanius auf eine Professur in Athen beteiligt. Bereits unter Konstantin fungierte er als Berater des Kaisers in Fragen des Vorgehens gegen Anhänger des „Manichäismus und anderen Aberglaubens“ (Amm. XV 13,2). 157 Lib., Or. 1,106–115.

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stische Schaureden158. Den Ort und den Rahmen des gewünschten Lobes bestimmte also Libanius selbst, der durch seine Rede Geehrte mußte ihm durch den Gang zum Bouleuterion ungewohnte Reverenz erweisen: & 8   + <  

 " #? " 8 !  ) " @ ,  8    #!  " * B     3 #! .159

Die Ehrerbietung des Musonianus gegenüber den #! nahm dem Zeugnis des Libanius zufolge auch den ersten Teil der Rede ein. Der Umfang seines Enkomions wurde dann aber so gewaltig, daß Libanius insgesamt drei Sitzungen benötigte, um es vollständig vorzutragen; und ein jedes Mal war der Präfekt anwesend. Er ließ im Auditorium zehn Schreiber plazieren, die die Rede mitstenographierten, um sie sodann in den wichtigsten Städten zu verbreiten. Dieses ungewöhnliche Verhalten soll an sich bereits auf eine unerhörte Resonanz in der Öffentlichkeit gestoßen sein. Sowohl Libanius als auch Musonianus wurden zum Stadtgespräch. Um den Effekt noch zu steigern, fügt Libanius in seiner autobiographischen Schrift an, daß sich einer seiner Konkurrenten durch Bestechung rasch die Mitschriften verschafft und das Material dann hemmungslos plagiiert habe160. Mit dieser Information will Libanius dem Leser einmal mehr die eigene rhetorische Brillanz vor Augen führen, an der selbst Neider und Rivalen nicht vorbei konnten. Mit dem stillen Arrangement von Musonianus und Libanius war beiden geholfen: Der Rhetor hatte Gelegenheit, nicht nur eine in Thema und Umfang gewichtige Rede öffentlich vorzutragen; er konnte sich auch als derjenige präsentieren, dem es durch Beharrlichkeit gelungen war, den Präfekten gleichsam auf fremdes Hoheitsgebiet zu zwingen und sich so ein Heimspiel zu verschaffen. Hingegen bot sich für Musonianus die einmalige Möglichkeit, durch diese Geste des Respektes vor den #!161 seine   unter Beweis zu stellen. Und schließlich wurde ihm eine Lobrede zuteil, die nicht nur von einem der berühmtesten Redner des Reiches stammte, sondern der durch ihre ungewöhnlichen Begleitumstände auch höchste Aufmerksamkeit sicher war. Bei alledem hat Libanius die Episode in seiner Autobiographie so angelegt, daß sie durchgängig als freundschaftliches, respektvolles, aber unterschwellig doch entschiedenes Tauziehen um den beiderseitigen Status erscheint. Geschickt ist der Bericht über erbitterte Konkurrenz zwischen Libanius und einem anderen Sophisten eingeflochten; die Rivalität der beiden Redner wird noch verschärft durch den Prestigegewinn, der Libanius 158

Vgl. M. KORENJAK, Publikum und Redner, 30–33. Lib., Or. 1,112 (137 F/77 R). 160 Lib., Or. 1,112–115. 161 Die Bedeutung dieses Themas wird besonders deutlich in Lib., Or. 1,167–170. 159

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aus dem Umgang mit Musonianus zuwächst. Die ostentative Darstellung eines wechselseitigen Gebens und Nehmens zwischen Rhetor und Präfekt – inszeniert im Vorfeld und während des Vortrages selbst, inszeniert aber auch im autobiographischen Text – diente in der beschriebenen Weise der Selbstdarstellung beider Parteien sowie ihrer wechselseitigen Legitimation: der wortgewaltige Redner, vor dem die Macht sich verbeugt162; der hochgebildete Verwaltungsbeamte, der im Gegenzug das Lob seiner überragenden  , Voraussetzung für alle statthafte Machtausübung, erntet. Bei Musonianus war eine solche Art des Lobpreises auch deshalb angezeigt, weil er als sozialer Aufsteiger im Reichsdienst eine steile Karriere gemacht hatte und seinen Status nicht auf eine vornehme Herkunft gründen konnte163. Libanius als Enkomiast mußte seine Topoi zwangsläufig an anderer Stelle suchen. Die Autobiographie des Libanius liefert aber auch weitere Hinweise darauf, was eine besonders gelungene epideiktische Rede ausmacht: Neben der bereits von Musonianus so sehr geforderten Fülle, dem , sind das insbesondere Fragen des Stils164, mithin sprachliche, nicht vornehmlich inhaltliche Kriterien. Jedenfalls habe es sich bei seiner Rede zum vierten Konsulat Julians so dargestellt. Doch damit nicht genug. Libanius schildert eindrucksvoll, welch regen Zulauf seine öffentlichen Vorträge auch in Konstantinopel gefunden hatten. Gerade die in Massen zu Mitgliedern des Senats in Konstantinopel berufenen Militärs seien zu ihm geströmt. Sie waren jedoch weniger an seiner Deklamationskunst interessiert als an allen Details der actio beziehungsweise pronuntiatio, der Darbietung: Die neuen Senatoren wollten sich auf diese Weise für eigene Reden in der Kurie etwas „abschauen“165. Es ging ihnen also nicht eigentlich darum, was gesagt wurde, sondern wie Libanius es sagte. Auch Musonianus wußte ja nur zu gut, daß die Topoi des Lobes auf ihn im Grunde festlagen. Worauf er aber Wert legte, war die Auxesis dieses Grundgerüstes; und Julian hatte offen162 Meisterhaft beherrschte dieses Spiel offenbar auch Polemo von Smyrna, der gerade von den Trägern politischer Herrschaft Gesten des Respekts ihm gegenüber erzwang: Philostr., VS 533–535 (gegenüber Antoninus Pius als Proconsul und dem bosporanischen König sowie generell zur Haltung Polemos gegenüber Autoritäten); 538 f. (gegenüber Herodes Atticus). 163 Vgl. auch B. BLECKMANN, Art. Musonianus, DNP 8, 2000, 552 f. 164 Lib., Or. 1,127–130 (Rede auf das 4. Konsulat des Julian und stürmische Begeisterung des Kaisers). 165 Lib., Or. 1,76. M. KORENJAK, Publikum und Redner, 54–57, sieht das Interesse an den Äußerlichkeiten des Vortrages vor allem bei den weniger gebildeten Zuhörern (wie dies Libanius ja auch selbst suggeriert). Die ) des Redners scheint aber auch bei „Insidern“ ein besonderes Augenmerk hervorzurufen (vgl. insb. Philostr., VS 537 f.), wie überhaupt eine Trennung von Inhalt und Darbietung nicht gut möglich ist – wenn sie in den rhetorischen   vorgenommen wird, dann nur zu analytischen Zwecken, mit stetem Verweis auf die Übereinstimmung von Wort und Geste etc.

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bar nicht deswegen Libanius zugejubelt, weil er so viel Positives über sich zu hören bekam, sondern weil er, der sich selbst beständig mit Rhetorik beschäftigte, mit geschultem Ohr die Exzellenz der sprachlichen Ausführung sofort bemerkte. Ohne Frage waren diese Bewertungsmaßstäbe fest in der Tradition der Zweiten Sophistik verankert; hierauf deutet vor allem die Obsession für die sprachliche Form. Was von den östlichen Beispielen läßt sich aber auf die Panegyrici Latini übertragen? Hier ist zunächst das Bemühen um eine möglichst hohe Sprachreinheit festzuhalten, wie es aus den Bescheidenheitstopoi der gallischen Rhetoren abzuleiten ist, die angeblich das Lateinische nicht „korrekt“ beherrschten. Es ist darüber hinaus der Charakter der Rhetorik als ein „Markt“ hervorzuheben, auf dem Ansehen, Status und Legitimation gehandelt werden. Der Rhetor bot ein bestimmtes sprachliches Produkt, idealerweise von höchster Qualität, und erhielt im Gegenzug nicht nur die Gelegenheit zu einem Aufritt vor einflußreichstem Publikum, sondern auch die Option auf eine Stellung am Hof, auf Kaisernähe. Im lateinischen wie – mit Einschränkungen – auch im griechischen Bereich166 scheint der Redner dabei nie völlig freischwebend gewesen zu sein. Vielmehr blieb er in unterschiedlichem Ausmaß an seine Heimatstadt gebunden, die an seinem Ruhm partizipierte, in der er selbst sich aber auch zu positionieren trachtete167. Hier war er als Lehrer tätig, hier agierte er vielleicht im Stadtrat und in den Gerichten, übernahm Gesandtschaften, vertrat die Stadt gegenüber den römischen Autoritäten bis hin zum Kaiser168. Philostrat hat die symbiotische Beziehung von Redner und Stadt für den hellenischen Osten auf die folgende Formel gebracht: C !7 #  % #   D , 7  C- $  (.  #169. Im Westen galt dies grundsätzlich kaum anders. Wenn die Rhetoren also auf einem Markt operierten, auf dem sie sich gegenüber Konkurrenten behaupten mußten, den eigenen Profit zu maximieren suchten und dabei sowohl die Bedürfnisse derjenigen, die ihre Leistungen nachfragten, als auch die Mechanismen und Regeln des Marktes zu berücksichtigten hatten, so ist nun noch einmal näher darauf zu schauen, welche Strategien zur Optimierung ihres „Produktes“ die Redner anwenden konnten. Die von ihnen gebotenen Dienste bestanden generell in 166 Zur hohen Mobilität einiger Sophisten bei gleichzeitiger Bindung an die Polis vgl. G. ANDERSON, The Second Sophistic. A Cultural Phenomenon in the Roman Empire, London/New York 1993, 24–30. 167 Wobei durchaus eine doppelte Bindung an die Geburtsstadt und an diejenige Polis, in der der Sophist wirkt, möglich ist: Philostr., VS 532. 168 Eindrucksvoll in der Fülle ihrer Aktivitäten sind etwa Skopelian und Polemo, wie sie Philostrat, VS 514–521 u. 530–533, zeichnet. Generell: G.W. BOWERSOCK, Greek Sophists and the Roman Empire, Oxford 1969, insb. 17–29. 43–50. 169 Philostr., VS 532.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

Kommunikation, in der Präsentation und Vermittlung bestimmter Botschaften. So knüpften die lateinischen Panegyristen des dritten und vierten Jahrhunderts regelmäßig eine Verbindung zwischen dem Kaiser auf der einen und seinen Untertanen auf der anderen Seite. Aber unterhalb dieser Ebene muß für jede einzelne Rede das jeweils spezifische Kommunikationsgefüge detailliert nachgezeichnet werden. An dieser Stelle bleibt nur festzuhalten, daß die konkrete Funktion des Redners in bedeutendem Maße von dem Genre seiner Rede abhing: So ergibt sich etwa für eine Dankrede (Pan. Lat. V) ein anderes Strukturmuster als für eine Ansprache anläßlich einer Hochzeit im Herrscherhaus (Pan. Lat. VII). In allen denkbaren Konstellationen gilt aber, daß der Sprecher nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern daß er stets für eine Einheit stand, die über seine eigene Person hinauswies. Auf der Hand liegt dieses Delegationsverhältnis bei einer Rede im expliziten Auftrag einer Stadt oder Provinz; komplexer sind die Verhältnisse, wenn der Auftraggeber nicht eindeutig benannt ist, etwa bei Lobreden aller Art. Aber auch in diesem Fall sprach der Orator nicht für sich, sondern nahm unmittelbar die persona der allgemeinen Überzeugung, von Tradition oder Bildung an (letzteres ist die vornehmliche Position der Sophisten). Sensus communis und ein durch   tradiertes Wertesystem standen mithin im Hintergrund jeder Rede. Ihnen kam die Funktion zu, das Gesagte zu objektivieren und damit überhaupt erst valide zu machen. Worin die Panegyristen ihre eigentliche Aufgabe sahen, erhellt die Formulierung des Redners von 307 (Pan. Lat. VII), der als Movens seiner festlichen Ansprache die Verbindung von praeconium und veneratio benannte170. Er hat dabei zwei Aspekte zusammengefaßt, die in den Panegyrici Latini stets wiederkehren: die Verkündung und damit Ver-Öffentlichung kaiserlicher Entscheidungen einerseits, die Artikulation der dem Kaiser entgegengebrachten Verehrung andererseits. Entsprechend der zunehmenden Sakralisierung des Kaisertums und all seiner Attribute beschrieben die Panegyristen ihre Mittlertätigkeit oft in einer religiös-metaphorische Sprache, verwiesen auf die miracula171 und oracula des Kaisers172. Die Metaphorik des Festredners von 307 deutet aber zunächst in eine andere Richtung: Denn der praeco173 stand ursprünglich den römischen Magistraten für die Verlautbarung ihrer Entscheidungen zur Verfügung. Als Ausrufer stützte er sich bei der Wieder- und Weitergabe öffentlicher Texte staatsrechtlich wirksamen Charakters allein auf seine Stimmgewalt, die vox. Oh170

Pan. Lat. 7,3,1. Pan. Lat. 8,1,1. 172 Pan. Lat. 9,6,2. Vgl. J.A. STRAUB, Herrscherideal, 146–148. 173 K. SCHNEIDER, Art. praeco, RE XXII 1, 1953, 1193–1199; L. praeco, DNP 10, 2001, 237 f. 171

DE

LIBERO, Art.

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ne den praeco waren magistratische Handlungen nicht möglich, das öffentliche Leben geriet in Stillstand174. Schon Plautus hat eine Verbindung von praeco und praedicare gesehen175; und letzteres Verbum sollte dann in den Panegyrici Latini regelmäßig zur Selbstbeschreibung der Redner dienen176. Die doppelte Bedeutung des Wortes praedicare als „verkündigen“ ebenso wie „rühmen“ gibt dabei exakt die Bandbreite der Funktionen wieder, die der Panegyrik zukamen. Das Substantiv praeconium deckt einen Referenzbereich ab, der von der Bezeichnung des Amtes beziehungsweise der Tätigkeit des Ausrufers bis zum Lobpreis selbst reicht177. So stellt der Panegyrist, wenn er vom praeconium spricht, den Redner an die Seite der Herrscher – und macht ihn zugleich unverzichtbar, weil er nicht nur die politische Agenda des Kaisers verkündete, sondern auch zu seinem Ruhm beitrug178. Mit dem Begriff der veneratio nähert sich die Umschreibung des panegyrischen Aufgabenfeldes jedoch wieder der quasi-sakralen Sphäre, ja nimmt an einigen Stellen gar auf den Bereich des Kaiserkultes Bezug179. Oftmals ist unter veneratio freilich jede „von unten“, aus der Bevölkerung aufsteigende Aussage über den Kaiser zu verstehen, die diesem gleichsam dargebracht wird. Hierunter fallen alle enkomiastischen Elemente der epideiktischen Reden; veneratio wird dann mehr oder weniger synonym zu laus als Ausdruck einer affirmierenden Haltung der Beherrschten gegenüber dem Herrscher gebraucht. Guy Sabbah hat in den damit verbundenen Kommunikationsrichtungen einen Schlüssel zum Verständnis der Panegyrik gesehen180: Einerseits vermittelten die Redner Botschaften des Herrschers „von oben“ an die Bevölkerung, andererseits artikulierten sie „von 174 Zur Funktion des praeco vgl. auch F. HINARD, Remarques sur les praecones et le praeconium dans la Rome de la fin de la République, Latomus 35, 1976, 730–746, insb. 733 f. 744–746. Ascon., Corn. p. 58–60 zeigt, daß die Blockade politischer Vorhaben in der Republik implizierte, den praeco an der Ausrufung der intendierten Akte zu hindern. Die Aufgabe des Ausrufers bestand ausweislich dieser Quellenstelle im übrigen nicht darin, einen Text vorzulesen, sondern sich diesen vom scriba vorsprechen zu lassen und dann in entsprechender Lautstärke und Intonation zu wiederholen. 175 Plaut., Bacch. 815. 176 Etwa Pan. Lat. 8,1,1; 9,10,2; 12,1,1; 2,1,1. 177 Vgl. OLD, s.v. praeconium, 1426. 178 Vgl. insb. Cic., Arch. 20: neque … quisquam est … qui non mandari versibus aeternum suorum laborum praeconium facile patiatur; Cic., Fam. V 12,7: praeconium … ab Homero Achilli tributum; Apul., Flor. 16: quid addi potest ad hoc praeconium viri consularis? 179 Vgl. Pan. Lat. 2,2,1 f.: sed cum admiratione virtutum tuarum … ad contuendum te adorandumque properassem, ut bona quae auribus ceperam etiam visu usurparem, timui (fateor) pii laboris officium impia taciturnitate corrumpere. 180 G. SABBAH, De la Rhétorique à la communication politique: les Panégyriques latins, BAGB 1984, 363–388.

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unten“ die Zustimmung der Menschen, aber auch die Wünsche und Forderungen der Untertanen an ihren Kaiser. In der Praxis gingen diese beiden Rollen des Panegyristen und die entsprechenden Kommunikationsrichtungen freilich oftmals ineinander über: Gelobt („von unten“) werden Entscheidungen, Taten, Eigenschaften des Herrschers, die der Preis auf den Kaiser wiederum („von oben“) dem Publikum eindrücklich vor Augen führt und so die Machtverhältnisse legitimiert. Es war schon bei der Analyse der plinianischen gratiarum actio gegenüber der Erklärungskraft solcher Akzeptanz- und Konsensmodelle eine gewisse Skepsis geäußert worden. Sie decken wohl nur einen Teilaspekt der komplexen Funktionsweise von Panegyrik ab und betonen vielleicht zu sehr die vertikale Achse zwischen Herrscher und Beherrschten. Daß aber gerade auch auf der horizontalen Ebene, in der Konkurrenz zwischen Rednern, Städten, Senatoren etc. um Prestige und Ressourcen aller Art ein wesentliches Element dieser Art von rhetorischer Praxis angesiedelt ist, dürfte etwa die Analyse der Passage aus Libanius’ Autobiographie deutlich gemacht haben. In diesem Kampf um Ansehen und Einfluß waren praeconium und veneratio strategische Mittel der Selbstbeschreibung und implizierten nicht zuletzt den Anspruch auf Statuspositionen im Umfeld des Kaisers.

3. Eine Rhetorik der Form Wenden wir uns nun vom Selbstbild der Panegyristen zunächst ab und den Formen ihrer Mittlertätigkeit – als Lehrer und Redner – zu. Auch hier läßt sich Einschlägiges aus dem Quellenmaterial herausarbeiten. Im Hinblick auf die Methoden und die Zielsetzung der Unterweisung an den Maenianae formuliert Eumenius, mit Anspielung auf die Lage des Schulgebäudes zwischen dem Apoll-Tempel und dem Capitolium von Augustodunum181: Ibi adulescentes optimi discant, nobis quasi sollemne carmen praefantibus, maximorum principum facta celebrare (quis enim melior usus est eloquentiae?), ubi, ante aras quodammodo suas, Iovios Herculiosque audiant praedicari Iuppiter pater et Minerva socia et Iuno placata.182

Eumenius weist mithin die Übung in der epideiktischen Schaurede zum Lob der Kaiser als Hauptgegenstand des Unterrichtes aus. Als Methode wird die Einstudierung von normiertem, kodifiziertem Wissen, das der Rhetor seinen Schülern vorspricht, deutlich – nobis quasi sollemne carmen praefantibus183. Die Parallele zum Gebet beim Opfer, das dem Opferherrn 181

Vgl. R. REES, Layers of Loyalty, 143 f. 150. Pan. Lat. 9,10,2. 183 Zu kurz gegriffen scheint mir die Interpretation von S. MRATSCHEK, Paulinus von Nola, 30, zu sein: „Die Propagandareden [sollten] durch ihr ständiges repetierendes Aus182

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vom Priester vorgesprochen und von jenem wiederholt wird184, ist auch durch den Verweis auf die benachbarten Tempel und die dort stattfindenden Opfer evident. Rhetorisches Wissen wird somit als ein ritualisiertes Wissen bezeichnet, das von den Rhetoren in einer priestergleichen Funktion verwaltet und dessen Wirksamkeit in der Anwendung gesichert wird. Eine solche Darstellung der Tätigkeit des Rhetors konnte aber nur Plausibilität beanspruchen und Wirkung entfalten, wenn es außertextuelle Referenten gab, die entsprechende persuasive Anschlußmöglichkeiten boten. Die oben bereits angesprochene Sakralisierung der Bildung an sich ist in diesem Zusammenhang als eine Gegebenheit zu nennen, die für die     der Oberschicht, an die sich die Ansprache des Eumenius ja wandte, außer Frage stehen mußte. Aber auch Form und Methodik der rhetorischen Ausbildung wurden generell in einem Kategoriensystem erfaßt, das demjenigen zur Beschreibung rituellen Wissens entlehnt worden war. So bezeichnet Lukian von Samosata in seinem „Lehrer der Beredsamkeit“ die Aneignung des rhetorischen Grundwissens, die   , als eine Initiation ( 6)185 – in der Tat hat Lukian seine Satire auf den Beruf des Redners schon in der Grundstruktur als eine Mysterieneinweihung angelegt, wie sein Vergleich des eigenen Textes mit der Tabula Cebetis, dem antiken Beispiel par excellence für die Notwendigkeit der Initiation zur vollkommenen Wahrnehmung einer komplexen, nur symbolisch zu erfassenden „Realität“186, andeutet187. Ähnliche Wendungen finden sich bei Aulus Gellius188 und noch in der spätantiken Literatur189. Auch inschriftlich190 läßt sich eine Sakralisierung sowohl des Inhaltes als auch der Lehre als Ewendiglernen dazu beitragen, daß sich eine kaisertreue politische Haltung in den gallischen Provinzen verfestigte.“ Wie dies vonstatten gehen sollte, ist nicht recht vorstellbar; darüber hinaus geht es Eumenius um die Vermittlung rhetorischer Fertigkeit, nicht um die inhaltliche Komponente, die vor allem ein Argument gegenüber dem Kaiser darstellt. „Kaisertreue politische Haltung“ einzuüben, kann nicht die Aufgabe der Panegyrik sein, schon gar nicht in einem politisch alternativlosen System. Und daß das Auswendiglernen von epideiktischen Reden etwa gegen Usurpationen immun mache, ist kaum anzunehmen. 184 Vgl. Plin., Nat. XXVIII 11; Liv. VIII 9,4–9; A. DEMERETZ, La prière en représentation à Rome. De Mauss à la pragmatique contemporaine, RHR 211, 1994, 141–165, hier 150–158; J. RÜPKE, Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 2001, 104 f. 185 Lukian., Praecept. or. 14. 186 Dazu J. ELSNER, Art and the Roman Viewer. The Transformation of Art from the Pagan World to Christianity, Cambridge 1995, 39–48. 187 Lukian., Praecept. or. 6. 188 Gell., Praef. 20 f. Hierzu und im folgenden, R. KASTER, Guardians of Language, 15–17. 189 Greg. Naz., Or. 4 (c. Iul. 1),118; Or. 43,16; Olympiod. frg. 28 (7  ). 190 CIL VI 16843; IG V 1186; XIV 932.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

-   ausmachen. Bildungserwerb wird als $ oder !  bezeichnet – hier offenbar im Sinne von Übergangsriten –, so wie Lukian den Rhetorikschüler vor die Wahl zwischen einem „männlichen“ und einem „effeminaten“ Weg stellt191. Die Vermittlung der Bildungsinhalte vollzieht sich nach dieser Vorstellung in ritualisierter Form und bewirkt eine Veränderung in ihrem Empfänger; sie macht ihn zu einem Vollmitglied der Gemeinschaft und weist ihm bestimmte Rollenmodelle zu192. Zudem stellt   die nötigen Fertigkeiten zur Verfügung, die es ermöglichen, den durch sie errungenen Status immer wieder zu bekräftigen und gegen Herausforderungen zu verteidigen. Struktur und Formen des Konfliktaustrags unter rivalisierenden Sophisten, wie sie sich bei Philostrat, Eunap und Libanius greifen lassen193, zeigen deutlich, wie gefährdet diese Stellung stets war und welch hohe Erwartungen auf den Akteuren lasteten. Ja, Rivalität selbst scheint zu einem sophistischen Ritual zu werden. Philostrat jedenfalls stellt am Beispiel des Verhältnisses von Favorinus von Arelate zu Polemo von Smyrna den Konflikt mit einem konkurrierenden Redner geradezu als Beweis dafür heraus, daß jemand ein wahrer Sophist sei194. Jede öffentliche Darstellung von Bildung, sei es die rhetorische Unterweisung oder die Performance des Sophisten, folgte dabei einer eigenen Choreographie, die die gesamten sprachlichen und körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten sowie den Lebenswandel des Redners umfaßte. Zumindest in Gestalt der Zweiten Sophistik im Osten des römischen Reiches war   insofern ein totalisierendes, den gesamten Menschen einbegreifendes Phänomen. Übersteigernd, aber nicht ohne Anhalt in der Erlebniswelt konnte daher in einem Bonmot die Todesangst des Gladiatoren vor dem Kampf mit der Agonie des Redners im Vorfeld der Deklamation verglichen werden195.

191 Lukian., Praecept. or. 10. 12. Das Thema der „Männlichkeit“ des Redners und ihrer Ausdrucksformen ist nahezu omnipräsent im antiken Rhetorik-Diskurs, gerade weil Virilität nicht zuletzt in cultus, Habitus und Stimme, mithin Domänen, in denen die Rhetorik Zuständigkeit beanspruchte, zum Ausdruck kam. Vgl. M.W. GLEASON, Sophists and Self-Representation in Ancient Rome, Princeton (N.J.) 1995, für den griechischen, und E. GUNDERSON, Staging Masculinity. The Rhetoric of Performance in the Roman World, The Body – In Theory 16, Ann Arbor (Mi.) 2000, für den römischen Bereich. 192 Ähnlich T. MORGAN, Literate Education, die sowohl den Aspekt des „habit-forming“ (251) als auch den statusausweisenden Charakter („index of citizenship“, 265) der klassischen Bildung hervorhebt. 193 Vgl. etwa Philostrat., VS 578–580 (Philagros/Herodes Atticus); 601 (Apollonios von Athen/Herakleides); Eunap., VS 488–490 (Prohairesios); Lib., Or. 1,90 ff. (Akakios) u. öfter. G.W. BOWERSOCK, Greek Sophists, 89–100; G. ANDERSON, Second Sophistic, 35–39. 194 Philostr., VS 490 f. 195 Philostr., VS 541. Vgl. auch M. KORENJAK, Publikum und Redner, insb. 63–65.

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Wenn Eumenius nun den Betrieb der Rhetorikschulen und die oratorische Praxis durch seinen Vergleich mit der Kultpraxis des paganen Opfers als einen Ritualkomplex beschreibt, hebt er seine Profession einmal mehr auf eine para-religiöse Ebene. Wie die römische Religion scheint auch römische Rhetorik zu einem guten Teil aus der korrekten, das heißt unveränderten Anwendung eines erworbenen Formelwissens zu bestehen. So bleibt in seinen Ausführungen die Tätigkeit des maximorum principum facta celebrare frei von jeder Konkretion in bezug auf Kontext, Setting und Adressaten. Was hier offenbar nicht gelehrt wurde oder jedenfalls nicht primär gelehrt werden sollte, war der möglichst enge Anschluß an die jeweilige Redesituation, an Publikum und Anlaß. Es ging um sprachliche Korrektheit besonderer Art. Beachtet man strikt das von Eumenius evozierte Bild, so ist die von ihm vermittelte eloquentia vor allem ein Erlernen kodifizierter sprachlicher Formen mit einem hohen Maß an Selbstreferentialität196 – die Form, in der die Botschaft übermittelt werden soll, trägt einen großen Teil der intendierten Mitteilung und ist entscheidend für deren Wirksamkeit. Dieser Befund stimmt in mancher Hinsicht mit anderen Informationen überein, die wir über das römische Bildungswesen der Kaiserzeit besitzen. Dem Unterricht beim grammaticus, dessen vorrangiges Ziel in der Memorierung der kanonischen Autoren, ihrer Erläuterung unter formalen Gesichtspunkten und dem Einüben eines Ideals der Sprachreinheit bestand197, folgte ein Rhetorikunterricht, der zumindest für die fortgeschrittenen Schüler zu einem großen Teil von Deklamationen geprägt war 198. Waren in den Progymnasmata ähnlich einem Baukastensystem einzelne Basiselemente wie Chrie, Ekphrasis oder Sentenz199 einstudiert worden, ging es nun darum, aus diesen Versatzstücken deliberative (suasoriae) oder forensische (controversiae) Reden zu konstruieren. Die Schüler erhielten dazu ein vorgegebenes Thema, das sich im Falle der beratenden Reden an Entschei196

Vgl. T. MORGAN, Literate Education, 235 f. R. KASTER, Guardians of Language, 50–70; R. CRIBIORE, Gymnastics of the Mind, 185–219. 198 T. MORGAN, Literate Education, 247–261, betont aber anhand des papyrologischen Materials, daß sich auch der Rhetorikunterricht oftmals auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau bewegte. Die Deklamationen waren insofern (reichsweit betrachtet) einer sehr dünnen Schicht von Schülern vorbehalten, die sowohl die nötige Begabung als auch den entsprechenden materiellen Hintergrund mit sich brachten, um nach Jahren der Ausbildung schließlich in die eigenständige Produktion von Reden vorzudringen. 199 Eine Übersicht bieten hier v.a. die Progymnasmata des Aphthonius, in: Rhetores Graeci I 55–120 Walz, II 21–56 Spengel; engl. Übersetzung und knappe Einführung in: Readings from Classical Rhetoric, ed. by P.P. Matsen/Ph. Rollinson/M. Sousa, Carbondale/Edwardsville 1990, 266–288; vgl. G.A. KENNEDY, Greek Rhetoric under Christian Emperors, 60–66. Vgl. auch R. CRIBIORE, Gymnastics of the Mind, 220–238. 197

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dungssituationen orientierte, wie sie aus Mythos oder Geschichte bekannt waren, im Falle von Gerichtsreden aber auf konstruierten Streitfällen beruhte200. Direkte Applizierbarkeit auf zeitgenössische Verhältnisse wurde dabei grundsätzlich nicht angestrebt. Der Unterricht zielte mithin nicht – zumindest nicht unmittelbar – auf eine Ausbildung für die oratorische Praxis, sondern auf einen Erwerb formaler Redefertigkeit. Die Idealvorstellung lag darin, die jungen Männer durch ein Training an konstruierten Sachverhalten auf alle denkbaren Redesituationen vorzubereiten, indem man ihnen das nötige Rüstzeug für eine aus dem Stegreif komponierte Rede an die Hand gab. Diese Methodik blieb jedoch von Cicero über Seneca d.Ä. bis hin zu Quintilian und Tacitus umstritten, weil sie eine Abkoppelung von der praktisch-politischen Betätigung und damit von jeder Empirie zu implizieren schien201. Es ist aber gerade das damit verbundene Umlenken der rednerischen Energie von einem strikten Adressaten- und Wirkungsbezug auf die sprachliche Form der Rede selbst, die tendenziell an Bedeutung gewann und neue Bewertungskriterien hervorbrachte. Je stärker die Fokussierung auf die inneren Qualitäten des sprachlichen Produktes wurde, desto größere Aufmerksamkeit kam auch der rhetorischen Doktrin und der Beherrschung ihrer Lehrsätze und Schemata zu. Dieser Wandel der Unterrichtsmethoden wie der angestrebten Lernziele verlief parallel zu den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen seit der Zeit der späten Republik202. Er blieb zudem beeinflußt von der Entwicklung der griechischen Rhetoriktheorie, die nicht nur eine im römischen Bereich eifrig rezipierte und weiterentwickelten Stasis-Lehre, sondern auch eine elaborierte Stiltheorie hervorbrachte (vor allem durch Hermogenes von Tarsos). Es ist heute umstritten, in wie weit diese artes tatsächlich primär auf das Deklamationswesen zielten und dabei die dikanische und symbouleutische Beredsamkeit marginalisierten. Malcolm Heath hat sich nachdrücklich gegen die Auffassung der älteren Forschung ausgesprochen, die von einer Durchdringung aller anderen Redegattungen durch die (  . ausging203. Kaum zu bestreiten ist jedoch, daß dem Publikum nun immer ostentativer gerade die sprachliche Fertigkeit des Redenden präsentiert wurde204. Doch daraus abzuleiten, die Rhetorik habe sich in steigender Dekadenz nurmehr der reinen Unterhaltung verschrieben, schlösse zu kurz. In der Praxis richtete sich die Rede noch immer an ein Publikum, dem gegenüber die drei Aufgaben des Redners, delectare – do200

Prägnante Anmerkungen bei: M.L. CLARKE, Rhetoric at Rome, 85–99. Dazu mit zahlreichen Belegen S.F. BONNER, Roman Declamation, 71–83. 202 Dazu L. P ERNOT, La Rhétorique dans l’Antiquité, Paris 2000, 237. 203 M. HEATH, Menander, insb. 277–279. 204 Vgl. F. GASCÓ, Menander Rhetor, 3121 f. 201

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cere – movere, zu erfüllen waren. Betrachtet man aber die Kommunikationsstrukturen, die für die Panegyrici Latini ebenso wie für die Rhetorik der Zweiten Sophistik galten, so ist in aller Regel weiterhin ein Wechsel der Oratorrolle und damit eine Konkurrenz mehrerer Redner untereinander festzustellen. Freilich war diese nicht mehr wie in der Republik als ein Schlagabtausch von Rede und Gegenrede, Aussage und Erwiderung, organisiert, sondern als eine lineare Abfolge zweier oder mehrerer Reden, deren Konkurrenzverhältnis sich nicht in erster Linie aus der inhaltlichen Agenda ergab, vielmehr durch die Rahmenbedingungen vorgegeben war: An die Stelle der Konfrontation von Meinungen rückte der Wettstreit der Redner als Redner. Dieser Wettstreit konnte in Form der Agone regelrecht institutionalisiert werden – vor allem im Osten, aber auch im Westteil des römischen Reichs – 205, er konnte sich quasi formlos als Rivalität von Rhetoren und Sophisten untereinander – in Schule und Öffentlichkeit – darstellen206 oder sich systemimmanent aus der Abfolge mehrerer Redner innerhalb eines zeremoniellen Rahmens ergeben207. Das Beispiel der Zweiten Sophistik lehrt auch, daß Rangstreitigkeiten dieser Art selbst über größere Distanzen hinweg ausgefochten werden konnten, eine Folge der dichten Kommunikationsnetze der Kaiserzeit. Persuasion und sozialer wie politischer Einfluß wurden durch den Erfolg in diesem Wettkampf generiert, entstanden aus der Tatsache, sich im Vergleich mit anderen in Hinblick auf eine möglichst perfekte Sprach- und Regelbeherrschung behauptet zu haben. Philostrat sieht in seiner Darstellung der Zweiten Sophistik diese Fusion von % und den F #   G bereits in der Person des Isokrates erreicht, dessen Grab so auch zu Recht von einer singenden Sirene geschmückt werde208. Ohnehin gilt ihm als ein Kriterium, um die alte von der gegenwärtigen Sophistik zu unterscheiden, daß die Früheren ihre Gedanken frei entwickelten, während die Modernen 7   vorgingen209. Die Affekterregung, das movere, auf das der Redner zur Beeinflussung des Publikums angewiesen ist, konnte unter diesen Umständen kaum noch aus dem Gegenstand selbst gewonnen werden, sondern vielmehr aus der demonstrativen Orientierung an den tradierten Regeln, der sprachlichen Souveränität und physischen Präsenz (Gestik, Mimik, cultus, Habitus), die stets aufs neue unter Beweis zu stellen waren. Für die Aufgabe des delectare, der Unterhaltung des Publikums, 205 L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 84–92. So hat z.B. Caligula ein certamen Graecae Latinaeque facundiae ausgelobt, das in Lugdunum veranstaltet wurde (Suet., Cal. 20). 206 TH. S CHMITZ, Bildung und Macht, insb. 126 f. 207 Vgl. Pan. Lat. 12,1. S. auch u. Kap. 4. 208 Philostr., VS 503 f. 209 Philostr., VS 481.

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ergaben sich hingegen keine Neuerungen, hier kam es seit ehedem auf Wortgewandtheit und Prägnanz an. Was das docere anbelangt, die Belehrung der Hörer, so ist die Vermittlung bislang unbekannter Sachverhalte grundsätzlich keine Funktion der (  .. Dies darf aber nicht dahingehend mißverstanden werden, daß Epideiktik überhaupt keine Mitteilung zu machen hätte. Ihr Definiens besteht gegenüber Gerichts- und Beratungsrede in einer Verschiebung der Gewichte im Verhältnis von Botschaft und Medium. Stärker als in den beiden anderen Gattungen wird hier die äußere Form selbst zur Botschaft und werden die eigentlich inhaltlichen Elemente zu Bestandteilen der Form210. Intertextualität, kühne Sentenzen, Verwendung von loci communes und anderen Formen der Stereotypisierung erschweren auf der einen Seite das Erzielen einer optimalen Situationsadäquanz, sie signalisieren aber, daß der Redner über einen ausgedehnten Fundus verfügt, aus dem er bei Bedarf schöpfen kann. Tatsächlich scheint bewußte Redundanz die Norm kaiserzeitlicher Epideiktik gewesen zu sein, denn vorfabrizierte Versatzstücke und Werkproben gingen weit über das Maß gegebenenfalls zu schließender Lücken im Sachverhalt hinaus: Der primäre Grund für den Einsatz von Topoi liegt nicht in der künstlichen Erzeugung einer Materialfülle, die der Redegegenstand allein nicht hergäbe. Sie weisen vielmehr die Rede als vorläufig letztes Glied in einer Kette rhetorischer Produkte aus, die jedes für sich zu einer sich weiterentwickelnden Tradition beitragen. Worauf es hier also ankommt, ist der meisterhafte Umgang mit der Topik, die perfekte, virtuose Beherrschung eines Repertoires, das man sich in der Schule aneignete, das aber nicht auf die Schule beschränkt blieb211. Die Verwendung der Versatzstücke weist den Redner auch in der öffentlichen Kommunikation als     beziehungsweise litteratus aus212. Schaut man auf die Bildkunst der Spätantike, so bestätigt sich auch hier, daß die Fähigkeit zur öffentlichen Rede immer mehr zu einem Ausweis von Bildung und damit zu einem Statusindikator wurde, der – und das ist das eigentlich neue – auch kontextfrei eingesetzt werden konnte. Erst ab dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert fand der Redegestus Eingang in

210

Vgl. W.H. BEALE, Rhetorical Performative Discourse, insb. 237; W.T. WHEEProblem of Ritual Language, 56–59; S.J. TAMBIAH, A Performative Approach to Ritual, PBA 65, 1979, 113–169, hier 130–142. 211 Für den bewußten Traditionalismus rhetorischer Ausbildung und den sprachlichen Konservatismus des Eumenius vgl. W.H. ALEXANDER, Professoriate, 45 f. 212 In diese Richtung weisen auch die Ausführungen von K. VÖSSING, Non scholae sed vitae – der Streit um die Deklamationen und ihre Funktion als Kommunikationstraining, in: Kommunikation durch Zeichen und Wort. Stätten und Formen der Kommunikation im Altertum IV, hg. v. G. Binder/K. Ehlich, BAC 23, Trier 1995, 91–136, insb. 111– 120.

