Poetik im technischen Zeitalter: Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs [1. Aufl.] 9783839415986

Das Verhältnis von Literatur, Medien, Politik, Institutionen und Ökonomie befindet sich in der Bundesrepublik der frühen

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German Pages 236 [244] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs
»Wo ist eine Gegenwart wach?« – Der Autor Walter Höllerer
»Neue Gedichte sind kein Luxus, sondern eine Lebensnotwendigkeit« – Walter Höllerer und die Akzente
»Ich begrüsse Ilse Aichinger und Günter Eich« Höllerers Hörsaal-Lesereihe 1959/60. Ein Beitrag zur Typologie von Dichterlesungen
»Bilder, die nicht mehr Bilder sind« – Walter Höllerers Poetik der Parabel im Umfeld der Anthologie movens
Peter Weiss im literarischen Feld der 1960er Jahre
Berliner Netzwerke. Walter Höllerer, die Gruppe 47 und die Gründung des Literarischen Colloquiums Berlin
Walter Höllerers Neuakzentuierung der Intellektuellenrolle im Literaturbetrieb
Walter Höllerer und die Literatur im technischen Zeitalter. Round-Table-Gespräch mit Volker Klotz, Norbert Miller und Klaus-Michael Bogdal am 26. November 2009
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Poetik im technischen Zeitalter: Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs [1. Aufl.]
 9783839415986

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Achim Geisenhanslüke, Michael Peter Hehl (Hg.) Poetik im technischen Zeitalter

Literalität und Liminalität | Band 17

Achim Geisenhanslüke, Michael Peter Hehl (Hg.)

Poetik im technischen Zeitalter Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Renate von Mangoldt, Berlin Lektorat & Satz: Michael Peter Hehl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1598-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs Achim Geisenhanslüke und Michael Peter Hehl | 7

»Wo ist eine Gegenwart wach?« – Der Autor Walter Höllerer Sven Hanuschek | 15

»Neue Gedichte sind kein Luxus, sondern eine Lebensnotwendigkeit« – Walter Höllerer und die Akzente Susanne Krones | 37

»Ich begrüsse Ilse Aichinger und Günter Eich« í Höllerers Hörsaal-Lesereihe 1959/60. Ein Beitrag zur Typologie von Dichterlesungen Roland Berbig und Vanessa Brandes | 65

»Bilder, die nicht mehr Bilder sind« – Walter Höllerers Poetik der Parabel im Umfeld der Anthologie movens Johanna Bohley | 97

Peter Weiss im literarischen Feld der 1960er Jahre Heribert Tommek | 125

Berliner Netzwerke. Walter Höllerer, die Gruppe 47 und die Gründung des Literarischen Colloquiums Berlin Michael Peter Hehl | 155

Walter Höllerers Neuakzentuierung der Intellektuellenrolle im Literaturbetrieb Rolf Parr | 191

Walter Höllerer und die Literatur im technischen Zeitalter. Round-Table-Gespräch mit Volker Klotz, Norbert Miller und Klaus-Michael Bogdal am 26. November 2009 Moderation: Achim Geisenhanslüke | 213

Autorinnen und Autoren | 235

Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs Einleitung A CHIM G EISENHANSLÜKE UND M ICHAEL P ETER H EHL

Die 1960er Jahre der Bundesrepublik sind geprägt von grundlegenden Modernisierungsbewegungen in Gesellschaft, Kultur, Politik und Medien. Im Literaturbetrieb und in der Germanistik haben sie deutliche Spuren hinterlassen. Die Modernisierung des universitären Faches Germanistik – beispielgebend für diese Tendenz kann der Münchener Germanistentag von 1966 stehen, der einen Aufbruch bedeutete, von dem das Fach lange zehren konnte – ist nicht zuletzt ein Ausdruck dieser historischen Dynamik. Die Internationalisierung der germanistischen Literaturwissenschaft zu einer Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, die Annäherung von Linguistik und Literaturwissenschaften, die damit verbundenen Theoriedebatten, die kritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die mit zwanzigjähriger Verspätung einsetzte, die Grundzüge einer Sozialgeschichte der Literatur – das alles zählte zu den Innovationen, die die sechziger Jahre für die Germanistik mit sich brachten. Im Literaturbetrieb betrafen die Veränderungen, die in den 1960er Jahren einsetzten, insbesondere das Verhältnis von Politik und Medien in der literarischen Öffentlichkeit, die Verantwortung des Schriftstellers, die Formen der Vermittlung von Literatur sowie die institutionelle Verankerung des Literarischen in der modernen Gesellschaft. Gerade die frühen 1960er Jahre können mit Blick auf die mediengeschichtlichen und politischen Entwicklungen – an Ereignissen wären etwa das

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Rundfunkurteil von 1961, die Spiegel-Affaire, der Beginn des Mauerbaus, die Kuba-Krise sowie der Rücktritt Adenauers im Jahr 1963 zu nennen – als ›Sattelzeit‹ (Kosseleck) der Geschichte der frühen Bundesrepublik gelten, im Zuge derer auch der Literaturbetrieb einem rapiden Wandel unterliegt. Bislang ist die literaturhistorische und fachgeschichtliche Beschäftigung mit den 1960er Jahren allerdings häufig von einer perspektivischen Fixierung auf das symbolträchtige Datum 1968 geprägt. Dadurch geraten dynamische Wandlungsprozesse im Literaturbetrieb der frühen 1960er Jahre, in deren Zusammenhang sich das Verhältnis von Institutionen, Medien und Politik neu konstituiert, tendenziell in den Hintergrund. Fragt man nun nach eben diesen Prozessen, die dem modernen Literaturbetrieb wie auch der Reform der universitären Germanistik gewissermaßen den Weg ebneten, taucht auffallend häufig der Name des Autors, Herausgebers, Literaturwissenschaftlers und Kritikers Walter Höllerer (1922-2003) auf, der aufgrund seiner polykontexturalen und mehrfachinkludierten Position im institutionellen und medialen Geflecht des literarischen Lebens seiner Zeit eine durch und durch exzeptionelle Erscheinung war. In ihm, dem Autor, der vor allem mit Gedichten hervorgetreten war, dem Literaturwissenschaftler, der sich mit der Arbeit Zwischen Klassik und Moderne (1958) einen Namen gemacht hatte, in Walter Höllerer verknüpften sich die verschiedenen Tendenzen der sechziger Jahre auf eine ganz neue Art und Weise. Nicht nur als Schriftsteller und Philologe ist er in Erinnerung geblieben, sondern insbesondere auch, nach einem Wort von Helmut Böttiger, als der ›Erfinder des Literaturbetriebs‹. Zu den Leistungen, die Walter Höllerer in den sechziger Jahren und schon früher erbracht hat, zählen die Gründung von Zeitschriften – der Literaturzeitschrift Akzente und der zunächst rein literaturwissenschaftlichen Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter, beides Organe, die noch heute bestehen – sowie die Gründung des Literarischen Colloquiums Berlin und, nicht zuletzt, in seinem Geburtsort die Gründung des Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg. Wenn dieser Sammelband sich nun also unter anderem der Frage annimmt, wie denn das alles überhaupt möglich gewesen ist, dann geht es dabei nicht allein um die gewiss zentrale Figur Walter Höllerer in der Literatur, der Literaturwissenschaft und dem Literaturbetrieb. Was im Mittelpunkt der Fragen steht, die hier erörtert werden, ist vielmehr das Interesse der Literatur- und Fachgeschichte an den Modernisierun-

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gen und Innovationen der sechziger Jahre. Es geht also nicht nur um eine Personengeschichte, sondern, ausgehend von der Person Walter Höllerer, um die Institutionengeschichte des Literaturbetriebs und die Fachgeschichte der Germanistik. Dass Walter Höllerer selbst zu einer Institution geworden ist, dem Knotenpunkt, an dem sich die Literatur, die Wissenschaft und der Literaturbetrieb überlagern, was ihm eine einmalige Position zugesichert hat, ist die Chance, die die hier versammelten Beiträge ergreifen, wenn sie nach der Entstehung des modernen Literaturbetriebs im Umfeld des Autors, Herausgebers, Kritikers und Wissenschaftlers fragen. Im ersten Beitrag macht Sven Hanuschek darauf aufmerksam, dass Walter Höllerer oft hinsichtlich seiner vielfältigen institutionellen Tätigkeiten Beachtung findet, während sein literarisches Schaffen eher selten ins Blickfeld gerät. Die Frage ist daher, wodurch sich der Autor Walter Höllerer auszeichnet. Hanuschek zeigt, dass alle Werkphasen und Arbeitsbereiche von einem emphatischen Begriff von Gegenwärtigkeit geprägt sind, der sich mit Blick auf James Joyces’ ›Epiphanien‹ und Marcel Prousts Erinnerungsarbeit in die Tradition moderner Zeitreflexion einschreibt. Die Entwicklung des Lyrikers Höllerer, die von einer neusachlich nüchternen Deskriptionslyrik in den 1950er Jahren über die Orientierung an lyrischen Langformen, neu-subjektivistischen Ansätzen bis hin zu unvermittelt politischen Gedichten in den 1980er Jahren reicht, kontrastiert er mit der Genese des Romans Die Elephantenuhr, an dem Höllerer etwa zwanzig Jahre arbeitete. Während die wenigen Stimmen zum Autor Walter Höllerer häufig dessen lyrische Produktion in den Blick nehmen, biete gerade die Elephantenuhr, in der das Verhältnis von zeichenhaft vermitteltem Sinnaufbau, Sinnzerstörung, Gedächtnis und Medialität vor dem Hintergrund einer präsentischen Poetik experimentell verhandelt wird, viele Anknüpfungspunkte für aktuelle Fragestellungen aus den Themenfeldern ›Natur und Kultur‹ sowie ›Literatur und Neurowissenschaft‹. Susanne Krones lenkt die Aufmerksamkeit anschließend auf die Herausgebertätigkeit Walter Höllerers. Vor allem durch die Herausgabe der seit 1954 im Carl Hanser Verlag erscheinenden Zeitschrift Akzente, deren Entstehungsprozess Krones unter Rückgriff auf Archivmaterial nachzeichnet, erlangte Höllerer eine herausragende Bedeutung für den Literaturbetrieb. Deutlich wird dabei, dass die Akzente die flexible Position, die sie in den 1960er Jahren einnehmen konnten, in

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den 1950er Jahren in einem konfliktären Spannungsfeld aus konservativen und progressiven Strömungen zunächst gegen einigen Widerstand durchsetzen mussten. Höllerers Erfolge in den 1960er Jahren können und müssen z.T. auch als ein Ergebnis der erfolgreichen Behauptung in diesen Zusammenhängen gelten. Neben den Zeitschriftenprojekten Akzente und Sprache im technischen Zeitalter gehören auch herausragende Anthologieprojekte zum Tätigkeitsbereich des Herausgebers Walter Höllerer. Auf der Basis von Archivmaterial aus dem Nachlass zeigt Johanna Bohley in ihrem Beitrag, wie Walter Höllerer an der Seite von Franz Mon die (neo-) avantgardistische Anthologie movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur maßgeblich mitkonzipierte, wenngleich er seine Beteiligung später bagatellisierte. Neben der Auswahl programmatischer Texte verfasste er dabei selbst einen Beitrag zur modernen, offenen Parabel, der über Wahrnehmung, Vorstellung und Bewegung eine offene ›Vorgangsparabel‹ als prosperativ für ein abstraktes Erzählen entwickelte. Durch die Zurückführung der Figur auf die klassische Moderne (Musil, Kafka) grenzte er sich dabei von der von Franz Mon vertretenen, experimentierenden Ausrichtung ab, die als phasenhaft-konstellatives Erzählen rein ›Tendenzielles‹ zum Maßstab zu machen versucht. Charakteristisch für Höllerer erscheint hier, dass er einen über das movens-Programm weit hinausreichenden Text zur modernen, abstrakten Parabel nicht unter seinem Namen, sondern unter dem Pseudonym Alfred Bourk in den Akzenten veröffentlichte. Als eine zentrale Neuerung für das Verhältnis von Literatur, Publikum und Medien kann die Institutionalisierung der moderierten und im Fernsehen übertragenen Autorenlesung gelten, die Höllerer mit der Internationalen Lesereihe Literatur im technischen Zeitalter einführte. Roland Berbig und Vanessa Brandes zeichnen anhand von Lesungen, die in den Jahren 1959 und 1960 an der Technischen Universität Berlin stattfanden, Vorläufer dieser Reihe nach und greifen hierzu auf Einleitungskommentare zurück, die sich im Nachlass Höllerers erhalten haben. In der Einleitung zu einer Lesung mit Günter Eich und Ilse Aichinger (1959) fokussiert Höllerer sich noch auf die Herstellung einer vom Begriff der ›Stunde Null‹ geprägten Nachkriegsmentalität, während er in der Einleitung zu Lesungen mit Max Frisch und Ingeborg Bachmann (1960) offenkundig Anschluss an den zeitgenössischen Technikdiskurs sucht und mit der ›internationalen Lesereihe‹

EINLEITUNG

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(1961) dann endgültig das Ende der Ära unmittelbarer Nachkriegsliteratur markiert. Die Einleitungskommentare zu den Lesungen werden im Anschluss an den Beitrag erstmals abgedruckt. Michael Peter Hehl untersucht in seinem Beitrag die Position, die Walter Höllerer im Literaturbetrieb einnehmen konnte, als Ausdruck struktureller Verschiebungen im Kontext sozialer Netzwerke. Hierzu zeichnet er zunächst die Entstehung des funktionssystemübergreifenden kultur- und literaturpolitischen Netzwerks nach, das sich im Berlin der frühen 1960er Jahre um Walter Höllerer herum bildete. Eine besondere Bedeutung für den letztlichen Erfolg vieler Projekte Walter Höllerers liegt, wie dabei deutlich wird, in der partiellen Konvergenz seiner Interessen mit denen der amerikanischen Kulturpolitik. Fragt man nach dem Verhältnis des Berliner Netzwerks zur Gruppe 47, zeigt sich darüber hinaus, dass das mit dem Namen Walter Höllerer verbundene Beziehungsgeflecht flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren konnte, während die Gruppe 47 bereits in den frühen 1960er Jahren anachronistische Züge aufwies. So übernimmt das von Höllerer gegründete Literarische Colloquium Berlin Mitte der 1960er Jahre beispielsweise nach und nach Funktionen, die vorher der Gruppe 47 vorbehalten waren. Zugleich wird von Höllerer ein offenes Verhältnis zwischen Literaturbetrieb und Massenmedien forciert. Die gesellschaftlichen und medialen Veränderungen in den 1960er Jahren finden so gesehen in Höllerers Projekten ihr literaturbetriebliches Pendant. Strukturelle Veränderungen im Literaturbetrieb stehen auch im Beitrag von Heribert Tommek im Vordergrund, der Walter Höllerer in seinem Verhältnis zu Peter Weiss aus feldsoziologischer Sicht als Vorreiter einer flexibel-normalistischen Position charakterisiert, wie sie später für Hans Magnus Enzensberger typisch werden sollte. Dazu analysiert Tommek die Entwicklung von Peter Weiss’ Feldposition unter Berücksichtigung verschiedener Konfliktlinien. So sei der auf der 1966er Princeton-Tagung der Gruppe 47 offen zu Tage tretende Konflikt mit Günter Grass symptomatisch für die Außenseiterposition Weiss’, während in der Auseinandersetzung zwischen Weiss und Enzensberger, in der es um politische Positionsnahme geht, feldstrukturelle Transformationsprozesse im Hinblick auf die Funktion von Intellektuellen zum Ausdruck kommen. Ausgehend von der Frage, inwiefern sich die Position Walter Höllerers im Literaturbetrieb als die eines Intellektuellen beschreiben lässt, untersucht Rolf Parr das ›Gesamtprojekt Höllerer‹ aus (inter-)

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diskurstheoretischem Blickwinkel. Kennzeichnend für Höllerers Arbeitsweise ist, wie dabei deutlich wird, weniger die Integration bzw. Synthese unterschiedlicher Tätigkeitsfelder, als vielmehr eine von der Identität des ›Dichters‹ ausgehende Rotation über verschiedene Arbeitsbereiche hinweg, bei der partielle Integrationseffekte entstehen. Dass das von dislozierender Bewegung und gegenläufiger Positionsbesetzung geprägte ›Rotationsprojekt‹ Höllerers Ende der 1960er Jahre an seine Grenzen kam, sei einerseits dem Einfordern ›großer‹ Politik von Seiten der Studentenbewegung geschuldet, andererseits der fortschreitenden Professionalisierung und Differenzierung innerhalb des Literaturbetriebs. Über unmittelbare Erfahrungen mit Walter Höllerer und den mit seiner Person verbundenen institutionellen Neuerungsprozessen können Norbert Miller und Volker Klotz berichten, die sich anlässlich einer Tagung im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg mit Klaus-Michael Bogdal und Achim Geisenhanslüke zu einem Round-Table-Gespräch versammelten, dessen Transkription dem abschließenden Beitrag zu Grunde liegt. Volker Klotz schildert zunächst anschaulich seine Frankfurter Studienzeit, in der er Walter Höllerer als Assistenten von Kurt May kennenlernte. Während sich viele Germanisten in den 1950er und 1960er Jahren darum bemühten, ähnlich wie Benno von Wiese – oder später der Romanist Hans Robert Jauß – ›schulbildend‹ zu agieren, zeichnete sich Höllerer bereits früh durch eine betont lockere und weniger hierarchische Umgangsweise aus. So baute er beispielsweise einen informellen Kreis von Studierenden auf – darunter Karl Markus Michel, Klaus Wagenbach, Herbert Heckmann und andere – und förderte dezidiert das Interesse an Gegenwartsliteratur. Klaus-Michael Bogdal lenkt das Gespräch anschließend auf die Einordnung des Signums ›technisches Zeitalter‹, das für mehrere Projekte Höllerers Pate stand. Während Bogdal aus diskurshistorischer Sicht in Edmund Husserls Phänomenologie und Arnold Gehlens Die Seele im technischen Zeitalter zentrale Referenzpunkte sieht, macht Norbert Miller darauf aufmerksam, dass etwa die Gründung des Instituts für Sprache im technischen Zeitalter zugleich auch ganz pragmatischen Zwecken diente, so beispielsweise der Absicht, sich innerhalb der Institution der Technischen Universität Berlin einen festen Platz zu sichern. Das Agieren Walter Höllerers innerhalb der Institutionen des sogenannten ›technischen Zeitalters‹ wird insgesamt als ein durchaus taktisches Spiel mit Affirmation und Kritik charakterisiert, das mit dem Ziel be-

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trieben wurde, der Literatur im Institutionengeflecht der sich rasant verändernden Gesellschaft der 1960er Jahre einen festen Platz zuzusichern. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist zu danken, dass sie mit großzügiger Förderung nicht nur die Erfassung und Erschließung des Nachlasses Walter Höllerers im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg, sondern auch die diesem Sammelband zu Grunde liegende Tagung vom 26.-27.11.2009 sowie das Erscheinen des Bandes ermöglicht hat. Für die freundliche Genehmigung der Zitation aus bislang unveröffentlichten Quellen danken wir Renate von Mangoldt, Gunilla Palmstierna-Weiss, Martin Walser und Hans Dieter Zimmermann. Für die sorgfältige und hilfreiche Mitarbeit am Manuskript danken wir Verena Gold, Anna-Maria Ruck, Katrin Salzhuber und Annika Westphal.

»Wo ist eine Gegenwart wach?« Der Autor Walter Höllerer S VEN H ANUSCHEK

I Wenn man sich in den Lexika und Gesamtdarstellungen umsieht, die Presse, die Literaturgeschichten, auch den großen Ausstellungskatalog Elefantenrunden (2005) von Helmut Böttiger nach Würdigungen Walter Höllerers durchforscht, erscheint er vor allem als bedeutender Vermittler, als Funktionär des Literaturbetriebs, ein Zirkusdompteur, ein großer Zampano, der diesen Betrieb für Westdeutschland und erst recht für Westberlin überall mitgegründet, ein bisschen sogar erfunden hat: als Herausgeber von Zeitschriften wie den Akzenten und der Sprache im technischen Zeitalter, beide existieren noch; als Gründer des LCB, des Literarischen Colloquiums Berlin, als Veranstalter großer Lesungen in der Kongresshalle und im Hörsaal 3010 der TU Berlin, Lesungen, die so gut besucht waren, dass sie in einen Nachbarhörsaal übertragen werden mussten, die prompt vom Fernsehen gesendet wurden und neue Vorstellungsreihen von Gegenwartsautoren im Fernsehen erzeugt haben. Mit all diesen so überaus erfolgreichen und publikumsträchtigen Unternehmungen hat Höllerer sich zu einem Mittelpunkt des literarischen Lebens gemacht, er war mit deutschen wie international wichtigen Autoren bekannt, teilweise befreundet, er holte sie zu sich aufs Podium, war Teilnehmer der Gruppe 47, manchmal, wenigstens in Berlin, Mitorganisator, er ist beteiligt an der WiederInstallierung der literarischen Moderne durch seine Herausgeberschaft oder Mitherausgeberschaft der Anthologien Transit (1956), movens

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(1961), der Spiele in einem Akt (1961) und der Jungen amerikanischen Lyrik (1961), auch die Theorie der modernen Lyrik (1965) ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Mitunter findet sich sogar die Auffassung, seine Veranstaltungsreihen könnten als eine Vorform der 68erRevolte gelten. Und er hat ein Literaturarchiv gegründet, das nicht nur seinen Nachlass verwaltet und die Korrespondenzen aus dem Gründungsjahrzehnt der Akzente, sondern das auch als regionale Institution seine Bestände ausbaut. Dass Höllerer in all diesen Belangen, mindestens bis zu seinem schweren Unfall 1980, am Puls der Zeit gearbeitet hat, steht ganz außer Frage. Im Folgenden soll nun gerade nicht vom Moderator, Literaturprofessor, Organisator, Kritiker, Herausgeber Walter Höllerer die Rede sein, sondern vom Autor Höllerer, der ja früh, als Dreißigjähriger, als Lyriker akzeptiert worden ist, der zunehmend sein poetisches Werk zurückgesetzt und sich auf Manager-Tätigkeiten verlegt hat, mit mehr oder weniger umfangreichen Abschweifungen ins poetische Gebiet. Genügt sein eigenes Werk dem Anspruch einer offenen Moderne, der sich etwa in den Anthologien zeigt? Wie ›avantgardistisch‹ ist Walter Höllerer als Schriftsteller? Nach der frühen Lyrik hat er bekanntlich knapp 20 Jahre an der Elephantenuhr (1973) geschrieben, seinem großen, auch viel kritisierten Roman, es gibt das Theaterstück Alle Vögel alle (1978), und es gibt später wieder einige Gedichte, den Sammelband der Gedichte 1942-1982 (1982), einige späterhin in Zeitschriften publizierte Lyrik, zusätzlich als relativ späte neue Form seit etwa 1980 noch die politische Rede, die sein Repertoire nochmals erweitert hat, Reden, die weder im literarischen noch im literaturwissenschaftlichliteraturkritischen Werk aufgegangen sind. War Höllerer also auch als Schriftsteller ein Avantgardist, nachdem er das auf anderen Gebieten unzweifelhaft war? Was ist das überhaupt, Avantgarde, mehr als eine metaphorische Beschreibung ästhetischer Tätigkeiten mittels militärgeschichtlichen Vokabulars? – Ich werde im Folgenden zunächst die Diskussion über Avantgarde und Neo-Avantgarde auf ein paar wenige Kriterien herunterfahren (II), dann über Höllerers Lyrik unter dem Gesichtspunkt dieser Kriterien sprechen und nachfragen, ob er nicht noch eine eigene, zusätzliche Kategorie entwickelt hat (III). Anschließend möchte ich überprüfen, ob diese Kategorie in gleicher Weise für die Elephantenuhr gilt (IV); als Ausblick soll nach der Aktualität von Höllerers Werk gefragt werden (V).

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II Der Begriff »Avantgarde« weist einige Aporien auf, die früh erkannt worden sind.1 Er erfreut sich umgangssprachlich anhaltend großer Beliebtheit, ist aber wissenschaftlich eher kritisiert worden; als frühe essayistische Kritik nenne ich nur Hans Magnus Enzensbergers Essay aus den Einzelheiten II. Poesie und Politik (1962), in dem er auch die Anthologie movens kommentiert, an der Höllerer – wenn auch zunehmend distanziert – beteiligt war. Enzensberger kritisiert die Harmlosigkeit der Avantgarden, die provokant nur sich gerierten, die in Wahrheit – etwa mit dem Begriff des Experiments – immer schon die eigene Rücknahme eingebaut hätten. Gegen die Schärfe von Lenins politischem Avantgarde-Begriff komme keine ästhetische Richtung an, Avantgarde hier als generalstabsmäßig organisierte Elite der Partei, die das Proletariat zu einem bestimmten Ziel führen will.2 Die in movens genannten oder umspielten Begriffe – Improvisation, Zufall, Unmittelbarkeit, Leere, Atavismus, Ungenauigkeit, Austauschbarkeit, Unbestimmtheit, reine Aktion usw. – lassen sich als konkrete Strategien unter die Kriterien eines weiteren AvantgardeBegriffs subsumieren, die ihrerseits ihre Probleme haben: Innovation, Traditions-, auch Normbruch, Provokation oder zumindest Erwartungs-Irritation, Selbstreflexivität. Innovation kann schlechterdings niemand für sich in Anspruch nehmen, das ist eine historische Kategorie, die nur aus größerem zeitlichen Abstand verwendet werden kann – ein halbes Jahrhundert später werden wir (frühestens) wissen, ob das, was wir da angestellt haben, tatsächlich neu, innovativ war, eine unbefriedigende Kategorie mindestens für eine Selbstbeschreibung. Traditions- und Normbrüche lassen sich schon eher objektivieren, die ließen sich an Publikums-Reaktionen festmachen, ebenso wie die Erwar-

1

Vgl. als Überblick Jäger, Georg: Avantgarde. In: Weimar, Klaus (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller. Band I. A – G. Berlin, New York 1997, S. 183-187; in den letzten Jahren erschienen: Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne 1890-1933. Stuttgart, Weimar 2010. – Magerski, Christine: Theorien der Avantgarde. Wiesbaden 2011.

2

Vgl. Enzensberger, Hans Magnus: Die Aporien der Avantgarde. In: Einzelheiten II. Poesie und Politik. Frankfurt a.M. 1984, S. 50-80, hier S. 65f.

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tungs-Irritationen durch Provokationen. Avantgardistische Künstler treten in Widerspruch zu den ästhetischen Konventionen ihrer Zeit. Wie die Erwartungsenttäuschung ausfällt, hängt allenfalls noch von den Erwartungen des Publikums ab, die sich unterscheiden werden, je nachdem, ob es sich um aufgeschlossene Bildungsbürger, Mitkünstler oder aber um kunstfremdes Publikum handelt – das wäre also differenzierbar nach soziologischen Kriterien. Womit sich alle Avantgarden einverstanden erklären müssen, ist die Vorstellung, irgendwann einmal überholt zu werden; der Begriff aus der französischen Militärsprache steht ja metaphorisch für ein Fortschrittsmodell, man ist jeweils ›vorne‹ dran und wird irgendwann vom Hauptteil des Bataillons erreicht oder gar überrundet. Im Grunde ist dieses klassische Avantgarde-Modell mit den politischen Radikalismen des 20. Jahrhunderts überholt worden, wie Enzensberger auch suggeriert hat, dennoch haben Adorno und andere es noch aufrechterhalten.3 Seit den sechziger Jahren ist daher häufig von NeoAvantgarde die Rede, die klassischen Avantgarden sind in der (frühen) Moderne aufgegangen. Die neuen Avantgarden haben immer schon eine gewisse konstitutionelle Ironie eingebaut, sie blinzeln der Epigonalität ganz bewusst zu und erkennen ja auch immer ohne weiteres Vorläufer an, wenn man etwa an Helmut Heißenbüttel als eine der Galions- und Integrationsfiguren der Neo-Avantgarde denkt: Es gibt nun immer auch schon eine Tradition der Avantgarde. Den Traditionsbruch als Kriterium können wir für die sechziger und siebziger Jahre also gleich wieder vergessen. Es bleiben als harte Kriterien deshalb nur die Provokation oder Erwartungs-Irritation, und die Selbstreflexivität. Finden sich diese Kriterien in Höllerers Werk wieder? Und hat er womöglich ein eigenes Kriterium, auf das er sich offen oder verdeckt immer wieder bezieht?

3

Vgl. allein die Verwendung in der Ästhetischen Theorie; Adorno konzediert zwar, der Begriff Avantgarde habe etwas von der »Komik gealterter Jugend«, benutzt ihn aber fortlaufend ganz selbstverständlich als positiv wertenden Begriff: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. In: Tiedemann, Rolf (Hg.) unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan BuckMorss und Klaus Schultz. Band 7: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1997, S. 44, 162, 176, 273, 377.

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III Dass Höllerer mit (Neo-)Avantgarden zu tun hat, scheint auf den ersten Blick evident. Helmut Böttiger konstatiert an dem frühen Gedicht Der Elephant von Bernini Indizien »für das Ausbrechenwollen, für den Wunsch nach Entgrenzung«,4 schon Anfang der fünfziger Jahre wolle Höllerer »die Moderne, weiß aber nicht so recht, wie sie zu fassen ist.«5 (Nicht dass wir das heute so recht wüssten.) Seine Lyrik sei keine Gelegenheitsdichtung, meinte er, gegen Günther Grass gerichtet, sondern Ungelegenheitsdichtung, »Gegenäußerung, ein DagegenSchreiben«,6 und er hat mehrfach die Ästhetik seines – nicht allzu umfangreichen – lyrischen Werks verändert. Georg Britting war zwar sein erster Mentor,7 dennoch haben die ersten Gedichte vor allem mit seinen eigenen Erfahrungen und Bildern aus dem Krieg zu tun (ohne dass sie direkt autobiographisch rückrechenbar wären). Der lag besonders mühelos am Rand ist vielleicht das bekannteste Gedicht in dieser Werkgruppe: Der lag besonders mühelos am Rand Des Weges. Seine Wimpern hingen Schwer und zufrieden in die Augenschatten. Man hätte meinen können, daß er schliefe. Aber sein Rücken war (wir trugen ihn, Den Schweren, etwas abseits, denn er störte sehr Kolonnen, die sich drängten), dieser Rücken War nur ein roter Lappen, weiter nichts.

4

Böttiger, Helmut unter Mitarbeit von Lutz Dittrich: Elefantenrunden. Wal-

5

Ebd., S. 22.

6

Lorbe, Ruth: Porträt Walter Höllerer: Ein Gespräch mit Ruth Lorbe. In:

7

Zum Verhältnis Höllerer – Britting vgl. Hettche, Walter: Georg Britting im

ter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs. Berlin 2005, S. 17.

The German Quarterly 59 (1986) Nr. 1, S. 85-102, hier S. 86. literarischen Leben der fünfziger Jahre. Mit bisher unbekannten Briefen von Georg Britting und Walter Höllerer. In: Hummel, Adrian und Sigrid Nieberle (Hg.): Weiter schreiben. Wieder schreiben. Deutschsprachige Literatur der fünfziger Jahre. Festschrift für Günter Häntzschel. München 2004, S. 3-20.

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Und seine Hand (wir konnten dann den Witz Nicht oft erzählen, beide haben wir Ihn schnell vergessen) hatte, wie ein Schwert, Den hartgefrorenen Pferdemist gefaßt, Den Apfel, gelb und starr, Als wäre es Erde oder auch ein Arm Oder ein Kreuz, ein Gott: ich weiß nicht was. 8 Wir trugen ihn da weg und in den Schnee.

Ein Gedicht aus Der andere Gast (1952), dem lyrischen Erstling. Die Nüchternheit der Sprache, die Genauigkeit der Deskription hat mit dem zu tun, was als ›Kahlschlag‹ apostrophiert wurde – Höllerer spricht eher vom Neuanfang – , auch mit der Lyrik Günter Eichs, mit dem Höllerer ja über die Herausgabe der neuen HanserLiteraturzeitschrift diskutierte, bevor Eich sich auf eine bloße BeraterRolle zurückzog und Hans Bender ins Spiel kam. Das Gedicht antwortete, Höllerer zufolge, auf eine Erfahrung, »die Bombastik der Wörter mußte verschwinden, der Gefühlsüberschwang, – auch die pseudometaphysischen Ausdrucksweisen, die zwischen Politischem und Religiösem herumschwammen, waren unbrauchbar.«9 Die Erfahrungen, die diesen Gedichten zugrunde liegen, bleiben für Höllerer auch noch präsent, als er sich vom Stil dieser Lyrik schon weit entfernt hat; in dem Vortrag Wie entsteht ein Gedicht führt er die Entstehung des in der 1964er-Sammlung erstmals abgedruckten Gedichts Ich sah ich hörte auf eine Kriegserinnerung zurück, die Beobachtung der Erschießung von zwanzig zivilen Geiseln in Griechenland.10 Die zurückgenommene, fast neusachlich nüchterne Deskriptionslyrik weicht in den sechziger Jahren, nach der Aufnahme der amerikanischen beat generation und der von Höllerer zusammen mit Gregory Corso verantworteten Anthologie Junge amerikanische Lyrik (1961), einer Bewunderung für das Langgedicht in der Art von Allen Ginsbergs Howl (1956), auch wenn Höllerers Gedichte erst ganz allmählich

8

Höllerer, Walter: Gedichte. 1942-1982. Frankfurt a.M. 1982, S. 23.

9

Lorbe 1986, S. 89.

10 Höllerer, Walter: Gedichte. Wie entsteht ein Gedicht. Frankfurt a.M. 1964, S. 61-91, besonders S. 72f.

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länger werden; das vielgerühmte Gedicht über den römischen Fischmarkt Ruft ›Seppia‹, kauft den Tintenfisch (1959) ist auf dem Weg dorthin, immer noch eher eine Absage an avantgardistische Formen, die seinen wollten »gar kein Bürgerschreck sein«, schrieb Höllerer, sie würden es nur, unfreiwillig, durch ihren Realismus.11 Regelrechte Collage-Gedichte, auch Langgedichte gibt es erst nach den Thesen zum langen Gedicht (1965) in dem Band Systeme (1968), etwa das Gedicht Ffm. Hbf., die Schatten des Wirtschaftswunderlands sah Höllerer am besten am Frankfurter Hauptbahnhof ausgebreitet. Die Politisierung der späten sechziger und frühen siebziger Jahre findet sich bei Höllerer ausdrücklich eher in den Thesen, im Nachdenken über Lyrik als in den Gedichten selbst; er hat ja behauptet, das lange Gedicht unterscheide sich von den bisherigen kurzen, hermetischen, von der »Preziosität und Chinoiserie« des kurzen Gedichts »durch seinen Umgang mit der Realität«, durch das Fehlen von »Feiertäglichkeit« – es sei politisch »schon seiner Form nach«, in seinen Möglichkeiten, »Negationsleistungen zu vollbringen, [...] die Denkgefängnisse zu zerbröckeln«.12 Politische Lyrik heißt von daher bei Höllerer nicht Agitprop, Ideologie, Bekenntnis zu einer bestimmten Partei oder Fraktion (wahrscheinlich nicht einmal zur ›heimatlosen Linken‹), sondern eher, dass anhand von sehr konkreten Beobachtungen, an der eigenen Wahrnehmung von beispielsweise Hopfengärten (wie im Langgedicht Außerhalb der Saison), Politisches eher grundsätzlich, ja philosophisch thematisiert wird; ich denke hier auch an das Gedicht Alexander im Welttheater, in dem die Verheißungen und das Scheitern von Utopien reflektiert werden. Die sogenannte Neue Subjektivität in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre hat Höllerer ebenfalls nur auf einer stärker abstrahierenden Ebene mitvollzogen, in Subjektives Gedicht sogar auf einer leicht komisierenden Meta-Ebene, die gleichwohl die eigene Subjektivität betont: Niemand kann mir nachweisen, Daß Sulzbach-Rosenberg nicht Der Mittelpunkt der Welt ist.

11 Höllerer, zit. n. Böttiger 2005, S. 70. 12 Höllerer, Walter: Thesen zum langen Gedicht. In: Akzente 12 (1965), H. 2, S. 128-130, alle Zitate aus S. 128f.

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Sollte es mir doch jemand nachweisen, so Werde ich ihm beweisen, daß Seine Methode falsch ist, – Unangemessen. Meine Methode hingegen Geht auf die Anfänge zurück, Nämlich: auf meine.

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Jetzt, zur Zeit der Neuen Subjektivität, schreibt Höllerer zwar auch – sehr vermittelte – Liebesgedichte (Steinbruch – Morgenbuch. Ein Evolutions-Liebesgedicht von Urvogel bis Floh), aber mit den Berichtsgedichten 1981 ist er auch bei ganz unvermittelt politischen Gedichten angekommen, er schreibt über die Neutronenbombe, die WiederEinführung der Scharia in Pakistan unter Zia ul-Haq, die geplante Verpflanzung eines Menschenkopfs durch amerikanische Mediziner, und in den Gute-Nacht-Gedichten finden sich Verse wie »MX und SS 20, Pershing sitzt im Märchenwald«.14 Wenn ich diesen äußerst skizzenhaften Überblick bis zum Erscheinen des Sammelbandes 1982 resümiere, zeigt sich in dieser Abfolge, nochmal ganz krude gesagt: Kahlschlag – Langgedichte im amerikanischen Stil – philosophisch-politische Lyrik – politisch-subjektive Lyrik – : nicht direkt ein avantgardistischer Autor, sondern eher einer, der reagiert, der immer ein bisschen versetzt mit seinen Arbeiten herauskommt und doch alles in allem eher zeittypisch schreibt. Ließe sich diese Abfolge im Rahmen von gut 200 Seiten Lyrik in 40 Jahren nun boshaft mit der berühmten Kritik Robert Neumanns an der ‚Gruppe 47’ resümieren, Höllerer sei eben ein »Adabei«, ein »Schnittlauch auf allen literarischen Suppen, ein Galoppin der literarischen Börse, ein flinker Mann, feinnervig beim Aufspüren von Subventionen wie ein Rutengänger«?15 Oder ließe sich, wissenschaftlicher gefasst, Höllerer als eine Figur beschreiben, die die Kippfigur innerhalb des Avantgarde-Modells eindringlich vor Augen führt – er ist als Autor wie als Literaturwissenschaftler und Kritiker immer auf der Spur nach der neuen,

13 Höllerer 1982, S. 196. 14 Ebd., S. 222. 15 Neumann, Robert: Spezis. Gruppe 47 in Berlin. In: Konkret (1966), H. 5, S. 34-39, hier S. 37.

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der neuesten Entwicklung, immer beim Hinterdrein- oder beim VoranHetzen, auch dies zeittypisch als Ausdruck der bis heute zunehmenden »Unruhe« zu sehen, die nach der kulturkritisch-psychologischen Studie des norwegischen Psychiaters Finn Skårderud zu »Erfahrungen eines erweiterten Bewußtseins voller Spannung und Leidenschaft führen« kann, aber auch, im Gegenteil, zu »schnellen Veränderungen«, die »in inneren Lärm ausarten«, die »äußerliche Fragmentarisierung« führe zu einer »»inneren Fragmentarisierung und einer teuflischen Maschine aus Gedanken und Gefühlen, die hektisch rund um die Uhr arbeitet«,16 ein Wettrennen, das nicht gewonnen werden kann und das Höllerer irgendwann – sicher auch bedingt durch biographische Fährnisse, äußere Umstände – aufgegeben hat. Provokation, ErwartungsIrritation ist in der Lyrik nie ein großes Anliegen Höllerers gewesen,17 das selbstreflexive Element hingegen war immer besonders ausgeprägt, schon durch das berufliche Spektrum bedingt. In einem Fall ist es ja sogar zum Titel geworden, in der harten Fügung Gedichte. Wie entsteht ein Gedicht (1964). Diese Beschreibung wäre aber ebenso ungerecht zuspitzend wie die Neumannsche, es geht Höllerer an keiner Stelle um ein SichAuszeichnen durchs Voranpreschen. Vielmehr geht es ihm um eine Denkfigur, die immer wieder erscheint: Höllerer hat einen sehr elaborierten, emphatischen Begriff von Gegenwart, den er immer wieder umkreist, metaphorisch, diskursiv, und der mir auch ins Zentrum seiner Literatur zu führen scheint; Norbert Miller hat in seinem Nachruf von den »empfindlichen Tentakeln seiner Augenblickswahrnehmung« gesprochen.18 Das beginnt mit den Randbemerkungen in Transit zum »Augenblick«, der »die verdichteten Stellen« zeige und die »vagen Übergänge« beiseitelasse – notiert zu einem Gedicht des Herausgebers

16 Skårderud, Finn: Unruhe. Eine Reise in das Selbst. Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann. Hamburg 2000, S. 22f. 17 »Nur zu irritieren, halte ich für blöd«, sagt Höllerer im Gespräch mit Manfred Durzak, vgl. Durzak, Manfred: Wir leben in einer unüberblickbaren Welt. Gespräch mit Walter Höllerer. In: Ders.: Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen. Frankfurt a.M. 1976, S. 482-511, hier S. 496. 18 Miller, Norbert: Der Vogel Rock. Zum Tode des Dichters Walter Höllerer. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 2003. Darmstadt u. Göttingen 2004, S. 195-200, hier S. 199.

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Höllerer selbst – , der Augenblick sei »verdammt, sich immer zu ereignen«, gefriere zu einer »ewigen Bewegung« und überliste damit das Vergängliche.19 Im festgehaltenen Augenblick des ästhetischen Werks entsteht Wirklichkeit, die ästhetischen Werke halten Momente fest, die gewissermaßen ›alles‹ beinhalten; im selben Jahr notiert Höllerer in dem Essay Mauerschau, er versuche, im »Moment des Schreibens [...] eine Konstellation von Wirklichkeit zu treffen, die sich in mir hergestellt hat. Sie hat sich hergestellt durch viele Einzelerlebnisse und Ahnungen, in Augenblicken, die das Netz der Verbindungslinien einer sonst verstellten Wirklichkeit näherrücken«, eine Konstellation, die »über einen festgefrorenen Zustand« hinausweise,20 die in Bewegung bleibt, Movens, wie die zweite Anthologie heißt. »Stoff wandelt sich um in Bewegung«, das »Movens sucht sich gegen die Erstarrung in institutionellen Grundmustern durchzusetzen«.21 Der solcherart notdürftig umschriebene Begriff lässt sich umstandslos an die großen Augenblicke von Joyce und Proust anschließen, am »erfüllten Augenblick«, den Epiphanien von Joyce, die Höllerer denn auch mehrfach erwähnt, Augenblicke »des Erkennens, der Hoffnung, des Lächelns, der Tränen, der Freundlichkeit«,22 und an die berühmte Madeleine-Sequenz bei Proust: In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer

19 Höllerer, Walter (Hg.): Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte. Frankfurt a.M. 1956, S. 6f. Höllerer kommentiert hier u. a. sein Gedicht Blauer Silberhäher aus Der andere Gast. 20 Höllerer, zit. n. Böttiger 2005, S. 69; Erstdruck: Höllerer, Walter: Mauerschau. In: Akzente 3 (1956), H. 2, S. 116-129. 21 Höllerer, Walter: Zusammenfassung eines Vortrags für die Studenten, zit. n. Böttiger 2005, S. 104. 22 Ebd., S. 105.

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köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst.23

Was nun Höllerers Begriff dieser in literarischen Werken möglichen Epiphanien von dem Prousts und Joyce’ unterscheidet,24 scheint mir gerade die Fixierung auf ästhetische Verfahren und den Prozess, der dort zwischen Autor und Publikum, zwischen Dichter und Leser stattfinden soll – in Prousts Beschreibung des Augenblicks ist ja von Kunst noch gar nicht die Rede, ganz zu schweigen von Leserinnen, Lesern, die hier auf den üblichen Nachvollzug während ihrer Lektüre geworfen sind. Höllerer dagegen betont das Unfertige des Kunstwerks, am deutlichsten vielleicht in einem LCB-Papier zum Thema »Literatur in der Konsumgesellschaft«, Anfang der siebziger Jahre: Der Autor will nicht eine fertige Ware liefern, die der Leser zu konsumieren hat; sondern der Autor will eine Verbindung zum Leser, zum Hörer, zum Betrachter, zum Mitspieler herstellen, die beide, Autor und Rezipient, zu einer gemeinsamen Aktivität bringt. Der Autor versucht, das Movens zu sein, das die gemeinsame semiologische Arbeit in Gang bringt. [...] Um [...] ein solches Inter-Aktions-Modell von Autor und Rezipienten herzustellen, ist es notwendig, die Literatur wirkungskräftig auf möglichst alle Sinne hin auszuweiten.25

Im utopischen Moment könnte aus diesem Autor-Leser-Modell auch eine Revolution entstehen, am schwungvollsten hat er das wohl im Finale seiner Komödie Alle Vögel alle gestaltet: Vögel und Nichtvögel rufen dazu auf, das Ei zu rollen, »Rollt das Ei zu zweit./ Rollt das Ei

23 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1. In Swanns Welt. Im Schatten junger Mädchenblüte. Deutsch von Eva RechelMertens. Frankfurt a.M. 2000, S. 63f. 24 Höllerer steht dabei Joyce und dessen Epiphanie-Konzept näher; vgl. seine programmatische Erwähnung in der Antrittsvorlesung (1959); im selben Jahr hat er an einem »Gespräch um James Joyce« an der Evangelischen Akademie in Hofgeismar teilgenommen. Vgl. die Hinweise in Berbig, Roland / Krüger, Alexander: Ein Novum unter der Ägis eines Lehrstuhlinhabers. Walter Höllerer im Jahr 1959. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 8 (2008), S. 89-99, hier S. 91, 97. 25 Höllerer, zit. n. Böttiger 2005, S. 180.

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zu hundert!/ Rollt es, es ist Zeit!«26 Das Ei wird um die ganze Welt gerollt, und so die Zuschauer reagieren, ändert sich die Welt. Höllerer ist, schon allein durch seine literaturwissenschaftlichen Aktivitäten, ein Autor, der sich umfassend selbst erklärt und über Literatur nachgedacht hat. Die emphatische Gegenwart, die er in seinen Reflexionen umkreist, stellt sich für ihn nicht nur beim Schreiben her, sondern auch im Prozess der ästhetischen Rezeption; und damit sind, sozusagen klandestin, Höllerers ›literaturbetriebliche‹ Aktivitäten gerechtfertigt, auch die Rezeption in allen privaten und öffentlichen Formen kann die angestrebte Gegenwart herstellen. Wenn ich als Autor auf den Augenblick, die Gegenwart reflexiv wahrnehmend, stark fixiert bin, ergeben sich notgedrungen Veränderungen, Entwicklungen, die also, nun unpolemisch gesprochen, für so etwas wie Wachheit und Offenheit sprächen, nicht aber für den ›Adabei‹-Ehrgeiz, den der Satiriker Robert Neumann Höllerer unterstellt hat. Höllerer interessiert sich sozusagen auch als Literaturwissenschaftler nicht mehr in erster Linie für die Ermittlung von Sinn, für Interpretation, sondern für die Entstehung von Sinn in der Epiphanie, der er günstige Bedingungen zu schaffen sucht; für eine spezifisch ästhetische Kommunikation, die ständig in Bewegung bleibt und die Körper der kommunizierenden Personen ›berührt‹, damit Präsenz herstellt – damit habe ich den ähnlich enthusiastischen Präsenz-Begriff Hans Ulrich Gumbrechts paraphrasiert, den Gumbrecht besonders an lyrischen Formen festgestellt hat: Vor allem in einem Gedicht sind Präsenz- und Sinneffekte gleichermaßen vorhanden, noch stärker wohl bei der Aufführung eines Dramen-Finales wie dem von Alle Vögel alle.27 IV Lässt sich dieser Begriff von emphatischer Gegenwart, von Präsenz, auch in Höllerers wohl ambitioniertestem Werk, dem Roman Die Ele-

26 Höllerer, Walter: Alle Vögel alle. Komödie in zwei Akten. Frankfurt a.M. 1978, S. 101. – Vgl. auch: Elsner Hunt, Irmgard: Utopia ist oval, oder: Weltei gegen Denkmal – Der utopische Gedanke im Werk Walter Höllerers. In: The Germanic Review Vol. LXIII (1988), H. 3, S. 140-146. 27 Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt a.M. 2004, besonders S. 29-34.

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phantenuhr, wiederfinden? Vermutlich ja schon, das Titelzitat dieses Beitrags – »wo ist eine Gegenwart wach« – stammt aus dem Roman,28 und im Gespräch mit Ruth Lorbe hat Höllerer behauptet, die »Elemente des Romans Die Elephantenuhr – ungefähr 600 Seiten – waren Augenblickseindrücke«, das sehe man »auch dem besonderen Druckbild jeder Seite des Romans an«.29 Auch an diesem Roman lassen sich die Aporien von Avantgarde vorführen; offenbar war Höllerer seiner Zeit hier deutlich voraus, er hat aber den kairos mit dem Erscheinungstermin 1973 nicht getroffen. Sein erster Auftritt mit dem Manuskript vor der Gruppe 47 war sehr erfolgreich, der zweite war ein Durchfall,30 Hans Magnus Enzensberger wollte ihm nach der Verlesung eines Kapitels in Princeton 1966 das Manuskript wegnehmen, weil der Schreiber »nach so viel probieren und umschreiben, abschreiben, überschreiben, querschreiben [...] überhaupt nicht mehr mitreden kann, weil, er hat keine ahnung mehr, was gut, was nicht gut ist«.31 Die Literaturkritik reagierte nur in wenigen Fällen enthusiastisch, meistens eher ratlos oder auch fundamental kritisch,32 die kognitiven Turbulenzen, denen sich der Leser unterworfen sieht, waren vielen Kritikern unangenehm, und eines der Leitthemen, der semiologische Roman über die Unverständlichkeit der Zeit, ist ein paar Jahre später ungleich populärer von Umberto Eco in Il nome della rosa (1980) erzählerisch verhandelt worden. Ich muss den Roman in der gebotenen Knappheit vorstellen und zitiere dazu Höllerers Inhaltsangabe, die er für die Einleitung der gekürzten Ausgabe (1975) geschrieben hat: Ein Einzelner, ein Museumsangestellter, versucht eine Ausstellung für das Publikum vorzubereiten. Er unternimmt in der Bundesrepublik Deutschland, dann auf der Fahrt durch die DDR, und in Westberlin Vorbereitungen für die

28 Höllerer, Walter: Die Elephantenuhr. Roman. Frankfurt a.M. 1973, S.26. 29 Lorbe 1986, S. 94. 30 Vgl. Hans Werner Richters Erinnerungen an die beiden Lesungen in Richter, Hans Werner.: Das Lachen der Oberpfalz. Walter Höllerer. In: Ders.: Im Etablissement der Schmetterlinge. Einundzwanzig Porträts aus der Gruppe 47. München und Wien 1986, S. 149-159, hier S. 151f. 31 Enzensberger, Hans Magnus an Walter Höllerer: Brief v. 25.6.1966, zit. n. Böttiger 2005, S. 209. 32 Vgl. den Rezeptionsüberblick in Böttiger 2005, S. 198-221.

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Ausstellung. Die Ausstellung wird, in seinem Kopf und auf seinen Vorbereitungszetteln, überdimensional. Er erkennt die ihm bisher unbekannt gebliebenen Zusammenhänge und Schaltstellen. Schwieriger noch ist, daß er sich selber, sein eigenes Bewußtsein, mit einbeziehen muß in den Vorbereitungs-Vorgang, weil die Ausstellung sonst nicht stimmt. – Er sieht einen Teil von sich als Konkurrenten vor sich, G, der ihm in den Erkenntnissen und Schlußfolgerungen scheinbar dauernd vorauseilt. Er möchte ihn einholen. Der Roman hat so einen realen ›Helden‹, den Museumsangestellten Gustaf, und einen imaginären, chimärischen, von Gustaf projizierten Helden, den Nebenbuhler Professor G.

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Dieser G. sei für Gustaf Lorch ein Beobachter seiner selbst, den er braucht und den er loswerden will. So Höllerer zur Rekapitulierung der äußeren Handlung. Der Roman hat drei Ebenen, die auch visuell durch unterschiedliche Satzbreiten voneinander abgesetzt sind (deshalb ist der Roman doch recht schnell zu lesen): den breitesten Satzspiegel hat die Ich-Erzählung des Murrbacher-Marbacher Angestellten Gustaf Lorch, den schmalsten seine Imaginationsfigur G.; dazwischen steht die Tonband-Ebene: Gustaf hört sich Tonbänder an, die er selbst besprochen hat, gelegentlich hat er auch Gespräche anderer, auch mal eine Hof-Szene aufgenommen, die phonetisch genau wiedergegeben wird. Dass es sich um einen avantgardistischen Roman handelt, ist schon durch diese Skizze deutlich geworden. Das selbstreflexive Element ist durch die Tonband- und die G.-Ebene gewissermaßen verdoppelt; Erwartungs-Enttäuschungen sind hier gleich mehrfach zu konstatieren: Es ist ein Roman, der nicht wirklich auf Handlung hin lesbar ist, auch wenn er mit einem Knalleffekt, der Sprengung des Schillerdenkmals durch Lorch, endet. Die eigentliche Romanhandlung ist eher schmal und leicht nachvollziehbar. Die größte Provokation ist wohl, dass immer wieder »Passagen des Romans sehr schwer zu durchdringen sind«,34 wie Manfred Durzak gesagt hat, der schon im Jahr der Taschenbuchausgabe die wohl beste und auch überaus wohlwollende Arbeit über die Elephantenuhr geschrieben und ein langes Gespräch mit Höllerer über den Roman geführt hat. Gerade mit der gelegentlichen

33 Höllerer, Walter: Für den Leser. In: Ders.: Die Elephantenuhr. Roman. Frankfurt a.M. 1975, S. 5-11, hier S. 8. 34 Durzak 1976, S. 491.

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Unverständlichkeit seines Romans schließt Höllerer aber an die großen form- und sprachexperimentierenden Werke der Moderne an: er erzählt nicht einfach von der Überforderung seines Protagonisten, sondern sein Versuch, ein zeitgenössisch überfordertes Bewusstsein zu konstruieren, unterzieht den Leser genau der Erfahrung, um die es geht – er selbst durchläuft diese Überforderung, er wird »quasi zum Mitarbeiter oder zum Partner«, wie Höllerer Durzak gegenüber erklärt: »Hätte ich einfachere Strukturen benützt, hätte ich es weniger glaubhaft machen können, daß er so überfordert ist. Das entspräche auch nicht meiner eigenen Verletzung in der gegenwärtigen Welt, der gegenwärtigen Mühle, in die jeder von uns – und Ihnen wird’s nicht anders gehen – hineingestellt ist.«35 Allerdings hat die Elephantenuhr einige handicaps der Moderne nicht aufgenommen, die Klaus Reichert in seinem Beitrag zum 65. Geburtstag Höllerers im Gefolge des britisch-amerikanischen Philosophen Stephen Toulmin herauspräpariert hat: Im Zuge der Moderne (die hier eher mit der Neuzeit gleichgesetzt wird) sei die Oralität zugunsten der Schriftlichkeit verlorengegangen, das Partikulare zugunsten des Allgemeinen, das Lokale-Konkrete zugunsten des Abstrakten-Universellen, das Präsentische, das Vorstellungen von Permanenz und Stabilität weichen musste.36 Reichert legt in seinem Aufsatz dar, inwiefern Joyce’ Finnegans Wake als erstes Werk Möglichkeiten wieder aufgenommen hat, »deren Ausscheiden zu den Bedingungen der Moderne gehört hatte«.37 Auch Höllerers Roman nimmt einige dieser anti-modernen Kriterien wieder auf, wenn auch nicht alle; vielleicht lag in ihnen gerade das ›avantgardistische‹ Moment, das im Zuge einer breiten Durchsetzung avantgardistischer Strategien im Literatursystem der sechziger und siebziger Jahre nicht auf Zustimmung stieß. Höllerer geht immer wieder in seinem literarischen Werk, nicht nur in der Elephantenuhr, von konkreten Orten aus, sei es die Oberpfalz (vgl. das Sulzbach-Rosenberg-Gedicht), seien es Marbach und Berlin im Roman. Die gesprochene Sprache, Oralität, spielt durch die Tonband-Ebene eine große Rolle. Anders als in Reicherts bzw. Toulmins Thesen besteht der Roman auf einem Modell der Welt-

35 Ebd., S. 492f. 36 Reichert, Klaus: Quid pro quo oder post als prä. In: Miller, Norbert/ Klotz, Volker/ Krüger, Michael (Hg.): Bausteine zu einer Poetik der Moderne. Festschrift für Walter Höllerer. Wien 1987, S. 332-344, hier S. 332f. 37 Ebd., S. 338.

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erklärung, auf dem Versuch, alles mit einem universellen System fassen zu können – Lorch will in seiner Ausstellung die Welt mit Hilfe der Semiologie deuten, die Lehre von den Zeichen soll ihm alles erklären. Nun scheitert er ja gerade mit dem Versuch, der Wahnsinn ist durchaus in Sicht, allerdings wird Lorch nach der Denkmalssprengung ins Gefängnis gesperrt und kann dort vielleicht wieder den Überblick gewinnen, indem er beginnt, an seiner Semiologie zu schreiben – ein irisierender Schluss, der vielleicht noch irisierender wird, wenn man daran erinnert, dass (romanextern) der ganze Begriff der Semiologie kurz nach Erscheinen der Erstausgabe eingebrochen ist, gegenüber Saussures Semiologie hat sich die Peirce-Schule der Semiotik durchgesetzt (zu der auch Umberto Eco gehört). Wie handhabt Höllerer das Präsentische in seinem Roman? Der Text ist so wenig permanent und stabil, dass sein Verfasser ihn binnen zwei Jahren stark umschreiben konnte, die Taschenbuchausgabe umfasst gut zweihundert Seiten weniger. Aber die romaninternen Strategien sind wichtiger: Die Tonband-Ebene inszeniert überdeutlich Gegenwart, die Leserinnen und Leser werden gewissermaßen zu Hörerinnen und Hörern gemacht und müssen selbst immer wieder neue Lesemodelle ausprobieren, um die Verständnisschwierigkeiten zu überwinden – Höllerer hat behauptet, ein mythologisches Modell würde ebenso funktionieren wie ein gesellschaftsbezogenes, ein biographisches, ein psychoanalytisches.38 Ein stark ›präsentisches‹ Lesen ist hier gefordert, das aber zu vielen Trouvaillen führen kann, ganz in der Art des Serendipitäts-Prinzips, das Höllerer immer wieder aufruft, so auch in seinem Roman. Hier wird es von »G.« erklärt, man könnte es vielleicht schnöde als Prinzip des glücklichen Zufalls übersetzen: Es ist die weithin bekannte Geschichte von den drei Prinzen von Serendip auf Ceylon und ihren Elefanten-Patrouillen. [...] Als die Hoheiten auf ihren kopfnickenden, rüsselpendelnden Elefanten reisten, [...] machten sie Entdeckungen, durch Zufall (by accident) oder durch Scharfblick (sagacity), von Dingen, die sie bisher nicht bemerkt hatten.39

38 Durzak 1976, S. 495. 39 Böttiger 2005, S. 107.

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Eine »Erkundungsfahrt mit offenen inneren Augen«;40 die glücklichen Entdeckungen müssen auf einen vorbereiteten Geist treffen. Es handelt sich um ein wichtiges Prinzip in der Informatik und (hoffentlich) der Kreativitätsforschung, und nicht nur das: Serendipity-Funde sind etwa die Entdeckung Amerikas, die Entdeckung von Röntgenstrahlung, Penicillin und Viagra. Sollten Leser allerdings glauben, dass der Roman mit Hilfe der Elefanten- und Rüssel-Pendel-Metaphorik für ein esoterisches Ausbalancieren plädiert, ein ausbalanciertes Leben, Balance durch die Kellnerin, mit der Gustaf ein Verhältnis hat, würden sie enttäuscht – eine der Entdeckungen, die man in diesem Roman machen kann, ist, wie immer wieder Sinn aufgebaut, suggeriert, schließlich zerstört oder banalisiert wird. Dafür ist das Wort ›Balance‹ ein gutes Beispiel, als es auf das schnöde Wurstbrot herunterkommt: »G, ein paar Bissen kauend, den Vormittag überdenkend, den Geschmack von Salami und Bier im Mund. Den Pfeffer- und Bitter- und RindenGeschmack von Salami, Bier und Brot langsam gegeneinander ausbalancierend im Mund, mit Möglichkeiten.«41 Auch die permanenten Elefanten des Romans haben nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine ›präsentische‹ Dimension; sie sind ein »Alternativentwurf« zur mechanischen Zeitmessung der Uhren, ein ironischer Mythos – nach Höllerer bedeutet das »Hin- und Herpendeln der Elephantenrüssel [...] eine Bewegung, die unserem menschlichen Körperbau mehr angemessen ist, als das Räderwerk oder das elektronische Zucken, das wir unserem Leben zugrundelegten, wenn wir es ganz und gar von dieser anderen Zeitmessung beeinflussen ließen.«42 Auch die Aufforderung, die eigenen Zeitmaße zu überprüfen, wird

40 Harig, Ludwig: Erkundungsfahrt im rechten Augenblick. Ein autobiographischer Beitrag zu Walter Höllerers Serendip-Prinzip. In: Miller, Norbert/ Klotz, Volker / Krüger, Michael (Hg.): Bausteine zu einer Poetik der Moderne. Festschrift für Walter Höllerer. München, Wien 1987, S. 142-147, hier S. 142; vgl. auch den Beitrag im selben Band von Muschg, Adolf: Wie es So (oder auch ganz Anders) geht, oder Cuiusdam vita more Hoelleriano demonstrata, S. 278-286. – Der umfangreichste Beitrag von Walter Höller hierzu: Die Leute von Serendip erkunden die Giftfabrik – Darmstädter Rede. In: Gotzmann, Werner (Hg.): Walter Höllerers oberpfälzische WelteiErkundungen. Weiden 1987, S. 138-146. 41 Höllerer 1973, S. 183. 42 Lorbe 1986, S. 96.