LOCK,

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die römische Bildersprache (etwa auf der Marcussäule213), blieb aber vorerst in die jeweiligen narrativen Strukturen eingebunden, wenn er zum Beispiel zur Illustration von Verhandlungen des Kaisers mit Barbaren eingesetzt wurde. Im vierten und fünften Jahrhundert jedoch entwickelte sich der Redegestus von einem narrativen zu einem „attributiven Zeichen“, das als „Kompetenzformel“ Verwendung fand. Der Gestus zeigte Bildung als Ausweis sozialer, politischer sowie administrativer Qualifikation an und war nun vor allem auf Sarkophagen und Diptychen zu sehen. Redegestus, Rotulus und scrinium waren fast omnipräsente Attribute, wenn sich Mitglieder der spätantiken Eliten im Bild festhalten ließen214. Aus Hilfsmitteln der rednerischen Tätigkeit auf dem Forum oder in der Kurie wurden Embleme der litterae. Im Vordergrund der Selbstdarstellung stand nicht mehr die oratorische Praxis; sie hatte ihren privilegierten Platz der Ausstellung rhetorischer und literarischer Kenntnisse 215 überlassen müssen. Es geht hier dennoch nicht um eine einfache Dichotomie von Theorie und Praxis, denn Anwendung fanden die litterae auch in der Spätantike, und „Theorie“ hatte sich, zwar gegen Widerstände, bereits im Rom des ersten Jahrhundert vor Christus etabliert; es geht vielmehr um eine Verschiebung in der jeweiligen Wertigkeit von Theorie und Praxis der Rhetorik und um eine Verschiebung im Selbstbild der Eliten: War in Republik und früher Kaiserzeit Beredsamkeit unverzichtbar, um eine gesellschaftliche Führungsposition auch tatsächlich auszufüllen und zu sichern, also eher das Ergebnis als die Ursache politischen Einflusses, so war in der Spätantike Rhetorik als formaler Lehrinhalt zumindest auf der diskursiven Ebene zur conditio sine qua non gesellschaftlicher Macht geworden216; an die Stelle des Orators

213 E. PETERSEN/A. VON DOMASZEWSKI/G. CALDERINI, Die Marcussäule auf Piazza Colonna in Rom, München 1986, Szene XXXI. XLI. LXII. LXXX. CI. Vgl. Trajanssäule, Szene C. 214 Hierzu die Untersuchung von W. RAECK, Doctissimus Imperator – Ein Aspekt des Herrscherideals in der spätantiken Kunst, AA 1998, 509–522, insb. 509–511 u. 514–517. Zu Redegesten in der römischen Kunst grundsätzlich: Th. RICHTER, Überlegungen zur Redegestik in der römischen Kunst, in: Rede und Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen. Kolloquium Frankfurt a.M. 14.–16. Oktober 1998, hg. v. Chr. Neumeister/W. Raeck, Frankfurter Archäologische Schriften 1, Möhnesee 2000, 249–268. Zur Darstellung spätantiker Verwaltungsbeamter nun R.R.R. SMITH, The Statue Monument of Oecumenius: A New Portrait of a Late Antique Governor from Aphrodisias, JRS 92, 2002, 118–156, insb. 143 f.; vgl. grundlegend P. ZANKER, Maske des Sokrates, 252– 267. 215 Beides überschneidet sich im Laufe der Kaiserzeit zunehmend: Einen knappen Überblick bietet F. DESBORDES, La Rhétorique antique. L’Art de persuader, Paris 1996, 143–161. 216 Vgl. Symm., Epist. I 20,1: iter ad capessendum magistratus saepe litteris promovetur. W.H. ALEXANDER, Professoriate, 38; S. MRATSCHEK, Paulinus von Nola, 34–37.

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tritt der Rhetor, und war es zu Anfang geradezu geboten, seine rhetorische Ausbildung zu verbergen (dissimulatio)217, so wurde es jetzt geradezu unabdingbar, sie fast ostentativ vor sich her zu tragen. Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich die Bemerkung des Claudius Mamertinus in seiner Dankrede an Julian, das bonarum artium studium sei recht eigentlich eine Entwicklung der Kaiserzeit und in der Republik noch unbekannt gewesen: Oratoriam dicendi facultatem ut multi laboris et minimi usus negotium nostri proceres respuebant, dum homines noluisse videri volunt quod assequi nequiverunt.218

Für ein volles Verständnis eines so beschaffenen Systems ist es hilfreich, die spätrömische Gesellschaft im Kontext traditionaler Gesellschaften219 zu betrachten und zur analytischen Durchdringung der ihr eigenen Formen der Organisation von Kommunikation auf die Ergebnisse der modernen Ethnologie beziehungsweise Anthropologie zurückzugreifen. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Erforschung der Charakteristika, der Träger, Felder und Formen öffentlicher Rede in strukturkonservativen Gesellschaften unter der Führung des Ethnologen Maurice Bloch eingehender untersucht worden. Anhand von Feldforschungen auf Madagaskar konnte er herausarbeiten, daß sich die Kommunikation bei Beratungen im Stammesverband unter beständigem Rückgriff auf eine rigide formalisierte Sprache vollzog. Bloch machte bei der Analyse der Reden starke Restriktionen im Bereich des Lexikon, der Syntax und der Performanz aus. Für die Argumentation steht dem Sprecher nur ein beschränkter Thesaurus von Sentenzen zur Verfügung, die durch das Herkommen abgesichert sind. Archaische Wortwahl, eine begrenzte Zahl zulässiger Wortverbindungen und strikte Vorschriften im Bereich des Gestus, der Intonation, der Lautstärke, der Tonlage usw.220 bestimmen diese Art des Sprechens. Das linguistische System verweist den

48; AV. CAMERON, Literary Education as a Path to Advancement, CAH XIII, Cambridge 1998, 673–679. 217 Quint., Inst. II 17,6; IV 1,60. 2,117; XII 9,5; V 13,9 f. 14,35; IX 2,93–95; X 1,21. Vgl. CHR. NEUMEISTER, Grundsätze der forensischen Rhetorik, gezeigt an Gerichtsreden Ciceros, Langue et Parole 3, München 1964, insb. 138–148. 218 Pan. Lat. 3,20,1 f., Zitat 2.; vgl. T.J. HAARHOFF, Schools of Gaul, 40. 219 Zur Problematik dieser Terminologie, die hier freilich zum Zweck des Arbeitsbegriffes beibehalten werden soll, vgl. R. VAN DÜLMEN, Historische Anthropologie. Entwicklung – Probleme – Aufgaben, Köln/Weimar/Wien 2000, 43–47. 220 M. BLOCH, Symbols, Song, Dance and Features of Articulation. Is Religion an Extreme Form of Traditional Authority?, AES 15, 1974, 55–81; DERS., Introduction, in: Political Language and Oratory in Traditional Society, ed. by M. Bloch, London/New York/San Francisco 1975, 1–28, insb. 9 f. 13; vgl. auch J. GOODY/I. WATT, Konsequenzen der Literalität, in: Literalität in traditionalen Gesellschaften, hg. v. J. Goody, Frankfurt a.M. 1981 (engl. 1968), 45–104, hier 50 f. (mnemonische Muster).

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Redner auf einen Code221, der zunächst – in aller Regel durch Nachahmung und Orientierung an Vorbildern – über einen längeren Zeitraum hinweg erlernt werden muß, um in korrekter Weise gehandhabt werden zu können222. Der Zwang zur Koordinierung von Codierungsleistungen in einer Vielzahl unterschiedlicher Bereiche – von den Vorschriften zu Stimmodulation und Wortwahl über den Satzbau bis hin zu Verregelungen des körperlichen Ausdrucks, der Bewegung im Raum, der Wahl des richtigen Ortes und des richtigen Zeitpunktes – erreicht dabei einen denkbar hohen Grad an Komplexität. Der Kreis derer, die sich der formalisierten Sprache überhaupt bedienen können, ist stark begrenzt. Dies schafft vordergründig soziale Stabilität. Doch auch Dysfunktionalitäten machen sich bemerkbar: So bietet formalisierte Rede nur geringen Raum für die Einbringung neuer Vorstellungen, erschwert eine flexible Reaktion auf veränderte Rahmenbedingungen und bindet die politischen Akteure an traditionale Wert- und Handlungsmuster. Was mithin die Funktion erfüllt, unliebsame soziale und politische Konkurrenz auszuschalten, droht zugleich, die Reaktionsfähigkeit und damit die Fortexistenz der Gemeinschaft in signifikanter Weise zu beeinträchtigen. Oftmals ist daher festzustellen, daß die betroffenen sozialen Gebilde auf diese systemimmanenten Einengungen mit einer Rollendifferenzierung reagieren: Nicht ihre tatsächlichen gesellschaftlichen und politischen Führungsfiguren bedienen sich der formalisierten Sprache, sondern spezialisierte Redner. Auf diese Weise scheint zweierlei erreicht: Die eigentlichen politischen Akteure binden sich nicht selbst durch den Gebrauch der tradierten Formen und Formeln, profitieren aber dennoch von ihrer legitimitätsstiftenden Kraft, indem sie ihre Ansprüche und Initiativen von einem Barden oder „Rhetor“ verkünden lassen223. Blochs aus der Empirie gewonnener Ansatz ist in der Folge erweitert und systematisiert worden. Der Begriff der „Formalisierung“ umfaßt in der 221 Zur symbolischen (und soziologischen) Bedeutung des Codes vgl. M. DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Stammesgesellschaft und Industriekultur, Frankfurt a.M. 1986 (Ndr. 1998; engl. 1973), insb. 36–57. 215–229. 222 M. BLOCH, Introduction, 3–5; J. RÜPKE, Controllers and Professionals: Analyzing Religious Specialists, Numen 43, 1996, 241–262, insb. 246–258, benennt am Beispiel von Schamanen und römischen Priestern Repetitivität der Formen des Handelns (im Ritual) und eine damit verbundene Institutionalisierung und Professionalisierung als Elemente einer Ausübung von Kontrollfunktionen zur Aufrechterhaltung des ‚symbolischen Universums‘ einer Gesellschaft. Zur Bedeutung von mehr oder minder institutionalisierter Kontrolle der Sprache in antiken Gesellschaften vgl. G.A. KENNEDY, Comparative Rhetoric, 117 (Mesopotamien). 126–130 (Ägypten). 134–138 (Israel). 223 M. BLOCH, Symbols, Song, Dance, 64 f. 79; DERS., Introduction, 24–27; J.T. IRVINE, Formality and Informality in Communicative Events, AmA 81, 1979, 773–779, hier 780.

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heutigen Forschung bestimmte kulturelle Produkte ebenso wie eine spezifische soziale und politische Strukturierung. Unter diesem Terminus sind also nicht mehr nur die Merkmale eines Textes beziehungsweise einer Rede zu verstehen, sondern ebenso die Teilhabe- und Teilnahmerechte einzelner und von Gruppen an ihrer Verfertigung, Aufführung und Rezeption sowie die dafür geltenden Regeln. So hat Judith Irvine eine umfassende kritische Beleuchtung des Konzeptes formality vorgelegt; sie unterscheidet dabei vier Dimensionen: a) „increased code structuring“, ein Zuwachs an Codierungsregeln gegenüber nicht-formellen Anlässen; b) „code consistency“, der mehr oder minder starke Zwang zur Wahl des gleichen Codierungsgrades auf allen Ausdrucksebenen c) „invoking positional identities“, der Zwang zur Aktivierung der ‚passenden‘ sozialen Rolle entsprechend dem Anlaß; d) „emergence of a central situational focus“, die Fokussierung der Versammlung auf die als relevant erachteten Akteure, unter anderem erreicht durch die Aktivierung eines restringierten Codes224, der nur einem kleinen Teil der Anwesenden zur Verfügung steht, dennoch – oder gerade deswegen – aber über einen hohen symbolischen Wert verfügt225. Aus den genannten Kriterien ergibt sich, daß „formality“ und „informality“ keine starren Konzepte sind, sondern ein Kontinuum bilden; Anlaß und Teilnehmer entscheiden über den tatsächlichen Grad der Formalisierung. Formalisierung beginnt aber, wo in mündlicher oder schriftlicher Form ein Regelwerk tradiert wird, das durch dafür beauftragte Personen zur Anwendung gebracht und dessen Mißachtung durch Sanktionen geahndet wird (oder zumindest geahndet werden kann). Auch hier bleibt die Bandbreite der möglichen Erscheinungsformen groß, und man würde fehlgehen, nur auf die nach außen hin sichtbaren Mechanismen und Institutionen der Regulierung zu achten. Die Überwachung der Normeinhaltung kann grundsätzlich ebenso in der Hand einer auf den ersten Blick unbedeutenden „Privatperson“226 wie in der eines öffentlich bestallten Haushofmeisters liegen. Zu den am stärksten formalisierten Formen sozialer Aktivität zählen die Rituale und Zeremonien, die einem ideellen, bisweilen auch materiell niedergelegten „Skript“ folgen und in denen ein denkbar hohes Maß von Strukturierung wie von code consistency erreicht wird, weil hier in aller 224 Ich folge hier dem Konzept von B. BERNSTEIN, Sprachliche Kodes und soziale Kontrolle, Düsseldorf 1975 (engl. 1974). 225 J.T. IRVINE, Formality and Informality, 773–790. 226 In der römischen Gesellschaft übernehmen die Verwandten väterlicherseits eine vergleichbare Aufgabe, s. M. BETTINI, Familie und Verwandtschaft im antiken Rom, Historische Studien 8, Frankfurt/New York 1992 (ital. 1986), 123–129.

Kapitel zwei: Bild und Selbstbild des Redners

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Regel Sprache und Körper in Raum und Zeit koordiniert werden müssen, in vielen Fällen zudem bezogen auf eine Vielzahl von Teilnehmern. Bei einem solchen Ritual unter Einbeziehung mehrerer Aktanten bleibt eine Fokussierung, verbunden mit einer Differenzierung in Zentrum und Peripherie, nicht aus (es dürfte keine Rituale geben, die keine interne Hierarchie kennen oder zumindest nicht auf eine Hierarchie – gegebenenfalls auch antithetisch – bezogen sind). Das Ritual selbst bündelt die Aufmerksamkeit, und zwar auf diejenigen Handlungen, Stätten, Zeiten und Personen, die für das Leben einer Gemeinschaft von elementarer Bedeutung sind. Rituale spielen sich um die Herstellung oder Bekräftigung von Signifikanz ab, und so benutzen sie eine Reihe von „Enthebungselementen“227, die eine Unterscheidung vom Profanen und Vergänglichen ermöglichen. (In diesem Punkt sind sie zu unterscheiden von Ritualisierungen im engeren Sinn, die auf eine nicht mehr signifikante Mechanisierung hinauslaufen, also Indifferenz produzieren). Ein gesteigertes Formbewußtsein verläuft also parallel zu einer Steigerung der Bedeutung, und führt zu einer „Aufladung“ der Handlungen und Schemata. Die spätantike Epideiktik, deren höfischen Zweig wir in den Panegyrici Latini fassen können, ist in erheblich gesteigertem Maße eine Rhetorik der Topoi, der Formeln und des Intertextes. Sie findet in einem definierten Rahmen statt, der sich durch ein extrem hohes code structuring auszeichnet. Dies gilt sowohl für den Kontext der Deklamation (in der Schule oder im Bouleuterion) als auch für die Festrede in aulischer Umgebung228. Die sozialen und zunehmend auch fachlich-technischen Voraussetzungen, das Wort zu ergreifen, sind denkbar anspruchsvoll, die Kriterien für eine „gute“ Rede nahezu kanonisch und vor allem fast ausschließlich formaler, äusserlicher Natur. Wie können solche Redner wirken, wenn sich ihre Funktion nicht von vornherein auf diejenige reiner Unterhaltung beschränkte? Wenn Rhetorik in der Spätantike tatsächlich ein „Spiel“ gewesen sein sollte, dann zumindest ein deep play im Sinne von Clifford Geertz229, bei dem Status und Wohlergehen den Einsatz darstellten. Die Untersuchungen von Maurice Bloch zeigen aber, daß die Funktionsbreite formalisierter Rede wesentlich weiter zugeschnitten sein konnte. Ihre implizite Wirkweise war die einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Interaktionsformen. Johan227 H. LAUSBERG, Rhetorik und Dichtung, Der Deutschunterricht 6, 1966, 47–93, hier 52; vgl. Aristot., Rh. III 2 (1404b 10 – 1405a 2), der diese Elemente als .# bezeichnet. 228 Vgl. S. MAC CORMACK, Art and Ceremony, 1–14. 229 C. G EERTZ, Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight, in: The Interpretation of Cultures. Selected Essays by Clifford Geertz, New York 1973 (Ndr. 2000; zuerst 1972), 412–453.

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Erster Teil: Bedeutung und Funktion der lateinischen Panegyrik

nes Straub hat von einem „apriorischen Konsens“ gesprochen, der die Basis der Panegyrik bilde, Peter Brown darauf hingewiesen, daß ihre Perspektive die Rückschau auf erfolgreiches Handeln gewesen sei230. Die Epideiktik stellt so zunächst ein konservatives, da kontinuitätsstiftendes Element dar. In Zeiten des beschleunigten Wandels – wie der beginnenden Spätantike – bedeutete formalisierte Rede auch Verläßlichkeit, Abfederung, Orientierung. Weit davon entfernt, Propagandainstrument des Kaisers zu sein, zwang die Panegyrik dazu, auch das Neue in bekannten Formen zu entwickeln. Ein Beispiel: Die bei Plinius so prominente civilitas principis war bereits von Beginn an vor allem Chiffre und Inszenierung gewesen; doch noch in der Spätantike spielte sie ihre Rolle als längst unentbehrliche „Formel“ der Kommunikation zwischen Herrscher und Beherrschten und zwang damit die Kaiser in bestimmte Posen, Gesten, Performanzen. Man mag dies als Anachronismus auffassen oder als bloßen Schein; herrscherliches Verhalten war in wesentlichen Teilen in diesem Modus zu beschreiben. Auch der dominus konnte das nicht einfach ignorieren. Form fungierte folglich immer auch als Bedeutungsträger und damit als Argument im politischen Feld, in dem fortwährenden Prozeß der Gestaltung des sozialen Beziehungsgefüges. Epideiktik mochte herrschaftsaffirmativ sein als praeconium und veneratio, sie wirkte aber ebenso sehr strukturbildend. Die Rhetoren durchliefen eine Ausbildung, die sie vor allem dazu befähigte, jeden erdenklichen Sachverhalt „in Form“ zu bringen, Kontingenz zu bewältigen und mit aller Emphase „Ordnung“ wiederherzustellen. Sie sind die Herausforderung der Struktur an den Virtuosen der Macht, nicht Propagandisten, sondern viel eher ein ziemlich widerständiges Element für die vielfältigen Bestrebungen des Hofes. Ihr Wirken bestand darin, den apriorischen Konsens a posteriori zu formulieren. Machthandeln des Herrschers wurde in Formeln eingeschrieben, aus dem ursprünglichen Kontext gelöst und damit gleichsam eingefroren. Das Handeln wandelte sich dabei notwendigerweise; und was nach der Bearbeitung durch den Panegyristen daraus geworden war, mußte nicht in jedem Falle auch tatsächlich dem Kaiser gefallen. Die (spät)antiken Festreden waren mithin nicht nur eine Rhetorik des Konsenses, sondern ebenso eine Rhetorik der Konkurrenz; sie griffen Elemente herrscherlicher Selbstdarstellung auf, wußten sie aber genauso für ihre eigenen Zwecke einzusetzen. Es war eine Beredsamkeit der Formen, Formeln und Strukturen, die hohe Professionalität erforderte. Ihre Meister verstanden sich als Deuter und Mittler, als Bewahrer einer quasi-sakralen Tradition: und diese implizierte – und erforderte – viel mehr als nur literarische Kennerschaft. Eine zumindest in ihrer Selbstsicht fast hermetische Kunstlehre diente der Stabilisierung gesellschaftlicher Strukturen, der 230

J.A. STRAUB, Herrscherideal, 149; P. BROWN, Macht und Rhetorik, 46 f.

Kapitel zwei: Bild und Selbstbild des Redners

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Festschreibung von Machtverhältnissen. Doch unterhalb dieser Oberfläche war sie der Austragungsort vielfältiger Rivalitäten und Statuskonflikte – nur wenn die Panegyrici aus dieser Perspektive analysiert werden, erschließt sich ihr Wesen und ihr „Sitz im Leben“ vollkommen.

Zweiter Teil:

Stadt und Kaiser – Konstantin im Spiegel der Panegyrik Historische Situierung Konstantin, Sohn des Constantius Chlorus und der stabularia1 Helena, trat nach dem Tode seines Vaters in Eburacum am 25. Juli 306 die Herrschaft an. Die Truppen des verstorbenen Kaisers hatten ihn, dynastisch denkend, zum Nachfolger ausgerufen. Sein Machtbereich umfaßte zunächst Gallien, Britannien und Hispanien. Doch die Lage an den Grenzen war unruhig. Gefahr drohte vor allem von den germanischen Völkern, die die römischen Stellungen am Rhein bedrängten und Einfälle in ihr Territorium unternahmen. Von Augusta Treverorum aus versuchte Konstantin, nun in seinen Dreißigern stehend, seine Position zu festigen und sich auch gegenüber den verbliebenen Kaisern der dritten und vierten Tetrarchie zu behaupten. Seine Aktivitäten beschränkte sich dabei nicht auf Außen- und Militärpolitik: Auch im Innern stand Konstantin vor der Aufgabe einer Konsolidierung. Die schwerwiegenden Verwerfungen, die die Ereignisse des dritten Jahrhunderts gerade auch über Gallien gebracht hatten, waren noch immer zu spüren. Der neue Herrscher, der bis 306 am Hofe des Diokletian und des Galerius gelebt hatte, mußte sich erst einen Überblick über seine Provinzen verschaffen und die Kontakte mit den Funktionseliten seines Reiches intensivieren. Dies brachte die übliche kaiserliche Reisetätigkeit mit sich, vor allem aber bedeutete es den beinahe unablässigen Empfang von Bittstellern und Gesandten aller erdenklichen Körperschaften, die mit unterschiedlichsten Anliegen bei Hofe vorsprachen. Schenken wir einer spätantiken Quelle Glauben, so war gerade dies aber für Konstantin alles andere als eine lästige Verpflichtung: Er genoß es geradezu. Der anonyme Verfasser der Epitome de Caesaribus schreibt über ihn: Commodissimus tamen rebus multis fuit: calumnias sedare legibus severissimis, nutrire artes bonas, praecipue studia litterarum, legere ipse scribere meditari audire legationes et quaerimonias provinciarum.2

1 2

Ambros., De obitu Theod. 42. [Aur. Vict.], Epit. 41,14.

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Zweiter Teil: Stadt und Kaiser

Konstantin hatte in dieser Hinsicht Glück: Gelegenheiten, Intrigen zu unterdrücken, auf Beschwerden zu reagieren und bei alldem eine nach den Regeln der Kunst verfaßte Gesandtschaftsrede anzuhören, boten sich ihm genug. Im Corpus der XII Panegyrici Latini sind allein fünf Festreden aus dem Zeitraum von 307 bis 321 erhalten, die Konstantin galten und bis auf eine Ausnahme alle in seiner Gegenwart vorgetragen worden waren. Die früheste dieser Ansprachen war ein Enkomion anläßlich der Hochzeit Konstantins mit Fausta3, der Tochter Maximians. Und so wurde hier neben dem Bräutigam selbstverständlich auch der senior Augustus mit Lob bedacht. Doch bereits drei Jahre später büßte Maximian den Versuch, seinen Schwiegersohn zu stürzen, mit seinem Leben. Selbst diese Verwerfungen blieben nicht ohne rhetorischen Nachhall: Konstantin kam kurze Zeit später in den Genuß eines Panegyricus, der den veränderten Machtverhältnissen in kongenialer Weise entsprach und eine „neue“ Genealogie des Kaisers präsentierte4: seine Abstammung von Claudius Gothicus! In einer kurzen Herrschaftszeit von nur zwei Jahren war es diesem gelungen, in mitten der Katastrophen des dritten Jahrhunderts Erfolge über bedeutende Feinde des Imperiums – Alamannen und Goten – zu erzielen. Angesichts der anhaltenden Bedrohungslage Anfang des vierten Jahrhunderts schien der Militär eine gute Referenz zu sein. Als im Sommer des Jahres 310 Feierlichkeiten anläßlich des Stadtgeburtstages von Augusta Treverorum anstanden, brachte einer der Festredner die Sprache auf eben diese, bislang „geheime“ Abstammungslinie Konstantins. Der Kaiser wird die Worte mit Wohlwollen aufgenommen haben. An diesem Punkt der historischen Entwicklung soll nun der Faden der Analyse wieder aufgenommen werden. Das dritte Kapitel führt somit in die Jahre 310 bis 312. Es gilt den Beziehungen Konstantins zu Augustodunum und damit exemplarisch dem Verhältnis von Kaiser und Stadt, aber auch der Rolle, die die Panegyrik in dieser Interaktion spielen konnte.

3 Eine umfassende Interpretation dieser Rede hat nun R. REES, Layers of Loyalty, 153–184, vorgelegt. 4 Zu dieser Rede vgl. die neueren Studien von B. MÜLLER-RETTIG, Der Panegyricus des Jahres 310 auf Konstantin den Großen. Übersetzung und historisch-philologischer Kommentar, Palingenesia 31, Stuttgart 1990, und K. ENENKEL, Panegyrische Geschichtsmythologisierung und Propaganda: Zur Interpretation des Panegyricus Latinus VI, Hermes 128, 2000, 91–126.

Kapitel drei

Panegyricus Latinus V (VIII): Die gratiarum actio Augustodunums Konstantin unternahm ausweislich der Prägetätigkeit der Münzstätte von Londinium spät im Jahr 310 einen Zug nach Britannien1. Die zeitlich nächste Nachricht über seinen Aufenthaltsort können wir erst wieder der als Panegyricus Latinus V überlieferten Dankrede entnehmen, die ein namentlich nicht genannter Rhetor dem Kaiser im Rahmen der Feiern zu seinem fünfjährigen Herrscherjubiläum, den Quinquennalien, darbrachte2. Der Analyse dieser Ansprache soll das folgende Kapitel gelten.

1. Redner und Anlaß Aus dem Text der Rede selbst läßt sich schließen, daß Feierlichkeiten zur Erinnerung an den Herrschaftsantritt Konstantins sowohl zu Beginn als auch zu Abschluß des Jubiläumsjahres stattfanden. Die als Panegyricus Latinus V überlieferte gratiarum actio wurde während der Schlußzeremonien – quinquennalia perfecta – gehalten, die man offenbar nur in der Residenz des Kaisers selbst beging, während sich der erste, das Jubeljahr eröffnende Festkomplex über das gesamte Imperium erstreckt hatte3. Und doch ver1 RIC VI 134 f. no. 133–145; vgl. Eus., v.C. I 25; T.D. BARNES, Constantine and Eusebius, London 1981, 34, u. DERS., The New Empire of Diocletian and Constantine, Cambridge (Mass.)/London 1982, 70. Vgl. J. CASEY, Constantine the Great in Britain. The Evidence of the Coinage of the London Mint, A.D. 312–314, in: Collectanea Londiniensia. Studies in London Archaeology and History Presented to Ralph Merrifield, ed. by J. Bird/H. Chapman/J. Clark, London 1978, 181–193, insb. 184–188 (Adventus 310/11 oder 311/312, jedenfalls in Vorbereitung des Italienfeldzugs). 2 Dazu A. KLOTZ, Studien, 528; E. GALLETIER, Panégyriques Latins II, 77–79; E. FAURE, Notes sur le Panégyrique VIII, Byzantion 31, 1961, 1–41, hier 13 f.; C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 254–256; M.-C. L’HUILLIER, L’Empire des mots, 35 f. 3 Pan. Lat. 5,13,2: Quinquennalia tua nobis, etiam perfecta, celebranda sunt. Illa enim quinto incipiente suscepta omnibus populis iure communia, nobis haec propria quae plena sunt. A. CHASTAGNOL, Quinquennalia de Constantin, RN 6e série 22, 1980, 106–119, hier 110 f. und DERS., Les jubilés impériaux de 260 à 337, 17 (vgl. N. BAGLIVI, Ricerche sul dies imperii e sulla celebrazione dei quinquennali di Costantino I, Koi-

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Zweiter Teil: Stadt und Kaiser

sammelte sich in Augusta Treverorum/Trier, dem vornehmlichen Aufenthaltsort Konstantins bis zum bellum Cibalense gegen Licinius (316)4, am Ende des Quinquennalienjahres nicht allein der Hofstaat des Kaisers; vielmehr traf auch eine große Anzahl von Gesandten aus den Städten und Provinzen seines Herrschaftsbereichs ein. Wie der Verfasser des Panegyricus als einer der Festredner des Tages betont, verlieh dieses Aufgebot dem Ereignis besonderen Glanz und Ansehen, also den nötigen apparatus imperii. Er hat diesen Begriff gut gewählt, läßt er doch die doppelte Funktion der erweiterten Hofgesellschaft anklingen: die Verwaltung des Reiches zu ermöglichen und zugleich durch den Prunk des Hofzeremoniells Größe und Macht von Imperium und Herrscher augenfällig zu machen5. Was aber ist über den Redner selbst bekannt, dessen Dankesansprache diese Angaben über den festlichen Akt bis heute bewahrt? Otto Seeck hat vor gut einhundert Jahren versucht, all diejenigen Reden im Corpus der XII Panegyrici Latini dem Rhetor Eumenius zuzuweisen, deren Verfasser in den Handschriften nicht namentlich genannt wird. Auch die vorliegende gratiarum actio meinte er dem Leiter der Rhetorikschule von Augustodunum zuschreiben zu können. Dieser Ansatz ist bereits wenig später von René Pichon, Alfred Klotz, August Stadler und Wilhelm Baehrens widerlegt worden6. Zwar griff in der jüngeren Zeit Edgar Faure Seecks These nonia 1, 1977, 53–138), bestreitet, daß es zwei offizielle Feiern gegeben habe; quinquennalia suscepta sei eine rhetorische Freizügigkeit des Redners („un abus de vocabulaire“, 111), sie bezeichneten nichts anderes als „des quinquennalia privés, propre à la ville d’Autun“ (110). Dies kann nicht richtig sein. Die Formulierung Quinquennalia tua nobis, etiam perfecta, celebranda sunt bezieht sich nicht auf eine eigene Feier in Augustodunum, sondern auf den Dank der Stadt im Rahmen der Festversammlung in Augusta Treverorum; nos meint daher nicht allein die Aedui, sondern einfach „die hier Versammelten“. Der Anlaß ist ohne Zweifel ein Herrscherjubiläum Konstantins – es bleibt allenfalls zu überlegen, ob der Rhetor sich eine Extravaganz erlaubte und die fünfte Wiederkehr des Herrschaftsantritts Konstantins (den sechsten natalis imperii) als quinquennalia perfecta bezeichnete. Jedoch handelt es sich um ein offizielles Ereignis, und so ist davon auszugehen, daß die Terminologie vom Hof festgelegt wurde. Wenn es also eine Extravaganz war, dann nicht eine Augustodunums, sondern der Zentrale. Feierlichkeiten zu Beginn und Ende eines Jubiläumsjahres waren allerdings nicht unüblich: die Vicennalien Konstantins wurden 325 zunächst in Nikomedeia, im darauffolgenden Jahr in Rom gefeiert (Hieron., Chron. ad ann. 325); vgl. C.E.V. NIXON, The Occasion and Date of Panegyric VIII (V), and the Celebration of Constantine’s Quinquennalia, Antichthon 14, 1980, 157–169, hier 158–160. 4 T.D. BARNES, New Empire, 68 f. 5 Pan. Lat. 5,2,1: cum … totus tibi amicorum tuorum comitatus et omnis imperii apparatus assistit et cum omnes fere civitatum aut publice missi aut pro se tibi supplices assunt. Zum Publikum der Panegyrici vgl. B.H. WARMINGTON, Aspects of Constantinian Propaganda and the Panegyrici Latini, TAPhA 104, 1974, 371–384, hier 372 f. 6 O. SEECK, Studien zur Geschichte Diocletians und Constantins, 713–726, vgl. A. SACHS, De quattuor panegyricis qui ab Eumenio esse dicuntur, Diss. Halle 1885; contra:

Kapitel drei: Panegyricus Latinus V (VIII)

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noch einmal auf, konnte damit in der Forschung jedoch abermals nicht überzeugen7. Für Informationen über den Redner sind wir daher allein auf seine Selbstauskünfte im Text der Ansprache verwiesen. Die wesentlichen Hinweise auf seine Person und Stellung finden sich dort bereits im Exordium: Er widme sich nämlich gewöhnlich, so seine Darstellung, vornehmlich dem studium litterarum und habe nur für den gegenwärtigen Anlaß die Funktion eines publicae gratulationis orator übernommen: id quod fieri decebat, gaudiorum patriae meae nuntium sponte suscepi, ut essem iam non privati studii litterarum, sed publicae gratulationis orator.8

Die Interpretation dieser Stelle ist schwierig; Alfred Klotz sieht darin keinen Beleg für eine kontinuierliche Tätigkeit als Rhetor, also als professioneller Redelehrer; vielmehr weise der Panegyrist hier lediglich darauf hin, daß er im folgenden nicht etwa als Privatperson, sondern als ‚offizieller Vertreter seiner Heimatstadt‘ spreche. Das privatum studium litterarum bezeichne dabei nicht mehr als ‚seine eigenen literarischen Neigungen‘9, die für die Zeit seines Auftritts in öffentlicher Mission ruhen müßten. Diese Deutung kann nicht zutreffen, wie schon Edgar Faure gezeigt hat10. Da aber dessen alternative Interpretation als Unterscheidung zwischen einer Rede im Interesse der Rhetorikschule einerseits (privati studii litterarum R. PICHON, L’Origine du recueil, 229–249 (= DERS., Les derniers écrivains profanes, 270–291); A. KLOTZ, Studien, 528 f.; W.A. BAEHRENS, Zur Quaestio Eumeniana, RhM 67, 1912, 312–316; A. STADLER, Autoren. Zu einem negativen Ergebnis in der Frage der Identität der Verfasser von Pan. Lat. 9 u. Pan. Lat. 5 war schon im Jahr 1882 S. BRANDT, Eumenius von Augustodunum, 22–33, gekommen. 7 E. FAURE, Notes, 3–23; anders bereits E. GALLETIER, Panégyriques Latins II, 79; nun C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 254; M.-C. L’HUILLIER, L’Empire des mots, 35 f.; M.G. MESSINA, Il panegirico di Costantino del 312 e alcuni aspetti fiscali della Gallia del IV secolo, Index 9, 1980, 41–77, hier 42–47; P.L. SCHMIDT, Die Panegyrik, in: Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr., hg. v. R. Herzog, HdLL 5 = HdAW VIII.5, München 1989, 161– 172, hier 169. 8 Pan. Lat. 5,1,2. 9 A. KLOTZ, Studien, 528 f.: „Es leuchtet ein, daß das privatum studium litterarum sich lediglich auf die Person des Redners bezieht: nicht nur seine eigenen Gefühle drückt er aus, nicht nur seinen eigenen literarischen Neigungen folgt er, wenn er spricht. Also weist nichts darauf hin, daß er Lehrer der Beredsamkeit gewesen ist.“ Es bleibt dagegen zu fragen, warum ein Festredner betonen sollte, daß seine Dankrede nicht allein den ‚eigenen literarischen Neigungen‘ folge (so auch E. FAURE, Notes, 16 f.). 10 E. FAURE, Notes, 14–17; er paraphrasiert die Stelle wie folgt (17): „Je ne suis plus aujourd’hui (comme la dernière fois) l’orateur de l’université, je suis l’orateur de la cité tout entière exprimant sa reconnaissance“. Faure geht davon aus, daß Eumenius neben der Rede pro scholis (Pan. Lat. 9) auch die vorliegende Dankrede gehalten habe. Der Sinn der Passage würde dann lauten: ‚Dieses Mal rede ich nicht als Schulleiter für die Interessen der Maeniana, sondern als Vertreter meiner Heimatstadt‘.

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Zweiter Teil: Stadt und Kaiser

orator) und einer Ansprache im Namen der Stadt andererseits (publicae gratulationis orator) wegen ihrer Prämissen ebenfalls nicht überzeugt, muß die Passage hier einer erneuten Diskussion unterzogen werden11. Dabei gilt zunächst festzuhalten, daß privatum im vorliegenden Kontext keinesfalls persönliche Interessen im Sinne von ‚Freizeitaktivitäten‘ meinen kann, sondern allein als Gegenbegriff zu einer Tätigkeit als orator publicus verwendet wird. Privatus bedeutet hier also – insofern hat Klotz durchaus das Richtige getroffen – soviel wie ‚nicht in Vertretung der ganzen Stadt‘, ‚nicht in der Funktion eines offiziellen Sprechers‘. Darüber hinaus setzt die Formulierung iam non voraus, daß der Sprecher schon zuvor, und zwar mit einiger Regelmäßigkeit, rednerisch in Erscheinung getreten war, jedoch in diesen Fällen gleichsam auf eigene Rechnung, für seine Person. Weiter: studium litterarum weist auf einen Bildungskontext als Inhalt und Ziel dieser üblichen Reden hin, der von der publica gratulatio unterschieden ist. Was aber spricht dagegen, in dieser Beschreibung die Tätigkeit eines professionellen Deklamators und Rhetors zu erkennen?12 Mit dem zweigliedrigen Ausdruck iam non ... sed publicae gratulationis orator setzt der Panegyrist klar seine Profession als Lehrer von seiner momentanen Funktion als Sprecher ab, auch wenn erstere ihn überhaupt erst zur Übernahme dieser neuen und verantwortungsvollen Aufgabe qualifiziert13. Es wird damit auch an dieser Stelle deutlich, daß Reden, die die heutige Forschung ohne Unterschiede als ‚epideiktisch‘ klassifiziert, von ihren Autoren durchaus unterschiedlich bewertet wurden. So würde der Verfasser von Panegyricus Latinus V wohl die Gegenstände seiner üblichen Tätigkeit des studium litterarum selbst als eine Art Kunstreden bezeichnen; als scholasticae, für deren Rezeption ganz andere Bedingungen galten 14. Seine 11 Die Übersetzungen von GALLETIER und NIXON /RODGERS gehen in dieselbe Richtung wie die im folgenden vertretene Auffassung, beide geben aber keine Begründung für ihre Entscheidung. E. GALLETIER (Panégyriques Latins I, XXII) geht zudem davon aus, daß der Redner zuvor nicht öffentlich („en public“) aufgetreten sei, was vom Text nicht gedeckt ist – es sei denn, man verstünde sein ‚en public‘ prägnant als ‚vor dem Kaiser‘ oder ‚vor dem Statthalter‘. Im übrigen dürfte non iam nicht mehr zum Ausdruck bringen, als daß der Redner nun von seiner üblichen Praxis abweicht; daß es seine erste ‚politische Rede‘ sei, ist damit nicht gesagt. 12 Identifikation als Rhetoriklehrer auch bei M. MAUSE, Darstellung des Kaisers, 48. 13 Der Auffassung von J.A. STRAUB, Herrscherideal, 150, die Passage lasse auf eine dauerhafte Tätigkeit des Rhetors als Festredner vor dem Kaiser schließen, kann ich mich nicht anschließen; anders liegt der Fall bei dem Panegyristen des Jahres 313 (Pan. Lat. 12,1,1), der offenbar regelmäßig vor dem Kaiser auftrat (qui semper res a numine tuo gestas praedicare solitus essem). In der gratiarum actio Pan. Lat. V fehlen jedoch jegliche Hinweise auf eine solche Stellung des Redners; die Angabe id quod fieri decebat bezieht sich auf die aktuelle Dankespflicht der Stadt insgesamt, nicht auf eine stehende Verpflichtung des Rhetors als ‚Hofredner‘. 14 Vgl. zur scholastica Sen., Contr. II praef. 12.

Kapitel drei: Panegyricus Latinus V (VIII)

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Dankrede hingegen betrachtet er offenbar – und zu Recht – als eminent ‚politisch‘ und separiert sie damit konsequent vom ‚privaten‘ Deklamieren15. Der Unterschied zwischen beidem besteht aber offenbar nicht in Inhalt und Aufbau der Ansprache, vielmehr im jeweiligen Status des Redners und in seinem Auftreten16. Ähnliches konnte oben auch schon für Eumenius beobachtet werden, der vergleichbar scharf zwischen seinen – im antiken, engeren Sinne epideiktischen – Schulreden und seiner Rede pro restaurandis scholis schied, welch letztere er gar explizit als forensisch ansah17. Dazu paßt, was Ewen Bowie in bezug auf das Gesandtschaftswesen und die Rolle der Sophisten darin herausgearbeitet hat: „We can see that the prima donna-like comportment of the lecture-hall might be unhelpful in a hearing where the emperor, not the sophist, called the tune.“18 Zumindest im lateinischen Westen des spätantiken Imperium scheint man sich dieser Problematik bewußt gewesen zu sein. Nach dem Gesagten ist mithin davon auszugehen, daß der Verfasser des Panegyricus Latinus V normalerweise als Lehrer der Rhetorik tätig war, mit einiger Sicherheit an den Maenianae in Augustodunum – wie ja überhaupt ein erster Nukleus des Corpus der XII Paneygrici Latini an dieser Bildungsstätte zusammengestellt worden sein dürfte19. Als Rhetor genoß er zwar grundsätzlich Befreiung von der Heranziehung zu honores und munera20, doch wird an einer Reihe von Stellen deutlich – ohne daß dies je ex-

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Für Synesios von Kyrene blieb diese Wandlung des Deklamators zu einem ernstzunehmenden Redner jedoch unmöglich; vgl. Syn., Dion 12,2–3 („Er ist und bleibt Sophist, gleich welche Redegattung er vertritt, er strebt nicht nach Wahrheit, sondern nach äußerem Schein.“ Übers. K. TREU, Synesios von Kyrene: Dion Chrysostomos oder vom Leben nach seinem Vorbild, Schriften und Quellen der Alten Welt 5, Berlin 1959, 39). Dazu K.-H. UTHEMANN, Die Kunst der Beredsamkeit: Pagane Redner und christliche Prediger, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Vol. IV: Spätantike. Mit einem Panorama der byzantinischen Literatur, hg. v. L.J. Engels/H. Hofmann, Wiesbaden 1997, 265– 320, hier 270 f. 16 Vgl. zum Verhältnis von Schulrede und Gerichtsrede etwa Sen., Contr. III praef. 13; Quint., Decl. 338,5: quia scholastica controversia complectitur quidquid in foro fieri potest.; Quint., Inst. IX 2,81: nam et in his educatur orator, et in eo, quo modo declametur, positum est etiam, quo modo agatur; X 5,14–21. 17 P.L. SCHMIDT, Panegyrik, 161, stellt zudem heraus, inwieweit die Panegyrik „der Tradition des genus demonstrativum Reste des genus deliberativum“ beimischt. 18 E.L. BOWIE, Importance of Sophists, 33. 19 S. BRANDT, Eumenius, 35 f; E. GALLETIER, Panégyriques Latins I, XIII; B.H. WARMINGTON, Constantinian Propaganda, 372. 20 Dig. 27,1,6,1. 8; Cod. Theod. XIII 3,1. 3 (Konstantin, 321/4 bzw. 333); H.-I. MARROU, Geschichte der Erziehung, 438–440; W. LANGHAMMER, Rechtliche und soziale Stellung, 66–72; A.H.M. JONES, Later Roman Empire, 998; R. CRIBIORE, Gymnastics of the Mind: Greek Education in Hellenistic and Roman Egypt, Princeton (N.J.)/Oxford 2001, 63; zur Entwicklung der munera L. NEESEN, Entwicklung der Leistungen und Ämter,

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plizit gesagt würde – , daß er decurio gewesen ist, Mitglied des Stadtrats (ordo) von Augustodunum21. Vor allem aber begegnet er hier in der Rolle eines Gesandten seiner Heimat. Es ist aber gut nachvollziehbar, daß er sich trotz seiner Privilegien dieser Aufgabe freiwillig und in strategischer Absicht unterzog22. Denn gerade die Aussicht, als Vertreter seiner Stadt vor dem Kaiser zu reden, muß ihm allein schon unter professionellen Gesichtspunkten attraktiv erschienen sein23. Noch eine weitere biographische Information birgt der Text: Bei der Darstellung der jüngeren Geschichte seiner Stadt weist der Redner darauf hin, daß er die Eroberung Augustodunums durch die Truppen des Victorinus (269) im Knabenalter miterlebt habe (c. 4,2: haec recentia quae pueri vidimus). Daraus ist einheitlich auf ein Geburtsdatum um 260 geschlossen worden, der Panegyrist war damit zum Zeitpunkt der Rede ungefähr 50 Jahre alt24. Wie ist nun die Klassifizierung der Rede als gratiarum actio konkret zu verstehen? Aus den einleitenden Worten des Redners wird deutlich, daß der von ihm im Namen seiner Heimatstadt vorgetragene Dank einer Wohltat Konstantins galt, die der Kaiser anläßlich eines Besuchs dem Hauptort der Aedui gewährt hatte. Es handelte sich bei diesem beneficium um eine insb. 211 f. (legatio als munus mixtum bzw. personae). 218 (Befreiung der Rhetoren, mit Belegen). 21 Pan. Lat. 5,1,3. 9,4. 11,2. A. STADLER, Autoren, 46; E. GALLETIER , Panégyriques Latins II, 79; E. FAURE, Notes, 13; C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 254; M.-C. L’HUILLIER, L’Empire des mots, 35 f. Zur „festen Einbettung der (Grammatiker und) Rhetoren in die provinzialstädtische Gesellschaft“ Augustodunums s. D. NELLEN, Viri litterati. Gebildetes Beamtentum und spätrömisches Reich im Westen zwischen 284 und 395 nach Christus, Bochum 21981, 20. 22 Beispiele für die freiwillige Übernahme von Lasten aus Gründen des Prestiges oder politischer Erwägungen bei F. MILLAR, Empire and City, Augustus to Julian: Obligations, Excuses and Status, JRS 73, 1983, 76–96; W. LANGHAMMER, Rechtliche und soziale Stellung, 68. 23 Daß Rhetoren ansonsten recht froh über ihre Befreiung von den Lasten der Kurialen waren, zeigt Libanius, Or. 11,54 f., wo er nicht nur sein Mitleid für die durch die Reichsadministration bedrängten curiales zum Ausdruck bringt, sondern auch die eigene Befreiung von solchen Widrigkeiten betont. Zur ambivalenten Haltung des Libanius gegenüber dem Strukturwandel der spätantiken Städte und ihrer Verwaltung vgl. B. WARDPERKINS, The Cities, in: CAH XIV, ed. by Av. Cameron/B. Ward-Perkins/M.Whitby, Cambridge 2000, 371–410, hier 377. 382–384. 24 A. KLOTZ, Studien, 529; W.A. BAEHRENS , Zur Quaestio Eumeniana, 315; A. STADLER, Autoren, 46 f.; E. GALLETIER, Panégyriques Latins II, 79; nun C.E.V. NIXON /B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 254. Er ist damit ca. 10–20 Jahre jünger als Eumenius, der zwischen 240 und 250 geboren sein dürfte (B.S. RODGERS, Eumenius, 253). Irrig ist daher die Auffassung von E. GALLETIER (a.a.O.), unser Redner sei der Ältere von beiden; auch STADLER (a.a.O.) setzt das Geburtsdatum des Eumenius falsch an.

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fiskalische Maßnahme, die aus zwei Schritten bestand: Zunächst reduzierte Konstantin für die Zukunft, das heißt mit Wirkung für das neue, am 1. September 311 beginnende Fiskaljahr25, die nach dem bis dahin gültigen, von Galerius angeordneten Zensus von 30626 zu entrichtende Abgabenlast der Stadt um ein gutes Fünftel; um aber zu erreichen, daß diese Erleichterung auch positive Effekte freisetzen konnte, erklärte er sodann die in den letzten fünf Jahren aufgelaufenen Steuerrückstände Augustodunums für nichtig27. Den Hintergrund für diese korrigierenden Eingriffe des Kaisers bildet das von Diokletian neu eingeführte Steuersystem, das die moderne Forschung mit einem Kunstbegriff als capitatio-iugatio bezeichnet28. Nach den Verlautbarungen der Tetrarchen war mit dem System der capitatio-iugatio eine Erhebung der Abgaben auf der Grundlage einer nachvollziehbaren und der jeweiligen Leistungsfähigkeit angepaßten Veranlagung beabsichtigt29. Grundlage und Voraussetzung des Systems war also eine generelle Vermögensschätzung, ein Zensus, dem sich jeder Steuerpflichtige unterwerfen mußte. Sodann wurden – grob vereinfacht – die dabei erhobenen Daten bezüglich der Anzahl der Arbeitskräfte, des Viehbestands und des Umfangs wie auch der Qualität des Grundbesitzes in abstrakte Steuereinheiten – eben das caput (oder, sofern Kopf- und Bodensteuer getrennt veranlagt wurden, wie dies im Osten des Reiches offenbar der Fall war, in caput und iugum separat) – umgerechnet. Für jeden Steuerzahler ermittelte man auf diesem Weg die Anzahl der für ihn zu veranschlagenden capita, aus der Addition der auf die Bürger einer Stadt entfallenden Einheiten die capita-Zahl der civitas oder Polis, auf einer höheren Ebene wiederum die der Provinz usw. Die entsprechenden Kennzahlen wurden in formulae ver-

25 Darauf läßt Pan. Lat. 5,12,4–6 schließen, wo gesagt wird, daß unus hic annus (= das Fiskaljahr 310/311) den Scheidepunkt zwischen dem auf die Vergangenheit gerichteten Schuldenerlaß und der auf die Zukunft gerichteten Reduzierung der Besteuerungsbasis bilde; dazu C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 256 u. 284 Anm. 54 z.St.; N. BAGLIVI, Nota, 144 f. m. Anm. 26. 26 Lact., Mort. pers. 23,2; 26,2; A.H.M. JONES, Later Roman Empire, 62–68; T.D. BARNES, New Empire, 227 f.; C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 256–258. 272 f. 284 f. 27 Pan. Lat. 5,10,5–13,1; dazu C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 256–263, und die Anm. 27. 28. 46. 53 im Kommentar z.St. 28 Grundsätzlich zum System s. die zusammenfassenden Darstellungen von A.H.M. JONES, Later Roman Empire, 61–68; J.-M. CARRIÉ/A. ROUSSELLE, L’Empire romain en mutation, des Sévères à Constantin (192–337), Nouvelle histoire de l’Antiquité 10, Paris 1999, 593–611; R. MACMULLEN, Roman Government’s Response to Crisis. A.D. 235– 337, London/New Haven 1976, 137–152: W. KUHOFF, Diokletian, 489–504. 29 Vgl. das Edikt des praefectus Aegypti Aristius Optatus aus dem Jahre 297: P. Cairo Isid. 1 (= Preisigke, SB 7622).

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zeichnet30. Man erhielt somit zumindest in der Theorie eine ‚rationalen‘ Kriterien folgende Übersicht über die relative Leistungsfähigkeit einzelner Steuerzahler und Gemeinden. Nun konnte eine Verteilung des Jahr für Jahr aufs neue ermittelten staatlichen Bedarfes auf sämtliche Steuerzahler gemäß ihres wirtschaftlichen Potentials erfolgen. Dazu wurden unter der Verantwortung der Praetorianerpräfekten jährliche Budgets aufgestellt, in denen aufgelistet war, welche Finanzmittel und welche Naturalabgaben (definiert in Art und Menge) im Fiskaljahr für den Unterhalt des Heeres und andere staatliche Vorhaben benötigt wurden. Diese Summen rechnete man dann anhand der für jede Dioecesis angelegten formula auf die Besteuerungseinheiten um, so daß auf jedes caput ein womöglich von Jahr zu Jahr divergierender Betrag entfiel. Den civitates wurden anschließend die von ihnen jeweils zu erbringenden, entsprechend ihrer kumulierten capita-Anzahl ermittelten Leistungen mitgeteilt. Interne Umlage und Eintreibung dieser Steuern blieben jedoch grundsätzlich den Städten überlassen, deren ranghöchste Dekurionen für die Erfüllung der Forderungen bürgten31. Die zumindest aus Sicht der zu den Abgaben Herangezogenen entscheidende Schwäche dieses Systems war aber, daß die konkrete Steuerlast sich nicht an den jeweiligen Erträgen, sondern an den im Büro des Praetorianerpräfekten erstellten Finanzplänen orientierte. Der Staat forderte ein, was man auf den hohen Verwaltungsebenen jeweils zu benötigen meinte, grundsätzlich losgelöst vom tatsächlichen Ausfall der Ernten und von den Einnahmen der einzelnen Steuerpflichtigen; dies ist dem Prinzip nach ein Umlageverfahren, keine einkommens- oder ertragsorientierte Besteuerung. Auf individuelle Leistungsfähigkeit wurde nur insofern Rücksicht genommen, als die ökonomisch Potenteren bei der Umlage entsprechend stärker belastet werden sollten. Insgesamt scheint das Besteuerungsniveau dennoch moderat geblieben zu sein; zu einer echten Belastung wurde es in erster Linie für ohnehin ertragsschwache lokale Ökonomien32. Gerade den 30 Zur Einzelveranlagung im census vgl. AE 1937, 232 (311); zur Provinzformula Pan. Lat. 5,5,5 (Gallicani census communi formula). 31 J.-M. CARRIÉ, in: J.-M. CARRIÉ/A. ROUSSELLE, L’Empire romain en mutation, 193. 605 f.; zum System der Steuereintreibung auch A.H.M. JONES, Later Roman Empire, 456 f. Zu den Mißbrauchmöglichkeiten und den ab Konstantin unternommenen kaiserlichen Versuchen, Einhalt zu gebieten, C. LEPELLEY, Quot curiales, tot tyranni. L’Image du décurion oppresseur au Bas-Empire, in: Crise et redressement dans les provinces européennes de l’Empire (milieu de IIIe – milieu du IVe siècle ap. J.-C.). Actes du colloque de Strasbourg (décembre 1981), ed. par E. Frézouls, Paris 1983, 143-156. P. BROWN, Macht und Rhetorik, 39–43; R. DELMAIRE, Cités et fiscalité au Bas-Empire. À propos du rôle des curiales dans la levée des impôts, in: La fin de la cité antique et le début de la cité médiévale de la fin du IIIe siècle à l’avènement de Charlemagne. Actes du colloque Paris X-Nanterre les 1,2, et 3 avril 1993, ed. par C. Lepelley, Munera 8, Bari 1996, 59–70. 32 Vielsagend: Aur. Vict., Caes. 39,32: quae sane illorum temporum modestia tolerabilis in perniciem processit his tempestatibus. Zur Steuerbelastung im 3./4. Jh. vgl. zu-

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Magnaten vor Ort, den potentiores, gelang es jedoch immer wieder, sich der Besteuerung ganz oder zu großen Teilen zu entziehen33. Ein weiterer Schwachpunkt des Systems ergab sich daraus, daß in regelmäßigen Abständen mit enormem Aufwand Neuveranlagungen durchgeführt werden mußten, um Veränderungen in der demographischen Struktur und in den Besitzverhältnissen gerecht zu werden. Ursprünglich war für diese notwendig werdende Überprüfung der Steuerregister (indictio) ein Turnus von 5 Jahren vorgesehen, der 312/313 auf 15 Jahre verlängert wurde. Mit JeanMichel Carrié ist aber davon auszugehen, daß ohnehin jeweils nur punktuelle Anpassungen vorgenommen wurden. Eine in kurzen Abständen erfolgende Durchführung eines komplett neuen census hätte nämlich auch die gegenüber der Principatszeit angewachsene spätantike Verwaltung sicher an die Grenzen ihrer Kapazität gebracht34. Eine wie umfangreich auch immer ausfallende Aktualisierung der Steuerlisten wurde auch im Jahr 311 vorgenommen35. Der erste Teil von Konstantins Maßnahme zugunsten Augustodunums gehört in diesen Zusammenhang, griff er doch gleichsam per herrscherlichen Erlaß in die Neuveranlagung der Stadt ein: Der Kaiser ordnete nach Ausweis der Dankrede an, den für die Stadt in der formula Galliens verzeichneten Ansatz nach unten zu revidieren. Doch nach Lage der Dinge konnte sich erst mit dem nächsten Steuerbescheid ein positiver Effekt dieser Regelung entfalten; wenigstens nahm die ergänzende Niederschlagung aufgelaufener Fiskalschulden augenblicklich Druck von der Stadt, die bis dahin den Einsatz kaiserlicher Schuldeneintreiber hatte fürchten müssen36.

sammenfassend Chr. WITSCHEL, Krise – Rezession – Stagnation? Der Westen des römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr., Frankfurter Althistorische Beiträge 4, Frankfurt a.M. 1999, 178 f. Vgl. Konstantins Konstitution von 320 (Cod. Theod. XI 7,3: nemo carcerem plumbatarumque verbera aut pondera aliaque ab insolentia iudicum repperta supplicia in debitorum solutionibus vel a perversis vel ab iratis iudicibus expavescat), die die Anwendung körperlicher Gewalt bei der Steuereintreibung untersagte. 33 P. BROWN, Macht und Rhetorik, 40 f.; A. DEMANDT, Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian. 284–565 n. Chr., HdAW III.6, München 1989, 406. 34 J.-M. CARRIE, in: J.-M. CARRIE/A. ROUSSELLE, L’Empire romain en mutation, 192 f.; A. DEMANDT, Spätantike, 247. 35 A.H.M. JONES, Later Roman Empire, 62; T.D. BARNES , Constantine and Eusebius, 39; DERS., New Empire, 228. 232–234. 36 Vgl. J.-M. CARRIÉ, in: J.-M. CARRIÉ/A. ROUSSELLE, L’Empire romain en mutation, 611. Die spätantike Verwaltung verfügte für die Eintreibung von Steuerrückständen über spezialisierte Beamte, die compulsores, die aber erst ab dem Ende des 5. Jh.s belegt sind: A.H.M. JONES, Later Roman Empire, 451. 456 f. 468. Dennoch blieb die tatsächliche Zwangsbeitreibung von Steuerrückständen und die Haftbarmachung von Kurialen auf Notfälle beschränkt, vgl. ebda., 756 f.

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2. Historischer Kontext Folgt man den Ausführungen des Panegyristen, so zeichneten sich zum Zeitpunkt seiner Ansprache bereits erste Erfolge der Anordnungen Konstantins ab; obwohl zum Teil noch nicht in Kraft getreten, entfalteten sie bereits eine gewisse, vor allem psychologische Wirkung. So kehrten angeblich auf die Nachricht vom Schuldenerlaß hin die ersten, ehedem vor der ökonomischen Misere und dem Druck der Abgabenlast Geflohenen auf ihre Hofstellen zurück und bereiteten sich darauf vor, die Arbeit wieder aufzunehmen37. Vieles wird aber auch nur als Blick in eine noch einzutretende glückliche Zukunft dargestellt (c. 12 u. 14), in der die Maßnahmen voll greifen würden. Der zeitliche Abstand zwischen dem Herrscherbesuch, der zu den genannten Erleichterungen führte, und der Dankrede kann daher nur gering gewesen sein, zumal in dem komplexen Beziehungsgeflecht zwischen Kaiser und Stadt die dankbare Antwort auf die erwiesene Gunst nicht zu lange auf sich warten lassen durfte, wollte man sich nicht dem Verdacht der ingratia aussetzen38. Alles spricht zudem dafür, den in Frage stehenden Adventus Konstantins zu einer weiteren im Corpus der Panegyrici überlieferten Festrede in Beziehung zu setzen, die ein ebenfalls aus Augustodunum stammender Redner im Jahre 310 im Rahmen des Stadtgeburtstags von Augusta Treverorum vor dem Kaiser gehalten hatte (Pan. Lat. VI). Die Feier fand wenige Tage nach dem dies imperii Konstantins statt, also Ende Juli oder Anfang August39. In der peroratio seiner Ansprache richtete der Panegyrist eine Einladung an den Kaiser, doch in nächster Zukunft Augustodunum einen Besuch abzustatten. In diesem Zusammenhang äußerte er auch seine feste Überzeugung, daß der Kaiser dann sicher der Stadt seine großzügige Unterstützung zukommen lassen werde40. Erhoffter Besuch und angestrebte Privilegierung werden dabei in einer faktisch-konstatierenden Sprache vorgebracht, eher als Verkündung eines feststehenden Programms denn als vage Zukunftsperspektive. So erscheint die Vermutung berechtigt, daß entsprechende Absprachen zwischen dem Stadtrat von Augustodunum und den zuständigen Hofämtern 37

Insb. Pan. Lat. 5,14,3. Zur Deutung der Stelle M.G. MESSINA, Panegirico, 47 f. Zur ingratia normativ Cic., Off. I 47 f.; R.P. SALLER, Personal Patronage, 19. 39 Pan. Lat. 6,1,1; 22,4 (natalis dies der Stadt); 2,3 (dies ... imperii tui natalis); E. GALLETIER, Panégyriques Latins II, 34 f.; C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 212–214. 40 Pan. Lat. 6,22,1: Di immortales, quando illum dabitis diem, quo praesentissimus hic deus omni pace composita illos quoque Apollinis lucos et sacras aedes et anhela fontium ora circumeat?… 3 Dabis et illic munera, constitues privilegia, ipsam denique patriam meam ipsius loci veneratione restitues. … 7 ideoque hoc votis meis sufficit ut patriam meam videas ducente pietate, quia statim erit restituta, si videris. Sed enim ista felicitas viderit an adhuc meae debeatur aetati. 38

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schon längst getroffen waren; allein der Zeitpunkt des Adventus wird vom Redner noch in der Schwebe gelassen, wohl weil man sich hier noch nicht auf Konkreteres verständigt hatte. Als Terminus post quem für den Besuch Konstantins in Augustodunum ist somit der Sommer 310, als Terminus ante quem die in der gratiarum actio Pan. Lat. V thematisierte Vollendung seiner Quinquennalien (s.o.) anzusehen41. Auf welches Datum jedoch das fünfjährige Herrscherjubiläum Konstantins tatsächlich anzusetzen ist, blieb in der Forschung lange Zeit heftig umstritten42. Schlüsseldatum ist der dies imperii Konstantins und die damit verbundene Frage, ob bei der Errechnung der Quinquennalien die Akklamation Konstantins durch die Truppen seines verstorbenen Vaters am 25. Juli 306 oder die Anerkennung als Augustus durch Maximian im darauffolgenden Jahre zugrundegelegt wurde. In dieser Kontroverse haben sich nunmehr die Befürworter der ersten Variante weitgehend durchgesetzt. Der 25. Juli wurde demnach von Konstantin von Beginn an als Tag der Begründung seiner Herrschaft angesehen und für die Berechnung der Herrscherjubiläen herangezogen43; dementsprechend erstreckte sich das Jahr seiner 41 A. CHASTAGNOL, Quinquennalia de Constantin, 106–119, plädiert demgemäß für den Herbst des Jahres 310 als terminus ad quem. 42 Die Datierung schwankt zwischen dem 25. Juli 311 (so C.E.V. NIXON, The Occasion and Date of Panegyric VIII (V), 157–169), und dem 31. März 312 (so E. GALLETIER, Panégyriques Latins II, 77 f., und E. FAURE, Notes, insb. 24–30; vgl. auch P. BRUUN, Constantine’s Change of Dies imperii, Arctos 9, 1975, 11–29 [= DERS., Studies in Constantinian Nusmismatics. Papers from 1954 to 1988, Acta Instituti Romani Finlandiae 12, Rom 1991, 97–105], 18 m. Anm. 52); H. MATTINGLY, The Imperial Vota (Second Part), PBA 37, 1951, 219–268, hier 221 f. m. 254 f. Anm. 76. 43 So TH. GRÜNEWALD, Constantinus Maximus Augustus. Herrschaftspropaganda in der zeitgenössischen Überlieferung, Historia ES 64, Stuttgart 1990, 165 f.; T.D. BARNES, Emperors, Panegyrics, Prefects, Provinces and Palaces (284–317), JRA 9, 1996, 532– 552, hier 539 f. Bis heute umstritten ist die Frage, ob im übrigen dies Caesaris (25.07.306) und dies Augusti (31. März 307 nach Seston, Ende 307, vielleicht 25.12.307 nach der neueren Forschung) bis ins Jahr 314 oder 315 auch offiziell unterschieden wurden; vgl. dazu TH. GRÜNEWALD, Constantinus Maximus Augustus, 163–168; zum Datum der Augustus-Ernennung W. SESTON, Recherches sur la chronologie du règne de Constantin le Grand, REA 39, 1937, 197–218; E. GALLETIER, Panégyriques Latins II, 3 f. u. 78; P. BRUUN, Constantine’s Dies imperii and Quinquennalia in the Light of the Early Solidi of Trier, NC 9, 1969, 177–205 (= DERS., Studies in Constantinian Nusmismatics. Papers from 1954 to 1988, Acta Instituti Romani Finlandiae 12, Rom 1991, 81–95); DERS., Constantine’s Change, 11–29 (= DERS., Studies in Constantinian Nusmismatics, 97–105); J. LAFAURIE, Dies imperii Constantini Augusti: 25 décembre 307 (Essai sur quelques problèmes de chronologie constantinienne), in: Mélanges d’Archéologie et d’Histoire offerts à André Piganiol. Vol. II, ed. par R. Chevallier, Paris 1966, 795–806; A. CHASTAGNOL, Quinquennalia de Constantin, 106–119; T.D. BARNES, New Empire, 5 u. 69 f.; vgl. W. KUHOFF, Diokletian, 822 m. Anm. 1602. C.E.V. NIXON, The Occasion and Date of Panegyric VIII (V) (vgl. C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 179–184), bestreitet mit einleuchtenden Gründen, daß der dies Augusti

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Quinquennalien vom 25. Juli 310 bis zum 25. Juli 311. Die vorliegende gratiarum actio wurde gemäß dem Hinweis des Panegyristen auf die quinquennalia etiam perfecta (c. 13,2) somit in den letzten Julitagen des Jahres 311 vorgetragen44, der Adventus Konstantins in Augustodunum ist also mit einiger Sicherheit spätestens auf das Frühjahr desselben Jahres zu datieren. Nach der Niederschlagung des Usurpationsversuchs seines Schwiegervaters Maximian und der sukzessiven Abwendung vom politisch-religiösen System der Tetrarchie hatte Konstantin weitgehend freie Hand bei der herrschaftlichen Durchdringung der in seinem Einflußbereich liegenden Provinzen. Die Kräfte des Maximinus Daia und des Licinius waren in der Auseinandersetzung um das machtpolitische Erbe des im April 311 verstorbenen Galerius gebunden45; in Italien hielt sich zwar noch immer Maxentius, doch hatte dieser erst im Vorjahr Africa für sich zurückgewinnen müssen. Für Konstantin war aus geostrategischen wie aus militärischen und politischen Gründen ein Feldzug gegen den „Usurpator“ Maxentius in absehbarer Zeit die naheliegende Option, um die eigene Position gegenüber Licinius und Maximinus Daia zu stärken – ja, die Eroberung Italiens war angesichts der Machtkonstellation geradezu ein Gebot, wollte Konstantin seine Stellung auch nur behaupten46. Sollte ihm hingegen Licinius mit der Eroberung Italiens zuvorkommen, müßte sich der Sohn des Constantius auf lange Sicht mit der Herrschaft über seine gallischen, britannischen und hispanischen Provinzen und einer nachgeordneten Stellung zufrieden geben. Daher ging Konstantin in die Offensive, solange sich die Situation für ihn noch günstig darstellte: Er verfügte in seinem Machtbereich zunächst eine damnatio memoriae Maximians, die Maxentius seinerseits mit einer Zerstörung der Bildnisse Konstantins beantwortete47. Auf beiden für Konstantin jemals chronologische Relevanz besessen habe; ihm folgt T.D. BARNES, Emperors, 540. 44 So nun T.D. BARNES, Emperors, 541, mit überzeugenden Argumenten gegen den Vorschlag von J.-M. CARRIÉ, Dioclétien et la fiscalité, AnTard 2, 1994, 33–64, insb. 37– 42. 57, die Rede auf den 1. Januar 312 zu datieren (so bereits C. CASTELLO, Il pensiero politico-religioso di Costantino alla luce dei panegirici, in: Atti del primo convegno internazionale dell’Accademia Romanistica Costantiniana. Spello–Foligno–Perugia 18–20 settembre 1973, Perugia 1975, 47–117, hier 83); vgl. auch die Position von M.G. MESSINA, Panegirico, 41 (Besuch Konstantins Ende 311, Rede 312). 45 Lact., Mort. pers. 36,1 f.; T.D. BARNES, Constantine and Eusbius, 39 f.; W. KUHOFF, Diokletian, 879 f. 46 Vgl. nun B. BLECKMANN, Bemerkungen zum Scheitern des Mehrherrschaftssystems: Reichsteilung und Territorialansprüche, in: Diokletian und die Tetrarchie. Aspekte einer Zeitenwende, hg. v. A. Demandt/A. Goltz/H. Schlange-Schöningen, Millenium-Studien 1, Berlin/New York 2004, 74–94. 47 Lact., Mort. pers. 42,1; Eus., h.e. VIII 13,15 (Maßnahmen Konstantins); Pan. Lat. 4,12,2 (Maxentius). Hierzu und im folgenden TH. GRÜNEWALD, Constantinus Maximus Augustus, 60 f., und W. KUHOFF, Diokletian, 853. 892–896.

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Seiten wurden nach dieser symbolischen Eröffnung des Konflikts Allianzen geschlossen: Konstantin verständigte sich mit Licinius, dem er seine Schwester Constantia verlobte; Maxentius traf ein offenbar geheim gehaltenes Abkommen mit Maximinus Daia48. Intensive Rüstungen für die erwartete Auseinandersetzung liefen an. Den Angaben des Lactantius zufolge erklärte Maxentius dem Herrscher Galliens noch im Jahre 311 den Krieg, um den Tod seines Vaters zu rächen49. Der Quellenwert dieser Nachricht ist allerdings zweifelhaft: Wir besitzen keinerlei Informationen über militärische Aktivitäten des Maxentius gegen Konstantin; darüber hinaus zeigt der tatsächliche Verlauf des Italienfeldzugs von 312, daß der Herrscher über Rom vielmehr starke Truppenverbände an der Grenze zum Illyricum zusammengezogen hatte. Das heißt, daß er Kampfhandlungen eher im Nordosten erwartete, Licinius erschien ihm mithin gefährlicher als Konstantin. Es muß aber offen bleiben, ob Maxentius – wie Zosimos behauptet – eine auf Raetien gerichtete Offensive plante, um so einer möglichen Invasion zuvorzukommen, oder ob er eine reine Defensivstrategie verfolgte50. Aber auch Konstantin war in seinen Dispositionen nicht völlig ungebunden. Wie die Panegyrici des Jahres 310 und des Jahres 313, aber auch epigraphische und numismatische Belege zeigen, blieb die Rheingrenze trotz einiger Siege Konstantins in den zurückliegenden Jahren weiterhin ein militärisches Operationsgebiet mit erheblichen Gefahren – auch wenn ein durchschlagender Erfolg der kaiserlichen Waffen schon mehrfach in Inschriften und auf Münzen gefeiert worden war51. Ein großer Teil der Trup48 Lact., Mort. pers. 43,2; Zos. II 17,3 (Konstantin und Licinius); Lact., Mort. pers. 43,2 f.; Eus., h.e. VIII 14,7 (Maxentius und Maximinus). Die Ereignisse verortet T.D. BARNES, Constantine and Eusebius, 40 f., im Laufe der Jahre 310 und 311. H.A. POHLSANDER, Constantia, AncSoc 24, 1993, 151–167, insb. 154, datiert die Verlobung Constantias auf Ende 311 oder Anfang 312 (nach dem Tode des Galerius, aber vor der Schlacht an der Milvischen Brücke). 49 Lact., Mort. pers. 43,4. 50 Zos. II 14. T.D. BARNES, Constantine and Eusebius, 40 f., der generell dem Bericht des Lactantius folgt, versucht auch in dieser Frage die Angaben des Kirchenschriftstellers zu halten. Maxentius habe 311 Konstantin den Krieg erklärt, sich im Jahre 312 aber hauptsächlich gegen Licinius gerüstet. Warum Maxentius den kapitalen strategischen Fehler begangen haben sollte, einen Zweifrontenkrieg geradezu zu provozieren, erschließt sich aber nicht. 51 Zu den Feldzügen gegen Franken, Alamannen und Brukterer vgl. T.D. BARNES, Constantine and Eusebius, 29. 34; DERS., The Victories of Constantine, ZPE 20, 1976, 149–155; DERS., Imperial Campaigns, A.D. 285–311, Phoenix 30, 1976, 174–193 (jeweils mit Aufarbeitung des inschriftlichen Befundes); W. KUHOFF, Diokletian, 841–846. Zu den Münzen vgl. etwa RIC VI 221 no. 811 GAUDIUM REIPUBLICAE (mit Troapaeum zwischen gefangenen Francia und Alamannia); 222 no. 818 VICTOR OMNIUM GENTIUM; 223 no. 819 VICTORIA CONSTANTINI AUG; 223 no. 823 u. 824 GAUDIUM ROMANORUM

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pen Konstantins blieb daher auf eine nicht absehbare Zeit dort gebunden; im Jahr 312 konnte er nur ein Viertel seiner Kräfte für den Zug nach Italien aufbieten, um Maxentius zu verdrängen52. Um so größer mußte das Interesse Konstantins sein, die Verhältnisse in dem ihm bereits unterstellten Gebiet zu konsolidieren und es so als sichere Ausgangsbasis für ein weiteres Ausgreifen nutzen zu können. Nach den Weichenstellungen des Jahres 310 war eine solche Bereinigung der Machtverhältnisse im Imperium jedenfalls kaum noch hinauszuschieben. Eine Reihe von Indizien legt es nahe, auch den in Pan. Lat. V beschriebenen Adventus Konstantins in Augustodunum in diesem Kontext zu sehen53. Die Stadt war durch die Ansiedlung der bedeutenden Rhetorikschule der Maenianae, durch eine Ausbildungsstätte für Gladiatoren und den wohl unter Vespasian erfolgten Bau des größten Theaters auf dem Gebiet des heutigen Frankreich eines der Zentren der Romanisierung Galliens geworden54; wie oben (Kapitel 2) ausgeführt, versorgten die Rhetoren von Augustodunum im späten dritten Jahrhundert die kaiserliche Administration mit qualifiziertem Personal55. Auf dem Territorium der Stadt befanden sich darüber hinaus bereits im dritten Jahrhundert Produktionsstätten des metallverarbeitenden Gewerbes, die die Armee belieferten (opifices loricarii); die Notitia Dignitatum verzeichnet für Augustodunum staatliche Manufakturen zur Versorgung des Heeres mit Rüstungsgütern – Panzer für Infanterie und Reitertruppen, Schilde und Ballisten wurden hier gefertigt56. Die wirtschaftliche Tätigkeit der Stadtbewohner scheint unter Konstantin generell einen Aufschwung genommen zu haben, allerdings verlagerte sich ofmit dem Zusatz ALAMANNIA bzw. FRANCIA im Abschnitt (Solidi, Augusta Treverorum 310/313). 52 Pan. Lat. 12,2,6–3,3. 53 Vgl. auch die knappen Schlußbemerkungen bei N. BAGLIVI, Nota a Paneg. VIII (5),13,4, Orpheus 6, 1985, 136–148, hier 148. 54 P. MACKENDRICK, Roman France, London 1971, 118–121; A. REBOURG, L’Urbanisme d’Augustodunum, 188–193; zur Datierung von Theater und Amphitheater ebda. 217 f. – das Amphitheater gehört in die flavische Zeit bzw. an den Anfang des 2. Jh.s., das Theater ist vielleicht schon augusteisch (oder doch jedenfalls bei der ursprünglichen Anlage der Stadt bereits berücksichtigt worden). 55 Vgl. noch knapp S.G. MAC CORMACK, Latin Prose Panegyrics, 67–69. 56 CIL XIII 2828 (loricarii); Not. Dig. Occ. IX 33 u. 34; M. MATTER/M.-J. MORANT, Autun antique, in: Les Villes antiques de la France. Vol. III. Lyonnaise 1: Autun – Chartres – Nevers, ed. par Ed. Frézouls, Paris 1997, 3–172; B. BUCKLEY, The Aeduan Area in the Third Century, in: The Roman West in the Third Century. Contributions from Archaeology and History, Part II, ed. by A. King/M. Henig, BAR International Series 109 (II), Oxford 1981, 287–315, insb. 300 f.; A. REBOURG, L’Urbanisme d’Augustodunum, 208. In der Spätantike ist darüber hinaus eine in Augustodunum angesiedelte Manufaktur zur Produktion von Textilien für den Bedarf des Hofes (gynaecium) belegt: Not. Dig. Occ. XI 59.