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ironisiert; Lorch macht sich Notizen über den Wilhelm Reichschen Orgon-Akkumulator, Kisten, die innen mit einem blanken Metall bezogen sind, um »das Altern des Körpers und der Seele« zu verhindern, und er imaginiert, was geschähe, wenn er eine solche Kiste öffnete: »Was liegt darinnen, Graues? Mit verdrehtem Rüssel?«43 Der Elefant ist immer schon da. V Abschließend soll noch nach der Aktualität von Höllerers Werk gefragt werden; das will ich nur noch im Herausstellen eines Aspekts tun. Er wollte erklärtermaßen nicht weniger als »das gegenwärtige Bewußtsein fassen«,44 und Höllerer hat sich entschlossen, im Bewusstseins-Begriff nicht klassisch philosophisch zu bleiben, sondern auch über das Gehirn zu schreiben. Seine Beschreibungen von innerem und äußerem Gehirn, die Überlegungen zur Ähnlichkeit von Zeichen im Hirn der (nicht sprachlich organisierten) Elefanten und der Menschen, überhaupt die Darlegungen zum Elefantenhirn, in dem alles, das Gegenwärtige wie das Längstvergangene, das ins Stammhirn Gerückte, in Gleichzeitigkeit miteinander verbunden sind, diese Überlegungen sind von großer Hellsichtigkeit. Auch sie gelten Höllerer zwar als Gegenposition, der Elefant sei gegen die nervöse Augenblickshaftigkeit, die Unruhe gerichtet und steht für den utopischen, als Stoßseufzer geäußerten Wunsch: »wenn ein menschlicher Verstand so groß und weiträumig sein könnte wie eben ein Elephantenkopf«!45 Die Neurobiologie hat in den letzten Jahren ja enorme Entwicklungen vollzogen und gibt sich alle Mühe, zur Leitwissenschaft zu werden; in der Folge befassen sich zunehmend Neurobiologen auch mit kulturellen Fragen. Das Bild vom neuronalen Netz, in dem alles gleichzeitig immer nebeneinander existiert, bestätigt im Grunde Höllerers Elefanten- und Gehirn-Metaphorik; und auf die Frage, warum es überhaupt Kunst gibt, (neuro)biologisch gesprochen, kriegen wir hier unter anderem zu hören, dass Kunst vermutlich als Ausdruck des Versuchs entstanden sei, »Wirklichkeiten faßbar zu machen, die aufgrund der reflexiven Struktur unserer Gehirne entstanden sind und erfahrbar

43 Höllerer 1973, S. 130. 44 Durzak 1976, S. 508. 45 Ebd., S. 501.

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wurden und die mit dem rationalen Anteil unserer Sprache nicht abgebildet werden können.« Hinzu kommen noch adaptive Fähigkeiten; Kunst hat etwas mit dem überlebensnotwendigen »Explorationstrieb«, der »Neugierde« oder dem »Experimentiertrieb« zu tun.46 Die Wirklichkeit sei nur eine Kopie unserer großen Romane, hat ein großer Autor des 20. Jahrhunderts geschrieben; offenbar hat er auch hier wieder recht.

46 Alle Zitate aus Singer, Wolf: Neurobiologische Anmerkungen zum Wesen und zur Notwendigkeit von Kunst. In: Ders.: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt a.M. 2002, S. 211-234, hier S. 224f.

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L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. In: Tiedemann, Rolf unter Mitwirkung von Adomo, Gretel/ Buck-Morss, Susan und Schultz, Klaus (Hg.): T. W. A.: Gesammelte Schriften, Band 7. Frankfurt a.M. 1997. Berbig, Roland / Krüger, Alexander: Ein Novum unter der Ägis eines Lehrstuhlinhabers. Walter Höllerer im Jahr 1959. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 8 (2008), S. 89-99. Böttiger, Helmut unter Mitarbeit von Dittrich, Lutz: Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs. Berlin 2005 (= Texte aus dem Literaturhaus Berlin, Bd. 15). Durzak, Manfred: Wir leben in einer unüberblickbaren Welt. Gespräch mit Walter Höllerer. In: Ders.: Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen. Frankfurt a.M. 1976, S. 482-511. Enzensberger, Hans Magnus: Die Aporien der Avantgarde. In: Ders.: Einzelheiten II. Poesie und Politik. Frankfurt a.M. 1984, S. 50-80. Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne 1890-1933. Stuttgart, Weimar 2010. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt a.M. 2004. Harig, Ludwig: Erkundungsfahrt im rechten Augenblick. Ein autobiographischer Beitrag zu Walter Höllerers Serendip-Prinzip. In: Miller, Norberg/ Klotz, Volker/ Krüger, Michael (Hg.): Bausteine zu einer Poetik der Moderne. Festschrift für Walter Höllerer. München und Wien 1987, S. 142-147. Hettche, Walter: Georg Britting im literarischen Leben der fünfziger Jahre. Mit bisher unbekannten Briefen von Georg Britting und Walter Höllerer. In: Hummel, Adrian und Nieberle, Sigrid (Hg.): Weiter schreiben. Wieder schreiben. Deutschsprachige Literatur der fünfziger Jahre. Festschrift für Günter Häntzschel. München 2004, S. 3-20. Höllerer, Walter: Alle Vögel alle. Komödie in zwei Akten. Frankfurt a.M. 1978. Höllerer, Walter: Die Elephantenuhr. Roman. Frankfurt a.M. 1973. Höllerer, Walter: Die Leute von Serendip erkunden die Giftfabrik – Darmstädter Rede. In: Gotzmann, Werner (Hg.): Walter Höllerers oberpfälzische Weltei-Erkundungen. Weiden 1987, S. 138-146.

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Richter, Hans Werner: Das Lachen der Oberpfalz. Walter Höllerer. In: Ders.: Im Etablissement der Schmetterlinge. Einundzwanzig Porträts aus der Gruppe 47. München und Wien 1986, S. 149-159. Singer, Wolf: Neurobiologische Anmerkungen zum Wesen und zur Notwendigkeit von Kunst. In: Ders.: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt a.M. 2002, S. 211-234. Skårderud, Finn: Unruhe. Eine Reise in das Selbst. Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann. Hamburg 2000.

»Neue Gedichte sind kein Luxus, sondern eine Lebensnotwendigkeit« Walter Höllerer und die Akzente S USANNE K RONES

Einleitung Mit der Gründung der Literaturzeitschrift Akzente verhält es sich wie mit jeder guten Idee – sie hat viele Väter. Nach Walter Höllerers Darstellung ging die Idee für die Gründung einer literarischen Zeitschrift eindeutig von ihm und Günter Eich aus; beide seien miteinander im Gespräch darüber gewesen, bevor mit Hanser ein konkreter Verlag für das Projekt ins Spiel kam. Hätte sich der Verlag allerdings nicht seit Jahren mit der Idee einer literarischen Zeitschrift getragen, wäre der Anstoß für ein derartig groß und langfristig angelegtes, kostspieliges Projekt wie die Akzente von außen sicher wirkungslos geblieben. Nach der Darstellung Herbert G. Göpferts hat der Verlag den Schritt auf beide Herausgeber zugemacht. Göpfert schildert, wie er selbst auf Vermittlung Brittings als Lektor in den Verlag kam1, dass seit etwa

1

»Im Frühjahr 1948 nannte er Carl Hanser meinen Namen als den eines möglichen Mitarbeiters – seit Jahren mit mir bekannt hatte es ihm, dem eingefleischten Bayern, überhaupt nicht in den Kopf gewollt, daß ich nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft ausgerechnet in Düsseldorf, wie es damals schien, ein neues Arbeitsfeld finden sollte. Davor wollte er mich bewahren.« Göpfert, Herbert G.: Akzente – vorgeschichtlich. In: Mil-

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1951, mit der langsamen Normalisierung des literarischen Lebens, die Zahl der unverlangt eingesandten Manuskripte rasch wuchs, von denen sich 98 Prozent nicht zur Veröffentlichung eigneten: »Unter diesen Manuskripten fanden sich aber hier und da doch gewisse Talentsignale, die Beachtung, deren Autoren Ermunterung verdienten. Der geeignete Ort für solche Zeugnisse wäre eine Zeitschrift gewesen.«2 Die zweite Motivation, die Göpfert aus Verlagssicht für die Gründung einer Zeitschrift nennt, ist eine gesellschaftspolitische: In den Jahren seit dem Kriegsende, insbesondere in der kurzen Zeit seit den ersten Anfängen eines neuen wirtschaftlichen und politischen Lebens begannen sich aber neue Kräfte zu regen, Autoren mit eigenem Ton, auf der Suche nach Ausdruck eines neuen Zeitbewußtseins. War es nicht für einen jungen Verlag eine Aufgabe, diesen Stimmen das fehlende Zeitschriften-Forum zu verschaffen?3

Hanser und Göpfert hätten dann, so Göpfert, die Herausgeberfrage erwogen und sich bewusst gegen einen ›großen Namen‹ entschieden: »[...] wir befürchteten doch, daß gerade hierdurch die Zeitschrift von vornherein in ihrer Art und Richtung festgelegt erscheinen könnte.«4 Dann, so Göpferts Darstellung, habe er dem Verleger Walter Höllerer vorgeschlagen, dessen Lyrikband Der andere Gast Göpfert als Lektor betreute: Hier war ein noch nicht durch frühere Publikationen festgelegter Autor, der sehr wach in seiner Zeit stand, aber auch in seiner Wissenschaft Literatur als Kunst verstand, jemand der – in jeder Hinsicht – über die Grenzen hinausschaute, lebendig, unkonventionell, einfallsreich war, dabei von jener hartnäckigen Gewissenhaftigkeit auch im Detail, die den wahren Künstler wie Wissenschaftler kennzeichnet – für die erwogene neue Zeitschrift der rechte Mann.5

ler, Norbert / Klotz, Volker / Krüger, Michael (Hg.): Bausteine zu einer Poetik der Moderne. Festschrift für Walter Höllerer. München 1987, S. 99. 2

Ebd., S. 100.

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Ebd.

4

Ebd., S. 101.

5

Ebd., S. 101f.

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Die Frage nach dem ›eigentlichen‹ Vater der Zeitschriftenidee soll bewusst nicht beantwortet werden, ist sie doch schon ungenau gestellt. Denn nach welcher ›Zeitschrift‹ wird gefragt? Die Akzente selbst existierten zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht, sie standen als Ergebnis am Ende eines mehrjährigen Prozesses, der mit der ›Zeitschriftenidee‹ begann. Die vage Zeitschriftenidee wiederum ist alles andere als urheberrechtlich relevant – lag sie doch ganz einfach in der Luft, wie die zahlreichen parallelen und leicht zeitversetzten Gründungen dieser Jahre belegen. Die Umsetzung der Idee war eine Frage der richtigen Konstellation, eines ›situativen Zufalls‹6. Wie sinnlos die Frage nach dem ersten Impulsgeber, dem ›Vater‹ des Zeitschriftenplans ist, zeigt ein Gedankenspiel: Wären Höllerer und der Hanser Verlag in der Zeitschriftenfrage nicht zu einem Ergebnis gekommen – sei es, dass nie ein Gespräch stattgefunden hätte, sei es, dass die unterschiedlichen Konzepte nicht zu harmonisieren gewesen wären – hätten doch beide Seiten mit einiger Wahrscheinlichkeit eine literarische Zeitschrift realisiert. Höllerer in einem anderen Verlag, Hanser mit anderen Herausgebern. Beides wären ›andere‹ Zeitschriften geworden, weil sie in einer anderen Konstellation von teilweise anderen Akteuren konzipiert worden wären, ebenso wie die Akzente in ihrer endgültigen Form Produkt eines Prozesses waren, einer Zusammenarbeit in genau dieser Besetzung, nicht eine Idee dessen, der das Wort ›Zeitschriftenplan‹ als erster im Mund führte. Die Akzente verdanken sich in ihrer endgültigen Form und ihrer Existenz also nicht dem einen ›Vater‹ des Zeitschriftenplans, sondern einer Konstellation von Umständen, wie es für alle Verlagsprodukte typisch ist.

6

Vgl. hierzu auch Krones, Susanne: Akzente im Carl Hanser Verlag. Geschichte, Programm und Funktionswandel einer literarischen Zeitschrift. 1954-2003. Göttingen 2009, S. 29 f.: »Die Publikationsgeschichte der Akzente jedoch zeigt, wie viel von situativem Zufall und personellen Konstellationen abhängt, dass die Herausgeber ihre je eigenen Werte und Entscheidungskriterien zu behaupten und die Werte anderer außer Kraft zu setzen versuchen: ›Werte sind nicht sachlich determiniert, sondern ebenso das Ergebnis einer sozialen Konkurrenz wie einer sozialen Koalition.‹«

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»Höchstes Niveau und internationales Format«: Walter Höllerers programmatische Konzeption der Akzente (1952-1953) Rekonstruiert man den Prozess der Konzeption aus der Korrespondenz, beginnt sie tatsächlich mit dem Lyrikband Der andere Gast. Im November 1952 schickt Höllerer aus Heidelberg einige sehr positive Stimmen zu seinem Gedichtband an Carl Hanser, und kommt dabei auf den »Zeitschriftenplan« zu sprechen, über den bereits ein erstes Gespräch mit Hanser stattgefunden hat: Es war mir wichtig, dass wir über den Zs.-Plan ins Gespräch kamen. Seien Sie dessen versichert, dass es mir damit ernst ist. Die Vorschläge sind nicht nur hingeworfen, sondern wohl durchdacht. Es geht um gegründete Sachlichkeit, die dennoch dem Unwägbaren offen ist. Auch darum, was »in der Luft liegt«. Um Abstraktion, die das Konkrete einbegreift. Um ein mutiges und sauberes Vorwärts. [...] Vor allem müsste die Zs. aufbauen, bevor sie Abgestandenes, Unsauberes und Scheinhaftes kritisiert. Dann allerdings kämpferische Kritik gegen zwei Fronten: Krähwinkelei und modisch-resignierenden Snobismus. Gegen gleichschaltende und verstummende Tendenz: versteht sich wohl von selbst. Auch gegen unkünstlerische Schluderhaftigkeit, besonders dort, wo sie sich mit Opportunismus paart.7

Schon in diesem frühen, programmatischen Brief, der Höllerers Begeisterung und Enthusiasmus zeigt, deutet sich an, dass der junge, ambitionierte Germanist von Anfang an für einen literaturwissenschaftlichen Anteil in der Zeitschrift kämpfte als ein »Gegengift gegen den schwimmenden Essayismus«, während dem Verlag weit mehr an einer primärliterarischen gelegen ist. Ebenso hat Höllerer von Anfang an internationales Format für die Zeitschrift eingefordert – »Höchstes Niveau und internationales Format. Keine zänkische, lokalpatriotische

7

Höllerer, Walter an Carl Hanser: Brief v. 27.11.52. In: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg (=LSR), Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/30578. – Alle Quellenzitate aus Archivalien des Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg (LSR) und des Carl Hanser Verlags (CHV) sind in größerem Zusammenhang nachzulesen in: Krones 2009.

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Stubenluft. Deutsch, aber nicht teutsch.«8 Die Pflege der AkzenteAutoren wiederum soll auf den Verlag zurückwirken, dem eine anspruchsvolle, zeitgenössische Literatur, ein Anschluss an die Avantgarde, so schmerzlich fehlen. Bis Anfang Februar 1953 fanden weitere Besprechungen statt, deren Ergebnisse Walter Höllerer in einem sehr ausführlichen Brief an Hanser bündelte: Er skizziert das Selbstverständnis der Zeitschrift als eines, das sich gestaltend und profilbildend versteht, neue Stimmen entdecken will, diese aber an strengen ästhetischen Maßstäben misst: 2. Die Grundlinien der Zs.: sie greift bewusst in die Literaturentwicklung ein [...] Die Zs. vertritt die konstruktiven Kräfte der jungen literarischen Generation in Deutschland, die in stetem Kontakt mit dem übrigen literarischen Abendland sich hält. Die Zs. ist in keiner Weise konfessionell oder parteipolitisch gebunden. [...] Es gelten die schärfsten ästhetisch-kritischen Massstäbe.9

Was den literaturwissenschaftlichen Anteil innerhalb der Zeitschrift betrifft, scheint Höllerer einzuschwenken auf Hansers Position, diesen Anteil niedrig zu halten. Was die Inhalte der Hefte betrifft, haben sich Herausgeber und Verlag auf folgende Grundlinien geeinigt: Dichtungen als Originalbeiträge [---] epischer, lyrischer und dramatischer Art, auch Hörspielszenen; in erster Linie von deutschen, aber auch Erstübersetzungen ausländischer Autoren.10

Der urheberrechtliche Status der Texte sollte überwiegend der von Originalbeiträgen oder Erstübersetzungen ins Deutsche sein. Beiden Akteuren ist daran gelegen: Für Höllerer sind sie, neben geschickter Themenplatzierung, die beste Möglichkeit, sein Profil als Herausgeber zu bilden und zu schärfen, der Verlag erwirbt, was genuin Kern eines Verlages ist: Rechte. Zwar sind Rechte an Zeitschriftenbeiträgen durch die kurze Schutzfrist, den geringen Umfang und die stärkere Bindung

8

Ebd.

9

Höllerer, Walter an Carl Hanser: Brief v. 2.2.1953. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/30579.

10 Ebd.

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an Erscheinungstermin und -ort in der materiellen Verwertung längst nicht so attraktiv wie Buchrechte. Nachdrucke in Anthologien, vor allem aber in fremdsprachigen Literaturzeitschriften steigern das Renommee der Zeitschrift aber erheblich, außerdem verspricht sich der Verlag, Originalautoren der Zeitschrift mit ihren Büchern an sein Haus zu binden. Gegenseitige Inspiration und eine Bereicherung des Verlagsprogramms durch die Zeitschrift sind von Anfang an intendiert; die Zeitschrift hat für den Verlag also durchaus auch die Funktion einer Agentur – mit den Herausgebern werden zwei weitere Augenpaare den literarischen Markt beobachten. Sie haben ein ureigenes Interesse an einer attraktiven Auswahl, wenn sie sich als Herausgeber profilieren wollen, bringen je eigene Kompetenzen und Kontakte mit, die sie in ihren anderen Berufen und Netzwerken permanent ausbauen. Schwieriger als die programmatischen und vor allem organisatorischen Fragen, in denen sich Göpfert und Höllerer weitgehend einig sind, gestaltet sich die Einigung in finanziellen und personellen Belangen, also in der Honorarfrage und der Entscheidung für einen zweiten Herausgeber: »In Beziehung auf Britting und auch auf die Honorarfrage waren wir uns schon einmal einig, wie mir mein gutes Gedächtnis sagt, und zwar anders. Es wundert mich fast etwas, dass die Ansichten darüber so labil sind.« 11 Höllerer erweist sich als sachlicher, aber zäher Verhandler, der immer wieder auch ins Feld führt, dass sich die Entstehung der Zeitschrift im Wesentlichen seiner Initiative und Konzeption verdankt. Wie vorläufig die Liste der zu akquirierenden Autorinnen und Autoren ist, zeigt ein Abgleich mit den tatsächlich erschienenen ersten Heften, in denen sich einiges, aber längst nicht alles findet, was Höllerer selbst bereits ahnte: »Es lässt sich vor dem eigentlichen Beginn des Vorfühlens noch nichts festlegen.« 12 Eine Richtung will er mit seiner Liste allerdings vorgeben: »Dies aber ist die Richtung, wie sie meiner Meinung nach sein sollte: Ältere und Junge gemischt, Problematiker und gute Unterhalter, anreizende Untersuchungen, Rücksicht auf Hanser-Autoren, alle aber ›alluvial‹.«13 In dieser letzten Feststellung – »Rücksicht auf Hanser-Autoren, aber alle ›alluvial‹« – sind die beiden

11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd.

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Filter, Verlag und Zeitschriftenredaktion, die jeder Text in den Anfangsjahren wird passieren müssen, bereits eingespannt. Der junge Herausgeber scheint bereits zu ahnen, dass sie nicht immer in die gleiche Richtung geschaltet sein werden, und verwahrt sich sachlich und souverän eines »aufgepflanzten Spatzenschrecks«. Vor allem aber verwahrt sich Höllerer einer Entwicklung der Zeitschrift, die er selbst unter keinen Umständen mittragen könnte, deren Beabsichtigung er seinen etablierten Verlagskollegen und seinem elitär-konservativen Verlagshaus aber durchaus zutraut: einer ›Neuauflage‹ der Literaturzeitschrift Das Innere Reich. Schließlich hatte Herbert G. Göpfert redaktionell am Inneren Reich mitgearbeitet, Hausautor Georg Britting, der sowohl Höllerer als auch Göpfert an Hanser vermittelt hat, war eng befreundet mit Paul Alverdes, dem Herausgeber des Inneren Reiches. Höllerer stellt klar: Dazu muss ich, weil mir grösstmögliche Klarheit lebensnotwendig ist, noch eine andere Feststellung machen: nämlich, dass ich auf keinen Fall bei einer Renovatio des Inneren Reiches mitmachen könnte. In dieser Richtung müsste auch der blosse Schein vermieden werden, seis was Name, Aufmachung oder auch Autorenauswahl angeht. Das Innere Reich war zu seiner Zeit sehr gut. Die Zeiten haben sich gewandelt; wir haben gewisse Erfahrungen hinter uns; nachher ist nicht mehr vorher. Die Intentionen unserer Zs. sind nach dem, was wir bisher vereinbart haben, andere als die des Inneren Reiches. Die lesenden Menschen (und auch die schreibenden) sind anders geworden. Schon im äusseren Stil der Aufmachung muss sich dies zeigen. Nur eine moderne Zs. hat Chancen: und zur Moderne gehören die erregenden Linien und ein gewisses Mass von Abstraktion.14

In seiner Argumentation (»Nur eine moderne Zs. hat Chancen ...«) zielt Höllerer seinem Verlag gegenüber klug auf die Verkäuflichkeit und Zukunftsfähigkeit der Zeitschrift, statt sich auf eine literaturgeschichtliche oder literaturpolitische Debatte einzulassen.

14 Höllerer, Walter an Herbert G. Göpfert: Brief v. 2.5.1953. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/30585.

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Höllerers Pendant: Die Suche nach einem zweiten Herausgeber (1953) Dass es zwei Herausgeber geben sollte, war für den Verlag eine Grundvoraussetzung: »Wir wollten keine Zeitschrift haben, die allzu stark die Vorlieben oder die Handschrift nur eines Mannes trug«15, so Göpfert im Rückblick. Für den Verlag dürfte längst nicht nur eine Konstellation ausschlaggebend gewesen sein, die lebendige Diskussionen erlaubt: Vielmehr ging es durch die Wahl eines Herausgeberteams auch um die Stabilität der freiberuflichen Herausgeberschaft. Der Hanser Verlag hat Höllerer gebeten, Vorschläge für einen zweiten Herausgeber einzubringen. Sein Favorit war Günter Eich: Er ist in weiten Kreisen bekannt durch seine Hörspiele, ist ein ausgezeichneter Dichter und ein klarer Kritiker, ist ohne jedes politische oder konfessionelle Vorurteil, ist anerkannt von den Jungen (Preis der Gruppe 47), von den Arrivierten (Preis der Münchner Akademie, Verbindung zu Britting, Schröder, Lehmann) und selbst von ›offizieller‹ Seite (Überreichung des Hörspielpreises für 1952 durch Prof. Heuss). Ich halte sehr viel von seinem Urteil und würde mich gern von ihm belehren lassen. Er ist ein Mensch ohne Arroganz und vor allem kein Diplomat mit Hintertüren. Seine Haltung ist die der unbedingten Rechtlichkeit und der Hingabe an die Sache selbst. Sein ›Programm‹ geht sehr mit Ihren Wünschen überein [...].16

Alternativ bringt Höllerer Ilse Aichinger und Paul Celan ins Gespräch: »Beide haben den Vorteil guter Beziehungen zum Ausland und guter Sprachkenntnisse; durch sie könnte die Zs. an Internationalität gewinnen.« 17 Wie bei seinem Favoriten Eich zeigt sich auch hier, dass die schriftstellerische Bedeutung für Höllerer wesentliches Kriterium bei der Auswahl seiner Mitherausgeber ist. Zum von Verlagsseite als

15 Adler, Christine: Persönliches Gespräch mit Prof. Dr. Herbert G. Göpfert in München. In: Dies.: Die Literaturzeitschrift Akzente. Zeitschrift für Dichtung. Ein entstehungsgeschichtlicher Abriß. Regensburg 1993 [Unveröffentlichte Magisterarbeit an der Universität Regensburg, Anhang I], S. 20. 16 Höllerer, Walter an Carl Hanser: Brief v. 21.4.1953. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/30582. 17 Ebd.

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zweiten Herausgeber ins Gespräch gebrachten Heinz Friedrich, später Gründungsherausgeber des Deutschen Taschenbuch Verlages, äußert sich Höllerer positiv, aber zurückhaltend. Es folgen weitere Journalisten und Schriftsteller auf seiner Prioritätenliste. Bezeichnend ist die Nennung Hans Benders als Konturen-Herausgeber sowie »arbeitsfreudige und überhaupt recht erfreuliche Persönlichkeit« durch Walter Höllerer bereits in diesem frühen Dokument. Auch wenn die Wahl zunächst auf Günter Eich fallen wird, ist es Hans Bender, der die zu diesem Zeitpunkt noch namenlose Zeitschrift schließlich – außen und innen – zu dem machen wird, was sie heute ausmacht. Besorgt um eine zu »avantgardistische« Prägung der Zeitschrift bringen Hanser und Göpfert noch einmal einen Namen ins Gespräch, der in die entgegengesetzte Richtung weist: Georg Britting, und setzten damit eine Diskussion fort, die Höllerer längst ausdiskutiert glaubte. Höllerer – in einer komplizierten Situation seinem Mentor Britting gegenüber, dessen Vermittlung er sein eigenes lyrisches Debüt bei Hanser, und damit indirekt auch den Zeitschriftenkontakt verdankt – widerspricht sachlich, aber vehement: Britting ist schwer zu überzeugen, er hat vielmehr feststehende Meinungen. Er ist unbedingt autoritativ, dabei von einer grossen Empfindlichkeit. Man müsste mit äusserster Vorsicht laborieren, und das würde die Arbeit sehr erschweren. Es wäre kein glückliches Gespann, vor allem kein haltbares: eher oder später würde einer von uns beiden nicht mehr mitmachen. Ein solcher, beinahe naturnotwendiger Konflikt würde mir umso mehr leid tun, als ich Britting von Herzen verehre. Er ist ein ausgezeichneter Dichter, aber er ist kein Herausgeber einer Literaturzeitschrift. Sie wissen überdies, dass er eine feindselige Gereiztheit gegen jede, aber auch jede ›zergliedernde‹, diskursiv vorgehende Kulturbetrachtung oder Literaturvergleichung hat, eine ebensolche Gereiztheit gegen eine (noch so eingedämmte) ›Ausländerei‹. Wir kommen um beide Punkte nicht herum. Sodann: Sie wissen, dass Br. mit Hohoff eng befreundet [...] und mit Ernst Jünger stark sympathisiert. Auch mit Alverdes vernüpfen ihn enge Bande. Was Sie auf der einen Seite verhindern wollten, würden Sie auf Umwegen heraufbeschwören. – Damit nicht genug. Sie kennen genau Brittings Einstellung zum Militarismus, eine Sache, die bald wieder akut wird: wenn über nichts anderem, dann würde darüber bestimmt unser Zwiegespann in die Brüche gehen.

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Schli[e]sslich ist es ungeschickt, der Zs. einen so eng regionalen Anstrich zu geben, indem man zwei ausgeprägte Bayern zusammenspannt.18

Wenig anfangen kann Höllerer mit Hansers Vorbehalt, Günter Eich wäre Suhrkamp zu nah. Verständlich ist die Sorge Hansers durchaus, angemessen wäre, sie dann aber auch gegenüber Höllerer selbst zu äußern, der ebenfalls mit mehreren Verlagen in Kontakt steht und – obwohl als Hanser-Autor eingeführt – für Suhrkamp Gutachten schreibt und Waschzettel textet. Später wird Höllerer es sein, der mit seiner eigenen Lyrik und Prosa zu Suhrkamp wechselt und dort mit Transit eine wegweisende Lyrik-Anthologie vorlegen wird. Das Eis ist dünn, auf dem die entstehende literarische Zeitschrift ihre ersten Schritte versucht – über der Herausgeberfrage droht es anfangs sogar zu brechen, noch bevor ein Name für das junge und ambitionierte Zeitschriftenprojekt gefunden ist. Höllerer bietet an, zurückzuziehen und die Herausgeberschaft aufzugeben, worauf Hanser wiederum einlenkt und auf Britting als Mitherausgeber verzichtet: [I]ch mache die Zeitschrift entweder mit Ihnen oder auf absehbare Zeit überhaupt nicht. Die von Ihnen skizzierte Aufteilung hat zwar auch etwas für sich; mich reizt aber allein der Plan, den wir besprochen haben.19

Mit der Bekanntgabe innerhalb der Branche war die Zeitschrift quasi ›auf der Welt‹ und, obwohl noch nicht erschienen, schon unter Beobachtung. Umso härter traf die Beteiligten im November 1953 die Nachricht Günter Eichs, dass er sich aus Sorge um seine eigenen literarischen Arbeiten entschieden habe, die Herausgeberschaft nicht anzutreten. Obwohl Eich dem Verlag noch keine offizielle, rechtsverbindliche Zusage gemacht hatte, rechnete niemand mehr damit, dass er abspringen könnte. Auch Höllerer hat nach dem Ausstieg Eichs Zweifel an der Realisierung des Zeitschriftenprojekts, vor allem, was die eigene Arbeitsbelastung betrifft, und die Möglichkeit, neben seiner Tätigkeit im Literatur- und Universitätsbetrieb auch als Schriftsteller bestehen zu können:

18 Höllerer an Göpfert, Brief v. 2.5.1953, wie Anm. 14. 19 Hanser, Carl an Walter Höllerer: Brief v. 13.5.1953. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Sonderordner, Bl. 11.

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Wir sind also dabei, das Ding kaputtzumachen, bevor es geboren ist, ich genauso wie Sie, das weiß ich ja gut, das ist eine traurige Sache. Ich verstehe natürlich Ihren Brief, es geht mir auch so. Ich sehe ein, daß ich hier nicht der richtige Mann am richtigen Platz bin. Wahrscheinlich kann ich zur Not einigermaßen ein Gedicht machen, oder ich kann einen »wissenschaftlichen« Aufsatz schreiben, aber zu so einer anderen Tätigkeit muß man andere »Sinne« haben. Ich glaube, man muß eine große Fähigkeit haben, unberührt sein zu können, so daß einen das alles nicht so absorbiert und quält, man muß alle menschlichen Bindungen zurückstellen können, man darf keine zu langen »Umschaltzeiten« von einer Sache auf die andere haben. – Es wird also doch so werden, daß auch dieses neue »Kind« den Leuten vom literarischen Betrieb überlassen werden muss, gleichzeitig aber nehme ich mir jetzt vor, über diese Leute nicht mehr zu schimpfen. Man braucht sie, sie allein können das. Es hat sich gezeigt, daß ich nicht fähig bin, sowas, bei bestem Willen, zusammenzuhalten.20

Anders als der erst spät dazu gestoßene Eich kann Höllerer es sich nur schwer vorstellen, das von ihm konzipierte Projekt in fremden Herausgeberhänden zu wissen und findet sich wieder auf der Suche nach einem Pendant, einem Mitherausgeber. Es war im besten Sinn die Literatur, die Hans Bender und Walter Höllerer zusammengeführt hat. Vor ihrem ersten Treffen in Höllerers Heidelberger Zimmer war Höllerer durch die Zeitschrift Konturen bereits auf deren jungen Herausgeber Hans Bender aufmerksam geworden, Bender wiederum durch Der andere Gast auf den Lyriker Walter Höllerer, den er für seine Zeitschrift gewinnen wollte. Über einen Heidelberger Buchhändler kommt Bender zu Höllerers Adresse und entschließt sich, es mit einem unangemeldeten Besuch zu versuchen: Walter Höllerer kennenzulernen, fuhr ich eines Tages auf den Schloßberg, wo er in einer Villa der zwanziger Jahre zur Untermiete wohnte. Ich kam unangemeldet, aber auf dem Tisch lag das Heft 3 der Konturen, aufgeschlagen ein Gedicht, auf dem rechten Blatt von Bleistift-Korrekturen überkritzelt. Bei je-

20 Höllerer, Walter an Günter Eich: Brief v. 8.11.1953. In: Nachlass Günter Eich, Archiv Mirjam Eich, zit. nach: Böttiger, Helmut: Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs. Ausstellungsbuch unter Mitarbeit von Lutz Dittrich. Berlin 2005, S. 24.

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nem Besuch – obgleich wir uns erst ein Jahr später wiedersahen – wurde ein Kontakt geschlossen, der 1954 eine neue Zeitschrift zünden half.21

Es ist eine erstaunliche Wendung, wenn nach einem langwierigen Prozess der Programmarbeit und schwieriger Personalentscheidungen wie nebenbei ein Herausgeber gefunden wird, der sich als die Ideallösung für die Zeitschrift entpuppt.22 Nicht nur für die drei Jahre, die man sich vorgenommen hat, durchzuhalten, sondern für 27 – und damit für einen wesentlichen Teil der Geschichte der Zeitschrift. Hans Bender verdankt die Zeitschrift ihren Namen, Akzente. Vor allem aber verdankt sie ihre Starthilfe und ihr Fundament Hans Benders Zeitschrift Konturen. Umsetzung des Zeitschriftenplans: Die erste Ausgabe 1/1954 Bevor die Akzente Anfang Februar 1954 mit ihrer ersten Nummer die Bühne des Literaturbetriebs betreten konnten, war neben der bereits geschilderten, programmatischen Konzeption der Zeitschrift die ganz konkrete Akquise von literarischen und essayistischen Beiträgen für die ersten Nummern notwendig – eine erste Konfrontation des in der Theorie entworfenen Programms mit den Realitäten des literarischen Marktes, auf dem die Akzente mit anderen Zeitschriften- und Buchverlagen um Originalbeiträge konkurrierten. Eich und Höllerer fragten im Spätsommer/Herbst 1953 bei einer Reihe von Autoren nach bisher unveröffentlichten Texten an, meist mit einer Vorstellung, welches Genre der jeweilige Autor im Blatt vertreten sollte. Längst nicht alle dieser

21 Hans Bender in der Deutschen Zeitung v. 30.9.1961. 22 Reinhard Wittmann etwa würdigt das Gespann Höllerer-Bender als »Glücksfall für den Verlag, ja für die deutsche Literatur«: »Höllerer, ein höchst agiler, so konzilianter wie hartnäckiger Vermittler und Verbreiter von Literatur, war ein spekulativer, ideensprudelnder Kopf, dagegen Bender ein ruhiger, mit instinktsicherem Qualitätsgespür ausgestatteter Anthologist und Praktiker. Sie mischten provokante, verstörende Texte mit fast klassizistischen, führten in die aktuellen Strömungen des Auslands ein und spürten Debütanten auf, die bald zu den Zentralfiguren der Literaturszene gehören sollten.« –Wittmann, Reinhard: Der Carl Hanser Verlag 1928-2003. Eine Verlagsgeschichte. München und Wien 2005, S. 54.

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Anfragen waren erfolgreich. Von Verlagsseite regte Göpfert Ende 1953 an, die bereits während der Programmdiskussion und für die ersten Werbematerialien verfassten Autorenlisten um eine Reihe von Namen zu erweitern. Göpfert hat gar ein langes Verzeichnis potenzieller Beiträger erstellt, die von Höllerer und Eich bisher nicht berücksichtigt worden sind23: »Verstehen Sie dieses Verzeichnis nicht falsch. [...] Ich habe nur einmal einige Namen zusammengestellt, die mir nicht völlig indiskutabel und zum Teil durchaus diskutabel erscheinen.«24 Unter »Namen von Autoren, die in unseren Vorankündigungen bisher noch nicht vorkommen«, führt er auf: Stefan Andres, Gertrud von le Fort, Carl Zuckmayer, Hans Carossa, Gertrud Fussenegger, Paul Alverdes, Alfred Döblin u.a.25 Mit dem Vermerk »von mir angeschrieben, bisher noch ohne Antwort« führt Göpferts Liste weiter Ina Seidel, Emil Strauß und Franz Tumler auf.26 Erinnert man aus der Programmdiskussion die Liste der Autoren, die Höllerer eigentlich vorschweben – Ilse Aichinger, Heinrich Böll, Paul Celan etwa – und seine vehemente Absage an eine, auch nur näherungsweise, Fortführung der Programmlinien des Inneren Reiches, ist klar, dass er die Liste Göpferts in weiten Teilen als Affront gegen die eigene Programmarbeit verstanden wissen muss. Höllerer widerspricht dem Drängen Göpferts dann auch klar, ohne sich im Detail darauf einzulassen, warum die einzelnen Autoren in einer literarischen Zeitschrift, wie sie in zähen Verhandlungen programmatisch konzipiert worden ist, nichts zu suchen haben.27 Sehr klar verwahrt er sich gegen den Versuch Göpferts, Zeitschriften- und Verlagsprogramm allzu sehr synchronisieren zu wollen: »Wollten wir alle Verlagsautoren in einer Zweimonatsschrift im ersten Jahrgang bringen, so wird die Zeitschrift de facto eine Hauszeitschrift.«28 Es wird nicht der letzte Konflikt zwischen Verlag und Herausgeber über die Programmatik der Zeitschrift sein.

23 Liste vom 2.12.1953, angefertigt von Herbert G. Göpfert, in: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/30653. 24 Göpfert, Herbert G. an Walter Höllerer: Brief. v. 2.12.1953. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/30652. 25 Liste vom 2.12.1953, angefertigt von Herbert G. Göpfert (wie Anm. 23). 26 Ebd. 27 Höllerer, Walter an Herbert G. Göpfert: Brief v. 3.12.1953. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/30654. 28 Ebd.

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Ende des Jahres 1953 schließlich beginnt der Produktionsprozess des ersten Heftes. Langsam beginnen sich Arbeitsabläufe zwischen Verleger und Herausgeber bzw. zwischen Verlag und Redaktion herauszubilden. Nach der intensiven und arbeitsreichen Phase der Konzeption und Akquise liegt es schließlich vor, das erste Heft der Akzente. Es erschien, wie Verlag und Redaktion nach außen betonten, bewusst ohne Editorial und Programm. An erster Stelle platziert Oskar Loerkes Gedicht Ans Meer: »Die erste Seite, als einzige, behalten die Akzente auch solchen Gedichten vor, die schon einmal gedruckt worden sind und die sich bereits seit längerer Zeit als gültig erwiesen haben.«29 In dieser Grundentscheidung immerhin steckt etwas wie Programmatik; dass nämlich das Programm der Zeitschrift die Gedichte, die Literatur, selbst sind. Von Beginn an stand Loerke den Nationalsozialisten mit Abscheu, Ekel und Angst gegenüber. In einer Tagebuchnotiz vom 4. August 1932 heißt es: »Mit Zwang ans Verreisen gedacht. Gefühl: ich werde vertrieben werden. Die Totengräber Deutschlands werden mich bei lebendigem Leib begraben.«30 In vielen Gedichten äußerte sich Loerke mehr oder weniger verschlüsselt gegen die totalitäre Gewalt.31 Vor diesem Hintergrund ist es durchaus als programmatische Entscheidung zu verstehen, Oskar Loerkes Gedicht Ans Meer als ersten Text auf Seite eins des Premierenhefts der Akzente zu platzieren. Außerdem waren im ersten Heft Gedichte von Herbert Gerlitz, Gertrud Kolmar und Rainer Brambach vertreten, Erzählungen und Dialoge von Günter Eich, im Bereich der Prosa außerdem Geno Hartlaubs Die Verwandlung sowie Tagebuchaufzeichnungen des 1943 hingerichteten Hans Scholl. Die Tagebuchaufzeichnungen Hans Scholls, des hingerichteten Widerstandskämpfers der Weißen Rose, kamen durch Eichs Vermittlung in die Akzente. Er hatte sowohl die Kontakte nach Ulm, als auch den unbedingten Willen, in der Zeitschrift zu zeigen, dass Literatur mehr ist als nur ein ästhetisches Phänomen.

29 Vgl. Autorennotiz zu Oskar Loerke. In: Akzente 1 (1954), H. 1, S. 100. 30 Zit. nach: Sarkowicz, Hans / Mentzer, Alf (Hg.): Literatur in NaziDeutschland. Ein biografisches Lexikon. Erweiterte Neuausgabe. Hamburg und Wien 2002, S. 305. 31 Vgl. etwa Genesungsheim (1932), Das Gedicht (1934), Der Traum von den Disteln (1936), Bemalte Vasen von Atlantis (1935), Der Magier vor der großen Flut (1936), Die Hand des Gemordeten (1935) und Timur und die Seherin (1940). Ebd., S. 307.

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Im wissenschaftlich-essayistischen Bereich setzte die erste Nummer einen wirkmächtigen Auftakt mit ihrer Diskussion über Robert Musils Mann ohne Eigenschaften: Karl Markus Michel, Walter Boelich und Ingeborg Bachmann lieferten Beiträge dazu. Dazu kam ein germanistischer Beitrag Walter Höllerers zu Georg Büchners Woyzeck, erschienen unter dem Pseudonym Hermann van Dam, sowie Martin Heideggers Hölderlin-Vortrag »... dichterisch wohnet der Mensch ...«. Der härteste Gegenwind wehte dem Herausgeberteam nach Erscheinen nicht von außen, sondern von Verlagsseite entgegen. Eine interne Verlagsnotiz kritisiert das Heft mit dem Generaltenor: »Zu viele Aufsätze, wenig Dichtung.«32 Dass der Aufsatzteil derart gegenüber dem belletristischen Teil überwiege, widerspreche dem Titel der Zeitschrift und den Ankündigungen. Vor allem beklagen Lektor und Verleger im primärliterarischen Teil den Mangel an großen Erzählungen. Die vorhandenen Erzählungen überzeugen den Verlag nicht. Für die Zukunft lautet deshalb sein Fazit: »Diskussionen kürzer, lebendiger, nach hinten. Mehr verständliche Gedichte. Hauptgewicht auf Erzählungen legen.«33 So einfach klingt die Theorie des Zeitschriftenmachens: »Insgesamt: kein Programm, kein System, keine Richtung, sondern Gutes, woher es auch kommt.«34 Egal, wie die zeitgenössischen und rückblickenden Einschätzungen ausfallen: Akzente 1/1954 war in der Welt und hat ihren eigenen Maßstab gesetzt. Einen Maßstab, an dem sich die Folgehefte der Zeitschrift messen lassen und dessen Tradition sie fortsetzen.

32 N.N.: »Zum ersten Heft der Akzente« (interne Verlagsnotiz v. 21.2.1954). In: Archiv des Carl Hanser Verlags (= CHV), Konvolut »Akzente Höllerer«, ohne Signatur. 33 Ebd. 34 Ebd.

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»Wir verlangen daher einen schriftlichen Vertrag, in dem unsere Unabhängigkeit als Herausgeber garantiert wird« 35: Höllerer im Kräftemessen zwischen Verlag und Redaktion (1954) Was nach außen teils als Maßstäbe setzendes, ästhetisch orientiertes Programm, teils als wenig spektakuläres, vorsichtiges, doch immerhin schlüssiges Konzept wahrgenommen wird, ist Ergebnis zäher inhaltlicher Debatten zwischen Verlag und Redaktion. Mitte Mai 1954 drohen Bender und Höllerer, die Herausgeberschaft mit dem dritten Heft niederzulegen, wenn nicht ein Vertrag ihnen ausdrücklich Unabhängigkeit zusichert: Das wiederholte Umstossen dieses Heftes machte viele Schwierigkeiten und stellt uns bei den Autoren, denen wir bereits feste Zusagen gemacht haben, in ein so schiefes Licht, dass wir uns bei dem Verhältnis, wie es sich jetzt herauskristallisiert hat, ausserstande sehen, die Herausgeberschaft weiterzuführen. Dieses Verhältnis entspricht nicht mehr den Bedingungen, unter denen wir die Herausgeberschaft angetreten haben. Wir verlangen daher einen schriftlichen Vertrag, in dem unsere Unabhängigkeit als Herausgeber garantiert wird. Unter dieser Bedingung haben wir die Arbeit überhaupt übernommen.36

Die Auseinandersetzung zeigt, dass beide Seiten – Verlag und Redaktion – durchaus konfliktbereit in die Verhandlungen gingen, mit der Option, die Zeitschrift könnte in dieser Besetzung tatsächlich nicht von Dauer sein, dass aber letztlich die institutionelle Bindung an das Haus Hanser die Herausgeber immer wieder hielt, ebenso das doch schon beträchtliche Renommee der jungen Herausgeber den Verlag immer wieder zu Kompromissen bereit machte.37 So überstand die AkzenteMannschaft, freilich um den Preis einer latenten Spannung, diese erste Krise seit Bestehen der Zeitschrift. Schwieriger für die Redaktion waren die Debatten um HanserAutor Emil Strauß zu bestehen. Strauß, dessen literarisches Debüt

35 Höllerer, Walter an Carl Hanser: Brief v. 14.5.1954. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 30843. 36 Ebd. 37 Hanser, Carl an Walter Höllerer: Brief v. 3.7.1954. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/30871.

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Menschenwege (1899) bereits den für sein frühes Werk charakteristischen europäisch-kolonialen Rassismus zeigt, feierte in der Kaiserzeit große schriftstellerische Erfolge, an die er in der Weimarer Republik, obwohl auch dort mäßig erfolgreich, nicht mehr anknüpfen konnte. Strauß schloss sich Rosenbergs ›Kampfbund für die deutsche Kultur‹ an und wurde 1930 Mitglied der NSDAP. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verstärkten sich die rassistischen Tendenzen im Werk von Strauß, bis er in seinem letzten Roman, Lebenstanz (1940) ganz auf die Linie nationalsozialistischer Blut-und-Boden-Literatur einschwenkte.38 In den fünfziger Jahren wiederum wurde Emil Strauß – seit seinem Debüt zunächst Autor bei S. Fischer, ab 1931 beim nationalkonservativen Langen-Müller-Verlag – zum zentralen Autor des Carl Hanser Verlags.39 Nachdem Strauß 1930 in die NSDAP eingetreten war, »wurde er nach 1933 vom Regime hoch dekoriert, aber auch von Peter Suhrkamp zu seinem 70. Geburtstag in der Neuen Rundschau 1936 respektvoll gewürdigt.«40 Ab 1949 schließlich stellte Hanser Cheflektor Herbert G. Göpfert Emil Strauß, zu dem auch Hanser selbst freundliche Beziehungen unterhielt, ins Zentrum seines literarischen Programms.41 Göpfert hatte Strauß bereits während seiner Zeit als Lektor beim Langen-Müller-Verlag kennengelernt und veröffentlichte nun dessen neuen Erzählband Dreiklang (1949) sowie eine Neuausgabe der bereits 1920 erschienenen Novelle Der Schleier (1949). »Der Prospekt von 1950 rubrizierte noch weitere Neuausgaben von Strauß-Werken der Jahre 1901, 1902 und 1926 unter ›Moderne Literatur‹ - es waren allesamt Titel, die auch während des Dritten Reiches hohe Auflagen erreicht hatten.«42 1954 – im Gründungsjahr der Akzente – kam auch der nationalsozialistische Blut-und-Boden-Roman Lebenstanz bei Hanser im 181. bis 183. Tausend heraus, gesetzt noch immer in Fraktur.

38 Sarkowicz / Mentzer 2002, S. 372-376. 39 Wittmann 2005, S. 47. Reinhard Wittmann schildert den ›Fall Strauß‹ in seiner Verlagsgeschichte ausführlich; seine Ausführungen sind, um die Akzente-Briefwechsel ergänzt, im Folgenden Grundlage. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 48

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Der neue Klappentext attestierte dem Buch eine »Mischung von Herbheit und Süße«43. Besonders herb erscheint, dass sich Verleger und Lektor schließlich doch dem alten Autor unterworfen haben – der nationalistische Weltanschauungsroman, gespickt mit Kriegsverherrlichung, Verachtung der Demokratie, Modernitätsfeindlichkeit und Führersehnsucht ist ohne jede Kürzung massiv antisemitischer Passagen neu aufgelegt worden, ja eine zweite Auflage wurde noch 1958 nachgeschoben. Während der Verlag sich 1933 eine reine Weste bewahrt hatte, hat er zwanzig Jahre darauf mit dieser ungekürzten Neuausgabe eines schlimmen Buches seinen guten Namen befleckt. Die literarische Kritik nimmt allerdings keinerlei Notiz davon, feierte jedoch den Autor wenig später bei seinem Tod ebenso unbelehrbar als letzten Repräsentanten einer großen Epoche.44 Gleichzeitigkeiten, die irritieren und zugleich signifikant für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft sind: 1952 erschien Höllerers Lyrikband Der andere Gast bei Hanser, 1954 öffnet sich der Verlag mit der zukunftsweisenden Literaturzeitschrift Akzente für die Moderne, im selben Jahr erscheint Strauß’ Lebenstanz in einer Neuauflage, die vier Jahre später gar eine zweite Auflage erfahren kann. Noch sitzen die Anfänge, die Höllerer und Bender mit eigenen Werken, der Zeitschrift und später auch Anthologien setzen, wie Fremdkörper im konservativen Programm des Hauses Hanser. Dass Strauß selbst Akzente-Autor wurde, konnten Höllerer und Bender erfolgreich verhindern. Nicht aber das Emil Strauß zu seinem neunzigsten Geburtstag eine Würdigung in den Akzenten erfuhr. Die

43 Ebd., S. 49 44 Ebd., S. 49. In Reinhard Wittmans Verlagsgeschichte ist die Korrespondenz zwischen Herbert G. Göpfert und Emil Strauß über die Publikation des Lebenstanzes auszugsweise nachzulesen. Auf Strauß‘ ungeheuerliche Begründung, weshalb der Roman unverändert erscheinen sollte – »Nun – wenn ein Jude in Deutschland nach seiner Auffassung Deutsche zu schildern das Recht hat, sollte da der Deutsche in Deutschland nicht das Recht haben, nach seiner Auffassung Juden zu schildern?« (8.1.1953) – antwortete Göpfert ausweichend: »Aber mag dem sein, wie ihm wolle, nach dem, was unter Hitler den Juden angetan wurde, finde ich, daß dieses Thema auf absehbare Zeit entweder tabu sein muß oder daß wir, wenn wir glauben, es anrühren zu sollen, anders darüber reden müssen als früher«. (22.1.1953) Zit. nach: Wittmann 2005, S. 48f.

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Dokumentenlage in den Korrespondenzen ist hier eindeutig: am 1. Juli 1955 erwähnte Göpfert erstmals gegenüber Höllerer den Wunsch nach einer solchen Würdigung des Jubilars in den Akzenten. Die Gleichgültigkeit des sonst so kämpferischen Höllerers in diesem Fall ist irritierend. Paul Alverdes’ Aufsatz Ludens. Emil Strauß zum neunzigsten Geburtstag45 erscheint in Akzente 1/1956. Der Text nimmt sich neben Lyrik von Cyrus Atabay, Erich Fried, Peter Härtling, Walter Höllerer und Peter Huchel, Prosa von Ruth Rehmann, Szenen von Richard Hey und Theorie von Höllerers Schüler Volker Klotz ausnehmend anachronistisch aus, seine prominente Platzierung – als erster Aufsatz der Zeitschrift hinter dem Einleitungsgedicht, diesmal Elisabeth Langgässers Licht im Februar – verstört zusätzlich. Eine kritische Auseinandersetzung mit Strauß’ Rolle im Dritten Reich findet in dem affirmativen Text nicht statt; vielmehr wird Strauß’ lange Lebenszeit und die Fülle der Erinnerungen romantisiert: »Als er in Berlin studierte, machte der alte Moltke noch seine einsamen Spaziergänge durch den Tiergarten [...] oder es war der riesigen Wucht des berittenen Bismarck zu begegnen.«46 Kooperation und Konkurrenz: Konstitution der Akzente innerhalb des Verlags und im literarischen Feld (1955-1958) Während im Einzelfall Konflikte zwischen Verlag und Redaktion zu bestehen waren, erschien die Zeitschrift zweimonatlich, ohne dass von außen auch nur der Anschein von Unstimmigkeiten erkennbar gewesen wäre: Durch die gemeinsame Leistung von Herausgebern und Verlag waren die Akzente aus dem Stand zu einer der führenden Literaturzeitschriften der Republik geworden. Dass sich abseits der theoretischen Symposien mittlerweile ein Stamm an literarischen AkzenteAutoren gebildet hat, zeigen die literarischen Beiträge in Heft 3/1955: Günter Eich ist mit Gedichten vertreten, ebenso Ilse Aichinger sowie Ingeborg Bachmann mit einem Auszug aus ihrem Hörspiel Die Zikaden. Außerdem erschien in Heft 3/1955 Prosa von Martin Walser, der kurz vorher, im Mai 1955, für Templones Ende den Preis der Gruppe

45 Alverdes, Paul: Ludens. Emil Strauß zum neunzigsten Geburtstag. In: Akzente 3 (1956), H. 1, S. 2-7. 46 Ebd., S. 3.

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47 erhielt und für den sich Höllerer auch beim Suhrkamp Verlag einsetzte. In seinem Lektoratsgutachten über Walsers Ein Flugzeug über dem Haus empfahl Höllerer den Debüt-Band des 28-jährigen, der durch Veröffentlichungen in Konturen, Akzente und Texte und Zeichen bekannt geworden ist, dringend zur Publikation. Während sich Höllerer bei Suhrkamp für Walsers erstes Buch einsetzt, veröffentlichen die Akzente 3/1955 außerdem das Debüt eines jungen Lyrikers, der in der Folge immer wieder von Walter Höllerer publiziert und gefördert werden wird und zum wichtigsten, produktivsten und schließlich populärsten Akzente-Autor werden wird: Lilien aus Schlaf, ein Gedicht des späteren Literaturnobelpreisträgers Günter Grass. Grass hatte am Lyrikpreisausschreiben des Süddeutschen Rundfunks teilgenommen und nach der erstplatzierten Wiener Autorin Christine Busta (Schnee im Advent) und dem zweitplatzierten Wieland Schmied (Die Fischer) mit Lilien aus Schlaf den dritten Platz belegt.47 Während sich das Blatt also nach außen sowohl durch eine Nase für die richtigen Debütanten, als auch durch beste Kontakte zu etablierten Autoren von Ausgabe zu Ausgabe weiter profiliert, geht zwischen Verlag und Redaktion das stete, oft anstrengende aber in Konsequenz meist produktive Ringen um die Aufstellung der Zeitschrift weiter. Zentral in der Zusammenarbeit zwischen Redaktion und Verlag ist die Tatsache, dass beide Herausgeber, vor allem Höllerer, auch für den Verlag akquirieren. Für Höllerer, der bekanntermaßen – man erinnere sich an Walsers Flugzeug über dem Haus – auch erfolgreich für Suhrkamp akquiriert, steigert es das Gewicht seiner Argumente gegenüber dem Verlag enorm, auch als Programmmacher des Verlags wahrgenommen zu werden. In vielen Fällen, etwa im Fall Peter Weiss, sitzt Höllerer durch diese doppelte Bindung zwischen den Stühlen. Hansers Wissen um die Bedeutung von Höllerers Akquise-Tätigkeit, die dem Verlag hilft, manchen Wettbewerbsnachteil gegenüber Suhrkamp aufzuholen, schmälert das nicht. In der Sache ›seiner‹ Autoren wurde Höllerer nicht selten zum ›Doppelagenten‹ – wenig anders ging es ihm mit Grass, den er den Verlagen Hanser und Suhrkamp hartnäckig zu vermitteln suchte, aber an beiden scheiterte.