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fenbar innerhalb der civitas Aeduorum der ökonomische Schwerpunkt allmählich vom Hauptort selbst nach Cabillonum mit seinem Saône-Hafen57. Infrastrukturell war die Stadt im Grunde optimal erschlossen: Augustodunum lag an dem Kreuzungspunkt der Nord-Süd-Verbindung von Lugdunum zur Kanalküste und der West-Ost-Straße vom Atlantik bis nach Vesontio und weiter an den Oberrhein oder in die Cisalpina und nach Transpadanien. Zudem war vom Gebiet der Aedui aus der Zugang zur Loire (über den Arroux), zum Flußsystem von Saône und Rhône und zum Becken der Seine zu erreichen58. Doch das gallische Sonderreich, die mit seiner Geschichte verbundenen kriegerischen Aktivitäten, Germaneneinfälle sowie der Bagaudenaufstand hatten seit der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts Gallien in Mitleidenschaft gezogen; besonders Augustodunum war von den zurückliegenden Ereignissen betroffen gewesen59. Im Jahr 269 erhob sich die Stadt erfolglos gegen das Imperium Galliarum. Sie wurde belagert, erobert und geplündert. In der Folge dieser Niederlage kam es auch zu Veränderungen in der städtischen Elite; wahrscheinlich ist es mit diesem Ereignis in Zusammenhang zu bringen, daß die Vorfahren des Ausonius aus Augustodunum vertrieben wurden und in die Verbannung nach Aquitanien gingen60. Darüber hinaus besitzen wir Nachrichten, denen zufolge Constantius einige Jahre nach der Zerstörung vornehme Familien aus anderen Städten nach Augustodunum umsiedelte61 und auf diesem Wege die Leistungskraft der Stadt zu erhöhen suchte62. Eine einschneidende Veränderung des Stadtbil57

B. BUCKLEY, Aeduan Area, 310 f. A. REBOURG/CHR. GOUDINEAU, Autun antique, Guides archéologiques de la France 39, Paris 2002, 8–10; die Straßenverbindungen Augustodunums sind detailliert aufgeführt bei A. REBOURG, L’Urbanisme d’Augustodunum, 151–154; zu den Möglichkeiten der Flußschiffahrt ebda., 156–158. 59 Pan. Lat. 8,21 (mit Kommentar z.St.: C.E.V. NIXON/B.S. RODGERS, In Praise of Later Roman Emperors, 142–144); Pan. Lat. 9,4; Pan. Lat. 5,4 f. Vgl. J.J. HATT, Histoire de la Gaule romaine (120 avant J.-C. – 451 après J.-C.). Colonisation ou colonialisme? Paris 1959, insb. 223–225. 253. 272–279; CHR. DELAPLACE/J. FRANCE, Histoire des Gaules (VIe s. av. J.-C. – VIe s. ap. J.-C.), Paris 1995, 106–114; M. MATTER/M.-J. MORANT, Autun antique, 3–172, insb. 165 f. 60 Auson., Parentalia 4,2–10; I. KÖNIG, Die gallischen Usurpatoren von Postumus bis Tetricus, Vestigia 31, München 1981, 148–156, hier 149. 156.; H. SIVAN, Ausonius of Bordeaux, 50 f.; die von R. ETIENNE, Bordeaux antique, 339, vertretene Auffassung, der Vorfahr des Ausonius sei einer der Mitinitiatoren des Aufstands gewesen, ist von I. KÖNIG, a.a.O., 156, wegen der erst 271 erfolgten Verbannung in Zweifel gezogen worden; er zählt ihn eher zu den ‚potentiellen Köpfen eines Widerstandes‘, der sich um die Maenianae herum organisiert habe. 61 Pan. Lat. 9,4,3: ex amplissimis ordinibus provinciarum incolas novos. 62 Skeptisch zum Umfang des vermeintlichen Wiederaufbauprogramms A. REBOURG, L’Urbanisme d’Augustodunum, 220 f. 58

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Zweiter Teil: Stadt und Kaiser

des ist zwischen dem dritten und dem vierten Jahrhundert allerdings nicht auszumachen; in dieser Hinsicht scheint die Entwicklung Augustodunums von den Transformationsprozessen weniger stark betroffen gewesen zu sein als andere gallische Städte63. Entlang des Cardo Maximus bzw. des sekundären Cardo ließen sich so mehrere prachtvoll ausgestattete domus des dritten Jahrhunderts nachweisen, die über repräsentative Empfangssäle verfügten (das sog. Haus des Balbius Iassus besaß gleich drei dieser Räume) und bis in das vierte Jahrhundert hinein bewohnt waren, allerdings nun vereinzelt auch in Teilnutzung durch Handwerksbetriebe64. Konstantin mußte aus den genannten strategischen Gründen seinerseits ein vitales Interesse daran haben, bei einer weiteren Ausdehnung seiner Kräfte die Verkehrsverbindungen und Kommunikationswege in einen möglichst optimalen Zustand zu bringen. Eine Durchsicht der von Thomas Grünewald katalogisierten Inschriften Konstantins ergibt bei den in seinem Machtbereich zu verortenden Meilensteinen eine Häufung von Belegen im Zeitraum unmittelbar nach dem Herrschaftsantritt (306/307) und nochmals in den Jahren von 310 bis 31265. Fast ausnahmslos sind diese Inschriften zwar im Dedikationsdativ gehalten und dürfen daher nicht ohne weiteres als Beleg für tatsächliche Straßenbaumaßnahmen Konstantins, die gegebenenfalls der Logistik für einen bevorstehenden Feldzug dienen konnten66, herangezogen werden. Doch ist eine Konzentration der nachgewiesenen Meilensteine für den späteren Zeitraum – ab 310 – in Britannien und in den Alpen festzustellen; dies läßt zumindest auf eine Intensivierung der Herrschaftstätigkeit in beiden, an der Peripherie des konstantinischen Reichsteils gelegenen, Regionen schließen67. Sieht man diese Aktivitäten

63

Vgl. zu kritischen Lektüre der Ausführungen des Panegyristen auch CHR. WITKrise – Rezession – Stagnation?, 31 f. Zur Entwicklung Galliens ebda., 307–337, demzufolge der Wandel vielerorts bereits am Ende des 2. Jh.s einsetzte. 64 M. PINETTE/A. REBOURG, Autun. Ville gallo-romaine, Guides Archéologiques de la France, Paris 1986, 80–82; A. REBOURG, L’Urbanisme d’Augustodunum, 198–207. 65 TH. GRÜNEWALD, Constantinus Maximus Augustus, no. 1. 5 f. 12. 14 (Britannien 306/307); no. 2–4. 7–11. 13 (Britannien 310–312); no. 21. 23. 31. 35. 41. 46–49. 62 f. 65 (Gallien 306/307); no. 18 f. 24–30. 32 (Gallien – insb. Alpes Graiae et Poeninae – 310– 312); no. 79 f. (Hispanien 306/307); no. 74–76. 81. 83 (Hispanien 310/312 bzw. 315). 66 So aber TH. GRÜNEWALD, Constantinus Maximus Augustus, 60; B. BLECKMANN, Konstantin der Große, Reinbek b. Hamburg 1996, 52. Vgl. G. WALSER, Die römischen Straßen in der Schweiz. Vol. I: Die Meilensteine, Itinera Romana 1, Bern 1967, 98, und DERS., Via per Alpes Graias. Beiträge zur Geschichte des Kleinen St. Bernhard-Passes in römischer Zeit, Historia ES 48, Stuttgart 1986, 45 f. 67 Zu dem Phänomen, daß dedikationsartige Inschriften auf Meilensteinen ab dem 3. Jh. zunehmend städtische Kaiserstandbilder ersetzten, vgl. B. BORG/CHR. WITSCHEL, Veränderungen im Repräsentationsverhalten der römischen Eliten während des 3. Jhs. n. Chr., in: Inschriftliche Denkmäler als Medien der Selbstdarstellung in der römischen SCHEL,

Kapitel drei: Panegyricus Latinus V (VIII)

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zusammen mit der Reise Konstantins nach Britannien am Ende des Jahres 310 sowie der Unterhaltung großer Heeres- und Flottenverbände an der Rheingrenze, zeigt sich, daß der Kaiser nach der Ausschaltung Maximians sowohl um eine Sicherung des Rückraums für eine militärische Auseinandersetzung mit Maxentius als auch um eine Offenhaltung der Alpenpässe stark bemüht war. In Südostgallien waren darüber hinaus schon seit geraumer Zeit umfangreiche Einheiten zum Schutz gegen Maxentius stationiert worden. So hatte Maximian bei seinem Usurpationsversuch 310 auf diese Garnisonen zurückgreifen können, die er nach Lactanz mit einem Donativ und der falschen Nachricht, Konstantin sei auf einem Feldzug am Rhein gefallen, für sich gewinnen konnte, bis der Aufstand mit dem Erscheinen des von der Front heraneilenden Kaisers in sich zusammenbrach68. Dieses Ereignis mußte dem Herrscher eine weitere Bestätigung für die Notwendigkeit intakter Verbindungen zwischen Alpen, Rhein und Kanalküste in einer Zeit sein, in der seine Herrschaft noch immer an unterschiedlichen Fronten herausgefordert wurde. Über die Aufenthaltsorte des Kaisers in den Jahren 311 und 312 ist nur sehr wenig bekannt; es erscheint aber sehr wahrscheinlich, daß er die Zeit nutzte, um in ähnlicher Weise wie in Augustodunum die wichtigsten Orte Galliens zu inspizieren und vor Ort die nötigen Maßnahmen zu treffen, um ihre Wirtschafts- und Finanzkraft, also ihre Abgabenfähigkeit rasch zu steigern69. Konstantin ist zwar allgemein für eine harte Fiskalpolitik bekannt, die bis an die Grenze der Belastbarkeit ging70. In diesen ersten JahWelt, hg. v. G. Alföldy/S. Panciera, HABES 36, Stuttgart 2001, 47–124, 56 Anm. 44. 116 f. 68 Lact., Mort. pers. 29,3–5; vgl. J. MOREAU, Lactance. De la mort des persécuteurs, Paris 1954, 368–370; T.D. BARNES, Constantine and Eusebius, 34; W. KUHOFF, Diokletian, 846. Vgl. auch W. HUSS, Das Ende des Maximianus, Latomus 37, 1978, 719–725; E. GALLETIER, La mort de Maximien d’après le panégyrique de 310 et la vision de Constantin au Temple d’Apollon, REA 52, 1950, 288–299; Konstantins Truppen eilten vom Rhein an die Saône, schifften sich in Cabillonum – das zu dieser Zeit wohl noch zur civitas Aeduorum gehörte (vgl. A. DÉLÉAGE, La capitation du Bas-Empire, Mâcon 1945, 210) – ein und gelangten weiter über die Rhône nach Arelate: Pan. Lat. 6,18. 69 Vgl. T.D. BARNES, Constantine and Eusebius, 34. M.E. verkennt M. MAUSE, Darstellung des Kaisers, 175, die Zielrichtung der Maßnahmen Konstantins, wenn er sie als „nur eine einmalige Unterstützungs- und Wiederaufbautat“ bezeichnet. Unberührt davon bleibt selbstverständlich, daß – gerade unter den Bedingungen antiker Ökonomie – nicht auch tatsächlich nachhaltig sein mußte, was als nachhaltig gedacht war. 70 A. DEMANDT, Spätantike, 407. Vgl. Konstantins Einziehung der städtischen Liegenschaften zugunsten des Fiskus (Lib., Or. 2,31; 30,6; 62,8). Zur Kritik an der harten Steuerpolitik des Kaisers: H.-U. WIEMER, Libanius on Constantine, CQ 44, 1994, 511– 524, hier 519 f.; P.-L. MALOSSE, Libanius on Constantine Again, CQ 47, 1997, 519–524, insb. 519–521 (mit weiterer Literatur).

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Zweiter Teil: Stadt und Kaiser

ren seiner Herrschaft mußte er aber vor allem darum bemüht sein, seinen Anspruch durchzusetzen und das bereits Erreichte auf ein tragfähiges Fundament zu stellen – es war noch nicht die Zeit für entschlossene Reformen, sondern für ad hoc-Maßnahmen, die seine Popularität steigern und die eklatantesten Mißstände abstellen sollten. Selbst wenn man angesichts der rhetorischen Übertreibungen des Panegyristen entsprechende Abstriche macht, stellte sich die Lage Augustodunums in den Jahren 310 und 311 offenkundig als angespannt dar; der Redner weist explizit auch auf eine marode Infrastruktur und den schlechten Zustand der Straßen hin71. Eine Revision des Zensus von 306, der die Leistungsfähigkeit der Stadt anscheinend nicht realistisch widerspiegelte, im Zuge der für das Jahr 311 anstehenden Neuveranlagung und ein Verzicht auf ohnehin nicht beizutreibende Abgaben konnten Konstantin vor diesem Hintergrund mithin nicht nur einen erheblichen Prestigegewinn einbringen, sie waren vor allem auch eine fiskalische und militärische Notwendigkeit. Das Eingreifen des Kaisers zugunsten der Stadt lag mithin im wohlverstandenen eigenen Interesse des Herrschers, erforderte aber dessen ungeachtet eine regelgerechte gratiarum actio als Gegenleistung. Wie diese Aufgabe konkret umgesetzt wurde, gilt es im folgenden zu untersuchen. Am Anfang muß auch hier ein Überblick über die Struktur der Rede stehen. Sie ist mit 14 Abschnitten eine der kürzesten im Corpus der XII Panegyrici Latini72 und weist einen klar definierten Aufbau auf; zudem gibt ihr Autor an mehreren Stellen deutliche Hinweise zur Strukturierung73. Auf das Exordium folgt dabei ein mehrfach untergliederter Hauptteil: Zunächst erörtert der Redner die Verdienste der Einwohner Augustodunums in der fernen wie in der unmittelbaren Vergangenheit, danach die von Konstantin der Stadt erwiesenen Wohltaten. Den Abschluß bildet eine emphatische Peroratio. Es ergibt sich somit folgende Feingliederung74: 71 Pan. Lat. 5,7,1 f., insb. 2: etiam militaris vias ita confragosas et alternis montibus arduas atque praecipites ut vix semiplena carpenta, interdum vacua transmittant. Vielleicht läßt sich in der ausführlichen Ekphrasis zum Zustand des Wegenetzes eine Anknüpfung an bereits angelaufene oder geplante Unterhaltungsmaßnahmen erkennen. Grundsätzlich ist das Verhältnis von Stadt und Umland allerdings integraler Bestandteil antiken Städtelobs, wenn auch die Straßen eine eher untergeordnete Rolle zu spielen scheinen, vgl. L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 188–216, insb. 215 f.; s.a. C.J. CLASSEN, Die Stadt im Spiegel der Descriptiones und Laudes urbium, BzA 2, Hildesheim/Zürich/New York 1986, 16 f. 19–21. 34–36; Men. Rh. I 344,15–351,19; Quint., Inst. III 7,26 f. 72 Ähnlich knapp ist nur noch Pan. Lat. II (289). Vermutungen, die Rede sei nicht vollständig überliefert, hat E. GALLETIER, Panégyriques Latins II, 85, mit überzeugenden Argumenten widerlegt. 73 Pan. Lat. 5,2,2 f.; 5,1; 7,6; 11,1. 74 Vgl. E. GALLETIER, Panégyriques Latins II, 87 f.

Kapitel drei: Panegyricus Latinus V (VIII)

I. II. III.

IV.

209

Exordium (c. 1,1–2,1) Propositio und Partitio (c. 2,2 f.) Hauptteil 1. merita Augustodunums a) Historische Verdienste der Aedui (c. 2,4–4) b) Verfall der Stadt nach der Eroberung des Victorinus (c. 5–7) 2. beneficia Konstantins a) Reduktion der künftigen Steuerlast (c. 8–10) b) Tilgung der aufgelaufenen Abgabenrückstände (c. 11–13) Peroratio (c. 14)

3. Struktur und Funktion des Exordiums Der Redner beginnt, indem er seinen Zuhörern ein eindrucksvolles Bild vor Augen stellt, das er dennoch mit raschen Strichen zeichnet: Wenn sich Flavia Aeduorum – so lautet der neue Name der Stadt in Erinnerung an die Verdienste des Constantius um Augustodunum – erheben und selbst in die Residenzstadt kommen könnte, dann würde sie vor allen die Wohltaten verkünden, die Konstantin ihr gewährt hat und die ihn zum Wiederbegründer (restitutor ... immo conditor) Augustodunums machen. Sie würde dem Kaiser, dem sacratissimus imperator, dabei in gerade der Stadt, nämlich Augusta Treverorum, ihren Dank abstatten, der sie nun anfange gleichzukommen75. Es handelt sich hierbei um eine nur angedeutete, nicht vollständig ausgeführte Prosopopoiia mit einem ciceronischen Vorbild76. Um sie vollständig umzusetzen, hätte der Redner seine Stimme tatsächlich der Stadt leihen und sie in direkter Rede sprechen lassen müssen77. Vermutlich schreckte er aber vor einer solchen Emphase zurück78; warnten doch auch 75 Pan. Lat. 5,1,1: Si Flavia Aeduorum tandem aeterno nomine nuncupata, sacratissime imperator, commovere se funditus atque huc venire potuisset, tota profecto coram de tuis in se maximis pulcherrimisque beneficiis una voce loqueretur tibique restitutori suo, immo ut verius fatear, conditori in ea potissimum civitate gratias ageret cuius eam similem facere coepisti. 76 Cic., Pis. 52; vgl. A. KLOTZ, Studien, 559. Eine ähnliche Technik findet sich schon in Pan. Lat. 11,12,1 (291). 77 Vgl. das Beispiel einer Stadt-Personifikation bei Rhet. Her. IV 66 (hier unter dem Begriff der conformatio); für die Epideiktik: Men. Rh. II 381,13–23; 427,27–30. Die Figur gehört zu den Grundelementen, in denen sich der Rhetorikschüler intensiv erprobte: Theon, Progamn. 115. Generell Quint., Inst. IX 2,29–37; A. BENDLIN, Art. Personifikation I. Begriff, DNP 9, 2000, 639–641; R. CRIBIORE, Gymnastics of the Mind, 228 f.; J. MARTIN, Antike Rhetorik, 291 f. (zur komplexen Unterscheidung von Prosopopoiia und Ethopoiia und den unterschiedlichen antiken Auffassungen). 78 Rhet. Her. IV 66: Proficit plurimum in amplificationis partibus et conmiseratione. Vgl. Cic., de Orat. III 205.

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Zweiter Teil: Stadt und Kaiser

die Handbücher davor, eine Rede mit zu viel Pathos beginnen zu lassen79. Das Stilmittel der Personifikation bot jedenfalls auch in der durch Praeteritio vermeintlich abgeschwächten Form den verlockenden Vorteil, daß so gleichsam die ganze Stadt vor dem Kaiser aufzutreten und ihren Dank zu bekunden schien80. Indem der Panegyrist die Prosopopoiia in eine irreale Periode einbettete, brachte er zusätzlich zum Ausdruck, daß eben dies faktisch nur mit Hilfe eines Stellvertreters – seiner selbst – möglich war. Er gewährleistete so, daß Augustodunum vor dem Kaiser tatsächlich mit einer Stimme (una voce) auftrat. Auf diesem Wege konnte der Redner zwei Ziele erreichen: sich selbst und seine Bedeutung ins rechte Licht zu rücken und zugleich auf das Mandat zu verweisen, das seinen Auftritt legitimierte. Dies wird im folgenden Satz expliziert: Man wolle Konstantin die Freuden- und Lobrufe zu Gehör bringen, die ihm tagtäglich in Augustodunum gelten. Aus diesem Grunde habe der Redner sich aus eigenem Antrieb und dem guten Brauch folgend (quod fieri decebat) zur Verfügung gestellt, um die Botschaft an den Kaiserhof zu tragen. So sei er von einem privati studii litterarum orator zu einem publicae gratulationis orator geworden (s.o.)81. Dieser Passage wird durch eine doppelte Opposition Struktur gegeben: Da dem dringenden Wunsch (animus) ‚der Stadt‘, dem Kaiser ihren Dank unmittelbar zu Gehör zu bringen, die physische Realität (natura) entgegenstand, mußte sich der zuvor nur auf die literarischen und sprachlichen Aspekte der Rhetorik (privatum studium litterarum) konzentrierte Gelehrte zu einem Redner im Auftrag des Gemeinwesens (orator publicus) wandeln. Dieses von ihm repräsentierte Gemeinwesen steht, so wird von Beginn an deutlich, in einer besonderen Beziehung zu Konstantin: Es trägt den Namen der herrscherlichen Familie der Flavier, es betrachtet Konstantin als seinen zweiten Gründer und es wetteifert, unterstützt durch den Herrscher, mit der Residenzstadt Augusta Treverorum82. Die sich anschließenden Ausführungen sind im wesentlichen der Person des Redners und seiner Aufgabe gewidmet. Er habe bereits bei dem Besuch Konstantins die Gelegenheit zu einer Dankrede ergreifen wollen, sei aber aus mehreren Gründen davon abgehalten worden. Den möglichen, eher konventionellen Hinderungsgrund mangelnder Vorbereitung läßt er nur bedingt gelten83; angesichts der Größe und Unmittelbarkeit der kaiser-

79 Quintilian weist sie daher eher der Peroratio (Inst. VI 1,25–27) als dem Exordium zu (Inst. IV 1,28). 80 L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 401, klassifiziert die Prosopopoiia so zu Recht als „une figure d’autorité“. 81 Pan. Lat. 5,1,2. 82 Zum Konkurrenzgedanken auch M.G. MESSINA, Panegirico, 47. 83 Zur oft knappen Vorbereitungszeit epideiktischer Reden vgl. L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 429 f. mit Belegen; ebda., 432–434, zur vollen Improvisation und ihrer

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lichen Wohltaten wäre es ohnehin nicht möglich gewesen, eine auch nur annähernd adäquate Rede im voraus zu entwerfen. Gewichtiger seien vielmehr zwei Faktoren: Zum einen war seinem Ermessen nach das Publikum nicht groß genug, um dem Lob auf den Kaiser die angemessene Resonanz auch über die Grenzen Augustodunums hinaus zu verschaffen84; zum anderen hat es an der nötigen Vortragszeit für eine dem Anlaß gerecht werdende Rede gefehlt85. Konstantin war nur einen Tag lang in der Stadt und während dieser Stunden mit Regelungen zum Wohl der Einwohner beschäftigt; und knapp hätte der Dank angesichts der Größe der beneficia nicht ausfallen dürfen. Der Panegyrist unterstreicht, daß es ihm bei seiner angeblich damals getroffenen Entscheidung, die gratiarum actio an anderem Orte nachzuholen, nicht um seinen eigenen, sondern um den Ruhm des Kaisers gegangen sei. Für ihn als orator hätte allein eine wohlwollende Reaktion Konstantins auf die Rede ausgereicht, um unsterblich zu werden; aber der für den Herrscher zu erzielende positive Effekt wäre aufgrund der genannten ungünstigen Rahmenbedingungen wirkungslos verpufft86. Doch die nun in Augusta Treverorum anstehenden Quinquennalienfeierlichkeiten boten den geforderten Resonanzraum für eine der Größe des Herrschers angemessene Rede. Konstantins engste Berater, sein Hofstaat und Gesandte beinahe aller Städte haben sich in Augusta Treverorum versammelt, wo der Kaiser bevorzugt residiert; auch wenn, so suggeriert der Redner ein zweites Mal, Augustodunum sich anschicke, diesen Rang streitig zu machen. Nun wolle er das Wort ergreifen, um die Gunsterweise Konstantins vor diesem denkbar großen, zumindest denkbar einflußreichen Publikum darzulegen und um durch die erneute Zustimmung des Kaisers zu den angeordneten Maßnahmen ihre Gültigkeit zu bekräftigen: Nunc itaque, cum ... totus tibi amicorum tuorum comitatus et omnis imperii apparatus assistit et cum omnes homines omnium fere civitatum aut publice missi aut pro se tibi supplices assunt, dicam, imperator, ea quae libenter agnoscas et ceteri nobis indulta non crederent nisi te agnoscente dixissem.87

Der Orator nutzt so das Exordium zu einer rhetorischen Analyse der Rahmensituation seiner Dankrede, wobei er den Ort, die anwesenden Personen sowie die Stellung des Redners und des Adressaten anführt. Er verschafft Bedeutung für das Selbstverständnis der Redner; als Topos des Exordiums: ebda., 302. Vgl. auch M. MAUSE, Darstellung des Kaisers, 41. 84 Die paucitas adsistentium wird bei M. MAUSE, Darstellung des Kaisers, 36 Anm. 28, fälschlich auf das Publikum der tatsächlich in Trier gehaltenen Rede bezogen. 85 Ähnlich [Ael. Aristid.], Or. 35,2. 86 Pan. Lat. 5,1,3–5. Vgl. S.G. MAC CORMACK, Latin Prose Panegyrics, 45. Zur Bedeutung der Menge der Zuschauer und des Ortes in bezug auf den durch eine Festrede Geehrten vgl. auch Apul., Flor. 18,2: nam et pro amplitudine civitatis frequentia collecta et pro magnitudine frequentiae locus delectus est. 87 Pan. Lat. 5,2,1.

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damit sich und seinen Zuhörern (beziehungsweise Lesern) über die vorliegenden Rezeptionsbedingungen Gewißheit. Als oratorisches Telos, als Beweggrund für seine Rede nennt er in diesem Zuge den Wunsch und – implizit – die moralische Verpflichtung, Konstantin Dank abzustatten. All diese Überlegungen gehören, aus der Sache selbst erklärlich, in das Kalkül eines jeden erfolgreichen Redners88: Denn aus der Beschaffenheit des Publikums, des Anlasses und des Redegegenstandes ergibt sich das einzusetzende Instrumentarium, und zwar sowohl bezogen auf Auffindung und Anordnung des Stoffes (inventio und dispositio) wie auch auf die zu wählende Stilhöhe (elocutio) und die Art der Darbietung (actio). Diese üblicherweise auf die Vorbereitungsphase beschränkten Elemente sind hier in den Einleitungsteil der Rede übernommen und damit nach außen gewendet worden. Auf diese Weise wird es auch einem an der Zeremonie nicht beteiligten Leser möglich, die ursprüngliche Redesituation zu rekonstruieren. Diese Technik läßt zwei Schlußfolgerungen zu: (1) Sowohl die Rahmenhandlungen als auch – wie zu zeigen sein wird – der Aufführungsstil wurden als unverzichtbar für eine adäquate Rezeption des Textes erachtet. Darüber hinaus zielte der Redner offenbar (2) von Beginn an auf eine solche Weiterverbreitung der Rede ab. Aus diesem Grund bezieht er in das Adressatenkalkül explizit einen erweiterten Rezipientenkreis ein. Genauer: Die primäre Kommunikationssituation mit ihrer Pracht und dem erlesenen Publikum machte eine umfassende Distribution des Textes, ein ire in populos, mehr als erwartbar89. Zwar scheint der unmittelbare Kontext der Stelle darauf hinzudeuten, daß der Redner dabei vor allem an eine mündliche Weitergabe dachte, wobei die bei den Jubiläumsfeiern anwesenden Funktionsträger als Multiplikatoren dienen sollten. Die Verbreitung einer schriftlichen Fassung der Rede – durch den Redner selbst, durch interessierte Zuhörer oder gar durch den Hof – ist aber gleichfalls wahrscheinlich: Wie wir von Libanius wissen, waren römische Amtsträger zumindest im Osten des Reiches an dieser Form der Eigenwerbung so sehr interessiert, daß sie 88 Quintilian schreibt vor, daß bei der Vorbereitung des Exordiums einer Gerichtsrede folgende Überlegungen vorzunehmen seien: Inst. IV 1,52: ut dicturus intueatur, quid, apud quem, pro quo, contra quem, quo tempore, quo loco, quo rerum statu, qua vulgi fama dicendum sit: quid iudicem sentire credibile sit, antequam incipimus: tum, quid aut desideremus aut deprecemur. ipsa illum natura eo ducet, ut sciat, quid primum dicendum sit. Vgl. Aristot., Rh. II 14,7. 89 Pan. Lat. 5,1,5. D. Russell zufolge vollzog sich die Abfassung von epideiktischen Reden vielfach bereits mit dem Blick auf eine spätere Publikation: D. RUSSELL, The Panegyrists and Their Teachers, in: The Propaganda of Power. The Role of Panegyric in Late Antiquity, ed. by M. Whitby, Mn.S 183, Leiden/Boston/Köln 1998, 17–50, hier 34 f.; zur Verbreitung von Panegyriken, häufig in Kombination mit einem zugehörigen Kaiserbrief o.ä. (etwa Pan. Lat. 2,47,6; Lib., Epist. 818) vgl. C. ANDO, Imperial Ideology, 128.

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nicht nur bei den örtlichen Sophisten Enkomien auf ihre eigene Person regelrecht bestellten, sondern auch Kopien dieser Lobreden anfertigen und in den wichtigsten Städten ihres Herrschaftsbereichs verbreiten ließen90. Ein ähnliches Vorgehen scheint mir auch für den Hof möglich. Unabhängig davon ist aber auch an die innerrhetorische Traditionsbildung zu denken; wie die Einfügung der Dankrede in das Corpus der XII Panegyrici Latini zeigt, wurde der Text zumindest als Musterrede in der Rednerausbildung verwendet91. Der Rhetor konnte also sowohl angesichts seiner eigenen Stellung und des situativen Umfelds seiner Rede als auch in Kenntnis der Usancen des Rhetorikbetriebs sicher sein, daß sie alsbald auch in schriftlicher Form verbreitet werden würde. Über die bereits besprochenen Aspekte hinaus wird im Exordium der gratiarum actio ein weiterer Bezug hergestellt, der über den unmittelbaren Redekontext hinausweist: Der Panegyrist geht mit erstaunlichem Detailreichtum auf den Besuch Konstantins in Augustodunum ein, in dessen Verlauf es zu der Erteilung der entscheidenden Privilegien für die Stadt gekommen war, und hierbei vor allem auf den Empfang der decuriones durch Konstantin im dortigen palatium: Volui enim, sacratissime imperator, cum in illo aditu palatii tui stratum ante pedes tuos ordinem indulgentiae tuae voce divina porrectaque hac invicta dextera sublevasti, numini tuo gratias agere.92

Er gibt dabei nicht nur zu erkennen, daß er selbst damals als Mitglied des ordo an dem Ereignis teilgenommen hatte, sondern ruft darüber hinaus 90 Vgl. insb. Lib., Or. 1,112 f. (R 78/F 137) – Strategius Musonianus, praefectus praetorio Orientis, plaziert anläßlich eines Enkomions des Libanius auf ihn zehn Kopisten im Auditorium, um Exemplare der Rede in die führenden Städte versenden zu können und so eine möglichst große Breitenwirkung zu entfalten. TH. SCHMITZ, Bildung und Macht, 21. 45 f. 65 f., macht zu Recht darauf aufmerksam, daß die Funktion der Sophisten nicht in Herrscherpropaganda im Sinne einer (beschönigenden) Darstellung eines wie auch immer gearteten Regierungsprogrammes o.ä. bestehen konnte, sondern die vielfach in Szene gesetzte Verbindung der Herrschenden zu den Trägern überragender Bildung per se der Legitimation der politischen Elite – vor sich selbst und anderen – diente. Diese starke Betonung der in einzelnen Sophisten gleichsam verkörperten   ist allerdings nicht ohne weiteres auf die Verhältnisse in Gallien zu übertragen – die einzelnen Rhetoren scheinen hier weniger profiliert zu sein. Vgl. aber Apul., Flor. 9,10–14 zu den Stenographen, die seine Reden unmittelbar zu Papier und damit in Umlauf brachten; B.T. LEE, Apuleius’ Florida. A Commentary, Texte und Kommentare 25, Berlin/New York 2005, 98. L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 465–470, zur Publikation epideiktischer Reden. 91 M. MAUSE, Darstellung des Kaisers, 17; B.H. WARMINGTON, Constantinian Propaganda, 372. Vgl. R. REES, Layers of Loyalty, 22 f., zu möglichen literarischen Gründen für die Sammlung der Reden. 92 Pan. Lat. 5,1,3. An späterer Stelle (9,4) wird durch den Gebrauch der 1. P. Pluralis deutlich, daß auch der Redner selbst sich unter den Mitgliedern des ordo befand.

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auch die rituellen Bestandteile dieser Begegnung mit Konstantin, namentlich die Proskynese der Kurialen, in Erinnerung (bzw. führt sie dem aktuellen Auditorium anschaulich vor Augen) und schlägt auf diese Weise eine Brücke zu der gegenwärtigen Redesituation93. Denn die Herrschaftsjubiläen zählten ja zu den herausragendsten Zeremonien des spätrömischen Kaisertums94, und auch sie waren eine willkommene Gelegenheit, dem Monarchen Bitten und Wünsche vorzutragen. Und so werden auch die Feierlichkeiten anläßlich der Quinquennalien Konstantins mit der Proskynese vor dem Kaiser und dem huldvollen Gestus, mit dem Konstantin seine Untertanen aufforderte, sich wieder zu erheben, verbunden gewesen sein. In gewisser Weise spiegelte also die Quinquennalienversammlung das rituelle Geschehen bei dem Kaiserbesuch in Augustodunum. Die situative Einbettung der Rede in ein Herrscherjubiläum besitzt zwei weitere, für ihre Interpretation bedeutsame Implikaturen, von denen die eine eher formaler, die andere inhaltlicher Natur ist: So kann erstens die gratiarum actio nur eine Rede von mehreren gewesen sein, die während der umfangreichen Feierlichkeiten vorgetragen wurden95. Das Thema ist zu spezifisch, um die Hauptrede darzustellen, die in viel stärkerem Maße auf die militärischen und politischen Verdienste Konstantins in den vergangenen fünf Jahren eingehen mußte (etwa wie der Panegyricus von 313, s.u.). Hieraus ergibt sich eine zu postulierende Zirkulation der Oratorrolle im Verlauf des Festes, die zwar anders als bei der forensischen und deliberati93

Vgl. S.G. MACCORMACK, Art and Ceremony, 8–12, zur „Osmose“ zwischen Zeremoniell und Rede sowie zur Suche der Panegyristen nach „the one image which was most congruent with the experience of his audience“ (10). 94 So wurden die Herrscherjubiläen traditionell von der Emission entsprechender Münzserien flankiert, mit Feiern der kaiserlichen Sieghaftigkeit kombiniert und von Spielen sowie dem Austausch von Geschenken begleitet – besonders auffällig wurden die Vicennalien Diokletians und Maximians in Rom gestaltet; vgl. zu den Bildzeugnissen M. R.-ALFÖLDI, Bild und Bildersprache, 107–109. 178–182. 212; zur Bedeutung der Herrschaftsjubiläen in der Spätantike F. KOLB, Herrscherideologie in der Spätantike, Studienbücher Geschichte und Kultur der Alten Welt, Berlin 2001, 33–35; zur Verbindung von Jubiläum und Sieghaftigkeit des Kaisers A. ALFÖLDI, Monarchische Repräsentation, 97– 100; zu den Vicennalien der Dyarchen W. KUHOFF, Diokletian, 230–245. Anläßlich der Quinquennalien Konstantins emittierte die Prägestätte von Augusta Treverorum Solidi, die die Germanensiege des Kaisers mit den üblichen vota zum Regierungsjubiläum verbanden: RIC VI 223 no. 821 (Reverslegende VOTIS V MULTIS X mit einer Victoria, die auf einen Schild die Worte VICTORIA AUG schreibt); vgl. H. MATTINGLY, The Imperial Vota (Second Part), 221 f.; A. CHASTAGNOL, Quinquennalia de Constantin, 113–118. Zu den vota publica als Ritual des römischen Staatskults allgemein I.S. RYBERG, Rites of the State Religion in Roman Art, Rom 1995, 120–140. 178–182. 95 Vgl. Pan. Lat. 3,3,1 m. E. GALLETIER, Panégyriques Latins III, 18 Anm. 2; M. MAUSE, Darstellung des Kaisers, 40 f. 58–61.

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ven Rede nicht auf dem Prinzip direkter Konfrontation beruhte, bei der aber nichtsdestoweniger mit einer professionellen Konkurrenzsituation der auftretenden Redner untereinander zu rechnen ist96. Zum zweiten sind Herrschaftsjubiläen naturgemäß in besonderem Maße von einer Affirmierung der bestehenden politischen Verhältnisse und der Verbindungen zwischen dem Herrscher und den übrigen politischen Akteuren geprägt. Dies kommt vor allem in der Erneuerung der vota für den Kaiser zum Ausdruck. Von dieser Seite bestand ein gewisser Druck auf jeden antretenden Redner, das Verhältnis von Kaiser und Bevölkerung zu thematisieren und in diesem Zusammenhang die Verknüpfung der salus Augusti mit dem Wohlergehen des Reiches und seiner Bevölkerung herauszustellen. Die ausführlichen Selbstauskünfte des Redners97 hinsichtlich seiner Bestellung als orator publicae gratulationis, seiner bisherigen ‚privaten‘ Beschäftigung mit der ars rhetorica sowie eines schon lange währenden konzeptuellen Planungsstadiums (rhetoriktheoretisch die intellectio98) sind daher auch vor dem Hintergrund zu sehen, daß der einzelne Orator sich in der Fülle von zeremoniellen Akten behaupten mußte. Der Panegyrist strebte daher nicht eine gute Rede an, sondern eine perfekte. Und dies war in erster Linie auch als formale Exzellenz zu verstehen. Daß der Rhetor sich über die nötige Einpassung in die Zeremonie besonders bewußt war, zeigt sein hartnäckiges und nur scheinbar redundantes Beharren auf den rein äußerlichen Aspekten der zu haltenden Rede, das heißt auf der ratio loci ac temporis99. Von einer solchen ratio loci ac temporis hatte bereits Plinius in einem Brief an Vibius Severus geschrieben (Epist. III 18); seine gratiarum actio vor dem Senat, mit der er sich für die Übertragung des Suffektkonsulats bedankte, sei durch den Ort und die zur Verfügung stehende Zeit in ihren Aussagemöglichkeiten beschränkt gewesen100. So entschloß Plinius sich, die Rede nachträglich zu überarbeiten und in einer wesentlich erwei96 Zur ‚oratorischen Rollenzirkulation‘ vgl. J. KNAPE, Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000, 83 f.; zur Konkurrenzsituation der gallischen Rhetoren untereinander: A. STADLER, Autoren, 44 m. Anm. 1; generell M. KORENJAK, Publikum und Redner, 63–65. 97 Pan. Lat. 5,1,2–5. 98 Die intellectio wird erst in spätklassischer Zeit als eigenes Stadium der Textproduktion formalisiert und begegnet unter diesem Begriff erst in den lateinischen Traktaten des 4. Jh.s – daß sie in dieser Rede expliziert wird, mag auf ihre gesteigerte Bedeutung in der formalen Ausbildung hinweisen; vgl. M.C. LEFF, The Material of the Art in the Latin Handbooks of the Fourth Century A.D., in: Rhetoric Revalued. Papers from the International Society for the History of Rhetoric, ed. by B. Vickers, Medieval & Renaissance Texts & Studies 19, Binghamton (N.Y.) 1982, 71–78, hier 72 f. m. Anm. 10. 99 Pan. Lat. 5,1,5: habui rationem loci ac temporis. 100 In diesem Sinne benutzt vor unserem Festredner auch der Panegyrist von 291 den Ausdruck: Pan. Lat. 11,15,1: Admonet me et temporis et loci ratio et maiestastis tuae reverentia ut finem dicendi faciam. Vgl. auch Pan. Lat. 8,4,4; 6,7,1; 4,1,1; A. KLOTZ, Studien, 561; M. MAUSE, Darstellung des Kaisers, 24.

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terten Version als seinen Beitrag zum politisch-philosophischen Diskurs über den idealen Herrscher zu publizieren (s.o.)101. Der Senator konnte sich nicht mit einer allein den Formen entsprechenden Rede begnügen, sein Anspruch reichte weiter. Auch der spätantike Panegyrist wußte natürlich von den zeremoniellen Zwängen und Erfordernissen, ging aber in anderer Weise mit ihnen um. Folgt man seinen Aussagen, so bemühte er sich, den passenden Rahmen für das, was er zu sagen hatte, zu finden, so daß sich seine Rede nahtlos in eine Kette ritueller Akte zur Feier des Kaisers einfügte. Nicht ein bestimmtes Datum habe ihm eine Ansprache abverlangt, sondern sein Thema und die Bedeutung des zu Sagenden erforderten eine stimmige Inszenierung. Hier wird eine wesentliche Funktionsdifferenzierung sichtbar: Plinius glaubte noch, es seinem Status schuldig sein, nicht bei der Erfüllung einer rituellen Pflicht stehen zu bleiben, ja seine Stellung war gleichsam in der Auseinandersetzung mit eingefahrenen Praktiken zu definieren; der Panegyrist dagegen begriff gerade das Zeremoniell als Vehikel zur Statussicherung und Statusmehrung. Die genannten Reflexionen über die Rahmenbedingungen der Rede ergeben zusammengenommen eine die gesamte Einleitung kennzeichnende, hochelaborierte Selbstbezüglichkeit, die für die Epideiktik typische Züge aufweist102; zugleich aber erfüllt sie eine direktive und insofern strategische Funktion: Sie etabliert eine günstige Ausgangssituation für ihre Aufnahme beim Publikum, indem sie differenziert Rollenzuweisungen vornimmt und Kontextualisierungshinweise gibt, an den rituellen Rahmen erinnert und damit Perspektiven vorgibt, aus denen heraus das Gesagte zu betrachten sei; durch die Exposition von Orator und Situation inszeniert das Exordium den Auftritt103. Das Publikum wird dabei auf Konstantin als Bezugspunkt hin angeordnet; Funktion und Status der Anwesenden ergeben sich aus ihrer Stellung am Hof, im Kreis der Berater Konstantins oder aus der Tatsache, daß sie als Bittsteller (supplices) vor den Kaiser treten. Dem gegenüber agiert der Redner als Festgesandter seiner Heimatstadt, deren Freude und Dank er artikulieren wird. Die Kommunikation verläuft 101

Plin., Epist. III 18,1: quod ego in senatu cum ad rationem loci et temporis ex more fecissem, bono civi convenientissimum credidi eadem illa spatiosius et uberius volumine amplecti, primum ut imperatori nostro virtutes suae veris laudibus commendarentur, deinde ut futuri principes non quasi a magistro, sed tamen sub exemplo praemonerentur, qua potissimum via possent ad eandem gloriam niti. G.A. KENNEDY, Art of Rhetoric in the Roman World, 543 f., weist darauf hin, daß die konsularen gratiarum actiones in ihrer üblichen Form „quite short“ gewesen sein müssen (vgl. Plin. Epist. III 18,6). 102 [Dion. Hal.] 273 (U./R.) empfiehlt sie geradezu für einen &% " #!. Vgl. auch M.-C. L’HUILLIER, L’Empire des mots, 176–180. 103 Hierzu H. RAHN, Zur Struktur des ciceronischen Rede-Proömiums, AU 11,4, 1968, 5–24, insb. 8–11 (am Beispiel der Rosciana, vgl. 18 f. zur Miloniana); zur umfassenden Begründung der Bedeutung des Exordiums Cic., de Orat. II 307–324.

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zwischen dem Herrscher und dem Vertreter einer städtischen Gemeinschaft, die zu diesem Kaiser – so der wiederholte Anspruch – besondere Beziehungen unterhält und diese bekräftigen will. Der Redner bemüht dabei die Sprache der fides und der necessitudines als soziale Grundstrukturen Roms: Insofern die Dankrede die Erfüllung einer sozialen Verpflichtung darstellt, ist sie ein officium, das dem Kaiser wegen seines erwiesenen beneficium geschuldet wird104. Und die Größe dieser Wohltat macht eine großartige Kulisse erforderlich. Das Publikum dient also in dieser Hinsicht primär als Staffage, die der dignitas Konstantins zusteht. Man kann sich gut vorstellen, daß der Redner an dieser Stelle mit einem entsprechenden deiktischen Gestus auf den imperii apparatus gewiesen hat105, um die Großartigkeit des „Bühnenhintergrundes“ ins Bewußstein aller zu rufen (und vielleicht auch, um den Hofleuten bewußt zu machen, daß sie aus der Sicht eines Provinzialen in erster Linie dies waren: Bühnenhintergrund für die Kommunikation zwischen Kaiser und Bürger, Patron und Klient). Jedoch eröffnet der Redner auch eine zweite Kommunikationsebene: Auf dieser geht es darum, eine (vermeintlich) gemeinsame Botschaft von Kaiser und Stadt in den gesamten Herrschaftsbereich auszusenden. Die Mitteilung ist wiederum zweigeteilt. Ein Aspekt ist die Bestätigung der Privilegierung Augustodunums: Zu diesem Zweck liefert der Redner eine narratio der Ereignisse und Anordnungen, die der Kaiser durch wohlwollendes Zuhören verifizieren möge. Den zweiten Gesichtspunkt bildet das Lob der Verdienste Konstantins (magnitudo meritorum tuorum: c. 1,5). Auf dieser Kommunikationsebene fungieren die vermeintlich unbeteiligten Umstehenden vor allem als Zeugen, deren Aufgabe es sein wird, in ihren Gemeinden die entsprechenden Nachrichten über Kaiser und Stadt zu verbreiten. In zweifacher Hinsicht beansprucht zudem auch der Redner selbst eine bedeutende Position: zum einen als Mitglied der Führungselite der civitas Aeduorum, zum anderen als hochqualifizierter Orator, dessen Ruhm

104 Zur Begrifflichkeit J. H ELLEGOUARC’H, Le vocabulaire latin des relations et des partis politiques sous la République, Publications de la Faculté des Lettres et Sciences Humaines de l’Université de Lille 11, Paris 1963, 28–35 (fides). 165–169 (officium/beneficium); R.P. SALLER, Personal Patronage, 17–21. Auffällig ist, daß der Panegyrist die Transaktionen zwischen Kaiser und Stadt gerade nicht der herrscherlichen cura (wozu J. BÉRANGER, L’aspect idéologique, 169–217) zuschreibt, sondern auf der Ebene der persönlichen Beziehungen verbleibt. 105 Zur Einbeziehung des Publikums und des Ortes in den Vortrag, der vom Autor zu Recht mit einem Drama verglichen wird, s. V. PÖSCHL, Zur Einbeziehung anwesender Personen und sichtbarer Objekte in Ciceros Reden, Ciceroniana. Hommages à Kazimierz Kumaniecki, ed. par. A. Michel/R. Verdière, Leiden 1975, 206–226; vgl. A. VASALY, Representations. Images of the World in Ciceronian Oratory, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1993, 88–104, pass.; R. MORSTEIN-MARX, Mass Oratory, 53–60.

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durch den Auftritt vor dem Kaiser steigen wird106. Es läßt sich mithin bereits anhand des Exordiums erschließen, daß die Rede für die Auseinandersetzung auf drei verschiedenen, aber miteinander verbundenen – potentiellen oder aktuellen – Konfliktfeldern instrumentalisiert wird: (1) in den Machtkämpfen, die latent oder manifest zwischen Konstantin und seinen legitimen Herrscherkollegen sowie dem ‚Usurpator‘ Maxentius ausgetragen werden; (2) in der Rivalität der gallischen Städte untereinander, explizit zwischen Augusta Treverorum und Augustodunum; (3) in den Konkurrenzkämpfen der spätantiken Rhetoren um Ruhm und Einfluß am Hof. Wie verhält sich diese Funktionalisierung des Einleitungsteils jedoch zur antiken Reflexion über das Exordium und wie lassen sich die einzelnen Bestandteile aus der antiken Rhetoriklehre erklären? Wo hat der Autor hingegen Pointierungen vorgenommen?107 a) Das Exordium in Theorie und Praxis der epideiktischen Rede Quintilian bestimmt in seiner Institutio oratoria das Exordium (oder principium) zunächst formal als den Teil der Rede, der den Darlegungen zur Sache vorangestellt wird – id, quod ante ingressum rei ponitur108. Es dient dazu, den Zuhörer auf das Kommende vorzubereiten und ihn in eine aufnahmebereite und wohlwollende Stimmung zu versetzen: Causa principii nulla alia est, quam ut auditorem, quo sit nobis in ceteris partibus accomodatior, praeparemus. id fieri tribus maxime rebus inter auctores plurimos constat, si benevolum, attentum, docilem fecerimus ... quia initiis praecipue necessaria, per quae in animum iudicis, ut procedere ultra possimus, admittimur.109

Von Beginn an muß der Redner also darauf abzielen, auf den maßgeblichen Zuhörer einzuwirken und Zugang zu seinem Denken und Fühlen zu 106

Dies gilt insbesondere, als ein großer Teil der Zuhörer selbst aus Praktikern und Kennern der Epideiktik bestand; vgl. S.A. BRADBURY, Innovation and Reaction in the Age of Constantine and Julian, Diss. Berkeley 1986, insb. 44. 107 Die skeptischen Bemerkungen von E. VEREECKE, Corpus des Panégyriques, 141– 157, gegenüber Versuchen (v.a. J. MESK, O. KEHDING, A. KLOTZ, W.S. MAGUINESS), die Ausführung der Panegyrici auf konkrete Vorbilder oder bestimmte technische Schriften (etwa Menander Rhetor) zurückzuführen, ist voll berechtigt; es geht daher im folgenden lediglich um einen Abgleich mit gängigen Gestaltungsmerkmalen, ohne spezifische Abhängigkeiten postulieren oder widerlegen zu wollen. 108 Quint., Inst. IV 1,3. 109 Quint., Inst. IV 1,5. Noch Augustin übernimmt diese Funktionsbestimmung: Doctr. christ. IV 4.

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gewinnen; das Exordium hat zur Aufgabe, den Adressaten im Sinne des Sprechers manipulierbar zu machen110. Dazu soll das Augenmerk zunächst auf der Person des Redners selbst liegen, der als vir bonus und paene testis erscheinen müsse, um so als in hohem Maße glaubwürdig gelten zu können. Der Eindruck persönlicher Vorteilsnahme ist daher zu vermeiden: Quintilian empfiehlt, auf eine soziale Verpflichtung hinzuweisen, die den Redner dazu bewogen hat, das Wort zu ergreifen – verwandtschaftliche oder freundschaftliche Bindungen, am besten aber ein Pflichtgefühl dem Staat, der res publica gegenüber111. Besonders effektiv wird die Rede also sein, wenn sie aus der persona civitatis heraus vorgetragen wird. Etwas konkreter formuliert der Auctor ad Herennium: A nostra persona benivolentiam contrahemus, si nostrum officium sine arrogantia laudabimus aut in rem publicam quales fuerimus aut in parentes aut in amicos aut in eos ipsos, qui audient, aliquid referemus, dum haec omnia ad eam ipsam rem, qua de agitur, sunt accommodata.112

Die bislang genannten Vorschriften waren von den Rhetoriklehrern vor allem mit Blick auf die Notwendigkeiten der Gerichtsrede entworfen worden. Sowohl der Auctor ad Herennium als auch Pseudo-Dionysios von Halikarnassos geben zwar darüber hinaus auch für die Abfassung eines Exordiums epideiktischer Reden spezifische Handreichungen; doch schlagen auch diese beiden Autoren letztlich keine wesentlich veränderte Strategie vor; die grundsätzlichen Überlegungen sind dieselben wie bei der forensischen Rede113. Mithin wird auch hier für einen gelungenen Einstieg die Orientierung an der Person des Redners, also die Abarbeitung der loci a nostra persona empfohlen. So beschreibt der Verfasser der Rhetorica ad Herennium drei unter diesem Gesichtspunkt einschlägige loci zur Auffindung des Stoffes: Der Redner kann (a) von seiner Verpflichtung sprechen, Lobenswertes zu loben; (b) von seinem studium, dem persönlichen Eifer, die Verdienste des laudandus hervorzuheben; und (c) darauf abstellen, daß sein eigener Charakter sich in dem spiegele, was er lobe: ex aliorum laude ostendere, qualis ipsius animus sit114. Daneben nennt der Auctor loci ab eius persona, de quo loquemur, loci ab auditorum persona sowie loci a re110 Dies wird besonders in der Rhetorica ad Herennium deutlich: I 6: Principium est, cum statim auditoris animum nobis idoneum reddimus ad audiendum. Vgl. Cic., Inv. I 20; J. MARTIN, Antike Rhetorik, 63 f. mit späteren Belegen. 111 Quint., Inst. IV 1,7; vgl. auch Cic., de Orat. II 181 f.; L. CALBOLI MONTEFUSCO, Exordium – Narratio – Epilogus. Studi sulla teoria retorica greca e romana delle parti del discorso, Bologna 1988, 19 f.; J. MARTIN, Antike Rhetorik, 67. 112 Rhet. Her. I 8. Vgl. Cic., Inv. I 22. 113 Für das folgende vgl. L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 301–305; Th. BURGESS, Epideictic Literature, 149 f. 114 Rhet. Her. III 10. Zum Exordium beim Auctor ad Herennium vgl. auch A.D. LEEMAN, Orationis Ratio, 28.

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bus ipsis. Speziell für das Herrscherlob empfielt Menander Rhetor der Natur der Sache nach einen Ausgang von der Person des Geehrten; aber auch hier sollen die Schwierigkeiten, dem Anlaß gemäße Worte zu finden, herausgestellt werden115. In seinen Anweisungen für eine Hochzeitsrede – die Vorschriften sind aber in vergleichbarer Weise auf jeden anderen festlichen oder zeremoniellen Rahmen zu beziehen – wird zudem auf eine angemessene Thematisierung des festlichen Rahmens verwiesen116. Pseudo-Dionysios geht in seiner Abhandlung zur Begrüßungsrede – zum &% " #! – ebenfalls auf die mögliche Gestaltung der Einleitung ein. Bei diesem ebenfalls zur Epideixis zählenden Redetypus handelt es sich um eine Ansprache, die ein Orator als Vertreter seiner Stadt anläßlich des Besuches eines Statthalters vorträgt, und zwar genau beim Einzug des Gouverneurs in die Mauern der Stadt. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß ein großer Teil der Rede vom Lob der gastgebenden Stadt in Anspruch genommen wird. Im Exordium aber soll der Redner zunächst von sich selbst und seinem Vorhaben sprechen. Es sei ratsam, zu erläutern, warum gerade man selbst für diese Aufgabe ausgewählt worden sei und durch welche persönlichen Umstände man ein besonderes Interesse am Gegenstand der Rede habe. Einzufügen seien auch Höflichkeiten gegenüber dem Geehrten, so vor allem ein Lob seiner Zugänglichkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber allen Menschen von Reputation. Weiter: Daß der Adressat sich durch solch positive Wesenszüge auszeichne, sei durch Hörensagen schon lange bekannt gewesen; nun sehe man sie in der unmittelbaren Begegnung mit ihm eindrücklich bestätigt117. Verweise auf die eigene Person soll der Redner dann ein weiteres Mal im Schlußteil der Ansprache vorsehen. Hier sei der Schwerpunkt darauf zu legen, deutlich zu machen, was die Übernahme dieser Aufgabe für den Redner und sein Ansehen bedeutet: Ist er Anfänger, soll er der Hoffnung Ausdruck verleihen, durch sie Ruhm und Ansehen zu gewinnen; handelt es sich um einen bereits etablierten Redner, daß sein schon bestehender guter Ruf noch gesteigert werde118.

115

Men. Rh. II 368,3–369,17. Men. Rh. II 399, 38–31; dazu L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 302 m. Anm. 251 mit weiteren Belegen auch aus der epideiktischen Praxis. 117 [Dion. Hal.] 273 (U./R.). Zu dieser Zusammenstellung von Ausführungen offenbar mehrerer unbekannter Autoren zu epideiktischen Reden einerseits (c. 1–7) und zum Deklamationswesen andererseits (c. 8–11) sowie zu ihrer Datierung (2. Hälfte 2./Anfang 3. Jh.) vgl. G.A. KENNEDY, Art of Rhetoric in the Roman World, 634–636; DERS., A New History of Classical Rhetoric, 225 f.; M. HEATH, Menander, 129 f; DERS., Pseudo-Dionysius Art of Rhetoric 8–11: Figured Speech, Declamation and Criticism, AJPh 124, 2003, 81–105. 118 [Dion. Hal.] 276 (U./R.). 116

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Gleicht man diese Empfehlungen der rhetoriktheoretischen Literatur mit dem Exordium der gratiarum actio von 311 ab, wird die Strategie des Redners noch deutlicher. An erster Stelle rangieren bei ihm die loci a persona ipsius, das heißt, er führt sich selbst, seine Aufgabe und seine Auftraggeber ein. Dabei rücken die beiden Gesichtspunkte des officium und des studium in den Vordergrund, die auch in den Rhetorica ad Herennium angeführt werden. So erklärt der Panegyrist, der Eifer, vor dem Kaiser zu reden, habe ihn bereits bei dem Besuch Konstantins in Augustodunum unmittelbar ergriffen. Jedoch habe er seine Begeisterung und seinen Drang, das Wort zu ergreifen (meus ille ardor animi studiumque dicendi119), mit Rücksicht auf die Größe der Aufgabe und die Konventionen damals noch zurückgestellt. Das Mandat aber, das ihm nunmehr seine Heimatstadt erteilte, erlaube ihm endlich, e re publica zu sprechen. Damit ist eine perfekte Kongruenz von eigenem Wunsch und öffentlichem Nutzen hergestellt. Diese ehrenhafte Verbindung zwischen dem Redner und seiner Aufgabe wird weiter erläutert und institutionell abgesichert: Als Mitglied des ordo konnte er die Wohltaten Konstantins direkt erfahren. Er war buchstäblich „dabei“, und so mußte die Verpflichtung zur Abstattung von Dank auch auf ihm persönlich lasten. Diese Einführung der eigenen Person unterstreicht, daß es sich bei ihm also nicht um einen bestellten Lohnredner handelte, sondern um ein Mitglied der städtischen Führungsschicht, das auch innerlich und für seine eigene Person an diesem officium stark beteiligt ist: Aus eigenem Antrieb hat sich der Rhetor denn auch für die Festgesandtschaft zur Verfügung gestellt (nuntium sponte suscepi). Ganz im Sinn Quintilians präsentiert sich der Redner hier als vir bonus. Er vergißt aber auch nicht, seine Ambitionen als Rhetor in Erinnerung zu bringen; was Pseudo-Dionysios für die Peroratio angeraten hatte, wird hier in Form einer Praeteritio bereits in der Einleitung gebracht120. Die Aufmerksamkeit gilt dabei auch seiner professionellen Beschäftigung mit der Schulrhetorik, diese wird aber, wie gesehen, deutlich von der gegenwärtigen Aufgabe eines orator publicus abgesetzt. Die Differenz bleibt mithin gewahrt: Seine fachlichen, technischen Kenntnisse befähigen den Rhetor zwar in besonderer Weise zur Übernahme des Mandates – aber die Rolle des Gesandten seiner Heimatstadt ist wesensmäßig von der des Deklamators geschieden. 119

Pan. Lat. 5,1,5. Pan. Lat. 5,1,5: quod mihi ad immortalitatem sufficeret. Der Redner spricht hier von der Möglichkeit einer spontanen Dankrede, die er während des Empfangs im Palatium von Augustodunum kurz erwogen, dann aber verworfen habe; selbst eine solche Stegreifrede unter ungünstigen Bedingungen hätte ihm durch die Billigung Konstantins sicher ‚Unsterblichkeit‘ verschafft. Dies ist als argumentum a fortiori zu verstehen: Wenn er schon unter hinderlichen Produktions- und Rezeptionsbedingungen als Redner triumphieren würde, wie dann erst angesichts der nun zu haltenden, sorgfältig ausgearbeiteten Rede vor einem Festpublikum? 120

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Die Transformation wird dabei sichtbar markiert; der Rhetor ist nicht mehr (non iam) ein Privatmann mit literarisch-rhetorischen Kenntnissen, sondern eine öffentliche Person, ein wahrer orator klassischen Zuschnitts. Hier wird subtil auf den Diskurs über Funktion und Stellenwert der Deklamation Bezug genommen, der bereits seit augusteischer Zeit in den gebildeten Kreisen Roms vorherrschte (besonders gut greifbar ist hier das Werk des Seneca pater)121. Der Unterschied zwischen einer dem schulischen Bereich angehörenden Rede – einer deklamatorischen Suasorie oder Controversia – und einer ‚echten‘ oratio, also die Differenz zwischen domestica exercitatio und vera actio122, wird in der lateinischen Rhetorik immer wieder betont. Anhänger der oratores veteres, für die die Figur des Messala im taciteischen Dialogus emblematisch steht123, betrachteten insbesondere den ludischen Charakter der Deklamation mit kritischem Blick124. Diese Einstellung teilte auch der spätantike Rhetor Eumenius – und sei es nur als Zitat seiner klassischen Vorbilder125. Mit didaktischem Anspruch weist nicht zuletzt Quintilian auf die Gefahren der Deklamation hin; in seiner Behandlung der oratio figurata (#! (  ), der versteckten Kritik126, macht er deutlich, daß in der öffentlichen Rede die Grenzen sehr viel enger gesteckt sind als in der Deklamation, in der neben dem Thema auch Adressat, Publikum, Parteien etc. inklusive ihrer Reaktionen und ihres Charakters sämtlich fingiert werden können. Jeder, der mit dem Werk Quintilians vertraut war, wußte also auch ohne praktische Erfahrung, daß die Praxis der Deklamation nicht eins zu eins auf die vera actio übertragen werden konnte und daß ein ganz anderes oratorisches Kalkül, eine besondere ratio loci ac temporis vorgenommen werden mußte. Wenn der Panegyrist von 311 nun herausstellt, daß er die spontane Eingebung, eine Stegreifrede zu halten, schnell fallen ließ, dann weist er damit gerade auf diesen Unterschied zwischen Schulrede und öffentlicher Rede hin. Es ist ihm bewußt, daß die der Situation einzig gebührende Rede eine zeremonielle Rede sein muß – und daß es weder Zeit noch Ort war, sich als Deklamator zu profilieren. Alle Bestrebungen, die epideiktische Rede al121

Einen Überblick über die antike (insb. römische) Kritik an der Deklamation bietet S.F. BONNER, Roman Declamation, 71–83; vgl. nun zu Seneca pater E. GUNDERSON, Declamation, Paternity, and Roman Identity. Authority and the Rhetorical Self, Cambridge 2003, 29–58. S. auch o. Kap. 1.1 und Kap. 2. 122 Sen., Contr. I praef. 12. 123 Tac., Dial. 35. 124 Sen., Suas. II 10; Contr. III praef. 12–18; X praef. 12. Abwägend Quint., Inst. II 10, 1–12. 125 Pan. Lat. 9,2,3–5; s.o. Kap. 2.2; vgl. R. REES, Layers of Loyalty, 137, für die starke Orientierung des Eumenius an Cicero. 126 Quint., Inst. IX 2,64–93, insb. 67–69. 81–89; vgl. F. AHL, Safe Criticism, 187– 197.

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lein im Schulkontext zu verorten und damit zu entpolitisieren, sucht der Panegyrist damit zu widerlegen. Ganz im Vordergrund steht also am Beginn dieses Panegyricus die Person des Sprechers. Die übrigen möglichen loci spielen für das Exordium der gratiarum actio hingegen lediglich eine marginale Rolle. So bezieht der Redner sein Material nur sekundär aus den loci ab eius persona, de quo loquemur sowie a rebus ipsis, die in diesem Fall sachlogisch miteinander verknüpft sind. Hierhin gehört die rhetorische Doppelfrage quis enim praeparare se ad beneficia tam insperata potuisset aut ab tanta gratulatione cohiberet?127 Es ist weder möglich, angesichts so unerwarteter Wohltaten eine angemessene Dankrede im voraus zu konzipieren, noch kann man sich dem Wunsch entziehen, auf solch umfassende beneficia wie die des Konstantin unmittelbar zu reagieren. Freigebigkeit und Milde als Charakteristika des Kaisers übertreffen alle Erwartungen und selbst die größten rhetorischen Fähigkeiten. Erst am Ende des Exordiums werden nun auch einige loci ab auditorum persona eingesetzt (c. 2,1). Der Panegyrist nutzt diese Topoi in einer durchaus originellen Weise. Er verlegt sich entgegen dem Handbuchwissen nicht darauf, das Publikum über die Tugenden Konstantins zu unterrichten, für dessen Verdienste um Anerkennung zu werben oder dessen Taten als vorbildlich für die Zuhörer erscheinen zu lassen128. Vielmehr wird implizit die Blickrichtung umgekehrt: Der Nachdruck liegt eher auf dem Bemühen, die Faktizität der Privilegien für Augustodunum zu belegen, als darauf, dem Publikum den – ohnehin über jeden Zweifel erhabenen – tugendhaften Charakter des Kaisers vor Augen zu stellen (c. 2,2)129. Das Kaiserlob wird also nicht als primäres Anliegen der Rede herausgestellt; das Abstatten von Dank gerät immer mehr in den Hintergrund. An dessen Stelle tritt das agnoscere, die Bestätigung der Privilegien durch Konstantin, und das credere, die Tatsache, daß von jetzt an auch die anderen Städte und die Reichsverwaltung nolens volens gezwungen sind, die schützende Hand zur 127

Pan. Lat. 5,1,4. So die Optionen nach Rhet. Her. III 10. 129 Vgl. die Bemerkung von A. WALLACE-HADRILL, The Emperor and His Virtues, 318, daß bei dem Kaiserlob generell eben nicht die Frage der Herrschaftslegitimation im Vordergrund steht, sondern ein konkretes Interesse der es tragenden Schichten/Eliten. M. MAUSE, Darstellung des Kaisers, 58 f., stellt zwar zutreffend fest, daß die Tugendenkataloge der Panegyrik keinen eigentlichen Informationswert besitzen, zieht daraus aber mit H. GÄRTNER, Einige Überlegungen zur kaiserzeitlichen Panegyrik und zu Ammians Charakteristik des Kaisers Julian, Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 1968, 10, Wiesbaden 1968, 6 f., den zu schnellen Schluß, es handele sich daher bei diesem Genre vordringlich um eine Art von „Unterhaltungsspiel“, das im ingeniösen Aufspüren von exempla und Topoi bestehe. 128

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Kenntnis zu nehmen, die der Kaiser über Augustodunum gehalten hat und weiter hält. Selten jedenfalls spricht der Redner mit soviel Nachdruck wie in diesem Schlußsatz des Exordiums, der nochmals zitiert sei: Nunc itaque, cum ... totus tibi amicorum tuorum comitatus et omnis imperii apparatus assistit et cum omnes homines omnium fere civitatum aut publice missi aut pro se tibi supplices assunt, dicam, imperator, ea quae libenter agnoscas et ceteri nobis indulta non crederent nisi te agnoscente dixissem.130

Die Passage ist stark rhythmisiert: Der Festredner verwendet dazu die gebräuchlichen clausulae (Kretikus/Trochäus bzw. Doppelkretikus), die die Periode klar strukturieren131. Eine (ohne Anspruch auf Vollständigkeit unternommene) stilistische Analyse unterstreicht den Eindruck starker Emphase und feierlicher Stilhöhe: gehäufte Alliterationen, gehäufte Polyptota, Homoioteleuta, Polysyndeton, Anapher, Apostrophe132, Ellipse, Parallelismen, Hyperbaton, Chiasmus, Antithese ... Die intrikate Verbindung von Festrede und kaiserlicher Bestätigung der Privilegien betonen die miteinander verschränkten Polyptota dicam – dixissem und agnoscas – agnoscente. Rhythmisch wird dies in besonderer Weise unterstützt: Die Klauseln stellen apparatus assistit und supplices assunt auf der einen Seite und libenter agnoscas sowie agnoscente dixissem auf der anderen Seite in Parallele. Die Eröffnungspartie des Panegyricus nutzt demnach – wie nicht anders zu erwarten war – das von der Rhetoriktheorie zur Verfügung gestellte Instrumentarium. Bereits in diesem ersten Abschnitt wird aber die geschickte Manipulation deutlich, die der Redner den loci angedeihen läßt. Das durch den spezifischen Hintergund vorgegebene Genre einer Dankrede wird von ihm virtuos für andere Zwecke umgebaut, regelrecht „gekapert“. Der Fokus liegt, anders als Herrscherpanegyrik vermuten läßt, auf der Person des Redners, nicht auf der des Geehrten; Gegenstand ist die dankbare Stadt und die Verteidigung ihres Status, nicht primär (oder doch nur zu diesem Zweck) die Größe der Wohltat.

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Pan. Lat. 5,2,1. Kretikus/Trochäus: apparatus assistit; supplices assunt; libenter agnoscas; agnoscente dixissem; Dikretikus: indulta non crederent. 132 Die Identifizierung einer Apostrophe in epideiktischer Rede ist problematisch, weil der ‚primäre Zuhörer‘ schwer zu bestimmen ist – ist es hier der Kaiser oder sind es die Umstehenden? Auf jeden Fall nimmt der Redner mit der direkten Anrede des Kaisers eine Perspektivverschiebung vor: War zuvor noch – wie ich glaube, verbunden mit einer deiktischen Geste – auf den Hofstaat hingewiesen worden, wird jetzt Konstantin in den Fokus genommen. Vgl. zur Apostrophe in der Festrede und der Entwicklung eines „discours épidictique à la deuxième personne“ L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 395–399. 131

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b) Propositio und Divisio In der Propositio, die der Verdeutlichung des zu behandelnden Redegegenstandes dient, knüpft der Rhetor dann auch konsequent an den Aspekt der Rechtfertigung und Bestätigung der Privilegierung Augustodunums an: Primum est autem, sacratissime imperator, in agendis gratiis ostendere id quod indultum sit non fortuitae felicitatis, sed iustae fuisse clementiae.133

Demnach sei es die erste Aufgabe einer Dankrede, hervorzuheben, daß die erwiesene Gunst auch verdient sei und nur der Gerechtigkeit entspreche. Die Wohltat ist nicht der Willkür entsprungen, sondern Äußerung der iusta clementia, der Gerechtigkeit und der Schonung, die Konstantin der Stadt zukommen läßt. Die fast paradoxale Formulierung iusta clementia bringt dabei die institutionelle Spannung zum Ausdruck, die dem spätrömischen Kaisertum innewohnt. Auf der einen Seite wird die Beziehung zwischen Kaiser und Stadt als Bestandteil des grundlegenden sozialen Bedingungsgeflechts von officium und beneficium aufgefaßt, in dem erwiesene Leistungen Ansprüche auf Gegenleistungen begründen und in dem es nur gerecht ist, wenn diese Verpflichtungen erfüllt werden134. Auf der anderen Seite sind Forderungen an den Kaiser nicht einklagbar, weil der Herrscher sich als sacratissimus princeps zugleich über dieses Netz von wechselseitigen Abhängigkeiten erheben kann. Welche Unterstützung auch immer er leistet, sie muß als freiwilliger Gnadenerweis (indulgentia135) und Beispiel seiner Güte (clementia) gelten136. Der Redner versucht vor diesem Hintergrund, neben die offizielle Version herrscherlicher Großzügigkeit seine Lesart des durch Leistung für Kaiser und Rom wohlerworbenen Anspruchs auf Hilfeleistung zu stellen137. Dies wird vor allem im folgenden Satz deutlich:

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Pan. Lat. 5,2,2. P. VEYNE, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike, München 1994 (frz. 1976), 442 et passim, hat für den stadtrömischen Kontext – und diejenigen Städten, in denen der Kaiser (nominal) eine munizipale Magistratur übernimmt – als dritten Aspekt die Pflichten des Princeps als Amtsträger des (römischen) Volkes bestimmt. 135 So auch Pan. Lat. 5,1,3: indulgentiae tuae voce divina; 11,2 u. 12,1. 6; 13,4. 136 Zur clementia als Herrschertugend in der Paneygrik: M. MAUSE, Darstellung des Kaisers, 146 f. 200 f.; vgl. M.P. CHARLESWORTH, The Virtues of a Roman Emperor. Propaganda and the Creation of Belief, PBA 23, 1937, 105–133, insb. 112 f. 125 f.; L. WICKERT, Art. Princeps (civitatis), RE XXII 2, 1954, 1998–2296, hier 2234–2248, insb. 2247 (Konstantin). 137 Vgl. grundsätzlich zu diesen zwei Verständnisebenen und ihrer politischen Instrumentalisierung A. WALLACE-HADRILL, The Emperor and His Virtues, 316–318. 134

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nam cum omnes homines etiam non indigentes iuvare boni sit principis, tum praecipue bene meritis et graviter affectis subvenire sapientis est.138

Der Panegyrist verbindet hier zwei Sentenzen zu einem argumentum a fortiori; wenn Zeichen eines guten Kaisers die Unterstützung aller seiner Untertanen sei, dann sei es erst recht Zeichen eines weisen Herrschers, denen zu helfen, die sich verdient gemacht haben und darüber in Not geraten sind139. Aus diesem Diktum ergibt sich beinahe bruchlos die Gliederung der Rede, die Partitio: Zunächst werden die Verdienste und die erlittenen Rückschläge Augustodunums, dann die darauf reagierenden Maßnahmen Konstantins darzustellen sein. Der erste Teil dieser Ausführungen sei jedoch nicht primär (aber doch auch) mit dem Eifer des Städtelobs zu erklären, sondern diene dem Ziel, die Voraussicht des Kaisers zu offenbaren140. Allerdings war ein Städtelob an dieser Stelle nicht nur gattungsbedingt zu erwarten141, es wird auch trotz der Bekundung des Gegenteils tatsächlich folgen. Diese Inkonsistenz ist leicht zu erklären: Etwas zu leugnen bedeutet im rhetorischen Kontext stets, die Aufmerksamkeit gerade in diese Richtung zu lenken.

4. Die narratio – Von Römern und Aeduern Die nun folgende Sachdarstellung beginnt mit einem Abriß über die Beziehungen zwischen Rom und den Aedui seit ihrem angeblich ersten politischen Kontakt142. Der Redner leitet wieder mit einer rhetorischen Frage ein: Welches Volk genießt das Wohlwollen Roms mehr als das der Aeduer? Diese seien als erste unter allen wilden Barbarenstämmen Galliens in mehreren Senatsbeschlüssen fratres populi Romani genannt und zu einer Zeit, als zu keinem anderen Volk Galliens friedliche Beziehungen möglich 138

Pan. Lat. 5,2,2. Zur Technik vgl. N. BAGLIVI, Nota, 138 f.; M.G. MESSINA, Panegirico, 44 f. 140 Pan. Lat. 5,2,3: non tam studio praedicandae patriae meae quam officio demonstrandae providentiae tuae. Es folgt ein Bescheidenheitstopos: maiore voto quam ingenio, mit mehr gutem Willen als Begabung. 141 Vgl. Men. Rh. II 423,14–424,2; L. PERNOT, Rhétorique de l’éloge, 212–214. S. auch unten Abschnitt 4.c). 142 Zu der Funktion dieses historischen Exkurses vgl. C.E.V. NIXON, The Use of the Past by the Gallic Panegyrists, in: Reading the Past in Late Antiquity, ed. by G. Clark, Rushcutters Bay 1990, 1–36, insb. 26–29. Nixon sieht den Grund für diese Digression in der Notwendigkeit, die Privilegierung Augustodunums angesichts des überregionalen Auditoriums der Dankrede besonders zu motivieren: „It would not do to risk Constantine being flooded with similar requests“ (26). Dies mag zutreffen, erfaßt aber wohl nicht den vollen Gehalt der Passage und verkennt, daß im Vordergrund der Rede das Interesse der Stadt und nicht das des Kaisers steht. 139

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schienen, mit dem Titel der consanguinitas geehrt worden. Danach springt er in die jüngste Vergangenheit – ut media praeteream –, als die Aedui zu Zeiten des Gallischen Sonderreichs als einzige Völkerschaft loyal zu Rom Claudius Gothicus, den „Urahn“ Konstantins143, herbeiriefen, um die gallischen Provinzen für das Reich zurückzuerobern144. Und schließlich wird auf die Wohltaten hingewiesen, die Constantius Chlorus Augustodunum zugesagt hat und die zum Teil bereits umgesetzt, zum Teil noch verheißungsvolle Versprechungen seien145. Aus einem Vergleich mit anderen alten Verbündeten Roms entwickelt der Redner die Gewißheit, daß sich das Verhältnis zwischen der Urbs und dem Hauptort der Aedui durch eine besondere Verbundenheit und sogar Gleichrangigkeit auszeichne (communitas amoris und dignitatis aequalitas)146. Der Kooperation mit Augustodunum und der Unterstützung durch die Aedui mit Männern, Waffen und Logistik hätten die Römer ja schließlich die Eroberung Galliens zu verdanken147. Neben diesen Verdiensten der Vergangenheit (vetera ista) steht die aufopfernde Loyalität Augustodunums gegenüber dem Reich: Die Hinwen143

Vgl. Pan. Lat. 6,2. Zu diesem „Stammbaumimplantat“ K. ENENKEL, Panegyrische Geschichtsmythologisierung und und Propaganda: Zur Interpretation des Panegyricus Latinus VI, Hermes 128, 2000, 92–126, insb. 102–104; C. CASTELLO, Pensiero politico-religioso, 74–76. Zur zeitverzögerten Umsetzung in der Münzprägung: TH. GRÜNEWALD, Constantinus Maximus Augustus, 49 f. 122 f. 144 G. W OOLF, The Uses of Forgetfulness in Roman Gaul, in: Vergangenheit und Lebenswelt. Soziale Kommunikation, Traditionsbildung und historisches Bewußtsein, ScriptOralia 90, Tübingen 1996, 361–381, beschreibt zutreffend die Vergangenheitskonzeption der Bewohner Galliens im 4. Jh. als durchgehend römisch beeinflußt und römisch perspektiviert; Erinnerungen an eine vorrömische Vergangenheit sind verschwunden, gallische Geschichte beginnt mit der Eroberung durch Rom. Zu Recht weist er auf den Einfluß hin, den die Einführung des römischen, litterae- und Rhetorik-zentrierten Bildungssystems auf diesen Prozeß besaß (372–378). Er stellt zudem eine bemerkenswerte Lücke in der Erinnerung fest. Nach der Geschichte der Eroberung werde erst wieder die Zeitgeschichte erinnert, die Ereignisse der frühen Kaiserzeit aber werden ausgeblendet (366. 374). Kann man aber die gratiarum actio mit Woolf als Beleg für diese These anführen? Der Redner kündigt explizit eine Auslassung an (media praeteream), so als könnte er durchaus etwas zu dieser Zwischenzeit sagen. Was aber sollte dies sein? Tacitus (Ann. III 43) berichtet uns vom Sacrovir-Aufstand, der sein Zentrum in Augustodunum hatte. Dies dürfte kaum geeignet sein, die immerwährende Loyalität der Stadt zu Rom zu demonstrieren. Andere Bereiche vielleicht noch vorhandener historischer Erinnerung konnten womöglich schlicht nichts zur Sache beitragen. Andererseits liegt da, wo die Informationen fließen, ihre Funktion auf der Hand: die Eroberung Galliens wird für die Begründung des Bündnisses mit Rom benötigt, die Ereignisse ab Claudius Gothicus wegen ihrer Verbindung zur (fiktiven) Abstammungslinie Konstantins. Verschweigen und Präsentieren von historischen Daten lassen sich hinreichend mit rhetorischem Kalkül erklären. 145 Pan. Lat. 5,2,4 f. 146 Pan. Lat. 5,3,1. 147 Pan. Lat. 5,3,2–4.

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dung der Stadt zu Claudius Gothicus führte faktisch zu einer siebenmonatigen Belagerung der Stadt und zu ihrer Erstürmung; wäre aber der „legitime“ Kaiser Augustodunum zu Hilfe gekommen, hätte bereits viel früher die schließlich erst unter Aurelian gelungene Wiedereingliederung Galliens in den Reichsverband bewerkstelligt werden können, und in diesem Falle sogar auf friedlichem Wege. So jedoch wurde die Stadt zunächst von Victorinus niedergeworfen und den Soldaten zur Plünderung freigegeben148. Wegen der Leistungen der Aedui habe Constantius zur Wiedererrichtung der Stadt beigetragen, mit finanziellen Mitteln zum Neubau von Thermen und der Renovierung der zerstörten Bäder, aber auch durch die Ansiedlung von metoeci aus allen Regionen (undique)149. Das Ziel sei gewesen, Augustodunum als die Stadt, von der einst die Romanisierung des Landes ausgegangen war, nun in die „Mutter“ der gallischen Provinzen zu verwandeln (ut esset illa civitas provinciarum velut una mater, c. 4,4)150. An diese Auflistung der Verdienste schließt sich die eindringliche Darstellung der Notlage Augustodunums in der Folge von Belagerung und Zerstörung an. Als locus wäre dieses Thema, so der Panegyrist, nur allzu ergiebig; doch es verbiete sich, alle Einzelheiten ausgedehnt zu behandeln. Weder wolle er an den alten Schmerz der Bewohner der Stadt rühren, noch entspreche es den Konventionen (consuetudo), in Gegenwart des Kaisers von etwas anderem als der Wohlfahrt seiner Untertanen zu sprechen151. Wenn im folgenden nun doch ein Überblick über das Unglück der Aedui gegeben werde, so entspreche dies nur der Notwendigkeit: Sed tamen quaeso, imperator, iniunge patientiam sensibus tuis, ut, quemadmodum praestantes scientia medici non aspernantur vulnera inspicere quae sanant, ita nunc tu paulisper audias Aeduorum labores quos sustulisti. Neque enim potes sine experimento misericordiae ad laudem clementiae pervenire.152

148 Zur Rekonstruktion der Ereignisse P. LE GENTILHOMME, Le désastre d’Autun en 269, REA 45, 1943, 233–240; vgl. I. KÖNIG, Die gallischen Usurpatoren, 148–156; J.F. DRINKWATER, The Gallic Empire. Separatism and Continuity in the North-Western Provinces of the Roman Empire, A.D. 260–274, Historia ES 52, Stuttgart 1987, 36–39. 78– 81. 90. 178–181. R. URBAN, Gallia rebellis. Erhebungen in Gallien im Spiegel antiker Zeugnisse, Historia ES 129, Stuttgart 1999, 90–92; H. SIVAN, Ausonius of Bordeaux, 51. 149 Generell zu den Ansiedlungsprogrammen des 3. Jahrhunderts Chr. WITSCHEL, Krise – Rezession – Stagnation?, 226 f.; vgl. Pan. Lat. 8,9 u. 21; 6,6,2. 150 Pan. Lat. 5,4. 151 Pan. Lat. 5,5,1–3. 152 Pan. Lat. 5,5,3.