47 Zur Beziehung Höllerer-Grass und der immensen Bedeutung des Autors Grass für die Akzente vgl. Krones 2009, S. 202 ff.

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»Akzente stellen vor«: Die Öffnung der Zeitschrift für die Literaturen der Welt (1959-1964) Es ist der Sommer 1958, in dem Walter Höllerer Hans Bender nach Verhandlungen mit dem Verlag bezüglich Änderungen an der Konzeption der Zeitschrift melden kann, daß die Hanser-Geschichte sehr gut verlaufen ist. [...] Ich habe alles so angebracht, wie wir es besprachen. 12 Hefte wird es zwar nicht geben, wohl aber ist Hanser mit dem Wechsel zwischen Symposion und Vorstellung einverstanden, falls die Vorstellung nicht nur Texte gibt, sondern die Texte in einen Rahmenessay eingebaut sind, der jeweils auf Verbindungen zur deutschen Literatur hinweist.48

Endlich ist damit der Weg frei für eine Neuerung, an der Höllerer und Bender seit dem zweiten Jahrgang der Zeitschrift dringend gelegen ist: der Öffnung der Akzente für ausländische Literatur. Ein Anfang ist gemacht, und die beiden Herausgeber öffnen der internationalen Literatur die Türen so weit wie irgend möglich. In Akzente 1/1958 drucken sie unter dem Titel »Der ›Held‹ des Romans und die Erzählform« eine Dokumentation des Symposions von Vezélay: Alain Robbe-Grillet lieferte in »Bemerkungen über einige Wesenszüge des herkömmlichen Romans« Ausführungen über den ›Helden‹, die ›Geschichte‹, die ›Form‹ und den ›Inhalt‹, Nathalie Sarraute in »Das Zeitalter des Mißtrauens« Erhellendes über die Haltung des Lesers gegenüber dem Roman und damit verbunden verschiedene Erzählhaltungen. Walter Höllerer setzt direkt hinter die beiden Essays der Vertreter eines nouveau roman wie programmatisch sein Gedicht »Begrüßung neuer Freunde«. Akzente 2/1958 beleuchtet das Verhältnis zwischen Schriftsteller und Gesellschaft von drei Seiten und macht wiederum eine internationale Dimension auf: Gregory Corso, junger amerikanischer Lyriker und Mitglied der San-Franciso-Gruppe, den Höllerer während eines USAAufenthaltes kennenlernte, liefert im Rahmen des Symposions »Der Schriftsteller und die Gesellschaft« einen Beitrag zu »Dichter und Gesellschaft in Amerika«. Der Verlag New Directions hatte einen Sammelband mit Beiträgen der Gruppe veröffentlicht, Grove Press in New

48 Höllerer, Walter an Hans Bender: Brief v. 19.8.1958. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/32555.

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York gab mit Evergreen Review bereits seit längerem die Zeitschrift der Gruppe heraus. Längst also institutionalisierte sich die von Höllerer mit Corso vorgestellte Richtung in den Vereinigten Staaten, die, so Höllerer, »sich gegen eine uniforme amerikanische Lebensweise zur Wehr [setzt]«49. Akzente 3/1958 führen das Symposion »Der Held des Romans und die Erzählform« mit einem zweiten Teil aus Beiträgen von Hans S. Reiss, Norbert Miller und wiederum Alain Robbe-Grillet fort. Robbe-Grillets »Dem Roman der Zukunft eine Bahn« wurde in Frankreich als Manifest für den modernen Roman wahrgenommen. Die intensive Auseinandersetzung mit ausländischer Literatur ist, wenn auch noch nicht in jedem Heft präsent, fortan konstitutiver Bestandteil der Zeitschrift. Anfang der sechziger Jahre schließlich standen deutschsprachige und internationale Literatur in den Akzenten nahezu gleichberechtigt nebeneinander. Veränderung: Einführung von Themenheften und Forcierung ästhetischer Debatten (1965-1967) Mitte der sechziger Jahre erlebte die Zeitschrift nach der Öffnung für fremdsprachige Literatur ihre zweite entscheidende Wende. Ausgangspunkt für die Diskussionen um eine Kursänderung waren sinkende Verkaufszahlen und eine schlechte Presse. Vor allem warf man Höllerer vor, im eigenen Saft zu schmoren und aus literarischen Lagerbeständen zu schöpfen.50 Ein wenig lässt auch die Korrespondenz dieser Zeit diesen Verdacht aufkommen, da sich Höllerers Akquise

49 Höllerer, Walter: Einleitung zum Symposion »Der Schriftsteller und die Gesellschaft«. In: Akzente 5 (1958), H. 2, S. 101. 50 »Rezensionen liegen bis jetzt noch nicht vor. Ich bin aber sicher, daß diese das einigermaßen ausgleichen werden, was an Negativem über Heft 2 gesagt und geschrieben wurde. Außer Herrn Schonauer ist, wie Sie wahrscheinlich gehört oder gelesen haben, auch Herr Schürenberg sehr hart mit Ihnen umgegangen. Auch er sagt im Sender Freies Berlin: ›... nährt sich diesmal reichlich aus den literarischen Lagerbeständen von Herrn Höllerer.‹ Und als Schlußsatz: ›Man fragt sich, ob diese redaktionelle Praxis, die ja bei den Akzenten kein Sonderfall ist, ausreicht für eine gute, das Neue aufspürende und befördernde Literaturzeitschrift.‹« (Hanser, Carl an Walter Höllerer: Brief v. 1.7.1964. In: CHV, Konvolut »Akzente Höllerer«, ohne Signatur).

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immer enger auf den Kreis der Gruppe 47 und des LCB beschränkt: »[I]ch habe soeben einen großen Packen Manuskripte an Hans Bender geschickt [...]; darunter sind einige von der Tagung der Gruppe 47, einige aus dem Umkreis des Literarischen Colloquiums Berlin, einige von bekannten Autoren, die ich angeschrieben hatte.«51 (1963) Auch im Folgejahr bleibt vor allem die Gruppe zentral für Akquisen. Ende 1964 beschließen Verlag und Redaktion die Einführung der Themenhefte, von der man sich verspricht je nach Thematik auch Autoren und Richtungen ins Blatt zu bekommen, die mit den Akzenten und ihren Herausgebern bisher in noch keiner Beziehung stehen. Die Rubrik ›Akzente stellen vor‹ für die ausländische Literatur wird es fortan nicht mehr geben; deutschsprachige und internationale Texte werden unkommentiert nebeneinander stehen. Längst ist die fremdsprachige Literatur selbstverständlicher Bestandteil der Akzente geworden. Im Zug der Einführung von Themenheften sollen auch ästhetische Debatten stärker forciert und begleitet werden. Den Auftakt macht Akzente 5,6/1964, ein Doppel- und zugleich Sonderheft unter dem wegweisenden Titel »Veränderungen«. In seinem Einleitungsessay »Veränderung« formuliert Höllerer das Programm des Heftes: Ansehen, was glückt und was herankommt an das, was uns betrifft; betrachten, was vorhanden ist und was von diesem Vorhandenen standhält, warum es standhält; fragen, was dem, das standhält, über Sprachgrenzen und ideologische Grenzen hinweg gemeinsam ist: das fördert mehr die gegenwärtige Veränderung in der Literatur ans Licht als Programme es vermögen.52

Für den Verleger sind die Themenhefte eine notwendige Innovation, um das Defizit, das die Zeitschrift für den Verlag bedeutet, nicht in gefährliche Höhen wachsen zu lassen. Dafür ist Hanser auch zu intensiver Anschubwerbung bereit, wie Höllerer sie sich für das erste Themenheft »Veränderung« wünscht. Während die Themenhefte die Zeitschrift verändern, gehen auch im Verlag bedeutende Veränderungen vor sich. Herbert G. Göpfert gibt das Cheflektorat ab. Im Verlag über-

51 Höllerer, Walter an Carl Hanser: Brief v. 4.12.1963. In: CHV, Konvolut »Akzente Höllerer«, ohne Signatur. 52 Höllerer, Walter: Veränderung. In: Akzente 11 (1964), H. 5/6, S. 386.

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nimmt eine neue Generation von Mitarbeitern – Christoph Schlotterer, Michael Krüger, Jürgen Kolbe – Verantwortung. »Akzente ohne Höllerer«: Der Gründungsherausgeber verlässt die Akzente Akzente 6/1967 beginnt für die Zeitschrift mit einem Paukenschlag: Walter Höllerers »Brief an die Leser«, in dem er sich als Herausgeber der Akzente verbschiedet, deren Redaktion Hans Bender in Zukunft alleine verantworten wird. Zunächst schien der Verlust für die Zeitschrift noch weit größer: Höllerer und Bender kündigten gegenüber dem Verlag gemeinsam ihre Herausgeberschaft auf. Beide wollten ihre beruflichen Schwerpunkte nach dem erfolgreichen Aufbau des mittlerweile renommierten Blatts in Zukunft anders setzen. Als Nachfolger schlugen sie Heinrich Vormweg vor, der nicht die Zustimmung des Verlages findet. Hanser tritt mit Helmut Heißenbüttel in Verhandlungen ein – ein Kandidat, dem Höllerer und Bender ebenfalls viel abgewinnen können.53 Notwendige Voraussetzung bei der Berufung des avantgardistischen Lyrikers und Essayisten auf den Herausgeberposten ist für den Verlag, dass der seine eigene experimentelle Sprache, seine beinah abstrakte Literatur nicht zum Programm der Zeitschrift erhebt. Göpfert hat nach dem Gespräch keine Bedenken. Doch Heißenbüttel sagt Hanser nach reiflicher Überlegung ab, befürchtet er doch, als ›Manager‹ eines Blattes verbraucht zu werden, dessen Richtung längst eingeschlagen ist und sich wegen des Abonnentenstamms kaum wesentlich ändern lässt. Hanser tritt auf die Absage hin mit Bender in Verhandlungen ein und macht ihm das Angebot, die Schriftleitung allein zu übernehmen. Bender sagt zu, was die Kontinuität der Zeitschrift sichert.

53 Bender, Hans an Carl Hanser: Brief v. 22.3.1967. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/35054.

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Bilanz einer Amtszeit: Der Inspirator und die PoesieMaschine. Walter Höllerer als Akzente-Herausgeber Die Wechselwirkungen zwischen Höllerers Tätigkeiten als Literaturwissenschaftler, Literaturmanager, Herausgeber und Autor waren vielfältig: In Auseinandersetzung mit der amerikanischen Poesie, deren Offenheit, aber nicht Naivität Höllerer übernimmt, entstanden seine schwierigen, häufig als intellektuell bezeichneten Gedichte der Bände Außerhalb der Saison (1967) und Systeme (1969). Seine Paraderolle fand Höllerer in Berlin als Literaturmanager der geteilten Stadt und Republik. Höllerer wurde zu einer Insitution, er besetzte eine Position, die den Literaturbetrieb der sechziger und frühen siebziger Jahre dominierte. Anfang der sechziger Jahre veranstaltete er unter dem Label ›Literatur im technischen Zeitalter‹ international besetzte Lesungen, 1963 gründete er das Literarische Colloquium Berlin, ging für eine solide Finanzierung Kooperationen mit Industrie und Behörden ein. Höllerer verstand die Funktion von Kultur in der Interpenetrationszone von Kultur und Wirtschaft immer auch als eine, die als Rückkopplungsmechanismus funktioniert, indem sie Gelder aus der Wirtschaft als Kulturförderung vom ökonomischen ins kulturelle System zurückspeist und dort mit diesen Mitteln Werke finanziert, die – im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Verantwortung – als Regulativ wirken können.54 Höllerer verließ die Akzente auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Literaturmanager. Seine Innovationskraft veränderte auch den Literaturbetrieb: Er hat die moderierte Lesung wenn nicht erfunden, so doch salonfähig gemacht, war erster Literaturmanager im heutigen Sinn55, brachte ambitionierte Gegenwartsliteratur ins Fernsehen, produzierte literarische Städteportraits und institutionalisierte erstmals Autoren-

54 Baecker, Dirk: Wozu Kultur? Berlin 2003, S. 182: »In dieser Form steht die Kultur dann auch für andere Aufgaben zur Verfügung. Sie bändigt das Profitstreben der Wirtschaft zur Bemühung um Wohlfahrt für alle, [...], ruft die Machthaber auf zur Rücksichtnahme auf die Bedingungen, unter denen sie ihre Macht aufrechterhalten können, bremst den Erkenntnisdrang der Wissenschaftler mithilfe des Hinweises auf das Nützliche, verweist die von radikalen Formen der Bildung träumenden Erzieher auf das Allzumenschliche der Schüler und Lehrer [...].« 55 Vgl. dazu auch: Böttiger 2005, S. 7ff.

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workshops in der BRD. In allem war sein Qualitätsanspruch absolut: »Höllerer machte überhaupt keine Konzessionen an die Unterhaltungskultur, an einen populären Zeitgeschmack. Er hatte ein untrügliches Gespür für das, was man damals ›Avantgarde‹ nannte, er bemühte sich um die Autoren, um die es wirklich ging.«56 Die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Rollen Walter Höllerers war es, die ihn so wertvoll für die Akzente machte. Das Innovationspotenzial, das Höllerer in die Zeitschrift und das Verlagsprogramm des Carl Hanser Verlags einbrachte, war von unschätzbarem Wert. Erich Fried, BBC-Journalist und späterer Akzente-Autor, berichtete 1954 und 1955 regelmäßig über die Arbeit der Akzente als – Zitat – »eine wirklich gute, gediegene Literatur-Zeitschrift, die nicht nur auf eine bestimmte künstlerische oder weltanschauliche Richtung versessen ist.«57 Sie leiste Lebenswichtiges, denn: »Neue Gedichte sind kein Luxus, sondern eine Lebensnotwendigkeit. Ohne sie geht eine Kultur unter.«58 Das Selbstbewusstsein, diese Vielfalt des Neuen zuzulassen, und die Sturheit, sie auch gegen Widerstände durchzusetzen, verdanken die Akzente und ihr Verlag im Wesentlichen ihrem Gründungsherausgeber Walter Höllerer.

56 Ebd., S. 8. 57 Fried, Erich: »Intimus«, German East Zone Programme, Sendung vom 31.1.1955, Rec.: 1745 (13), Number: DBU 37441. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Ordner »Presse Akzente«, ohne Signatur. 58 Ebd.

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L ITERATUR

Adler, Christine: Die Literaturzeitschrift Akzente. Zeitschrift für Dichtung. Ein entstehungsgeschichtlicher Abriß. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Regensburg 1993. Alverdes, Paul: Ludens. Emil Strauß zum neunzigsten Geburtstag. In: Akzente 3 (1956), H. 1, S. 2-7. Baecker, Dirk: Wozu Kultur? Berlin 2003. Bender, Hans / Höllerer, Walter: Redaktionskorrespondenz Akzente. In: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg (LSR), Bestandssignatur: 01AK. Böttiger, Helmut [unter Mitarbeit von Lutz Dittrich]: Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs. Berlin: 2005 (=Texte aus dem Literaturhaus Berlin, Bd. 15). Fried, Erich: »Intimus«, German East Zone Programme, Sendung vom 25.6.1954, Rec.: 1415-1430, Number: DBU 26346, Skript in: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Ordner »Presse Akzente«, ohne Signatur. Göpfert, Herbert G.: Akzente – vorgeschichtlich. In: Miller, Norbert / Klotz, Volker / Krüger, Michael (Hg.): Bausteine zu einer Poetik der Moderne. Festschrift für Walter Höllerer. München 1987, S. 99-105. Höllerer, Walter: Konvolut »Akzente Höllerer«. In: Archiv des Carl Hanser Verlags, München, ohne Signatur. Höllerer, Walter: Veränderung. In: Akzente 11 (1964), H. 5/6, S. 386. Höllerer, Walter: Einleitung zum Symposion »Der Schriftsteller und die Gesellschaft«. In: Akzente 5 (1958), H. 2, S. 101. Krones, Susanne: Akzente im Carl Hanser Verlag. Geschichte, Programm und Funktionswandel einer literarischen Zeitschrift. 19542003. Göttingen 2009. Sarkowicz, Hans / Mentzer, Alf (Hg.): Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon. Erweiterte Neuausgabe. Hamburg und Wien 2002. Wittmann, Reinhard: Der Carl Hanser Verlag 1928-2003. Eine Verlagsgeschichte. München und Wien 2005.

»Ich begrüsse Ilse Aichinger und Günther Eich« í Höllerers Hörsaal-Lesereihe 1959/60 Ein Beitrag zur Typologie von Dichterlesungen R OLAND B ERBIG UND V ANESSA B RANDES

Berlin, 8. Dezember 1959 Berlin zeigte sich am 8. Dezember 1959, einem Dienstag, nicht gerade von der gewinnendsten Seite. »Kältewelle hält an. Eisige Böen aus Ost«, titelte die Westberliner Morgenpost,1 und auch die Berliner Zeitung blieb sich in dieser Sache ausnahmsweise einig mit ihrem ungeliebten Schwesterorgan. Das Klima war unwirtlich. Nicht nur meteorologisch gesehen – die politische Großwetterlage zeigte sich entsprechend. Die westdeutsche Tagespresse etwa berichtete an jenem Dienstag über eine empörte Bundesregierung: Der indische Ministerpräsident Nehru hatte erklärt, dass seiner Einschätzung nach niemand – weder die beiden deutschen Regierungen, noch Amerika, England oder Frankreich – in naher Zukunft die Wiedervereinigung wolle und damit Proteststürme bewirkt.2 Die Berliner Zeitung ließ gleichzeitig verlauten: »Verwirrung und Bestürzung haben bei den kalten Kriegern in Bonn die jüngsten Erklärungen des indischen Ministerpräsidenten

1 2

Berliner Morgenpost v. 8.12.1959. Vgl. Bonn stellt Nehru zur Rede. In: Süddeutsche Zeitung v. 8.12.1959, S. 1.

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Nehru ausgelöst, der die Existenz von zwei deutschen Staaten als ›eine der grundlegenden Tatsachen von heute‹ anerkannt hatte.«3 Fast 15 Jahre nach Kriegsende ist ein Ende der Kaltfront nicht in Sicht und Tauwetter sollte lange auf sich warten lassen. »Bleiben wir bereit für den fernen Tag, da sich die Wirklichkeit ändern mag«, schloss ein Artikel der ZEIT in jener Woche, der über eine Tagung des Kongresses »Unteilbares Deutschland« berichtet und ernüchtert konstatiert hatte: >…@ die Prämisse, daß die Fortdauer der Teilung Deutschlands für die Welt deswegen unerträglich sei, weil sie angeblich einen Unruheherd in der Mitte Europas verewige – sie mag noch vor Jahren gültig gewesen sein. Im Ausgang des Jahres 1959 ist sie nicht mehr gültig. Eine ostwest-geteilte Welt, deren Führungsmächte vor allem auf Entspannung drängen, mag sehr wohl auch einen Zustand der Befriedung erlangen mit einem Deutschland an der Nahtstelle, dessen Hälften ›diesseits‹ und ›jenseits‹ liegen.

Inzwischen war diese deutsche Teilung auch an den Nachrichten aus dem literarischen Feld ablesbar. Während die Berliner Zeitung im Nachgang der ersten Bitterfelder Konferenz vom April desselben Jahres »Probleme schreibender Arbeiter« diskutierte und sich in Stockholm der frisch ausgezeichnete Nobelpreisträger Salvatore Quasimodo auf einer Pressekonferenz zu seiner Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei Italiens äußern musste, beschäftigte der Fall des Schriftstellers Herbert Kasten die deutsche Presse in Ost und West. Dieser hatte sich nach Auseinandersetzungen mit SED-Funktionären um seinen historischen Roman Karsten Sarnow Ende Oktober nach Westberlin abgesetzt, war kurz darauf zurückgekehrt und hatte soeben zum zweiten Mal die innerdeutsche Grenze überquert, diesmal, um dauerhaft im Westen zu bleiben.4 Von vielleicht geringerem geopolitischen, dafür aber von für uns großem Interesse ist zwischen all diesen Nachrichten eine kleine Zeitungsankündigung vom vorangegangenen Wo-

3

Nehru: Zwei deutsche Staaten sind Realität. In: Berliner Zeitung v.

4

Vgl. z.B.: Bielenberg, Christian: Der Fall Herbert Kasten. Die westöstliche

8.12.1959. Odyssee eines deutschen Schriftstellers. In: Die Zeit v. 11.12.1959. Und in der Tagespresse: Kasten wieder geflüchtet. Stralsunder Schriftsteller von der SED unter Druck gesetzt. In: Berliner Morgenpost v. 8.12.1959; In die Westzone geflohen. In: Berliner Zeitung v. 8.12.1959.

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chenende: »Vorträge und Veranstaltungen. >…@ Dienstag, Kunst und Wissenschaft. >…@ 20 Uhr 15, TU: Ilse Aichinger u. Günter Eich lesen a. eig. Werken (Urania).«5 Wer sich also nicht vom Kälterekord des 8. Dezember abhalten ließ, das Haus zu verlassen, konnte an jenem Dienstag Abend in einem Hörsaal der Technischen Universität den Ausgangspunkt dessen miterleben, was sich zu einem literarischen Großereignis auswachsen würde: die erste Veranstaltung der Lesereihe »Literatur im technischen Zeitalter«. Eich und Aichinger reisten bereits einen Tag zuvor, am Montag, dem 7. Dezember 1959, in Berlin an – »spät abends«6, wie Eich an Höllerer schrieb. Sie stiegen in der »Pension Elite« in der Rankestraße 9 ab, einem Hotel, das – in unmittelbarer Nähe des Zoologischen Gartens in einer Seitenstraße vom Kurfürstendamm gelegen – noch heute unter seinen Vorzügen die schnelle Erreichbarkeit der Technischen Universität nennt. Der Wunsch Höllerers, die beiden schon in seinem Colloquium zur Dichtung Hans Arps dabei zu haben, war nicht nach deren Geschmack. Sie seien ja, entschuldigte sich Eich, »menschenscheu und >würden@ es immer mehr«, man fürchte sich »auch vor den vielen neuen Gesichtern in Berlin.«7 Viele neue Gesichter werden es in der Tat gewesen sein – die Furcht vor ihnen vielleicht unbegründet, denn Eich und Aichinger wurden wohlwollend empfangen, wenn man dem Rezensenten der Veranstaltung Glauben schenkt, der berichtete, man habe die Poesie unpathetisch und das »Dichter-Ehepaar>@« selbst »blitzgescheit« gefunden.8 Und auch Ilse Aichinger, zurück in Lenggries, schrieb an Höllerer, sie hoffe, er käme bald und fühle sich dann dort so zu Hause, wie sie beide in Berlin. Freundlich fügte sie hinzu: »Es war sehr schön.«9

5

Vorträge und Veranstaltungen. In: Der Tagesspiegel v. 6.12.1959.

6

Eich, Günter an Walter Höllerer: Brief v. 4.12.1959. In: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg (LSR), Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/1081.

7

Ebd.

8

Tumler, Franz: Vernehmliche Dichtung. Günter Eich und Ilse Aichinger

9

Aichinger, Ilse an Günter Eich: Brief v. 15.12.1959. In: LSR, Nachlass

lasen für die Urania. In: Der Tagesspiegel v. 10.12.1959, S. 4. Walter Höllerer, Signatur: 01AK/115.

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Dichterlesungen – ein historisches Phänomen Dichterlesungen sind ein historisches Phänomen. An dem Dilemma, vor dem die Marbacher Archivmitarbeiter Anfang der achtziger Jahre standen, als sie ein Lesebuch unter dem Titel Dichter lesen zusammenstellen wollten, hat sich bis auf den heutigen Tag Grundlegendes nicht geändert: »Jedermann kennt diese Einrichtung. Wer sich allerdings über die seit fast hundert Jahren eingebürgerte Art, vor ein Publikum zu treten, genauer unterrichten will, findet weder eine ausführliche Darstellung noch einen knapp zusammenfassenden Artikel.«10 So entschloss man sich zu der reiz- wie mühevollen Unternehmung, in die Magazine zu steigen und chronologisch mit dem 18. Jahrhundert beginnend nach Zeugnissen für Dichterlesungen zu suchen. Die Beobachtungen, die dabei zusammenkamen, zogen Querverbindungen aller Art und warnten vor übereiligen Schlüssen. In das Gemisch von Schauplätzen, das »Festsäle und Nebenzimmer, Schulen, Volkshochschulen, Universitäten, Kaufhäuser und Kirchen« vereinte, ließ sich kaum Ordnung bringen. Thesen wie die, nach der Lesen auf Honorarbasis erst in der Moderne vom Ende des 19. Jahrhunderts an zu verzeichnen seien, wurden durch Fundstücke im Mörike- und im Schubart-Nachlass widerlegt. Und die Lesungspraxis der Gruppe 47 hatte eine überraschende »Vorläuferschaft schon bei den ›Bremer Beiträgern‹«11. Weder die Vorlesebräuche noch deren Vielfalt arbeitete vordergründigen historischen Wandlungsmodellen zu. Man fühlte sich gut beraten, es bei einer Lesebuch-Sammlung zu belassen. Deren Nachworte boten behutsame Forschungsstichpunkte – wie den, dass aller Widerstand des lauten den Siegeszug des stillen Lesens nicht aufhalten konnte, oder den, dass mit dem 20. Jahrhundert eine Lesungsdichte und ein Lesungsvariantenreichtum erzeugt worden seien, deren Gründe sich nicht leicht erschließen ließen. Einzelverweise ersetzten die ursprüngliche systematisierende und historisierende Intention. Dabei kristallisieren sich durchaus markante Modernisierungsformen heraus. Oder wäre es etwa denkbar gewesen, dass Fontane mit seinen Balladen von Buchhandlung zu Buchhandlung pilgert, um sich seine Käuferschaft zu erobern? Oder dass Heine auf Buchtournee geht und dann,

10 Dichter lesen. Von Gellert bis Liliencron. [Marbacher Schriften 23/24] Marbach a.N. 1984, S. 293. 11 Ebd.

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wie etwa Alfred Döblin, »lieber erklärt als liest, lieber mit den Zuhörern spricht als vor ihnen […] und am Ende eine Podiumsdiskussion der Lesung vorzieht«12? Reinhard Tgahrt schüttelt am Schluss dieser Marbacher Magazinaktion aus dem Handgelenk eine Fülle von Belegen, die die explosive Entfaltung von Dichterlesungen im vergangenen Jahrhundert veranschaulichen13. Das Dilemma liegt, so der Verdacht, in der Sache selbst, nicht in deren ignoranter Vernachlässigung. In der neubearbeiteten Auflage vom Metzler Lexikon Literatur 2007 rettet sich die Verfasserin des immerhin vertretenen Artikels »Lesung« in eine PhänomenBeschreibung unter weitgehender Ausklammerung der geschichtlichen Seite: Lesung, öffentlich oder privat gelesener Vortrag eines lit. oder nichtlit. Werkes vor einem zahlenden oder geladenen Publikum. Die L. ist eine Form der oralen Distribution von Lit. und ermöglicht eine kollektive Rezeptionserfahrung. Gelesen werden neben bereits veröffentlichten oft noch unveröffentlichte oder unvollendete Werke. Vortragende sind entweder der Verfasser selbst (›Autorenlesung‹) oder eine oder mehrere andere Personen. […] L.en werden etwa in lit. ĺ Salons oder auf Tagungen lit. Gesellschaften abgehalten. […]14

Die Notwendigkeit, der nach wie vor wachsenden Bedeutung von Autoren-Lesungen kategorial gerecht zu werden, scheitert offenbar an deren wechselreicher Gestalt und einer mangelnden Entschlusskraft, sich angesichts der Überfülle auf ausgedehnte empirische Erhebungen einzulassen.15 Wie nun nimmt sich in dieser misslichen Gesamtlage jene Dichter-Lesereihe aus, die Walter Höllerer 1959 in seinem Hörsaal 3010 initiierte und über Jahre erfolgreich fortsetzte? Hilft mög-

12 Tgahrt, Reinhard: Nachwort. In: Dichter lesen. Band 3: Vom Expressionismus in die Weimarer Republik. Hg. von Reinhard Tgahrt. [Marbacher Schriften 38/39]. Marbach a.N. 1995, S. 413. 13 Vgl. Tgahrt 1995, S. 413-414. 14 Stritzke, Nadyne: Art.: »Lesung«. In: von Burdorf, Dieter / Fasbender, Christoph / Moennighoff, Burkhard (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Begründet von Günther und Irmgard Schweikle. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart und Weimar 2007, S. 433. 15 Vgl. hierzu auch Böhm, Thomas (Hg.): Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung. Berlin 2003.

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licherweise der genauere Blick auf die Einzelerscheinung, typologische und historische Sondierungsverfahren für das Ganze zu finden? Eine Probe ist es allemal wert. Höllerers Lesereihe an der TU Weder für unseren Kreis noch überhaupt muss Höllerers Husarenstück, die zeitgenössische Literaturszene in seinen Hörsaal der Berliner Technischen Universität zu lotsen und von dort einen Verbreitungszauber zu entfachen, entdeckt werden. Das Legendäre ist längst zur Legende geworden, und Helmut Böttiger hat ihr in seinem Buch zur Ausstellung Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs ein mehr als nur informatives Kapitel16 gewidmet, das nachzeichnet, wie sich die von Anfang an gut besuchten Veranstaltungen zu »Sensationen der Saison« auswuchsen: Schon im Januar 1960 und also noch während des ersten Durchlaufs der Reihe, berichtete Franz Tumler: »Auf dem Podium war diesmal kein freier Platz. Auch der Rezensent saß auf dem Fußboden – hart unterm Tischrand, von dem der Vortragende las >…@«17. Binnen kürzester Zeit hatte sich der Publikumsandrang so vergrößert, dass ein weiterer Hörsaal dazugenommen wurde: Die zweite Veranstaltungsreihe im folgenden Wintersemester wurde per Lautsprecher in den nächsten Saal übertragen, und selbst das verhalf nicht allen jenen, die die Lesungen gern gehört hätten, zur Möglichkeit dazu – es gab, wie mehrere Zeitungen berichteten, »Hunderte, die ohne Eintrittskarte enttäuscht nach Hause gehen«18 mussten. Der Tagesspiegel schilderte:

16 »Die Sensation der Saison«. Die Lesereihen im Hörsaal 3010 und in der Kongresshalle. In: Böttiger, Helmut: Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs. Ausstellungsbuch unter Mitarbeit von Lutz Dittrich. Berlin 2005, S. 123-142. 17 Tumler, Franz: Jubel um einen verhinderten Preisträger. Günter Grass las in der Technischen Universität aus eigenen Arbeiten. In: Der Tagesspiegel v. 20.1.1960. 18 E. G. Schäfer z. B. in den Badischen Neuesten Nachrichten vom 14.1.1961. Zit. n.: Böttiger 2005, S. 127.

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Wir sind von den Leseabenden der TU ›Literatur im technischen Zeitalter‹ einiges an Zustrom und Fülle gewohnt. Die Mittwochlesungen mit Grass und Johnson überstiegen aber bei belagertem Podium, besetzten Fenstern und dicht bestandenen Gängen und Treppen alles, was die Polizei noch erlauben darf. Ein Wunder, daß die Vorleser selbst ihren Stuhl freimachen konnten.19

Im dritten Wintersemester dann fand das Berliner Publikum sich im großen Saal der Kongresshalle ein (dem heutigen Sitz des Hauses der Kulturen der Welt im Tiergarten), gemeinsam mit Fernsehkameras des SFB. Die Spirale schraubte sich nach oben, und immer musste der nächste Zeitungsartikel die Superlative des vorangegangenen noch übertreffen. Es blieb freilich nicht bei der Lesereihe. Sie ist im Verein zu sehen mit der Gründung des Instituts für »Sprache im technischen Zeitalter«, der Institutionalisierung schlechthin also, für die Höllerer just an dem Tag ein Memorandum vorlegte, an dem mit Eich und Aichinger die Lesereihe startete.20 Mit der Formel von der »Sprache und Literatur im technischen Zeitalter« hatte Höllerer einen Dachbegriff gefunden, der es erlaubte, all jenes einzuarbeiten und als Teil eines Ganzen zu versammeln, das ihm schon lange wissenschaftliches und literarisches Anliegen war. Mit dem Umfang des Projektes wuchs dessen Gravitation und Strahlkraft – vergleichbare Verbändelungen eines Institutes mit außeruniversitären Einrichtungen gab es nirgends im Land, der Kontext, in den die Lesungen gestellt wurden, war größer, als irgendwo sonst. Zur Zeit der sich manifestierenden Teilung Berlins installierte und etablierte sich ein für die Stadt folgenreiches kultur- und wissenschaftspolitisches Konzept,21 von dem am 8. Dezember 1959 eine erste öffentliche Kostprobe gegeben werden sollte.

19 Günther, Joachim: Bestätigte Künstlerschaft. Günter Grass und Uwe Johnson – Ein Höhepunkt der Lesereihe »Literatur im technischen Zeitalter«. In: Der Tagesspiegel v. 3.12.1960. 20 Zum Wortlaut und Kontext des Memorandums siehe: Berliner Hefte 8 (2008), S. 103-109. 21 Zu Walter Höllerers Wirken in seiner Anfangszeit in Berlin vgl. Berbig, Roland / Krüger, Alexander: Ein Novum unter der Ägis eines Lehrstuhlinhabers. Walter Höllerer im Jahr 1959. In: Berliner Hefte 8 (2008), S. 8999.

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Generalprobe: Günter Eich und Ilse Aichinger Es gibt Gattungen von Texten, die mit stiefmütterlicher, wenn nicht gar ignoranter Behandlung leben müssen. Wie Klappentexte, um ein prominentes Beispiel zu nennen, gehören auch Einführungen zu Dichterlesungen dazu.22 Man hält sie für höfliches Pflichtprogramm oder pflichtgemäße Höflichkeit. Nichtssagend, aber notwendig. Natürlich: Es spielt eine Rolle, wer da einführt, zu welchem Zwecke und in welchem Rahmen. In unserem Falle ist es der frisch berufene Professor und längst etablierte Zeitschriftenherausgeber, Dichter und Literaturorganisator Walter Höllerer. Am 28. Oktober 1959 hatte Höllerer gefordert, von Berlin müsse eine »Art literarischer Wirbel«23 ausgehen – und am 8. Dezember 1959 gab er um 18.00 Uhr in seinem Hörsaal mit dem Auftakt seiner Vortragsreihe einen Vorgeschmack, wie er sich das dachte. Ein Glücksumstand hat die Einführungsrede, die Höllerer für seine Gäste Ilse Aichinger und Günter Eich hielt, ebenso überliefert wie auch die zu den nachfolgenden, dann planmäßigen AutorenLesungen. Den Blättern ist nicht anzusehen, wo sie beschrieben wurden. Aber im Gegensatz zu späteren Einführungsnotizen ist die Handschrift unbedenklich Schrift zu nennen und ihre Lektüre schließt andere Leser als den Verfasser noch nicht aus. Praktikus, der Höllerer war, nutzte er von der Zeit überholte Kopfbogen mit seiner Frankfurter Anschrift. Die ersten Seiten flossen ihm aus der Feder, dann kam es zu kleinen Stockungen. Sofortkorrekturen mussten Verunglücktes reparieren und taten dies mit lockerer Hand. Auch darf eine kontrollierende Probelektüre angenommen werden. Höllerer strich zu lange Zitate heraus und tilgte umständlich geratene Formulierungen. Nur auf der letzten Seite häuften sich Korrekturen, und mit einem anderen Stift wurde – vielleicht sogar erst kurz vor der Lesung nach Rücksprache mit Aichinger und Eich – notiert, was die beiden zu lesen gedachten. Unterstrichen ist der letzte Satz: »Wir alle, die wir hier anwesend sind,

22 Auf den paratextuellen Informationsgehalt der Autorenlesung weist schon Genette hin. Vgl. Genette, Gérard: Paratexte. Frankfurt a.M. 1989, S. 353. Essman, Susan behandelt das Phänomen in ihrem Aufsatz: Die Autorenlesung – eine Form der Literaturvermittlung. In Annäherung an den Paratext. In: Kritische Ausgabe 15 (2007), S. 89-92. 23 Von der zu diesem Zwecke anberaumten Pressekonferenz berichtete die Zeitung Der Tag am 29.10.1959. Zit. n.: Böttiger 2005, S. 123.

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danken Euch, dass Ihr gekommen seid.«24 Das zeigt, wie sehr sich Höllerer gerade über diese Gäste freute. Und er gab vor, was der Faktenlage, aber kaum der Sache entsprach: Nicht er war der Einladende, sondern der Senat, die Technische Universität und die Urania. Das sollte sich bei den nachfolgenden Lesungen alsbald und eindrücklich ändern. Zwölf handschriftliche Seiten auf fünf Blättern umfasst die Präsentation. Zur Konzeption der in Aussicht genommenen Vorlesungsreihe selbst: kein Wort. Höllerer ging gleichsam zur Sache. Er situierte Aichinger und Eich in einem literaturhistorischen Raum. Dessen Ausstattung und Ausstaffierung ließ er sich zwei komplette Seiten kosten. Sie gerieten ihm derart bezeichnend, dass ein ausführlicheres Zitat angeraten ist: Ilse Aichinger und Günter Eich gehörten zu den ersten Stimmen der deutschen Literatur, die nach 1945 neu einsetzten. Sie versuchten unmittelbar nach dem grossen Schock, nach der gähnenden Leere wieder Worte zu finden. Es war eine schier unmögliche Aufgabe damals. Nach so vielen pathetischen Worten und Beteuerungen und nach so vielen Ereignissen, die der Worte spotteten, wie konnte man da wieder anfangen, Worte zu machen, Verse, Prosa, Hörspiele zu schreiben? Besinnen wir uns zurück: Damals hatten wir alle eine grosse Chance. Wir konnten neu anfangen. Das falsche Leben schien zerschlagen. Wir sahen plötzlich, was Bestand hatte und was nicht, was wichtig war und was nicht. Wir lernten die Aufrichtigkeit schätzen. Wir hatten nichts mehr zu verbergen. Wir sahen, mit welchen unserer Mitmenschen wir, einander helfend, zusammenleben konnten, mit welchen es eine Pein war zusammenzuleben. Die Uniformen und Titel waren nichts mehr wert, die Orden, das Geld. Unsere Macht war ein verkohlter Rest. Unsere wohlgeordneten Pläne, ausberechenbar einst, waren dahin. – Was wir damals erlebten, weiss Gott, es ist schon beinahe wieder erstickt: den freien, grossen Augenblick mit seinen Gefahren und seinen Hoffnungen, mit seinem Brandgeruch und seinem Geruch nach Anemonen, mit seiner Nähe zum nächsten Gesicht, dem Lächeln, den Tränen, der Liebenswürdigkeit, Freundlichkeit, der Trauer.

24 Höllerer, Walter: Einführung zur Lesung von Ilse Aichinger und Günter Eich am 8. Dezember 1959. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Aktenordner »Literatur im technischen Zeitalter« (1962/2), ohne Signatur.

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Die Prosa von Ilse Aichinger und die Gedichte und Spiele von Günter Eich leben aus diesen Augenblicken. […]25

Diese Passage, mit der die Lesereihe ihren eigentlichen Ausgang nahm, war eine Positionsbestimmung, und zwar aus heutiger Sicht eine nicht ohne Weiteres nachvollziehbare. Ihre konzeptionelle Absicht war es, eine intellektuelle Nachkriegsmentalität im Gestus nicht zu hinterfragender Übereinkunft zu konstituieren. Sie sollte den Hintergrund und das Fundament abgeben für das literarische Werk der beiden Gäste, gewissermaßen dessen Rang begründen. Nachgerade noch die kleinste Formulierung behauptete, was mittlerweile längst obsolet geworden ist: eine Stunde Null.26 Und zwar eine Stunde Null nach etwas, das Höllerer ausschließlich metaphorisch umschrieb: »nach dem grossen Schock, nach der gähnenden Leere«. Anspielend auf Adornos rasch zur Formel gewordene Wendung aus Minima Moralia, »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«27, konstruierte Höllerer ein Wir, das aus dem ›falschen‹ im ›richtigen‹ Leben angekommen sei. Wer war dieses Wir, dem eine »grosse Chance« bescheinigt wurde, das »neu anfangen« konnte und das mit einem Mal – 1945 – wusste, was »Bestand« habe? Das deutsche Volk, der einzelne Deutsche, die Kriegsüberlebenden …? Was bedeutete der Satz »Unsere Macht war ein verkohlter Rest«, und wessen »wohlgeordnete Pläne« standen Höllerer vor Augen? Diese Fragen sind rhetorisch. Unabhängig vom Grad des Kalkulierten: Höllerer stiftet ein Gefühl von Einvernehmlichkeit durch bewusste Unschärfe. Er konstruierte als kollektive Haltung, was kaum als individuelle vorhanden gewesen war. Dieses Wir bezog seine Verführungskraft, die es augenscheinlich besaß, aus der Beschwörung ei-

25 Höllerer, Walter: Einführung zur Lesung von Ilse Aichinger und Günter Eich, wie Anm. 24. 26 Ilse Aichinger antwortet, gefragt danach, ob sie die Lage der deutschen Literatur nach dem Krieg für eine besondere gehalten habe, im Gespräch mit Heinz F. Schafroth übrigens: »Ich finde eigentlich nicht, ich meine, jede Lage ist eine besondere Lage, wenn es überhaupt zu einer Lage kommt, so ist sie besonders, man könnte gerade so gut die heutige als eine besondre Lage bezeichnen. Es war eine andere Lage.« Zit. n.: Moser, Samuel (Hg.): Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt a.M. 1995. 27 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1989, S. 42.

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nes existentiellen Moments. In ihr schwangen jene philosophischen Anleihen von Kierkegaard bis Sartre und Heidegger mit, die längst in das popularisierende Mahlwerk des zeitgenössischen Allerweltsdiskurses geraten waren. Höllerers Metonymien »Brandgeruch« und »Anemonen« erlaubten Assoziationen, die jenseits denkbarer Schmerzgrenzen blieben. Kein Satz, den er für seinen Einstieg notierte, war für die Goldwaage gedacht, und keinem ist zu attestieren, dass er den Test bestanden hätte – es sei denn, wie in unserem Fall, als historisches Dokument. So verwundert es doch, dass Höllerer mit diesen Sätzen, deren Haltbarkeit auf einen rasch vergehenden Augenblick bemessen schien, nicht nur diese Lesung eröffnete. Er trug keine Bedenken, sie auch für das Nachwort zu verwenden, das er seiner Auswahl von EichGedichten beifügte, mit der die Reihe »suhrkamp texte« 1960 ins Leben gerufen wurde.28 Dass dieser Umstand der Lesereihe selbst und den Texten, die Höllerer für sie schrieb, ein noch ganz anderes Gewicht verleiht, muss kaum betont werden. Wie nun und wo platzierte Höllerer auf dieses ambivalente Eingangskonstrukt seine beiden Gäste? Mit einer These: Aichinger und Eich sei es mit ihrem Werk gelungen, jene »Augenblicke des Lächelns, der Tränen, der Liebenswürdigkeit« aufzuheben, sie zu bewahren in einer Gegenwart, der er »augenblicksfeindliche Gespinste« unterstellte und in der »neue Uniformen, Titel und Orden die Gesichter verstellen«.29 Aichinger und Eich seien, lobte Höllerer, »die poetisch sorgsamsten Repräsentanten«30 jener verlässlichen, genau zielenden und unbestechlichen Schriftstellergeneration nach 1945. Und er installierte Aichingers Romantitel in seine Begrüßung hinein. Dass das nicht abging ohne eine entstellende Umdeutung, nahm er in Kauf: Der Titel dieses Romans sprach das aus, was damals in unseren Köpfen und Herzen war und hoffentlich noch heute in unseren Köpfen und Herzen ist: eine Hoffnung, die nicht auf Illusionen aufbaut, sondern die mit dem kritischen und fragenden Blick im Schutt und Geröll die Funken aufspürt und sammelt, die

28 Eich, Günter: Ausgewählte Gedichte. Auswahl u. Nachwort von Walter Höllerer. Frankfurt a.M. 1960. 29 Höllerer, Walter: Einführung zur Lesung von Ilse Aichinger und Günter Eich, wie Anm. 24. 30 Ebd.

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verlässlich geblieben sind nach dem Versagen der grossen imposanten Scheinwerfer […]31

Mit nicht einem einzigen Wort ging Höllerer auf das eigentliche Thema des Buches ein: auf den tragischen Weg der ›Halbjüdin‹ Ellen im deutsch-besetzten und NS-verseuchten Wien. Dass es sich bei Die größere Hoffnung um den ersten Roman handelte, der diese Ereignisse schilderte, blieb buchstäblich ausgespart. Weder Holocaust noch Shoa noch zeitadäquate Begriffe fanden Eingang und Platz in dieser Einführung. Es ist nicht überliefert, ob Aichinger danach Einspruch gegen dieses dem Anlass geopferte Miss- oder doch Umdeuten erhob. Wahrscheinlich nicht. Zu wohlmeinend war der Gestus dieses Textes, zu entwaffnend der Habitus, mit dem er vorgetragen wurde32, und zu vertraut der Umgang, zu dem man gefunden hatte.33 Ähnlich intendiert verfuhr Höllerer mit Eich. Er stand nicht an, Eichs bekanntestes Gedicht Inventur vollständig vorzutragen, was sich im Kontext des bis dahin Gesagten wie ein erneuertes Plädoyer für eine ›Stunde Null‹ nach 1945 liest. Obwohl Höllerer auf die (allerdings noch nicht im Druck vorliegende) Büchnerpreis-Rede Eichs vom 31. Oktober 1959 verwies, die er als »jüngste[s] Zeugnis der Auseinandersetzung dieser [Eichs] Dichtung mit den Tagesfragen, die uns erregen«34, wertete, bog er den dort entfalteten kompromisslosen AntiMacht-Diskurs mit dem Zitat aus dem Gedicht Tauben »Vertrau Dei-

31 Ebd. 32 Franz Tumler berichtete im Tagesspiegel vom 10.12.1959, Höllerer habe in »angenehm unpathetischer Weise fest im Detail, und zu Überschau auf weitere Horizonte einladend« den Abend eröffnet. 33 Im Walter Höllerer Archiv findet sich beispielsweise ein Brief an Höllerer vom 17.12.1958, in dem Aichinger »für den Sack mit Äpfeln und Marzipan« dankt und auf einen Besuch von Höllerer bei ihnen in Lenggries hofft: »Um als Nikolaus hier zu arbeiten, was sehr gut gewesen wäre, ist es zu spät, aber es gibt ja Weihnachtsmänner, viele Arten von Silvester und dann noch drei Könige.« In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/5491. 34 Höllerer, Walter: Einführung zur Lesung von Ilse Aichinger und Günter Eich, wie Anm. 24.

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ner Macht nicht, / so wirst du auch nicht verwundert sein, / wenn du erfährst, dass du unwichtig bist«35 in sein Gegenteil um. Auch die Feststellung, Eichs Poesie sei es gelungen, »die Kluft zwischen moderner Literatur und technischer Alltagswelt«36 zu überbrücken, verfehlt den Sachverhalt. Erst mit der Bemerkung, Eich habe »Dichtung immer aufgefasst als das Weiterschreiben in noch unbekanntes, uns fremdes Gelände, um dort Wegweiser, erste trigonometrische Punkte aufzustellen durch Verse und Dialoge«37, fasste Höllerer wieder Fuß im Intentionsraum Eichschen Dichtens. Er beeilte sich, zum Ende zu kommen und die beiden derart Vorgestellten noch einmal »an meinem Katheder und in meinem Hörsaal«38 zu begrüßen. Es will nicht zufällig erscheinen, dass das Redemanuskript gerade an dieser Stelle Streichungen, Neuanläufe und rasche Besserungen aufweist. Eichs Formel von den »trigonometrischen Punkten«, die er in seiner Rede auf dem deutsch-französischen Dichtertreffen 1956 in Vézelay gehalten hatte, beschäftigte Höllerer. Eich hatte damals gesagt: »Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren. Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren.«39 Für Höllerer musste eine Art Magie von diesem geometrischen Bild ausgegangen sein. Ja, es sollte sich herausstellen, dass ihm dieses poetologische Schlagwort geeignet schien, gültig für alle Lesungen dieser Saison 1959/60 zu sein. Er qualifizierte es von Gast zu Gast zu einem Leitmotiv, dessen Einsatz ihm stilistisches Vergnügen bereitete und dem er Wörter wie »Labyrinth« bzw. Wortfelder aus dem Bereich von »Technik« oder »Zeitalter« zugesellte. Und als Höllerer am 8. Februar 1960 í Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger lasen í zum Resümee des ersten Vortragszyklus ansetzte, kam er ebenfalls nicht ohne jene »Punkte« aus, und auch nicht ohne Eich. Die Botschaft des ersten Durchgangs, die sich aus der Vielstimmigkeit mit einer Stimme herauskristallisiert habe, lautete für Höllerer: »Erkenne die Lage! Richte

35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Eich, Günter: Der Schriftsteller vor der Realität. In: Ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Band IV: Vermischte Schriften. Hg. v. Axel Vieregg, Frankfurt a.M. 1991, S. 613.

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dich nicht ein in vorbereiteten Parolen, sondern frage nach den trigonometrischen Punkten, die es im Niemandsland zu erkennen gilt!«40 Gerade aus diesem Blickwinkel des Fazits wird deutlich, wie verdeckt programmatisch Höllerer die Entscheidung verstand, Günter Eich der eigentlichen Lesereihe vorangehen zu lassen. Der Dichter der Träume gehörte nicht nur dazu. In Höllerers Augen und kraft seiner Auslegung war er Primus inter pares. Mit ihm schien der Schritt getaktet, dem die anderen, den Takt aufnehmend, folgen sollten. Die Dezember-Lesung von Eich und Aichinger gestaltete sich zum Stützpfeiler, von dem aus die Brücke bis zum Abschluss der Lesereihe im Februar geschlagen wurde. Dabei ist ganz unerheblich, in welchem Maße Höllerer das selbst so sah oder formal auf die Trennung bestand.41 Als Anschluss- und Vermittlungsstück fungierte die nun offizielle Eröffnungslesung am 11. Januar 1960. Zu ihr hatte Höllerer Ingeborg Bachmann und Max Frisch geladen, wie Aichinger und Eich zu dieser Zeit ein Schriftstellerpaar. Da von Böttiger unberücksichtigt, verdient der Wortlaut, mit dem Höllerer das konzeptionelle Fundament für seine Lesereihe goss, gesonderte Aufmerksamkeit. Umweglos sprach er zur Sache. Geladen seien Autoren, »deren Bücher zur Zeit im Brennpunkt der Diskussion«42 stünden, zum Vortrag käme Veröffentlichtes und Unveröffentlichtes. Und weiter: Sie [die Eingeladenen – d. Verf.] lesen in einem Hörsaal Wand an Wand mit Räumen, in denen die Technik ihre Ergebnisse weitertreibt, mitten in diesem Labyrinth technischen Denkens und Forschens, das die technische Universität

40 Höllerer, Walter: Einführung zur Lesung von Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger am 8. Februar 1960. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Aktenordner »Literatur im technischen Zeitalter« (1962/2), ohne Signatur. 41 In seinem Brief an Eich vom 20.11.1959 heißt es: »Meine Lesereihe kann wegen Saal-Gründen etc. erst im Januar anfangen. Ich soll aber, im Namen der ›Urania‹, Euch ›einleiten‹,›begrüßen‹, außerdem findet die Lesung in meinem Hörsaal statt, so daß viele von meinen Studenten da sein werden.« Zit. n.: Böttiger 2005, S. 123. 42 Höllerer, Walter: Einführung zur Lesung von Ingeborg Bachmann und Max Frisch am 11. Januar 1960. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Aktenordner »Literatur im technischen Zeitalter« (1962/2), ohne Signatur.

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Berlin darstellt, mitten in einem der grössten europäischen technischen Zentren. Für die Literatur bedeutet das eine Zerreissprobe.43

Höllerer entwarf ein überdimensionales Versuchslabor, von dem er sich taugliche Experimentalreihen44 zum Verhältnis von Technik und Dichtung unter den Gegebenheiten der modernen Gegenwart versprach: sich und seinem Publikum. Ermitteln wollte er, ob Literatur »die Probleme, die Denkstrukturen, die Rhythmen« durchlaufen habe, die der Technik eigneten. »Hat sie«, fragte er in bezeichnender Metaphorik, »Zahnräder, scharf genug, hier einzugreifen«45? Mit einem Seitenblick auf Karl Immermanns Roman Die Epigonen und dem dort entworfenen Programm einer Dichtung, die vor dem Sturz »der vorbeirauschenden industriellen Wogen« ihr »grünes Plätzchen« abzäune, öffnete Höllerer die Aussicht auf eine Dichtkunst von »Modell und Gegenmodell der technischen Welt«. Wissen wollte er von den Lesenden, auf welche Art sie aus den spezialisierten Denkkanälen ausbrechen und den Versuch unternehmen, unser Bewusstsein wieder zusammenzufügen; wie sie den einzelnen Menschen inmitten der Massen, Verwaltungen und Organisationen zeigen, seine Gefährdung, seinen Aufbruchsversuch, seine mögliche Chance zur Veränderung, oder sein Verhängnis.46

War Eich in Höllerers Deutung ein raunender Magier, dessen dichtende Hand Leuchtpunkte im sphärischen Raum einer grenz- und fugenlos werdenden Zeit setzte, konturierte er Frisch, den Schriftsteller und Architekten, als Personifikation der Leitbegriffe der Lesereihe. Die Weise, in der Höllerer herausstrich, dass Frisch weder zu einer »blossen Apologetik der Technik«, noch zu deren »Verleugnung oder Ver-

43 Ebd. 44 Höllerer gebrauchte das Wort vom ›Experiment‹ selbst in seiner Ansprache. 45 Höllerer, Walter: Einführung zur Lesung von Ingeborg Bachmann und Max Frisch, wie Anm. 42. 46 Ebd.

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dammung« tendiere, gestaltete sich so, dass der Schweizer unversehens zu einem Bruder im Geiste Eichs wird.47 Gelänge es, schloss Höllerer, Frisch zitierend und in programmatischen Rang für die Reihe hebend, »eine Frage dermaßen zu stellen, dass die Zuschauer von dieser Stunde an ohne eine Antwort nicht mehr leben können – ohne ihre Antwort, ihre eigene, die sie nur mit dem Leben selber geben können«48, sei die Aufgabe des Stückschreibers erfüllt. Oder die dessen, der seinen Hörsaal 3010 in eine Bühne verwandelte, die medial modernisierte und umgewidmete, der Literatur der Zeit ihren genuinen Sitz im Leben verhieß: im hellen und immer heller werdenden, von Technik überladenen, künstlich erzeugten Raum und mit prognostizierten flackernden Lichtzeichen aus einem Dunkel, dessen Urgründe im Unbestimmten blieben. Damit waren Pilotlesung und Reihendebüt konzeptionell, personell und strukturell verzahnt, und vor die Dimension der Deutung die des Andeutens, der Anspielung und des Ungefähren gelagert. Übertragen ins Zeithistorische: Höllerer fokussierte nicht auf den Klärungsbedarf jüngster deutscher Vergangenheit, sondern auf Anschluss an den Technikdiskurs. Der begünstigte ein diskursives Gemisch, in dem sich die Fraktionierungen so unzuverlässig scheiden ließen, wie die Frontenlage bedenklich zwischen konservativ und progressiv changierte. Aber zurück zum Probelauf, zurück zu Ilse Aichinger und Günter Eich. Das Jahr: 1959 Das Jahr 1959 war für Ilse Aichinger ein nach außen ruhiger wirkendes, wohl aber ein arbeitsames. Sie hatte zu Anfang jenes Jahres den Text Kleist, Moos, Fasane, den sie auf der Tagung der Gruppe 47 des

47 Ganz ähnlich bei Ingeborg Bachmann. »In ihren Bildern und Rhythmen«, schreibt Höllerer, »erscheint das Labyrinth der technischen Welt, beschworen gerade auch dort, wo von technischen Motiven, von Maschinen und Hochhäusern, gar nicht die Rede ist«. Höllerer widersteht hier wie oft nicht der Versuchung, mit seinen Umschreibungen zu verdunkeln, wo Helle und Transparenz am Platz wären: »Wasserzeichen dieser Welt« beschwöre Bachmann, deren »Muster« sichtbar machten, was »zugleich auch in uns selber, verborgen, vorhanden ist«, »Paradoxie«, »Unauflösbarkeit«, »Glanz« und »Gefahr«. (Ebd.). 48 Ebd.

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vorangegangenen Herbstes gelesen hatte, in Akzente veröffentlicht,49 sonst aber nur wenig publiziert. Im weiteren Verlauf des Jahres widmete sie sich einer ungewöhnlichen Arbeit: der Revision ihres Erstlings Die größere Hoffnung. Was anfänglich als schneller Korrekturgang für die geplante Taschenbuchausgabe gedacht war, wuchs sich aus zu einer intensiven Überarbeitung.50 Und noch etwas Bemerkenswertes: Aichinger nahm, entschieden wie nie zuvor, die Arbeit an lyrischen Texten auf – Hannah Markus konnte aus dem Vorlass mindestens 25 neu entstandene Gedichte für dieses Jahr ermitteln, fast alle wurden veröffentlicht.51 Die als Prosaautorin angekündigte Schriftstellerin war dabei, in eben diesen Monaten – und vorerst unter Ausschluss der Öffentlichkeit – den Gattungsakzent ihres Werkes zu verlagern. So las sie am 8. Dezember Prosa: Wo ich wohne, das, entstanden 1952, zwar bereits gedruckt, aber noch nicht in einer eigenständigen Veröffentlichung zugänglich war,52 und zwei Kapitel aus der überarbeiteten Größeren Hoffnung53. Und Eichs 1959? Der äußere Erfolg, den die fünfziger Jahre für Günter Eich bedeuteten, war nicht abgerissen. Der Hessische Rundfunk hatte ihm für die Neubearbeitung seines Hörspiels Die Mädchen aus Viterbo den Schleußner-Schueller-Preis verliehen und damit Ungewöhnliches honoriert. Aus tiefer Unzufriedenheit mit seinem bisherigen (beispiellos erfolgreichen) Hörspielwerk war Eich nämlich daran gegangen, seine zum Teil bereits mit Bewunderung bedachten Texte neu zu bearbeiten. Weit davon entfernt, die innere, quälende Notlage, die diesen folgenreichen Impuls ausgelöst hatte, zu einem Gegenstand öffentlichen Nachdenkens zu erheben, ging Eich zu einem verdeckten Großangriff gegen Teile seines bisherigen Werks vor. Diesen schwie-

49 Aichinger, Ilse: Kleist, Moos, Fasane. In: Akzente 5 (1959), H.1, S. 44-49. 50 Vgl. hierzu Berbig, Roland: »Die größere Hoffnung« 1948, 1960 – zwei Seiten einer Medaille? Zum frühen Werkverständnis Ilse Aichingers unter Einbezug ihrer Tagebücher. In: Ders. (Hg.): Ilse Aichinger. München 2007 (= Text + Kritik 175), S. 19-28. 51 Vgl. Markus, Hannah: Denn was sollte ans Licht kommen … Ilse Aichingers Lyrik 1959. In: Berliner Hefte 8 (2008), S. 306-318. 52 Erstdruck in: Stille Heimat. Jahrbuch der Stadt Linz. Linz 1955, S. 55-59. In Buchform zuerst: Aichinger, Ilse: Wo ich wohne. Erzählungen, Gedichte, Dialoge. Frankfurt a.M. 1963. 53 Die überarbeitete Neuausgabe ist 1960 bei S. Fischer erschienen.

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rigen Vorgang begleiteten Selbstzweifel und Krisen, zumal er hinter dem Vorhang einer literarischen Öffentlichkeit ablief, die mit unbekümmerter und erwartungsvoller Zuversicht ihr Da capo rief.54 Anfang Juli kam es zu einem überraschenden poetischen Schub. Verursacht war er durch eine Anfrage des namhaften Puppenspielers Harro Siegel. Der hatte Eich mit seiner Idee eines »submarinen Ballett[s]«, eines »Unterwasser-Traumspiel[s]« und eigenen Puppenentwürfen konfrontiert und der Frage, »können nicht meine Figuren Ihrem Wort Gestalt verleihen?«55 Als Eich mit seiner Frau am 7. Dezember 1959 nach Berlin fuhr, hatte er das »einzige[-] Exemplar«56 seines immer noch ungedruckten Manuskripts Unter Wasser im Gepäck. Würde es auch bald als Druckvorlage für Akzente in Höllerers Hand sein, diente es Eich erst einmal als Textscript für die Lesung im Hörsaal 3010. Zwei Szenen hatte er ausgewählt, dazu Gedichte. Welche, wir wissen es nicht. Kurz: Ohne dass es Höllerer und das erwartungsfreudige Publikum ahnten, erlebten sie einen Eich, der sich von den fünfziger Jahren, als deren dichtende Stimme er galt, still und vornehm, aber gründlich verabschiedete. Wie beinahe alle Dichterinnen und Dichter, denen Höllerer in den nachfolgenden Wochen den Lesestuhl zurechtrückte, vollzog Eich einen poetischen und poetologischen Einschnitt von Tragweite. Mit dem Beginn der Hörsaal-Lesereihe Höllerers endete eine Ära deutscher Nachkriegsliteratur. Autoren – einem Apparat ausgesetzt Der bereits erwähnte Zeitungsartikel über die Veranstaltung mit Eich und Aichinger im Dezember 1959 verrät uns nicht, ob diese erste Hörsaallesung schon so gut besucht war wie die folgenden – unwahrscheinlich ist es freilich nicht, denn Höllerer hatte ihr Aufmerksamkeit auch dadurch verschafft, dass er seine »Reihe von Literaturveranstal-

54 Vgl. hierzu Berbig, Roland: Unter Wasser í »meine Figuren Ihrem Wort«. Zum Arbeitskontakt zwischen Günter Eich und Harro Siegel (1958 bis 1961). Mit unveröffentlichten Briefen. In: Berliner Hefte 8 (2008), S. 274296, besonders S. 276–278. 55 Siegel, Harro an Günter Eich: Brief v. 18.11.1958. Zit. n. Berbig 2008, S. 282. 56 Eich, Günter an Walter Höllerer: Brief v. 4.12.1959. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 01AK/1081.

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tungen« bereits am 27. Oktober auf einer Pressekonferenz in der Maison de France angekündigt hatte.57 Das Ausmaß der Berichterstattung über diese Lesungen frappiert. Als Beispiel sei der Berliner Tagesspiegel genannt: Er bringt neben den auch sonst üblichen knappen Vorankündigungen zu jeder der Lesungen des Wintersemesters 1959/60 ausführliche Nachberichte, das gilt im gesamten Zeitraum für keine andere Literaturveranstaltung. Was man heute vielleicht bei flüchtigem Hinsehen erfolgreiche Pressearbeit oder überzeugendes Marketing nennen würde, war mehr. Dass Höllerers Lesereihe sich so entwickeln konnte, wie sie es tat, ist der Aufbruchstimmung geschuldet, die die Umsetzung eines derart breit angelegten Konzeptes mit sich brachte. Möglich war sie geworden auch durch die einzigartige Lage Berlins, die gleichzeitig abgeschlossene Insellage und Fokalpunkt weltpolitischer Aufmerksamkeit war. Die Lesereihe selbst hatte mit nachmittäglichen Buchhandlungslesungen so wenig gemein wie mit abendlichen Gelehrtenvorträgen in der Urania. Sie wurde Stadtgespräch. Die Zugkraft des Events ist nicht zu unterschätzen und nun schon gar nicht, wenn sie zusätzlich gespeist wird durch die Energie, die die anderen in Zusammenhang mit Höllerers freundlicher Übernahme der Stadt stehenden Unternehmungen freisetzten. Helmut Böttiger hat zitiert, was die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach dem erstem Lesungsblock registrierenswert fand: einerseits den sich, »gewissermaßen l’art pour l’art«, vollziehenden Andrang zu Dichterlesungen in einem universitären Hörsaal und andererseits das Profil des andrängenden Publikums: zwischen den Studenten, vornehmlich Germanisten von der Freien Universität, Studenten der Technischen Hochschule und auch einigen aus Ost-Berlin, drängten sich Professoren, bekannte Namen des Berliner Kulturlebens, aber auch viel Berliner Bildungsbürgertum […]58

Bei Böttiger hält das Staunen an. Es ist ein Erstaunen, wie aus einer seminaristischen Abwechslung ein mediales Ereignis von fulminantem Rang wurde. Wie im Zeitraffer durchlief diese Reihe eine Entwicklung, vergleichbar der der Gruppe 47. Wo eben noch die akademische

57 Siehe Anm. 23. 58 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11.2.1960. Zit. n.: Böttiger 2005, S. 124.

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Geselligkeit den Ton angegeben hatte, rückten Ton- und Aufnahmestudios an, Höllerers Idee einer Literatur und ihrer Theorie im technischen Zeitalter praktische Wirklichkeit zu verleihen. Waren Eich und Aichinger noch eben »menschenscheu« ans Lesepult getreten, agierten ihre Nachfolger von Bachmann bis Doderer, von Henry Miller bis Dos Passos im grellen Scheinwerferlicht als Schaudarsteller ihrer selbst. Die Medialisierung räumte ihnen einerseits individualisierende Chancen ein und lieferte sie andererseits einer bedrohlichen Anonymität aus. Höllerer dazu am 13. November 1961 – vor 1200 Besuchern: Die Worte der Autoren sind in diesem Saal, wie Sie sehen, einem beträchtlichen äußeren Aufwand ausgeliefert. Sogar die Gesichter der Autoren sind dieser Apparatur ausgesetzt. Sie werden beide, Worte und Gesichter, sich dieses Aufwandes erwehren müssen und sich durchzusetzen bemühen, […]59

Der universitäre Raum ging als gestaltgebende Kraft verloren oder wechselte seine Gestalt bis zur äußerlichen Unkenntlichkeit. Oder noch anders gewendet: Er durchlief eine Metamorphose, die seine ursprüngliche Realität in ein Symbol überführte. Noch als Lesepodium der modernen europäischen Literatur grundierte das Hörsaal-Bild die Atmosphäre und büßte selbst im »repräsentativsten und modernsten Veranstaltungsgebäude Westberlins«60, der Kongresshalle, nicht seine latente ›Anwesenheit‹ ein. »Ich wünsche mir«, sagte Höllerer in seiner zweiten Bachmann-Einführung, »den Ort unserer bisherigen Lesungen, den Hörsaal 3010, mit seiner Atmosphäre eingepflanzt in die Kongreßhalle«61. Personifiziert wurde diese universitäre Präsenz durch Höllerer selbst. Kaum ein í wahrscheinlich: kein! í Artikel unterließ es, sein professorales Ordinariat zu vermerken. Der Dichter Höllerer, der er auch war, geriet gänzlich außer dem Blick. Die strukturelle Qualität, die seine Unternehmungsfreude besaß und die kulturpolitisches Terrain mit Siebenmeilenstiefeln erschloss, dominierte: »hier in Berlin«, hatte Höllerer in seiner Einleitung für Eich erst notiert und dann

59 Zit. n.: Böttiger 2005, S. 132. 60 Pforzheimer Zeitung v. 27.11.1961. Zit. n.: Böttiger 2005, S. 128. 61 Zit. n.: Böttiger 2005, S. 132.

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aber wieder gestrichen, »eine seltsame Konstellation, die wir uns damals nicht hätten träumen lassen.«62 Der singulär wirkende Erfolg lässt allerdings übersehen, dass beinahe zeitgleich Dichter-, vornehmlich Lyrik-Lesungen einen ungewöhnlichen Auftrieb erfuhren. Über Gründe dafür lässt sich kaum mehr als spekulieren. Ihrem Wägen müsste eine detaillierte Auflistung vorausgehen und vor allem eine differenzierende Begutachtung. Unter welcher Flagge kam da wer und mit welcher Intention oder Erwartung zusammen? Wie stand es um den Raum, war er institutionalisiert oder privat? Was zeichnete den Einladenden aus? War er – wie Höllerer í Poet und Professor oder í wie etwa Stephan Hermlin in Ostberlin í Autor und Akademiesekretär? Gab es zwischen Höllerer und Hans Mayer, der in seinem Leipziger Universitätshörsaal 40 der Dichtung regelmäßig ein Podium bot (sogar in deutsch-deutscher Mischung) Parallelen oder waltete hier Zufall? Trieb Höllerer in Westberlin die Lesungen in einen experimentellen Raum, der »Ordnungsversuche […] in einer vor der Technik bewährten Wirklichkeit«63 zeigt, experimentierte man in der DDR offenbar ebenfalls mit der Kompatibilität von Literatur im akademischen Raum. Intendierte Höllerer jedoch Entideologisierung und Modernisierung, die dem Begriff des ›technischen Zeitalters‹ eingeschrieben waren, wirkte dort die ideologische Grenze – und zwar so stark, dass sie einen historischen Wimpernschlag später reale Gestalt annahm. Zwischen der Pilotlesung mit Aichinger und Eich und jenem Auftritt von Ingeborg Bachmann November 1961 in der nun internationalen Lesereihe »Literatur im technischen Zeitalter« ging, so will es scheinen, eine Ära zu Ende: die der deutschen Nachkriegsliteratur. Höllerer vollzog diesen Schritt mit und gab ihm ein Maß, das zur Messlatte wurde.

62 Höllerer, Walter: Einführung zur Lesung von Ilse Aichinger und Günter Eich, wie Anm. 24. 63 Höllerer, Walter: Einleitung zur Lesung von Ingeborg Bachmann am 13. November 1961. Zit. n.: Böttiger 2005, S. 135.

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Q UELLEN

UND

L ITERATUR

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. [Bibliothek Suhrkamp; 236] Frankfurt a.M. 1989. S. 42. Aichinger, Ilse: Kleist, Moos, Fasane. In: Akzente 5 (1959), H. 1, S. 44-49. Aichinger, Ilse: Wo ich wohne. Erzählungen, Gedichte, Dialoge. Frankfurt a.M. 1963. Aichinger, Ilse: Wo ich wohne. In: Stille Heimat. Jahrbuch der Stadt Linz. 1955, S. 55-59. Bender, Hans / Höllerer, Walter: Redaktionskorrespondenz Akzente. In: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg (LSR), Bestandssignatur: 01AK. Berbig, Roland / Krüger Alexander: Ein Novum unter der Ägis eines Lehrstuhlinhabers. Walter Höllerer im Jahr 1959. In: Berliner Hefte 8 (2008), S. 89-99. Berbig, Roland: »Die größere Hoffnung« 1948, 1960 – zwei Seiten einer Medaille? Zum frühen Werkverständnis Ilse Aichingers unter Einbezug ihrer Tagebücher. In: Roland Berbig (Hg.): Ilse Aichinger.. München 2007 (= Text + Kritik, 175), S. 19-28. Berbig, Roland: Unter Wasser í »meine Figuren Ihrem Wort«. Zum Arbeitskontakt zwischen Günter Eich und Harro Siegel (1958 bis 1961). Mit unveröffentlichten Briefen. In: Berliner Hefte 8 (2008), S. 274–296. Bielenberg, Christian: Der Fall Herbert Kasten. Die westöstliche Odyssee eines deutschen Schriftstellers. In: Die Zeit v. 11.12.1959. Böhm, Thomas (Hg.): Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung. Berlin 2003. Eich, Günter: Ausgewählte Gedichte. Auswahl u. Nachwort von Walter Höllerer. Frankfurt a.M. 1960 (= suhrkamp texte 1). Eich, Günter: Der Schriftsteller vor der Realität. In: Ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Band IV: Vermischte Schriften. Hg. v. Axel Vieregg, Frankfurt a.M. 1991, S. 613. Essman, Susan: Die Autorenlesung – eine Form der Literaturvermittlung. In Annäherung an den Paratext. In: Kritische Ausgabe 15 (2007), S. 89-92. Genette, Gérard: Paratexte. Frankfurt a.M. 1989.

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Günther, Joachim: Bestätigte Künstlerschaft. Günter Grass und Uwe Johnson – Ein Höhepunkt der Lesereihe »Literatur im technischen Zeitalter«. In: Der Tagesspiegel v. 3.12.1960. Höllerer, Walter: Einführung zur Lesung von Ilse Aichinger und Günter Eich am 8. Dezember 1959. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Aktenordner »Literatur im technischen Zeitalter« (1962/2), ohne Signatur. Höllerer, Walter: Einführung zur Lesung von Ingeborg Bachmann und Max Frisch am 11. Januar 1960. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Aktenordner »Literatur im technischen Zeitalter« (1962/2), ohne Signatur. Höllerer, Walter: Einführung zur Lesung von Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger am 8. Februar 1960. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Aktenordner »Literatur im technischen Zeitalter« (1962/2), ohne Signatur. Höllerer, Walter: Nachlass Walter Höllerer. In: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg, Bestandssignatur: 03WH. Markus, Hannah: Denn was sollte ans Licht kommen … Ilse Aichingers Lyrik 1959. In: Berliner Hefte 8 (2008), S. 306-318. Moser, Samuel (Hg.): Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt a.M. 1995. Stritzke, Nadyne: [Art.:] »Lesung«. In: Burdorf, Dieter / Fasbender, Christoph / Moennighoff, Burkhard (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Begründet von Günther und Irmgard Schweikle. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar 2007, S. 433. Tgahrt, Reinhard: Nachwort. In: Dichter lesen. Band 3: Vom Expressionismus in die Weimarer Republik. Hg. von Reinhard Tgahrt. Marbach a.N. 1995 (= Marbacher Schriften 38/39), S. 413. Tumler, Franz: Jubel um einen verhinderten Preisträger. Günter Grass las in der Technischen Universität aus eigenen Arbeiten. In: Der Tagesspiegel v. 20.1.1960. Tumler, Franz: Vernehmliche Dichtung. Günter Eich und Ilse Aichinger lasen für die Urania. In: Der Tagesspiegel v. 10.12.1959, S. 4. [o.A.] Bonn stellt Nehru zur Rede. In: Süddeutsche Zeitung v. 8.12.1959. [o.A.] Dichter lesen. Von Gellert bis Liliencron. Marbach a.N. 1984 (= Marbacher Schriften 23/24). [o.A.] In die Westzone geflohen. In: Berliner Zeitung v. 8.12.1959.

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[o.A.] Kasten wieder geflüchtet. Stralsunder Schriftsteller von der SED unter Druck gesetzt. In: Berliner Morgenpost v. 8.12.1959. [o.A.] Nehru: Zwei deutsche Staaten sind Realität. In: Berliner Zeitung v. 8.12.1959. [o.A.] Vorträge und Veranstaltungen. In: Der Tagesspiegel v. 6.12.1959.

A NHANG Walter Höllerer: Einführung zur Lesung von Ilse Aichinger und Günter Eich, 8. Dezember 1959 1

Meine Damen, meine Herren, Ilse Aichinger und Günter Eich gehörten zu den ersten Stimmen der deutschen Literatur, die nach 1945 neu einsetzten. Sie versuchten unmittelbar nach dem grossen Schock, nach der gähnenden Leere wieder Worte zu finden. Es war eine schier unmögliche Aufgabe damals. Nach so vielen pathetischen Worten und Beteuerungen und nach so vielen Ereignissen, die der Worte spotteten, wie konnte man da wieder anfangen, Worte zu machen, Verse, Prosa, Hörspiele zu schreiben? Besinnen wir uns zurück: Damals hatten wir alle eine grosse Chance. Wir konnten neu anfangen. Das falsche Leben schien zerschlagen. Wir sahen plötzlich, was Bestand hatte und was nicht, was wichtig war und was nicht. Wir lernten die Aufrichtigkeit schätzen. Wir hatten nichts mehr zu verbergen. Wir sahen, mit welchen unserer Mitmenschen wir, einander helfend, zusammenleben konnten, mit welchen es eine Pein war zusammenzuleben. Die Uniformen und Titel waren nichts mehr wert, die Orden, das Geld. Unsere Macht war ein verkohlter Rest. Unsere wohlgeordneten Pläne, ausberechenbar einst, waren dahin. í Was wir damals erlebten, weiss Gott, es ist schon beinahe wieder erstickt: den freien, grossen Augenblick mit seinen Gefahren und seinen Hoffnungen, mit seinem Brandgeruch und seinem Geruch

1

Im Rahmen der vorliegenden Publikation erschien es ratsam, diese handschriftlichen Notizen Höllerers statt in einer diplomatischen in einer Lesefassung wiederzugeben. Sie behält die orthographischen Eigenarten Höllerers bei, verzichtet aber auf die Rekonstruktion seiner Streichungen, Umformulierungen und Ergänzungen. Der Text gibt also wieder, was Höllerer als Einleitung öffentlich vortrug. Zum Charakter der Notizen vgl. den vorstehenden Text. Dem Literaturarchiv in Sulzbach-Rosenberg, namentlich Herrn Michael Peter Hehl, MA, ist für außerordentliches Entgegenkommen zu danken. Für die Genehmigung, diese beiden Einführungen abdrucken zu dürfen, gilt unser herzlicher Dank Frau Renate von Mangoldt (Berlin).

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nach Anemonen, mit seiner Nähe zum nächsten Gesicht, dem Lächeln, den Tränen, der Liebenswürdigkeit, Freundlichkeit, der Trauer. Die Prosa von Ilse Aichinger und die Gedichte und Spiele von Günter Eich leben aus diesen Augenblicken, des Lächeln, der Tränen, der Liebenswürdigkeit. Wir danken Ilse Aichinger und Günter Eich, dass Ihr diese Augenblicke aufgehoben habt, auch heute noch, nachdem längst neue Fassaden aufgerichtet sind, neue augenblicksfeindliche Gespinste uns umnebeln, neue Uniformen, Titel und Orden die Gesichter verstellen, neue Dünkel, Ängstlichkeiten und Konventionen unsere Gefühle einschnüren, neue Lügen uns in die Worte fallen. Wir könnten noch leben aus diesen Augenblicken der unbedingten Hingabe, ohne Weshalb und Warum, unsere besten Momente auch heute haben damit zu tun: Momente ohne Beruhigung und ohne den hämischen Triumph über das Schwächere. Ein Moment der reinen Gegenwart. Ilse Aichinger schrieb damals ihren Roman Die grössere Hoffnung, der in diesen Wochen neu aufgelegt wird. Der Titel dieses Romans sprach das aus, was damals in unseren Köpfen und Herzen war und hoffentlich noch heute in unseren Köpfen und Herzen ist: eine Hoffnung, die nicht auf Illusionen aufbaut, sondern die mit dem kritischen und fragenden Blick im Schutt und Geröll die Funken aufspürt und sammelt, die verlässlich geblieben sind nach dem Versagen der grossen imposanten Scheinwerfer; eine verlässliche, eine genau zielende, und eine unverdrossene, unbestechliche Schriftstellergeneration nach 1945 habt ihr verkörpert, ihr seid, das ist meine Überzeugung, die vertrauenswürdigsten und die poetisch sorgsamsten Repräsentanten dieser Generation in Deutschland geblieben. In dem Buch von Ilse Aichinger Der Gefesselte gibt es eine Geschichte, die Rede unterm Galgen betitelt ist. Ein Mann sieht vor seiner Hinrichtung hinunter auf das Getriebe der Menschen und ruft jedem einzeln zu, was er nun sieht, in einem herausgehobenen Augenblick. Lasst eure Kinder schreien, kommt herauf! Steht nicht so still da unten, starrt nicht so gierig her zu mir, Höfe und Scheunen hab ich angezündet, damit ich hier auf diese Bretter darf, und viele Nächte lang bin ich allein gewesen, in jeder so allein wie auf dem Grund der See, auf den kein Funken mehr von meinem eigenen Feuer fällt. Und ihr? Habt ihr gemordet? Nein! Habt ihr gebrannt, gestohlen? Nichts? Das glaub ich nicht, weshalb müsst ihr dann sterben, wenn ihr sterben müsst? … wieviele Jahre hast du noch zu leben? Du weisst es nicht,

E INFÜHRUNG

ZUR

L ESUNG

VON I LSE

A ICHINGER

UND

G ÜNTER EICH

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soll ich dirs sagen? Eins! Und jetzt der rechts, wieviele Stunden? Eine! Und der daneben í wie viele Augenblicke? Einen, sag ich dir! Ihr glaubt mir’s nicht? So schwör ich bei dem Boden, der mir unter den Füssen weggezogen wird, und bei der Luft, die viel zu hell ist, als dass ich sie noch lang in meine finsteren Lungen saugen will, und bei dem Himmel, der sich unter meine Sohlen legt, wenn erst die Bretter weichen: Keiner von euch lebt nur um einen halben Vogelschrei länger als ich, keiner von euch lebt länger als noch einen Augenblick.

Den einen Augenblick, der gedrängt voll ist vom Anhauch der Welt, dessen Versäumnis oder dessen Gewahrwerden allein unser Leben entscheidet. Kein heroischer Augenblick, sondern mitten in den kleinen Begebenheiten, Gesprächen des Alltags, auch Günter Eich hat ihn zum Mittelpunkt seiner Dichtung gemacht. In einem Gedicht gleich nach dem Krieg zeigt er den Augenblick Gefangenschaft, nur durch einfache Aufzählung, so scheint es, aber gerade durch diese Sparsamkeit im Vokabular trifft er diesen Moment, so, wie er war, und in allem Überfluss, so scheint mir, noch heute ist, wenn wir uns auf die notwendigen Dinge besinnen: Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen. Konservenbüchse: Mein Teller, mein Becher, ich hab in das Weißblech den Namen geritzt. Geritzt hier mit diesem kostbaren Nagel, den vor begehrlichen Augen ich berge. Im Brotbeutel sind ein Paar wollene Socken und einiges, was ich niemand verrate,

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so dient es als Kissen nachts meinem Kopf. Die Pappe hier liegt zwischen mir und der Erde. Die Bleistiftmine lieb ich am meisten: Tags schreibt sie mir Verse, die nachts ich erdacht. Dies ist mein Notizbuch, dies meine Zeltbahn, dies ist mein Handtuch, dies ist mein Zwirn.

Dass diese Lyrik Eichs bei vielen Einzug fand, ist Günter Eichs Hörspielen zu verdanken, die ohne den Hintergrund seiner Lyrik nicht denkbar wäre. Eich hat damit eine neue Literaturgattung geschaffen. Hörspiel als Dichtung (und nicht als Gebrauchsliteratur) eine Literaturgattung, die heute nur noch nach dem Eich-Maß zu messen ist. Wie kein anderer deutscher Schriftsteller nach 1945 hat Eich es verstanden, die praktischen, uns bedrängenden Fragen mit sublimster Poesie zu verbinden: hier ist die Kluft zwischen moderner Literatur und technischer Alltagswelt überbrückt. Das jüngste Zeugnis der Auseinandersetzung dieser Dichtung mit den Tagesfragen, die uns erregen, ist seine Rede, die er bei der Entgegennahme des Büchnerpreises in Darmstadt vor einigen Wochen hielt. í Wie sehr sind die vordergründigen Fragen und Geräusche aber bei Eich grundiert in einem Wissen um die feinsten, andeutenden Bewegungen, um die geflüsterten Worte, wie sie im Wind sind und in den Stimmen der Liebenden, wie die oft nur im Tonfall bemerkbaren Regungen, die dem Lärm der Welt Widerpart halten. Er hat vieles aufgefangen und zum ersten Mal gesagt, was nur im Halbbewussten in jedem einzelnen von uns vorhanden war; und nicht selten, und vielleicht an seinen besten Hörspiel-Stellen hat er ausgesprochen, es mit den Glanzlichtern einer besondern Art von Witz und Heiterkeit eingefangen, er hat Dichtung immer aufgefasst als das Weiterschreiben in noch unbekanntes, uns fremdes Gelände, um dort Wegweiser, erste trigonometrische Punkte aufzustellen durch Verse

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und Dialoge. So weiss er, dass die widerständigsten Gewalten der Welt, sanft und leicht und verletzbar erscheinen: Vertrau Deiner Macht nicht, so wirst du auch nicht verwundert sein, wenn du erfährst, dass du unwichtig bist, dass neben deinesgleichen heimliche Königreiche bestehen, Sprachen ohne Laut, die nicht erforscht werden, Herrschaften ohne Macht und unangreifbar, dass die Entscheidungen geschehen im Taubenflug.

Günter Eich wird 2 Szenen aus dem ungedruckten Marionettenspiel Unter Wasser vorlesen und einige Gedichte. Ilse Aichinger liest dann aus dem Roman Die grössere Hoffnung und die Geschichten Wo ich wohne, Mondgeschichte. Ich darf Dich, Ilse, und Dich, lieber Günter, herzlich begrüssen, ich freue mich, dies hier in Berlin an meinem Katheder und in meinem Hörsaal tun zu können. Ich begrüsse Ilse Aichinger und Günter Eich im Namen des Herrn Kultursenators, dessen Fond diese Einladungen benützen, im Namen der Urania, die für die Einladung zeichnet, und richte einen besonderen Willkommensgruss an Ilse Aichinger aus von der Akademie in Berlin, deren Mitglied sie ist. Wir alle, die wir hier anwesend sind, danken Euch, dass Ihr gekommen seid.

Walter Höllerer: Einführung zur Lesung von Ingeborg Bachmann und Max Frisch, 11. Januar 1960

Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesem Leseabend eröffnen wir eine Lesereihe: »Literatur im technischen Zeitalter.« Deutsche Autoren, deren Bücher zur Zeit im Brennpunkt der Diskussion stehen, lesen aus unveröffentlichten und veröffentlichten Werken. Sie lesen in einem Hörsaal Wand an Wand mit Räumen, in denen die Technik ihre Ergebnisse weitertreibt, mitten in diesem Labyrinth technischen Denkens und Forschens, das die technische Universität Berlin darstellt, mitten in einem der grössten europäischen technischen Zentren. Für die Literatur bedeutet das eine Zerreissprobe. Ist unsere Literatur so gegenwärtig und so lebendig, dass sie diese Zerreissprobe besteht? Hat sie die Probleme, die Denkstrukturen, die Rhythmen, die die Technik heraufbeschworen hat, durchlaufen? Ist sie ihnen gewachsen? Hat sie Zahnräder, scharf genug, hier einzugreifen? Oder steht sie noch auf dem Standpunkt, den vor 150 Jahren Karl Immermann in seinem Roman Die Epigonen andeutet: »Wir können den Lauf der Technik nicht hemmen, sind aber nicht zu schelten, wenn wir für uns und die Unsrigen ein grünes Plätzchen abzäunen und diese Insel solange wie möglich gegen den Sturz der vorbeirauschenden industriellen Wogen befestigen.«1 – Wir werden an fünf Montagabenden Gelegenheit haben, zu beobachten, auf welche verschiedene Art und Weise Autoren unserer Gegenwart durch ihre Dichtkunst ein Modell oder ein Gegenmodell der technischen Welt errichten; auf welche Art sie aus den spezialisierten Denkkanälen ausbrechen und den Versuch unternehmen, unser Bewusstsein wieder zusammenzufügen; wie sie den einzelnen Menschen inmitten der Massen, Verwaltungen und Organisationen zeigen, seine Gefährdung, sei-

1

Höllerer zitiert ungenau. Eigentlich: »Mit Sturmesschnelligkeit eilt die Gegenwart einem trocknen Mechanismus zu; wir können ihren Lauf nicht hemmen, sind aber nicht zu schelten, wenn wir für uns und die Unsrigen ein grünes Plätzchen abzäunen, und diese Insel so lange als möglich gegen den Sturz der vorbeirauschenden industriellen Wogen befestigen.« Immermann, Karl Leberecht: Werke in fünf Bänden. Hg. von Benno von Wiese. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1971, S. 650.

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nen Aufbruchsversuch, seine mögliche Chance zur Veränderung, oder sein Verhängnis. Dass wir dieses Experiment durchführen können, verdanken wir der Zusammenarbeit des Ausseninstituts der Technischen Universität mit der Humanistischen Fakultät, verdanken wir der Mithilfe des Kulturkreises der Firma Siemens, der Unterstützung des Herrn Kultursenators, der Mithilfe der Zeitschrift für Dichtung Akzente. Wir verdanken es den Autoren, die sich bereiterklärt haben, hierher zu kommen und zu lesen. Nicht zuletzt auch Ihrem Interesse, meine Damen und Herren, vor allem dem Interesse unserer Studenten der TU, von denen die Anregung ausging. Dieses Interesse ermutigt uns, weiterhin ähnliche Veranstaltungen zu planen. Ich freue mich, dass ich heute Ingeborg Bachmann und Max Frisch bei uns begrüssen kann. Niemand von den deutschsprachigen Autoren wäre besser geeignet eine Lesereihe »Literatur im technischen Zeitalter« zu eröffnen als Max Frisch, Schriftsteller und Architekt, Autor des Buches Homo Faber, der nie davor zurückgeschreckt ist, die verfilzten, verknoteten, heiklen Fragen, die die technische Gegenwart dem Autor stellt, in seinen Romanen und Stücken zu formulieren. Er hat dies nie in einer blossen Apologetik der Technik noch in einer, ebenso einfachen, Verleugnung oder Verdammung der Technik getan. Max Frischs Stärke ist es, Fragen zu stellen, dort wo andere ihre fertigen Antworten bereit haben. Seine Fragen: schon aus seinem Tagebuch vom Jahr 1950 springen sie den Leser an, richten Zeichen, trigonometrische Punkte auf im unbekannten und unwegsamen Gelände, das uns umgibt, und in dem wir oft genug, mit veralteten Kompassen, blindlings und im Kreis herumlaufen. In seinen Stücken, so im Bau der chinesischen Mauer, sieht Frisch die technische Gegenwart vor dem Hintergrund des ganzen Welttheaters, isoliert sie nicht, verbohrt sich nicht in ihr, sondern lässt sie durch den Vergleich weniger monoman, dafür umso eindringlicher erscheinen. Frisch, der nicht nur in der modernen Grossstadt zuhause ist, sondern der auch von den Wäldern des Grafen Öderland her argumentiert, sucht die Gegenwart auszuleuchten durch seine blitzhaften Einfälle, sie zu ergründen durch seine bohrenden Gedankengänge, ihre seltsamen Bewegungen nachzuzeichnen in seinen starken pantomimischen Figuren. Max Frisch wird aus einem unveröffentlichten und noch nicht vollendeten neuen Stück vorlesen. Ingeborg Bachmann kommt aus einem anderen Land, aus einer verhexten und hexischen Kärntnerischen Gegend; zunächst und

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äusserlich ist dort wenig zu bemerken von Technik, in jener Ecke des deutschen Sprachgebiets, wo eine alte wendische Tradition in den abgelegenen Winkeln hockt. Ingeborg Bachmann (setzt ihre Markierungen für unsere Gegenwart weniger durch sezierende Gedankengänge; sie) zeigt in ihren Texten ein erschreckend genaues Gefühl für die unterirdischen Erschütterungen unserer Gegenwart, für das Rumoren in den verborgenen Höhlen und Kammern; durch ihre Fähigkeit, diese Ahnungen in einer präzisen und schwingungsreichen Sprache auszudrücken ist sie zur bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerin unserer Tage geworden. In ihren Bildern und Rhythmen erscheint das Labyrinth der technischen Welt, beschworen gerade auch dort, wo von technischen Motiven, von Maschinen und Hochhäusern, gar nicht die Rede ist; beschworen sind gleichsam die Wasserzeichen dieser Welt, das Muster wird sichtbar, das zugleich auch in uns selber, verborgen, vorhanden ist: in seiner Paradoxie, in seiner Unauflösbarkeit, in seinem Glanz, in seiner Gefahr. Hier erscheint allerdings mehr vom Wesen der Gegenwart als in den Gedichten eines von vornherein festgelegten sozialen Realismus, dem die Fragen abhanden gekommen sind. Die Sprache selbst wird fähig aufzuzeichnen, zu registrieren, was an Erschütterungen vorhanden ist. In Ingeborg Bachmanns Hörspiel: Der gute Gott von Manhattan und in ihrer Prosa hat sich ihre Sprache, durch die Lyrik vorgebildet und geschärft, in den letzten Jahren neue Felder erobert. Ingeborg Bachmann wird eine unveröffentlichte Erzählung lesen, Alles, das bekannt geworden ist durch die Lesung auf Elmau. In summa: was können wir von unserer Lesereihe erwarten? Ich zitiere Max Frisch, aus seinem Tagebuch: »Henrik Ibsen sagte: ›Zu fragen bin ich da, nicht zu antworten.‹« Als Stückeschreiber, so sagt Frisch, »hielte ich meine Aufgabe für erfüllt, wenn es einem Stück jemals gelänge, eine Frage dermaßen zu stellen, dass die Zuschauer von dieser Stunde an ohne eine Antwort nicht mehr leben können – ohne ihre Antwort, ihre eigene, die sie nur mit dem Leben selber geben können.« Das, so scheint mir, ist auch die Aufgabe dieser Lesereihe inmitten unseres technischen Zentrums. – Ich danke Ingeborg Bachmann und Max Frisch, dass sie diese Reihe, mit ihren Fragen, heute eröffnen.

»Bilder, die nicht mehr Bilder sind« Walter Höllerers Poetik der Parabel im Umfeld der Anthologie movens J OHANNA B OHLEY

Einleitung An der Diskussion um abstrakte Kunstformen, literarische Gattungen und künstlerische Experimente um 1960 beteiligt sich Walter Höllerer als Lyriker, Schriftsteller, Publizist, Literaturkritiker, literarischer Fernsehmoderator und Organisator öffentlichkeitswirksamer Formate wie der Dichterlesung. Als rotierender Intellektueller führte er dem Literaturbetrieb Neues zu,1 ohne sich dabei für spezifische Schulen und Gruppierungen besonders einzusetzen. Deshalb ist es um so erstaunlicher, dass ihn seine zusammen mit Franz Mon herausgegebene Anthologie movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur als Theoretiker experimenteller Literatur zeigt. 2 So entwickelte Höllerer ab Mitte der 1950er Jahre in Gesprächen und Notizen eine Poetik der Parabel, die ideell um das Experiment, die klassische Moderne, Mathematik und die Thesen zum langen Gedicht kreist.

1 2

Siehe den Beitrag von Rolf Parr in diesem Band. Mon, Franz (Hg.): movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur. In Zusammenarbeit mit Walter Höllerer und Manfred de la Motte. Wiesbaden 1960.

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Dies dokumentiert der Walter-Höllerer-Nachlass im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg (LSR). Höllerers Beitrag Movens und Parabel stand in der Planung der Anthologie stets an zentraler Stelle und war dazu vorgesehen, die Tendenzen in den modernen Künsten zusammenzufassen. So versieht Franz Mon den Synopse- bzw. Theorieteil von Höllerers Beitrag, der 1958 und noch bis weit in die Endredaktion den Titel Gestik und Parabel führt,3 mit dem Notat »zus.[ammen]fass.[ender] Aufsatz«. Der ›movens-Ordner‹ dokumentiert auch, dass Höllerer die zentralen Thesen zur Poetik der Parabel unter Pseudonym an anderer Stelle veröffentlichte. Nachfolgend wird Höllerers Poetik der Parabel, die seinen geistigen Anteil an der Anthologie bildet, aus dem Umfeld des Buchprojekts sowie aus Briefwechseln, Schreiben und Notaten rekonstruiert. Gesamtkunstwerk und Parabel Die Anthologie movens folgt dem weitgefaßten künstlerischen Spektrum, experimentierende, internationale Tendenzen in den vier Künsten zu repräsentieren sowie zeitgenössische Strömungen und Entwicklungen zu analysieren. In diesem Vorhaben, Entwicklungen in den Künsten zu dokumentieren, stellt movens ein gesamtkünstlerischästhetisches Universalvorhaben dar. Es belegt eine Vielfalt experimentierender Kunstrichtungen um 1960, die von der informellen Malerei, Tachismus, Elektronenmalerei, Kinetik über die Konzept- und Sprachkunst, visuelle Dichtung und Lautkunst, elektronische Musik zu kreativer und biomorpher Architektur sowie bis zum mechanischen Theater reichen. Zu den Beiträgern der Anthologie zählen Mitglieder der Wiener Gruppe wie Konrad Bayer und Gerhard Rühm sowie die bundesrepublikanische Neoavantgarde, vertreten durch die mit Sprach- und Prosamaterial experimentierenden Autoren und Theoretiker Franz Mon, Carlfriedrich Claus, Claus Bremer, Bazon Brock, Dieter Rot, ferner auch Peter Weiss. Die experimentelle historische Avantgarde wird über Kurt Schwitters, Gertrude Stein und Hans Arp repräsentiert. International ausgerichtet ist movens durch John Cage, John McGrath

3

Mon, Franz: Movens 1 [Inhaltsverzeichnis mit hs. Ergänzung]. In: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg (LSR), Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/BF/4,3.

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sowie die US-amerikanischen Autoren, die Höllerer in Deutschland bekannt gemacht hat, Gregory Corso und Robert Creeley. Außerdem ist mit Jean Tardieu oder Ghérasim Luca eine vom französischen Surrealismus geprägte Avantgarde zu finden. Vertreten sind die FluxusGruppe, bildende Künstler wie Heinz Mack und Otto Herbert Hajek von der Gruppe Zero sowie Mouvement-Künstler, u.a. Jean Tinguely. Musikstatistische sowie musiktheoretische Beiträge zur elektronischen Musik stammen von Georg Heike und Cornelius Cardew, architektonische Entwürfe von Bruce Goff, Enrico Castiglioni und anderen. Auf produktions- und rezeptionsästhetischer Seite orientiert sich die Anthologie denn auch wesentlich an jener Mouvement-Gruppe um Marcel Duchamp, Jesus Raphael Soto, Jean Tinguely und Victor de Vasarely von der Mitte der 1950er Jahre, deren Kunstrichtung gleichermaßen Malerei, Skulptur, Spektakel, Maschine, Mobile im Bewegungs- bzw. Entstehungsmodus miteinander verbindet.4 Die »Dokumente und Analysen« von movens entsprechen dem in seiner Bestimmung offenen Genre des Buchs. So setzt die Dokumentation Höllerers »mit Randnotizen« kommentierte Sammlung zeitgenössischer Lyrik »Transit« aus dem Jahre 1956 fort, deren Untertitel »Lyrikbuch der Jahrhundertmitte« über die Gattung Buch ebenfalls mit literarischen Konventionen bricht.5 Über die Bezeichnung »Buch« unterläuft auch movens die Gattung der Anthologie, da mit dem dokumentierten Material nicht ein Denkmal für die Nachwelt errichtet wird. Vielmehr etabliert es die künstlerische Chrestomathie als offenen, gesamtkünstlerischen und abstrakten Kanon gegen den Kanon. Hierbei werden zeitgenössische Entwicklungen abgebildet und vermittelt,6 deren präsentisch Augenblickhaftes auf eine zukünftige Kunst verweist. Laut Klappentext von movens wird für diesen Zweck eine Innovations-

4

Kramer, Harry: Maschinen, Mobile, Spektakel. In: Mon 1960, S. 122-124, hier S. 123.

5

Höllerer, Walter (Hg.): Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte. Frankfurt

6

Ein ähnliches Gegen-Modell zu eher kanonisierenden Anthologien verfolgt

a.M. 1956. die von Franz Mon und Helmut Heißenbüttel herausgegebene, nach der Anzahl ihrer Wörter angeordnete Antianthologie: Heißenbüttel, Helmut / Mon, Franz (Hg.): Antianthologie. Gedichte in deutscher Sprache nach der Zahl ihrer Wörter geordnet. München 1973.

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leistung behauptet, die auf das Konzept der parabolischen Poetik setzt:7 Dieses Buch ist Bericht, Dokumentation, Analyse und Programm zugleich. Die Arbeitsweisen in den verschiedenen Künsten, der Literatur, der Malerei, Plastik, Architektur, Musik und so weiter erhellend, tastet es nach dem gemeinsamen Grund, läßt es als Leitmotiv eine Reihe der die bewußte künstlerische Tätigkeit bestimmenden Gesichtspunkte hervortreten. Einer der wesentlichsten, nämlich der der ‚Bewegung’, bot sich als Generalthema des Ganzen an, beschäftigt doch gerade er heute alle Künste. [...] Und zwar ist Bewegung hier nicht nur im motorischen Sinn verstanden, sondern mit der Wendung zum Gestischen und zu einem neuen Begriff des Parabolischen. Die Themenstellung des Buches ist weit genug gefaßt, daß nicht eine vorgängige Theorie belegt wurde, sondern die Vibrationsstellung der heute geschehenden Künste, die Punkte, wo sie sich ins Unbekannte wenden, sichtbar gemacht werden.8

Während in Transit noch der Herausgeber eine ordnende und in seinen Kommentaren sogar erzählende Funktion hatte, wird das in movens dargebotene Material weniger kommentierend gelenkt. Statt dessen wird einem kritisch-bewußten Leser die sortierend-systematisierende Einschätzung überlassen.9 Die Anordnung selbst repräsentiert eine auf

7

Gérard Genettes für den französischen Literaturbetrieb geltende Einschätzung des Waschzettels der intellektuellen Avantgarde trifft ebenso auf die deutsche Neoavantgarde zu: »Das goldene (oder rote) Zeitalter des Umschlagwaschzettels oder Klappentexts lag vermutlich in den sechziger und siebziger Jahren im avantgardistisch-intellektuellen Milieu (im Umkreis von Nouveau Roman, von Tel Quel, Change, Digraphe und anderen Pariser Cliquen). Künftige Historiker werden vermutlich mit Vergnügen abwägen, was in diesem köstlichen Durcheinander als Tiefgründigkeit, Simulation, Größenwahn, freiwillige oder unfreiwillige Karikatur anzusehen ist, doch ist es dafür noch zu früh: Manche dieser Schuldigen sind noch im Verkehr und zwar nicht weit von hier.« (Genette, Gérard: Paratexte. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a.M. u. a. 1989, S. 110).

8

Mon 1960, Klappentext.

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So lautet es in der Verlagsankündigung (1960): »Die Anlage des Buches, Ordnung der Dokumente und Typographie spiegeln den Stil des Offenhaltens, der suchend-erwartenden Bewegung wieder.«

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das Material reflektierende Bewegung, die sich dynamisch in den Kapitelüberschriften niederschlägt. Diese reichen von »Das Leere, Artikulation, Parabel, Vibration, Perspektive und Synopse« schließlich zurück zu einer »Notwendige[n] Rückwendung auf den Grund dieses Buches«.10 Das literarische Spektrum des Buches bezieht sich neben der aus den Bildkünsten hervorgehenden, konkreten Dichtung, die eng verschmolzen ist mit dem Piktogramm, Ideogramm und Kalliogramm, besonders auf dramatische und erzählende Prosa. Das für den hier thematisierten Kontext zentrale Kapitel, »Parabel«, dokumentiert – eingeleitet von einem visuellen Gedicht Emmett Williams – Beispiele experimenteller Prosa und Dramatik, die mit Gertrude Steins A play called not and now und Kurt Schwitters’ Der Schürm auf die historische Avantgarde zurückgehen. Die für die Parabel zentrale, dramatische Gattung des Einakters wird von jüngeren experimentellen Autoren repräsentiert und von Konrad Bayer und Gerhard Rühms Der fliegende Holländer sowie John McGraths Erzähl’s mir, erzähl’s mir exemplarisch vorgeführt. Einen neueren, experimentell erzählenden Prosatext stellt Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers dar.11 Im Zentrum des abgedruckten Auszugs steht eine metafiktionale Schreibszene, in der die surrealistische Technik der écriture automatique erzählt wird.12 Entgegen der ursprünglichen Pläne fließt Höllerers Beitrag Movens und Parabel bekanntlich nicht in jenen, teils analysierenden und synthetisierenden, mit rotem Druckpapier hervorgehobenen Mittelteil ein. Dennoch war er als theoretisierender Paratext von der Kapitelzählung ausgenommen und sollte eine das Material durchdringende, vertikale

10 Mon 1960, Inhaltsverzeichnis, S. 198-199. 11 Kapitel »Parabel«. In: Mon 1960, S. 34-74. 12 Hierbei handelt es sich um einen Passus des metatextuellen Aufzeichnungsexperiments: »Zum ersten Mal in meinen Aufzeichnungen um weiter als einen sich im Nichts verlierenden Anfang hinausgeratend setze ich nun fort, indem ich mich an die Eindrücke halte die sich mir hier in meiner nächsten Umgebung aufdrängen; meine Hand führt den Bleistift über das Papier, von Wort zu Wort und von Zeile zu Zeile, obgleich ich deutlich die Gegenkraft in mir verspüre die mich früher zwang, meine Versuche abzubrechen […].« (Weiss, Peter: Der Schatten des Körpers des Kutschers, Frankfurt a.M. 1964, S. 49f).

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Ebene und Spiegelachse zu den Dokumentationen und Analysen bilden.13 Aus der Feder Franz Mons stammen mehrere Gedichte und Beiträge wie zur Theorie der Architektur, der zweite Teil der »Synopse« im roten Mittelstück sowie eine Fortsetzung seiner 1958 begonnenen Artikulationen.14 Besonders die letzten beiden erläutern das mikroskopisch-reduzierte, flächig-konstellative Konzept der Phase. Die sprachliche Mikroeinheit der Phase erfordert mit neuen Schreibweisen und Lesarten das Mitspiel des Rezipienten. Sie bezieht ihr gestalterisches und gestisches Potential aus Permutationen, Reihungen und Wiederholungen.15 Eine Phase hat keinen Gegenstand oder erzählt eine Geschichte. Stattdessen handelt sie von Sprachstrukturen und macht Textmaterial anschaulich, womit sie im Betrachter ein Bewußtsein für den künstlerischen Prozeß setzt.16 Franz Mons »Phasenqualität«17, die

13 Einer weiteren Ankündigung zufolge wird der rote Mittelteil, der zwischen den Kapiteln »Vibration« und »Perspektive und Synopse« steht, als inhaltliche Zusammenführung angekündigt: »Der Aufbau hat seinen Angelpunkt in der SYNOPSIS. Sie versucht zum ersten Mal eine Bestandsaufnahme der heute in den experimentell arbeitenden Künsten wirksamen Kategorien und zeigt, wie die verschiedenen Disziplinen sich spiegeln. In der Anlage versuchen wir, Überraschung und Systematik, Faszination und Reflexion zu verbinden, so daß das Buch weder bloße Sammlung von Essays oder bloße Anthologie noch nur abstrakter Grundriß ist.« (Mon 1960, Klappentext). 14 Dieses steht jedoch bezeichnenderweise ebenfalls außerhalb des roten Teils: Mon, Franz: Artikulationen. In: Mon 1960, S. 111-113. – Abgesehen von Abweichungen am Anfang und am Schluß und den typographischen Veränderungen im movens-Buch ist dieser Beitrag als Publikation einer Tagung in Wuppertal über die Dunkelheit in der Kunst vom 31.10.1.11.1959 nahezu unverändert abgedruckt in: Löffelholz, Franz [d.i. Franz Mon]: Überlegungen zu einer Theorie der modernen Künste. In: Der Bund (1959), S. 7-13. Ergänzt wurde dieser Beitrag von Ferdinand Kriwets Geteilte Sprache und Bazon Brocks Zur poetischen Syntax. 15 Ein Beispiel für eine ›Phase‹ stellt Franz Mons fünffache darstellung eines textes dar. In: Ders.: Lesebuch. Neuwied und Berlin 1972, S. 38-42. Dabei wird die Passage »weiß wie weiß wie wer weiß wo« alphabetisch und textstatistisch geordnet und aufgelistet. 16 Mon, Franz: Phase und Experiment. In: Mon 1960, S. 87. 17 Ebd.

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Max Bense in ähnlicher Weise als »Phasenunterschied«18 bezeichnet, bildet eine geistige Brücke zwischen wahrnehmbarem und denkbarem Material. Die Parabel hingegen thematisiert einen Gegenstand und hat daher erzählende Anteile. Sie entspricht der mathematisch-geometrischen Parabel, die eine zu den Kegelschnitten gehörende Kurve zweiter Ordnung darstellt. Die literarische Parabel stellt analog hierzu eine Prosabewegung dar, die ihre eigene Struktur und Geschichte enthält. In Höllerers Poetik der Parabel dominiert die offene »Vorgangsparabel«19, die über ihre Bewegung, offene Lesbarkeit sowie als Irritationsmoment bestimmt ist. Eine Aussage läßt sich bei der Vorgangsparabel nicht treffen, da sie funktional auf das Bewegende beschränkt bleibt, denn: »Ihr Movens, nicht ihre These ist ablesbar.«20 Dieses Modell einer zweiten Ordnung repräsentiert der künstlerisch-intuitive Schreibvorgang, wie es der Anfang von Movens und Parabel demonstriert. Darin erscheint das Schreiben als auratischer und mehr noch als parabolischer Prozess: Wer die Feder ansetzt oder den Bogen einspannt, spürt den Widerstand, der sich ihm entgegensetzt, ist es der Widerstand des bereits Formulierten, das sich zwischen den Schreibenden und einen festen oder aufdämmernden Horizont, den er ansteuert, drängt?21

Ähnlich wie in der Schreibszene parabelhaft Möglichkeitsformen entstehen, die auf ein Zukünftiges verweisen, funktioniert die parabolische Prosa. Indem beim Schreiben »die Erinnerung an das Bekannte und meine Erwartung von dem Vorhandenen [...] nicht übereinstimmen«22, bildet sich ein künstlerisches Potential als schwebender Zu-

18 »Im Phasenunterschied des denkbaren und wahrnehmbaren Materials der Texte können also bedeutungsvolle und schöne Gebilde entstehen, die ebenso sehr gelesen werden müssen, [...].« (Bense, Max: Phasen-Theorie. In: Becker, Jürgen / Vostell, Wolf (Hg.): Phasen. Texte und Typogramme. Köln 1960, o. S.). 19 Höllerer, Walter: Movens und Parabel. In: Mon 1960, S. 103-106, hier S. 104. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 103. 22 Ebd., S. 103.

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stand heraus, der dem gestisch-parabelhaften Modus entspricht. Zwischen bekannter Erinnerung und zukünftigem Unbekannten enthält die Schreibszene gestisch bereits jene künstlerischen »Möglichkeiten, die daran [an das Kunstwerk] grenzen«23. Vor allem aber setzt das offene Gestische im Rezipienten ein allgemeines Bewußtsein für Kunst voraus, da dieser im Mitspiel das Kunstwerk selbst kreiert. Um den autonomen Status der Kunst zu bewahren, verweigert sich die Parabel einer Indienstnahme ideologischer Ziele, denn: »die Parabel entsteht gegen die Doktrin.«24 Indem sie als geistige Form ihre eigene Materialität ausstellt und mitreflektiert, kann sie Richtungen ändern und festgesetzte Erkenntnishorizonte überschreiten, wie sie u. a. durch Gattungskonventionen gegeben sind. Hierzu bezieht sie einerseits die visuelle, bildliche Moderne ein. Darüber hinaus realisiert sie »Bilder, die nicht mehr Bilder sind«25. Mit dieser Wendung weist sie über die rein visuelle Phase hinaus. Durch diesen Versuch, einen bildlichen Symbolismus zu überschreiten, löst sich die Parabel von der mikroskopisch-reduzierten Sprachkunst und den digitalen Verfahren der Phase ab. So bleibt sie ein Artefakt, das nicht auf den Zufall oder die Sprache, sondern auf das Wesen des künstlerischen Werks abzielt. Diesen weniger auf einen experimentellen als auf einen klassischen Kunstwerkbegriff bezogenen Vorgang beschreibt Höllerer bezeichnenderweise in technisch-organismischen Metaphern, die für die Objektbezogenheit der Parabel stehen. Ihr ›Bewegendes‹ zeigt sich in einem energetischen Mechanismus, der sich belädt und entlädt, belastet und entlastet.26 Damit vermittelt die Parabel zwischen Teil und Ganzem, bringt Text und Feld, ›natura naturata‹ und ›natura naturans‹ zusammen. Ebenso reagiert die Poetik der Parabel auf den Befund, in einem schizophrenen Zeitalter zu leben. So verbindet sich mit dem

23 Ebd. 24 Ebd., S. 104. 25 Ebd., S. 106. 26 »Die Parabel bewegt sich in die Sprach- und Gesinnungsmuster, die sie vorfindet, indem sie sie stört und abwandelt, ihre Gleichmäßigkeit verbiegt, Nuancen dagegenhält. Sie belastet sich mit dem ephemeren Gedächtnis des Autors, entlastet sich durch die Erinnerung, die in Worten und Syntax vorhanden ist; belastet sich mit Erfüllungs-Phantasien, entlastet sich durch einen Verlauf, der den Motiven ihren fixen Anspruch nimmt, aber ihre Energie ausnützt.« (Ebd., S. 104).

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Technikoptimismus der Zeit ebenso die Einsicht, eine Vielzahl von Möglichkeiten zu haben, die sich nicht umsetzen lassen.27 Trotz dieser theoretischen und inhaltlichen Breite kann Höllerers Parabeltheorie nur bedingt jene grundlegende Zusammenfassung aller in movens vertretenen Künste erfüllen. Daher stellt sich die Frage, welche Akzente frühere Skizzen und Entwürfe dieser Poetik setzen. Hierzu sei ergänzend auf weitere unpublizierte Dokumente, Briefe und Aufzeichnungen zurückgegriffen. Genese von movens: Pläne und Skizzen Beide Herausgeber versuchen mit dem Projekt, die Moderne zu vermitteln und im Bewußtsein zu verankern. Erste konzeptionelle Entwürfe zum Buch liegen bereits kurz nach der Publikation von Höllerers Lyrikbuch Transit vor mit den frühesten, als »Plan« betitelten Notizen, die auf den 10. August 1956 datiert sind. In diesen fällt das Stichwort der Parabel und benennt beide, Mon sowie Höllerer, als Herausgeber. Franz Mon bezieht sich in einem Brief vom Mai 1957 auf gemeinsame verlegerische Vorhaben, die sich der Vermittlung der Moderne widmen: Wegen unserer Verlagsprojekte habe ich bei uns inzwischen kräftig vorgebohrt, nicht ohne Erfolg, wie ich glaube. Der nächste Schritt wird sein, daß Sie einmal in den Verlag zu einer Besprechung kommen und wir unser Programm, unter dem Gesichtspunkt: die Moderne ist uralt, jeder kann sie verstehen, ihre Übersetzung in das allgemeine Bewußtsein ist reif, darlegen.28

Am 17. Juni 1957 präzisiert Mon diese Pläne. Dabei ist eine Editionsreihe Der fliegende Fisch anvisiert, die in einem plakativen Sinn konkrete und surrealistische Traditionen zusammenbringt:

27 Ebd., S. 105. 28 Mon, Franz an Walter Höllerer: Brief v. 13.9.1960. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/2986. Gemeint ist der Hirschgrabenverlag, in dem Franz Mon publizierte.

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Unsere Editionen könnten vielleicht laufen als ›Sammlung Der fliegende Fisch‹ – dazu ein Signet aus Fisch und Vogel kombiniert. Konkret (flieg. Fische gibts!) und surreal zugleich – also unser Programm.29

Weniger illustrativ konkretisiert Walter Höllerer das Projekt ein Jahr später in einem Anschreiben an den Limes-Verlag vom 23. Mai 1958 und kündigt ein erfolgversprechendes Vorhaben an, das sich der Analyse neuer Tendenzen in den Künsten verschreibt: »es zeichnet sich ein […] Buch ab, das Einblicke in Zusammenhänge vermittelt, die bisher noch nicht erfaßt worden sind.«30 Hierbei fällt erneut die Nähe des Projekts zu den neueren bildenden Künsten auf. So war zu diesem Zeitpunkt für das Buch oder die Reihe der Titel Quadriga geplant, der auf eine gleichnamige Frankfurter Künstlergruppe zurückgeht.31 Höllerer sammelte im ›movensOrdner‹ mehrere Berichte über die zweite Kasseler documenta,32 auf der in einer großen umfassenden Zusammenschau die Geschichte der abstrakten Moderne sowie insbesondere die amerikanische Moderne mit Werken von Jackson Pollock u.a. ausgestellt wurde. Ungefähr ab Mitte 1958 taucht in den Unterlagen der Titel movens auf, wie es zudem die Andeutung in einem Brief Franz Mons nahelegt, einen Termin »movieren« zu wollen.33 Ein Inhaltsverzeichnis, das den Titel MOVENS 1 trägt, zeigt, dass das Projekt als Periodikum konzipiert war. Noch bis Ende 1959, als Höllerer bereits seine Mitherausge-

29 Mon, Franz an Walter Höllerer: Brief v. 27.5.1957. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/2889. 30 Höllerer, Walter an Max Niedermayer: Brief v. 23.5.1958. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/BF/3,20. 31 Hinweis von Norbert Miller. 32 Schwab-Felisch, Hans: Die documenta II in Kassel eröffnet. Was die Kunst alles vermag. Bericht unseres nach Kassel entsandten Redaktionsmitgliedes. – Schulze, Albert: Vellinghausen, Olympia der Kunst. Zur documenta II – Kunst nach 1945 in Kassel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.7.1959. 33 »was nun? da Ihre Strippe (fast) nie bedient wird, müßten Sie sich schon mal bei mir melden, damit wir einen Termin movieren – herzlich Ihr F« Mon, Franz an Walter Höllerer: Brief v. 5.11.1958. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/2787.

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berschaft zurückgezogen hat, wird movens als Jahrbuch angekündigt.34 In beiden Dokumenten, dem frühen Anschreiben an den Verlag und dem Inhaltsverzeichnis von MOVENS 1 zeichnet sich entgegen zum späteren gesamtkünstlerischen ein literaturzentriertes Profil ab. So dokumentieren diese frühen Notizen, dass das Projekt als Fortsetzung von Transit nach neueren lyrischen Entwicklungen auf das Prosaexperiment abzielte. Ebenso belegen sie einen einschlägig theoretischen, neoavantgardistischen Konsens der 1950er Jahre. Im Anschreiben werden daher neben Theodor W. Adorno bekannte Vertreter eines progressiven Kunstverständnisses als potentielle Beiträger aufgelistet: Auch die Arbeiten, die die Analysen bringen, sind alle durchgesprochen, in Auftrag gegeben und zu einem geringeren Teil fertiggestellt. Es handelt sich um Essays zur Musiktheorie, die vor allem von der Kölner Gruppe um Stockhausen, von Metzger, König usw. geliefert werden. Außerdem ist ein kurzer Essay von Adorno über Zeichentheorie in der Musik vorgesehen. In der bildenden Kunst wird sich ebenfalls mit dem Komplex der Zeichentheorie und mit den Komplexen Struktur und Intensität eine Reihe von führenden Kunstkritikern beteiligen. […] Auf dem Gebiet der Literatur ist u.a. ein Aufsatz von Bense über die Technik von Gertrude Stein und eine Äußerung von Arno Schmidt zum Komplex Handlung und Zeichen in der Prosa vorgesehen. […] Drama, Ballett, Theater sind vertreten durch Texte und Abbildungen der Gruppe Mouvement in Paris (Mobiles-Marionettes) und durch einen Ballettaufsatz von Günter Grass. Ein Aufsatz von Hans Günter Helms befaßt sich mit der Zukunft des Experimentalfilms.35

Dass die meisten dieser Beiträge nicht einflossen, ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass die angefragten Artikel bereits an anderem Ort publiziert wurden.36 So veröffentlicht Max Bense zu diesem Zeit-

34 »Die Beiträge von Dr. Löffelholz und Bazon Brock werden in leicht veränderter Form im Jahrbuch MOVENS erscheinen, das in Zusammenhang mit Walter Höllerer und Manfred de la Motte von Franz Mon im Limes Verlag in Wiesbaden herausgegeben wird.« (Leep, Hans-Jürgen: Vorwort. In: Der Bund, 1959, S. 2). 35 Höllerer, Walter an Max Niedermayer: Brief v. 23.5.1958. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/BF/3,20. 36 Adorno, Theodor W.: Satzzeichen. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a.M. 1981, S. 107-113 sowie Bense, Max: Kosmologie und Literatur.

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punkt den Text zu Gertrude Stein in seiner Zeitschrift augenblick und Arno Schmidt distanziert sich von seinen experimentelltheoretisierenden, mathematischen Berechnungen I.37 Auffällig zeichnet sich zu diesem Zeitpunkt ein Schwerpunkt auf den frühen neoavantgardistischen Netzwerken um die bildenden Künste sowie der konkreten poesie ab. Mit Jean Guirauds Text ist ein weiterer zentraler Fokus auf die Semiotik gelenkt. Selbst die unberücksichtigt bleibenden Pläne, einen Aufsatz zum Entropiebegriff in der experimentellen Musik und eine interdisziplinäre Erkundung verschiedener Bewegungsprinzipien aufzunehmen, belegen, dass das Projekt zentrale Impulse vom kybernetisch-informationsästhetischen Experiment der Stuttgarter Schule sowie dem später tatsächlich im Buch vertretenen Darmstädter Fluxus-Kreis um Dieter Rot und Daniel Spoerri empfängt. Poetik der Parabel und Epiphanien Aus dieser frühen Planungsphase liegen Vorarbeiten zur Poetik der Parabel vor. Stichwortartig taucht in den mit »Plan« betitelten Notizen vom August 1956 eine »Theorie der Theorie« auf, die die Parabelpoetik auf ein gestisches Konzept festlegt, das über eine symbolhafte Bildlichkeit hinausreicht: Parabel in meinem Sinn / Nicht Versuch; die direkte Wirklichkeit. / Poesie ist nur da, um die ›Gebärde‹ / in die Welt zu setzen.38

Dieses Modell einer poetischen Parabel rekurriert auf das Gestische, das mit seiner zentralen Figur der Maske konzeptuell die Lyrik von Transit ordnete. Der frühe Parabelentwurf bleibt fragmentarisch und hat einen spezifischen Sinn im Privaten, wenn Franz Mon in einem Brief bemerkt, zu verstehen, dass Höllerer in Italien auf die Parabeln

Über Alfred N. Whitehead und Gertrude Stein. In: Texte und Zeichen 3 (1957), H. 5, S. 512-525 und ders.: Montage Gertrude Stein (1958). In: augenblick 3 (1958), H. 5, S. 42-43. 37 Schmidt, Arno: Berechnungen I. In: Ders.: Rosen & Porree. Karlsruhe 1959, S. 283-292. 38 Höllerer, Walter: Plan 11.08.56. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/BF/1,1.