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Den Kern dieser Passage bildet ein topisches Arzt-Gleichnis153. Der Herrscher wird mit einem Arzt verglichen, der sich über den kranken Körper des Staatswesens beugt und das Leiden diagnostiziert. An die Anamnese wird sich die Therapie anschließen: Folgerichtig beendet der Redner drei Kapitel später die Ausführungen zu den Aeduorum labores, indem er zu den „Heilmitteln“ Konstantins (remedia numinis tui) überleitet und so in einem Rahmenschluß das Bild vom Beginn dieser Passage wieder aufnimmt154. Ein drittes Mal wird das Arzt-Gleichnis bei der Erläuterung des Schuldenerlasses bemüht, den Konstantin der Stadt gewährt hat: Wie ein Arzt bisweilen zum Messer greifen muß, um überflüssiges, schadhaftes Gewebe zu entfernen, so kann auch Augustodunum durch die Beseitigung der Lasten zu neuem Leben gelangen155. Der Redner selbst bedient sich, wie bereits das Gleichnis von dem die Wunden begutachtenden Arzt andeutet, eines visualisierenden Verfahrens: Konstantin möge seine Sinne mit Leidensfähigkeit (patientia) wappnen, um durch den anschaulichen Bericht des Panegyristen einen Eindruck vom Ausmaß der Not zu erlangen. Dem Publikum werden die unter den Abgaben ächzenden Bauern vor Augen geführt, die Landflucht, die Versumpfung und Versteppung des Landes, die wilden Tiere, die im Unterholz lauern, der Verfall der Entwässerungsgräben, die Verfilzung der Wurzeln alter Rebstöcke156. Alles gipfelt in einer Gegenüberstellung der Verhältnis-

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Quint., Inst. VIII 3,75. Die Vorstellung vom Kaiser als ‚Heiler‘ im metaphorischen wie konkreten Sinn verbindet sich in besonderer Weise mit der praesentia des Herrschers, etwa im Adventus; vgl. Plin., Paneg. 22,3; Suet., Vesp. 7; Tac., Hist. IV 81– 84; Cass. Dio LXVI 8,1 (s. auch o. I.1.5); vgl. auch [Ael. Aristid.], Or. 35,13; dazu G. ZIETHEN, Gesandte vor Kaiser und Senat. Studien zum römischen Gesandtschaftswesen zwischen 30 v. Chr. und 117 n. Chr., Pharos 2, St. Katharinen 1994, 161 f., u. DIES., Heilung und Römischer Kaiserkult, ZWG 78, 1994, 171–191; Arzt-Metapher in der Antike: Chr. SCHULZE, Art. Metapher, in: Antike Medizin. Ein Lexikon, hg. v. K.-H. Leven, München 2005, 610–612, 611; DERS., Art. Patient, ebda., 673–678, insb. 675 f.; speziell zur Verwendung in der spätantiken Panegyrik: Th. NISSEN, Historisches Epos und Panegyrikos in der Spätantike, Hermes 75, 1940, 298–325, hier 307 f. 154 Pan. Lat. 5,7,5. 155 Pan. Lat. 5,11,5: O divinam, imperator, tuam in sananda civitate medicinam! Sicut aegra corpora et onerata stupentium torpore membrorum resecata aliqua sui parte sanantur, ut imminuta vigeant quae exaggerata torpebant, ita nos nimia mole depressi levato onere consurgimus. 156 Vgl. die ähnliche Formulierung in der Rede des Eumenius, die die Zustände in Gallien vor der Neuordnung durch Constantius beschreibt: Pan. Lat. 9,18,1 f.: omnia quae priorum labe conciderant hac felicitate saeculi resurgantia, tot urbes diu silvis obsitas atque habitatas feris instaurari moenibus incolis frequentari ... tot insulis ad humanos cultus quasi renascentibus evenire. C.R. WHITTAKER, Agri deserti, in: Studies in Roman Property, ed. by M.I. Finley, Cambridge u.a. 1976, 137–200, insb. 138, macht auf das methodologische Problem aufmerksam, das sich aus solchen Übernahmen und aus

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se in den benachbarten Territorien mit den Zuständen im Gebiet Augustodunums. Der Redner bedient sich hierzu eines eindrucksvollen LichtSchatten-Kontrasts157: Macht man sich – wie Konstantin – von Augusta Treverorum aus auf den Weg gen Süden, zieht man zunächst an gut bestelltem, offen für die Blicke daliegendem Land vorbei, alles steht in Blüte und Wachstum, die Straßen sind angenehm zu benutzen, die Flüsse sind schiffbar und tragen Waren bis an die Stadttore; kommt man aber an die Stelle, an der die nach Lugdunum führende Straße die Ost-West-Verbindung kreuzt und schlägt nun den Weg in Richtung auf Augustodunum ein, ändert sich das Bild schlagartig – alles liegt brach und wüst, wirkt unwirtlich, Stille breitet sich aus, Dunkelheit, sogar die Militärstraßen sind kaum nutzbar, in halsbrecherischem Zustand, auf hügeligem Terrain steil ansteigend und ebenso steil wieder abfallend, so daß bisweilen nicht einmal unbeladene Karren passieren können158. Kein Wunder, wenn auf solchen Wegen die dem Kaiser geschuldeten Naturalabgaben (annona) kaum an ihr Ziel gelangen159. Intensiv wird hier das Stilmittel der (! genutzt, der eindrücklichen Beschreibung, die die lateinische Redetheorie als evidentia oder sub oculis subiectio bezeichnet160. Durch eine anschauliche Wiedergabe der der rhetorischen Strategie grundsätzlich für die Beurteilung der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage ergibt. 157 Zur Technik der Landschaftsbeschreibung und den kontrastierenden Topoi der loca amoena bzw. horrida s. N. BAGLIVI, Nota, 141 f. 158 C.R. W HITTAKER, Agri deserti, 145, äußert sich skeptisch zu dieser düsteren Darstellung (für eine kritische Einschätzung der Passage vgl. Chr. WITSCHEL, Krise – Rezession – Stagnation?, 31–33), zumal in den Panegyrici aus den 290er Jahren keine Rede von agri deserti sei, konzediert aber ein „special problem of transport“. Allerdings waren in den früheren Reden große Ansiedlungsprojekte des Constantius genannt worden (Pan. Lat. 8,21; Pan. Lat. 9,4; Pan. Lat. 5,4 f.), auf denen verständlicherweise aus Gründen des aktuellen Herrscherlobs der Schwerpunkt liegen mußte; darüber hinaus macht der Festredner von 311 deutlich, daß die gegenwärtige Krise erst die Folge des census von 306 sei (Pan. Lat. 5,5,4: iacebat illa civitas non tam moenium ruinis quam virium defectione prostrata, ex quo eam novi census exanimarat acerbitas). Zieht man diese Angaben zusammen, so ergibt sich folgende Entwicklung: deutliche Schwächung Augustodunums in Folge der Eroberung durch Victorinus, erste Wiederaufbaumaßnahmen unter Constantius, erneuter entscheidender Rückschlag durch das neue Steuersystem ab 306. 159 Pan. Lat. 5,7,2 f. 160 Rhet. Her. II 49; IV 51. 63. 68 f.; Cic., Inv. I 104. 107; II 78; Part. 20; de Orat. III 202; Orat. 40,139; Quint., Inst. IV 2,63–65. 123; VI 2,29–32; VIII 3,61–71; IX 2,40–44; [Longin.] 15,1; dazu A. VASALY, Representations, 88–104; A. FELDHERR, Spectacle and Society in Livy’s History, Berkeley/Los Angeles/London 1998, 4–19; G. ZANKER, Enargeia in the Ancient Criticism of Poetry, RhM 124, 1981, 297–311; D.P. FOWLER, Narrate and Describe: The Problem of Ekphrasis, JRS 81, 1991, 25–35. Speziell für die Spätantike vgl. M. ROBERTS, The Jeweled Style: Poetry and Poetics in Late Antiquity, Ithaca (N.Y.)/London 1989, 39 u.ö.; zum Verhältnis von Ekphrasis bzw. (! und Panegy-

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Details eines Ereignisses, einer Person, einer Landschaft oder eines Gegenstandes soll ein möglichst unmittelbarer sinnlicher Eindruck erzeugt werden, so daß vor dem geistigen Auge des Zuhörers ein entsprechendes Bild entsteht. Dem Redner ist daran gelegen, sein Publikum in das Beschriebene gleichsam hineinzuziehen161. Die (! kommt daher vor allem dann zum Einsatz, wenn das Publikum emotional am Geschehen beteiligt werden soll; die Distanz des Zuhörers zum Gegenstand der Rede und den beteiligten Personen wird verringert und so das persönliche Interesse geweckt. Nur auf diesem Wege ist es Quintilian zufolge möglich, die Affekte der Adressaten in die gewünschte Richtung zu lenken162. Diese Auffassung von Wert und Möglichkeiten der lebhaften Beschreibung teilte offenkundig auch der Panegyrist. Seine Schilderung der wüst liegenden Landschaft um Augustodunum soll direkt auf die Sinne wirken und Mitleid hervorrufen: Neque enim potes sine experimento misericordiae ad laudem clementiae pervenire. Erst der Erfahrungsbeweis des Mitleides wird Konstantin berechtigt den Ruf des Großmuts und der Milde eintragen. Der Status der Stelle und der Sinn der rhetorischen Strategie erscheint auf den ersten Blick recht dunkel: Konstantin hat doch bereits die erhofften Wohltaten – und mehr noch – gewährt und damit den Beweis von clementia und misericordia erbracht, warum also noch einmal dieser emotionale Appell? Der Panegyrist betont zudem, Konstantin habe dies alles bereits mit eigenen Augen gesehen (vidisti) und selbst bekannt, darüber Tränen vergossen zu haben (quibus illacrimasse te ipse confessus es, c. 7,2 bzw. 1), er wußte und weiß also um die Zustände (scires, c. 7,4). Solch augenscheinliche Unstimmigkeiten bestärken die Vermutung, daß sich die Rede eher an die übrigen Anwesenden als an den Kaiser richtete. Das Mitleid des Kaisers ist somit Teil der Botschaft, es wird – wiederum entgegen der Theorie – in die Beschreibung einbezogen und nicht erst evoziert. Nicht die Not Augustodunums steht im Vordergrund, sondern gerade die emotionale Reaktion Konstantins. Diese möglichst drastisch vor Augen zu führen und bildhaft zu machen, war demnach ein Hauptanliegen des Redners.

rik s. S.G. MACCORMACK, Latin Prose Panegyrics, 46–54; K.-H. UTHEMANN, Kunst der Beredsamkeit, 280. 161 Insb. Rhet. Her. IV 68 f.: Demonstratio est, cum ita verbis res exprimitur, ut geri negotium et res ante oculos esse videatur. … Statuit enim rem totam et prope ponit ante oculos. 162 Quint., Inst. VI 2,29 f.: quas & Graeci vocant (nos sane visiones appellemus), per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur; 30 has quisquis bene conceperit, is erit in adfectibus potentissimus.

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a) Konstantin in Augustodunum – Der Adventus als Heilsgeschehen? Die bislang nur angedeutete Reaktion Konstantins auf den Anblick des Niedergangs der Aedui wird in einer zweiten großen demonstratio vergegenwärtigt, die dem Adventus Konstantins in Augustodunum gewidmet ist. Der Panegyrist markiert diesen auch sachlichen Übergang, indem er den Sentenzen über das Wesen des „guten Herrschers“, die er bereits am Beginn der narratio gebracht hatte (c. 2,2), eine dritte Variante hinzufügt, die nun auf den Aspekt der persönlichen Besorgnis um seine Untertanen abstellt: Boni principis est libenter suos videre felices, sed melioris invisere laborantes163. Der ideale Princeps überzeugt sich selbst vor Ort vom Wohl und Wehe der Bürger. Darüber hinaus wird der Hell-Dunkel-Kontrast aus der Darstellung der Leiden der Stadt wieder aufgenommen und mit einem Topos der Herrscherpanegyrik und der gängigen kaiserlichen Selbstdarstellung verbunden: Wo vorher Finsternis herrschte, bringt die Ankunft des Kaisers strahlendes Licht164. Die Beschreibung des Adventus Konstantins in Augustodunum ist zweigeteilt: auf den Einzug des Kaisers in die Stadt (c. 8) folgt die Audienz für den ordo in der kaiserlichen Residenz von Augustodunum (c. 9). Nachdem bereits das Territorium der Stadt dem Zuhörer bzw. Leser so präsentiert wurde, wie Konstantin selbst es auf seiner Reise von Trier kommend angeblich wahrgenommen hatte, nimmt der Redner auch bei der Darstellung des eigentlichen Adventus zunächst die Perspektive des Kaisers ein. Die Passage beginnt mit einem Panoramablick, den Konstantin (und mit ihm das Publikum) von einer Anhöhe aus auf die Stadt wirft. Die Zuhörer sollen die Ereignisse mit seinen Augen sehen und seine Empfindungen teilen: Nach dem düsteren Eindruck, den die Landschaft vermittelt hatte, über163

Pan. Lat. 5,7,5. Dazu N. BAGLIVI, Nota, 142; M.G. MESSINA, Panegirico, 44. Pan. Lat. 5,7,5: Di immortales, quisnam ille tum nobis illuxit dies … cum tu, quod primum nobis signum salutis fuit, portas istius urbis intrasti, quae te habitu illo in sinum reducto et procurrentibus utrimque turribus amplexu quodam videbantur accipere! Die Adventus-Beschreibung beginnt also mit einer Götterapostrophe; damit ist der hohe Stil erreicht. Die Formulierung nobis illuxit dies mag zudem ein Zitat aus der Beschreibung des Adventus Trajans bei Plinius sein (Paneg. 22,1: Ac primum qui dies ille, quo exspectatus desideratusque urbem tuam ingressus es!; vgl. S. BRANDT, Eumenius von Augustodunum, 31). Zur Lichtmetaphorik bei der Begrüßung des ankommenden Herrschers Men. Rh. II 378,9–16; 381,6–23 (hier auf Statthalteradventus bezogen); eindrücklichstes Beispiel: Pan. Lat. 11,10,4 f.; numismatisch wird diese Verbindung der lux mit dem (legitimen) Kaiser und dem Gedanken der Romanitas insb. auf dem Multiplum zum Ausdruck gebracht, das anläßlich des Sieges über Allectus geprägt wurde: RIC VI 167 no. 34 REDDITOR LUCIS AETERNAE; vgl. S. MAC CORMACK, Art and Ceremony, 20. 25–29; H. HALFMANN, Itinera principum, 59. 148–151; F. KOLB, Herrscherideologie, 41; A. ALFÖLDI, Monarchische Repräsentation, 116 f. 164

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rascht nun die Menge an Menschen, die von überallher zusammenströmt, um den Kaiser zu empfangen165. Die Begeisterung der Bevölkerung ist zu greifen, die bereits die kommenden Erleichterungen vorwegzunehmen scheint. Der Einzug des Kaisers in die Stadt, der Moment, in dem Konstantin das Stadttor durchschreitet, gilt ihnen als gutes Omen, als signum salutis und praesagium venturae felicitatis166. Der entscheidende, zentrale Moment des Adventus, zudem das Element, das lux und salus birgt, ist demnach das Überschreiten der Schwelle zur Stadt; das portas intrare steht als Synekdoche für die Gesamtheit des Adventusgeschehens wie die portae als Synekdoche für die Stadt überhaupt stehen können167. Dieses Muster ist bei Beschreibungen von Adventus-Zeremonien in der römischen Kaiserzeit immer wieder anzutreffen. Bei Ammianus Marcellinus erscheint die Herrscherankunft als ein offenbar besonders aussagekräftiges Ereignis, und dies gehäuft in bezug auf die Vorbereitungen für den Perserfeldzug Julians168. So überschattet der Einsturz einer Portikus der

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Pan. Lat. 5,8,1–3: Miratus es, imperator, unde se tibi tanta obviam effunderet multitudo, cum solitudinem ex vicino monte vidisses. Omnes enim ex agris omnium aetatum homines convolaverunt ut viderent quem superstitem sibi libenter optarent. ... Magna est profecto vis ... surgentium gaudiorum. 166 Pan. Lat. 5,7,6 u. 8,3. Vgl. zur Projektion von Heilserwartungen auf den Kaiser als praesens deus J. LEHNEN, Adventus Principis, 68–75; S.G. MACCORMACK, Change and Continuity in Late Antiquity: The Ceremony of Adventus, Historia 21, 1972, 721–752, hier 731–735; zum weiten, von materieller Wohlfahrt bis zum militärischen Sieg und erfolgreicher Verwaltung reichenden Referenzbereich von felicitas in den Panegyrici Latini s. R.H. STORCH, Perfect Prince, 73, R. SEAGER, Some Imperial Virtues in the Latin Prose Panegyrics. The Demands of Propaganda and the Dynamics of Literary Composition, in: Papers of the Liverpool Latin Seminar. Vol. IV: 1983, hg. v. F. Cairns, Arca Classical and Medieval Texts – Papers and Monographs 11, Liverpool 1984, 129–165, insb. 164, sowie E. WISTRAND, Felicitas Imperatoria, 71–78. 167 Spekulationen über die ‚magische‘ Bedeutung des Stadttores bei J. GAGÉ, Fornix Ratumen(us). «L’entrée isélastique» étrusque et la «porta triumphalis» de Rome, in: DERS., Enquêtes sur les structures sociales et religieuses de la Rome primitive, Collection Latomus 152, Bruxelles 1977, 69–90 (zuerst 1953); zu spätantiken Stadtdarstellungen, die J. DECKERS, Tradition und Adaption. Bemerkungen zur Darstellung der christlichen Stadt, MDAI(R) 95, 1988, 303–382, insb. 363 f. 378: Tor, Aula und Tempel/Kirche sind die Grund-Piktogramme einer Adventusdarstellung; spezifisch dazu und zur ikonographischen Betonung des Bogens in den Bildzeugnissen zum Herrschereinzug bzw. zur Abreise G. KOEPPEL, Profectio und Adventus, 193 f. Von den Münzzeugnissen seien auch hier das Redditor Lucis Aeternae-Multiplum sowie das Medaillon RIC VII 162 no. 1 (Augusta Treverorum 313/315: Stadttor als Stadtvignette) genannt. 168 Zum folgenden insb. J. MATTHEWS, The Roman Empire of Ammianus, London 1989, 108. 176–179; R. SMITH, Ammianus on Julian’s Persian Expedition, in: The Late Roman World and Its Historian. Interpreting Ammianus Marcellinus, ed. by J.W. Drijvers/D. Hunt, London/New York 1999, 89–104, hier 100–103; vgl. auch J. SZIDAT, Historischer Kommentar zu Ammianus Marcellinus Buch XX–XXI. Teil III: Die Kon-

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Toranlage im Augenblick des introitus den Einzug des Kaisers in Hierapolis; 50 Soldaten werden bei diesem Unglück verschüttet169. Sein Adventus in Antiochia fällt mit den Adonalia zusammen, et visum est triste, quod amplam urbem principumque domicilium introeunte imperatore tunc primum ululabiles undique planctus et lugubres sonus audiebantur170. Sicherlich sind beide Nachrichten im Kontext der Strukturierung der Ereignisse durch Ammian zu sehen und so in ihrem Quellenwert zu relativieren. Was aber festzuhalten bleibt, ist die gängige, zumindest der Leserschaft plausible Verknüpfung des introitus mit Vorzeichen, Hinweisen auf das künftige Geschehen und Ergehen171. Dies kann nicht Erfindung Ammians sein, sondern muß Anknüpfungspunkte mit weitverbreiteten Vorstellungen gehabt haben. Ähnliches findet sich nämlich etwa in der Aurelian-Vita der Historia Augusta: Dem zukünftigen Kaiser, der aufgrund einer Verletzung im Wagen fährt, fällt bei seinem Einzug in Antiocheia ein über den Einzugsweg gespanntes purpureum pallium über die Schultern; als er dann auf ein Pferd wechseln will quia invidiosum tunc erat vehiculis in civitate uti, führt man ihm in der Eile ausgerechnet das Reittier des Kaisers zu172. Ganz offenbar wird der Adventus, und hier insbesondere der Einzug in die Stadt, in der Antike als ein bedeutender Ort empfunden, an dem sich omina manifestieren, und dies im Negativen wie im Positiven173. Zurück zum Panegyricus des Jahres 311: Nach dem Durchschreiten des Tores kommt der Panegyrist auf den Festschmuck zu sprechen, in den die zum palatium führenden Straßen gekleidet wurden, der die Armut der Stadt aber nur mühsam kaschieren konnte. Wie bei einem Adventus üb-

frontation, Historia ES 89, Stuttgart 1996, 97; P. DUFRAIGNE, Adventus Augusti, Adventus Christi, 182–187. 169 Amm. XXIII 2,6: Iamque apricante caelo tertium nonas Martias profectus Hierapolim solitis itineribus venit. ubi cum introiret civitatis capacissimae portas, sinistra porticus subito lapsa subter tendentes quinquaginta milites exceptis plurimis vulneratis tignorum tegularumque pondere magno collisit. Zur Analyse des exemplarischen Erzählens im 23. Buch: F. WITTCHOW, Exemplarisches Erzählen bei Ammianus Marcellinus. Episode, Exemplum, Anekdote, BzA 144, München/Leipzig 2001, 154–226, hier insb. 166. 170 Amm. XXII 9,14 f., hier 15. 171 Auf einer anderen Ebene angesiedelt, aber ebenso aufschlußreich, ist die Analyse des weiteren Verhaltens Julians in Antiocheia durch Ammian, der das Vorgehen des Kaisers bei einer Anklageerhebung durch die honorati der syrischen Metropole gegen einen seiner persönlichen Feinde als patientiae eius et lenitudinis documentum leve (XXII 9,16) bezeichnet. 172 Hist. Aug., Aurelian. 5,2–4; vgl. auch Suet., Vesp. 7,1–3. 173 Vgl. auch die omina bei dem ersten Adventus des Augustus in Rom: Vell. Pat. II 59,6; Suet., Aug. 95; Oros. VI 20; D. KIENAST, Augustus, 216 m. Anm. 43. Zu omina im Kontext der profectio: J. LEHNEN, Profectio Augusti. Zum kaiserlichen Zeremoniell des Abmarsches, Gymnasium 108, 2001, 15–33, hier 22.

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lich174, werden die Götterstatuen und die signa der Kollegien im Zug mitgeführt, eine Gruppe von Musikanten wird eingesetzt, die auf Abkürzungen immer wieder der pompa vorauseilt und durch diesen Trick dafür sorgen kann, daß die Zeremonie trotz des herrschenden Mangels gleich an mehreren Orten innerhalb der Stadt von Musik begleitet wird. Dieser anekdotenhafte Einschub wirkt fast unfreiwilllig komisch; er dient jedoch dazu, zum einen die Bedürftigkeit der Stadt zu illustrieren, zum anderen aber ihren festen Willen zu dokumentieren, dem Kaiser einen angemessenen Empfang zu bereiten. In die Schilderung des Einzugs Konstantins fügt der Redner nun noch eine weitere Ritualbeschreibung ein. Es handelt sich um einen Verweis auf die vota, mit denen die Bevölkerung des Reiches die Götter um das Wohlergehen der Kaiser bat175. Diese können sowohl mit dem Gegenstand als auch dem tatsächlichen Rahmen der Festrede in Verbindung gebracht werden: Opfer an die Götter als Dank für die glückliche Ankunft des Kaisers oder als Erfüllung entsprechender Gelübde waren Teil der Adventus-Zeremonie, vota gehörten aber auch konstitutiv zu den Feierlichkeiten anläßlich von Herrscherjubiläen – der Kontext der aktuellen Rede (s.o.)176. Der Panegyrist differenziert an der vorliegenden Stelle dabei angesichts des nominellen Fortbestehens der Tetrarchie in deutlicher Weise zwischen den Gebeten für Konstantin und denjenigen für die übrigen Kaiser. Schwor man in bezug auf die anderen principes lediglich in der gebräuchlichen feierlichen Form (sollemni verborum more) ad propagandos , so blieb allein Konstantin das weitergehende votum vorbehalten, er möge die Gelobenden selbst überleben, da ausschließlich ihm eine solche Lebensspanne gebühre. Von besonderer Bedeutung ist die Formulierung tibi, Constantine, soli ... securi vovebamus; das votum für Konstantin wird gegenüber den Mitherrschenden nicht nur substantiell erweitert, sondern als einziges überhaupt vorbehaltlos und ungezwungen dargebracht. Dies ist keine nur graduelle Differenz, sondern ein qualitativer Sprung177; denn ein vo174 Übersicht bei E. PETERSON, Die Einholung des Kyrios, Zeitschrift für systematische Theologie 7, 1930, 682–702, insb. 693–696. 175 Pan. Lat. 5,8,1. 176 I.S. RYBERG, Rites of the State Religion, 120–131 (Ankunft/Auszug des Kaisers). 131–134 (Jubiläen): J. SCHEID, Romulus et ses frères. Le collège des Frères Arvales, un modèle du culte public dans la Rome des Empereurs, B.E.F.A.R. 275, Rom 1990, 289– 356, insb. 354–356; E.W. MERTEN, Zwei Herrscherfeste in der Historia Augusta. Untersuchungen zu den pompae der Kaiser Gallienus und Aurelianus, Antiquitas IV.1, Bonn 1968, 4–17; J. RÜPKE, Religion der Römer, 162 f. 177 Insofern bleibt P. DUFRAIGNE, Adventus Augusti, Adventus Christi, 203, in Ansätzen stecken, wenn er lediglich das Faktum stärker personalisierter vota konstatiert. Auffallend ist der Kontrast zur Darstellungsweise der übrigen Tetrarchen: In den unterschiedlichen Medien läßt sich, wie u.a. eine Kölner Ringvorlesung 2002/3 gezeigt hat,

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tum, das nicht securus geleistet wurde, mußte letztlich gegenstandslos bleiben. Der Analogieschluß zur Panegyrik und ihren Zwängen liegt damit auf der Hand: Wahres Kaiserlob wurzelt in der Aufrichtigkeit des Redners, fällt aber auch mit ihr. Zumindest in dieser Hinsicht hatte sich die Problemlage seit dem Panegyricus des Plinius nicht geändert. Die Textstelle zeigt dabei, daß auch im Jahr 311 im Herrschaftsbereich Konstantins unverändert vota auf die anderen in seinen Augen legitimen Augusti ausgebracht wurden, er also nicht völlig mit der Tetrarchie gebrochen hatte178. Darüber hinaus wird aber deutlich, daß die Provinzialen viel stärker als (auf offizieller Ebene) Konstantin selbst dynastisch orientiert waren, der regional ausschlaggebende Herrscher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand und die Existenz und Relevanz selbst von ‚ihrem‘ Kaiser anerkannter Mitherrscher der Bevölkerung nur schwer zu vermitteln war. Zudem schien es möglich, diese Bedenken gegenüber der offiziellen Herrschaftskonzeption in einem höfischen Kontext zu artikulieren179 – Konstantin bestand also noch auf dem rituellen Comment der (nach-)diokletianischen Ordnung, hörte distanzierende Bekundigungen aber offenbar nicht ungern. Das Beispiel illustriert eindrücklich, wie Ritual und deutende Rhetorik sich zueinander verhalten: Präzisierungen, nuancierende Lesarten wurden in die offiziöse Redekunst eingeflochten und so die Zeremonie mit Leben erfüllt bzw. erst verständlich und politisch wirksam gemacht; auch wenn (oder: weil) diese Wirksamkeit sich subversiv zur augenscheinlichen, „natürlichen“ Bedeutung der rituellen Akte verhielt. Hier wird deutlich, hier die stärkste Betonung der Einheit des Herrscherkollegiums und (der Fiktion) des gemeinschaftlichen Agierens durch Wort und Bild erkennen; s. dazu v.a. die Untersuchungen von K. MARESCH, Die Präsentation der Kaiser in den Papyri der Tetrarchenzeit, in: Die Tetrarchie. Ein neues Regierungssystem und seine mediale Präsentation, hg. v. D. Boschung/W. Eck, ZAKMIRA-Schriften 3, Wiesbaden 2006, 63–82; P. WEIß, Die Tetrarchie in Bleisiegeln der Reichsverwaltung, ebda., 229–248; W. WEISER, Die Tetrarchie – Ein neues Regierungssystem und seine mediale Präsentation auf Münzen und Medaillons, ebda., 205–227; W. ECK, Worte und Bilder. Das Herrschaftskonzept Diocletians im Spiegel öffentlicher Monumente, ebda., 323–347; D. BOSCHUNG, Die Tetrarchie als Botschaft der Bildmedien. Zur Visualisierung eines Herrschaftssystems, ebda., 349–380. 178 In der Münzprägung setzte sich Konstantin hingegen schon zu diesem frühen Zeitpunkt von der Tetrarchie partiell ab, indem bei einzelnen Typen die sonst übliche Verbindung auch mit den Avers-Porträts der übrigen „legitimen“ Herrscher fehlt (mit Ausnahme von Licinius und Maximinus); Th. GRÜNEWALD, Constantinus Maximus Augustus, 56 f.; vgl. W. WEISER, Tetrarchie, insb. 222 f. 179 Dies ist ein Beispiel für eine „communication ascendante“, wie sie G. SABBAH, De la Rhétorique à la communication politique, insb. 378–380, für die Paneygrik herausgearbeitet hat; vgl. auch E. MAYER, Rom ist dort, wo der Kaiser ist. Untersuchungen zu den Staatsdenkmälern des dezentralisierten Reiches von Diocletian bis zu Theodosius II., Römisch-germanisches Zentralmuseum, Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte – Monographien 53, Mainz 2002, 6–10, zur relativen Freiheit der Panegyristen hinsichtlich der Gestaltung ihrer Reden; M. MAUSE, Darstellung des Kaisers, 43–46. 51–54.

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wie sich eine so tiefgreifende Umstrukturierung von Herrschaftslegitimation, wie es der Wechsel von der Vierherrschaft zur dynastischen Konzeption war, konkret vollziehen konnte, indem mehrere Medien ineinandergriffen. Doch die rhetorische Verknüpfung zweier Zeremonien – Adventus und vota –, die auf je spezifische Weise das Verhältnis von Kaiser und Bevölkerung rituell ausagieren, hat auch eine weitergehende, komplexe Funktion. Sie soll ein Brückenschlag zwischen den in der Rede referierten Ereignissen und dem zeremoniellen Rahmen sein, in dem die gratiarum actio angesiedelt ist: Die vota als integraler Bestandteil eines jeden Herrscherjubiläums gehörten ja zur unmittelbaren Erfahrung des Publikums; die Ausführungen des Panegyristen erhielten dadurch aktuelle Bedeutung und konnten, ja mußten als Kommentar des Panegyristen auf das Herrschaftsjubiläum gelten, der alle Anwesenden einbezog: vovebamus (iteratives Imperfekt!)180. Die Passage kann in diesem Sinne als Bekenntnis aller Untertanen zu Konstantin als alleinigem Herrscher verstanden werden, die Einwohner von Augustodunum agieren insofern stellvertretend für den gesamten Reichsteil. Auf einer zweiten Ebene setzt sich der Redner mit seiner Adventus-Beschreibung zu der aus dem Hellenismus übernommenen Tradition der Angleichung einer Herrscherankunft an die Epiphanie eines Gottes in Bezug. Eine Reihe von Versatzstücken weist in diese Richtung – der Einzug Konstantins gilt als signum salutis und praesagium venturae felicitatis, sein Kommen erleuchtet den Tag (c. 7,6). Das Faszinosum des Adventus lag offensichtlich in der unverhofften Sichtbarkeit dessen, den die Bevölkerung verehrt, herbeisehnt und auf den sie als Heilsbringer und Retter hofft181. Religiöse Sprache fließt hier dem Anschein nach massiv in die Rede ein. 180 In ähnlicher Weise hielt Apuleius sein Publikum dazu an, bestimmte, in der Rede angesprochene Situationen und Örtlichkeiten zu visualisieren: Apul., Flor. 18,7 f. 181 Pan. Lat. 5,7,4: urbem illam sola opis tuae exspectatione viventem illustrare dignatus es. Zur praesentia des Kaisers bzw. der in ihm wohnenden göttlichen Wirkkraft – des numen – vgl. A. DEISSMANN, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 41923, 318–320; E.H. KANTOROWICZ, Des „Königs Ankunft“ und die rätselhaften Bildtafeln in den Türen von Santa Sabina, in: DERS., Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums, hg. v. E. Grünewald/U. Raulff, Stuttgart 1998, 91–147 (engl. 1944), 104 f.; D. STUTZINGER, Der Adventus des Kaisers und der Einzug Christi in Jerusalem, in: Spätantike und frühes Christentum. Ausstellung im Liebieghaus Museum alter Plastik Frankfurt a.M. 16. Dezember 1983 bis 11. März 1984, Frankfurt a.M. 1983, 284–307, insb. 284– 286. 289; J. LEHNEN, Adventus Principis, 69–75; nun auch F. KOLB, Praesens Deus: Kaiser und Gott in der Tetrarchie, in: Diokletian und die Tetrarchie. Aspekte einer Zeitenwende, hg. v. A. Demandt/A. Goltz/H. Schlange-Schöningen, Millenium-Studien 1, Berlin/New York, 2004, 27–37, insb. 31.

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Angesichts dieses Befundes fällt es auf, daß dennoch – auch im Vergleich zu den anderen überlieferten Panegyriken konstantinischer Zeit – die religiös-kultische Komponente und eine göttliche Überhöhung des Kaisers in dieser Dankrede insgesamt schwach entwickelt sind und nur am Rande vorkommen182. Was sich in dieser Richtung veranschlagen ließe, erweist sich bei genauerem Hinsehen als längst eingeschliffener Sprachgebrauch, der über keinen tatsächlichen gesteigerten religiösen Gehalt verfügt183. Die Anrede des Kaisers als sacratissimus (bzw. sanctissimus) imperator hatte sich vom Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts an immer stärker eingebürgert und bezeichnete in erster Linie die besondere Verehrung und den besonderen Schutz, die der Person des Princeps entgegengebracht wurden – und umgekehrt, die besondere Hilfeleistung, die vom Princeps erwartet wurde. In der Spätantike war daraus die formalisierte Anrede des Kaisers geworden; sie mußte somit – in den drastischen Worten von Barbara S. Rodgers – „encomiastically useless“ werden184. Über die Göttlichkeit des Kaisers ist damit jedenfalls noch keine Aussage getroffen185. Eleanor Dickey hat zudem darauf aufmerksam gemacht, daß in ihrem – bis in das 2. Jh. reichenden – Untersuchungszeitraum die Anrede sanctissime oft als „a general polite term for people of ordinary status, especially jurors“ gebraucht werde, wohingegen der Positiv sancte Anwendung nur auf Götter und sozial hochgestellte Personen finde; ähnlicher außerkultischer Gebrauch ist auch für die Begriffe sacer und sacratissime 182

Vgl. B.S. RODGERS, Divine Insinuation in the Panegyrici Latini, Historia 35, 1986, 69–104, hier 85: „The author of the fifth panegyric is … a man who prefers not to call his emperor a god.“ 183 Anders R.H. STORCH, Perfect Prince, 73: „The often-repeated form of adress ‚sacratissime imperator‘, emphasizes the divine nature of the prince. ... The image is enhanced by frequent reference to the emperor’s numen.“ Storch bleibt aber apodiktisch und übersieht, daß es sich deutlich erkennbar um einen Titel handelt, der, wenn er – wie in der gratiarum actio – als zeremonielle Anrede benutzt wird, die ‚Göttlichkeit‘ des Kaisers nicht thematisiert. Der Kaiser als Gott ist in dieser Rede kein Topos, und allein eine solche Ausarbeitung würde Aussagen über die religiösen Ansichten des Verfassers oder seines Publikums oder des Kaisers erlauben. Das grundlegende Problem der Untersuchung von Storch ist ihr Verzicht auf Kontextualisierung der gesammelten Belege. 184 B.S. RODGERS, Divine Insinuation, 71. 185 Zur Entwicklung dieser Anrede vgl. W. ENßLIN, Gottkaiser und Kaiser von Gottes Gnaden, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophischhistorische Abteilung 1934,6, München 1943, 50–53; O. HILTBRUNNER, Die Heiligkeit des Kaisers (Zur Geschichte des Begriffs sacer), FMSt 2, 1968, 1–30. Enßlin wirft die Frage auf, „ob der Gebrauch von sacrum ursprünglich mehr vom Gottkaisertum her oder von einer Heiligung durch das Begnadetsein den Ausgang genommen hat“ (50), spricht bei der Analyse der Belege aber nur noch von der Hervorhebung der „Erhabenheit der kaiserlichen Person“ (51). Es bleibt zu überlegen, ob der Titel nicht in der Tat wenig mehr als eben dieses ‚Erhabenheit über‘, eine imaginierte Immunisierung gegenüber den für andere geltenden Beschränkungen und Zwängen bedeutet.

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festzustellen186. Die Bezeichnung der Wirkkraft Konstantins als numen187 ist zu dieser Zeit ebenfalls etabliert und deutlich nicht auf den Bereich kultischer Kommunikation beschränkt188. Der Panegyricus ist mithin in signifikanter Weise ‚diesseitig‘, auch wenn er sich – wie bei dem vorliegenden Teil der Adventus-demonstratio – weitgehend an die traditionellen übersteigernden Beschreibungsmustern anlehnt. Diese Anlehnung erfolgt jedoch rhetorisch kalkuliert – im Bereich der vota motiviert von einem Streben nach Aktualisierung und Nuancierung. Die Zurückführung des metaphysischen Anteils entspricht dabei dem Ansatz des Redners, die Beziehungen zwischen Kaiser und Stadt (richtiger: und dieser besonderen Stadt) als ein über die Jahrhunderte römischaeduischer Kooperation geknüpftes Netz wechselseitiger ethischer und politischer Verpflichtungen darzustellen. In diesem Kontext gewinnen auch die Gelübde eine neue Bedeutung: In ihnen drückt sich die Zuneigung der Bevölkerung zu Konstantin aus, mit ihnen will man erreichen, daß dem Kaiser eine Lebensspanne ultra omnium nostrum fata gewährt werde. Die Bewohner von Augustodunum verwenden sich bei den Göttern für ihren Kaiser – und verpflichten ihn sich dadurch einmal mehr. Wie Konstantin als Mittler der salus an die Bevölkerung fungiert, so sichern die Gelübde der Bürger diese salus für den Kaiser. Vom ingressus lenkt der Panegyrist sodann die Blicke auf den Empfang im palatium. Konstantin gewährte den Dekurionen Augustodunums eine Audienz189, wie es dem Herkommen entsprach: Sponte nos ad numinis tui aditum vocare, sponte adfari, sponte quid opis desideraremus interrogare dignatus es. Haec sunt, imperator, vera beneficia quae non precibus efflagitata sed ex voluntaria tua bonitate proveniunt et citra ullam petendi molestiam adipiscendi voluptatem dederunt.190

Mit diesen einleitenden Worten wird die Interpretationsrichtung für die Unterhandlungen zwischen Kaiser und ordo vorgegeben: Konstantin handelt aus eigenem Antrieb (dies betont schon die dreimalige Anapher spon186

E. DICKEY, Latin Forms of Address. From Plautus to Apuleius, Oxford 2002, 137, u. die Einträge zu sacer, sancte sowie sanctissime ebda., 356 f. 187 Pan. Lat. 5,1,3; 7,6. 188 Für eine differenzierte Analyse s. B.S. RODGERS, Divine Insinuation, 72–74, der zufolge numen in den Panegyrici (1) die Göttlichkeit bzw. göttliche Wirkkraft sowohl eines Gottes als auch des Kaisers, (2) einen Gott und (3) den Kaiser bezeichnen kann. Auch in dieser Frage ist um eine Untersuchung des Kontextes also nicht umhinzukommen. Grundsätzlich zu den terminologischen Problemen, J. BÉRANGER, L’Expression de la divinité dans les Panégyriques Latins, MH 27, 1970, 242–254, hier 254. 189 Zur Audienz für die städtische Oberschicht im Rahmen eines Adventus vgl. H. HALFMANN, Itinera principum, 120; J. LEHNEN, Adventus Principis, 191–193. 190 Pan. Lat. 5,9,1 f.