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gekommen sei.39 Offen bleibt, ob er sich damit auf lyrische, literarische oder theoretische Arbeiten Höllerers bezieht. In den von Franz Mon Jahrzehnte später als »Poetik-Beratungen in der Arndt-Straße«40 bezeichneten Treffen, von denen Höllerer Gesprächsprotokolle anfertigte, ist an den Oberbegriff der Parabel eine experimentierende, abstrakte Moderne geknüpft. Auf diesen gemeinsamen Nenner spielt Franz Mon an, wenn er eine Publikation ankündigt als eine Sammlung »von unserem parabelbegriff her«41. Als weiteren Orientierungspunkt für eine Diskussion der Parabel findet sich im ›movens-Ordner‹ eine bibliographische Notiz zum Aufsatz Parabel der abstrakten Kunst von Mario Praz, den dieser im Mer-

39 »Italien war die Wucht, leider inzwischen schon wieder vorbei. Ich verstehe, wieso Sie da unten auf Ihre Parabeln verfielen. Ihr Brief erreichte mich noch in Florenz, vielen Dank.« Mon, Franz an Walter Höllerer: Brief v. 13.9.1960.

In:

LSR,

Redaktionskorrespondenz

Akzente,

Signatur:

01AK/2986. 40 Mon, Franz an Walter Höllerer: Undatierter Brief, ca. Mai 1996. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/AA/52,10. 41 »[...] arbeite an der regeneration der epischen inhalte (!), soll ein buch memorabile geben: montagen und variationen von herausgeschnittenen zungen aus allen zeiten und winkeln, aber anders als pound! von unserem parabelbegriff her. allein das suchen-lesen macht schon einen heidenspass. finde herrliche geschichten.« (Mon, Franz an Walter Höllerer: Brief v.

9.12.1959.

In:

LSR,

Nachlass

Walter

Höllerer,

Signatur:

03WH/BF/5,10). Gemeint sind die in diesem Zeitraum entstandenen Texte sowie das herzzero-Material, das 1962 das Hörstück und den 1968 erschienenen, stereo zu lesenden Zwei-Spalten-Anti-Roman herzzero strukturiert. Vgl. Mon, Franz: (Hörspiel) herzzero. dialogische übungen. Hessischer Rundfunk 1962, 28 Minuten. Regie: Franz Mon und Roland H. Wiegenstein. Mitwirkende: Hans Otto Hilke, Alwin Michael Rueffer, Eric Schildkraut, Franz Mon, Ror Wolf. – Ders.: herzzero. dialogische übungen. In: Diskus 12 (1962), H. 3 + 4, S. 11 – Ders.: herzzero. Neuwied und Berlin 1968. – Auch das spätere Lesebuch Franz Mons folgt einer experimentellen Prosa, deren sprachexperimentelle Verfahren Helmut Heißenbüttel als »Neu-Entziffern[] von etwas, was dem Leser sonst an Lesestoff so nicht vorkommt« sowie als »methodische Möglichkeiten« bezeichnete. (Heißenbüttel, Helmut: Nachwort zu Mon, Franz: Lesebuch. Erweiterte Neuausgabe. Neuwied und Berlin 1972, S. 135-139, hier S. 137).

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kur veröffentlicht. Darin wird die abstrakte und moderne Kunst als »Endpunkt einer Parabel«42 aufgefasst, die eines neuen Anfangs bedarf. Um sich weiterzuentwickeln, müsse sie aus sich selbst heraus einen neuen Anfang setzen.43 Dieser Forderung kommt Höllerers Poetik der Parabel nach, indem sie auf jene resemantisierenden Strukturen in der abstrakten Moderne eingeht. Ebenso untersucht Höllerer diesen Ansatz, wenn er die End- und Anfangspunkte der Parabel als mathematisch-geometrische Figur zu fassen versucht.44 Spätere Notizen, die den vielversprechenden Titel Meine Theorie tragen, stellen Vorstufen für die »Vorgangsparabel« dar und gehen »von der freischwebenden und zunächst nicht festgelegten Parabel«45 aus. Darin wird die experimentelle Form als eine zwar spielerische, jedoch ebenso auf ihr Material reflektierende, Gattungs-, Wahrnehmungs- und Erfahrungsgrenzen transzendierende Form festgesetzt: Unvernünftige Wirklichkeit – sich genügsames Spiel. Von der Sprache her lebendes Spiel. Die Wirklichkeit kommt ohne Sprache nicht aus, weil sie Verstellung ist und gleichzeitig Widerstand setzt. […] ›Konkretes benötigen wir als Reaktion.‹ Zuspitzung des Logischen, die ins Paradoxe kippt. Möglich auch Flächenmeditation, Strukturmeditation (Geometrie). Metapher der Sprache, die in die Parabel kippt.46

Setzt die Konkrete Dichtung die Sprache als Subjekt ein, zeigt sich bei jener »Metapher der Sprache, die in die Parabel kippt«, dass die Sprache dann über die reine Bildlichkeit hinausweisen kann, wenn sie zum Objekt von Kunst wird. Mit dieser Wendung grenzt sich auch die frühe Parabelkonstruktion von der Phase ab. Folglich findet sich in den No-

42 In Anlehnung an experimentelle Erzählanordnungen übersetzte Elfriede

Jelinek zusammen mit Thomas Piltz Thomas Pynchons Gravitys Rainbow mit: Ders.: Die Enden der Parabel. Übersetzt von E. Jelinek und Th. Piltz. Reinbek bei Hamburg 1983. 43 Praz, Mario: Parabel der abstrakten Kunst. In: Merkur 13 (1959), H. 134, S. 339-343, hier S. 343. 44 Hinweis von Norbert Miller. 45 Höllerer, Walter: Löffelholz’ Poetik / Höllerer: Meine Theorie, Poetologische Notizen. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/BF/2,9. 46 Höllerer, Walter: Movens. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/BF/4,2.

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tizen die Gleichung: »Phase = Sinn völlig ohne Objekt«.47 Das der Parabel zugehörige Objekt bezieht sich in diesen Vorstufen auf den Realismus und die Gesellschaft, wie es ein weiterer Notizzettel der Pläne zu Movens und Parabel vermerkt.48 In diese Richtung weisende Stichpunkte zu einer Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Wortchemie werden auf einem undatierten Blatt notiert, auf dem unter dem Stichwort »Mov.[ens] Poetologie-Kapitel«49 zudem konkrete eigenständige Parabelformen aufgeführt sind. Dies könnte zu den Notizen zählen, die in den roten Mittelteil einfließen sollten. Zu potentiellen parabolischen Erzählverfahren zählen »Stenogramm, Protokoll / Montage / Simultaneität / Kaleidoskop«50, wie sie formal experimentelle Literatur bestimmen. In den späteren Beiträgen zur Parabel werden diese Formen und Techniken jedoch nicht mehr vergleichsweise konkret benannt. Die an sich konzisen Ansätze einer gattungs- und formästhetischen Poetik der Parabel weiten sich nicht über die angedeuteten Stichpunkte zu einem theoretisch-künstlerischen Parabel-Manifest aus. Denn seine für movens entwickelten Thesen zur Parabel wandelt Höllerer zur wissenschaftlichen Debatte ab, die in den Akzenten geführt wird. Unter dem Pseudonym Alfred Bourk veröffentlicht er den eigentlich für movens vorgesehenen Artikel unter dem alten Arbeitstitel in den Akzenten und gruppiert um diesen ein Symposium zur Parabel als Grundfigur. Dabei wird der trendsetzende Ausgangspunkt von movens, in den Künsten eine Poetik der Parabel zu platzieren, schlicht zur For-

47 Höllerer, Walter: Mov. Poetologie-Kapitel, Notizen. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/BF/1,3. 48 Für seinen Beitrag versieht Höllerer sieben Seiten mit Überschriften zur Parabel: »Movens. 1. Umwandlung in Bewegung. 2. Wie Bewegung beginnen? 3. Der Augenblick als Beginn und als Ziel in einem. 4. Reflexion auf Methode. Verhandlung der Reflexion. (Roman einer Theorie) 5. Wie ist Bewegung in Sprache möglich ? Gestik. 6. Was zeigt die Bewegung? Parabel. 7. Parabel und Gesellschaft etc. ›Realistik‹« (Höllerer, Walter: Movens. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/BF/4,2). 49 Höllerer, Walter: Mov. Poetologie-Kapitel, Notizen. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/BF/1,3. 50 Ebd.

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schungsfrage gewendet und untersucht, »ob eine alte Form, die Parabel, neu entdeckt wird«.51 Zum Symposium steuert Norbert Miller eine literaturgeschichtliche Darstellung und einen Vergleich mit der didaktischen Parabel bei, die die Paradoxie der modernen Parabel betont. In dem unter Pseudonym veröffentlichten Aufsatz untersucht Höllerer, wie syntaktische Besonderheiten eines schwebenden Parabelstils wirken. Roland Barthes’ Aufsatz über die moderne Lyrik erfaßt und untersucht poetische Vorgangs- oder Bewegungs-Parabeln. Dieser Formatwechsel, eine Poetik experimenteller Literatur in eine Forschungsdiskussion zu überführen, spiegelt nicht nur Höllerers rotierende Intellektualität wieder, sondern trug einer zeitgenössischen Entwicklung Rechnung: So war die Parabel um 1960 zu einem intellektuellen Modebegriff avanciert. In der Prosa hatte sich relativ zeitnah die Entdeckungsparabel mit implizitem Transfersignal herausgebildet.52 Die Tatsache, dass sich das Symposium bereits mit der Offenheit des Begriffs und der Vagheit des Konzepts auseinandersetzte, zeigt den »inflationären Gebrauch des Parabel-Begriffs für moderne Dichtungen«,53 bei dem der »Gegenstand immer neu und lebendig«54 angeeignet werde. Auffällig stellt die Publikation am kleineren Ort der Literaturzeitschrift eine klare Distanzierung sowohl zu dem um 1960 als überholt geltenden Konzept der Parabel dar als mehr noch zu der sich stärker

51 Symposion »Parabel als Grundfigur«. In: Akzente 6 (1959), S. 200-227. Beiträger waren Norbert Miller (Moderne Parabel), Alfred Bourk [d.i. Walter Höllerer] (Geste und Parabel) und Roland Barthes (Gibt es eine Schreibweise der Lyrik?). 52 Zu dieser literarhistorischen Kategorie siehe: Zymner, Rüdiger: Parabel. In: Dieter Lamping (Hg.), Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 559-569, hier S. 568. 53 von Heydebrand, Renate: Parabel. Geschichte eines Begriffs zwischen Rhetorik, Poetik und Hermeneutik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 34 (1991), S. 27-122, hier S. 119. 54 Ebd., S. 122.

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formierenden literarisch-experimentellen Neoavantgarde, der Höllerer bewußt nicht mit einem u. U. zu phrasenhaften Manifest zuarbeitete.55 Der Aufsatz für das Akzente-Symposium nimmt zahlreiche der zentralen Thesen vorweg, die für movens vorgesehen waren. Höllerer / Bourk liefert eine Literaturgeschichte der Parabel, deren Entwicklung von der pädagogischen Parabel im 18. Jahrhundert hin zur Groteskparabel Paul Scheerbarts reicht. Entgegen eines experimentellen Nullpunkt-Ansatzes firmieren die historischen Beispiele dabei als Möglichkeiten für die Gegenwart. Aus diesem Zusammenhang wird evident, dass das intuitive, sensualistische Parabelkonzept im weiteren Umfeld von Höllerers Epiphanie-Studien angesiedelt ist und maßgeblich seinen späteren Aufsatz über Die Epiphanie als Held des Romans bestimmt. 56 Darin interpretiert er die Epiphanien bei James Joyce als »ausgewählte, mit Faszination geladene Ausdrücke für Augenblicke« sowie als »plötzliche geistige Manifestation«,57 die über Gesten und Phasen auftreten. Ebenso schließen sie »Laut, Bild und Nebenideen« ein.58 Auch die Tatsache, dass die Epiphanie als Erzählverfahren und Technik am Beispiel jener für die Parabeln schon einschlägigen Texte von Kafka, Musil und Lichtenstein erläutert wird, zeigt, dass das Parabelkonzept von movens in die Epiphanie-Studien transferiert wird. Denn als Urmodell jener modernen, offenen Form etabliert Höllerer die Parabeln Franz Kafkas. Bei diesen bleibt die alte, pädagogische Parabel noch latent verbindlich, wenngleich die Sprengung der Form überwiegt, da

55 Das Pseudonym gewährleistete vermutlich, die beiden, thematisch und inhaltlich bis in einzelne Formulierungen hinein stark übereinstimmenden Texte, nicht aufeinander beziehen zu können. 56 Vgl. Höllerer, Walter: Die Epiphanie als Held des Romans (I + II). In: Akzente 8 (1961), H. 2, S. 125-136, H. 3, S. 275-285 sowie Zaiser, Rainer: Die Epiphanie in der französischen Literatur. Zur Entmystifizierung eines religiösen Erlebnismusters. Tübingen 1995, S. 44. 57 Höllerer 1961, S. 126 und 129. 58 Ebd., S. 275.

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dieses zweite Gleis [der pädagogischen Parabel; J. B.] jedoch nur wie im Nebel gesehen / geahnt (wird) / wahrscheinlich nicht vorhanden ist und hingegen der Vorgang der Parabel das Schema überholt.59

So erhalten Formaspekte wie Rhythmus und Geste bei Kafka Gültigkeit. Die Sprache tritt als destruierendes Prinzip in Erscheinung, womit sich der Text auf Wahrnehmungen und Vorstellungsketten konzentriert. Ebenfalls nach Gesetzen der »schwebenden Parabel«60 funktionieren Texte vom frühen Trakl bis zum späten Arp, die in Versen, also rhythmisch oder musikalisch eine »Metamorphose der Gefühlsgestik«61 durchlaufen. Darüber hinaus entspricht das genaue Erfinden von Worten für spezifische Sinneseindrücke parabolischen Bewegungen. Beispiele hierfür sind Robert Musils Wahrnehmungsparabeln Die Affeninsel sowie Das Fliegenpapier, das in movens abgedruckt wird.62 Sowohl sensualistisch als auch detailliert wird in letzterem der Tod einer Fliege auf einem Fliegenpapier beschrieben, so dass sich diese Schilderungen ohne zu protokollieren oder klassisch zu erzählen, allein »durch das Wie der Darlegung [...] nicht zu einem berichtenden Aufsatz, sondern zu einer Parabel« fügen.63 Stichworte, die ursprünglich für die Anthologie vorgesehen waren, wie Bedeutungsbewegungen oder »Vibrationen der Zeichen«64 erläutert Höllerer in diesem Kontext nicht über die – für movens naheliegenden – Mobiles Tinguelys, sondern anhand frühexpressionistischer Parabeln Alfred Lichtensteins. Alle drei parabolischen Möglichkeiten vereinigen sich für Bourk / Höllerer in Franz Kafkas Ein Landarzt, da diese Prosa Wahrnehmungsprotokoll, Vorstellungskette und Zeichenvibration kombiniere.65 Im Übergang von der poetischen zur erzählerischen Parabel, die auf den epiphanischen Moment bezogen bleibt, zeichnet sich eine metatextuelle Denkprosa ab, die über das konkrete

59 Bourk, Alfred [i.e. Walter Höllerer]: Geste und Parabel. In: Akzente 6 (1959), S. 219. 60 Ebd., S. 220.

61 Ebd. 62 Höllerer 1960, S. 103.

63 Bourk [Höllerer] 1959, S. 219. 64 Ebd. 65 Ebd.

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Bild hinaus das Rationale und eine Poetik des Textes an sich erzählt, die erst vom Rezipienten zu vollenden ist. Veröffentlichungsgeschichte und Distanzierung Aus den Unterlagen im Archiv geht hervor, dass die Anthologie in jenem auch für die Literaturhistoriographie prominenten Jahr 1959 theoretisch hätte erscheinen können.66 Schon ab Januar 1959 hat Franz Mon die meisten der Dokumente und Abbildungen eingeholt und visiert die Endredaktion an. Im Juni 1959 trifft die letzte Lizenzgenehmigung für das Stück von Jean Tardieu ein. Im Mai waren die Druckfragen um die funktionale, serifenlose Schrifttype geklärt.67 Von September 1959 bis kurz vor Erscheinen im Frühjahr 1960 mahnen Franz Mon und der Verleger Max Niedermayer Höllerer zur Abgabe des Beitrags, wobei der Verleger auf der Herausgabe Höllerers bezeichnenderweise aus dem Grund besteht, da »ohne Ihre Beteiligung an dem Werk der Verkaufserfolg herabgesetzt würde«68. Franz Mon platzt der Kragen, nachdem er wöchentlich um den Beitrag gebeten hatte und Höllerer eine lang anhaltende Grippe als Vorwand für die Verzögerung angibt.69

66 Im Jahr 1959 erschienen Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob, Günter

Grass’ Die Blechtrommel und Heinrich Bölls Billard um halb zehn, womit die deutschsprachige Literatur Hans Magnus Enzensbergers ironischem Diktum zufolge das »Klassenziel der Weltkultur« erreichte. (Vgl. ders.: Palaver. Politische Überlegungen (1967-1973). Frankfurt a.M. 1974, S. 44). 67 Die ursprünglich gewünschte Akzidenz-Grotesk konnte nicht realisiert werden, so dass eine Neuzeit-Grotesk angewendet wurde. Da Ende der 50er Jahre dem Verlag keine Kursivschrift zur Verfügung stand, mußte schließlich eine »einheitsnormalgeradenschrift« gewählt werden. (Mon, Franz an Walter Höllerer: Undatierter Brief, vmtl. 1959. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/2954). Günter Kieser von der Berliner Designgruppe novum war für die typografische Gestaltung zuständig und lehnte diese an die Akzidenz-Grotesk an. 68 Niedermayer, Max an Walter Höllerer: Brief v. 21.12.1959. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/BF/5,12. 69 »Sonntag / Mon Cher, Limes beginnt morgen mit dem Druck der ersten 5 oder sechs Bogen von Mov.[ens] Das Ganze hängt jetzt an den sieben lee-

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Wenngleich Höllerers Distanzierung vom Projekt durch den Abdruck unter Pseudonym besiegelt scheint und neben den Dichotomien zwischen kinetisch-bildlicher Phase und konkret-gedanklicher Parabel auch eine thematische Begründung aufweist, bleibt seine Zurücknahme vor allem seiner nicht festlegbaren, offenen Rolle im Literaturbetrieb geschuldet. Vor diesem Hintergrund erscheint jene Tatsache, dass Höllerer »die eigene Beteiligung im Nachhinein erheblich herunterfuhr«,70 weniger als fundamentaler Bruch mit dem Experiment denn stärker als pragmatische, literaturpolitische Strategie. Demnach heißt es zwar noch in einem Brief an Günter Grass: Ich habe Korrektur für movens zu lesen: das Buch ist völlig franzmonisch geworden und sehr einseitig. Ich habe nun einen Artikel [Movens und Parabel] geschrieben, gegen das Buch in dem Buch, und habe Dich (mit ‚Askese’), Corso (mit ‚Bomb’, englisch und deutsch), Creeley, Arp und Wolfgang Meier [sic!] zitiert. Ich glaube, dieser Teil des Buches ist ausgesprochen gut; aber er kommt gegen die Gesamttendenz nicht auf. An Ostern soll das Ding endlich erscheinen, ich habe meine Herausgeberschaft zurückgezogen, es erscheint hrsg. von Franz Mon, lediglich in ‚Verbindung mit’ mir und Manfred de la Motte.71

ren Seiten für Ihren Aufsatz! Ich kann mir nicht helfen, ich fühle mich einigermassen von Ihnen im Stich gelassen. Ich bitte auf jeden Fall bis Donnerstag um Nachricht, was mit den sieben leeren Seiten werden soll. Mir ist es nach der jahrelangen Beschäftigung mit dem vorgesehenen Thema unverständlich, warum das Manuskript nicht in zwei Tagen formuliert werden konnte und ich hier herumsitzen muss wie bestellt und nicht abgeholt. / Ich fahre voraussichtlich um den 20.1. für zwei Wochen nach Norddeutschland. Bis dahin muss der ganze Kram abgeschlossen sein. Mir hängts restlos zum Hals raus. / der Ihrige F[ranz Mon]« (Mon, Franz an Walter Höllerer: Undatierter Brief, ca. Januar 1960. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/BF/3,17). 70 Berbig, Roland / Krüger, Alexander: Ein Novum unter der Ägis eines Lehrstuhlinhabers. Walter Höllerer im Jahre 1959. In: Berliner Hefte 8 (2008), S. 89-99, hier S. 98. 71 Zit. nach: Böttiger, Helmut: Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs. Ausstellungsbuch unter Mitarbeit von Lutz Dittrich. Berlin 2005, S. 100. – Wolfgang Maier war Assistent bei Höllerer.

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Die grundlegende Skepsis spielt hier durchaus dem Briefadressaten zu, da sich dieser trotz eigener literarisch-experimenteller Anfänge später despektierlich über die in movens vertretenen »Labordichter« äußert.72 Dass Höllerer das Gesamtprojekt gleichwohl weiterhin als Übersetzung der Moderne in das allgemeine Bewußtsein interessierte, zeigt sich darin, dass er im Laufe des Jahres 1960 eine Rezension der Anthologie durch seinen Assistenten Hermann Piwitt anregt. Die Zurücknahme seiner Herausgebertätigkeit entspricht somit keiner allzu grundsätzlichen Distanzierung. In einem Brief an Franz Mon überlegt Höllerer nur wenig später sogar, wie die movens-Richtung im Sinne eines Periodikums fortgesetzt werden könnte. Mon reagiert umgehend und spielt auf die mangelnde theoretische Programmatik an, die im Fall einer revidierten Neuauflage verbessert werden müsse: Sie haben recht: wir sollten überlegen wie wir die Mov.[ens] Suppe am Dampfen halten können. Ich meine aber, auch die edelsten Rezensionen helfen da nicht. Wir müssen weitere Pfähle einrammen, [...]. Was die bildende Kunst angeht, bereitet sich einiges vor (›didacta‹). Auch zum Theater knoten sich neue Gespinste – in 2 Jahren wird man da vielleicht eine Rakete loslassen können. Was wir (: Sie und ich) tun müßten: das rote Mittelstück ausarbeiten! Denn da fehlt es an allem!73

Die anvisierten gemeinsamen Projekte kommen in dieser Form nicht zustande. Ein fragmentarisches wie transitorisches Parabelkonzept bleibt vom ursprünglichen Anliegen übrig, mit einer Poetik auf den Kunst- und Literaturbetrieb einzuwirken. Anstelle des geplanten Manifests wandelte sie sich zu einem marginalen Gegenprogramm im experimentellen Feld. In frühen Plänen war sie ursprünglich als ästhetisches Bewegungskonzept und experimentelles Erzählformenrepertoire definiert. Noch in der späteren Schlussversion stach sie vom neoavantgardistischen Konsens ab. Als materialitäts- und objektbezogene, epistemische, erzählend-verdichtende Kunstform entfernte sich die Parabel

72 Grass, Günter: Das Gelegenheitsgedicht oder – es ist immer noch, frei nach Picasso, verboten, mit dem Piloten zu sprechen. In: Akzente 8 (1961), H. 1, S. 8-11. 73 Mon, Franz an Walter Höllerer: Brief v. 13.9.1960. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/2986.

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von der sprach- und formexperimentierenden Nachmoderne und ihren Phasenmodellen. Deren aus- und erprobenden Konstellationen, Wiederholungen, Reihungen und Phasen schließt das Parabelkonzept sowohl als poetisches als auch als erzählerisches Modell aus. Mit der Forderung nach dem Organischen im modernen Kontext hielt Höllerer an Kunstwerk- und Dichtungskonzeptionen fest, von denen sich die Neoavantgarde jedoch radikal löste. Ansätze für erzählende und semantisierte Parabelformen fand er in der Gegenwartsliteratur, wie in Peter Weiss’ frühen deutschsprachigen Prosatexten, in denen sowohl abstrakte als auch semantische Gestik zusammenkamen. Schluss Die anfängliche Nähe zum Experiment und das Taktieren bezeugen Höllerers Nähe zur literarischen Moderne. Bezog sich das künstlerische Experiment der Neoavantgarde ebenfalls auf die historische Avantgarde, hatte es dabei doch stets den künstlerischen Neuanfang im Blick. Höllerers Poetik der Parabel hingegen bleibt in literaturwissenschaftlicher Manier gründlicheren Relektüren und Wiederentdeckungen einer klassischen Moderne verpflichtet, die mit James Joyce, Marcel Proust, Franz Kafka und Robert Musil besetzt sind. Die 1964 veröffentlichten Thesen zum langen Gedicht bringen Höllerer schließlich gewissermaßen folgerichtig in die Nähe Allen Ginsbergs und Gregory Corsos als zur Wiener Gruppe oder Stuttgarter Schule. Gleichwohl zeigt seine Poetik der Parabel eine produktive Annäherung an experimentelle Horizonte um 1960, aus der sich eine Theorie moderner Denkprosa herausbildet. Dabei scheint die Nähe zum Joyce’schen Konzept der ›Epiphanie‹ durch, wie es die Thesen von Movens und Parabel bestimmt. Jahre später tauchen in Höllerers Theorie der modernen Lyrik Reminiszenzen erneut an die Poetik der Parabel auf, wenn Kunstproduktion, Forschung, Poesie und Erzählung amalgamiert werden. Nunmehr gegen das Engagement und die Doktrin gewendet,74 scheint hier sein

74 »Wie aber, wenn das Engagement den Autor auf etwas Starres festlegt, auf ein National-, Erdteil-, Partei- und Kunstprogramm, das ihn unbeweglich macht? Er wird ›Bewegung, Bewegung!‹ rufen und dabei klägliche Trippelschrittchen im eng gezogenen Kreis tun. Und auch dort, wo nicht geschriebene (Herv. i. Orig.) Vorschriften vorhanden sind, sondern unge-

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Credo aus der Theorie der modernen Lyrik zur »reinen Poesie« durch. Dieses schließt gleichermaßen sowohl das Gedicht als auch die Erzählung ein. Erneut stärkt es dabei jedoch nicht das Experiment, sondern den Kunstwerkbegriff. Eindeutig steht nunmehr das auratische, moderne Kunstwerk in der ästhetischen Hierarchie höher als das ergebnisoffene Experiment und seine konkreten Verfahren. Aus den Studien zu den Tagebüchern Charles Baudelaires und dem Modell der absoluten Poesie zeichnen sich im Forschungskontext nochmals Ansätze gestisch-semantischer Kunstwerke ab. Die eigenständige Poetik wendet sich damit gänzlich der literaturwissenschaftlichen Forschung zu. In der Frage nach dem philosophischen Kunstwerk und seiner impliziten Poetiktheorie zeichnet sich aus dem Blickwinkel der Forschung schemenhaft die einstmals experimentelle, bewegte Poetik der Parabel ab. Diese zielt auf die künstlerische und poetische Vorstellungskraft ab, die gestisch-konkret bleiben:75 Nein die reine Poesie sei anzusteuern, und das bedeute: die Zufälle des bloß Akzidentellen auszuschalten; unter gleichzeitiger Beobachtung der Syntax und der Ideen zu Ergebnissen zu kommen, mittels Denk- und Ausdrucksmethode zur Freiheit jenseits des Zufälligen zu gelangen. Die aufeinanderfolgende Erzeugung und Vermehrung aller imaginären Kurven und Figuren, die die Ein-

schriebene, wird er nicht in seinem auf äußere Festlegungen bezogenen Engagement zu einem weitergreifenden, guten Text kommen.« (Höllerer, Walter: Nachwort zu: Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I. Reinbek bei Hamburg 1966, S. 426f). 75 Vgl. Baudelaire, Charles: Sämtliche Werke, Briefe. Bd. 6 Les Paradis artificiels. Übersetzung und Kommentar von Friedhelm Kemp. München, Wien 1991, S. 208f.: »Ich glaube, der unendliche, geheimnisvolle Reiz, den der Anblick eines Schiffes, und vor allem eines Schiffes in Fahrt, erregt, entspringt, im ersten Fall, der Regelmäßigkeit und Symmetrie, die eines der ursprünglichsten Bedürfnisse des menschlichen Geistes sind, ebenso wie Vielfalt und Harmonie – und, im zweiten Fall, dem reichen Wechselspiel all der Kurven und Figuren, welche die wirklichen Teile des Gegenstandes für unser geistiges Auge in den Raum hinein beschreiben. Die poetische Vorstellung, die diese tätige Bewegung in den Linien auslöst, ist die Hypothese eines riesigen, unermeßlichen, ungeheuer vielfältigen, dennoch schön bewegten Wesens, eines genialisch begabten Tieres, das alle menschlichen Seufzer und Sehnsüchte mitleidet und verhaucht.«

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zelteile des Gegenstandes in den Raum hinein beschreiben, führt zu dieser reinsten Poesie. Die poetische Vorstellung, die in dieser Bewegung der Linien frei wird, ›ist die Hypothese eines riesigen, ungeheueren, vielfältigen, aber schön bewegten Wesens, eines genialischen Tieres, das alle menschlichen Seufzer und Sehnsüchte mitleidet und aushaucht‹.76

76 Höllerer 1966, S. 427.

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L ITERATUR

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122 | J OHANNA B OHLEY

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W ALTER H ÖLLERERS P OETIK

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Peter Weiss im literarischen Feld der 1960er Jahre H ERIBERT T OMMEK

Einleitung Ende der fünfziger Jahre konnte Peter Weiss dank Walter Höllerers Vermittlerrolle in das deutsche literarische Feld eintreten. Im folgenden Beitrag soll die These ausgeführt werden, dass Weiss eigentlich nur von 1959 bis 1965 einen strukturellen Ort im westdeutschen literarischen Feld fand, d.h., dass die Entwicklung seiner Position und die der Struktur des Feldes nur in diesem Zeitraum konvergierten und sich danach wieder voneinander entfernten. Diese Entfernung äußert sich schließlich auch in einer persönlichen Distanznahme zu Höllerer. Das in der Weiss-Forschung gebräuchliche Schlagwort der ›Unzugehörigkeit‹ von Weiss als ein den Holocaust überlebender deutsch-jüdischer Künstler soll also im Folgenden erweitert werden von einer biographisch-existentiellen Kategorie hin zu einer feldstrukturellen.1 Die folgende Skizze umfasst fünf Etappen: 1. soll es um Weiss’ Eintritt ins literarische Feld und dessen funktionale Bedeutung gehen, 2. um die Begegnungen mit der Gruppe 47 und den grundlegenden Konflikt mit Günter Grass, 3. um den sogenannten ›Kursbuch‹Konflikt mit Hans Magnus Enzensberger 1965/66. 4. lässt sich dieser Konflikt anschließen an die manifeste Ausgrenzung während der

1

Methodisch beziehe ich mich auf Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M. 1999.

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Princetoner Tagung im April 1966 und 5. schließlich rückbinden an das stillschweigende Ende der Beziehung zu Höllerer im Kontext der Attacken in der Zeitschrift konkret im Mai 1966. Peter Weiss’ Eintritt ins literarische Feld Peter Weiss’ Eintritt ins deutsche literarische Feld ist unmittelbar mit Walter Höllerer und der Zeitschrift Akzente verbunden. Durch die Vermittlung Höllerers erschienen in den Akzenten vor allem die frühen ›surrealistisch-schreibexperimentellen‹ Texte. Weiss hatte in den fünfziger Jahren das Manuskript Der Schatten des Körpers des Kutschers mehreren deutschen Verlagen vergeblich zum Druck angeboten, so auch dem Hanser-Verlag und der Akzente-Redaktion, die den Text 1955 ablehnten.2 Über den Buchautor und Lyriker Kurt Leonhard gelangte das Manuskript dann im Herbst 1958 an Franz Löffelholz (alias Franz Mon) und Walter Höllerer, die gerade die Anthologie movens vorbereiteten.3 Eine erste positive Rückmeldung von Löffelholz erhielt Weiss im Mai 1959.4 Einige Tage später folgte Höllerers Zusage, dass

2

Schon am 11. März 1955 hatte Weiss brieflich Kontakt mit dem Verleger Carl Hanser aufgenommen und ihm vermutlich die im Vorlass Walter Höllerers erhaltenen Manuskripte »Dokument 1« (1949) und »Die Versicherung« (1950/51) angeboten. Vgl. Weiss, Peter an Carl Hanser, Brief v. 11.3.1955. In: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg (=LSR), Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/30150. Diese eingesandten Manuskripte, worunter sich auch der ›Kutscher‹ befand, verblieben jedoch zunächst unbeachtet in der Akzente-Redaktion. Vgl. LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/30149.

3

Mon, Franz (Hg.): movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur. In Zusammenarbeit mit Walter Höllerer und Manfred de la Motte. Wiesbaden 1960; vgl. auch: Gerlach, Rainer: Die Bedeutung des Suhrkamp Verlags für das Werk von Peter Weiss. St. Ingbert 2005, S. 47-52, sowie den Beitrag von Johanna Bohley im vorliegenden Band.

4

Vgl. Mon, Franz an Peter Weiss: Brief v. 10.5.1959. In: Akademie der Künste, Berlin, Peter-Weiss-Archiv (= PWA), Nr. 686; abgedruckt in: Gerlach 2005, S. 50.

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ein Auszug in den Akzenten gedruckt werden solle.5 Er wies darauf hin, dass dieser Abdruck ein guter Start sein könne »auch für Buchausgaben, denn unsere Zeitschrift wird auch von den Verlegern sehr genau studiert«,6 und tatsächlich bahnte sich nach der Veröffentlichung des ›Kutscher‹-Auszuges im 3. Akzente-Heft Ende Juni 19597 schnell die Möglichkeit einer vollständigen Publikation des »Mikroromans«, so der Untertitel, an. Sowohl der Hanser- als auch der Limesund Suhrkamp-Verlag zeigten Interesse. Siegfried Unseld, der eng mit seinem ›Literatur-Scout‹ Höllerer zusammenarbeitete, schrieb nun Weiss selbst und bot ihm die Publikation bei Suhrkamp an.8 Daraufhin bat Weiss Höllerer um Rat, wie man nun am besten erreichen könne, dass der ›Kutscher‹ bei Suhrkamp erscheint, ohne damit Hanser, der über den Lektor Peter Frank ein Vorrecht angemeldet hatte, zu brüskieren.9 Weiss bevorzugte den Verlag von Peter Suhrkamp, den er auf seiner Berlin-Reise 1947 im Rahmen einer NachkriegsdeutschlandReportage aufgesucht und kennengelernt hatte,10 und Höllerer unterstützte ihn dabei, bat aber um Diskretion, was seine Rolle anging.11 Die plötzliche Konkurrenz um den ›Kutscher‹ zwischen dem Suhrkamp- und dem Hanser-Verlag zeigt, wie sehr im literarischen Feld die Zeichen auf modernistische Texte standen. Der Suhrkamp-Verlag setzte sich durch und der ›Kutscher‹ wurde in einer schönen bibliophilen Ausstattung 1960 in der Reihe der »Tausenddrucke« veröffentlicht. Damit war Weiss, dessen erste literarische Verehrung dem SuhrkampHausautor Hermann Hesse galt, wunschgemäß untergekommen.12 Diese Verlagsbindung förderte zweifellos seine weitere Karriere, denn im

5

Vgl. Höllerer, Walter an Peter Weiss: Brief v. 25.5.1959. In: PWA, Nr. 517.

6

Ebd.

7

Abgedruckt wurde der komplette vierte Abschnitt des ›Kutschers‹; vgl.

8

Unseld, Siegfried an Peter Weiss: Brief v. 19.8.1959. In: PWA, Nr. 517,

Akzente 6 (1959), H. 3, S. 228-237. abgedruckt in: Gerlach 2005, S. 51. 9

Vgl. Weiss, Peter an Walter Höllerer: Brief v. 5.9.1959. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/5245.

10 Vgl. Gerlach 2005, S. 14-19. 11 Vgl. Höllerer, Walter an Peter Weiss: Brief v. 20.9.1959. In: PWA, Nr. 517. 12 Vgl. hierzu ausführlich Gerlach 2005, S. 51ff.

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Vergleich zu Hanser war der Suhrkamp-Verlag offener für die nachkriegsdeutschen und internationalen literarischen Avantgarden.13 In den Jahren 1962 und 1963 erfolgten dann die meisten Publikationen in den Akzenten, so die Strindberg-Rede Gegen die Gesetze der Normalität,14 Auszüge aus dem Gespräch der drei Gehenden,15 Avantgarde Film,16 das Stück Nacht mit Gästen,17 Auszüge aus dem Pariser Journal und schließlich,18 als letzte Manuskriptsendung, die in den Akzenten 1965 veröffentlicht wurde, die Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia.19 Es wird sich noch zeigen, dass diese »Vorübung« bereits einen ›Kraftvektor‹ in sich barg, der Weiss’ Autorposition vom Modernisierungsanliegen der Akzente und auch von der allgemeinen Entwicklung des bundesdeutschen literarischen Feldes entfernen sollte. Das ist die Dokumentation des publizistischen Eintritts in das Feld. Literarisch gelang dieser Eintritt insbesondere durch den ›Mikroroman‹ Der Schatten des Körpers des Kutschers und dessen neuartige optische Beschreibungsästhetik. Diese trug dazu bei, die Definition legitimer Literaturformen im Rückgriff auf Schreibtechniken des Surrealismus und des Nouveau Roman progressiv zu erweitern. Die neuen Literarisierungsverfahren einer sprachlich-verschachtelten Inventaraufnahme der kahlen Wirklichkeit mit abrupten surrealistischphantastischen Erweiterungen, die neuartige Verbindung zwischen sprachlichem Protokoll und traumhafter Innenwelt, griffen dann junge

13 Vgl. ebd., S. 58f. 14 Akzente 9 (1962), H. 4, S. 165-170. 15 Akzente 10 (1963), H. 1, S. 138-141 unter dem Titel Diese Fenster, diese Tische. 16 Akzente 10 (1963), H. 2, S. 297-319; vgl. Weiss, Peter an Walter Höllerer: Brief v. 22.10.1963. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/9780. 17 Akzente 10 (1963), H. 4, S. 436-452. 18 Akzente 11 (1964), H. 5/6, S. 499-504. 19 Akzente 12 (1965), H. 2, S. 100-111; vgl. Bender, Hans an Peter Weiss: Brief v. 13.4.1965. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/9778. Die Neufassung der »Vorübung« ist vermutlich bereits Mitte 1964 verfasst worden. Vgl. Weiß, Christoph: Die Ermittlung. In: Rector, Martin (Hg.): Peter Weiss’ Dramen. Neue Interpretationen. Opladen 1999. S. 108-154, hier S. 111.

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Autoren wie Uwe Johnson oder Peter Handke auf und entwickelten sie weiter, wodurch sich der Raum des literarisch Möglichen signifikant öffnete. Ihren Sinn für die Notwendigkeit einer Modernisierung und Internationalisierung des deutschen literarischen Feldes hatten Höllerer mit seiner Transit-Anthologie (1956) und Enzensberger mit der Herausgabe des Museums der modernen Poesie (1960) bereits bewiesen. Beide hatten auf ähnliche Weise die Rückständigkeit des geltenden Literaturbegriffs erkannt, d.h. die in den fünfziger Jahren weiterhin dominanten traditionalistischen und regionalistischen Tendenzen sowie die Unfähigkeit des Umgangs mit experimentellen Formen der klassischen Moderne, insbesondere im Bereich der Lyrik. Mit Blick auf Pierre Bourdieus Modell des literarischen Feldes hatten beide nicht nur Anteil an der Erweiterung und der symbolischen Umwertung legitimer Literaturformen im Feld, die in weiten Teilen noch vom Pol der »volkstümlich-moralischen« Literatur in Kontinuität zur Literatur der inneren Emigration geprägt waren. 20 Sie erkannten auch schnell deren

20 Damit ist der Bereich zwischen »eingeschränkter« und »großer Produktion« in Bourdieus Modell des literarischen Feldes gemeint, der im französischen Feld fließend übergeht in den Bereich des »vaudeville, Feuilleton, Journalismus«. Vgl. Bourdieu 1999, S. 203 sowie Sapiro, Gisèle: Das französische literarische Feld: Struktur, Dynamik und Formen der Politisierung. In: Berliner Journal für Soziologie, H. 2 2004, S. 157-171. Sapiro hat diesem Bereich den Typus des »Populären Schriftstellers« zugeordnet: Es handelt sich um Schriftsteller, »die von ihrer Feder leben müssen, denen es aber nicht gelingt, ein Kapital an symbolischer Anerkennung anzuhäufen. [...] Sie verfügen nicht über die notwendigen kulturellen Ressourcen (seien es ererbte oder auf dem Bildungsweg erworbene), die ihnen den Zugang zu den gelehrten Debatten gewähren oder sie befähigen, auf der Grundlage eigener ästhetischer Kategorien zu diesen in Widerspruch zu treten. Sie reduzieren daher den literaturkritischen Diskurs auf eine politische und soziale Kritik, um sich innerhalb des Feldes behaupten zu können [...]«. (S. 165) Die deutsche Nachkriegsliteratur entwickelte sich in Kontinuität zu einer regionalisierten Literatur, die tendenziell in die von Sapiro beschriebene Feldregion gehört. Trotz zum Teil erheblicher Unterschiede, lässt sich die Literatur der verschiedenen Anhänger der Gruppe 47 allgemein als Modernisierung und symbolischer Aufstieg dieses unteren Teilbereichs des literarischen Feldes verstehen.

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Grenzen, die sie durch eine Neubelebung des avantgardistischen und tendenziell internationalen Pols, der spätestens nach 1933 seine strukturbildende Kraft verloren hatte, zu überwinden suchten. In diesen Kontext gehört die ›Entdeckung‹ des in Schweden lebenden und auf Deutsch schreibenden Autors. Weiss passte in den Rahmen einer allgemeinen Erweiterung des literarischen Feldes um einen neu aufzuwertenden avantgardistischen Pol, da er für einen Anschluss an die europäischen Avantgarden stand und zugleich kein direkter Vertreter einer politisch geprägten Exilliteratur war, die bekanntlich anfänglich von Vertretern eines ›Stunde Null‹-Mythos abgelehnt wurde. Die ›Entdeckung‹ und Förderung von Weiss durch Höllerer war also gebunden an die strukturelle Möglichkeit der ›Sichtbarkeit‹ einer an die klassischen Avantgarden und internationalen Modernisierungsbewegungen anschließenden Position im bundesdeutschen literarischen Feld Ende der fünfziger Jahre. Symptomatisch für die strukturell eingebundene ›Entdeckung‹ und den erfolgreichen Eintritt von Weiss ins Feld ist schließlich auch ihre Verspätung, denn das westdeutsche literarische Feld öffnete sich erst ab 1959 eindeutig, dann aber unumkehrbar für Modernisierungen.21 Was die werkimmanente Entwicklung der literarischen Verfahren angeht, so hatte Weiss den ›Kutscher‹ in einer Phase geschrieben, in der er sich weitgehend vom Malen verabschiedet und zunehmend dem Schreiben und dem avantgardistischen Film zugewandt hatte. Dabei interessierten ihn das Nebeneinander und der Wechsel von Bild und Wort, woraus er seine experimentelle Filmart und seine für den ›Kutscher‹-Roman und andere frühe Texte charakteristische ›filmische Schreibweise‹ entwickelte. Sein eigenes filmisches Schaffen durchlief zwei Phasen: eine erste, ›surrealistisch-experimentierende‹ Phase (1952-1956), und eine zweite Phase dokumentarischer Filme (19561961), die weiterhin surrealistische, aber auch schon deutlich sozialkritische Elemente aufweisen. 22

21 Vgl. Lorenz, Matthias N. / Pirro, Marizio (Hg.): Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten der 1950er Jahre. Bielefeld 2011. 22 Dies zeigt sich z.B. in der surrealistisch (alp-)traumhaften Rahmung des Dokumentationsfilms über einen Tag im Leben der jugendlichen Insassen eines Gefängnisses in Schweden (Enligt Lag / Im Namen des Gesetzes, 1957).

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Höllerer, der früh seine Aufmerksamkeit auf den technischen Medienwandel der Kunst richtete und die Möglichkeiten des Radios und Fernsehens in Berlin wie kein zweiter in dieser Zeit zur Literaturvermittlung zu nutzen verstand, begann 1961 die von ihm moderierte Sendereihe Berlin stellt vor im SFB mit einer Präsentation des Autors, Illustrators und Filmemachers Weiss. Dabei galt das mit der Sendereihe verbundene Interesse dem »Zusammenhang der verschiedenen Künste untereinander, dem Zusammenhang dieser Künste mit der Literatur und wiederum mit der Wissenschaft«.23 Das Interesse an einem neuartigen »Gesamtkunstwerk«, mit dem Weiss dem Fernsehpublikum vorgestellt wurde, verdeckt aber dessen existenzielle und zunehmend sozial und politisch verstandene Identitätssuche. Diese klingt schon in der Selbstbeschreibung in dem ersten Brief an Höllerer vom 5.6.1959 an: Ich komme da zum Deutschen auf dem Umweg über die fremden Sprachen die ich seit meiner Abreise aus Deutschland gesprochen habe zurück.24

Die ›fremden Sprachen‹ des Exils im Gepäck bergen eine Problematik, die weit über das Interesse Höllerers an den avantgardistischen Sprachformen und neuen Möglichkeiten eines intermedialen »Gesamtkunstwerkes«, das hier stellvertretend für die modernisierende Öffnung des literarischen Feldes angeführt sei, hinausgeht. Die Suche nach einem neuen Zugang zur deutschen Sprache betrifft die Frage des Zugangs des von Exilerfahrungen geprägten Schriftstellers zum deutschen literarischen Feld und í grundsätzlicher noch í die Frage nach dem politischen Umgang mit der Sprache, wie Weiss später in seiner Laokoon-Rede von 1965 als notwendige Vorreflexion für sein weiteres Schreiben, insbesondere der Ermittlung, deutlich machen wird. Höllerer hatte einen Sinn für die notwendige Modernisierung und Internationalisierung der deutschen Literatur, aber er hatte vermutlich keinen Sinn für die politische ›Sprengkraft‹, für den unterschwellig sich entwickelnden ›Kraftvektor‹ in der Spracharbeit dessen, den er da ins literarische Feld einführte.

23 Höllerer in der Sendung Berlin stellt vor, SFB 1961. Ein Mitschnitt der Sendung befindet sich im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg. 24 Weiss, Peter an Walter Höllerer: Brief v. 5.6.1959. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/5243.

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Begegnungen mit der Gruppe 47 und die Konfliktlinie mit Günter Grass Die Expansion und Modernisierung des »volkstümlich-moralischen« Pols des literarischen Feldes durch Angehörige der Gruppe 47 erfuhr also Gegenkräfte durch den Versuch eines Neuanschlusses an die klassischen internationalen Avantgarden. In dieser Hinsicht können Höllerer, Weiss und Enzensberger als interne Opponenten gelten í wobei sogleich betont werden muss, dass Weiss gerade nicht zum internen Kreis der Gruppe gehörte. Gleichwohl nahm er an fünf der letzten sechs Tagungen der Gruppe 47 teil:25 1962 in West-Berlin, 1963 in Saulgau, 1964 im schwedischen Sigtuna, 1965 erneut in West-Berlin und 1966 in Princeton.26 Nur beim ersten und zweiten Treffen las er vor í danach nicht mehr, obwohl seine Lesungen doch recht erfolgreich waren. Schon dieser Umstand deutet auf ein problematisches Verhältnis zur Gruppe hin, das nun punktuell ausgeleuchtet werden soll. Zum ersten Mal nahm Weiss auf Vorschlag Höllerers an einem Treffen der Gruppe 47 teil,27 als diese sich anlässlich ihrer »JubiläumsTagung« im Oktober 1962 in Berlin zusammenfand. In seiner retrospektiven Schilderung dieser Tagung zeichnen sich bereits die Bruchlinien ab, die sich im Verlauf der nächsten Jahre deutlicher ausprägen werden: Ich geriet in eine Versammlung, in der es schwirrte von Rankünen, Eifersüchten, Rivalitäten, Machtkämpfen, Kulturpolitik. Wenn Literatur beurteilt werden sollte, so geschah dies vor allem mit der Absicht, Tendenzen, Richtungsverläu-

25 Vgl. zum Folgenden und allgemein: Müssener, Helmut: »Du bist draußen gewesen.« Die unmögliche Heimkehr des exilierten Schriftstellers Peter Weiss. In: Fetscher, Justus / Lämmert, Eberhard / Schutte, Jürgen (Hg.): Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik. Würzburg 1991, S. 135-151; Kramer, Sven: Zusammenstoß in Princeton í Peter Weiss und die Gruppe 47. In: Braese, Stephan (Hg.): Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47. Berlin 1999. S. 155-174. 26 Vgl. zu den einzelnen Tagungen: Lettau, Reinhard (Hg.): Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik. Ein Handbuch. Neuwied und Berlin 1967. 27 Vgl. Richter, Hans Werner an Walter Höllerer: Brief v. 20.9.1962. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Aktenordner »Gruppe 47«, ohne Signatur.

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fe festzustellen, und dahinter standen Instanzen, die nach Marktwerten suchten. Für mich bedeutete die Einladung eine Anerkennung meiner literarischen Arbeit, ich kam mit großen Erwartungen, eigentlich zum ersten Mal mein künstlerisches Exil verlassend, in den Kreis von Kollegen tretend. Doch ich fand nicht Vertreter eines einheitlichen Interesses, nämlich an der vorbehaltlosen Diskussion unsres Handwerks, sondern eben Gruppenbildungen. Um Grass scharte sich ein Kreis. Andre sammelten sich um Enzensberger, um Walser. Mit Höllerer [...] Alfred Andersch und einigen andern stellte sich eine freundschaftliche Beziehung her, Enzensberger, der sich im Verlag für mich eingesetzt hatte, verhielt sich indessen, hier zwischen seinen Verbündeten, kühl.28

Was Weiss suchte, war ein kollegiales Arbeitsgespräch – was er antraf, war ein Konkurrenzgerangel um jeweilige Positionsvorteile in der Gruppe. Die hier geschilderten Spannungen lassen sich symptomatisch als strukturelle Spannungen innerhalb des äußerlich noch relativ homogenen, unterschwellig aber schon recht divergierenden literarischen Kräftefeldes deuten. Dem in diesem Zitat schon deutlich zu vernehmenden Gefühl der Unzugehörigkeit, das sich ausweiten und verfestigen wird, hielten aber noch bis 1963/64 Integrationsbemühungen die Waage. So war er 1964 í wie zuvor schon Richter, Rühmkorf, Grass und Höllerer í Kursleiter eines Schreibkurses am Literarischen Colloquium Berlin (LCB), an dem u.a. Niclas Born und Hubert Fichte teilnahmen.29 Auch machte man ihm das Angebot, eine Filmakademie in Berlin aufzubauen, das er aber letztendlich ausschlug und Höllerer gegenüber mit grundsätzlichen Integrationsproblemen in Berlin begründete: Die Sache ist die, Walter, ich habe hier in Berlin nie wirklich Fuß fassen können, weil die äusseren Umstände, die sich boten, immer viel zu zermürbend waren.30

28 Weiss, Peter: Notizbücher 1971-1980. Frankfurt a.M. 1981 [= NB 2], S. 730. 29 Vgl. Weiss, Peter: Notizbücher 1960-1971. Frankfurt a.M. 1982 [= NB 1], S. 201. 30 Weiss, Peter an Walter Höllerer: Undatierter Brief. In: Akademie der Künste (Hg.): Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur. Berlin 1988, S. 279-282; vgl. auch den Kommentar zu Weiss, Peter an Hans Werner Richter, Brief v. 25.11.1963. In: Richter,

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Die hier angedeuteten Probleme einer Rückkehr des Emigranten gilt es in der Perspektive einer strukturellen Unzugehörigkeit noch genauer zu betrachten. Kehren wir dazu nochmals zurück zu Weiss’ Schilderung seiner ersten Erfahrung mit der Gruppe 47 im Jahr 1962 in Berlin: Ich wurde aufgefordert, aus meinem eben abgeschlossnen Gespräch der drei Gehenden vorzulesen. Enzensberger hatte dieser Text gefallen, ich glaube, er beurteilte ihn positiv. Grass jedoch mochte ihn nicht. Er fand, der Autor verhöhne seine Figuren, mache sich lustig über sie. Er nannte den Text amoralisch, antihumanistisch.31

Offenkundig überschreitet die experimentell-avantgardistische Position, mit der Weiss auftritt, die Grenze des Legitimen nach dem Maßstab einer ›moralisch-kritischen‹ Bestimmung der nonkonformistischen Literatur der Gruppe 47, die hier dominant von Grass vertreten wird. Hinter dieser ›moralischen‹ Oppositionsstellung steht eine sich abzeichnende positionelle Konkurrenz zwischen Grass und Weiss um grundsätzlich verschiedene literarische Konzepte und Funktionen. In der längerfristigen Perspektive zeigt sich, dass dabei ein zentraler Aspekt die Frage nach der legitimen Darstellung deutscher Geschichte betrifft. So ist Weiss’ Geschichtsdarstellung in der Ästhetik des Widerstands insofern radikaler als Grass’ Angriff auf das saturierte Wirtschaftswunderdeutschland in seiner Danziger Trilogie, als er in der Perspektive eines anderen Deutschland jenseits von West- und Ostintegration schreibt, in der Perspektive eines niemals realisierten antifaschistischen Nachkriegsdeutschland.32 Diesem Deutschland jenseits von West- und Osteinbindungen entspricht ein spezifischer Stil der historischen Dokumentation, Reflexion und traumhaften Erweiterung

Hans Werner: Briefe. Hg. v. Sabine Cofalla. München 1997, S. 487; zur Problematik vgl. Müssener 1991. 31 Weiss, NB 2, S. 730. 32 Vgl. Weiss, NB 2, S. 79f., S. 688f. sowie Götze, Karl-Heinz: Abseits als Zentrum. Die »Ästhetik des Widerstandes« in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Ders. / Scherpe, Klaus R. (Hg.): Die »Ästhetik des Widerstands« lesen. Über Peter Weiss. Argument-Sonderband 75, Berlin 1981, S. 95-111, hier S. 97f.

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der Wirklichkeitswahrnehmung, den Weiss in der Ästhetik wie kein anderer deutscher Autor in dieser Zeit entwickelte. Der Ablehnung des sprachexperimentellen Gesprächs der drei Gehenden folgte Grass’ Kritik des politisierten Marat/Sade-Stücks, aus dem Weiss – begleitet von Trommelschlägen í 1963 in Saulgau vorlas.33 Die sich mit dem Marat/Sade-Stück ausprägende, international, formal-experimentell und zunehmend auch politisch-revolutionär ausgerichtete Position gerät in einen unüberbrückbaren Gegensatz zur insgesamt für die Gruppe 47 konstitutiven Trennung von Politik und Literatur als Grundlage ihres ›non-konformistischen‹ Selbstverständnisses, die später í im Kontext der Politisierung des literarischen Feldes um 68 í zu ihrem Ende beitragen wird.34 Im Konflikt zwischen Weiss und Grass, der seinen Höhepunkt in Princeton erreicht, spiegeln sich also grundsätzliche Auseinandersetzungen um die Definition der gesellschaftlichen Funktion von Literatur wider. Weiss selbst litt persönlich sehr unter solchen Anfeindungen, aber er verarbeitete sie í zwar mühsam, doch langfristig produktiv, indem er die Auseinandersetzungen in größere historische Zusammenhänge einordnete, d.h. im Falle von Grass in die lange deutsche Konfliktgeschichte zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, die zu einem zentralen Gegenstand der Ästhetik des Widerstands werden wird. In seinen Notizen übersetzte er den Konflikt mit Grass in den Gegensatz zwischen (sozialistischen) Revolutions- und sozialdemokratischen Reformvorstellungen.35 Anfang der siebziger Jahre kommt noch ein weiterer, ein kapitalismuskritischer Aspekt hinzu, wenn er Grass als »Repräsentant der Konkurrenzgesellschaft«36 bezeichnet – dies vermutlich

33 Vgl. Richter 1997, S. 487 [Kommentar zu: Weiss, Peter an Hans Werner Richter, Brief v. 25.11.1963]. 34 Vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid: Was kann Literatur und wozu schreiben? Das Ende der Gruppe 47. In: Berliner Journal für Soziologie 14 (2004), S. 207229. 35 In einer Notiz zu Goethe heißt es: »erstrebt soziale Reformen ohne Revolution (Grass) Lehnt die revolutionäre Methode, besonders die Mobilisierung der Plebejer entschieden ab« (NB 1, S. 776). Und später ausdrücklich: »Grass, von seinem bürgerlich literarischen Gesichtspunkt aus, verurteilt meine revolutionär-sozialistische Haltung [...]« (ebd., S. 850). 36 Diese Notiz findet sich nur in der späteren, digitalen Ausgabe der Notizbücher. Vgl. Weiss, Peter: Notizbuch 22 (09.09.1971-21.03.1972). In: Ders.:

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im Anschluss an die Vorwürfe, die Robert Neumann 1966 im Rahmen seiner konkret-Attacke formulierte, und die – das wird jetzt zu zeigen sein – anschließbar sind an die feldstrukturellen Hintergründe des Konflikts zwischen Weiss und Enzensberger. Der Kursbuch-Konflikt mit Hans Magnus Enzensberger 37 Die Besetzung des mit Weiss, Enzensberger, Heißenbüttel, Mon, Höllerer und vielen anderen neu aufgewerteten avantgardistischmodernistischen Pols führt Anfang der sechziger Jahre zu einer zunehmend umkämpften Positionsnahme. Enzensberger, der wesentlich dazu beitrug, die ›modernisierenden Geister‹ zu wecken, sah schnell deren Verselbständigung. Wenn Grass moralisch argumentierend die Stärkung einer experimentellen Avantgarde ablehnte, so wollte Enzensberger sie im Rahmen einer Modernisierung lenken, das heißt zu einer die Moderne fortführenden, ›avancierten‹ Dichtung umlenken. Die Position einer avancierten Poesie ist im Falle Enzensbergers nicht mit einer avantgardistisch-experimentellen Position zu verwechseln38 – im Gegenteil: Sie grenzt sich von ihr ab. So betont er schon in seinem Museum-Vorwort ausdrücklich die Abgrenzung von einer »schlechten Avantgarde«, die sich auf einen leeren Formalismus versteife »als auf eine Ideologie, mit deren Hilfe sie kaschieren möchte, daß sie nichts zu sagen« habe.39 Im Aufsatz Die Aporien der Avantgarde von 1962 wird dann die Delegitimierung der Avantgarden-

Die Notizbücher. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Jürgen Schutte in Zusammenarbeit mit Wiebke Amthor u. Jenny Willner. Digitale Bibliothek Nr. 149. Berlin 2006, S. 3889. 37 Vgl. hierzu ausführlich Tommek, Heribert: Literarisches Kapital und die Aufteilung der Welt. Ein symptomatischer Konflikt zwischen Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger. In: Amann, Wilhelm / Mein, Georg / Parr, Rolf (Hg.): Gegenwartsliteratur und Globalisierung. Konstellationen í Konzepte – Perspektiven. Heidelberg 2010, S. 41-70. 38 Vgl. Fischer, Ludwig: Der fliegende Robert. Zu Hans Magnus Enzensbergers Ambitionen und Kapriolen. In: Künzel, Christine / Schönert, Jörg (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007, S. 145-190, hier S. 165. 39 Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): Museum der modernen Poesie. Frankfurt a.M. 1980, S. 784.