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te), ohne daß die Kurialen sich auf das Bitten hätten verlegen müssen (non precibus efflagitata sed ex volontaria tua bonitate ... citra ullam petendi molestiam)191. Der Redner spricht hier gewissermaßen pro domo und suggeriert damit, daß andernfalls die genuin rhetorische Aufgabe, die verzweifelte Situation der Stadt darzulegen und den Kaiser um die nötigen Hilfsmaßnahmen zu bitten, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf ihn zugekommen sei. Noch einmal wird damit unterstrichen, daß er zu dem engen Kreis derjenigen Bürger von Augustodunum gehörte192, die für die Übernahme diplomatischer Missionen in Frage kamen. b) Die Städte und der Kaiser: Formen der Kommunikation Gesuche um die Gewährung von Privilegien aller Arten oder um einen Schiedsspruch in Streitfällen der Stadt mit einzelnen ihrer Bürger, mit Nachbarstädten oder den Vertretern der Zentralmacht wurden regelmäßig von Gesandtschaften vor den Kaiser gebracht193. Dies geschah gerade auch im Rahmen von Hoffeierlichkeiten, wie das Exordium der hier zu besprechenden Festrede zeigt: Nicht nur der comitatus war ja bei der Quinquennalienfeier anwesend, sondern auch Gesandte aus nahezu allen Gemeinden, die den Kaiser mit Bitten angingen (supplices assunt). Der festliche Anlaß wurde genutzt, um alte Privilegien bestätigen zu lassen oder neue zu erwirken. Anhand inschriftlicher und narrativer Quellen kann das Procedere zumindest in seinen Grundzügen rekonstruiert werden: Der oder die Vertreter der Stadt richteten eine Rede an den Princeps, in der die Vorgeschichte, die Lage der Stadt, ihre unterstellte Rechtsposition und ihr Verhältnis zum 191 Diese Formulierung entwickelte sich zu einem panegyrischen Topos: vgl. Pan. Lat. 3,18, insb. 3: rogandi mihi periculum remisisti. Ein Vorläufer ist vielleicht Plin., Paneg. 26,3. 7: hoc maximum praestitisti, ne rogarent; vgl. auch Apul., Flor. 16,25–27: An non properandum mihi erat, pro eo honore vobis multas gratias dicerem, pro quo nullas preces dixeram? ... ut integrum et intemeratum esset vestrum beneficium, si nihil ex gratia eius petitio mea defregisset, id est, ut usque quaque esset gratuitum. neque enim aut levi mercede emit qui precatur, aut parvum pretium accipit qui rogatur ... Zu weiteren Parallelen vgl. B.T. LEE, Florida, 153; A. KLOTZ, Studien, 561. Zum „spontanen“ Charakter der Geste Konstantins auch M.G. MESSINA, Panegirico, 43 f. 192 Zum Gesandtschaftswesen und zu den als Gesandten tätigen Personenkreisen in der Spätantike vgl. J.-U. KRAUSE, Das spätantike Städtepatronat, Chiron 17, 1987, 1–80, hier 50–56; s.a. J.F. MATTHEWS, Art. Gesandtschaft, RAC 10, 1978, 653–685, hier 663 f. 193 Vgl. dazu grundsätzlich F. MILLAR, Emperor, 410–447; G. ZIETHEN, Gesandte vor Kaiser und Senat, 80–131. Vgl. auch D. NÖRR, Imperium und Polis in der hohen Principatszeit, Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte 50, München 1966, 57–60. Nörrs Untersuchung macht deutlich, daß das Verhältnis der Städte zum Imperium allein mit rechtlichen Termini nicht adäquat zu erfassen ist, sondern der Ergänzung um eine ‚praxeologisch‘ orientierte Analyse (ich übernehme hier den Begriff von E. Flaig) bedarf.

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Herrscher selbst thematisiert wurden194. Entweder noch vor der Ansprache oder (wohl üblicher) im Anschluß an sie wurde das in dieser Angelegenheit verabschiedete Dekret des Stadtrates übergeben und die Zustimmung des Kaisers dazu erbeten195. Menander Rhetor gibt genaue Anweisungen, wie Gesandtschaftsreden aufzubauen seien und rät, die Ansprache mit der Bitte zu schließen, der Kaiser möge das Psephisma des Stadtrates entgegennehmen196. Diese Handreichungen gelten explizit für den  " #!, die Rede einer Bittgesandtschaft an den Kaiser. Strukturell ähnlich verlief aber auch die Interaktion zwischen dem Kaiser und einer Festgesandtschaft: Am Ende eines entsprechenden &%" #! – der Ansprache bei der Übergabe des Kranzgoldes an den Herrscher anläßlich von Feierlichkeiten aller Art, insbesondere bei Geburtstagen, Jubiläen oder Siegesfesten – soll laut Menander Rhetor die Aufforderung stehen, das in Form eines Dekretes gehaltene Begleitschreiben der  ) verlesen zu lassen197. Diese Handbucheinträge verdeutlichen einmal mehr, daß die Rede vor dem Kaiser in eine Abfolge zeremonieller Akte eingebunden war und erst die Kombination von Wort und symbolischer Handlung, von Rede und Übergabe des Dekretes, die Wirksamkeit des Aktes konstituierten. Aus den Quellen ist zudem ersichtlich, daß zumindest in einigen Fällen der Kaiser das an ihn gerichtete Schreiben den Anwesenden vortrug und sich gegebenenfalls eine Aussprache anschloß198. Die Gesandtschaft mußte nach ihrer Aufwartung vor dem Princeps und dessen mündlicher Erwiderung auf ihr Begehren199 auf die Erteilung eines schriftlichen Bescheides in Form einer epistula oder in Ausnahmefällen auch eines Ediktes warten200. Dieses Verfahren zog sich im mindestens über den Zeitraum mehrerer

194 Das klassische Beipiel ist Aristid., Or. 19 Behr (an Marcus Aurelius und Commodus gerichtete Monodia in Briefform anläßlich der Zerstörung von Smyrna durch ein Erdbeben); G. BOWERSOCK, Greek Sophists, 45 f.; F. MILLAR, Emperor, 423 f. 195 Vgl. etwa IGR IV 349. 1031c (Hadrian); H. DESSAU, ILS 139 a.E.; ILS 8793; Suet., Vesp. 23,3. J.F. MATTHEWS, Art. Gesandtschaft, 664 f. 196 Men. Rh. II 424,1 f. 197 Men. Rh. II 423,3. Vgl. D.A. RUSSELL/N.G. W ILSON, Menander Rhetor. Edited with Translations and Commentary, Oxford 1981, 336 z.St.; C. ANDO, Imperial Ideology, 176. 198 Darauf deuten H. DESSAU, ILS 8792 u. P. Oxy. 2177 hin; F. MILLAR, Emperor, 217 f. 199 Die Möglichkeit eines vorläufigen mündlichen Bescheids zieht auch U. W ILCKEN, Zu den Kaiserreskripten, Hermes 55, 1920, 1–42, hier 11–13, in Betracht. 200 Vgl. H. DITTENBERGER, SIG3 837 (= L. ROBERT, Hellenica VI, Paris 1948, 80–84 [No. 26 (I)]); für die Reisewege von Bittstellern an den Kaiser in der beginnenden Spätantike sowie das Mitreisen mit dem Hof bis zur Erteilung eines Reskriptes s. S. CORCORAN, Empire of the Tetrarchs. Imperial Pronouncements and Government AD 284–324, rev. ed. Oxford 2000, 119–122.

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Tage hin201. Die Promulgationsvermerke (epistula) data bzw. accepta, die einigen Reskripten beigefügt wurden, lassen darüber hinaus wohl den Schluß zu, daß auch die Bekanntgabe oder Übergabe der kaiserlichen Entscheidung wiederum in einem zeremoniellen Rahmen erfolgen konnte202. Jean-Michel Carrié vertritt so die Auffassung203, die in der gratiarum actio von 311 verwendete Formulierung ordinem indulgentiae tuae voce divina porrectaque hac invicta dextera sublevasti (c. 1,3) stehe für eine vergleichbare zeremonielle Handlung, mit der Konstantin das Privileg des Steuernachlasses für Augustodunum verkündet habe. Die Geste der ausgestreckten rechten Hand finde sich etwa auch auf Münzen mit der Legende INDULGENTIA PRINCIPIS; die Bildformel wäre mithin nicht nur als eine Metapher zu verstehen, sondern hätte eine konkrete, nämlich symbolische rituelle Handlung zur Referenz. Der Panegyricus liefert zwar keine direkten Belege für eine solche Lesart, vielleicht aber ein weiteres Indiz: die Stelle Pan. Lat. 5,10,1 – statim voce declares – deutet in der Tat auf eine öffentliche Verkündung der Entscheidung durch Konstantin noch vor Ort hin. Doch bleibt dessen ungeachtet die Formulierung von der porrecta invicta dextera des Kaisers in ihrem rhetorischen Zusammenhang sicher bewußt mehrdeutig: Sie bezeichnet sowohl die Aufhebung der Proskynese (dies ist der unmittelbare Kontext der Stelle), mit der die Dekurionen von Augustodunum dem Kaiser ihre Verehrung bezeigten, als auch – vordergründig metaphorisch, aber mit Carrié vielleicht doch sehr konkret – die Hand, die Konstantin der Stadt entgegenstreckte, um sie durch seine Hilfsmaßnahmen aus ihrer Not zu erheben. Fergus Millar hat hervorgehoben, daß der Princeps an der Bearbeitung von Eingaben einen hohen persönlichen Anteil hatte, unter Umständen sogar bis hin zur Ausformulierung und eigenhändigen Abfassung seiner Entschließung in der Sache. Der gesamte Vorgang beruht auf den Prinzipien der unmittelbaren Begegnung von Kaiser und Bittstellern und der mündli201 Als außergewöhnlich schnelle Bearbeitungszeit muß der Zeitraum von vier Tagen gelten, die zwischen dem Empfang der Gesandtschaft und ihrer Entlassung mit dem entsprechenden Reskript vergingen: H. DESSAU, ILS 6092; F. MILLAR, Emperor, 235 f. 202 Vgl. D. NÖRR, Zur Reskriptenpraxis in der hohen Kaiserzeit, ZRG (RA) 98, 1981, 1–46, insb. 14–20. 203 J.-M. CARRIE, La „munificence“ du prince. Les modes tardifs de désignation des actes impériaux et leurs antécédents, in: Institutions, société et vie politique dans l’Empire romain au IVe siècle ap. J.-C. Actes de la table ronde autour de l’œuvre d’André Chastagnol (Paris, 20–21 janvier 1989), ed. par M. Christol/S. Demougin/Y. Duval/C. Lepelley/L. Pietri, Collection de l’École Française de Rome, Rom 1992, 411–430, 421: „elle décrit un rituel ‚spectaculaire‘ de proclamation de la loi impériale dont le trait le plus caractéristique, la main droite levée, se retrouve précisément dans la représentation figurée sur les monnaies portant la légende indulgentia principis: une divinité assise levant la main droite dans un geste de majesté“.

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chen Kommunikation zwischen diesen beiden Parteien204. Die Gesandtschaft wendet sich direkt an den Herrscher und wird unmittelbar mit seinen Nachfragen, Einwänden und in der Regel auch seinen Entscheidungen konfrontiert. Von dieser direkten Kommunikation zeugt auch die subjektive Stilisierung der kaiserlichen Reskripte (insbesondere naturgemäß der epistulae), die in der ersten Person für den Absender und der zweiten Person für den Empfänger gehalten sind205. Boudewijn Sirks hat daher zu Recht darauf hingewiesen, daß die Reskriptenpraxis der Kaiserzeit nicht auf rechtlichen, sondern auf sozialen Normen basierte; sie entwickelte sich aus dem Verhältnis von Patron und Klient, das für das Funktionieren des römischen Gesellschaftssystems entscheidende Bedeutung hatte: „Rescripts were ... the continuation of, or successor to the advisory duty of the Roman patron towards his clientes. The emperor was, then, in a manner of speaking, the patron of all.“206 Den Kaiser persönlich mit libelli anzugehen, blieb auch unter Konstantin bestimmend für den Stil sozialer Kommunikation207. Vor diesem Hintergrund kaiserlicher Regierungstätigkeit als dem Konzept nach direkter Interaktion von Herrscher und Beherrschtem erklärt sich die große Bedeutung, die der Beredsamkeit der Gesandten für den Erfolg ihrer Mission zugemessen wurde208. Sie mußten dazu nicht unbedingt die Rhetorik professionell betreiben, aber doch über profunde Kenntnisse der Redekunst verfügen209. Inschriften ehrten Bürger, deren Verdienst und 204

F. MILLAR, Emperor, insb. 207–215. – Für die Spätantike hat S. CORCORAN, Empire of the Tetrarchs, 254–265, Belege für kaiserliche Entscheidungen als Ergebnis mündlicher Verhandlungen zusammengestellt; vgl. auch ebda., 45 f.; s. auch D. NÖRR, Zu einem fast vergessenen Konstitutionentyp: Interloqui de plano, in: Studi in onore di Cesare Sanfilippo. Vol. III, Università di Catania, Pubblicazioni della Facoltà di Giurisprudenza 96, Mailand 1983, 519–543. 205 Zur Stilisierung der epistula Caesaris nach dem Muster der Privatbriefe U. W ILCKEN, Kaiserreskripte, insb. 6 f.; F. DÖLGER/J. K ARAYANNOPOULOS, Byzantinische Urkundenlehre. Erster Abschnitt: Die Kaiserurkunden, HdAW XII.3.1.1, München 1968, 80 f.; W. KUNKEL, Römische Rechtsgeschichte, Köln/Wien 121990, 120. 206 B. SIRKS, Making a Request of the Emperor: Rescripts in the Roman Empire, in: Administration, Prosopography and Appointment Policies in the Roman Empire. Proceedings of the First Workshop of the International Network ‘Impact of Empire’ (Roman Empire, 27 B.C. – A.D. 406) Leiden, June 28 – July 1, 2000, ed. by L. De Blois, Amsterdam 2001, 121–135, insb. 122–129, Zitat 129. 207 Dies wurde auch von den Bischöfen fortgeführt, die in Nicaea quasi um die Wette dem Kaiser libelli überreichten, um die eigene Position gegenüber Rivalen und Widersachern zu stärken. Angeblich hat Konstantin diese Eingaben sammeln und ungeöffnet vor aller Augen verbrennen lassen. Rufin., h.e. X 2; F. MILLAR, Emperor, 252. 208 F. MILLAR, Emperor, 433 f.; J.F. MATTHEWS, Art. Gesandtschaft, 670 f. 209 E.L. BOWIE, Importance of Sophists, 32–38, hebt hervor, daß nicht allein Sophisten für diese Missionen in Frage kamen, sondern in erster Linie solche Honoratioren, deren Aussicht, bis zum Kaiser vorzudringen als besonders groß eingeschätzt wurde. S.

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Ruhm darauf gründete, daß sie unter Umständen zum wiederholten Male die Sache ihrer Stadt mit Erfolg vor dem Statthalter oder Kaiser vertreten hatten210. Wenn die Quellen die Sachlage auch nur in Ansätzen zutreffend wiedergeben, verhalfen oftmals nicht sachlich-rationale Überlegungen, sondern die überzeugendere sprachliche Ausgestaltung und Darbietung, der eindrucksvollere Auftritt einem Anliegen zum Erfolg und ließen andere Interessen unterliegen211. Es kam also in erster Linie auf die Person des Orators, seine soziale Stellung ebenso wie seine rhetorische Bildung und Begabung, und nicht so sehr auf seine Argumente an, wenn es darum ging, für sich selbst und die entsendende Körperschaft kaiserliche Privilegien zu erwirken oder zumindest drohendes Unheil abzuwenden. Auf den Rednern lastete entsprechend starker Erfolgsdruck. Ein weiterer Gesichtspunkt ergibt sich aus der Frage nach der Implementierung kaiserlicher Entscheidungen. Neben epistula oder Edikt, die den Gesandten mit auf den Heimweg gegeben wurden und die – sofern sie eine günstige Antwort enthielten – in der Heimatstadt in Marmor oder Bronze verewigt und im öffentlichen Raum aufgestellt wurden, erging ein zusätzliches Schreiben des Herrschers an die zuständigen Amtsträger vor Ort212. Wie aber wiederholte Eingaben in derselben Sache an den Hof erinsb. a.a.O., 36 f.: „It may be seen … that many factors might affect the choice of an ambassador from the ranks of the aristocracy, and that the indubitably relevant skills of rhetoric were not so monopolized by sophists as to give them an immediate advantage.“ 210 Besonders eindrucksvoll H. DESSAU, ILS 6680 (L. Fabius Severus); SEG 17, 1960, no. 505; vgl. E.L. BOWIE, Importance of Sophists, 35 f. Anm. 23 mit einer Fülle von Belegen für mehrmalige Übernahme der Gesandtschaft zum Kaiser. 211 Etwa Philostr., VS 520 (Skopelian erhält den Auftrag für eine Gesandtschaft zu Domitian wegen seiner Begabung für das Bezaubern [ !]); 539 f. (in einem Rechtsstreit wird ein nachgelassenes Manuskript des Polemo vor dem Kaiser vorgetragen und trägt den Sieg davon, während die für ihn eingesprungenen Redner zuvor nicht überzeugen konnten); 622 f. (Philiskos erregt bei Commodus Anstoß durch seinen Gang, seine Art zu stehen, seine Kleidung, seine Stimme, seinen Stil, seine Frisur); 570 f. (Alexander von Seleukeia fällt wegen seines Auftretens bei Antoninus Pius in Ungnade); F. MILLAR, Emperor, 234. 439; E.L. BOWIE, Importance of Sophists, 32–34. Neben den für das Auftreten von Rhetoren (Sophisten) spezifischen Konventionen gab es selbstverständlich allgemeine Regeln des Auftretens vor dem Kaiser, Kleidungsvorschriften etc.; vgl. dazu G. ZIETHEN, Gesandte vor Kaiser und Senat, 148–177. TH. SCHMITZ, Bildung und Macht, 208 f., betont den Charakter zwischenstaatlicher Gesandtschaften in der Poliswelt des 2./3. Jh.s als eine Form der ‚symbolischen Diplomatie‘. Bei Gesandtschaften zum Kaiser – insbesondere Festgesandtschaften u.ä. – konnte der symbolische Aspekt ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen. 212 Aus konstantinischer Zeit sei hier das Reskript an den ordo von Orcistus angeführt (CIL III 7000): In der epistula an die Dekurionen der Stadt teilt Konstantin mit, daß er auch den rationalis Asianae dioeceseos informiert habe, der die Einhaltung der gewährten finanziellen Vergünstigungen überwachen solle. Auf demselben Monument haben die Einwohner von Orcistus auch eine in dieser Angelegenheit verfaßte epistula Konstantins

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kennen lassen, war diese doppelte Ausfertigung in vielen Fällen noch keine ausreichende Sicherung für die tatsächliche Umsetzung der kaiserlichen Maßnahmen zugunsten einer Stadt. In Zweifelsfällen benötigte man die beständige Rückendeckung durch den Princeps oder zumindest durch einflußreiche patroni auf regionaler Ebene213, um widerstrebende Verwaltungsbeamte vor Ort zum Einlenken zu bewegen214. Die Betonung der direkten Interaktion mit dem Kaiser und der Akzent auf eine weitreichende, vom Hof flankierte Publikation der dieses Nahverhältnis dokumentierenden Dankrede muß auch in diesem Zusammenhang gesehen werden: als ein gewisser Schutz gegenüber Statthaltern und Praetorianerpräfekten. c) „Die Mühen des Bittens ersparen“: Rituale des Antiritualismus I 215 Die üblichen Rahmenbedingungen der Interaktion mit dem Kaiser und die Größe und Tragweite der einem Redner als Gesandten gestellten Aufgabe thematisiert der Panegyrist bemerkenswerterweise e negativo – ihm sind Mühsal und Risiko durch die Initiative Konstantins erspart worden – im folgenden Satz: Neque enim parvi negotii est imperatorem totius orbis pro se peculiariter rogare, sub tantae maiestatis adspectu perfricare frontem, vultum componere, confirmare animum, verba concipere, intrepidanter dicere, apte desinere, exspectare responsum. Has omnes difficultates, imperator, verecundiae nostrae remisisti, non solum ultro percontando quid remedii posceremus sed etiam tibi ipsi suggerendo quae nos tacebamus, dum nos iacentes ad pedes tuos clementissimo attollis adfatu.216

Der Sprecher legt im ersten Teil dieser Passage einen großen Nachdruck auf die oratorischen Aspekte von Begegnungen zwischen dem Kaiser auf der einen Seite und Repräsentanten einer Stadt auf der anderen Seite. Denn im streng regulierten Rahmen des höfischen Zeremoniells gelten Regeln,

an den PPO Ablabius anbringen lassen, in der Konstantin den Sachverhalt erläutert und den Praetorianerpraefekten mit der Umsetzung betraut. Offenbar erteilte die ‚Zentrale‘ mithin unabhängig voneinander Weisungen an unterschiedliche Hierarchieebenen innerhalb der regionalen Verwaltung. Für subscriptiones scheint diese Praxis der doppelten Benachrichtigung von Bittstellern und ausführenden Behörden eher die Ausnahme zu sein: D. NÖRR, Reskriptenpraxis, 13 f.; vgl. auch C. ANDO, Imperial Ideology, 80–96. 213 Zur Bedeutung insbesondere der honorati: J.-U. KRAUSE, Städtepatronat, 50–56; DERS., Spätantike Patronatsformen im Westen des Römischen Reiches, Vestigia 38, München 1987, 71. 214 Vgl. etwa H. DESSAU, ILS 6870; F. MILLAR, Emperor, 246. 215 Die unauflösliche Bezogenheit der Antiritualisten auf das Ritual und das Dilemma, daß auch der Protest gegen angeblich erstarrte Rituale zwangsläufig eigene Rituale ausbildet, analysiert H.-G. SOEFFNER, Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags 2, Frankfurt a.M. 21995, 102–130. 216 Pan. Lat. 5,9,3 f.

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die den Bereich des Sagbaren einengen, einen restringierten Code217 erforderlich machen und so ein sprachliches Kommunikat hervorbringen, das sich (auch inhaltlich) durch einen hohen Grad von Standardisierung und damit einhergehender Erwartbarkeit auszeichnet. Der Redner wird in dieser Situation mit besonderen Anforderungen an formal korrektes Sprechen, an das decorum also, konfrontiert, die sich sowohl auf seinen Habitus als auch auf die Komposition der Rede selbst beziehen. Auf diese Rahmenbedingungen verweist insbesondere die asyndetische Reihung perfricare frontem, vultum componere, confirmare animum, verba concipere, intrepidanter dicere, apte desinere, exspectare responsum218. Diese Anmerkungen des Panegyristen scheinen sich zunächst auf der relativ trivialen Ebene der persönlichen Vorbereitung unmittelbar vor der Rede zu bewegen, den Augenblick ins Bewußtsein zu rufen, in dem sich der Redner sammelt und Mut faßt. Perfricare frontem kann in diesem Sinne schlicht bedeuten: die Scheu bzw. Scham ablegen219. Es gibt aber Hinweise, daß die Redner im Bemühen um eine eindrucksvolle Inszenierung ihres Auftretens sich tatsächlich mit den Händen über das Gesicht fuhren, bevor sie zu sprechen begannen; der Ausdruck perfricare frontem bezeichnet also wohl ursprünglich eine standardisierte oratorische Geste, die sich sekundär zu einer bildersprachlichen Wendung entwickelte. Quintilian führt das perfricare faciem denn auch als Gestus des Redners an, jedoch tadelt er es scharf220. Die Kritik des Redelehrers zeigt aber nur, daß der Gestus offenbar verbreitet war und eine – um es neutral zu formulieren – freimütige Rede ankündigte. Im vorliegenden Panegyricus wird er geradezu als üblich und angemessen dargestellt. Das Reiben der Stirn sollte offenbar dazu dienen, die eigene Konzentration hervorzuheben, zugleich den 217 Zur Anwendbarkeit dieser von B. BERNSTEIN („Sprachliche Kodes“) entwickelten Terminologie auf (herrschafts-)soziologische bzw. sozialanthropologische Fragestellungen vgl. M. DOUGLAS, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, 36–57. Zur Funktion vgl. ebda. 41: „Der restringierte Code ist aufs engste mit der ihm zugehörigen Sozialstruktur verflochten, jede Äußerung in ihm erfüllt einen doppelten Zweck: Einmal dient sie ... dazu, gewisse Informationen zu übermitteln, daneben aber ist sie in jedem Fall auch ein Ausdruck, eine Ausschmückung und eine Verstärkung der Sozialstruktur. Diese zweite Funktion ist die eigentlich dominierende“. 218 Vgl. dazu M.-C. L’HUILLIER, L’Empire des mots, 72–79. 314 f. 219 N. DELHEY, s.v. perfrico I 2a , ThLL X 1 Fasc. IX, 1995, 1402; A. OTTO, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890, 130 no. 631: „Durch Reiben des Gesichts will man die Schamesröte gewissermaßen abstreifen oder doch verbergen“; ähnlich C. SITTL, Gebärden der Griechen und Römer, 47. Vgl. Mart. XI 27,1: perfricuit frontem posuitque pudorem. 220 Quint., Inst. XI 3,160: vitiosa enim sunt illa, intueri lacunaria, perfricare faciem et quasi improbam facere, tendere confidentia voltum aut, quo sit magis torvos, superciliis adstringere …. Bildsprachlich benutzt erscheint perfricare frontem in Quint., Inst. IX 2,25 (= H. MALCOVATI, ORF 497).

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Beginn der Rede zu signalisieren und die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken. Wie auch sonst, hat die Zweite Sophistik hier ihre eigenen Manierismen hervorgebracht221: So wissen wir von Philostrat, daß sich Polemo vor Beginn seiner Rede, die er auf Einladung des Kaisers anläßlich der Einweihung des Olympieions in Athen hielt, geradezu ostentativ sammelte. Im sich unmittelbar anschließenden Exordium wies er dann auf die soeben erfahrene Inspiration durch die Gottheit selbst hin; stilistisch pflegte er passend dazu einen exaltierten ‚Orakelstil‘222. Geste, Sprachform und Inhalt werden bei ihm also aufs engste miteinander verküpft; eine geläufige Pose dehnte er über die gebührliche Zeit hin aus und baute damit enorme Spannung im Publikum auf – eine Spannung, die er erst mit seinem Verweis auf die göttliche Eingabe löste. Vergleichbare Inszenierungsweisen fanden mit Eusebius von Caesarea auch in die christliche Herrschaftsrhetorik ihren Eingang, wie das Exordium seiner Tricennalien-Rede zeigt. Die Möglichkeiten der Stilisierung werden dort allerdings in ein Extrem getrieben, das noch über Polemo hinausgeht: Die Rhetorik des Eusebius gibt sich als esoterisch, nur einem Kreis von Eingeweihten zugänglich und hebe sich damit von den „ausgetretenen Pfaden“ der üblichen Panegyrik ab223. Die „neue“ Redekunst wolle diese traditionellen Ansprachen jedoch nicht ersetzen, sondern auf einer höheren Ebene zur Vollendung führen – es gehe ihr nicht mehr darum, die gleichsam diesseitigen Verdienste und Tugenden des Kaisers auszudeuten und zu feiern, sondern seine gottähnlichen  aufscheinen zu lassen224. Dies alles solle im Kreise einiger Auserwählter – tatsächlich wurde die Rede im Sommer 336 am Hofe des Kaiseres gehalten225 – hinter verschlossenen Türen erfolgen, nachdem sie ihre Ohren gesäubert und den Geist für die Regungen der Seele empfänglich gemacht hätten. Nun sei es möglich, in angemessener Weise die „heiligen Riten“ durchzuführen226. Dies alles muß von entsprechenden Gesten und Handlungen 221 Zum der Bewegung der Zweiten Sophistik systeminhärenten Zwang zu oratorischer Selbststilisierung TH. SCHMITZ, Bildung und Macht, 218–229. 222 Philostr., VS 533; inspirierter ‚Orakel-Stil‘ Polemos (  ): VS 542; zur Darstellungsweise Philostrats G. ANDERSON, Philostratus. Biography and Belles Lettres in the Third Century A.D., London u.a. 1986, 104–106. Inspirierte Rede unterscheidet auch Augustin (Doctr. christ. 4,26) als eine besondere Form des oratorischen Auftritts. 223 Eus., l.C. praef. 2. Vgl. auch S.A. BRADBURY, Innovation and Reaction, 44–51. 224 Eus., l.C. praef. 3. 225 Dazu H.A. DRAKE, In Praise of Constantine: A Historical Study and New Translation of Eusebius’ Tricennial Orations, Berkeley/Los Angeles/London 1975, 141 f.; DERS., When was the De Laudibus Constantini delivered?, Historia 24, 1975, 345–356; S.A. BRADBURY, Innovation and Reaction, 44 f. 226 Eus., l.C. praef. 4–5. Vgl. die Anmerkungen von H.A. DRAKE, In Praise of Constantine, 156 f. z.St.

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(Schließen der Türen, Gesten der Sammlung) begleitet gewesen sein, die eine eigentümliche, fast gottesdienst-ähnliche Atmosphäre schufen. Der Panegyrist von 311 war sicher nicht annähernd so dramatisch begabt wie Polemo und sicher weniger an einer transzendierenden Zeichensprache interessiert als Eusebius227. Aber auch er verstand es offenkundig, die visuelle Komponente eines Redeauftritts effektvoll in Szene zu setzen. Denn auch hier gilt, daß die Negierung vor allem der Evokation dient; die Bedeutung symbolischer Elemente der Rededarbietung wird eindrucksvoll unterstrichen. In eine ähnliche Richtung weist auch der Ausdruck vultum componere – nämlich nach dem Gestus auch die Mimik der oratorischen Aufgabe anzupassen. Aber auch mental, inhaltlich und sprachlich (confirmare animum bzw. verba concipere) sowie bei der Darbietung selbst (intrepidanter dicere – Tonfall und Tonhöhe, Stimmführung228 – und apte desinere – den passenden Schluß finden, und zwar bezüglich der Argumentation und des richtigen Zeitpunktes) ist das der Situation Angemessene zu berücksichtigen. Schließlich muß der Redner die Antwort des Herrschers in der entsprechenden Haltung abwarten (exspectare responsum). Daß diese allgemein gültigen oratorischen Richtlinien für eine Rede vor dem Kaiser in besonderer und verschärfter Weise gelten, macht der Vorsatz sub tantae maiestatis adspectu deutlich229. Die Darlegung der Normen der Kommunikation mit dem Kaiser wird jedoch vom Panegyristen für den vorliegenden Fall gleichsam eingeklammert. Die soeben beschriebenen Schwierigkeiten galten in der konkreten Situation angeblich nicht, weil durch das Verhalten Konstantins eine Bittrede, wie sie doch ganz offensichtlich üblich und vorgesehen war, unnötig geworden sei. Um dies zu verdeutlichen, geht der Redner in seiner Rekonstruktion der Ereignisse chronologisch einen Schritt zurück, nämlich zum Beginn der Palastszene: Dem formalisierten Hofzeremoniell Diokletians folgend, erwiesen die zur Audienz vorgelassenen Mitglieder des ordo von 227 Zu diesem Unterschied zwischen klassischer und christlicher Rhetorik der Zeichen vgl. AV. CAMERON, Christianity and the Rhetoric of Empire. The Development of Christian Discourse, Sather Classical Lectures 55, Berkeley/Los Angeles/London 1991, insb. 82–88. 228 A. ROUSSELLE, Parole et inspiration: Le travail de la voix dans le monde romain, History and Philosophy of the Life Sciences 5, 1983, 129–157; M. KORENJAK, Publikum und Redner, 35 f. 57; P. BROWN, Macht und Rhetorik, 68 f. 229 Pan. Lat. 5,9,3; vgl. ebda. imperatorem totius orbem pro se peculiariter rogare. S.A. BRADBURY, Innovation and Reaction, 42 f., versteht die gesamte Passage als Ausdruck der Aufregung des Redners angesichts des feierlichen Anlasses und erlesenen Publikums („vividly describes the trepidation a speaker could feel in the awesome presence of the lord of the world“). Der expressive und offensichtlich konventionelle Stil der Gesten wird bei dieser Deutung übersehen (Bekundung der Aufregung z.B. auch bei Apul., Flor. 9,6 f; 17,12–14); zur Vorbereitung auf eine Rede vgl. auch Synes., Dion 12,4 f.

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Augustodunum demnach dem Kaiser ihre Ehrerbietung. Sie vollzogen die Proskynese, die das strikte Hierarchiegefälle zwischen Kaiser und Untertanen, ihre radikal ungleichen Positionen und das bestehende Rollengefüge augenfällig machte. Dem Hörer oder Leser wird mit diesem Bericht eine Grundkonstellation des Zusammentreffens von Kaiser und Stadtrat präsentiert, die rituell gesichert zu sein scheint und die jedem Zeitgenossen, der je mit dem Hof oder seiner Bildersprache in Kontakt gekommen war, geläufig sein mußte. Konstantin aber hob die Geste der Unterwerfung auf, indem er das Wort an die ihm in dieser Weise Aufwartenden richtete. Auf diesen Vorgang hatte der Panegyrist bereits im Exordium zu seiner Dankrede hingewiesen. Die Szene war dem Redner also offenbar so wichtig, daß er sie ein zweites Mal – und nun an der chronologisch ‚richtigen‘ Stelle im Ablauf der narratio plaziert – anführte. So entsprechen sich: Volui enim, sacratissime imperator, cum in illo aditu palatii tui stratum ante pedes tuos ordinem indulgentiae tuae voce divina porrectaque hac invicta dextera sublevasti, numini tuo gratias agere230

und Has omnes difficultates, imperator, verecundiae nostrae remisisti, non solum ultro percontando quid remedii posceremus sed etiam tibi ipsi suggerendo quae nos tacebamus, dum nos iacentes ad pedes tuos clementissimo attollis adfatu.231

Hält man die beiden Passagen in dieser Weise direkt nebeneinander, erscheint zumindest ein Aspekt der Selbstdarstellung des Redners als unglaubwürdig: Will er sein Publikum in der Einleitung glauben machen, er habe schon während des Adventus an eine spontane Dankrede für Konstantin gedacht, die er nunmehr im passenden Rahmen nachhole, so ergibt sich aus der narratio wie der gratiarum actio insgesamt die viel wahrscheinlichere Variante, daß der Redner für den Kaiserbesuch vielmehr schon im Vorlauf eine Bittrede komponiert hatte, die er dann aber nicht vortragen konnte, weil Konstantin ihm gewissermaßen zuvorkam. Ebendiese Rede baute der Rhetor anscheinend für die Quinquennalienfeier zu einer Dankrede um. Wiederzuverwenden waren dabei vor allem der lange ‚historische‘ Teil mit den Beziehungen zwischen Rom und den Aedui sowie die Darstellung der gegenwärtigen Notlage der Stadt (c. 2–7). Diese Auffassung wird auch von den Anweisungen gestützt, die Menander Rhetor für die Gesandtschaftsrede (  " #!), insbesondere die Bittgesandtschaft232, macht: Neben den üblichen Topoi des Herrscherlobs sollen die &% , die Gnade und das Mitleid des Kaisers betont und die Gewährung von Wohltaten als sein göttlicher Auftrag darge230

Pan. Lat. 5,1,3. Pan. Lat. 5,9,4. 232 Men. Rh. II 423,7: (7 8  8 #%  

H . 231

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stellt werden. Schließlich aber sei über die Stadt selbst zu sprechen. Zwei Topoi werden vorgegeben: Zunächst müsse der alte Ruhm und die frühere Wohlfahrt der Stadt ausgeführt, danach eine lebendige Beschreibung (  %) ihres jetzigen Unglücks eingefügt werden, wobei vor allem auf solche städtischen Einrichtungen hinzuweisen sei, die traditionell Gegenstände kaiserlicher Euergesie bildeten (Aquädukte, Bäder etc.)233. Menander bezeichnet dieses Vorgehen als (!234. Die Parallelen zur gratiarum actio von 311 sind evident; der Festredner hat offensichtlich die ursprünglich für seine preces entworfene, lehrbuchmäßige  % der Nöte Augustodunums beibehalten und um eine zweite und dritte  % (nämlich des Adventus Konstantins bzw. der Privilegierungsszene) ergänzt. Sind hieraus Rückschlüsse auf die ursprüngliche Situation bei dem Herrscherbesuch möglich? Man kann zumindest mit einiger Berechtigung spekulieren, daß die vom Redner eingestandene Kürze von Konstantins Aufenthalt in Augustodunum und die Fülle der zu erledigenden Geschäfte dazu führte, daß der Kaiser das übliche, umständliche Verfahren, Bitten vor den Herrscher zu bringen, abkürzte. Konstantin war im voraus über die Zustände und Probleme vor Ort informiert (cum scires regionum nostrarum aditum atque adspectum tam foedum tamque asperum 235) und kannte vor allem den Erwartungsdruck, der auf einem Kaiser bei einem Adventus stets lastete236. Dies bot ihm und seiner Administration einen gewissen Spielraum für eine zumindest rudimentäre Vorbereitung der zu ergreifenden Maßnahmen; ihr genauer Umfang wird aber wohl in der Stadt selbst erst ad hoc ausgehandelt worden sein. An die Stelle von in einer zusammenhängenden Rede vorgetragenen preces wäre dann, wie der Panegyrist selbst sagt, eine interrogatio seitens des Kaisers getreten (c. 10,5). Für ein solches Verfahren gibt es Vorbilder; ein prominentes Beispiel eines Zwiegespräches zwischen Kaiser und Petenten, das schließlich zur Erfüllung der an den Herrscher gerichteten Forderungen führt, findet sich in der Konstitution Cod. Theod. VII 20,2 pr.1.2. Konstantin besucht aus 233

Men. Rh. II 423,8–25. J. MARTIN, Antike Rhetorik, 288 f., mit weiteren Nachwei-

sen. 234

Men. Rh. II 423,26. Pan. Lat. 5,7,4. Der Passage zufolge offenbar von früheren Reisen, die ihn in die Nähe von Augustodunum führten; da aber ausweislich der Panegyrici ein relativ konstanter Kontakt zwischen der Stadt und Constantius sowie seinem Sohn bestand, wird der Kaiser ohnehin entsprechend unterrichtet gewesen sein. Daß zudem die festgesetzten Abgaben schon seit Jahren ausgeblieben waren, dürfte dem Hof nun vollends nicht entgangen sein. 236 Vgl. A. LEHNEN, Adventus Principis, 87–97; H. HALFMANN, Itinera principum, 59. 124–129. F. MILLAR, Emperor, 31 f., zu der langen Vorbereitungsphase eines Kaiserbesuchs. 235