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Position systematisiert: Das Ende des literarischen Reproduktionsprinzips qua Avantgarden sei laut Enzensberger auf die heutige Hegemonie des ökonomischen Marktes und der »Bewusstseins-Industrie« zurückzuführen, der »geschichtliche Wettstreit um die Nachwelt« werde so »zum kommerziellen Wettbewerb um die Mitwelt«.40 Der Avantgarde-Aufsatz geht schließlich über in eine Ausgrenzung und Delegitimierung der zeitgenössischen experimentellen Avantgarden (der ›beat generation‹ in Amerika und der ›Konkreten Dichtung‹ in Westdeutschland), in denen Enzensberger nichts als eine »willkürliche, blinde Bewegung« sieht, die nicht nur für faschistoide Kollektivierungen, sondern auch für die totale Konformität mit der kapitalistischen Bewusstseins-Industrie anfällig sei.41 Rolf Dieter Brinkmann hatte diese Diskreditierung deutlich wahrgenommen42 und Thomas Kling wird Enzensbergers Volte unmissverständlich als »AvantgardeBashing« bezeichnen.43 Enzensbergers Diskreditierung der experimentellen Avantgardeprinzipien, ihre Ausgrenzung als illegitime Literarisierungskategorien, stellt eine Positionsnahme innerhalb des Modernisierungs- und Internationalisierungsprozesses des Feldes dar: Sie dient der Abgrenzung der ›eigensinnigen‹ flexiblen Autorposition, die En-

40 Enzensberger, Hans Magnus: Aporien der Avantgarde. In: Ders.: Einzelheiten II. Poesie und Politik. Frankfurt a.M. 1984, S. 50-80, hier S. 60. Weiter heißt es: »Der Mechanismus des Marktes imitiert den verschlingenden Gang der Geschichte im Kleinen: kurzatmig, nach dem Augenmaß der Betriebswirtschaft, auf raschen Umsatz bedacht.« 41 Vgl. ebd., S. 68-73. 42 »Verständlich mag noch sein, daß 1962 noch nicht die Kontinuität der Bewegung [der amerikanischen ›beat generation‹; H.T.] hier wahrgenommen wurde, die Mitte der fünfziger Jahre in den USA begann, so daß aus eingefahrenem Denken heraus und steckengeblieben in der Befangenheit, in nationalen Räumen zu denken, mit gewohnter Skepsis H. M. Enzensberger in seinem Aufsatz ›Die Aporien der Avantgarde‹ das damalige Statement Jack Kerouacs [...] als naiv abtun konnte [...]« (Brinkmann, Rolf Dieter: Der Film in Worten. In: Ders. / Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. Reinbek bei Hamburg 1983, S. 381-399, hier S. 384). 43 Kling, Thomas: Zu den deutschsprachigen Avantgarden. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Lyrik des 20. Jahrhunderts. München 1999, S. 231-245.

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zensberger einzunehmen im Begriff steht, von anderen, als ›doktrinär‹, ›kollektivistisch‹ oder systemkonform entwerteten Bewegungen. Die Abgrenzung von konkurrierenden Avantgardepositionen deutet auf eine Umwertung des Avantgardepols in einen Pol avanciertmoderner Poesie innerhalb der Auseinandersetzung um den Anschluss an eine internationale Moderne. Diese geht mit dem Anspruch auf eine legitime Erbfolge der klassisch-modernen Literatur der ›europäischen Metropolen‹ einher í abzulesen an der Herausgabe des Museums der modernen Poesie. Das Bestreben, diesen Pol als legitimes Erbe einer internationalen avanciert-modernen Poesie zu besetzen, zeigt sich ferner an Enzensbergers Abgrenzung innerhalb des lyrischen Subfeldes, beispielsweise von dem zu ›artistisch-kurzatmigen‹ und vor allem ›zu deutschen‹ Peter Rühmkorf.44 Und das Avancieren war erfolgreich: 1963 erhielt Enzensberger als jüngster Preisträger den Georg-BüchnerPreis. Die skizzierten Spannungen stehen im Vorfeld eines symptomatischen Konflikts zwischen Weiss und Enzensberger, der nun näher betrachtet werden soll. In der zweiten Ausgabe des Kursbuches vom August 1965 í eine Ausgabe, die die Diskussion über den Unabhängigkeitskampf der Länder der so genannten »Dritten Welt« erstmals einem größeren Publikum zugänglich machte45 und später als »Anfang einer neuen Linken in der Bundesrepublik« gedeutet wurde46 í findet sich der Auslöser zu dieser unerwarteten Kontroverse: Unerwartet, konnte man doch Weiss und Enzensberger bis zu diesem Zeitpunkt eine vergleichbare Position innerhalb, beziehungsweise am Rande, der Gruppe 47 als ›junge Rebellen‹ und ›kritische Modernisierer‹ zuordnen. In dem Essay Europäische Peripherie nimmt Enzensberger eine Neuvermessung der Antagonismen der politischen Welt vor: Die Prob-

44 Vgl. Fischer 2007, S. 158f. 45 Neben Enzensbergers Aufsatz »Europäische Peripherie« enthielt das Kursbuch 2 u.a. Beiträge von Frantz Fanon (»Von der Gewalt«), Carlos Fuentes (»Rede an die Bürger der USA«) und Fidel Castro (»Rede vor den Vereinten Nationen«); vgl. dazu auch Sareika, Rüdiger: Die Dritte Welt in der westdeutschen Literatur der sechziger Jahre. Frankfurt a.M. 1973, S. 6671. 46 Hamm, Peter: Opposition í Am Beispiel H. M. Enzensberger. In: Schickel, Joachim (Hg.): Über Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a.M. 1970, S. 252-262, hier S. 254f.

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leme Europas rückten an die Peripherie, während die eigentlichen Konflikte der Welt in den Ländern der Dritten Welt ausgetragen würden. Mit dieser Neuvermessung des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie hinge die Auflösung des Antagonismus zwischen Kapitalismus und Kommunismus und die Verabschiedung der Idee vom internationalen Klassenkampf zusammen. Damit war Enzensberger einer der ersten, der in der deutschsprachigen Öffentlichkeit die These einer Verschiebung vom Ost-West- zum Nord-Süd-Konflikt vertrat47 und Positionen der Neuen Linken vorbereitete. Auf Enzensbergers Neueinteilung der Welt reagierte Peter Weiss mit einer heftigen Kritik in der 6. Ausgabe des Kursbuches von 1966, die den Vietnam-Krieg und den Kolonialismus als Themenschwerpunkte hatte. Enzensbergers strikte Trennung zwischen einer armen und einer reichen Welt als neue ›Achse der Weltpolitik‹ ist für Weiss eine imaginäre, oder genauer: eine von den Reichen gemachte, die ihren Interessen diene. Die reale Trennungslinie verlaufe stattdessen weiterhin zwischen den Klassen und den »verschiedenartigen Auffassungen von der gesellschaftlichen Ordnung«.48 Daraus folgt für ihn, dass westliche intellektuelle Publizisten wie Enzensberger über diese Verflechtungen besser aufklären und im »sozialen Kampf« Stellung beziehen sollten.49 Es fiel nun Enzensberger nicht schwer, diese international ausgerichtete Solidaritätserklärung und Aufforderung zur Stellungnahme in seiner Replik zu parieren, mehr noch, sie als doktrinär und sozialromantisch zu entwerten:

47 Ausgangspunkt ist für Enzensberger die Annahme einer Konvergenz, nach der zwischen der Sowjetunion, den USA und Europa größere Übereinstimmung herrsche als zwischen den hochentwickelten sozialistischen Ländern wie China (= 2. Welt) und den ehemaligen Kolonien der Dritten Welt. Vgl. Sareika 1973, S. 68f. 48 Weiss, Peter: Enzensbergers Illusionen. In: Kursbuch 6 (1966), S. 165-170, hier S. 167. 49 »Im Grunde ist es das gleiche, was dort hinten bei den Unbemittelten und was hier bei uns, die wir uns einen gewissen Lebensstandard angeeignet haben, geschieht. Wir befinden uns in dem gleichen sozialen Kampf [...]« (ebd.).

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Da Peter Weiss und andere mich auffordern, Farbe zu bekennen, so erwidere ich: Die diversen Seelen in ihrer und in meiner Brust sind weltpolitisch nicht von Interesse. Die Moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idealist. Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments. Revolutionäres Geschwätz ist mir verhaßt. Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit.50

Diese stakkatoartigen Abschlusssätze seiner Replik, die mit den rhetorischen Mitteln der ›confessio‹, ›argumentatio‹ und ›dubitatio‹ arbeiten51, weisen nicht nur seinen universalistischen Kontrahenten in die Schranken, sie weisen auch in die Zukunft, da sie ein flexibilisiertes Selbstverständnis eines Intellektuellen entwerfen, an dem sich in den siebziger Jahren eine neue kulturelle Linke und in den achtziger und neunziger Jahren auch zunehmend liberale und neoliberale Intellektuelle orientieren konnten.52 Der politische Gegensatz zwischen einer alten und einer neuen Linken lässt sich feldstrukturell umdeuten zu einem Konflikt zwischen einer vermeintlich doktrinären, weil eine Stellungnahme einfordernden, und einer flexibilisierten Positionsnahme. Und diesen Gegensatz kann man seinerseits in unterschiedliche Verhältnisse zur Sprache und zu Schreibverfahren übersetzen, was hier nur angedeutet werden kann: Im Gegensatz zu Enzensbergers rhetorisch-metonymisch verfahrenden, aber an die Metapher und an das (negative) Subjekt rückgebundenen Sprache, ist Weiss’ Sprache fundamental von einem Identitätsverlust geprägt. Spätestens mit dem Laokoon-Aufsatz und dem Ermittlungsstück von 1965 wird bei Weiss ein Konzept dominant, das die Sprache als ein Instrument bestimmt, das die Wörter »als topographische Werkzeuge« benutzt, um Unrechtsverhältnisse politisch zu lokali-

50 Enzensberger, Hans Magnus: Peter Weiss und andere. In: Kursbuch 6 (1966), S. 171-176, hier S. 176. 51 Vgl. Hinderer, Walter: Ecce poeta rhetor: Vorgreifliche Bemerkungen über H. M. Enzensbergers Poesie und Prosa. In: Grimm, Reinhold (Hg.): Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a.M. 1984, S. 189-203, hier S. 202. 52 Siehe hierzu insbesondere die Studie von Joch, Markus: Brüderkämpfe: Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger. Heidelberg 2000, hier insbesondere S. 384-413 (»Enzensbergers Distinktionsgewinne«).

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sieren und beim Namen zu nennen.53 Dieses Konzept der Sprache als Instrument eines Deterritorialisierten strebt nach einer politischen und kulturellen Reterritorialisierung. Sie zielt auf eine legitime (politischkulturelle) Referenz, die aber de facto durch Distanz, durch die Gegenwart von Unzugehörigkeit geprägt ist. Die distanzierte Reterritorialisierung der Sprache lehnt Wie-Vergleiche ab und strebt stattdessen zur größtmöglichen Intensität einer Denotation.54 Von hier aus führt dann ein Weg zur literarischen Sprache der politischen Dokumentarliteratur. Weiss sah einen grundlegenden Unterschied zu Autoren wie Grass, Frisch oder anderen darin, dass ihr Schreiben von einer sprachlichen ›Heimat‹ ausgehen kann, die sie mit bestimmten Vorrechten ausstattet. Auch Enzensbergers Sprache geht von einem territorialisierten Zustand, also von Metaphern aus, aber sie strebt nach einer metonymisch-rhetorischen Entgrenzung, wie man z. B. an dem Gedicht Schaum zeigen kann.55 Damit zielt er auf einen eigentlich ›unmöglichen Ort‹ im Feld der arrivierten Avantgarde am ästhetischen Pol, auf eine í paradox ausgedrückt í flexibilisierte Machtstellung, d.h. auf eine internationalisierte Position mit ›Territorialansprüchen‹ in den oberen, symbolisch dominanten Regionen des bundesdeutschen litera-

53 »Die Wörter waren Formeln in einem Übereinkommen, an dem er teilnahm. Es verband ihn nichts mit diesen Wörtern als der Wunsch, sie als topographische Werkzeuge zu benutzen. Die Wörter hatten für ihn keine Geschichte. Die Wörter waren mit keinen Empfindungen beladen. Sie waren nur Wegzeichen. Es konnten Lagebestimmungen mit ihnen vorgenommen werden. Er befand sich mit ihnen in einer äußerst kargen ausgebrannten Gegend«. Weiss, Peter: Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache. In: Ders.: Rapporte. Frankfurt a.M. 1968, S. 170-187, hier S. 183. 54 Weiss notierte: »Dinge genau so zu beschreiben, wie sie sind. Das Gewöhnliche, Alltägliche, Abgegriffene. Ihnen keine andere Bedeutung zumessen als die ihnen eigene. Nichts Überhöhtes, nichts Fremdes, Überraschendes« (Weiss, NB 1, S. 42); »niemals Vergleiche wie: es sieht aus wie . . . sondern nur wiedergeben, wie es ist und was es ist, für sich selbst« (ebd., S. 98). 55 ›Schaum‹ fungiert im gleichnamigen Gedicht als unterschiedlich akzentuierter Bildspender, der sich auf verschiedene Bildempfänger der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Westdeutschlands) in der Nachkriegszeit prädikativ bezieht.

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rischen Feldes. Dagegen geht Weiss’ Sprachbewegung vom Ortlosen aus und sucht nach der Wieder- oder Neuherstellung einer Denotation des von den Herrschenden, ihren Diskursen und Praktiken Ausgeschlossenen, wie sich an den Stücken des Projekts einer radikal revidierten »Divina Comedia«, an der Ermittlung (1964/65) wie auch an den Stücken zum Befreiungskampf der Dritten Welt, am Gesang vom lusitanischen Popanz (1967) und am Viet Nam-Diskurs (1968) ablesen lässt. Feldanalytisch kann das revidierte ›Purgatorio‹ der Ort der permanenten, perennierenden Zweifel und Schwierigkeiten der Entscheidung als Ort und zugleich Un-Ort der Autorposition von Peter Weiss gedeutet werden. Dieser Ort der ›Gegenwart von Unzugehörigkeit‹ lässt sich übersetzen als eine strukturell zunehmend unmögliche Position. In dieser Perspektive steht das Streben nach Reterritorialisierung für den Versuch, der feldstrukturellen Ausgrenzung oder Entwertung von Positionen entgegenzutreten: Bei Peter Weiss geht es konkret um die Aneignung und Aufrechterhaltung seines literarischen Kapitals, das verbunden ist mit einer internationalen, politisch und ästhetisch engagierten, kulturrevolutionären avantgardistischen Position. Die Ausgrenzung in Princeton Das Princetoner Treffen der Gruppe 47 wird üblicherweise mit Handkes Auftreten und seinem Vorwurf einer ›Beschreibungsimpotenz‹ und allgemein mit dem Anfang vom Ende der Gruppe 47 in Verbindung gebracht. Princeton steht aber auch für den Umschlag einer latenten in eine manifeste Ausgrenzung der politischen wie auch literarischen Position von Weiss, der sich öffentlich während eines studentischen Teach-In gegen die Vietnam-Politik der USA gewandt hatte. Diejenigen, die Weiss direkt maßregelten und sein Verhalten als ›unmögliche Position‹ ausgrenzten, sind Richter und erneut Grass. Letzterer ergänzte die Maßregelung mit einer Schmährede, die Grass anlässlich des Schriftstellersymposiums über das Thema »Der Schriftsteller in der Wohlstandsgesellschaft« im Anschluss an die Tagung hielt:56 Während Weiss in der bekenntnishaften Rede I come out of my hiding place seinen persönlichen Weg zum Sozialismus und die Notwendigkeit einer

56 Vgl. den Kommentar von Sabine Cofalla zu Fried, Erich an Hans Werner Richter: Brief v. 1.7.1966. In: Richter 1997, S. 613f.

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Positionsnahme in einer geteilten Welt erläuterte,57 formulierte Grass, der symbolisch frisch gestärkte Büchner-Preisträger von 1965, in seiner Rede Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter Berücksichtigung nichtvorhandener Höfe,58 nochmals in verschärfter Form das für die Gruppe 47 konstitutive Prinzip der Trennung von Politik und Literatur und polemisierte gegen Weiss. Bezeichnenderweise fand Weiss in einem anderen Exilschriftsteller einen gruppeninternen und öffentlichen Verteidiger, nämlich in Erich Fried, der zeitweilig auch mit Enzensberger und langfristig mit Grass in Konflikt geriet:59 So schrieb Fried im Kontext der Krise der Gruppe 47 nach Princeton und den konkret-Attacken (s.u.) einen empörten Brief an Richter über Grass’ Verhalten in Princeton und überhaupt über dessen Machtstreben innerhalb der Gruppe.60 Das an Höllerer geschickte Gedicht Frieds gegen Grass und zur Verteidigung von Weiss, Grass-

57 Abgedruckt in: Canaris, Volker (Hg.): Über Peter Weiss. Frankfurt a.M. 1970, S. 9-14. 58 Akzente 13 (1966), H. 3, S. 194-199. 59 Vgl. Kaukoreit, Volker: Vom ›Heimkehrer‹ zum ›Palastrebellen‹? – Ein Protokoll zu »Erich Fried und die Gruppe 47« (1963-1967). In: Braese 1999, S. 115-154. 60 »Ich fand diese Rede [von Grass in Princeton; H.T.] so scheusslich, einen so unverschämten Mißbrauch der Fähigkeit, schillernde Wortgebilde aufzurichten; ich fand die kaum verhüllte Beweihräucherung des eigenen Tuns, selbstgefällig genau auf Maß zugeschnitten; so ermüdend, namentlich nach dem berühmten Selbstlob anlässlich des Büchnerpreises, dass einem entweder die Spucke wegbleibt oder dass man aus dem Spucken gar nicht mehr herauskommt. Ich verstehe nicht, wie ein intelligenter, begabter, erfolgreicher Mann sich zu so einem Angriff auf Peter Weiss hinreissen lassen kann, noch dazu in Amerika, in englischer Sprache; einem Angriff, der dadurch nicht weniger arg wird, dass der Redner, glatt und appetitlich wie einer seiner Aale, versucht, sich jedem Festnageln auf einen Punkt, auch auf die Tatsache, dass er einen Angriff vom Stapel lässt, zu entziehen. Bis ins kleinste Detail voller Mißgunst, erwähnt Grass als bedeutendes Werk nicht etwa den Marat, nicht etwa das Gespräch der drei Gehenden (das ich für besser halte als alle bisherige Grassprosa), sondern den Schatten des Körpers des Kutschers«. (Fried, Erich an Hans Werner Richter: Brief v. 1.7.1966. In: Richter 1997, S. 607-612, hier S. 607f).

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Grässlichkeiten, erschien dann bezeichnenderweise nicht in den Akzenten, sondern in der Zeitschrift Kürbiskern.61 Weiss selbst notierte zu den Vorfällen in Princeton: Es hieß, dass wir als »deutsche Schriftsteller« nicht das Recht hätten, uns in amerikanische Angelegenheiten einzumischen. Ich sagte, dass ich nicht als Deutscher, auch nicht als Schwede, sondern als Antiimperialist zu der Veranstaltung gehen würde […]. Auch Kritik an Deutschland, sagte ich, hielte ich nicht zurück, weil ich in Schweden ansässig sei. Und dann kam es: du kannst dich über Deutschland nie äußern, du bist draußen gewesen, in der Sicherheit der Emigration, wir waren drinnen, wir haben am Krieg teilgenommen í Dies war es, was ich immer wieder gespürt hatte, wenn ich in Deutschland war, und was oft im Ungewissen blieb: dieser einmal vollzogne, definitiv gewordne Bruch í62

Der »Bruch«, von dem hier die Rede ist, meint den Bruch mit den exilierten Schriftstellern, die – wie Weiss und Fried – nur ansatzweise ins deutsche literarische Feld integriert und – bei zunehmender Politisierung – von Richter und Grass wieder ausgegrenzt wurden. Was Enzensberger angeht, so beteiligte er sich zwar am Teach-In gegen die amerikanische Intervention in Vietnam63, aber dass er Weiss explizit in dieser Sache in Princeton oder danach verteidigte, ist nicht bekannt. Vermutlich wird er geschwiegen haben. Schließlich gibt es von ihm auch keine Stellungnahme, die mit Weiss’ I come out of my hiding place vergleichbar wäre. Wie gezeigt, ist diese ›bekenntnishafte‹ Stellungnahme habituell für Enzensberger und seine zunehmend flexibilisierte Autorposition ›unmöglich‹.

61 Das Gedicht »Grass-Grässlichkeiten oder Man kann den Grass wachsen hören (zum Angriff auf Peter Weiss in der Princeton-Rede von Günter Grass ›Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren‹ – worin der Redner fragt ›Ist er der Rede wert?‹)« erschien zusammen mit Frieds Princeton-Rede in: Kürbiskern (1966), H. 4, S. 98-107. 62 Weiss, NB 2, S. 734. 63 Vgl. Weiss, NB 1, S. 491 (Eintrag vom 24.4.1966): »Viet-Nam Sit-In in Princeton (während des Gruppe 47-Treffens) / Neben mir nimmt nur Lettau teil. / Richter u Grass raten scharf ab.« Zeitgenössische Zeitungsberichte nennen dagegen auch Enzensberger als Teilnehmer. Vermutlich gab es mehrere Teach- oder Sit-Ins.

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Die konkret-Attacken Neumanns gegen die Gruppe 47 und die ausbleibende Stellungnahme von Weiss Der letzte symptomatische Konflikt, der abschließend kurz angedeutet werden soll, und uns wieder zu Walter Höllerer zurückführt, betrifft die Attacken gegen die Gruppe 47 im unmittelbaren Anschluss an die Princetoner Tagung. Sie stammten u.a. aus der Feder Robert Neumanns, eines weiteren Exilschriftstellers. Neumann veröffentlichte seine Polemik in der Mai-Ausgabe 1966 der Zeitschrift konkret, die sich bekanntlich zunehmend zum Sprachrohr einer radikalen Linken entwickelte. Die Angriffe erschienen unter der Ankündigung: Bluff mit Spesen – Gruppe 47 in Berlin.64 Es geht hier um die Gruppe 47 allgemein, aber auch um die besonderen Praktiken in West-Berlin, wie das reißerische, Boulevard-Blätter parodierende Editorial-Wort von der »Berliner Literatur-Mafia« ankündigt. Im Zentrum der Kritik steht zum einen die Überschätzung der Gruppe durch sie selbst und die von ihr manipulierte Öffentlichkeit. In den kritischen Fokus gerät der ›Stunde Null‹-Mythos als letztlich exklusive Gründungsideologie der Gruppe 47, mit der insbesondere die Werke der Exilliteratur wirkungsvoll marginalisiert wurden. Die zweite zentrale Kritik betrifft die Transformation einer Autorenwerkstatt in eine »Literaturbörse«: Neumann spricht die Rolle der Ford Foundation und des Berliner Senats an, die darin bestehe, bekannte und unbekannte Autoren über »eine Monatsrente« an Berlin zu binden, um hier ein kulturelles »Auslagenfenster gegenüber dem Osten« zu errichten. Darauf folgt der Vorwurf eines unpolitischen Konformismus des Berliner literarischen Betriebs. Als Kardinalbeispiel führt Neumann Höllerer an, »ein Galoppin der literarischen Börse, ein flinker Mann, feinnervig beim Aufspüren von Subventionen wie ein Rutengänger«.65 Haltbar an diesen Vorwürfen und relevant für die Entwicklung des literarischen Feldes ist die Durchsetzung einer Äm-

64 Neumann, Robert: Bluff mit Spesen. Gruppe 47 in Berlin. In: Konkret (1966), H. 5, S. 34-39. 65 Ebd., S. 35; zit. n. Kämper-van den Boogaart, Michael: »Und einmal muß es gesagt werden ...« Der Autor und Germanist Walter Höllerer im Dienste der Gruppe 47. Ein Vorfall aus dem Jahr 1966. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), H. 1, S. 108-127, hier S. 118.

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terhäufung66, d.h. die neuartige Vernetzung des literarischen Feldes mit dem politischen, wirtschaftlichen und massenmedialen Feld, für die Höllerers Wirken symptomatisch ist. Höllerer reagierte auf die Angriffe Neumanns mit einem Sonderheft der Sprache im technischen Zeitalter, das sich mit grundsätzlichen Aspekten der Schmähschrift auseinandersetzen und eine Metaperspektive gegenüber dem Tagesgezänk einnehmen wollte. So enthielt das Sonderheft Beiträge zu Kunst und Elend der Schmährede (unter anderem von Höllerer selbst) und eine Glosse zur politischen ›Instinktlosigkeit‹ der Intellektuellen der »Re-Emigration«.67 Im Vorfeld bat Höllerer auch Weiss inständig um einen Beitrag,68 der jedoch dieser Bitte nicht mehr nachkam. Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen und Politisierung war er für die grundlegenden Kritikpunkte, die Neumann gegen die Gruppe 47, die deutschen literarischen Verhältnisse allgemein und gegen Höllerer konkret richtete, sensibilisiert. Aus Notizbucheinträgen, die bereits vom Frühjahr 1964 datieren, kann man ersehen, dass Weiss wenn nicht ausdrücklich, so doch stillschweigend die Kritik gegen die Professionalisierung des literarischen Feldes im Sinne seiner Kapitalisierung und markt- und klientelförmigen Aufteilung teilte: Künstler als Markenartikel hochgespielt – / verbraucht – / Überfülle der Geschäfte – Übersättigung – Überfluss (Gegensatz Armut) / Die neue Art: durch Erfolg zugrunde richten (früher wars durch Misserfolg) / Typ Höllerer

Col-

66 Höllerer hatte inne: einen Lehrstuhl an der Technischen Universität, die universitäre Institutsleitung, die Geschäftsführung des LCB, eine Abteilungsleitung in der Akademie der Künste, diverse Herausgeberfunktionen, Herausgeberschaft für das 3. Programm von NDR und SFB etc. Vgl. auch den Beitrag von Michael Peter Hehl in diesem Band. 67 Höllerer, Walter: Fikten, Fakten oder: Über die Kunst, daneben zu treffen. In: Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 20 (1966), S. 279-308 sowie Handt, Friedrich [d. i. Walter Höllerer]: Vom Elend der Metapher. In: Ebd., S. 309-318. 68 Vgl. Höllerer, Walter an Peter Weiss: Brief v. 27.7.1966. In: Nr. 517.

PWA,

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loquium / so viel wie möglich an ihm zu verdienen – ihm selbst so wenig wie möglich zu geben

Managerprinzip 69

Der Ford-Foundation, mit deren Hilfe das Literarische Colloquium Berlin (LCB) finanziert wurde, halten Kritiker allgemein ihre Abhängigkeit von der CIA und ihr kulturpolitisches Ziel vor, im Kalten Krieg sozialdemokratisch eingestellte Intellektuelle zu fördern und sie gegen den Kommunismus in Stellung zu bringen.70 Nach 1965/66, nach den 10 Arbeitspunkten eines Schriftstellers in einer geteilten Welt und mit seinem zunehmenden politischen Engagement gegen den VietnamKrieg, ist Weiss politisch für die Gruppe 47, für Höllerer, die Akzente, das LCB und auch für den Suhrkamp-Verlag eigentlich nicht mehr tragbar. Da sich aber das internationale literarische und intellektuelle Feld in dieser Zeit politisiert, kann Weiss für kurze Zeit, d.h. von 1964 bis 1965, vom Marat/Sade-Stück bis zu den Ermittlungen, literarisch erfolgreich die von ihm angestrebte internationale Autorposition beziehen. Im politisierten intellektuellen Feld verlängert sich diese Möglichkeit durch sein Engagement in der Vietnamkriegs- und DritteWelt-Länder-Problematik bis 1968. Im Konflikt mit der APO zeigt sich aber erneut die strukturelle Unzugehörigkeit, die darin besteht, dass die Konzeption seiner Werke gegen eine ›einfache Politisierung‹ der Literatur ausgerichtet ist.71 Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang auch die Haltung Herbert Marcuses. Er polemisierte gegen Weiss, so hält dieser in seinem autobiographischen Text Rekonvales-

69 Weiss, Peter: Notizbuch 6 (27.04.1964-12.07.1964). In: Weiss 2006, S. 1325f [= S. 101, Herv. v. H.T.]. 70 Vgl. Petras, James: The Ford Foundation and the CIA: A documented case of philanthropic collaboration with the Secret Police [2001]. [URL=] www.petras.lahaine.org/?p=87; abgerufen am 27.9.2010; vgl. auch die Notizbücher v. Peter Weiss: »beim Tod Gombrowitz 69 – wie recht er hatte Colloquium, Fremdheit usw. usw.

diese Einladungen von Ford – Höllerer

die ganze Bln Zeit« (Notizbuch 47, 11.09.1980-25.06.1981. In:

Weiss 2006, S. 10291 [= S. 16]). 71 Vgl. Rector, Martin: Zur Kritik der einfachen Politisierung. Die »Ästhetik des Widerstands« als Nach-68-Roman. In: Hofmann, Michael (Hg.): Literatur, Ästhetik, Geschichte. Neue Zugänge zu Peter Weiss. St. Ingbert 1992, S. 99-114; vgl. auch Weiss’ Eintrag in das Notizbuch 1 (Weiss, NB 1, S. 607).

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zenz fest, »weil ich über Viet Nam schrieb, anstatt mit der Maschinenpistole in Indochina den Imperialismus zu bekämpfen«.72 Enzensberger, der sich zeitweilig intellektuell mit der GuerillaRolle eines Che Guevara identifizierte,73 nähert sich dagegen in der Zeit um 1968ff., vor allem im Kursbuch 15 (1968)-Beitrag zum ›Tod der Literatur‹ und in seinem Dokumentarstück Das Verhör von Habana (1970), der Position der APO an. Für die feldstrukturelle Entwicklung ist aber seine langfristige Ausbildung einer flexibilisierten Autorposition wichtiger. Diese zeigte sich schon in den frühen sechziger Jahren, ist kompatibel mit der zeitweilig eingenommenen ›anarchistischen Guerilla‹-Rolle, setzte sich spätestens Mitte der siebziger Jahre mit dem Untergang der Titanic fort und wurde zunehmend dominant. Die von Enzensberger eingenommene Position im Feld der arrivierten Avantgarde zwischen ›Häresie‹ und ›Orthodoxie‹, zwischen ›Internationalisierung‹ und ›nationaler Rückbindung‹, bezeichnet in Bourdieus literarischen Feldmodell einen ›unmöglichen Ort‹. Dieser ›Unort‹ des literarischen Feldes ist aber durch seine kulturelle und ökonomische Transformierung möglich geworden. Die Transformation bedeutet eine Professionalisierung und Vernetzung mit dem ökonomischen, politischen und massenmedialen Feld, für die auch Höllerers erfolgreiches Wirken stellvertretend zu nennen ist. Wenn Höllerer am Anfang der Entstehung eines neuen ›Managment-Typs‹ des deutschen literarischen Feldes steht, so führt Enzensberger diese Entwicklung durch die Ausbildung einer flexibilisierten Autorposition mit spezifischer Selbstlegitimation qua ›Eigensinn‹ weiter. Dieser ›Eigensinn‹ einer Autorposition ist strukturell gestützt und trägt wechselseitig zur Ausbildung eines pluralistischen, flexibel-normalistischen und ökonomisierten normalrange-Mittelbereichs im literarischen Feld bei.74

72 Weiss, Peter: Rekonvaleszenz. Frankfurt a.M. 1991, S. 77. 73 Vgl. Barbey, Rainer: Zwischen Empedokles, Don Quijote und Jesus Christus. Ernesto Che Guevara in Texten von Peter Weiss, Volker Braun und Hans Magnus Enzensberger. In: Weimarer Beiträge, 54 (2008), H. 2, S. 201-211. 74 Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen 1997. Link führt Enzensberger als einen Kronzeugen innerhalb der Entwicklung eines flexiblen Normalismus an (vgl. ebd., S. 34-49).

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Weiss dagegen bleibt bei dieser strukturellen Entwicklung gleichermaßen ›auf der Strecke‹: Für ihn wird sich der Kampf um legitime Teilhabe zu einer das weitere Leben und Werk beherrschenden Kraftanstrengung entwickeln. Die Ästhetik des Widerstands kann in dieser Hinsicht verstanden werden als Ausdruck des Versuchs eines Widerstands gegen die Entwicklung der Aufteilung der verschiedenen sozialen Welten: der politischen Welt (die Verschiebung der Wahrnehmung der politischen Antagonismen: Kapitalismus vs. Sozialismus), der ökonomischen Welt (die Integration der Kulturkritik in den »neuen Geist des Kapitalismus«75), der intellektuellen Welt (die Ausgrenzung der Sozialkritik; der »totale Intellektuelle« Sartre wird strukturell unmöglich bzw. die Rolle des engagierten Intellektuellen wird vergesellschaftlicht, wie es Enzensberger treffend zum Ausdruck bringen wird: »Wir haben Böll verloren. Aber dafür haben wir Amnesty und Greenpeace«76) und schließlich als Widerstand gegen die ökonomisierte Pluralisierung und Flexibilisierung des literarischen Feldes im engeren Sinne.

75 Vgl. Boltanski, Luc / Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2006 sowie Tommek 2010. 76 Enzensberger, Hans Magnus: Das empfindliche Ungeheuer. Eine Wahlkampf-Unterhaltung aus dem Jahre 1987 mit Hellmuth Karasek. In: Ders.: Mittelmaß und Wahn. Frankfurt a.M. 1991, S. 227-244, hier S. 239.

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Q UELLEN

UND

L ITERATUR

Barbey, Rainer: Zwischen Empedokles, Don Quijote und Jesus Christus. Ernesto Che Guevara in Texten von Peter Weiss, Volker Braun und Hans Magnus Enzensberger. In: Weimarer Beiträge, 54.2 (2008), S. 201-211. Bender, Hans / Höllerer ,Walter: Redaktionskorrespondenz Akzente. In: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg, Bestandssignatur: 01AK. Boltanski, Luc / Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2006. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M. 1999. Brinkmann, Rolf Dieter: Der Film in Worten, in: Ders. / Rygulla, RalfRainer (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. Reinbek 1983, S. 381-399. Canaris, Volker (Hg.): Über Peter Weiss. Frankfurt a.M. 1970. Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): Museum der modernen Poesie. Frankfurt a.M. 1980. Enzensberger, Hans Magnus: Aporien der Avantgarde. In: Ders.: Einzelheiten II. Poesie und Politik. Frankfurt a.M. 1984, S. 50-80. Enzensberger, Hans Magnus: Das empfindliche Ungeheuer. Eine Wahlkampf-Unterhaltung aus dem Jahre 1987 mit Hellmuth Karasek. In: Ders.: Mittelmaß und Wahn. Frankfurt a.M. 1991, S. 227244. Enzensberger, Hans Magnus: Peter Weiss und andere. In: Kursbuch 6 (1966), S. 171-176. Fischer, Ludwig: Der fliegende Robert. Zu Hans Magnus Enzensbergers Ambitionen und Kapriolen. In: Christine Künzel / Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007, S. 145-190. Fried, Erich: Grass-Grässlichkeiten oder Man kann den Grass wachsen hören. In: Kürbiskern, 1966, H. 4, S. 98-107. Gerlach, Rainer: Die Bedeutung des Suhrkamp Verlags für das Werk von Peter Weiss. St. Ingbert 2005. Gilcher-Holtey, Ingrid: Was kann Literatur und wozu schreiben? Das Ende der Gruppe 47. In: Berliner Journal für Soziologie 14 (2004), S. 207-229. Götze, Karl-Heinz: Abseits als Zentrum. Die »Ästhetik des Widerstandes« in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Ders. / Klaus R.

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Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen 1997. Lorenz, Matthias N. / Marizio Pirro (Hg.): Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten der 1950er Jahre. Bielefeld 2011. Mon, Franz (Hg.): movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur. In Zusammenarbeit mit Walter Höllerer und Manfred de la Motte. Wiesbaden 1960. Müssener, Helmut: »Du bist draußen gewesen.« Die unmögliche Heimkehr des exilierten Schriftstellers Peter Weiss. In: Justus Fetscher / Eberhard Lämmert / Jürgen Schutte (Hg.): Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik. Würzburg 1991, S. 135151. Neumann, Robert: Bluff mit Spesen. Gruppe 47 in Berlin. In: konkret (1966), H. 5, S. 34-39. Petras, James: The Ford Foundation and the CIA: A documented case of philanthropic collaboration with the Secret Police [2001]. [URL=] http://www.petras.lahaine.org/?p=87, eingesehen am 27.9.2010. Rector, Martin: Zur Kritik der einfachen Politisierung. Die »Ästhetik des Widerstands« als Nach-68-Roman. In: Hofmann, Michael (Hg.): Literatur, Ästhetik, Geschichte. Neue Zugänge zu Peter Weiss. St. Ingbert 1992, S. 99-114. Richter, Hans Werner: Briefe. Hg. v. Sabine Cofalla. München 1997. Sapiro, Gisèle: Das französische literarische Feld: Struktur, Dynamik und Formen der Politisierung. In: Berliner Journal für Soziologie, H. 2 2004, S. 157-171. Sareika, Rüdiger: Die Dritte Welt in der westdeutschen Literatur der sechziger Jahre. Frankfurt a.M. 1973. Tommek, Heribert: Literarisches Kapital und die Aufteilung der Welt. Ein symptomatischer Konflikt zwischen Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger. In: Wilhelm Amann / Georg Mein / Rolf Parr (Hg.): Gegenwartsliteratur und Globalisierung. Konstellationen í Konzepte – Perspektiven. Heidelberg 2010, S. 41-70. Weiß, Christoph: Die Ermittlung. In: Rector, Martin (Hg.): Peter Weiss’ Dramen. Neue Interpretationen. Opladen 1999, S. 108-154. Weiss, Peter: Aus dem Pariser Journal. In: Akzente 1964, H. 5/6, S. 499-504.

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Berliner Netzwerke Walter Höllerer, die Gruppe 47 und die Gründung des Literarischen Colloquiums Berlin M ICHAEL P ETER H EHL

Einleitung Die Liste der von Walter Höllerer erfolgreich durchgeführten Projekte ist umfangreich. Anfang der 1950er Jahre hat er in Gesprächen mit Carl Hanser und Herbert G. Göpfert die Idee einer progressiven, jungen Literaturzeitschrift entwickelt, die unter dem Titel Akzente bis heute existiert. 1961 gründete er eine weitere Zeitschrift, die heute ebenfalls noch erscheinende Sprache im technischen Zeitalter. Zwischenzeitlich hatte er sich bei Kurt May habilitiert und wurde an die Technische Universität Berlin berufen. Von 1956 bis 1965 war er (Mit-)Herausgeber von insgesamt sechs einschlägigen Anthologien. Am Berliner Wannsee machte er eine Villa zum Hauptsitz des von ihm gegründeten Literarischen Colloquiums. Darüber hinaus gehörte er zu den ersten, die Literaturlesungen ins Fernsehen brachten. Er vermittelte Stipendien an Ingeborg Bachmann, Peter Weiss, Hubert Fichte und viele andere. Im Rückblick wird er gerne als der erste moderne »Literaturmanager« gehandelt.1

1

Vgl. Böttiger, Helmut: Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs. Ausstellungsbuch unter Mitarbeit von Lutz Dittrich. Berlin 2005, S. 7.

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Schon Zeitgenossen haben sich gefragt, wie es Walter Höllerer gelingt, sich derart produktiv in unterschiedlichen Kontexten zu bewegen. Manche haben in ihm einfach eine Art ›Zirkusdirektor‹ und ›Zampano‹ gesehen,2 andere haben seinen Umgang mit Institutionen bewundert. Peter O. Chotjewitz beschreibt Höllerers Gewandtheit im Umgang mit Institutionen und Mitarbeitern in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1966 beispielsweise folgendermaßen: Es ist tatsächlich bewundernswert, wie Höllerer seine Ämter, Funktionen und persönlichen Beziehungen und die seiner Mitarbeiter, Freunde und Schüler als Klaviatur handhabt: weil Zusammenarbeit praktischer ist, als alles alleine zu machen, und weil sie notwendig ist, um mit Hilfe der Zusammensetzung verschiedener Etats die Kosten einer Veranstaltung zu decken.3

Auch Hans Werner Richter betont, dass Höllerer über ein besonderes kommunikatives Geschick verfüge. In seinem Erinnerungsbuch Das Etablissement der Schmetterlinge (1986) ist die Rede von »einer Art Euphorie«, die Höllerer bei Behörden auslöse: Er besaß sowas wie einen Behörden-Sex-Appeal, ja, es kam mir manchmal so vor, als seien sie ihm ausgeliefert. Er erreichte, was er wollte, ob es sich nun um das Literarische Colloquium Berlin oder um das Literaturarchiv SulzbachRosenberg handelte. Wenn es sowas wie einen Amtsschimmel geben sollte, dann muß der jedesmal bei Höllerers Anblick gewiehert haben. Es war wohl nicht nur sein grandioses Lachen, bei dem man vor ihm in die Knie ging mit mit dem er mich schon bei der ersten Begegnung für sich gewonnen hatte, sondern eher so etwas wie eine Art Charme, ein intellektueller Charme, dem Leute, die fest auf ihren Amtssesseln saßen, nicht zu widerstehen wagten.4

2

Vgl. ebd., S. 8.

3

Chotjewitz, Peter O.: Berliner Literaturwerkstatt e.V. Walter Höllerer und sein ›Literarisches Colloquium‹. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 270 v. 11.11.1966.

4

Richter, Hans Werner: Das Lachen der Oberpfalz. Walter Höllerer. In: Ders.: Im Etablissement der Schmetterlinge. 21 Portraits aus der Gruppe 47. Mit Photos von Renate v. Mangoldt. Berlin: Wagenbach 2004 [EA 1986], S. 141-148, hier S. 146 f.

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Etwas polemischer äußert sich der Exilautor Robert Neumann, ehemals Ehrenpräsident des österreichischen PEN-Clubs, in einem konkret-Artikel von 1966: Er ist ein ›Adabei‹, ein Überalldabei, Schnittlauch auf allen literarischen Suppen, ein Gallopin der literarischen Börse, ein flinker Mann, feinnervig beim Aufspüren von Subventionen wie ein Rutengänger.5

Diese Einschätzungen beschreiben – mal mehr, mal weniger wohlwollend – eine für Walter Höllerer typische Form der sozialen Praxis, die Integrationseffekte zwischen ansonsten klar voneinander unterscheidbaren gesellschaftlichen Teilfeldern erzeugt.6 Die Virtuosität beim Spielen der sozialen ›Klaviatur‹ und der ›Sex-Appeal‹ bei der Antragsstellung sind jedoch nicht allein dafür verantwortlich, dass Veranstaltungen wie etwa die Lesereihe Literatur im technischen Zeitalter durchgeführt werden konnten. Entscheidend ist, dass Walter Höllerer sich, bei allem kommunikativen Geschick, in Netzwerken bewegte, die Verbindungen zwischen Medien, Literatur, Politik und Verwaltung herstellten. Für moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaften ist es typisch und notwendig, dass sich Schnittstellen zwischen einzelnen Funktionssystemen wie Kunst, Ökonomie oder Politik herausbilden. Diese können sich institutionalisieren und organisieren dann gegenseitige Abstimmungen zwischen verschiedenen Bereichen, die ansonsten füreinander Umwelt sind. Das Kunstmanagement kann beispielsweise als Schnittstelle gelten, die zwischen Kunst und Ökonomie vermittelt. Ihre Funktion ließe sich im Rahmen der Systemtheorie mit dem Begriff der ›strukturellen Koppelung‹ beschreiben.7 Höllerers Position zeichnet sich nun dadurch aus, dass er in verschiedenen Systemkontexten an jeweils exponierter Stelle steht und damit gewissermaßen ›strukturelle Koppelung‹ über seine Person prozessierbar macht, und zwar zu einer Zeit, als die Modernisierung des Literaturbetriebs noch

5

Neumann, Robert: Spezis. Gruppe 47 in Berlin. In: Konkret (1966), H. 5, S. 34-39, hier S. 37.

6 7

Vgl. hierzu den Beitrag von Rolf Parr in diesem Band. Vgl. etwa Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon: Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. 4. Aufl. Stuttgart 2005, S. 65 ff.

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am Anfang steht.8 Das mag ein Grund dafür sein, dass er rückblickend als der erste moderne ›Literaturmanager‹ erscheint. Konkret sieht das folgendermaßen aus: ›Professor Höllerer‹ ist in das Wissenschaftssystem eingebunden und auch für Außenstehende als Wissenschaftler ansprechbar. Der Herausgeber der Akzente leistet einen Teil der ›strukturellen Koppelung‹ von Literatur und Markt. Der Autor Walter Höllerer wiederum ist Teil des Kommunikationssystems Literatur. Die ›Adresse Höllerer‹ ist also polykontextural ansprechbar und mehrfachinkludiert. In allen Zusammenhängen besitzt Höllerer außerdem Anerkennung, ein gewissermaßen multiples symbolisches und kulturelles Kapital.9 Peter O. Chotjewitz weist in dem obigen Zitat darauf hin, wie virtuos Höllerer im Umgang mit sozialen Kontakten sei: Er handhabe seine Beziehungen wie eine »Klaviatur«, was darauf hindeutet, dass er bei seinen Projekten offenbar leicht zwischen einzelnen Handlungsfeldern und Arbeitsbereichen wechseln konnte und sich ganz bewusst in Beziehungsgeflechten bewegte, die die Grenzen von Institutionen und Funktionssystemen überschritten. Die Semantik seiner Handlungsorientierung – so kann festhalten werden – richtete sich also offenbar nicht primär an Funktionssystemen bzw. Spezialfeldern aus, sondern in hohem Maße an sozialen Netzwerken. Der Zusammenhang zwischen diesen Netzwerken, den Projekten Walter Höllerers und der Art, wie sie von Zeitgenossen beschrieben wurden, soll im vorliegenden Beitrag genauer unter die Lupe genommen werden. Dabei werden weniger die individuellen Eigenschaften der Person Walter Höllerer im

8

Unter ›Modernisierung des Literaturbetriebs‹ werden hier ganz allgemein Transformationsprozesse der Struktur des gesellschaftlichen Teilbereichs ›Literatur‹ verstanden, insbesondere im Hinblick auf die Neokonfigurierung des Verhältnisses von Literatur und Massenmedien im Zuge der Medienentwicklung der 1960er Jahre und das Verhältnis von Literatur und Ökonomie. Der Anstieg der Relevanz audiovisueller Medien für die Inszenierung von Autorschaft ist so gesehen ebenso ein Modernisierungseffekt wie die Ausdifferenzierung des Literaturpreissystems oder die zunehmende Bedeutung von Literaturagenten.

9

Zu den Begriffen ›symbolisches‹ und ›kulturelles Kapital‹ vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M. 1999.

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Vordergrund stehen, sondern vielmehr die gesellschaftlichen und kulturpolitischen Bedingungen derselben.10 Besonderes Augenmerk liegt hierbei auf dem Verhältnis Walter Höllerers zur Gruppe 47 und zu ihrem ›spiritus rector‹ Hans Werner Richter. Die Gruppe 47 kann als ein über die Person Richters adressierbares literarisch-publizistisches Netzwerk beschrieben werden, das strukturell sehr stark in den Medienkulturbetrieb der Nachkriegszeit eingebunden war und darüber hinaus eine symbolische Repräsentationsfunktion für die deutschsprachige Literatur erfüllen konnte. In den frühen 1960er Jahren, als Höllerer mit seinen Projekten zunehmend Erfolge verbucht, machen sich – nicht zufällig, wie gezeigt werden soll – erste Auflösungserscheinungen der Gruppe bemerkbar. Der erste Teil des Beitrags rekonstruiert Höllerers institutionelles Engagement nach seiner Berufung an die Technische Universität Berlin im Jahr 1959. Der zweite Teil geht etwas ausführlicher auf die Rolle der amerikanischen Kulturpolitik für die Gründung des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) ein und beschreibt in diesem Kontext die Integration der Gruppe 47 in das Berliner Literatur-Netzwerk, die sich ab 1962 beobachten lässt. Mit welchen Sinnangeboten operiert wurde, um das Phänomen Walter Höllerer zu begreifen, soll im dritten Teil aus netzwerktheoretischer Sicht erörtert werden. Hierbei wird auch die Gruppe 47 als soziales Netzwerk interpretiert. Der letzte Teil widmet sich vor diesem Hintergrund schließlich dem Verhältnis von Hans Werner Richter und Walter Höllerer, das von unausgesprochenen Spannungen geprägt war, die zugleich eine Grundstruktur des literarischen Feldes in den frühen 1960er Jahren markieren. Insgesamt wird bei diesen Betrachtungen deutlich, dass sich am Beispiel Walter Höllerers zentrale Aspekte von Transformationsprozessen im Literaturbetrieb der 1960er Jahre nachzeichnen lassen, die unter Rückgriff auf seinen Nachlass mit Gewinn weiterführend untersucht werden können.

10 Theoretisch und methodologisch orientieren sich die folgenden Betrachtungen an neueren Forschungen zu sozialen Netzwerken. Vgl. hierzu Holzer, Boris: Netzwerke. Bielefeld 2006 sowie Fuhse, Jan A: Gibt es eine phänomenologische Netzwerktheorie? In: Soziale Welt 59 (2008), S. 31-52 und die Beiträge in Stegbauer, Christian (Hrsg.): Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2008.

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Das Phänomen Walter Höllerer Nachdem Walter Höllerer 1959 an die Technische Universität Berlin berufen wird, beginnt er, wie Helmut Böttiger schreibt, sofort damit, ein »fast undurchschaubares Netz von Institutionen, Schülern und kulturpolitischen Beziehungen« zu knüpfen.11 Auf Grundlage dieses Netzes werden Veranstaltungen möglich, die einen Umbruch des Verhältnisses von Literatur zu Politik, Medien und Institutionen markieren. Zugleich erlangt Walter Höllerer durch seine weitreichende Vernetzung eine äußerst einflussreiche Position, so dass z.B. Hans Werner Richter in den 1980er Jahren lapidar konstatieren kann, Höllerer sei Mitte der 1960er Jahre eine »Art Berliner Institution« gewesen, »mit der man sich arrangieren musste, wenn man in Berlin etwas auf literarischem Gebiet erreichen wollte«.12 Um nachzuvollziehen, wie Höllerer diese Position erlangen konnte, soll zunächst ein Blick auf seine Aktivitäten in den Jahren 1959 bis 1962 geworfen werden. Noch im Jahr 1959 legt Höllerer ein Memorandum zur Gründung eines »Instituts Sprache im technischen Zeitalter« vor.13 Die neu zu gründende Institution soll nach dem Vorbild des Massachusetts Institute of Technology eine Brücke zwischen Ingenieur-, Natur- und Geisteswissenschaften schlagen. Gemäß dem Memorandum ist eines der zentralen Themen dieser Institution das Verhältnis von Literatur zur »erstarrenden Sprachmechanik« des technischen Zeitalters.14 Die Widerständigkeit literarischen Sprechens soll in der sich verändernden Welt erforscht und zugleich institutionell verankert werden. Was im Institut theoretisch und am Beispiel von Textanalysen erörtert wird, hat aber auch ein Pendant auf der Ebene kultureller Veranstaltungen: Am Tag, auf den das Memorandum datiert ist, findet die erste jener Lesungen statt, die ab 1960 unter dem Titel »Literatur im technischen Zeitalter« durchgeführt werden. Auf Einladung Walter Höllerers lesen

11 Böttiger 2005, S. 8. 12 Richter 2004, S. 147. 13 Höllerer, Walter: Memorandum zur Gründung eines Instituts »Sprache im technischen Zeitalter« (1959). In: Berliner Hefte 8 (2008), S. 103-109. 14 Ebd., S. 106.

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Günter Eich und Ilse Aichinger im Hörsaal 3010 der Technischen Universität aus ihren Werken.15 Schon als Herausgeber der Akzente war Walter Höllerer daran interessiert, Schnittstellen zwischen dem Wissenschaftsdiskurs und dem literarischen Leben herzustellen. Als Ordinarius an der Technischen Universität Berlin gelingt es ihm erstmals, dieser Schnittstelle eine konkrete institutionelle Form zu geben. Die nachfolgende Tabelle zeigt eine kleine Auswahl der Aktivitäten Walter Höllerers nach 1959:16 Tabelle 1: Höllerers Lesereihen nach 1959 Juni 1959

Berufung an die TU Berlin

8.12.1959

Memorandum zur Gründung eines Instituts für Sprache im technischen Zeitalter Erste (inoffizielle) Lesung im Hörsaal 3010 mit G. Eich und I. Aichinger

15.12.1959

Antrittsvorlesung

11.1.-8.2.

I. Lesereihe „Literatur im technischen Zeitalter“ im Hör-

1960

saal 3010 (M. Frisch, I. Bachmann, G. Grass, W. Jens, W. Schnurre, O. F. Walter, H.-M. Enzensberger, U. Johnson)

14.11.-

II. Lesereihe „Literatur im technischen Zeitalter“ im Hör-

19.12.1960

saal 3010 (H. E. Nossack, W. Hildesheimer, E. Kreuder, H. Heckmann, M. Walser, F. Mon, H. Böll u.a.)

9.1.-

Lesereihe „Der deutsche Buchhandel“ auf Anregung der

20.2.1961

Bertelsmann Stiftung

1961

Erste Ausgabe der „Sprache im technischen Zeitalter“

15 Vgl. hierzu den Beitrag von Roland Berbig und Vanessa Brandes in diesem Band. 16 Dies lässt sich aus dem Schriftverkehr und den gesammelten Dokumenten aus dem Umfeld seiner universitären Tätigkeit rekonstruieren. Vgl. etwa den »Aktenordner TU Berlin«. In: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg (=LSR), Nachlass Walter Höllerer, ohne Signatur.

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13.11.1961-

III. (internationale) Lesereihe „Literatur im technischen

12.2.1962

Zeitalter“ im Großen Saal der Kongreßhalle Berlin (I. Bachmann, H. v. Doderer, A. Adamov, H. Miller, A. Robbe-Grillet, M. Frisch, E. Ionesco, J. Dos Passos u.a.); Ausstrahlung im Abendprogramm des SFB

Das persönliche Netzwerk Walter Höllerers war bereits vor seiner Berufung nach Berlin sehr vielschichtig und weitreichend: Durch die Herausgabe der Akzente hatte er Kontakte in alle Winkel des literarischen Feldes, kannte Autoren, Verleger und Literaturkritiker. Als Dozent an der Frankfurter Universität stand er mit der dortigen Intellektuellen-Szene in Verbindung, pflegte Kontakt zu Theodor W. Adorno, zu Peter Suhrkamp, Siegfried Unseld und anderen. Er war Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, hatte Verbindungen in die USA, zu Allen Ginsberg und Gregory Corso, sowie nach Frankreich, beispielsweise zu Alain Robbe-Grillet und Roland Barthes.17 In Berlin erweitert sich sein Adressbuch um Kontakte aus der Berliner Verwaltung, den ansässigen Kulturinstitutionen und den Rundfunkanstalten. Als besonders relevant erweist sich seine Bekanntschaft mit Joachim Tiburtius,18 dem Berliner Senator für Volksbildung, sowie seinem Vertreter Friedrich Rau. Ab 1962 steht er mit Willy Brandt in Kontakt,19 der ihn u.a. als Experten zum »Kongreß Deutsche Gemeinschaftsaufgaben« im Oktober 1962 einlädt.20 Im Zusammenhang mit der Internationalen Lesereihe Literatur im technischen Zeitalter im Wintersemester 1961/62, die im SFB ausgestrahlt wurde, entsteht ein

17 Vgl. hierzu insgesamt Böttiger 2005. 18 Höllerer erwähnt den »alten Tiburtius« gegenüber Günter Grass bereits im Oktober 1959 als wichtigen Kontakt. Vgl. Höllerer, Walter an Günter Grass: Brief v. 16.10.1959. In: LSR, Redaktionskorrespondenz Akzente, Signatur: 01AK/1587. 19 Vgl. Brandt, Willy an Walter Höllerer: Brief v. 13.7.1962. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, »Aktenordner Gruppe 47«, ohne Signatur. 20 Vgl. Brandt, Willy an Walter Höllerer: Brief v. 6.9.1962. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/AA/5,14.

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Kontakt zum damaligen Intendanten Walter Steigner.21 Nicht zuletzt ist eine zentrale Adresse Rudolf de le Roi, der die sogenannte »Berlinstiftung« des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI) mitgegründet hat und in seinen Memoiren die maßgebliche Rolle Höllerers für das literarische Leben Berlins betont: Walter Höllerer schließlich ist der große Motor, der Berlin zum Mittelpunkt des literarischen Lebens in Deutschland gemacht hat. Mit ihm, Gerhard Schmilinsky und Bernhard Skrodzki, zwei früh verstorbenen Freunden, wurden die Richtlinien entworfen, nach denen wir unsere Berlinstiftung gestaltet haben.22

Neben dem Kulturkreis des BDI ist aber vor allem auch die WestBerliner Akademie der Künste (AdK) eine wichtige Institution für den Aufbau und die Stabilisierung seines Netzwerks. Ende 1961 wird Höllerer in die ›Abteilung Literatur‹ der AdK aufgenommen und versucht dort, seine Ideen zur Stärkung des literarischen Lebens umzusetzen.23 In den Protokollen der Sitzungen, an denen Höllerer teilnimmt, ist beispielsweise von einem Zuschussantrag an das »Berliner Kulturprogramm« die Rede. Beantragt werden sollen Mittel, die es erlauben, Wohnungen für Schriftsteller einzurichten,24 um diesen einen Aufenthalt in Berlin schmackhaft zu machen. Zugleich möchte Höllerer eine Präsenzbibliothek zur Literatur nach 1945 aufbauen und eine Reihe an kulturellen Veranstaltungen durchführen. Ziel der Unternehmungen ist eine dauerhafte Verankerung literarischen Lebens im kulturell weitgehend verödeten West-Berlin der frühen 1960er Jahre. Um die Berlin als Wohnort für Autoren interessant zu machen, ist neben der Möglichkeit einer Stipendienvergabe insbesondere eine kulturpolitische Infrastruktur vonnöten gewesen, die es erleichterte, kulturelle Veranstaltungen auch über Institutionengrenzen hinweg zu planen, zu organisieren und durchzuführen. Höllerer war es gelungen, sich im Berliner Kulturbetrieb bereits kurz nach seiner Berufung an die

21 Vgl. etwa Steigner, Walter an Walter Höllerer, Brief v. 22.12.1961. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/AB/104,18. 22 de le Roi, Rudolf: Aufzeichnungen aus meinem Leben. [Privatdruck, o.O.] 1976, S. 47 f. 23 Vgl. die Sitzungsprotokolle der ›Abteilung Dichtung‹ der Akademie der Künste. In: Akademie der Künste, Berlin, AdK-W, Nr. 139:9. 24 Vgl. ebd.

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Technische Universität so intensiv zu vernetzen, dass er Zugriff auf eine solche Infrastruktur hatte und diese durch seine Projekte zusätzlich festigen konnte. Rückblickend können hier bereits die Grundzüge des 1963 gegründeten Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) erkannt werden, im Rahmen dessen seine Ideen eine dauerhafte Form annahmen. Dass all dies gelingen konnte, liegt in erster Linie daran, dass Höllerer sich ganz bewusst nicht nur innerhalb des Literaturbetriebs bewegte, sondern auch daran interessiert war, dessen Grenzen zu überschreiten und funktionssystemübergreifende Kontakte zu pflegen. Das hing letztlich auch mit seinem emphatischen Bekenntnis zur literarischen Moderne zusammen, der er in der Gesellschaft einen festen Ort zusichern wollte.25 Wie eng der Erfolg der Höllerer’schen Projekte allerdings auch mit politischen Fragen zusammenhing, wird deutlich, wenn man einen Blick auf seine Verbindungen zur amerikanischen Kulturpolitik wirft, die bis Ende der 1960er Jahre eine kaum zu überschätzende Rolle für das kulturelle Leben Berlins gespielt hat.26 Das LCB und die amerikanische Kulturpolitik Entscheidend für die Gründung des LCB im Jahr 1963 war Walter Höllerers Kontakt zu Shepard Stone, dem Leiter des internationalen Programms der Ford Foundation. Stone hatte von 1929 bis 1932 in Berlin und Heidelberg studiert,27 nahm später als Offizier der USamerikanischen Streitkräfte am Zweiten Weltkrieg teil und wurde als Historiker mit Deutschlanderfahrung in die Planungen zur Alliierten Landung eingebunden.28 Nach seinem Studium machte er zunächst Karriere als Journalist und Europa-Korrespondent der New York

25 Der Zusammenhang zwischen Poetologie, institutionellem Engagement und Politik wird thematisiert in Hehl, Michael Peter: Poetik der Institution. Walter Höllerers institutionelles Engagement und die Literatur der Moderne. In: kultuRRevolution, Nr. 63 (2012), S. 45-53. 26 Vgl. hierzu Hochgeschwender, Michael: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998 sowie Berghahn, Volker: Transatlantische Kulturkriege. Shepard Stone, die FordStiftung und der europäische Antiamerikanismus. Stuttgart 2004. 27 Vgl. ebd., S. 28. 28 Vgl. ebd., S. 49.

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Times,29 bevor er seine Tätigkeit bei der amerikanischen Militärregierung begann. Ab 1949 war er Leiter des Office for Public Affairs und nach John McCloy gewissermaßen der zweite Mann der amerikanischen Besatzung.30 Noch gemeinsam mit McCloy entwickelte er Strategien zur Eindämmung des intellektuellen Antiamerikanismus in Europa. 1954 wurde er Leiter des »International Affairs Program« der Ford Foundation, das zum kulturpolitischen Netzwerk des »Congress for Cultural Freedom« (CCF) gehörte, mit dem die Amerikaner bereits seit Ende der 40er Jahre versuchten, auf kultureller Ebene den Einfluss des Kommunismus und des intellektuellen Antiamerikanismus in Europa einzudämmen.31 Dieses Netzwerk, das strukturell eng mit amerikanischen Geheimdiensten – insbesondere der CIA – verbunden war, lancierte in den 1950er Jahren mehrere Kampagnen gegen Intellektuelle, die mit der Sowjetunion sympathisierten, wie etwa Jean-Paul Sartre. Besonders Raymond Arons Auseinandersetzungen mit Sartre sind in diesem Zusammenhang von Interesse, wenn man bedenkt, dass Aron dem CCF nahestand. Ende der 1950er Jahre verabschiedete sich der CCF von seinem strikten Antikommunismus, der etwa von Friedrich Torberg und seiner Zeitschrift Forum vertreten wurde. Statt auf Konfrontationskurs zu bleiben, entschied man sich, auf linksliberale Strömungen zuzugehen. Unter dem Eindruck des Mauerbaus und der Kubakrise hatte Shepard Stone für das Europa Programm der Ford Foundation einen Sonderetat für Berlin in Höhe von 2 Millionen Dollar erhalten.32 Ziel der Kulturpolitik war es weiterhin, den Einfluss des Kommunismus einzudämmen – hierbei sollten nun insbesondere auch antitotalitäre Linksintellektuelle für liberale und proamerikanische Positionen gewonnen werden. In Gesprächen mit seinem Schwager, dem Übersetzer und Anglisten Walter Hasenclever, der die deutsche Ausgabe der Stiftungszeitschrift Perspectives herausgab, ist Shepard Stone auf Walter Höllerer aufmerksam geworden. Höllerer hatte, wie ihm Hasenclever berichten konnte, nicht nur gemeinsam mit Gregory Corso die Antho-

29 Vgl. ebd., S. 29 ff. 30 Vgl. ebd., S. 75 ff. 31 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., S. 143 ff. und 175 ff. sowie Hochgeschwender 1998, S. 445 ff. 32 Vgl. Berghahn 2004, S. 296. Dies entsprach nach damaligem Wechselkurs einer Summe von mehr als 8 Millionen DM.

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logie Junge amerikanische Lyrik (1961) herausgegeben, sondern war durch mehrere Besuche auch mit dem amerikanischen Hochschulsystem und Kulturbetrieb vertraut. Zugleich war er mit mehreren Mitgliedern der eher linksorientierten Gruppe 47 vernetzt, was ihn aus Sicht der Amerikaner zu einem interessanten Ansprechpartner für eine mögliche Zusammenarbeit auf dem Feld der Literatur machte. Am 20. April 1962 schreibt Walter Hasenclever aus New York: Mr. Shepard Stone und Mr. Fred Burckhard, beide von der Ford Foundation (und der erstere zudem mein Schwager) werden vom 13. bis 17. Mai in Berlin sein. Es ist ihre Absicht, Möglichkeiten zu entdecken, die Berlin kulturell vor anderen Städten auszeichnen. Ich habe ihnen des längeren von dem Projekt einer School of Creative Writing berichtet, das ich ja auch schon wiederholt mit ihnen besprochen habe, und habe ihnen außerdem Ihren Namen genannt. Mein Schwager will versuchen, sich dieserhalb mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Ich glaube, dass Sie ihn für Ihre Vorschläge aufgeschlossen finden werden.33

Höllerer macht sich offenbar sofort an die Arbeit. Im Nachlass findet sich ein auf den 30. April datierter Entwurf mit Vorschlägen zum Kulturplan von Berlin.34 Dieser geht weit über das Konzept einer Writing School hinaus. Höllerer hat eine Erneuerung des gesamten kulturellen Lebens in Berlin im Blick. Die Überschreitung institutioneller und funktionssystemspezifischer Grenzen wird hier explizit formuliert: Das Kulturprogramm sollte die bestehenden Einrichtungen nützen und sie zur Zusammenarbeit bringen, ihren Ausbau in festumrissenen Richtungen fördern, neue Institutionen den vorhandenen richtig beiordnen. Als kulturelle Zentren sind dabei vor allem wichtig: die Akademie der Künste, der Sender Freies Berlin, die verschiedenen Ausstellungsmöglichkeiten, die Kongreßhalle, eine technische und eine geisteswissenschaftlich-naturwissenschaftliche Universität, die Hochschulen für Kunst, Musik usw.[,] Oper und Theater, die Theater-

33 Hasenclever, Walter an Walter Höllerer: Brief v. 20.4.1962. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/AB/112,46. 34 Höllerer, Walter: Vorschläge zum Kulturplan von Berlin [1962]. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, »Aktenordner TU-Berlin«, ohne Signatur.

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Festwochen, die Filmfestspiele, die Berlin-Stiftung für Sprache und Literatur des Kulturkreises im Bundesverband der deutschen Industrie.35

Weitere Punkte des Entwurfs betreffen die Ermöglichung des Zuzugs von Schriftstellern, die Veranstaltung literarischer Diskussionen, die Zusammenarbeit mit Forschungsinstituten, die Produktion von Filmen, die Schaffung von Bibliotheken u.v.m. Vieles davon wird später im Rahmen des LCB umgesetzt. Explizit ist von einem »Literarischen Colloquium Berlin« zum ersten Mal in einem längeren Brief an Shepard Stone vom 27.7.1962 die Rede.36 Nach einer persönlichen Begegnung hatte Höllerer Stone versprochen, ihm ein Konzeptpapier zur »Stärkung des literarischen Lebens von Berlin« zu schicken.37 Hierbei nennt Höllerer »fünf Grundideen«,38 die im Rahmen des Colloquiums umgesetzt werden sollen: (a) Zusammenkünfte zwischen jüngeren und erfahrenen Autoren, (b) enger Bezug zur literarischen Praxis, (c) Nähe zu den Massenmedien, (d) Nähe zu anderen Kunstformen sowie (d) öffentliche Präsenz der Tätigkeiten des Colloquiums. Voraussetzung für den Erfolg dieses Projekts sei laut Höllerer eine interinstitutionelle und unabhängige Verortung des Colloquiums: Verwirklichung dieser fünf Grundideen: die Leitung liegt in den Händen eines kleinen, aktiven Gremiums, nicht einer vorhandenen Institution. Dieses Gremium hält aber engen Kontakt mit den Universitäten, Hochschulen, der Akademie, den Theatern und Rundfunkstationen. Es ist nicht mit den entsprechenden Gremien der Ford-Foundation für Kunst, Musik oder wissenschaftliche Programme gekoppelt, sondern arbeitet selbstständig. Es wäre z.B. eine Konstellation Jaesrich, Hasenclever, Höllerer denkbar. Eine Person müßte als der hauptamtliche Leiter des Colloquiums seine Zeit und Aktivität dem Programm voll zur Verfügung stellen und das Kontinuum garantieren. Für diese Stelle schlage ich Herrn Hasenclever vor.39

35 Ebd. 36 Vgl. Höllerer, Walter an Shepard Stone: Brief v. 27.7.1962, abgedruckt in: Böttiger 2005, S. 162-168. 37 Ebd, S. 162. 38 Ebd, S. 164. 39 Ebd., S. 164.

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Bemerkenswert ist, dass Höllerer einerseits eine Unabhängigkeit des Colloquiums von der Ford Foundation einfordert, aber mit Hellmuth Jaesrich und Walter Hasenclever gleich zwei stiftungsnahe Intellektuelle ins Spiel bringt.40 Das Konzept hat Erfolg und die Ford Foundation fördert das LCB für drei Jahre mit einem Zuschuss in Höhe von insgesamt 340.000 Dollar.41 Erster geschäftsführender Direktor des LCB wird Walter Hasenclever, der den Kontakt zu Shepard Stone hergestellt hatte. Von besonderer Bedeutung für das LCB ist das Verhältnis zur Gruppe 47, die Mitte der 1960er Jahre als integraler Bestandteil des literarischen Lebens in Berlin wahrgenommen wird.42 In den Sitzungsprotokollen der ›Abteilung Dichtung‹ der Akademie der Künste kann man nachlesen, dass Höllerer bereits im Juli 1962 vorschlägt, den Kontakt zu Hans Werner Richter zu stärken, um die kulturpolitischen Institutionen Berlins mit der Gruppe 47 zu vernetzen.43 Dies dürfte ganz im Sinne Shepard Stones und Walter Hasenclevers gewesen sein, passt es doch zur Neuausrichtung der Kulturpolitik des CCF nach dem Ende der McCarthy-Ära. Insbesondere die philanthropische Position der Ford Foundation und ihr internationales Programm stehen für eine Abkehr vom eher grobschlächtigen Antikommunismus, der sich in den 1950er Jahren auch gegen sozialdemokratische und linksliberale Intellektuelle gerichtet hatte.44 Schon im Juni 1962 hatte Höllerer damit begonnen, gemeinsam mit Hans Werner Richter das 15-jährige Jubiläum der Gruppe 47 in Berlin zu planen und zu organisieren. Im Oktober 1962 findet die Tagung dann auch statt, und zwar in einer Villa am Wannsee, die ab 1964 als Gästehaus des LCB dient und heute dessen Hauptsitz ist. Im Anschluss an die Tagung wird über Stipendien aus der Berlin-Stiftung von Rudolf de le Roi und Mitteln aus dem »Kulturplan für Berlin« vie-

40 Hellmuth Jaesrich war Mitherausgeber der antikommunistisch geprägten Zeitschrift »Der Monat«. 41 Vgl. das Protokoll der 1. Kuratoriumssitzung des LCB v. 25.6.1963. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, »Aktenordner LCB«, ohne Signatur. 42 Vgl. Neumann 1966. Auf das Verhältnis zwischen Höllerer und Hans Werner Richter wird weiter unten detailliert eingegangen. 43 Vgl. die Protokolle zu den Sitzungen v. 7./8.7.1962. In: Akademie der Künste, Berlin, AdK-W, Nr. 139: 13, 7-20. 44 Vgl. Berghahn 2004, S. 143 ff.

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len Schriftstellern aus dem Umfeld der Gruppe 47 ein Aufenthalt in Berlin ermöglicht, darunter Ingeborg Bachmann, Peter Weiss und auch Hans Werner Richter selbst. Letzterer ist Anfang 1963 auf Kosten des BDI zunächst nur für einige Zeit in Berlin.45 1964 bezieht er dann ein Domizil in der Erdener Straße 8 in Berlin Grunewald. Es handelt sich um Wohnräume in einer Villa der Familie Samuel Fischers. Von hier aus moderiert Richter Sendungen für den SFB, zu denen Vertreter aus Politik, Kultur und Literatur eingeladen werden (Adolf Arndt, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Uwe Johnson, Ingeborg Bachmann, auch Hermann Kant u.v.m.).46 Der BDI finanziert jeweils von Oktober bis Mai seinen Aufenthalt und Richter erklärt sich im Gegenzug bereit, monatlich eine Sendung abzuliefern. Die Wohnung wird so zu einem wichtigen ›Salon‹ des literarischen Lebens. Die mediale Präsenz, die Richter dadurch erreicht, wird in den frühen 1960er Jahren allerdings von der medialen Präsenz Walter Höllerers überschattet. Bereits die Internationale Lesereihe Literatur im technischen Zeitalter im Wintersemester 1961/1962 ist nicht nur überaus gut besucht, sondern wird vom SFB auch im damals noch relativ jungen Medium Fernsehen übertragen. Während Ende der 1950er Jahre das kulturelle Leben zu stagnieren scheint, lesen nun John Dos Passos, Eugene Ionesco, Max Frisch, Alain Robbe-Grillet, Ingeborg Bachmann und andere vor einem Massenpublikum. Höllerer tritt hier als Moderator und ›Literaturmanager‹ in Erscheinung, der maßgeblich an der Realisierung dieser Projekte beteiligt ist.47 Der SFB produziert außerdem noch die Sendereihe Berlin stellt vor, in der Höllerer regelmäßig Künstler und Schriftsteller interviewt. Häufig werden auch Abendveranstaltungen des Literarischen Colloquiums übertragen. All das führt dazu, dass Höllerer im literarischen Leben Berlins Mitte der 1960er Jahre eine gewissermaßen ›plurilokale‹ Position besetzen kann. Chlodwig Poth lässt ihn in einer Karikatur seiner Reihe Poths Deutsche Tour in der Zeitschrift Pardon sogar an mehreren Or-

45 Vgl. Höllerer, Walter an Hans Werner Richter: Brief v. 20.6.1962. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/AC/4,34. 46 Vgl. Richter 2004, S. 145 sowie Hickethier, Knut: Aufbruch in die Mediengesellschaft. Die Gruppe 47 und die Medien. In: Akademie der Künste (Hrsg.): Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur. Berlin 1988, S. 114-123, hier S. 122 f. 47 Vgl. Böttiger 2005, S. 123 ff.

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ten zugleich erscheinen: »Guck mal, da drüben: der Höllerer«, »Da im Auto ist er auch«, »Und da kommt er noch mal!! Wie macht der Mann das nur?«48 Da Höllerer scheinbar problemlos zwischen verschiedenen Arbeitsbereichen und Handlungsfeldern wechselt und dadurch partielle Integrationseffekte erzeugt,49 entsteht der Eindruck einer nahezu kuriosen Omnipräsenz. Entscheidend hierbei sind allerdings nicht die individuellen Eigenschaften der Person Walter Höllerer, sondern die Polykontexturalität der Beziehungsgeflechte, in denen er sich bewegt. Sein persönliches Beziehungsnetzwerk verläuft zum Teil quer zu den Grenzen von Institutionen und Funktionssystemen. Dies soll im Folgenden genauer unter die Lupe genommen werden.

Tabelle 2: Vernetzung und institutionelles Engagement in den frühen 1960er Jahren 19.11.1961

Aufnahme in die ›Abteilung Dichtung‹ der Akademie der Künste ADK-Protokoll: Antrag an das Berliner Kulturprogramm: För-

7.4.1962

derung des Zuzugs von Schriftstellern nach West-Berlin, Durchführung eines Kritiker-Colloquiums, Erkennbarer Anschluss an das »Memorandum« v. 1959 Vorschläge zum Kulturplan von Berlin (Projekt der Ford

30.4.1962

Foundation: 3-Jahres-Plan mit einem Etat von 2 Millionen Dollar) Kontakt zu Shepard Stone und Fred Burckhardt (Ford Founda-

Mai 1962

tion) über Walter Hasenclever (Jurist, Übersetzer, Herausgeber) Über Shepard Stone und Fred Burckhardt (Rektor): Herstel-

23.5.1962

lung von Kontakten zwischen Massachusetts Institute of Technology und TU Berlin: Planung von Drittmittelprojekten mit Hilfe d. Ford Foundation (Nachrichtentechnik)

48 Vgl. Poth, Chlodwig: Poths Deutsche Tour. 4. Berlin. In: Pardon, Jg. 1966, H. 4, S. 71. 49 Vgl. Anm. 6.

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Juni 1962

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Beginn der Planungen für die Gruppe 47 Tagung im Oktober 1962 ADK-Protokoll: Stärkung des Kontakts zur Gruppe 47 über

8.7.1962

Hans Werner Richter; Einladung von Gästen nach Berlin; Stärkung des literarischen Lebens; Orientierung an Frankreich und den USA

13.7.1962

Brief an W. Brandt: Antrag auf Mittel zur Instandsetzung des Casino Hotels am Wannsee zwecks Gruppe 47-Tagung

27.07.1962

Brief an Shepard Stone mit detaillierter Skizze des LCB

26.-

Tagung der Gruppe 47 am Wannsee (Casino-Hotel, heute

28.10.1962

LCB-Hauptsitz)

12/1962

Treffen von H.W. Richter und Rudolf de le Roi (Kulturkreis des BdI), Einladung für mehrmonatigen Aufenthalt in Berlin Zusammenarbeit zwischen dem Massachusetts Institute of

Januar 1963

Technology und dem Institut für Sprache im technischen Zeitalter

30.6.1963

Januar 1964

1963/1964

1964/65

1965/66

Offizielle Gründung des Literarischen Colloquiums Berlin, Hauptsitz: Carmerstr. 4 Hans Werner Richter bezieht die Erdener Str. 8 in Charlottenburg, Beginn der Produktion von Sendungen für den SFB Prosa Colloquium im LCB: Peter Weiss, Günter Grass, Hans Werner Richter, Hubert Fichte u.a. Veranstaltungsreihe (LCB/ADK): Modernes Theater auf kleinen Bühnen Veranstaltungsreihe (LCB/ADK): Optische Literatur. Veränderung im Film.

Semantisierung des Netzwerks Bei den Planungen seiner Veranstaltungen und Projekte orientiert sich Walter Höllerer sehr stark an funktionssystemübergreifenden Netzwerkstrukturen. Dadurch kann er viele Arbeitsschritte zwischen Bereichen hin- und herdelegieren, die ansonsten voneinander getrennt sind. Er partizipiert laufend an Kommunikationsprozessen und führt eine

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breite und sehr umfangreiche Korrespondenz, fungiert dabei aber weniger als ein Zentrum, sondern vielmehr als Schnittstelle. Bei allem hat er kulturpolitische Erneuerungsprozesse vor Augen, die von Seiten der amerikanischen Kulturpolitik dezidiert vorangetrieben werden. Damit besetzt er die Position eines Modernisierers, der für die Umstrukturierung der Beziehungen zwischen Literatur, Politik, Institutionen und Medien als kommunikativer Knotenpunkt fungiert. Im Anschluss an zwei polemische konkret-Artikel von Robert Neumann und Hans E. Nossack wird der Berliner Literaturbetrieb im Jahr 1966 scharf angegriffen. Die Gruppe 47 erscheint dabei als ein integraler Bestandteil desselben.50 Es ist die Rede von einem ›Klüngel‹, von Einschüchterung und von mafiösen Strukturen. Klaus-Rainer Röhl behauptet sogar, dass während der Stalinistischen Säuberungen mehr Demokratie geherrscht habe, als in der Gruppe 47.51 Im Vordergrund der Debatte steht dabei jedoch nicht die Gruppe selbst, sondern vor allem ihre Präsenz im West-Berliner Literaturbetrieb. Höllerer erscheint hierbei abwechselnd als Chef-Manager und ›Al Capone‹ einer Berliner Literatur-Mafia.52 An dieser Stelle soll nicht die Frage gestellt werden, ob die Strukturen des West-Berliner Literaturbetriebs der 1960er Jahre nun mafiös waren oder nicht. Viel interessanter erscheinen die Fragen: Warum konnten sie als mafiös und intransparent semantisiert werden? Und warum erscheint Höllerer als deren heimlicher ›Boss‹? Was in der Debatte überhaupt beobachtet wird, lässt sich aus dem Artikel Neumanns gewissermaßen indirekt erschließen. Es ist die Rede von einer Menge an Akteuren (Personen und Institutionen), die sich mit einer gewissen Heiterkeit gegenseitig die Bälle zuspielen:

50 Vgl. hierzu Kämper-van den Boogaart, Michael: »Und einmal muß es gesagt werden...« Der Autor und Germanist Walter Höllerer im Dienste der Gruppe 47. Ein Vorfall aus dem Jahr 1966. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 17 (2007), H. 1, S. 108-127. 51 Vgl. Röhl, Klaus-Rainer: Liebe Konkret-Leser. In: Konkret (1966), H. 9, S. 43. 52 Vgl. Zimmer, Dieter E.: Die Literatur-Mafia von Berlin. Eine rabiate Polemik und einige nüchterne Betrachtungen. In: Die Zeit, Nr. 48 v. 25.11.1966, S. 17-18.

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[E]in ganzes Klüngel, eine ganze Gruppe – ja, natürlich auch die Schuhnummer 47, aber Höllerers literarisches Panoptikum, nein, Kolloquium – gehört auch dazu, und die spendenfreudige Ford Foundation, und das von all diesen Potenzen eingeschüchterte Kultur-Dezernat des Berliner Magistrats und noch mancherlei. All das spielt einander aufs heiterste in die Hände, locker doch fest gefügt; es ist durchaus der Mühe wert, das Ganze einmal zu untersuchen.53

Der Zusammenhang erscheint also locker, informell, besitzt aber dennoch eine feste Fügung. Poltische, literarische und ökonomische Zusammenhänge werden berührt. Dies lässt sich mit dem Begriff des Netzwerks sehr gut beschreiben, genauer gesagt mit dem Begriff des funktionssystemübergreifenden sozialen Netzwerks. Was sind Merkmale von Netzwerken? Anders als Organisationen besitzen Netzwerke keine formale Mitgliedschaft, bilden aber, im Unterschied zu Interaktionssystemen, dennoch relativ dauerhafte Strukturen aus. Anders als soziale Systeme sind sie nicht geschlossen und bestehen auch nicht aus Kommunikation, sondern aus sozialen Kontakten.54 Netzwerke können sich, das ist in diesem Zusammenhang wichtig, in bestehende funktional-differenzierte Systemkontexte einnisten. Sie verlaufen manchmal parallel zu Funktionssystemen, also innerhalb deren Grenzen, manchmal aber auch quer zu ihnen.55 Das Netzwerk Höllerers zeichnet sich dadurch aus, dass es an verschiedene Systemkontexte angebunden ist. In der heutigen Organisations- und Netzwerkforschung weiß man, dass funktionssystemübergreifende Netzwerke regelrechte Motoren für Innovationsprozesse sind.56 Dieser Aspekt wird von Befürwortern Höllerers auch hervorgehoben: Höllerer wird als ›Erfinder des Literaturbetriebs‹ (Böttiger) bezeichnet, als ›Motor des literarischen Lebens‹ (de le Roi) usw. Warum aber wird dieses Netzwerk nun von einigen als illegitim wahrgenommen? Woher stammt der Vorwurf des Mafiösen?

53 Neumann 1966, S. 34. 54 In der formal-empirischen Analyse spricht man von einer Menge aus Knoten und Kanten. 55 Vgl. Holzer 2008, S. 155. 56 Vgl. Howaldt, Jürgen: Die Soziologie in Zeiten der Wissensgesellschaft. Kritische Anmerkungen zu einer unzeitgemäßen Unterscheidung. In: Soziologie 34 (2005), H. 4, S. 424-441, hier S. 431.

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Zunächst einmal handelt es sich bei einem Netzwerk um eine soziale Struktur, die, wie alle sozialen Strukturen, Sinn benötigt, um sich zu stabilisieren. Auch Netzwerke stabilisieren sich, ähnlich wie soziale Systeme, über die Sach-, Zeit- und Sozialdimension.57 In der Sachdimension stabilisiert sich das Berliner LiteraturNetzwerk, schlicht gesagt, indem es sich um Literatur kümmert. Es wird unterschieden zwischen Literatur und Nicht-Literatur, wobei Höllerer den Literaturbegriff sehr weit fasst, wenn er beispielsweise von ›optischer Literatur‹ spricht und Pier Paolo Pasolini einlädt. Hier werden bestehende Systemdifferenzierungen genutzt, das Netzwerk nistet sich gleichsam in das Nebeneinander von Literatur, Politik und Medien ein. In der Zeitdimension wird, wie bei anderen Netzwerken auch, über Vertrauen in Gegenleistungen Kontingenz reduziert. Jede Leistung macht in unbestimmter Zukunft eine Gegenleistung erwartbar. Damit ein Netzwerk dauerhaft existiert, muss jeder Akteur realistischer Weise darauf vertrauen können, dass Leistungen mit Gegenleistungen vergütet werden. Wenn Höllerer beispielsweise seinen Kontakt zu Hans Werner Richter dazu nutzt, um die Position eines ihm nahestehenden Autors zu stärken, kann Richter erwarten, dass Höllerer ihn zu einem späteren Zeitpunkt seinerseits unterstützt, etwa bei der Organisation einer Gruppe 47-Tagung. Hierfür bedarf es keiner expliziten Bezugnahme auf die wechselseitige Leistung. Das Vertrauen ist gewissermaßen der Koordinationsmechanismus, der das Netzwerk zeitlich stabilisiert. In der Sozialdimension unterscheidet ein Netzwerk dazwischen, ob jemand kontaktierbar ist oder nicht. Zu einem Netzwerk gehört man also, wenn man über eine gewisse Menge an Kontakten verfügt und diese auch regelmäßig aktualisiert. Ein typisches Phänomen bei systemübergreifenden Netzwerken ist nun eine Überlagerung der Sachdimension durch die Sozialdimension. Plötzlich ist die Frage, ob jemand kontaktierbar ist, relevanter als die Sachfrage, die die ›eigentliche‹ Leitunterscheidung ist. Nicht, ob jemand einen guten Text geschrieben hat, ist wichtig, sondern die Frage, ob er zum Netzwerk ge-

57 Vgl. Bommes, Michael / Tacke, Veronika: Das Allgemeine und das Besondere des Netzwerkes. In: Hollstein, Bettina / Straus, Florian (Hrsg.): Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen. Wiesbaden 2006, S. 37-62, hier S. 46 ff.

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hört. Für das Netzwerk Walter Höllerers scheint genau das zu gelten: »Es kam eben darauf an, zur Clique zu gehören...«58 Damit ist systematisch die Stelle gekennzeichnet, die das Beziehungsgeflecht um Walter Höllerer ›mafiös‹ erscheinen lassen kann. Das Netzwerk gibt sich nach außen hin nicht als solches zu erkennen, sondern agiert gewissermaßen im Hintergrund, ist also auf der Ebene der medialen Vermittlung des literarischen Lebens nicht sichtbar. Es ist buchstäblich ›undurchsichtig‹, informell und dennoch funktional. Dass ein solches Phänomen von außen als ›mafiös‹ semantisiert wird, ist keine Besonderheit. Dies geschieht häufig, wenn sich in modernen Gesellschaften Netzwerke quer zu Funktionssystemen ausbilden und die Sachdimensionen der Funktionssysteme mit ihrer Sozialdimension überlagern. Wird aber eine solche Semantisierung gleichsam ›von außen‹ in Gang gesetzt, so beginnen in der Regel Legitimitätsprobleme. Diese sind im Berliner Literatur-Netzwerk im Kontext des Gruppe 47-Streits auch tatsächlich zu beobachten. Da das gesamte Netzwerk aus Institutionen, Autoren, Amtsinhabern und Rundfunkanstalten sich – nicht zufälligerweise – partiell mit Höllerers persönlichem Netzwerk deckt, können die tendenziell intransparenten Strukturen, die zwar auch unabhängig von ihm arbeiten, aber oft auf seine Kontakte angewiesen sind, seiner Person zugeordnet werden. Um 1966 herum erscheint Höllerer für einige Außenstehende daher folgerichtig als Boss einer Berliner ›Literatur-Mafia‹, wenngleich er seine einflussreiche Position ganz offenkundig nicht dazu nutzt, um strategisch die Expansion einer Organisation voranzutreiben. Jedoch wird mit der Rede von der ›Literatur-Mafia‹ das ansonsten sehr komplexe und unüberschaubare Phänomen sprachlich überhaupt erst fassbar. Diese sogenannte ›Literatur-Mafia von Berlin‹ ist damit kein Ausdruck einer antimodernen Einschmelzung bestehender funktionaler Differenzierungen. Sie ist im Gegenteil Ausdruck einer umfassenden Modernisierung, in der die bestehenden Differenzierungen aufeinander angepasst werden. Da kein direkter Austausch zwischen Funktionssystemen möglich ist, werden Netzwerke benötigt, um Innovationsprozesse in Gang bringen. Ein funktional ausdifferenziertes Subsystem ›Literatur‹ ist die Voraussetzung für diese Form der Vernetzung.59 Das

58 Böttiger 2005, S. 173. 59 Vgl. hierzu allgemein Bommes/Tacke 2006, S. 39 ff.

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funktionssystemübergreifende Netzwerk kann in seinem eigenen Interesse also gar keine Auflösung der Differenzierung betreiben und kann daher als ein genuines Modernisierungsphänomen gelten. Neben diesem Erklärungsansatz, für den die Luhmann’sche Unterscheidung zwischen Struktur und Semantik wesentlich ist, soll hier noch ein weiterer Aspekt angeführt werden: Immer dann, wenn Netzwerke sich verdichten, neigen sie dazu, eine symbolische Außengrenze zu bilden, welche die Kommunikation nach außen hin ausdünnt.60 Während aus Sicht der Systemtheorie eine Zugehörigkeit zum Netzwerk auf der operativen Ebene der Struktur entschieden und erst nachträglich semantisiert wird, kann man aus kulturtheoretischer Sicht zeigen, dass diese Zugehörigkeit vor allem das Ergebnis einer sozialen Praxis ist, die eine symbolische Abgrenzung erzeugt. Diese konstituiert sich weder auf der Ebene der Struktur, noch auf der Ebene der Semantik, sondern zählt zu etwas Drittem, das man die ›Kultur‹ des Netzwerks nennen kann. Die symbolisch generierte Außengrenze von Netzwerken äußert sich zunächst als schwer bestimmbares ›WirGefühl‹ und kann gut mit Begriffen wie ›soziale Praxis‹, ›kultureller Code‹ und ›Diskurs‹ beschrieben werden. Die Entstehung einer solchen symbolischen Außengrenze ist ein typisches Phänomen, das bei der Verdichtung von Netzwerken auftritt. Am Beispiel der Gruppe 47 ist dies besonders deutlich zu beobachten. Die Gruppe 47 ist zunächst einmal nichts anderes als ein zentralistisch strukturiertes publizistisch-literarisches Netzwerk. Nach der legendären Gründungstagung am Bannwaldsee bei Füssen im Ostallgäu entsteht ein diffuses Wir-Gefühl, noch bevor die symbolische Außengrenze dann mit dem Namen ›Gruppe 47‹ semantisiert wird und für etwa zwanzig Jahre das literarische Feld dominiert. Aufgrund dieser symbolischen Grenze erübrigt sich eine formale Mitgliedschaft. Hans Werner Richter spricht in seinen Erinnerungen häufig von einer »ursprünglichen Mentalität«61 der Gruppe, und von einer unausgesprochenen, gefühlten Zugehörigkeit des einen oder anderen Teilneh-

60 Vgl. Fuhse, Jan A.: Gruppe und Netzwerk. Eine begriffsgeschichtliche Rekonstruktion. In: Berliner Journal für Soziologie (2006), H. 2, S. 245263, hier S. 254 ff. 61 Hans Werner Richter und die Gruppe 47. Hrsg. v. Hans A. Neunzig. München 1979, S. 171.

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mers.62 Diese symbolische Grenze des Netzwerks ist auf der Ebene sozialer Praxis verortbar. Sie besitzt eine gewisse Variabilität und ist an Habitus, soziale Praxis und Diskurse gebunden. Auch im Beziehungsgeflecht Walter Höllerers findet im Zuge der oben beschriebenen Verdichtung in den frühen 1960er Jahren eine symbolische Grenzziehung statt. Diese wird aber, anders als in der ›Gruppe 47‹, netzwerkintern nicht semantisiert. Auch gibt sich das Netzwerk um Höllerer keine narrativ konstituierte kulturelle Identität, keinen Gründungsmythos. Die symbolische Außengrenze sorgt jedoch dafür, dass sich die Kontakte und damit die kommunikativen Anschlussmöglichkeiten an den Rändern des Netzwerks ausdünnen, dass also relativ klar zwischen Innen und Außen unterschieden werden kann. Dass das Ganze für Außenstehende als undurchsichtig und mafiös erscheint, liegt unter anderem an der zwar symbolischen, aber eben nicht artikulierten Außengrenze und der damit einhergehenden sozialen Praxis. Das war beim Netzwerk der Gruppe 47 anders. Diese konnte offen als ›identitäres‹ Phänomen auftreten und in den 1950er Jahren zugleich wichtige Funktionen für den Aufbau des Literaturbetriebs erfüllen: Positionierung junger Autoren, Besetzung wichtiger Positionen im literarischen Feld, Vorselektion für den Buchmarkt, Organisation von Debatten über Möglichkeiten literarischer Ästhetik usw. Sie umfasste außerdem zunächst nur Schriftsteller. Kritiker, Verleger und Medienvertreter gesellten sich erst allmählich hinzu, was Hans Werner Richter nicht ohne einen gewissen Missmut zur Kenntnis nahm. Die Gruppenidentität erschien in den 1950er Jahren als völlig legitim, zumal die Gruppe nicht an eine Stadt oder Verwaltungsstrukturen gebunden war,

62 Dies erzeugt selbstverständlich auch Exklusionseffekte: So berichten beispielsweise Peter Weiss, Paul Celan und Vigoleis Thelen unabhängig voneinander, das schwere Gefühl gehabt zu haben, ›nicht wirklich‹ dazuzugehören. Vgl. hierzu etwa Delabar, Walter: Im dritten Exil? Albert Vigoleis Thelen bei der »Gruppe 47«. In: Die Horen 45 (2000), H. 3, S. 252-266 sowie Müssener, Helmut: »Du bist draußen gewesen.« Die unmögliche Heimkehr des exilierten Schriftstellers Peter Weiss. In: Fetscher, Justus / Lämmert, Eberhard / Schutte, Jürgen: Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik. Würzburg 1991, S. 135-151.

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sondern über Hans Werner Richter zusammengehalten wurde und wie ein ›literarischer Wanderzirkus‹ ortsunabhängig operierte. Walter Höllerer und Hans Werner Richter Dass Mitglieder der Gruppe 47 immer wieder behaupten, die Gruppe 47 sei keine Gruppe im emphatischen Sinne gewesen, ist aus netzwerktheoretischer Sicht keine bloße Koketterie. Wenn es heißt, dass die Gruppe 47 keine Gruppe sei, weil es keine formelle Mitgliedschaft gebe, weil sie eher ein loser Zusammenschluss von Leuten sei, die sich schreibend engagieren wollen usw., dann kann dahinter der Versuch erkannt werden, ein Netzwerkphänomen zu beschreiben. Der Begriff des sozialen Netzwerks gehört in den 1950er und 1960er Jahren allerdings noch nicht zum Repertoire der gesellschaftlichen Semantik.63 Ab 1962 wird die Gruppe 47, die über Hans Werner Richter als Institution adressierbar ist, zunehmend in das Berliner LiteraturNetzwerk integriert. Den ersten Schritt hierzu hatte Walter Höllerer Mitte 1962 unternommen, als er gemeinsam mit Hans Werner Richter die Jubiläumstagung zu planen begann. Ursprünglich hatte Hans Werner Richter geplant, das fünfzehnjährige Bestehen der Gruppe 47 in der bayerischen Provinz zu feiern, fernab von allem Trubel. Höllerer überzeugte ihn, nach eigenem Bekunden, die Veranstaltung nach Berlin zu verlegen, wie aus einem Brief Höllerers an Willy Brandt deutlich wird: Ich habe Hans Werner Richter gut zugeredet, diese Tagung nicht in einem kleinen bayerischen Ort, sondern nach Berlin zu verlegen, da Berlin der richtige Ort für das diesjährige Treffen ist.64

Höllerer engagiert sich hier nicht nur, um Hans Werner Richter einen Gefallen zu tun. Die Tagung, deren Finanzierung er durch strategischen Einsatz von Sozialkapital und symbolischem Kapital sichern kann, dient auch der Verknüpfung des Berliner Netzwerks mit der repräsentativen Gruppe 47. Dass das Verhältnis zwischen Richter und

63 Heute ist es hingegen gängig, von Kreativ-Netzwerken u.ä. zu sprechen. 64 Höllerer, Walter an Willy Brandt, Brief v. 13.7.1962. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Ordner »Gruppe 47«, ohne Signatur.

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Höllerer dabei aber nicht frei von Spannungen ist, wird an folgendem Sachverhalt deutlich. Am Ende der ganz im Zeichen von Cuba-Krise und SpiegelAffaire stehenden Tagung im Oktober 1962 lässt Hans Werner Richter eine kurze Erzählung von sich vortragen. Er machte sich einen Spaß daraus, die Autoren raten zu lassen, von wem der Text wohl sei. Offenbar wollte er gewissermaßen seine Autorposition innerhalb der Gruppe messen und sich zugleich als Autor profilieren, als der er in der Gruppe ja kaum aufgetreten ist. In dem kurzen Text mit dem Titel Das Ende der I-Periode wird ein experimentelles Literaturverständnis karikiert.65 Ein Modeschriftsteller mit suggestiver Ausstrahlung zersägt und zerteilt Wörter, Buchstaben, »A-Teilchen« und wird am Ende Opfer einer »Explosion von gewaltiger Kraft« in Folge eines »Fusionsproze[sses]«,66 den er durch sein manisches Treiben auslöst. Neben der intertextuellen Referenz auf die atomare Rüstung der frühen 1960er Jahre enthält diese Erzählung auch einen Seitenhieb auf Walter Höllerer, wie Hans Werner Richter 1986 rückblickend schreibt: In meinen Augen war er so etwas wie ein Formalist, wie man das damals nannte, ja, ich hatte ihn im Verdacht, eine Art Fraktionsbildung innerhalb der ›Gruppe 47‹ zu betreiben, eben gegen jene politisch engagierte Literatur der ersten Jahre, die es immer noch gab. Ich schrieb deshalb eine satirische Geschichte, die ich die I-Periode nannte […].

Hier wird eine Differenz zwischen Richter und Höllerer deutlich, die zugleich eine Differenz innerhalb des literarischen Feldes der 1960er Jahre markiert. Auf der einen Seite stehen politisch-publizistisch orientierte Autoren, die die Weimarer Republik meist noch als junge Männer erleben konnten, wie etwa Hans Werner Richter, Alfred Andersch oder Walter Kolbenhoff. Ihre Position ist gekennzeichnet von einem gesellschaftskritischen Selbstverständnis, das mit einer im weitesten Sinne realistischen Ästhetik einhergeht.67

65 Richter, Hans Werner: Das Ende der I-Periode. In: Akzente 10 (1963), H. 1, S. 104-109. 66 Ebd., S. 108. 67 Vgl. hierzu Peitsch, Helmut: Die Gruppe 47 und das Konzept des Engagements. In: Parkes, Stuart / White, John J. (Hrsg.): The Gruppe 47. Fifty

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Höllerer bildet hierzu aus der Sicht Richters einen Gegenpol. Er steht für eine Anknüpfung an die Tradition der literarischen Moderne, an Jean Paul, Heinrich Heine, James Joyce, Samuel Beckett und Franz Kafka. Er bemüht sich seit den 1950er Jahren um eine Intellektualisierung der Debatten über Literatur und zeigt eine starke Affinität zur Neo-Avantgarde.68 Dass er dabei aber nur vermeintlich ›unpolitisch‹ ist, wird an seiner Nähe zur liberalen und modernistischen Position von Shepard Stone und der Ford Foundation deutlich. Dass Höllerer vermehrt junge, ›avantgardistische‹ Autoren ins Boot zu holen versucht – Helmut Heißenbüttel, Peter Weiss, Konrad Bayer, Peter Bichsel, Reinhard Lettau u.a. – beobachtet Richter skeptisch und vermutet eine bewusste Fraktionsbildung gegen die ehemals dominante ästhetische Ausrichtung der Gruppe. Zugleich ist Richter – gelinde gesagt – reserviert gegenüber der ›plurilokalen‹ Position Höllerers im Berliner Literaturbetrieb.69 Denn auch Richter steht mit seinen Kontakten, ähnlich wie Höllerer, zwischen den Funktionssystemen Literatur und Politik. Er pflegt Kontakt zu Willy Brandt, zu Pressevertretern und – als Chef der Gruppe 47 – natürlich zu einer Vielzahl an Autoren. Die akademische Position und die Herausgebertätigkeit, die Kontakte zur Verwaltung und zu den Medien machen Höllerer unausgesprochen zu seinem ›großen Konkurrenten‹. Die Versuche Richters, sich im Berliner Netzwerk der 1960er Jahre eine hohe Position zu sichern, kann also auch als Wetteifern gegen Höllerer gelesen werden. Bereits 1961 sah Richter, dass er im Hinblick auf die Entwicklungen der literarischen Ästhetik keinen Anschluss mehr findet. An Walter Jens, der die »Nachkriegsprogramme« mit ihrer Orientierung am Realismus in seiner Literatur der Gegenwart für rückständig erklärt hat (»Neorealismus ist tot«),70 schreibt er:

Years on a Re-Appraisal of ist Literary and Political Significance. Amsterdam 1999, S. 25-51 sowie Schutte, Jürgen: Literarische Restauration – literarische Opposition. Vom Spielraum realistischer Literatur am Anfang der 50er Jahre. In: Parkes / White 1999, S. 53-67. 68 Vgl. den Beitrag von Johanna Bohley im vorliegenden Band. 69 Vgl. Kämper-van den Boogaart 2007. 70 Jens, Walter: Deutsche Literatur der Gegenwart. Themen, Stile, Tendenzen. München 1961, S. 150.

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Ich […] bin nach Deiner These hundert Jahre hinter der Zeit zurück. Das stimmt mich natürlich traurig, hielt ich mich doch noch vor Kurzem für einen verhältnismäßig modernen Menschen, der sich mit ein paar Literaten und ein paar Politikern abmüht. Was bleibt nun übrig. Es gibt nur zwei Wege, einmal sich selbst zu modernisieren, das heißt eine Art Höllerer zu werden, oder die Literatur ganz aufzugeben. Da ich kein Höllerer werden kann, selbst nicht bei den größten artistischen Verrenkungen, so bleibt wohl nur der zweite Weg, d.h. die Literatur mit allem drum und dran aufzustecken.71

Bemerkenswert ist, das Höllerer hier nicht bloß als Repräsentant einer modernistischen Ästhetik erscheint, auch nicht als bloßer LiteraturManager, sondern als Modernisierer schlechthin, der beides zugleich zu sein scheint und damit eine zu Hans Werner Richter analoge Funktion als Autor und Organisator erfüllt. Der Wirkungsort Berlin wird für Hans Werner Richter ab dem Moment interessant, an dem die von Höllerer mit-initiierten Entwicklungen überregional sichtbar werden. Nur einige Monate nach dem Brief an Walter Jens – inzwischen wurde mit dem Mauerbau begonnen – ist Hans Werner Richter für zwei Wochen in Berlin und im Hinblick auf Kulturpolitik voller Tatendrang. An Georg Ramseger schreibt er nach seiner Rückkehr nach München: Was mir als Vorschlag generell vorschwebt ist: Berlin zu einem deutschen kulturpolitischen Zentrum von internationalem Rang zu machen. Dies ist möglich, wenn man es ernsthaft will. Ein Beispiel ist Höllerer, der schon sehr viel in dieser Hinsicht unternimmt. Aber man darf dies nicht untergeordneten Beamten überlassen. Dann wird es nie etwas.72

Diese offenen Ambitionen Richters lassen die Machtposition Walter Höllerers allerdings unberührt. Die Strukturen, in denen sich Walter Höllerer mit seiner Anbindung an Wissenschaft und Verwaltung, an internationale Literaturszenen und Massenmedien bewegt, machen ihn zwar zu einem Konkurrenten aus Sicht Richters, umgekehrt kann Höllerer in Richter aber keinen Konkurrenten, sondern allenfalls einen Kooperationspartner gesehen haben. So stellt Höllerer die Verbindung

71 Richter, Hans Werner an Walter Jens: Brief v. 13.6.1961. In: Richter, Hans Werner: Briefe. Hrsg. v. Sabine Cofalla. München 1997, S. 346. 72 Richter, Hans Werner an Georg Ramseger: Brief v. 4.12.1961. In: Richter 1997, S. 385.

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zwischen Hans Werner Richter und dem SFB beispielsweise selbst her. Über Rudolf de le Roi und die Berlin-Stiftung des Bundesverbands der deutschen Industrie wird Hans Werner Richter zu einem mehrwöchigen Aufenthalt in Berlin eingeladen, der den Beginn seiner Einbindung in den Berliner Kulturbetrieb darstellt: Die Leute vom Kulturkreis haben meinem Vorschlag zugestimmt, und Du wirst eingeladen, zwischen vier und acht Wochen auf ihre Kosten in Berlin zu leben. Du wirst in den nächsten Tagen diese Einladung bekommen. Es wäre gut, wenn Du an den Herrn [Gustav] Stein [Hauptgeschäftsführer des BDI, M.P.H.] dann gleich schreiben würdest, wann Du in Berlin wohnen willst.73

Zwar kann Hans Werner Richter seinen Kontakt zu Höllerer für die eigene Positionierung nutzen, andererseits nutzt Höllerer aber die Anwesenheit Richters dahingehend, dass das Netzwerk, in dem er sich bewegt, über seinen Kontakt einen Zugriff auf die Gruppe 47 erhält. Auffällig ist, dass zur selben Zeit, als Richter sich in Berlin um Vernetzung bemüht, die Struktur der Gruppe 47 deutliche Risse aufzeigt. Die internen ästhetischen Differenzen, die in Ansätzen schon Ende der 1950er Jahre spürbar waren, spitzen sich zu.74 Zugleich verändert der Funktionswandel der Gruppe im Hinblick auf ihr Verhältnis zu Massenmedien und Ökonomie ganz deutlich das ›Klima‹ der Tagungen.75 Die expansive Tendenz der Gruppe führte zur Ausdifferenzierung von Subgruppen, die sich über die Ausrichtung an gemeinsamen ästhetischen Normen konstituierten. So entstanden allmählich, wie Richter selbst konstatierte, ästhetische Fraktionen, die sich im literarischen Feld gegenüberstanden, etwa Neorealisten und Formalisten. Dies trug deutlich zur Abschwächung des konsolidierenden ›Wir-Gefühls‹ bei, das Hans Werner Richter immer wieder als »ursprüngliche Mentalität« der Gruppe gekennzeichnet hat. Die kulturelle Identität der Gruppe wird also zunehmend weniger intrinsisch über soziale Praxis produziert, sondern gleichsam von außen durch die Semantisierung als

73 Höllerer, Walter an Hans Werner Richter: Brief v. 20.6.1962. In: LSR, Nachlass Walter Höllerer, Signatur: 03WH/AC/4,34. 74 Vgl. Arnold, Heinz Ludwig: Gruppe 47. Ein kritischer Grundriß. 3., gründlich überarbeitete Auflage. München 2004, S. 130 ff. 75 Vgl. ebd., S. 175 ff.

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Gruppe vollzogen. Der Name »Gruppe 47« verkommt in den Augen einiger Mitglieder dadurch nach und nach zur ›leeren Hülse‹. Zusätzlich gingen auch die äußeren, politischen Entwicklungen nicht spurlos an der Gruppe vorbei. Mauerbau, Cuba-Krise, SpiegelAffaire – im Jahr 1963 dann der Rücktritt Adenauers – all dies stellte die Sinnorientierung der Gruppe in Frage, die sich im System der Nachkriegszeit entwickelt hatte. Die Gruppe 47 war optimal in die Ordnung der Zeit nach 1945 eingepasst. Die Zeit zwischen der Spiegel-Affaire und dem Beginn der Großen Koalition im September 1966 kann daher als Zerfallszeit der Gruppe gelten, in der sich auch die Nachkriegszeit endgültig ihrem Ende zuneigt. Diese Auffassung wird durch mehrere Äußerungen Hans Werner Richters bestärkt. Nach der Berliner Jubiläumstagung, die ein wichtiger Schritt in Höllerers Vernetzungsprozess war, schreibt er weitsichtig: Tatsächlich, wir leben in einer Staats- und Gesellschaftskrise. Die Nachkriegszeit ist mit unserem Jubeläum [sic!], mit der Cubakrise, mit der Spiegelaffaire, mit Franz Josef Strauß und so fort mit einem stinkenden Knall zuende gegangen.76

Und nur einige Tage später heißt es in einem Brief an Wolfgang Hildesheimer: [D]ie Nachkriegszeit, die schöne, wunderbare Nachkriegszeit, ist zuende gegangen. Wir, die Gruppe 47, werden uns wieder in die Wälder zurückziehen und uns dort ein wenig von dem erhalten, woran wir hängen.77

Vier Jahre später, in einem weiteren Brief an Hildesheimer, findet sich – unter dem Eindruck der ersten Großen Koalition der Bundesrepublik – fast derselbe Wortlaut:

76 Richter, Hans Werner an Walter Höllerer: Brief v. 1.12.1962. In: Richter 1997, S. 430. 77 Richter, Hans Werner an Wolfgang Hildesheimer: Brief v. 8.12.1962. In: Richter 1997, S. 433.

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Die lange, lange Nachkriegszeit ist zuende gegangen. Wahrscheinlich auch die Zeit der Gruppe 47. Genau weiss man es nicht, aber was weiß man schon genau.78

Dieses wehmütige und durchaus langatmige Beklagen des Endes der Nachkriegszeit legt nahe, dass die Gruppe 47 – zumindest in der Wahrnehmung Richters – zwischen den Jahren 1962 und 1966, also zwischen Spiegel-Affaire und Großer Koalition, ihre historische Heimat verloren hat, an die sie strukturell und sinnhaft sehr stark gebunden war. Richter kann sein Projekt ›Gruppe 47‹ bereits in den frühen 1960er Jahren nicht mehr richtig einordnen. Im Prozess der Modernisierung der westdeutschen Gesellschaft scheint er, plakativ gesagt, einfach den Anschluss zu verlieren, was sich erst ändert, als er im Berliner Kulturbetrieb Fuß fasst und damit beginnt, Sendungen für den SFB zu moderieren. Die Entwicklungen im Literaturbetrieb entziehen auch das Tagungsgeschehen tendenziell seiner Kontrolle. In mehreren Briefen beschwert er sich über die wachsende Präsenz von Verlegern und Medienvertretern auf Gruppe 47-Tagungen. Es ist die Rede davon, dass »überflüssige Zuhörer« ihn wieder »unterlaufen« hätten.79 Die soziale Praxis, die das ›Wir-Gefühl‹ der ›frühen‹ Gruppe 47 konstituiert hat, war an Diskurse gebunden, die es in den frühen 1960er Jahren offenkundig nicht mehr gab. Schluss Gegenüber der Modernisierung des Literaturbetriebs müssen sich Walter Höllerer und das Literarische Colloquium Berlin, anders als die ›Gruppe 47‹, nicht erst behaupten. Im Gegenteil: Höllerer ist mit seinen Projekten maßgeblich am Modernisierungsprozess beteiligt. Das LCB übernimmt dabei Funktionen, die die Gruppe 47 spätestens seit Mitte der 1960er Jahre nicht mehr erfüllen konnte. An dem ProsaColloquium im Winter 1963/64, das von Hans Werner Richter, Peter Weiss, Günter Grass, Walter Höllerer und Peter Rühmkorf im LCB

78 Richter, Hans Werner an Wolfgang Hildesheimer: Brief v. 28.12.1966. In: Richter 1997, S. 638. 79 Richter, Hans Werner an Walter Höllerer, Brief v. 6.10.1962. In: Akademie der Künste, Berlin, Hans-Werner-Richter-Archiv, Nr. 522/203.

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geleitet wird,80 kann man beispielsweise sehen, dass das LCB den Widerspruch zwischen intimer Kommunikation und öffentlicher Präsenz – also ›Werkstattcharakter‹ und Publizität – auflösen kann. Der Gruppe 47 ist dies zu dieser Zeit nicht mehr gelungen.81 Die Funktionen, die die Gruppe 47 im literarischen Feld der 1950er Jahre innehatte, werden in den 1960er Jahren allmählich von einem System aus Buchmarkt, Stiftungen, kulturpolitischen Institutionen und Medien übernommen. In diesem System besetzen Walter Höllerer und das LCB gewichtige Positionen. Das Ende der Gruppe 47 wird mit der APO und der Entstehung der Studentenrevolten zwar mehr oder weniger besiegelt,82 die Ursachen hierfür liegen aber im Umfeld der Spiegel-Affaire, der Kuba-Krise und der von Walter Höllerer organisierten Jubiläumstagung am Berliner Wannsee. Dass die 1960er Jahre in der Literaturgeschichtsschreibung häufig von ihrem Ende her gedacht werden,83 führt bisweilen zu einer semantischen Überformung des Zugriffs auf die Entwicklungsprozesse der gesamten Dekade durch die Studentenrevolten und die gesellschaftlichen Umstürze im Umfeld des Jahres 1968. Die entscheidenden Weichenstellungen für die Modernisierung des Literaturbetriebs, in deren Zuge die Gruppe 47 anachronistisch wird und Berlin sich zum literarischen Zentrum der Bundesrepublik entwickelt, liegen aber am Beginn der 1960er Jahre. Die literaturwissenschaftliche Forschung zu den frühen 1960er Jahren steckt indes noch in den Anfängen. Ein Blick auf Walter Höllerer und seine Projekte der frühen 1960er Jahre verdeutlicht, dass sich hier Prozesse und Entwicklungen, kulturpolitische Entscheidungen, mediengeschichtliche Veränderungen, ästhetische Debatten und Netzwerkentstehungen ausmachen lassen, die für das Ver-

80 Vgl. Hasenclever, Walter (Hrsg.): Prosaschreiben. Eine Dokumentation des Literarischen Colloquiums Berlin. Berlin 1964. 81 Vgl. Arnold 2004, S. 202 ff. 82 So der Befund von Gilcher-Holtey, Ingrid: Die APO und der Zerfall der Gruppe 47. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 25 (2007), S. 19-24 sowie Dies.: Was kann Literatur und wozu schreiben? Das Ende der Gruppe 47. In: Berliner Journal für Soziologie 14 (2004), H. 2, S. 207-232. 83 So z.B. Barner, Wilfried: Vom Schriftsteller-Engagement zur KulturRevolte: Literarisches Leben im Westen. In: Ders. (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2. Aufl. München 2006, S. 341-367.

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ständnis der Entwicklung des literarischen Lebens der Bundesrepublik zumindest nicht weniger relevant sind als die Ereignisse der späten 1960er Jahre.

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Q UELLEN

UND

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L ITERATUR

Akademie der Künste: Sitzungsprotokolle der ›Abteilung Dichtung‹. In: Akademie der Künste, Berlin, Historisches Archiv (= AdK-W). Arnold, Heinz Ludwig: Gruppe 47. Ein kritischer Grundriß. 3., gründlich überarbeitete Auflage. München 2004, S. 130 ff. Barner, Wilfried: Vom Schriftsteller-Engagement zur Kultur-Revolte: Literarisches Leben im Westen. In: Ders. (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2. Aufl. München 2006, S. 341-367. Bender, Hans / Höllerer, Walter: Redaktionskorrespondenz Akzente. In: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg, Bestandssignatur: 01AK. Berghahn, Volker: Transatlantische Kulturkriege. Shepard Stone, die Ford-Stiftung und der europäische Antiamerikanismus. Stuttgart 2004. Bommes, Michael / Tacke, Veronika: Das Allgemeine und das Besondere des Netzwerkes. In: Hollstein, Bettina / Straus, Florian (Hrsg.): Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen. Wiesbaden 2006, S. 37-62. Böttiger, Helmut: Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs. Ausstellungsbuch unter Mitarbeit von Lutz Dittrich. Berlin 2005. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M. 1999. Chotjewitz, Peter O.: Berliner Literaturwerkstatt e.V. Walter Höllerer und sein ›Literarisches Colloquium‹. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 270 v. 11.11.1966. de le Roi, Rudolf: Aufzeichnungen aus meinem Leben. [Privatdruck, o.O.] 1976, S. 47 f. Delabar, Walter: Im dritten Exil? Albert Vigoleis Thelen bei der »Gruppe 47«. In: Die Horen 45 (2000), H. 3, S. 252-266. Fuhse, Jan A.: Gruppe und Netzwerk. Eine begriffsgeschichtliche Rekonstruktion. In: Berliner Journal für Soziologie (2006), H. 2, S. 245-263. Fuhse, Jan A: Gibt es eine phänomenologische Netzwerktheorie? In: Soziale Welt 59 (2008), S. 31-52. Gilcher-Holtey, Ingrid: Die APO und der Zerfall der Gruppe 47. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 25 (2007), S. 19-24.

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Gilcher-Holtey, Ingrid: Was kann Literatur und wozu schreiben? Das Ende der Gruppe 47. In: Berliner Journal für Soziologie 14 (2004), H. 2, S. 207-232. Hans Werner Richter und die Gruppe 47. Hrsg. v. Hans A. Neunzig. München 1979. Hasenclever, Walter (Hrsg.): Prosaschreiben. Eine Dokumentation des Literarischen Colloquiums Berlin. Berlin 1964. Hehl, Michael Peter: Poetik der Institution. Walter Höllerers institutionelles Engagement und die Literatur der Moderne. In: kultuRRevolution, Nr. 63 (2012), S. 45-53. Hickethier, Knut: Aufbruch in die Mediengesellschaft. Die Gruppe 47 und die Medien. In: Akademie der Künste (Hrsg.): Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur. Berlin 1988, S. 114-123. Hochgeschwender, Michael: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998. Höllerer, Walter: Memorandum zur Gründung eines Instituts »Sprache im technischen Zeitalter« (1959). In: Berliner Hefte 8 (2008), S. 103-109. Höllerer, Walter: Nachlass Walter Höllerer. In: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg, Bestandssignatur: 03WH. Holzer, Boris: Netzwerke. Bielefeld 2006. Howaldt, Jürgen: Die Soziologie in Zeiten der Wissensgesellschaft. Kritische Anmerkungen zu einer unzeitgemäßen Unterscheidung. In: Sozi-ologie 34 (2005), H. 4, S. 424-441. Jens, Walter: Deutsche Literatur der Gegenwart. Themen, Stile, Tendenzen. München 1961. Kämper-van den Boogaart, Michael: „Und einmal muß es gesagt werden...“ Der Autor und Germanist Walter Höllerer im Dienste der Gruppe 47. Ein Vorfall aus dem Jahr 1966. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 17 (2007), H. 1, S. 108-127. Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon: Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. 4. Aufl. Stuttgart 2005. Müssener, Helmut: »Du bist draußen gewesen.« Die unmögliche Heimkehr des exilierten Schriftstellers Peter Weiss. In: Fetscher, Justus / Lämmert, Eberhard / Schutte, Jürgen: Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik, S. 135-151. Neumann, Robert: Spezis. Gruppe 47 in Berlin. In: Konkret (1966), H. 5, S. 34-39.