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dem Dienst zu entlassende Truppen, wird im Praetorium des Lagers von Offizieren und Verwaltungsbeamten begrüßt und von den Soldaten akklamiert. Darauf entspinnt sich ein Dialog zwischen Konstantin und dem Veteranen Victorinus, in dem es um die immunitates der ehemaligen milites geht. Der Kaiser reagiert auf die Forderungen der alten Kämpfer nach angemessener Absicherung mit einer offenbar bereits vorbereiteten Rede, in der er die Privilegien seiner als conveterani titulierten aus dem Dienst scheidenden Soldaten erläutert. Ergänzend wird eine epistula abgefaßt, die sich wohl an alle Veteranen richtete und darüber hinaus an die zuständigen Stellen des fiscus ging237. Dieser Fall liegt etwas anders als das Beispiel von Augustodunum, äußerten die Soldaten doch recht deutlich ihren Unmut und schufen somit eine spezifische Kommunikationssituation. Konstantin fing dies aber auf, indem er nach den Gründen und Ursachen ihrer Beschwerden fragte und auf diesem Weg die Frontstellung abmilderte. Zumindest die Textgestaltung der Konstitution will jedenfalls den Eindruck erwecken, daß hier der Feldherr, der einst selbst Kämpfer – insofern conveteranus – gewesen sei, im militärisch-unkomplizierten Dialog mit seinen verdienten Soldaten auf deren berechtigte Anliegen eingeht. Die rituelle Akklamation bildet hierzu nur Einleitung und Rahmen; weitere zeremonielle Rücksichten scheinen gerade nicht genommen worden zu sein. Bei dem Adventus Konstantins in Augustodunum waren nach Darstellung des Panegyristen hingegen weder Bitten noch Klagen vonnöten: Der Anblick der Landschaft hatte den Kaiser über die drängenden Probleme aufgeklärt – und seine Entscheidung prädisponiert, ganz wie Quintilian bereits wußte, daß bisweilen allein der optische Eindruck ausreicht, um das Urteil festzuschreiben: postremo aspectus etiam ipse sine voce … sententiam dictat238. Sowohl die Konstitution als auch die Dankrede beschreiben, bezogen auf den jeweiligen Adressatenkreis, jeweils die ‚ideale‘ Form des Umgangs mit dem Herrscher: offener Austausch. Spontaneität mag dabei in keinem der Fälle tatsächlich den Ausschlag gegeben haben; sie war aber erkennbar ein wesentlicher Aspekt der Darstellung herrscherlichen Handelns. Es gehörte dabei unbestritten zu den Grundelementen der Selbststilisierung des Kaisers, auf den stets und auch ungefragt fließenden Strom seiner Wohltaten hinzuweisen239. In einem mit Augustodunum in mancher Hin237 Vgl. dazu A.H.M. JONES, Later Roman Empire, 359, S. CORCORAN, Empire of the Tetrarchs, 257–259. 238 Quint., Inst. II 15,6. 239 Vgl. zu diesem Konzept des scheinbar uneigennützig handelnden Wohltäters, der sich aber gerade durch die vermeintliche Interesselosigkeit die Empfänger verpflichtet und so soziale Macht absichert T.R. STEVENSON, The Ideal Benefactor and the Father

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sicht vergleichbaren Fall im 2. Jh. betonte der Princeps – Caracalla – genau diesen Umstand: Der Stadt Banasa in der Mauretania werden in einem Edikt die aufgelaufenen, aber gerichtlich umstrittenen Fiskalschulden in der Erwartung erlassen, daß die Stadt diese indulgentia durch die Stellung von viri fortes für militärische und zivile Aufgaben (officia castrensia atque civilia) und durch die Lieferung von Elefanten abgelten werde, die der Kaiser für seinen Partherfeldzug benötigte. Zudem äußerte er Zuversicht, daß Banasa in Zukunft die jährlichen Abgaben in Getreide und Geld um so bereitwilliger und reibungsloser abliefere. Dies gelte um so mehr, als er dieses Privileg aus eigener Initiative erteilt habe, ohne daß die Stadt darum bitten mußte: hoc beneficio meo praesumo omnes de cetero annuas pensitationibus sive in frumento seu in pecunia eo promptius daturos quo me reputabitis non expectasse quin ultro offerrem neque petentibus vobis neque sperantibus nova remedia et magnificam indulgentiam.240

Sowohl die Konstellation als auch die Stilisierung sind der im Panegyricus beschriebenen Situation sehr ähnlich: ein Kaiser in Vorbereitung eines Feldzuges, eine mit Steuerschulden beladene Stadt, die jedoch über strategische Ressourcen verfügt, Darstellung des kaiserlichen Schuldenerlasses als remedia, Betonung des spontanen Charakters der Wohltat und der besonderen Gnade, den Vertretern der Stadt das Bitten zu ersparen241. Der Analogy in Greek and Roman Thought, CQ 42, 1992, 421–436, hier 242: „We have an ideal benefactor unconcerned about recompense but ideal beneficiaries completely concerned with it.“ 240 AE 1948, 109 (Bronzetafel, 215/216). Ich folge hier der von H. FREIS, Historische Inschriften zur römischen Kaiserzeit von Augustus bis Konstantin, Darmstadt 1984, 221, vorgeschlagenen Übersetzung. F. MILLAR, Emperor, 429 f., nimmt dagegen an, daß Caracalla mit dem quin ultro offerem- Satz weitere Hilfsmaßnahmen für die Zukunft ausschließt und übersetzt: „I do not anticipate making future grants, while you should neither request nor expect renewed assistance or munificent indulgence“; die Unterschiede ergeben sich aus einem abweichenden Verständnis von me non expectasse und ultro (i.S. von ‚ich habe nicht vorgehabt, darüberhinausgehend neuerliche Hilfe zu leisten‘ oder ‚ihr habt von mir nicht erwartet, daß ich unerwartet und unaufgefordert Hilfe leisten würde‘?). Der Sinn der Stelle lautet gemäß der Übersetzung von Freis: Die Einwohner von Banasa werden sich bei allen künftigen Steuerterminen daran erinnern, daß sie nicht erwartet hatten, der Kaiser würde aus eigenem Antrieb (ultro) einen Schuldenerlaß verkünden – und sich wegen dieser Großzügigkeit besonders verpflichtet fühlen, die Abgaben nunmehr stets pünktlich abzuliefern. Diese Interpretation würde auch erklären, warum die Privilegierung untypisch in einem Edikt verkündet wurde: auf diese Weise ließ sich auch formal die Initiative des Herrschers hervorheben. Caracalla befand sich Ende 215 und Anfang 216 in Ägypten und wurde wohl dort von einer Gesandtschaft aus Banasa aufgesucht; zum Itinerar des Kaisers H. HALFMANN, Itinera principum, 223–230, insb. 224 f. 229 f. 241 Ähnlich H. DITTENBERGER, SIG3 814, Z. 10–12 u. 21 f. (Nero gewährt in der inschriftlich überlieferten Rede Griechenland Befreiung vom Tribut mit dem ausdrückli-

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Terminus indulgentia wird in diesem Edikt in einem technischen Sinn verwendet: Er bezeichnet nicht unspezifisch die Großzügigkeit des Herrschers, sondern eine individuelle Privilegierung als Akt kaiserlicher Gnade, eine Amnestie. Unter Diokletian verfestigte sich der Gebrauch des Begriffs als terminus technicus weiter242. Der Panegyrist von 311 spielt jedoch mit beiden Bedeutungsebenen des Wortes: Im Exordium weist die Formulierung indulgentiae tuae voce divina auf die indulgentia als Eigenschaft des Kaisers hin (c. 1,3; vgl. 11,2), in der narratio ist indulgentia aber prägnant zu verstehen als Vergünstigung oder Privileg (c. 8,3: quasi iam indulgentiam quam daturus eras haberemus; vgl. 12,6); es ist ein Schwanken zwischen panegyrischer und administrativer (Urkunden-) Sprache. Eine Reihe von doppeldeutigen Stellen, an denen sowohl die eine als auch die andere Lesart denkbar sind, macht deutlich, daß für den Redner eine Verbindung zwischen der Großzügigkeit als Charakterzug Konstantins und den von ihm gewährten Privilegien bestand243. Das Wesen des Herrschers manifestierte sich dieser Lesart zufolge also in – nur vermeintlich bürokratischen – Vorgängen wie Schuldenerlaß und Steuersenkung244. chen Hinweis, dies sei weder eine Reaktion auf entsprechende Bitten noch eine Handlung aus Mitleid, sondern vielmehr Ausdruck seines Wohlwollens); vgl. F. MILLAR, Emperor, 430. Die Erteilung eines Privilegs, ohne darum bitten zu müssen, hebt auch Apuleius (Flor. 16,25–27) hervor. 242 Vgl. S. CORCORAN, Empire of the Tetrarchs, 51; G. SCHIEMANN, Art. Indulgentia, DNP 5, 1998, 990. 243 Doppeldeutig bleiben Pan. Lat. 5,10,4: indulgentiae celeritate; 11,2; 13,4. Die historische Semantik des Begriffs zwischen Principat und Spätantike hat J.-M. Carrié untersucht. Er gelangt zu dem Ergebnis, daß indulgentia und verwandte Termini ihre Bedeutung als Charaktereigenschaften (Tugenden) auch in der Spätantike beibehalten, parallel dazu aber Spezialbedeutungen annehmen, die spezifische Bereiche der kaiserlichen Regierungstätigkeit bezeichnen (etwa liberalitas als kaiserliche Rechtsprechung im Bereich des Eigentumsrechts). Diese Polysemie bleibt den Begriffen inhärent: Sie bezeichnen sowohl den technischen als auch den ‚ideologischen‘ Aspekt der Maßnahme: J.-M. CARRIÉ, La „munificence“ du prince, 411–430. Vgl. auch H. KLOFT, Liberalitas Principis – Herkunft und Bedeutung. Studien zur Principatsideologie, Kölner historische Abhandlungen 18, Köln/Wien 1970, 61 f. 244 M.-C. L’HUILLIER, L’Empire des mots, 329–331, hat die in den einzelnen Reden der XII Panegyrici Latini jeweils auf den Kaiser bezogenen virtutes zusammengestellt. Es läßt sich daraus für die Dankrede von 311 folgendes Ergebnis gewinnen: Im Panegyricus V werden vergleichsweise wenige Herrschertugenden gepriesen (neun, dagegen jeweils 17 in den konstantinischen Panegyrici von 310 und 313), und diese Tugenden liegen thematisch eng beieinander (felicitas, indulgentia, clementia, aequitas, patientia, pietas, providentia, lenitas, liberalitas, wobei die virtutes nach der Zahl ihrer Nennungen – zwischen siebenmal und einmal – absteigend geordnet sind). Auch wenn nicht alle Einträge für indulgentia primär die Tugend meinen und z.B. die iustitia von L’Huillier nicht erfaßt wurde, ergibt sich doch ein eindrucksvolles Bild: Als Haupteigenschaft Konstantins wird die für seine Untertanen glückverheißende Milde und Zuwendung zu seinen Untertanen dargestellt.

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Auch hier schlägt eine Tendenz zur Personalisierung und Ethisierung staatlichen Handelns durch245. Sie zeigt sich vor allem im Verzicht auf Geschäftsordnung und Zeremoniell und betont damit die charismatische Komponente des Herrschertums. d) Ein Kaiser in Tränen Die dem Kaiser angeborene Milde und Großzügigkeit drängten ihn demnach zum Eingreifen. Konsequent wird er als der eigentlich Handelnde stilisiert; der aktive Part Konstantins machte eine städtische Initiative zur Erringung als notwendig und angemessen erachteter Privilegien obsolet; preces mußten nicht erst vorgebracht werden bzw. wurden durch eine direkte Befragung ersetzt. Dies beraubte den Panegyristen aber auch der Möglichkeit, in seine gratiarum actio die Paraphrase der geplanten, aber ja nicht mehr zur Ausführung gelangten Bittrede einzufügen und so den mündlichen Austausch (und sein eigenes Verdienst als erfolgreicher Redner bzw. Emissär) als Ursache für die erfahrenen Wohltaten darzustellen. Elemente der nonverbalen Kommunikation rückten dadurch fast zwangsläufig noch stärker in den Mittelpunkt des Interesses. Die entscheidenden Akte, die zur Privilegierung führten, vollzogen sich demnach in einer Kombination von Mimik, Gestus und der Performanz des Worts. Unter diesem Aspekt gestaltete sich die Szene wie folgt: Konstantin hob die Proskynese der Dekurionen von Augustodunum durch Wort und Geste (vox und manus, c. 1,3) auf und schuf damit die nötige Ausgangsbasis für die folgende interrogatio von Angesicht zu Angesicht246. An diese symbolische Handlung schloß sich die Frage des Kaisers an, welche Hilfe die Stadt anfordere. Als er eine zurückhaltende oder ausweichende Antwort erhielt, unterbreitete Konstantin nunmehr einen eigenen Vorschlag, der das Unausgesprochene, aber faktisch Notwendige beim Namen nennt (quae nos tacebamus, c. 9,4). Bekräftigung und Beglaubigung – und gerade darauf scheint es dem Redner anzukommen – erfuhr die Initiative Konstantins aber wiederum in non-verbaler, symbolischer Kommunikation: Vidimus misericordiam tuam umentibus oculis eminentem. Ibant per haec ora lacrimae nobis salutares, tibi gloriosae; et nos invicem iam dolore discusso flebamus gaudio. Nam sicut agros diuturno ardore sitientes expetitus votis imber ubertat, ita lacrimae tuae pectora nostra gaudiis inrigabant ut, quamvis nefas esset te flente laetari, vinceret tamen gratulatio religionem, cum lacrimae illae pietatis essent indices non doloris.247 245 Vgl. zum Muster auch [Ael. Aristid.], Or. 35,16–18, dazu L. PERNOT, Éloges grecs de Rome, Paris 1997, 126. 129–134; zur ethisierenden Tendenz J.A. STRAUB, Herrscherideal, 149–159. 246 Zu einer alternativen Interpretation von J.-M. CARRIÉ s. oben. 247 Pan. Lat. 5,9,5/6.

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Angesichts der Lage der Stadt treten Konstantin Tränen in die Augen und laufen die Wangen hinab. Daraufhin beginnen auch die Kurialen zu weinen, freilich aus Freude über die Anteilnahme des Kaisers und die dadurch zu erwartenden Wohltaten. Es ist davon auszugehen, daß der Panegyrist dieses Ereignis zumindest in den Grundzügen zutreffend wiedergibt; angesichts eines Publikums, das zum Teil aus dem engsten Umkreis des Kaisers bestand, und angesichts der Anwesenheit Konstantins selbst waren freier Erfindung des Redners enge Grenzen gesetzt. Sowohl der Kaiser als auch die Dekurionen, soviel ist festzuhalten, bedienten sich also der expressiven Zeichensprache der Emotionen. Die moderne Frage, ob diese Gefühle wirklich empfunden oder nur vorgespielt waren, stellte sich dabei nicht in derselben Weise248. Doch ging auch die antike Rhetoriktheorie davon aus, daß nur wahre Emotionen ein Publikum zu bewegen vermochten. Man entwickelte daher regelrechte Techniken, wie sich der Redner mit Hilfe seiner Imaginationskraft in den gewünschten Gefühlszustand versetzen konnte249. Es gab in der Antike also eine explizite Kunstlehre der Produktion gleichermaßen aufrichtiger und überzeugender Emotionen in einem konventionellen Rahmen, ohne die das Verhalten Konstantins und seine Bewertung nicht richtig verstanden werden können. Wie eine auf diesen Prinzipien basierende miseratio aussehen konnte, zeigt das Referat der entscheidenden Phase einer Verteidigungsrede für M.’ Aquilius, das Cicero dem Antonius in de Oratore in den Mund legt und das wegen des Einblicks in die oratorische Praxis ausführlich zu zitieren lohnt: quem [sc. Aquilium] enim ego consulem fuisse, imperatorem ornatum a senatu, ovantem in Capitolium ascendisse meminissem, hunc cum adflictum, debilitatum, maerentem, in summum discrimen adductum viderem, non prius sum conatus misericordiam aliis commovere quam misericordia sum ipse captus. Sensi equidem tum magno opere moveri iudices, cum excitavi maestum ac sordidatum senem et cum ista feci, quae tu, Crasse, laudas, non arte, de qua quid loquar nescio, sed motu magno animi ac dolore, ut discinderem tunicam, ut cicatrices ostenderem. Cum C. Marius maerorem orationis meae praesens ac sedens multum lacrimis suis adiuva248 Für die historische Mediävistik hat sich G. ALTHOFF, Der König weint. Rituelle Tränen in öffentlicher Kommunikation, in: „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. J.-D. Müller, Germanistische Symposien – Berichtsbände 17, Stuttgart/Weimar 1996, 239–252, mit Emotionalität oder Konventionalität der Tränen des Herrschers auseinandergesetzt und sie als „demonstrativen und rituellen Bestandteil“ von öffentlichem, inszeniertem Geschehen ausweisen können. Den Tränen seien dabei jeweils detaillierte Absprachen zwischen den Beteiligten vorausgegangen (250–252). 249 Cic., de Orat. II 189–196; vgl. Quint., Inst. VI 2,28–31; dazu P.H. SCHRIJVERS, Invention, imagination et théorie des émotions chez Cicéron et Quintilien, in: Actus. Studies in Honour of H.L.W. Nelson, ed. by J. den Boeft/A.H.M. Kessels, Utrecht 1982, 395–408, insb. 397; vgl. A. VASALY, Representations, 88–104.

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ret ..., non fuit haec sine meis lacrimis, non sine dolore magno miseratio omniumque deorum et homnium et civium et sociorum imploratio.250

Hier sind gleich mehrere für die antike Konzeption von rhetorisch wirksamen Emotionen relevante Aspekte versammelt: die Selbstaffizierung des Redners, der sich den früheren Ruhm und das Ansehen seines Mandanten in Erinnerung ruft und mit der Schmach vergleicht, die diesem nun widerfährt (er wird in der Rede ausführlich auf diese Punkte eingegangen sein, um auch die Adressaten seines Plädoyers aufzuwühlen), die Visualisierung der äußeren Zeichen des Ruhmes wie der Erniedrigung, schließlich das äußerste Mittel, Aquilius selbst aufzurufen, seine Tunika zu zerreißen und dem Publikum die Narben des alten Mannes zu zeigen – und damit der Übergang von (entechnischer) Imagination zu (atechnischer) Präsentation. Antonius leugnet zwar, sich an den Lehren der Rhetorik zu orientieren (non arte), doch folgt sein Referat im wesentlichen gerade den loci, die Technographen wie der Auctor ad Herennium und Cicero selbst in seinem Frühwerk de inventione für die miseratio anführen251. Es bleibt festzuhalten: Status und Statusverlust manifestieren sich ebenso in äußeren Zeichen und symbolischen Handlungen, wie die Gesellschaft mit äußeren Zeichen und symbolischen Handlungen der Zustimmung, der Ablehnung beziehungsweise des Mitleids auf Veränderungen der sozialen Stellung ihrer primores reagiert. Daß die Kommunikation zwischen Redner und Publikum gelungen ist, zeigen die auf beiden Seiten vergossenen Tränen252; C. Marius macht sich zum wirkungsvollen Fürsprecher seines ehemaligen Legaten Aquilius, indem er in das Weinen des Antonius einstimmt und so nicht nur sein Mitleid mit dem Angeklagten, sondern auch seine Ablehnung der Anklage deutlich macht. Es fällt auf, daß die Frage von Schuld und Unschuld nicht gestellt wird – was zählt, sind die Zeichen, die Verdienst und Stand durchscheinen lassen. Dabei galt es stets genau zu beobachten, wer um wen weinte. Tränen verfügten also über einen bedeutenden Zeichenwert und besaßen als Kommunikationsmittel zwischen den Mächtigen und der Masse der Bevölkerung eine lange Tradition (s.u.) – es ist, wie Tolstoi es in anderem Zusammenhang ausdrückt, „als wären Tränen das unentbehrliche Öl für das Räderwerk gegenseitigen Meinungsaustausches“253. Der verbale Anteil an der Kommunikation zwischen Konstantin und dem Stadtrat von Augu250 Cic., de Orat. II 195 f.; vgl. Quint., Inst. II 15,7. P.H. SCHRIJVERS, Invention, 399 f.; V. PÖSCHL, Anwesende Personen, 207–209. 251 Insb. Rhet. Her. II 50; Cic., Inv. I 106–109 (s.u.). 252 Augustin., Doctr. christ. 4,76, wertet so die Bewegung (moveri) des Adressaten als ein „Zeichen des Siegs“ für den Orator. 253 L.N. TOLSTOI, Anna Karenina, aus dem Russischen übersetzt von Fred Ottow, München 142002 (russ. Original Moskau 1878), 155.

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stodunum gerät damit noch einmal deutlich in den Hintergrund; in der Darstellung des Panegyristen wird die Kommunikation mit Worten – die interrogatio und die Antwort des Kaisers darauf – eingerahmt durch die nichtsprachlichen Elemente der Proskynese und ihrer Aufhebung sowie des gemeinsamen Weinens der Akteure, das heißt durch nicht-sprachliche Zeichenketten, die eine eigene, allgemein bekannte Rhetorik besaßen. Der Redner macht sich bei dieser Anordnung der Elemente den inhärenten und kulturell vermittelten Bedeutungsüberschuß symbolischer Handlungen und nach außen gewendeter Emotionen zunutze. Die Sprache des Körpers sollte dabei Hintergrundinformationen über das Verhältnis der Kommunikationspartner zueinander vermitteln, die nicht eigens verbalisiert wurden – und unter den Bedingungen des post-diokletianischen Machtgefüges wohl auch nicht verbalisiert werden konnten. Die symbolische Interaktion zwischen Kaiser und ordo, die der Panegyrist dem Trierer Publikum und dem Kaiser in suggestiven Bildern vor Augen stellt, nimmt eine zentrale Stellung jedoch nicht nur in der Beschreibung des Herrscherbesuchs in Augustodunum, sondern auch im Aufbau der gesamten Rede ein. Sie stellt das Bindeglied zwischen der in dieser Szene kulminierenden historisch gewachsenen amicitia, die Rom und die Aedui, aber auch Augustodunum und das Haus der Flavier eint, der Bestätigung dieser Freundschaft im Akt des Steuererlasses sowie der glückverheißenden Zukunft her. Zugleich arrangiert der Festredner seinen Stoff so, daß die zeichenhaften Handlungen im palatium von Augustodunum ein neues Element in die bereits lange Kette von Leistungen und Gegenleistungen einzufügen und die Bindung zwischen den beiden Akteuren mit einer emotional aufgeladenen Geste rituell zu bekräftigen scheinen. e) Vom Zeichenwert der Tränen und der Funktion des Mitleids Um die Funktion der Passage besser verstehen zu können, soll im folgenden der Referenzbereich, der historisch gewachsene Bedeutungsspielraum und schließlich das Sinnpotential, das mit dem Motiv des weinenden Kaisers bei den Adressaten abzurufen war, genauer untersucht werden. Weinende „Helden“ und Leitfiguren sind weder der griechischen noch der römischen Antike fremd: Die homerischen Heroen sind bekannt für ihre Tränenausbrüche254; Herodot zeigt die persischen Großkönige in Tränen255; und Scipio ebenso wie Aemilius Paullus weinen in den Ruinen gefallener Städte angesichts der Unbeständigkeit des menschlichen Schicksals, die gerade ihre eigenen Siege über einst strahlende Mächte wie Karthager und 254 Vgl. I. W ÆRN, Der weinende Held, Eranos 83, 1985, 223–229; zur Verarbeitung des Motivs bei Vergil: R. RIEKS, Die Tränen des Helden, in: Silvae. FS E. Zinn zum 65. Geburtstag, hg. v. M. von Albrecht, Tübingen 1970, 183–198. 255 ST. F LORY, Laughter, Tears and Wisdom in Herodotus, AJPh 99, 1978, 145–153.

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Makedonen unter Beweis stellten256. Reich sind Fälle des Weinens von Bittstellern und von um Schutz oder Vergebung Flehenden belegt, und zwar auch unter Einschluß von sozial hochstehenden Personen257. Diese Auflistung ist notwendigerweise unvollständig und umfaßt aus systematischen Gründen zudem nur solche Beispiele, die außerhalb des Kontextes der Trauerklage, der lamentatio stehen. Sucht man weiter gezielt nach Parallelstellen für das Motiv des weinenden Princeps – wiederum unter Auslassung des Weinens als Ausdruck von Trauer um einen Verstorbenen –, stößt man etwa bei Sueton auf eine ganze Reihe von Situationen, in denen die Tränen des Herrschers um Unterstützung angesichts einer politischen und/oder militärischen Krise werben sollten. Hier lassen sich zwei Grundmuster erkennen, die sich zum Teil überlagern: zum einen das Weinen als Geste der Selbst-Auslieferung258, zum anderen das Vergießen von Tränen aus Verzweiflung über den gegenwärtigen Zustand der Anomie und als Appell zur Rückkehr zu den elementaren Tugenden des Zusammenlebens259. Näher noch an die im Panegyricus beschriebene Konstellation führen zwei Stellen bei Philostrat: Beide Male wird vor Augen geführt, wie Marcus Aurelius von der Schilderung der Leiden seiner Untertanen so sehr ergriffen wird, daß er vor Kummer aufstöhnt und in Tränen ausbricht. In dem einen Fall geschieht dies während des Prozesses der Athener gegen Herodes Atticus, in dem anderen als Reaktion auf die Monodie des Aelius Aristides angesichts der Zerstörung Smyrnas durch ein Erdbeben260. Schon diese exemplarische Zusammenstellung von Zeugnissen für den weinenden Kaiser zeigt den doppelten Aspekt herrscherlicher Tränen: Sie 256 App., Pun. 132,628–630; Plb. X 18,13; Liv. XLV 4,2 f.; vgl. I. BORZSÁK, Lachen und Weinen, AAntHung 38, 1998, 287–290, insb. 288 f. 257 Vgl. nur Tac., Ann. XIV 33,1; Hist. II 29; Cic., Lig. 5,13: nos petimus precibus ac lacrimis, strati ad pedes; dazu die knappen Ausführungen von R. MACMULLEN, Romans in Tears, CPh 75, 1980, 254 f. 258 Etwa Suet., Caes. 33,1: atque ita traiecto exercitu, adhibitis tribunis plebis, qui pulsi supervenerant, pro contione fidem militum flens ac veste a pectore discissa invocavi (nach dem Überschreiten des Rubikon). Vgl. Suet., Nero 43,2 (geplante Selbstauslieferung Neros unter Tränen an die rebellierenden Truppen Galbas). Ähnlich liegt auch der Fall des Galerius – allerdings ohne daß Tränen erwähnt werden – , der sich vor den Toren Roms angesichts von massiven Absetzbewegungen ganzer Truppenteile, die zu Maxentius überliefen, seinen Soldaten zu Füßen warf und so wenigstens die noch verbleibenden Einheiten zusammenhalten und sich geordnet zurückziehen konnte: Lact., Mort. pers. 27,4: ille [sc. Galerius] fracta superbia dimissisque animis Severi exitum metuens ad pedes militum provolutus orabat ne hosti traderetur. 259 Suet., Tit. 9,3–10,1: nonnumquam secreto precibus et lacrimis orans, ut tandem mutuo erga se animo vellet esse (Titus gegenüber dem gegen ihn intrigierenden Domitian). 260 Philostr., VS 561. 582; vgl. zu letzterem auch Amm. XXII 9,3 f. (Julian im erdbebenzerstörten Nikomedien).

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sind ein Aufruf des princeps an seine cives, den sozialen Zusammenhalt und damit die Fortexistenz der res publica überhaupt zu wahren, dokumentieren aber auch sein Mitleid und seine Bereitschaft zur Hilfeleistung für die durch Machtmißbrauch einzelner bzw. durch Naturkatastrophen unverschuldet in Not geratene Bevölkerung. Die beiden Aspekten zugrundeliegenden Leitideen sind die der pietas261 und der fides262, der angesprochene Affekt ist der der misericordia263. Sowohl narrative Quellen als auch inschriftlich überlieferte Reskripte der Kaiser machen deutlich, daß der Aspekt des Bewegt-Seins, des moveri/motum esse beziehungsweise / regelmäßig als Grund für eine kaiserliche Maßnahme zugunsten der Bittsteller angeführt wurde264. Dies entspricht der Rhetoriktheorie, die rednerischen Erfolg in erster Linie auf die gelungene Affizierung des Publikums zurückführte. Ging es um Anliegen in eigener Sache, so war es geboten, Wohlwollen und eben Mitleid zu erwecken, sowie gegebenenfalls – sobald eine Gegenpartei auftrat – negative Gefühle auf die Widersacher zu lenken265. Die frühen römischen Rhetoriker haben ein noch weiter differenziertes und für rhetorische Zwecke in loci aufgearbeitetes System der Ursachen von Mitleid – und damit auch der Mittel zur Erregung von Mitleid – von ihren hellenistischen Vorbildern übernommen. So bestimmt Cicero in seinem Frühwerk über die Auffindung des Stoffes für den Schlußteil einer Rede (conclusio) drei Teile (partes)266: die enumeratio, also die aufzählende Zusammenfassung der zuvor bereits dargelegten Argumente und eine wiederholende Klarstellung der Gliederung der Rede; die indignatio, durch die Empörung auf die Gegenpartei gezogen werden soll; und schließlich die conquestio, das Klagen, wodurch man das Mitleid der Zuhörer gewinnen will. 261 Zur pietas vgl. auch c. 10,1. In den Panegyrici bedeutet pietas vornehmlich die Zuwendung des Herrschers zu seinen Untertanen bzw. die Loyalität der Untertanen, in den Festreden der Dyarchie insb. auch die Eintracht der Kaiser; vgl. R.H. STORCH, Perfect Prince, 73 f.; R. SEAGER, Imperial Virtues, 163 f. 262 A. STERN, Philosophie des Lachens und Weinens, ÜA 18, Wien/München 1980 (frz. 1949), insb. 53–55. 139–145. 172–194, hat Lachen und Weinen aus philosophischanthropologischer Perspektive untersucht und kommt zu dem Schluß, daß das Weinen grundsätzlich der Affirmation von Werten diene, seine soziologische Funktion daher die des sozialen ‚Zements‘ sei (193). 263 Nahezu denselben Referenzbereich scheinen auch die rituellen Tränen des frühmittelalterlichen Königs besessen zu haben; vgl. G. ALTHOFF, Der König weint, 242 f. (Totenklage, Reue/Buße, Bittflehen, misericordia, Abschied). 264 Vgl. Corpus Agrimensorum Romanorum I 1 p. 41, Z. 21 f. (Thulin): legationum miseratione commotus est; P. Rendel Harris 67 col. II, Z. 15 f.; F. MILLAR, Emperor, 444 f. 243 f. 265 Die indignatio, vgl. Cic., Inv. I 100. 266 Cic., Inv. I 100.

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Cicero nennt nun allein 16 loci, die zur Erregung von Mitleid eingesetzt werden können. Dabei solle man am Anfang auf Gemeinplätze zurückgreifen, die die Macht des Schicksals über die ihm hilflos ausgelieferten Menschen zum Ausdruck bringen (per quos fortunae vis in omnes et hominum infirmitas ostenditur)267. Auf den konkreten Fall bezogen sei das frühere Wohlergehen des Betroffenen mit seiner jetzigen Notlage zu kontrastieren, also die Fallhöhe und das Unwürdige der gegenwärtigen Situation deutlich zu machen (primus und quartus locus). Neben einer zeitlichen Differenzierung (secundus locus) biete sich auch eine Aufzählung der einzelnen Aspekte dieses Unglücks (tertius locus) an, die möglichst eindrücklich sein und dem Prinzip der evidentia folgen soll (quintus locus). Effizient sei auch der Verweis auf die Plötzlichkeit, mit der die Unbill eingetreten ist (sextus locus). Eine Reihe von loci gilt schließlich dem Umstand, daß das Unglück unverdient ist und von anderen gegen alle Konventionen schändlich herbeigeführt wurde (so der tertius decimus locus), daß seine Begleitumstände und Folgen die Erfüllung sozialer Pflichten unmöglich machen (octavus locus), zu Schwäche und Schutzlosigkeit führen (decimus locus) und soziale wie auch emotionale Bindungen zerstören, den Verlust von Freunden und Verwandten bewirkt haben (duodecimus locus). Kunstgriffe, die sich auf die Art des Vortrages beziehen, beinhalten der Ratschlag, eine fiktive Ansprache an Besitztümer einzufügen, die man eingebüßt hat, so an das Haus, an seine Kleidung, an sein Pferd usw. (nonus locus), und die Empfehlung, unterwürfig und mit flehender Stimme zu reden268 (quartus decimus locus). Wirkungsvoll ist es demnach auch, Altruismus und Großmut zu zeigen: Man beklagt nicht das eigene Schicksal, sondern das Unglück von Nahestehenden (quintus decimus locus); das eigene Elend wird nicht nur mit Würde ertragen, man empfindet sogar noch immer Mitleid gegenüber anderen (sextus decimus locus). Und auf die Zuschauer bezogen möge man daran appellieren, daß sie den Fall mit den Augen eines unmittelbar Betroffenen betrachten, daß sie im Redner eine ihnen selbst nahestehende Person erblicken – ihr Kind, ihre Mutter oder ihren Vater, jemanden, dem man sich eng verbunden fühlt (septimus locus)269. In ähnlicher Weise verfährt der Auctor ad Herennium, der zu großen Teilen aus denselben Quellen wie Cicero schöpft270. Mit dieser systematischen Aufgliederung der conquestio in eine Reihe von loci sind jedoch nur die sprachlichen Mittel zur Erregung von Mitleid genannt. Eine ausformulierte Affektenlehre, die die Voraussetzungen und 267

Cic., Inv. I 106. Vgl. Quint., Inst. XI 3,170: flexum vocis et flebilem suavitatem, qua praecipue franguntur animi quaeque est maxime naturalis. 269 Cic., Inv. I 106–109. 270 Rhet. Her. II 50. 268

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Mechanismen des Mitleides philosophisch erläutert, findet sich in Ciceros de inventione nicht. Jedoch lassen sich aus den angeführten loci einige Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden Vorstellungen ziehen. Mitleid entsteht nach römisch-antiker Auffassung also vor allem aus einer wahrgenommenen Inkongruenz von gebührender sozialer Stellung und aktuellen materiellen oder familiären Verhältnissen271. Wird es durch das erlittene Unglück einem angesehenen Bürger unmöglich, seine gesellschaftlichen Verbindungen zu pflegen und die damit verknüpften Pflichten zu erfüllen, und werden dadurch seine dignitas und auctoritas bedroht, kann es ihm gelingen, durch den Appell an das Erbarmen große Sympathien für seine Anliegen zu erringen. Je tiefer der unverdiente Fall sich darstellt, desto größeres Mitleid der Mitbürger ist zu erwarten. Ein weiterer Faktor ist die Haltung, mit der das Unglück ertragen wird; hier scheinen sowohl heroisches Erdulden als auch inständiges Flehen um Hilfe auf wohlwollende Reaktionen hoffen zu können. Von besonderer Bedeutung ist dabei, daß sich eine affektive Nähe zu dem schuldlos in Not Geratenen herstellen läßt. Cicero scheint dabei vor allem im Blick zu haben, die Adressaten dahin zu bringen, daß sie es als ihre moralische Verpflichtung und ihren daraus entspringenden Wunsch betrachten, dem Betroffenen ihren Schutz zukommen zu lassen. Durch ihr Eingreifen soll in erster Linie ein Zustand sozialen Ungleichgewichtes korrigiert und die gesellschaftliche Ordnung wieder hergestellt werden. Hier läßt sich die Schnittstelle zwischen rhetorischer Kunstlehre und der Begründung herrscherlichen Handelns verorten. Denn dem Panegyricus des Plinius etwa ist zu entnehmen, daß gerade die Wiederherstellung der guten Ordnung, das corrigere und reformare, schließlich zur klassischen Aufgabe des Princeps wurde272. Sieht man die Lehren der römischen Redekunst mit der Rhetorik kaiserlicher Reskripte zusammen273, erweist sich als ‚ideologisches‘ Movens für das Handeln des Herrschers der aus dem oben umrissenen Verständnis von Mitleid erwachsene Wunsch, die dignitas und den aktuellen Status der ihrem Schutz Empfohlenen miteinander in Übereinstimmung zu bringen – und zwar nicht so sehr aus individuellem Wohlwollen heraus, sondern als notwendige Voraussetzung für die Beständig271

Vgl. auch E. FLAIG, Ritualisierte Politik, 110–120. Plin., Paneg. 53,1. 273 D.V. SIMON, Konstantinisches Kaiserrecht. Studien anhand der Reskriptenpraxis und des Schenkungsrechts, Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte 2, Frankfurt a.M. 1977, 45–49, macht insbesondere unter Konstantin – durchaus im Unterschied zur diokletianischen Zeit – ein Vordringen der rhetorischen Ausdrucksweise in die Formulierung der Konstitutionen aus. Grundsätzlich zu rhetorischen Elementen in der Kaisergesetzgebung insb. der Spätantike W.E. VOSS, Recht und Rhetorik in den Kaisergesetzen der Spätantike. Eine Untersuchung zum nachklassischen Kauf- und Übereignungsrecht, Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte 9, Frankfurt a.M. 1982, 39–80. 272

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Zweiter Teil: Stadt und Kaiser

keit der römischen Ordnung. Mitleid ist also gleichsam ein politischer Affekt. Handelt es sich hier um rhetorisches Allgemeingut oder doch um ein Spezifikum, das in der Gesellschaft Roms in besonderer Weise verankert war? Ein Blick auf die Rhetorik des Aristoteles vermag Auskunft zu geben. In der redetheoretischen Schrift des Aristoteles findet sich eine umfangreiche Kategorisierung der verschiedenen Affekte274. Der Philosoph versieht die einzelnen Emotionen, mit denen ein Redner konfrontiert wird, dabei zum einen mit Erläuterungen zu ihrer Genese, zum anderen mit Anweisungen zum rhetorischen Umgang mit ihnen (Rh. II 1–11). Dies gilt nicht zuletzt für seine Ausführungen zum Mitleid (). Dabei betrachtet Aristoteles  nicht als einen bloßen Gefühlszustand ohne praktische Folgen, sondern als eine wirkmächtige Disposition für die Handlungen und Urteile der Menschen275. Den Zuhörer mit Mitleid zu erfüllen heißt daher auch, ihn zur Hilfeleistung zu bewegen. Hinsichtlich des Wesens und der Entstehung des  definiert der Philosoph wie folgt: Mitleid sei definiert als eine Art Schmerz über eine anscheinend verderbliche und leidbringende Not, die jemanden, der es nicht verdient, trifft, ein Übel, das erwartungsgemäß auch uns selbst oder einen der Unsrigen treffen könnte, und das ist besonders der Fall, wenn dieses nahe zu sein scheint. Es ist ja klar, daß derjenige, der Mitleid empfinden soll, gerade in einer solchen Verfassung sein muß, daß er glaubt, er selbst oder einer der Seinen würde ein Übel erleiden, und zwar ein Übel, das unserer Definition entspricht, gleicht oder sehr ähnelt. .... Ferner haben wir Mitleid mit denen, die uns bezüglich Alter, Charakter, Gewohnheiten, sozialer Stellung und Abkunft ähnlich sind, denn in all diesen Fällen scheint es um so wahrscheinlicher, daß es auch uns selber treffen könnte.276

Grundvoraussetzung für das Aufkommen von Mitleid ist nach dieser Auffassung die Möglichkeit zur Identifikation, und sei es für den Fall, daß sie nur temporär und partiell ist. Die Anforderungen an diese Art des Inbezugsetzens sind allerdings denkbar ambitioniert; denn Aristoteles zufolge muß man sich in die Lage des Betroffenen nicht nur hineinversetzen können, 274 Innerhalb der hellenistischen Rhetorik blieb Aristoteles mit diesem Ansatz relativ isoliert; erst Cicero hat die Konzeption des aristotelischen  breiter rezipiert; dazu F. SOLMSEN, Aristotle and Cicero on the Orator’s Playing upon the Feelings (zuerst 1938), in: DERS., Kleine Schriften II, Collectanea IV/2, Hildesheim 1968, 216–230. 275 Vgl. Aristot., Rh. I 2,5. 276 Aristot., Rh. II 8,2. 13 (1385b 13–19; 1386a 25–27) (ed. W.D. Ross): %     (  & > 0 &0 I  0  .  !, J K C"  ) K 6 I *  ,   2  &?

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