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Peitsch, Helmut: Die Gruppe 47 und das Konzept des Engagements. In: Parkes, Stuart / White, John J. (Hrsg.): The Gruppe 47. Fifty Years on a Re-Appraisal of ist Literary and Political Significance. Amsterdam 1999, S. 25-51. Poth, Chlodwig: Poths Deutsche Tour. 4. Berlin. In: Pardon, Jg. 1966, H. 4, S. 71. Richter, Hans Werner: Briefe. Hrsg. v. Sabine Cofalla. München 1997. Richter, Hans Werner: Das Ende der I-Periode. In: Akzente 10 (1963), H. 1, S. 104-109. Richter, Hans Werner: Das Lachen der Oberpfalz. Walter Höllerer. In: Ders.: Im Etablissement der Schmetterlinge. 21 Portraits aus der Gruppe 47. Mit Photos von Renate v. Mangoldt. Berlin: Wagenbach 2004 [EA 1986], S. 141-148. Richter, Hans Werner: Nachlass Hans Werner Richter. In: Akademie der Künste, Berlin, Hans-Werner-Richter-Archiv. Röhl, Klaus-Rainer: Liebe Konkret-Leser. In: Konkret (1966), H. 9, S. 43. Schutte, Jürgen: Literarische Restauration – literarische Opposition. Vom Spielraum realistischer Literatur am Anfang der 50er Jahre. In: Parkes, Stuart / White, John J. (Hrsg.): The Gruppe 47. Fifty Years on a Re-Appraisal of ist Literary and Political Significance. Amsterdam 1999, S. 53-67. Stegbauer, Christian (Hrsg.): Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2008. Zimmer, Dieter E.: Die Literatur-Mafia von Berlin. Eine rabiate Polemik und einige nüchterne Betrachtungen. In: Die Zeit, Nr. 48 v. 25.11.1966, S. 17-18.

Walter Höllerers Neuakzentuierung der Intellektuellenrolle im Literaturbetrieb R OLF P ARR

I Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob sich die Position von Walter Höllerer im Literaturbetrieb der 1960er Jahre mit Gewinn als die eines Intellektuellen beschreiben lässt, und ob eine solche Form der Beschreibung neue Sichtweisen auf das ›Gesamtprojekt Höllerer‹ und en passant vielleicht auch den Literaturbetrieb seiner Zeit ermöglicht. Entsprechend geht es im ersten Teil darum, im Rückgriff auf Überlegungen der Interdiskurstheorie heuristisch zu bestimmen, was einen Intellektuellen eigentlich ausmacht.1 Der zweite Teil versucht auf dieser Basis dann die Aktivitäten Höllerers als ein Projekt der rotierend-integrativen Besetzung von Teilbereichen des Literatur-, Wissenschafts- und Medienbetriebs zu charakterisieren. Abschließend wird gefragt, warum dieses ›Projekt Höllerer‹ im Grunde schon nach knapp zehn Jahren, nämlich mit der einsetzenden Studentenbewegung, als anachronistisch erscheinen musste.

1

Der bereits vielfach an anderer Stelle dargestellte Ansatz der Interdiskurstheorie soll hier nicht noch einmal ausführlich referiert werden. Die einschlägige Literatur ist verzeichnet in Parr, Rolf / Thiele, Matthias: Link(s). Eine Bibliografie zu den Konzepten ›Interdiskurs‹, ›Kollektivsymbolik‹ und ›Normalismus‹ sowie einigen weiteren Fluchtlinien. 2., stark erw. und überarb. Aufl., Heidelberg 2010.

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Was aber macht einen Intellektuellen eigentlich aus? Als konstitutive Merkmale sind zunächst einmal seine gesamtgesellschaftliche Sprecherrolle2 und damit verbunden ein gewisser »Anspruch auf Universalität« zu nennen. Georg Jäger hat den Intellektuellen daher dem Experten gegenübergestellt. »Der Experte« könne »sich auf fachspezifische Fähigkeiten und Kenntnisse berufen, die er in der Regel in einer Ausbildung erworben und durch Prüfungen nachgewiesen« habe. Demgegenüber seien »die Intellektuellen ›Fachleute eines integrierenden Dilettantismus‹«3 auf vielen Gebieten. Als »Spezialist[en] für das Wort«4 schließen sie die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche sprachlich miteinander kurz. Wenn es aber offensichtlich um sprachliches Zusammenführen von Spezialwissensgebieten zu Synthesen geht, dann liegt es nahe, die Spezifik des Intellektuellen diskurstheoretisch zu reformulieren und ihn als ›Spezialisten für diskursverbindende, inter-diskursive Synthesen‹ zu charakterisieren, also als jemanden, der Breitenwirkung dadurch erzielt, dass er als nicht-spezieller Ort der Bündelung von im Alltag immer nur arbeitsteilig verfolgten Spezialgebieten fungiert und auf diese Weise vielfältig anschlussfähige und attraktive Publikumsprojekte in Form von imaginären Totalitäten anbietet. Genau dies haben Intellektuelle aber wiederum mit der ebenfalls hochgradig interdiskursiven modernen Literatur gemeinsam, sodass es nicht von ungefähr kommt, dass Schriftsteller vor Vertretern anderer Berufsgruppen wie Politikern und Wissenschaftlern immer wieder als Intellektuelle wahrgenommen und bezeichnet werden. Die Position einer solchen integrativ wirkenden intellektuellen Stimme war nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch vakant und für einige Zeit nur wechselnd besetzbar.5 Insbesondere schienen die als Interdiskursexperten dafür geradezu prädestinierten Schriftsteller nicht mehr

2

Vgl. Jäger, Georg: Der Schriftsteller als Intellektueller. In: Hanuschek, Sven / Hörnigk, Therese / Malende, Christine (Hg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Tübingen 2000, S. 1-25.

3

Ebd., S. 6. Jäger zitiert hier Dircks, Walter: Heilige Allianz. Bemerkungen zur Diffamierung der Intellektuellen. In: Frankfurter Hefte (1961), S. 2332, hier S. 29.

4

Vgl. Jäger 2000, S. 3.

5

Für die »Gruppe 47« spricht Robert Neumann (Spezis. Gruppe 47 in Berlin. In: Konkret, 1966, H. 5, S. 34-39, hier 34) von »den Zufalls-Ausfüllern eines Vakuums«.

N EUAKZENTUIERUNG

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infrage zu kommen, was zum einen daran lag, dass die NS-nahen Autoren viel vom positiven Kredit der Schriftsteller als hörenswerte öffentliche Stimmen verspielt hatten, zum anderen aber auch an einer generellen Skepsis gegenüber ›großen Synthesen‹, die stets auch Ideologien darstellen,6 was es schwer bis unmöglich machte, sie in der Nachkriegszeit wirkungsvoll ins Spiel zu bringen. Wollte man in dieser Situation dennoch die Position einer vom Literarischen herkommenden öffentlichen Stimme ausfüllen, dann musste dies völlig anders geschehen als durch die bisher üblichen Kopplungen im Diskursspektrum von Politik, Literatur, Religion und Populärwissenschaft. Andere Kombinationen gesellschaftlicher Teilbereiche und ihrer Diskurse mussten von anderen Sprecherpositionen aus zu anderen Synthesen als bisher zusammengeführt werden. II Genau diese Lücke füllte zwischen 1959 und 1968 für eine Spanne von knapp zehn Jahren Walter Höllerer aus, und zwar mit seinem Projekt der Kombination und teilweisen Integration öffentlichkeitsrelevanter literarisch-medialer Arbeitsfelder unter weitgehendem Ausschluss von ›großer‹ Politik, aber unter Einschluss der Literatur- und im Weiteren auch Kulturpolitik Berlins.7 Dabei positionierte sich Höl-

6

Siehe dazu Link, Jürgen: ›Diskurs‹ und/oder ›Ideologie‹? In: kultuRRevolution 4 (1983), S. 46-68; ders.: Warum Foucault aufhörte, Symbole zu analysieren: Mutmaßungen über ›Ideologie‹ und ›Interdiskurs‹. In: Dane, Gesa u.a. (Hg.): Anschlüsse. Versuche nach Michel Foucault. Tübingen 1985, S. 105-114; ders.: Das Gespenst der Ideologie. In: Baßler, Moritz / Gruber, Bettina / Wagner-Egelhaaf, Martina (Hg.): Gespenster. Erscheinungen, Medien, Theorien. Würzburg 2005, S. 335-347.

7

Hans Werner Richter (Das Lachen aus der Oberpfalz. Walter Höllerer. In: Ders.: Im Etablissement der Schmetterlinge. Einundzwanzig Portraits aus der Gruppe 47. München 1986, S. 149-159) hat Höllerer in ganz ähnlicher Perspektive als jemanden charakterisiert, der auf lokaler Ebene einen »Behörden Sex-Appeal« habe (S. 156), der aber innerhalb der Gruppe 47 »eine Art Fraktionsbildung« gegen die »politisch engagierte Literatur der ersten Jahre, die es immer noch gab« betrieben habe (S. 158). Vgl. auch Neumann 1966, S. 37: »[…] Höllerer ist etwa so politisch wie Löschpapier oder Watte in einem Ärzteschrank […].« – Vgl. zu Berlin als Zentrum

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lerer innerhalb ›seiner‹ Integrationskonstellation sehr geschickt, indem er über seine Arbeitsfelder hinweg rotierte und dadurch weder für ein einziges vereinnahmt werden konnte, noch Gefahr lief, als übermächtiger Integrator zu erscheinen, der alle Felder zu besetzen in der Lage gewesen wäre, und dies auch noch als Experte. Nicht nur die Kombination von in der Regel eher arbeitsteilig verfolgten Bereichen des Literaturbetriebs machte demnach die Spezifik Höllerers als Intellektueller im Literaturbetrieb seiner Zeit aus, sondern ein Rotieren innerhalb des gesamten Spektrums der von ihm verfolgten Teiltätigkeiten, wobei als weiteres konstitutives Element tendenziell auch noch die gegenläufige Besetzung der einzelnen Arbeitsbereiche hinzukam, also die Strategie, auf einem Platz – wenn irgend möglich – eine nicht genuin damit verbundene und gerade nicht erwartete Position einzunehmen. So trat er bei der Gruppe 47 unter lauter Schriftstellern zunächst über längere Zeit hinweg als Kritiker, Organisator, aber auch »Einkäufer« für die Akzente auf,8 weniger jedoch als Dichter, was zu einem hohen Grad an Ambivalenz zwischen Beobachter- und Mitgliedsstatus führte. Umgekehrt betätigte sich der Lyriker Höllerer als Herausgeber, der Wissenschaftler an der Technischen Universität Berlin als Literat, der literarische Autor in Rundfunk und Fernsehen als Wissenschaftler, der Germanist als Komparatist.9 Man könnte das als eine Strategie des Sich-Dislozierens bezeichnen, die allerdings so angelegt war, dass das Sich-Dislozierende-Rotieren zu einem Effekt von Integration führte, und zwar zu umso intensiverer, je schneller und öfter die Wechsel zwischen den einzelnen Arbeitsbereichen erfolgten. Solche mehrfachen Positionswechsel hat Claude Lévi-Strauss als eine gegenüber der Figur des gesellschaftlich relevante Gegensätze in sich vereinenden Trickster als zwar schwächere, jedoch ebenfalls durchaus wirkungsvolle Form des imaginären Ausgleichs zwischen

amerikanischer kulturpolitischer Interventionen auch den Beitrag von Michael Peter Hehl in diesem Band. 8

Richter 1986, S. 151: »Er [Höllerer, R.P.] betätigte sich auch als Einkäufer, denn er gab die Zeitschrift ›Akzente‹ heraus und ließ drucken, was seinem literarischen Urteil standhielt.«

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Vgl. auch den Beitrag von Sven Hanuschek in diesem Band, der von ›Erwartungsirritationen‹ spricht.

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eigentlich antagonistischen Positionen beschrieben.10 Im Falle Höllerers scheint es dabei gerade die Schriftsteller-, d.h. Künstlerseite, gewesen zu sein, die ihn für die Tätigkeit als Literaturvermittler prädestinierte, denn sie stellte sicher, dass er trotz aller wissenschaftlichen Fortschrittlichkeit und insbesondere Offenheit für Medial-Technisches stets auch als jemand angesehen werden konnte, der die ältere, aus dem 19. Jahrhundert resultierende Bestimmung des Geisteswissenschaftlers als Künstler weiter tradierte. Dieses Konzept war bis zum Zweiten Weltkrieg nicht untypisch, man denke etwa an den GeorgeKreis.11 Während Künstler-Wissenschaftler vom Typus eines Friedrich Gundolf »den Antagonismus zwischen Kunst und Wissenschaft also durch seine Wiederholung innerhalb der Wissenschaft selbst«12 reproduzierten, konnte Höllerer Kunst und Wissenschaft durch seinen wissenschaftlichen Heimatort an einer Technischen Universität und durch die Semiologie als ein vom Anspruch her dezidiert szientistisches Theorieinstrument sowie durch sein Agieren auf institutionell und auch räumlich ganz verschiedenen Bühnen zugleich voneinander trennen und wirkungsvoll aufeinander beziehen. So betrachtet hat Höllerer die Vorkriegskonstellation des Bedingungsdreiecks von Literatur (im Weiteren Kunst überhaupt), Literaturwissenschaft und ›harter‹ Natur- bzw. Ingenieurwissenschaften dadurch modernisiert, dass er das ›alte‹, synchron integrierende Denkmodell von ›Wissenschaft als Kunst vs. unkünstlerische harte Wissenschaften‹ in das neue Modell eines auch technisch-mediale Aspekte einbeziehenden rotierenden Positionswechsels im Nacheinander überführt. Dafür gab sein eigenes Leben und Agieren zugleich die sinnfällige Anschauungsform ab. Auf diese Weise war auf keinem einzelnen seiner Arbeitsfelder die Reputation durch das Image eines der jeweils anderen gefährdet, Dichter und Wissenschaftler, Literat und Literaturvermittler zu sein, waren keine Gegensätze mehr. Das war

10 Vgl. dazu Parr, Rolf: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.« Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks (1860–1918). München 1992, bes. S. 24f. 11 Ich folge hier einer Überlegung, die Ulrike Pisiotis in ihrer Dissertation Rivalität und Bündnis. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Literatur der Moderne, Dresden 2012 (= Kulturstudien, Bd. 7) in anderem Zusammenhang entwickelt hat. 12 Ebd., S. 93.

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gegenüber der seit Beginn der klassischen Moderne geführten Diskussion um das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft eine neue, kreative, wenn auch eher auf vermeidende Ausgrenzung der drohenden Konflikte setzende Innovation. Erleichtert wurde sie durch die ab Ende der 1950er Jahre für einige Zeit vermehrt auch für Literatur zur Verfügung stehenden Sendeplätze in Rundfunk und Fernsehen. Von daher scheint es mir nicht ganz richtig bzw. Teil einer gewissen HöllererMythisierung zu sein, ihn wie beispielsweise Hermann Schlösser13 als ›dichtenden Germanistikprofessor‹ zu bezeichnen (mit der dahinter stehenden Idee, dass die eine Seite von der anderen nicht zu trennen ist) oder wie Norbert Miller zu konstatieren, dass Höllerer »den Dichter, den Essayisten, den Wissenschaftler und den um Einsicht werbenden Publizisten nie getrennt« habe.14 Demgegenüber soll im Folgenden an einigen Beispielfeldern aus Höllerers Tätigkeitsspektrum gezeigt werden, dass er mehr rotierte als intensiv-semantisch synthetisierte, dass er entweder Germanistikprofessor oder Dichter war, entweder Dichter oder Literaturvermittler, was partielle kleinere Integrationen auf einer subdominanten Ebene jedoch überhaupt nicht ausschloss. Solche partiellen Kopplungen lassen sich teilweise bis ins Detail hinein verfolgen. Sie stellen für Höllerer die Bedingung der Möglichkeit dar, in den 1950er und 1960er Jahren als eine Art ›Spinne im Netz des Literaturbetriebs‹ zu erscheinen, und zwar ohne die zu diesem Zeitpunkt als Position noch unmögliche ›große Synthese‹ je wirklich leisten zu müssen (und dies wohl auch weder gewollt, noch taktisch für besonders klug erachtet zu haben). Das erste dieser partiellen, manchmal auch nur punktuellen Kopplungs- und/oder Rotationsprojekte ist das von Dichter und Kritiker. Seinen Kern findet man in der Struktur der 1954 gegründeten und für

13 Schlösser, Hermann: Literaturgeschichte und Theorie in der Literatur. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. von Rolf Grimminger. Bd. 12: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München 1992, S. 385403, hier S. 395. 14 Miller, Norbert: Vorwort. In: Ders. / Klotz, Volker / Krüger, Michael (Hg.): Bausteine zu einer Poetik der Moderne. Festschrift für Walter Höllerer. München 1987, S. 7-10, hier 8. – Völlig richtig dagegen dann die Fortsetzung des Gedankens: »Nur im Zusammenspiel der Möglichkeiten sah er die Chance, für die Zukunft der Literatur zu wirken« (ebd.).

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lange Zeit zusammen mit Hans Bender herausgegebenen »Akzente. Zeitschrift für Dichtung«,15 die »von vornherein auf« ein »Ineinander von Dichtung und poetologischer Einsicht« sowie Kritik (letztere im Sinne des weiten angloamerikanischen Begriffs ›criticism‹ zu verstehen) »ausgerichtet« war.16 In der Gruppe 47, also eigentlich auf dem engeren Feld der Literatur, kam zu diesem Kern das Element der rotierenden Besetzung ganz verschiedener Felder hinzu, fungierte Höllerer innerhalb der Gruppe doch zunächst als Literaturkritiker, dann als Organisator und Herausgeber der Akzente (die den anderen Mitgliedern einen Publikationsort boten) und erst später als Dichter unter Dichtern. Eng mit diesem ersten Teilprojekt zusammen hängt – zweitens – die Kombination von Dichter und Wissenschaftler, die hier nur symptomatisch belegt sein soll. Von Pierre Chevalier zu einem Vortrag eingeladen, antwortete Höllerer auf eine Weise – darauf haben Roland Berbig und Alexander Krüger hingewiesen –, die den Literaturwissenschaftler und den Autor zugleich ins Spiel brachte, und zwar auch hier wieder nicht wirklich integral, sondern in Form des Positionswechsels im Nacheinander. In Hölleres Schreiben heißt es: Als Thema würde ich vorschlagen: »Deutsche Lyrik im 20. Jahrhundert und einige Verbindungslinien zur französischen und englischen Lyrik«. Ich würde in diesem Rahmen auf Ihre beiden Leitbegriffe »engagement« und »révolte« eingehen und, wenn Sie es wünschen, auch aus eigenen Texten lesen. Falls Ihnen das lieber ist, kann ich neben dem Vortrag am nächsten Tag eine Lesung aus eigenen Texten abhalten. Man kann aber auch beides kombinieren.17

Die prinzipiell auch denkbare Alternative ›nur Wissenschaft ohne Lesung‹ wird damit gar nicht mehr ernsthaft erwogen, sondern nur die Kombination beider. Auch hier haben wir es wieder mit einer der partiellen Integrationen im Gesamtfeld des Tätigkeitsspektrums von Höl-

15 Akzente. Zeitschrift für Dichtung. Hg. von Walter Höllerer und Hans Bender, Jg. 1 (1954). 16 Miller 1987, S. 9. 17 Höllerer, Walter an Pierre Chevalier: Brief v. 3.3.1959. Zit. n.: Berbig, Roland / Krüger, Alexander: Ein Novum unter der Ägis eines Lehrstuhlinhabers. Walter Höllerer im Jahr 1959. In: Berliner Hefte 8 (2008), S. 8999, hier S. 96.

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lerer in Form des Rotierens zu tun, hier praktiziert als einfacher Positionstausch. Was den Wissenschaftler Höllerer angeht, ist – drittens – die Verknüpfung von Literaturwissenschaft, Linguistik und Technik relevant, die ein weiteres Projekt partieller Integration bildet, das auf dem Feld der Semiologie als gemeinsamer Bezugstheorie realisiert werden sollte, um die »Sprache im technischen Zeitalter« an der Technischen Hochschule Berlin adäquat zu erforschen. In Höllerers »Memorandum zur Gründung eines Instituts ›Sprache im technischen Zeitalter‹« vom 8. Dezember 1959 heißt es: Ein weiterer Bereich der wissenschaftlich-theoretischen Untersuchungen dieses Instituts wird sein, die Brücke von der Sprache zur modernen Literatur zu schlagen: Wie hat sich die moderne Literatur dem technischen Sprechzustand angepasst, welche Gegenkräfte hat sie dagegen entwickelt, wie sind die Zusammenhänge zwischen »Sprache im technischen Zeitalter« und der modernen Lyrik, der modernen Prosa, der modernen Dramatik und der modernen Kritik. Eine Abteilung des Instituts wird sich vor allem mit der literarischen Kritik als Sprachkritik befassen, auch mit der kritischen Auseinandersetzung mit den spezialisierten Fachsprachen, der Diktion von Fachaufsätzen, nicht zuletzt mit der politischen Rhetorik im technischen Zeitalter und der Sprache des Kulturbetriebs. Von einer solchen Aktivität kann ein neuer Impuls für eine gemeinsame kritisch wissenschaftliche Grundlegung der speziellen Wissenschaften erwartet werden.18

Dass es aber auch hier nicht um intensive Synthese, sondern wiederum um ein Rotieren zwischen den Perspektiven von Linguistik und Literatur sowie zugleich von Kunst (Dichtung) und Technik geht, macht die Ergänzung von »Sprache im technischen Zeitalter« durch »Literatur im technischen Zeitalter« deutlich. Gedacht war Sprache im technischen Zeitalter, wie Höllerer in seiner Dankesrede zur Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der Technischen Universität Berlin ausführte, als Komplementärstück zu Akzente. Höllerer in seiner »Erwiderung«: »Sie sollte durch Essay den Disput fördern. Wie verwiesen in ihr auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die das elektronische Zeitalter auf

18 Höllerer, Walter: Memorandum zur Gründung eines Instituts »Sprache im technischen Zeitalter« vom 8.12.1959. Abgedruckt in: Berliner Hefte 8 (2008), S. 103-109, hier S. 107.

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allen Gebieten des täglichen Lebens [….] mit sich brachte.«19 Diese Kopplung von Literatur, Literaturwissenschaft und Linguistik sowie Technik und Technikbewusstsein musste konsequenterweise auch die Medien einbinden. Hier ist – viertens – insbesondere die Kopplung von Lyrik mit Medien wie Fernsehen, Radio und Schallplatte zu nennen. Zugleich bedeutete dies eine Verbindung von »Hochkultur mit einem Showcharakter«,20 wie ihn die moderierte Lesung unweigerlich mit sich brachte. Die Verknüpfung gelang Höllerer für eine gewisse Zeit produktiv und ohne die von Arnold Gehlen schon früh diagnostizierte Gefahr, als literarisch-wissenschaftlicher Intellektueller durch die modernen Medien zum »Entertainer des Publikums« gemacht zu werden, also seine als »authentisch« wahrnehmbare »Individualität« zu verlieren.21 Am deutlichsten wird das Modell rotierender Integration vielleicht – fünftens – an Höllerers Herausgeber- und das heißt vor allem Anthologistentätigkeit, die es ihm erlaubte, souverän zwischen Wissenschaft, Literatur und Essayismus hin und her zu wechseln, also Schnittstellen herzustellen, um sie gleich wieder zu unterlaufen. Symptomatisch sind hier bereits die Titel der von Höllerer herausgegebenen Anthologien. Im Falle von »Ein Gedicht und sein Autor. Lyrik und Essay. Hg. und mit Einleitungen versehen von Walter Höllerer« ist es der Plural bei »Einleitungen«,22 der nicht nur untypisch für die Gattung ist, sondern vor allem den kommentierenden und interpretierenden Literaturwissenschaftler in einem Feld stark macht, das eigentlich als eines von Autoren untereinander (ja sogar in der emphatischen Variante der Lyriker untereinander) gilt, und bei dem sich der herausgebende Wissenschaftler auf einen einleitenden Part zu beschränken hat. Oder als zweites Beispiel »Berlin: Literarisches Transit. Lyrikbuch der Jahr-

19 Höllerer, Walter: Erwiderung. In: Walter Höllerer zu Ehren. Festveranstaltung anlässlich der Verleihung der akademischen Würde Ehrenmitglied der Technischen Universität Berlin. Berlin, 12. Februar 1993 (= TUB DOKUMENTATION. Kongresse und Tagungen, H. 62), S. 33-42, hier S. 41. 20 Böttiger, Helmut: Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs. Berlin 2005, S. 8. 21 Jäger 2000, S. 24. 22 Höllerer, Walter (Hg.): Ein Gedicht und sein Autor. Lyrik und Essay. Berlin 1967.

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hundertmitte. Hg. mit Randnotizen von Walter Höllerer«,23 in denen er die einzelnen Gedichte assoziativ fortführt. Hier haben wir das gleiche Muster. Kritisch ließe sich insgesamt einwenden, dass man das auch als eine Form von Selbstmythisierung verstehen kann, deren Deckung nicht immer gegeben ist. So erscheinen die im Plural angekündigten Texte hinsichtlich ihres rein literaturwissenschaftlichen Ertrags bisweilen doch eher zurückhaltend.24 Doch eine Dominanz des Literaturwissenschaftlers Höllerer ist in diesem Falle ebenso wenig intendiert wie beim Lyrikbuch »Transit«. Hier ist Höllerer Herausgeber, Vorwortschreiber, Beiträger (einer der mit 11 Gedichten am häufigsten vertreten ist) und auch noch Kommentator auf der Schwelle zwischen Literaturwissenschaft, Merksatz, ästhetischem Glaubensbekenntnis, Aphorismus und Essay, wobei die Favorisierung des Essays im interdiskursiven Charakter dieser Textsorte liegt. Das Projekt rotierender Integration und – sechstens – der Rückgriff auf die Textsorte Essay stützen sich also wechselseitig. Zu fragen ist, warum diese Kombination auf der Hand lag. Darauf soll in einem kleinen Exkurs zum Essayismus als synthetisierendem Schreibverfahren eingegangen werden.25 Wenn die Besonderheit von Literatur in ihrer je spezifisch realisierten Form der Zusammenführung mehrerer Spezialbereiche und ihrer Diskurse besteht, dann ist auch der Essay als literarische Form ein

23 Höllerer, Walter (Hg.): Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte. Frankfurt a.M. 1956. 24 Zu einem ähnlichen Befund kommt auch Michael Kämper-van den Boogaart (»Und einmal muß es gesagt werden…« Der Autor und Germanist Walter Höllerer im Dienste der Gruppe 47. Ein Vorfall aus dem Jahr 1966. In: Zeitschrift für Germanistik 17, 2007, H. 1, S. 108-127, hier 124f.) für Höllerers Aufsatz Zur Sprache im technischen Zeitalter, veröffentlicht in dem unter dem Pseudonym Friedrich Handt von Höllerer selbst herausgegeben LCB-Band Deutsch – gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land. Polemiken und Aufsätze (Berlin 1964), S. 186-200, in dem zwar eine Art vor-diskurstheoretische Metapherntheorie entfaltet, nicht aber auch nur der Ansatz zum Versuch einer Metaphern-Definition unternommen wird. 25 Vgl. dazu ausführlich Parr, Rolf: ›Sowohl als auch‹ und ›weder noch‹. Zum interdiskursiven Status des Essays. In: Braungart, Wolfgang / Kauffmann, Kai (Hg.): Essayismus um 1900. Heidelberg 2006, S. 1-14.

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eminent interdiskursives, einzelne Spezial- und Interdiskurse auf vielfältige Weise verbindendes Genre (und der Essayismus ein ebensolches Schreibverfahren). Denn essayistisches Schreiben bietet eine Möglichkeit, der »Isolierung der Diskurse durch die rasante Spezialisierung in allen Bereichen der Wissenschaft und der Gesellschaft« entgegenzuwirken, »es fordert auf zu grenzüberschreitender Kommunikation«.26 Bezieht man nun die Frage des Changierens essayistischer Schreibweisen zwischen den beiden Polen ›Wissenschaft‹ und ›Literatur‹ auf die Unterscheidung von Spezialdiskursen und literarischem Interdiskurs, dann wird man sagen müssen, dass der Essay zwar ebenso wie Literatur überhaupt interdiskursiv dominiert ist, aber doch zugleich auch noch einen nicht unerheblichen Rest an spezialdiskursiver Ausrichtung aufweist. Das bedeutet: Je stärker man den Essay an den Pol ›Wissenschaft‹ bindet und je weniger an den der ›Literatur‹, umso mehr ist er auf Denotation und Eindeutigkeit und umso weniger auf Konnotationsreichtum, semantische Vieldeutigkeiten und Mehrfachlesarten hin angelegt. Genau umgekehrt sieht es aus, wenn man den literarischen Charakter des Essays besonders stark betont. Dann teilt der Essay seine hochgradige Interdiskursivität mit derjenigen von Literatur überhaupt, aber immer noch mit der differenzierenden Spezifik, dass es für den Essay die Kombinationsvorgabe gibt, genuin geisteswissenschaftliche Themen auf in der Regel ungewöhnliche Weise mit tendenziell politischen und/oder wissenschaftlichen Gegenständen und Redeformen zu koppeln und dabei Brüche, Sprünge, ja sogar Friktionen nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern geradezu zu suchen und zu forcieren (auch solche zwischen konnotativen und denotativen Textelementen). Das ist sowohl in der synchronen Kombination der Themen der verschiedenen Praxisbereiche und der mit ihnen verknüpften je spezifischen Redeformen, als auch in der Diachronie der Durchführung der Fall. Zusammenfassend lässt sich demnach sagen: Essays bzw. essayistische Schreibweisen zeichnen sich dadurch aus, dass sie zugleich sowohl ungebrochen spezialdiskursives Material als auch hochgradig interdiskursives, insbesondere literarisches Diskursmaterial verarbeiten. Dadurch treffen auf Eindeutigkeit zielende wissenschaftliche

26 Pfammatter, René: Essay – Anspruch und Möglichkeit. Plädoyer für die Erkenntniskraft einer unwissenschaftlichen Darstellungsform. Hamburg 2002, S. 16.

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Passagen auf vieldeutige und mehrfach anschließbare literarische Elemente, Spezialdiskurse auf Interdiskurse. Beide werden nicht immer und nicht immer vollständig miteinander vermittelt, sondern nur teilweise, sodass der Essay manche Übergänge auch in Form von gewollten Brüchen realisiert, etwa wenn mehrmals mit neuen Denkbewegungen angesetzt wird, sodass die Brückenschläge immer nur für den Augenblick Gültigkeit haben und meist sofort wieder durch anders und neu zusammengefügte imaginäre Ganzheiten abgelöst werden. Analytisch lassen sich diese Bestimmungen des Essayistischen an zahlreichen Texten Höllerers schnell belegen. So weit zum essayistischen Schreiben als ein weiteres in der Reihe der kleinen Integrationsprojekte Walter Höllerers. Biografisch betrachtet kommt zu den bisherigen Projekten – siebtens – noch das der wechselnden Wohnsitze bzw. Arbeitsorte hinzu. So schreibt Herbert G. Göpfert in der Festschrift »Bausteine zu einer Poetik der Moderne«, dass es Höllerer schon zum Zeitpunkt der Gründung der Akzente wichtig gewesen sei an mehreren Orten Domizile zu haben und je nach Belieben oder nach Arbeitsvorhaben hier oder dort zu leben: in Erlangen, wohin er noch von den letzten Studiensemestern her Beziehungen hatte, in Frankfurt, wo er an der Universität tätig war, und in Heidelberg, wohin er sich gern zu seinen eigenen Angelegenheiten zurückzog.27

An dem im Höllerer-Archiv in Sulzbach-Rosenberg (das Göpferts Liste noch hinzuzufügen wäre) vorhandenen Material wäre gelegentlich einmal genauer zu überprüfen, ob und wie einzelne Aufenthaltsorte mit je speziellen Arbeitsfeldern korrelierten. Achtens schließlich dienten Höllerer auch Pseudonyme dazu, das Rotieren und zugleich das Prinzip der gegenläufigen Besetzung von Arbeitsfeldern in noch einmal zugespitzter Form zu praktizieren. Den LCB-Band Deutsch – gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land. Polemiken und Aufsätze gab Höllerer – darauf hat Michael Kämpervan den Boogaart hingewiesen28 – unter dem Pseudonym »Friedrich

27 Göpfert, Herbert G.: »Akzente« – vorgeschichtlich. In: Miller / Klotz / Krüger 1987, S. 99-105, hier 102. 28 Vgl. Kämper-van den Boogaart 2007, S. 122-124.

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Handt« heraus,29 veröffentlichte darin unter diesem Pseudonym einen Beitrag,30 zugleich aber auch einen weiteren mit dem Titel Zur Sprache im technischen Zeitalter als Walter Höllerer, während das Nachwort dann wieder mit »Friedrich Handt« unterzeichnet ist.31 Damit ist das Prinzip des Sich-Dislozierens maximal ausgeschöpft, der Integrationseffekt wird aber zugleich geringer, kann nur noch erzielt werden, wenn man das Pseudonym aufzulösen weiß. Wie wichtig die Mischung aus dem Spektrum der acht hier aufgezeigten kleinen Kopplungen sowie der Rotation und gegenläufigen Positionsbesetzung für Höllerer war, zeigt sich in solchen Momenten, in denen er sich nicht mehr darauf zurückziehen, nicht mehr gleichsam spielerisch über seine verschiedenen ›Identitäten‹ verfügen konnte. Eine solche Situation stellte seine erste Lesung aus dem Roman »Die Elephantenuhr«32 beim Treffen der Gruppe 47 in Elmenau 1959 dar, von der Hans Werner Richter rückblickend berichtet: Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Augenblick. Ich rief ihn zur gegebenen Zeit auf, und er strebte sogleich auf den Stuhl zu, der neben mir stand, mit seinem Romanmanuskript in der Hand. Er war sehr aufgeregt. Ich hatte ihn noch nie und habe ihn auch später nie wieder so gesehen. Er schien seine Selbstbeherrschung verloren zu haben, ja, es ist mir damals vorgekommen, als sei er der Auflösung nahe. Sein Gesicht war fahl und seine Nase, seine bemerkenswerte und – so meine ich – bedeutende Nase war fast grün. Natürlich war es schwerer für ihn, als für andere. Er hatte sich seit Jahren an der Kritik beteiligt und sein Auftritt als Romancier würde sicher schärfer und genauer beurteilt

29 Handt [d.i. Höllerer] 1964. – Höllerer verwendet dieses Pseudonym gelegentlich auch in Sprache im technischen Zeitalter. 30 Handt, Friedrich: Das hohle Wunder. Bericht über drei Aufsätze von George Steiner John, McCormick und Hans Habe. In: Ders. 1964, S. 9-26. 31 Höllerer 1964; Handt, Friedrich: Nachwort: In: Ders. 1964, S. 201. – Auch in Sprache im technischen Zeitalter taucht das Pseudonym da auf, wo ein Heft ganz pragmatisch mit Beiträgen Höllerers gefüllt werden musste, aber nicht zu viele Artikel mit seinem Namen erscheinen sollten (ich danke Thomas Geiger, dem heutigen Redakteur der Zeitschrift, für diesen Hinweis). 32 Höllerer, Walter: Die Elephantenuhr. Roman. Frankfurt am Main 1973.

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werden als die Arbeit irgendeines Unbekannten. […] Was es auch immer war, für ihn war in diesem Augenblick der ›elektrische Stuhl‹ eine Art Prüfstand.33

Das ritualisierte Setting des sogenannten ›elektrischen Stuhls‹, auf dem jeder Lesende Platz zu nehmen hatte, machten das von Höllerer sonst auch innerhalb der Gruppe 47 praktizierte rotierende Dislozieren unmöglich, was zu jenem vorübergehenden Souveränitätsverlust führte, den Richter sehr genau beschrieben hat. III Insgesamt wird man sagen können, dass Höllerer keineswegs derjenige war, der alles mit allem im Literaturbetrieb vernetzt hat, wohl aber jemand, der sich selbst und sein Tätigkeitsspektrum als ein maximal breit angelegtes Integrationsprojekt inszeniert und darin partielle kleinere Kopplungsprojekte realisiert hat. Das zeigt sich vor allem im Rotieren quer durch die einzelnen Arbeitsfelder und in der Selektivität bzw. Partialität der Kopplungsprojekte, von denen manche auch auf der Ebene programmatischer Absichtserklärungen stehen geblieben sind.34 Tendenziell kann man beispielsweise Höllerers Orientierung an der Semiologie als Element eines integrierenden Überbaus ansehen, der aber nicht bis in seine wissenschaftlichen Texte durchschlägt, die doch eher einer traditionellen Hermeneutik auf Basis genauester Textkenntnis folgen. Von daher besteht eine gar nicht gering zu erachtende Leistung Höllerers darin, ›alt‹ und ›neu‹ zu Beginn der 1960er Jahre miteinander konfrontiert und so das Terrain für die linguistische Wende der Literaturwissenschaft in den 1970er Jahren vorbereitet zu haben. Insofern sich Höllerers Rotieren über verschiedene Arbeitsfelder, das verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche und ihre je speziellen Diskurse integrierend ins Spiel bringt (und zwar ohne ex post ›große Synthesen‹ zu propagieren) mit Claude Lévi-Strauss als eine Form der

33 Richter 1986, S. 151. 34 Ein Symptom dafür, dass Höllerer eben kein ›Knotenpunkt‹ im Sinne des New Historicism war, liegt darin, dass er in den am New Historicism orientierten Literaturgeschichten nicht vorkommt. Vgl. Wellbery, David E. u.a. (Hg.): Eine neue Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 2007.

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Mythisierung verstehen lässt, also als Kombination von eigentlich nicht zugleich vorkommenden antagonistischen Elementen in einer Figur, die dadurch zwangsläufig gegenüber anderen überhöht wird, ist es auch hier nicht ganz unpassend von Selbstmythisierung zu sprechen.. Dieser Befund muss bei Höllerer jedoch gegenüber echten Trickstern, die Gegensätze in sich vereinen, auf das Modell der schwächeren Integration des rotierenden Positionstausches beschränkt bleiben. Eine demgegenüber sehr viel stärkere Synthese und damit auch sehr viel stärkere Form der Mythisierung stiftet erst die HöllererRezeption, indem sie das Rotieren im Nacheinander in das Bild eines personalisierten mythischen Tricksters Walter Höllerer verwandelt, bei dem alle Facetten stets zugleich anzutreffen sind.35 Zusammenfassend kann man sagen, dass Höllerer keine Integration im Sinne semantisch-intensiver Zusammenführung von arbeitsteiligen gesellschaftlichen Teilbereichen betrieben hat, sondern als eine Art Manager von der ›Homebase‹ eines durchaus emphatischen Dichterverständnisses aus rotierte und dabei Inhalte bisweilen durch Funktionen ersetzte (mit Ausnahme des Gebiets der Dichtung). Integration der Felder gelang nicht in den Texten, weder den literarischen, noch den wissenschaftlichen, sondern in der Praxis des Rotierens über viele Funktionspositionen hinweg: viel Verschiedenes tun, es aber nie gleichzeitig tun, sodass Integration nur im zeitlichen Nacheinander entsteht. Dem entspricht recht genau die Bewegungsmetaphorik der »Transit«-Anthologie. IV Dieses Spektrum der Projekte partieller Kopplungen, das man auf die Formel ›Autor plus Wissenschaftler plus Medien minus Politik gleich Intellektueller im Literaturbetrieb‹ bringen könnte (und damit auch die Integration des Gesamtspektrums der von Höllerer besetzten Felder im Literatur- und Wissenschaftsbetrieb), funktionierte so lange reibungslos, bis es durch die Studentenbewegung vehement infrage gestellt wurde. Denn eine der Voraussetzungen dafür, dass Höllerers Rotationsprojekt in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren überhaupt funktionierte, war der weitgehende Ausschluss von ›großer‹ Politik, was Hans Werner Richter geradezu als Wesenszug Höllerers beschrie-

35 Siehe als Beispiel das Zitat zu Anm. 12.

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ben hat, da er sich auch in der Gruppe 47 nie an politischen Diskussionen oder Protesten beteiligt habe.36 Politik, ja Weltpolitik, forderte die Studentenbewegung aber gerade ein und machte sie zum Bewertungsmaßstab gerade auch von Literatur. Von daher verwundert es nicht, dass Höllerer 1967 bei der Tagung der Gruppe 47 mit lauten »Dichter, Dichter«-Rufen ausgebuht wurde.37 Auch nach Höllerer besteht das Feld der für den Literaturbetrieb relevanten Teilbereiche strukturell nahezu identisch weiter, wird aber von den Akteuren nicht mehr in toto zu besetzen gesucht. Vielmehr bilden sich speziellere Kopplungen mit höherem Professionalitätsgrad für eingeschränktere Teilbereiche des Literaturbetriebs heraus: Marcel Reich-Ranicki etwa, um ein bekanntes Beispiel zu nehmen, koppelt seine Rezensententätigkeit in der Presse mit der im Fernsehen und schafft es ebenso wie Höllerer auf ganz andere Art Unverwechselbarkeit gerade als literarischer Entertainer des Publikums zu entwickeln, sich gleichsam selbst zum Markenprodukt zu machen. Das Element des praktizierenden Literaten bleibt dabei anders als bei Höllerer weitgehend außen vor. Man könnte weitere Fälle durchgehen, von Hellmuth Karasek über Sigrid Löffler bis hin zu Elke Heidenreich. Wie diese Reihung zeigt, sind die ›zünftigen‹ Literaturwissenschaftler in den Medien eher im Rückzug begriffen. Dafür sind die Schriftsteller selbst inzwischen fast alle gelernte Germanisten, man denke nur an F.C. Delius, den Höllerer promoviert hat. Zudem nutzen Schriftsteller die Medien zunehmend offensiver für sich selbst, wofür Martin Walser, der im Februar 1956 in einem Brief an Höllerer das Fernsehen noch als Wurzel allen Übels anprangerte,38 bis heute ein durchaus hin-

36 Richter 1986, S. 157: »Walter Höllerer unterschrieb keinen dieser Proteste. […] Ja, er hätte nur seinen eigenen Protest unterschrieben […]. […] seinerzeit […] hielt ich es für das Zeichen eines völlig unpolitischen Menschen.« – Wollte man es genauer machen, so wäre für verschiedene Zeitpunkte zu unterscheiden, welche Mitglieder der Gruppe sich auf welche Weise in und außerhalb des Zirkels politisch äußerten, und wie dies von außen wahrgenommen wurde. 37 Siehe dazu Briegleb, Klaus: 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung. Frankfurt am Main 1993 (es 1669), S. 124. 38 Vgl. Walser, Martin an Walter Höllerer: Brief v. 6.2.1956. In: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg (LSR), Vorlass Walter Höllerer, Signatur: 02WH/142/10. Michael Peter Hehl danke ich für den freundlichen Hinweis

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terfragbares, aber doch in seiner Art auch eindrucksvolles Beispiel darstellt. Hinzu kommt, dass sich die Rezipienten von Literatur bereits in den 1960er Jahren in verschiedenste Milieus ausdifferenziert hatten,39 was so breit angelegten Publikumsprojekten wie dem des literarisch-wissenschaftlichen Intellektuellen Höllerer abträglich sein musste, denn die relative Geschlossenheit der (literarischen) Milieus bildete eine der Voraussetzungen für den Erfolg des von ihm praktizierten Modells. Dislozierende Rotation bei zugleich hochgradig ausdifferenzierten Rezipientenmilieus wäre heute kaum mehr erfolgreich zu betreiben. Dieser Befund gilt – last but not least – ähnlich auch für die Wissenschaft. Denn die Realisierung des von Höllerer intendierten semiologischen Programms hat an der Technischen Universität Berlin bereits die ihm nachfolgende bzw. sich mit ihm überlappende Wissenschaftlergeneration nur noch spezialisiert übernommen: Friedrich Knilli in Form der Filmsemiotik, Roland Posner für die allgemeine Semiotik, was in beiden Fällen aber unweigerlich mit zunehmender Spezialisierung der Theoriebildung einherging.

auf diesen Brief. – Vgl. auch Parr, Rolf: Paradoxe Medienästhetik. Martin Walsers ›Realismus‹ und sein literarischer Umgang mit Film und Fernsehen. In: Geisenhanslüke, Achim / Mein, Georg / Schössler, Franziska (Hg.): Das Subjekt des Diskurses. Festschrift für Klaus-Michael Bogdal zum 60. Geburtstag. Heidelberg 2008, S. 303-320. 39 Vgl. dazu u.a. Bogdal, Klaus-Michael: Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur. In: Erb, Andreas (Hg.) unter Mitarbeit von H. Krauss u. J. Vogt: Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen / Wiesbaden 1998, S. 9-31.

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Berbig, Roland / Krüger, Alexander: Ein Novum unter der Ägis eines Lehrstuhlinhabers. Walter Höllerer im Jahr 1959. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens, Bd. 8 (2008), S. 89-99. Bogdal, Klaus-Michael: Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur. In: Erb, Andreas (Hg.) unter Mitarbeit von H. Krauss u. J. Vogt: Bausteine Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen / Wiesbaden 1998, S. 9-31. Böttiger, Helmut (unter Mitarbeit von Lutz Dittrich): Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs. Berlin 2005 (= Texte aus dem Literaturhaus Berlin, Bd. 15). Briegleb, Klaus: 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung. Frankfurt am Main 1993 (es 1669). Deglmann, Irmgard: Die Anfänge der Zeitschrift für Dichtung ›Akzente‹. Magisterarbeit, Univ. München 1986 (im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenheim). Dirks, Walter: Heilige Allianz. Bemerkungen zur Diffamierung der Intellektuellen. In: Frankfurter Hefte (1961), S. 23-32. Göpfert, Herbert G.: »Akzente« – vorgeschichtlich. In: Miller, Norbert / Klotz, Volker / Krüger, Michael (Hg.): Bausteine zu einer Poetik der Moderne. Festschrift für Walter Höllerer. München 1987, S. 99-105. Handt, Friedrich [d.i. Höllerer, Walter] (Hg.): Deutsch – gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land? Polemik Analysen Aufsätze. Berlin 1964. Handt, Friedrich [d.i. Höllerer, Walter]: Das hohle Wunder. Bericht über drei Aufsätze von George Steiner, John McCormick und Hans Habe. In: Ders. (Hg.): Deutsch – gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land? Polemik Analysen Aufsätze. Berlin 1964, S. 9-26. Handt, Friedrich [d.i. Höllerer, Walter]: Nachwort. In: Ders. (Hg.): Deutsch – gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land? Polemik Analysen Aufsätze. Berlin 1964, S. 201. Höllerer, Walter (Hg.): Ein Gedicht und sein Autor. Lyrik und Essay. Berlin 1967. Höllerer, Walter (Hg.): Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte. Frankfurt am Main 1956. Höllerer, Walter: Die Elephantenuhr. Roman. Frankfurt am Main 1973.

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Höllerer zu Ehren. Festveranstaltung anlässlich der Verleihung der akademischen Würde Ehrenmitglied der Technischen Universität Berlin. Berlin, 12. Februar 1993 (= TUB DOKUMENTATION. Kongresse und Tagungen, H. 62), S. 19-32. Miller, Norbert: Vorwort. In: Ders. / Klotz, Volker / Krüger, Michael (Hg.): Bausteine zu einer Poetik der Moderne. Festschrift für Walter Höllerer. München 1987, S. 7-10. Neumann, Robert: Spezis. Gruppe 47 in Berlin. In: Konkret 5 (1966), S. 34-39. Parr, Rolf / Thiele, Matthias: Link(s). Eine Bibliographie zu den Konzepten ›Interdiskurs‹, ›Kollektivsymbolik‹ und ›Normalismus‹ sowie einigen weiteren Fluchtlinien. 2., stark erw. und überarb. Aufl., Heidelberg 2010. Parr, Rolf: ›Sowohl als auch‹ und ›weder noch‹. Zum interdiskursiven Status des Essays. In: Braungart, Wolfgang / Kauffmann, Kai (Hg.): Essayismus um 1900. Heidelberg 2006 (= Beihefte zum Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, H. 50), S. 1-14. Parr, Rolf: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.« Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks (1860–1918). München 1992. Parr, Rolf: Paradoxe Medienästhetik. Martin Walsers ›Realismus‹ und sein literarischer Umgang mit Film und Fernsehen. In: Geisenhanslüke, Achim / Mein, Georg / Schössler, Franziska (Hg.): Das Subjekt des Diskurses. Festschrift für Klaus-Michael Bogdal zum 60. Geburtstag. Heidelberg 2008, S. 303-320. Pfammatter, René: Essay – Anspruch und Möglichkeit. Plädoyer für die Erkenntniskraft einer unwissenschaftlichen Darstellungsform. Hamburg 2002 (= Poetica. Schriften zur Literaturwissenschaft, Bd. 67). Pisiotis, Ulrike: Rivalität und Bündnis. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Literatur der Moderne. Dresden 2012 (= Kulturstudien, Bd. 7). Richter, Hans Werner: Das Lachen aus der Oberpfalz. Walter Höllerer. In: Ders.: Im Etablissement der Schmetterlinge. Einundzwanzig Portraits aus der Gruppe 47. München 1986, S. 149-159. Schlösser, Hermann: Literaturgeschichte und Theorie in der Literatur. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. von Rolf Grimminger. Bd. 12:

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Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München 1992, S. 385-403. Walter Höllerer zu Ehren. Festveranstaltung anlässlich der Verleihung der akademischen Würde Ehrenmitglied der Technischen Universität Berlin. Berlin, 12. Februar 1993 (= TUB DOKUMENTATION. Kongresse und Tagungen, H. 62). Walter Höllerer. Zu seinen Gedichten und seiner Lyrik-Anthologie Transit. Briefe und Texte Band 1. Sulzbach-Rosenberg 2002. Wellbery, David E. u.a. (Hg.): Eine neue Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 2007.

Walter Höllerer und die Literatur im technischen Zeitalter Round-Table-Gespräch mit Volker Klotz, Norbert Miller und Klaus-Michael Bogdal am 26. November 2009 M ODERATION : A CHIM G EISENHANSLÜKE

Dem vorliegenden Text liegt die Abschrift eines Podiumsgesprächs zu Grunde, das im Rahmen der Sulzbach-Rosenberger Tagung »Walter Höllerer und die Literatur im technischen Zeitalter. Institutionen, Politik und Medien im Literaturbetrieb der 60er Jahre« am 26. November 2009 stattfand. Achim Geisenhanslüke ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg und seit 2008 Erster Vorsitzender des Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg. Volker Klotz war von 1959 bis 1971 Assistent am Lehrstuhl Walter Höllerers an der Technischen Universität Berlin und anschließend bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1995 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart. Norbert Miller, Mitherausgeber der Sprache im technischen Zeitalter, war in den frühen 1960er Jahren ebenfalls Assistent bei Walter Höllerer und von 1973 bis 2006 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Klaus-Michael Bogdal ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld und forscht seit vielen Jahren zur Fachgeschichte der Germanistik.

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Geisenhanslüke: Zunächst einmal eine Frage an Volker Klotz. Herr Klotz, sie sind einer der frühesten Weggefährten von Walter Höllerer und hatten mit ihm in Frankfurt und Berlin zwei gemeinsame Stationen, bevor sie dann nach Stuttgart gegangen sind. Welche Modernisierungen und Veränderungen verbinden sie mit der Figur Walter Höllerer, wenn sie an den Alltag der 1960er Jahre und ihren eigenen universitären Weg denken? Klotz: Ich habe ihn in der Tat sehr früh kennengelernt, schon in den 1950er Jahren, aber lassen sie mich am besten von hinten anfangen: Ich habe ihm in den 1990er Jahren einmal ein Buch gewidmet. Da wir uns schon so lange kannten und ich in jeder Hinsicht jenseits seines Machtbereichs stand, konnte ich es mir leisten, ihm ein Buch zu widmen, ohne dass der Eindruck entstand, man wolle sich mithilfe dessen beim Gewidmeten Vorteile verschaffen. Und die Widmung wird am Ende des Buches erläutert, es heißt Radikaldramatik und ist 1996 erschienen – gottlob gerade noch früh genug, dass Walter Höllerer mitbekommen hat, was ihm da widerfahren ist. Er hat mich angerufen und noch sehr vernünftig geredet, später ist es dann ja ganz mit ihm zu Ende gegangen. Die Erläuterung am Schluss lautet: »Vor allem aber machte er uns, seinem freundschaftlich disparaten Grüppchen von Schülern«, das galt der Gruppe um ihn herum, darunter auch Miller und noch ein paar Anderen, »dazumal in den sechziger Jahren vor: wie fruchtbar und erquicklich es ist, keine akademische Schule zu bilden. Fruchtbar und erquicklich für alle Beteiligten.«1 In der Zeit, in der ich studiert hatte, also in den 1950er Jahren, war es nämlich noch üblich, dass Leute, die diese Macht besaßen, wie Höllerer sie später hatte – also etwa Benno von Wiese und einige andere –, darauf aus waren, ›Schüler zu machen‹. Diese sollten möglichst zeigen, an den Fingerprints oder Ähnlichem, dass sie des ›Meisters‹ Schüler sind. Die Professoren hatten dann gewissermaßen wie die Feldherren ihre Nädelchen, mit denen sie auf Landkarten diejenigen Lehrstühle anstachen, auf denen ihre Schüler unterzubringen waren. Höllerer war in dieser Hinsicht gänzlich anders. Ich würde ihn als eine Art ›Entdecker‹ und ›Pfadfinder‹ beschreiben, man könnte auch

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Klotz, Volker: Radikaldramatik. Szenische Vor-Avantgarde: Von Holberg zu Nestroy, von Kleist zu Grabbe. Bielefeld 1996, S. 229.

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sagen als einen ›Gambusino‹, wie es bei Karl May heißt, eben einen Goldsucher, der genau herausfindet, wo die Goldadern sind, bei Leuten und bei Sachverhalten; und nicht nur als ›Gambusino‹, sondern gewissermaßen auch als ›Entbinder‹, oder – sagen wir – ›männliche Hebamme‹. Und er war auch ein listiger Durchsetzer. Mit welcher Raffinesse er jemandem zu seinem Glück verhelfen konnte – oder eben nicht –, das war schon sehr beeindruckend. Das lag auch daran, dass die Situation damals eine ganz andere war als heute: An der Universität Frankfurt, an der ich studierte, gab es in den 1950er Jahren – wie auch an anderen Universitäten – einen einzigen Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Die deutsche Literatur wurde allerdings nur bis etwa 1900 gelehrt. Ich kann mich noch daran erinnern, dass mein Doktorvater, Kurt May, einmal sagte: »Halt, Schluss, aber vielleicht werde ich doch im nächsten Semester vordringen bis zu Hugo von Hofmannsthal.« Er ist im Übrigen über meiner Dissertation2 gestorben und meine Mitdoktoranden haben scherzhaft gemeint: »Du hast ihm den Rest gegeben!« Heute haben wir ja oft eher den umgekehrten Fall, wenn die Germanisten fast nichts anderes mehr machen als Gegenwartsliteratur. Bei uns war es jedenfalls sehr öde in dieser Hinsicht, obwohl Theodor W. Adorno an unserer Universität war und wir erfahren konnten, wie er sich auf dem Feld der Theorie für die musikalische Avantgarde stark machte. Auch der berühmte Altphilologe Karl Reinhardt war in Frankfurt. Ich habe Seminare bei ihm besucht, er kannte sich hervorragend mit moderner Literatur aus. Aber in Bezug auf Neuere deutsche Literaturwissenschaft wurde sie uns eben nicht geboten. Und dann kam, schwupp, in einem Jahr, das war das Jahr 1954 – 1953 wurde er schon angekündigt – Walter Höllerer nach Frankfurt. Da sagte jener Kurt May, er habe einen Assistenten gewonnen, der nicht nur ein sehr intelligenter Literaturwissenschaftler war, sondern auch selbst dichte. Das war dem May letzten Endes unheimlich, weil er ja nur Leute für gut hielt, die vor 1900 gestorben waren. Dies sei also nun Walter Höllerer und er komme im nächsten Semester an. Das Interessante war, dass Höllerer zunächst einmal überhaupt keine Lehrveranstaltungen über moderne Literatur machte, weil er es nicht durfte und konnte. Damals haben deutsche Professoren, Ordina-

2

Klotz, Volker: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1960; inzwischen 15. Aufl., München 2011.

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rien, an ihren Lehrstühlen Seminare grundsätzlich nur ›zusammen mit‹ ihren Assistenten angeboten. ›Ihr Assistent‹, mit Possessivpronomen versehen, hat also ein Seminar angeboten, und es waren in den Sitzungen zwar nie Ordinaren mit dabei, aber es lief unter ihrem Namen. Ich vermute, dass sie auch die Hörergelder kassiert haben. Jedenfalls hat Walter Höllerer zunächst fast nichts anderes gemacht als brave, wackere Sachen wie etwa ein Proseminar über Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla oder Seminare über Georg Büchner, Johann Christian Günther, Heinrich Heine, Christian Dietrich Grabbe und Hugo von Hofmannsthals Prosa. Ich habe sie alle besucht, denn das Besondere war, dass er uns die Themen selbst wählen ließ und meinte: »Ich biete ihnen hier Themen an, sie können sie nehmen oder nicht, sie müssen etwas nehmen, aber sie können auch etwas eigenes machen.« Das hat mich aufblühen lassen, denn ich wollte niemals Themen machen, die mir angeboten wurden, sondern immer etwas Eigenes aussuchen. Höllerer, der schlaue, listige, gab sich da als Wolf im Schafspelz. Er hat aber parallel dazu, 1953/54, angefangen, einen Privatkreis zu bilden. Er hat schnell gemerkt, dass da Kerle waren, und Kerlinnen, die darauf aus waren, endlich von der Literatur zu erfahren, die in der Nazizeit verboten gewesen war. Mein Freund Karl Markus Michel hat damals einmal gesagt, das muss man sich mal vorstellen: »Es gibt einen Autor und ich habe den Roman auch ausgeliehen, er ist in der Landesbibliothek in Darmstadt, der heißt so ähnlich, ich habe ihn eben erst angefangen, so ähnlich wie ein Waschmittel, ähm, Pers…, Musil!« Das war also Robert Musil. Und es gab dieses eine Exemplar, das war in der Nazizeit unten im Magazin verstaut gewesen. Später tauchte auch Klaus Wagenbach in unserem Kreis auf, der tatsächlich eine Promotion über Kafka bei einem anderen Professor durchgesetzt hatte. Wir waren dann eine Gruppe – auch mit Herbert Heckmann, Helmut Krapp und noch einigen anderen. Höllerer hatte kein anderes Konzept, als dass wir uns zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum einmal in der Woche trafen, um den anderen unsere Neuentdeckungen vorzustellen. Es war fast ausschließlich sogenannte ›klassische Moderne‹. Und die Aufgabe war: »Sie müssen das so vortragen, dass wir hier alle, wenn wir weggehen, miteinander in die Bibliothek stürzen. Sie müssen die anderen davon überzeugen, dass da was dran ist.« Karl Markus Michel hat dann auch, von unseren Treffen inspiriert, den ersten Aufsatz über den Sprachstil bei Robert Musil für die erste Ausgabe der Akzente ge-

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schrieben. – Es gäbe übrigens eine sehr interessante Geschichte über Michel zu erzählen, der nie bei Kurt May promoviert hat, da unser verehrter Doktorvater, der immer nur das Beste für seine Leute wollte, es nicht zuließ, dass jemand über etwas Neues promovierte. Ich bin der Sache entgangen, aber Höllerer hat mich gewissermaßen geschnappt. Ich habe nämlich vorgetragen und die Leute in unserem Kreis beschworen, sie sollten sich unbedingt Bertolt Brecht zu Gemüte führen, und obendrein noch Faulkner. – Die US-Truppen hatten in unserem Haus Taschenbücher liegengelassen, als sie ausgezogen sind, so habe ich Soldiers Pay und einiges mehr gelesen. – Höllerer hatte jedenfalls für Bertolt Brecht, auch im Hinblick auf das Theater, nicht sonderlich viel übrig. Ich hingegen habe eigentlich nur deshalb Literaturwissenschaft studiert, weil die Theaterwissenschaft ein Mistfach war. Ich wollte ursprünglich Dramaturg und Regisseur werden. Walter Höllerer und Helmut Krapp, den es auch noch gab, haben mir aber dann später davon abgeraten und gemeint: »Das ist Quatsch, da gibt‘s nicht viel zu tun am Theater, mach Uni.« Höllerer hat mich also dazu gebracht, in die Forschung zu gehen. »Was würden Sie machen, wenn Sie einen Aufsatz schreiben müssten, der den Leser davon überzeugen soll, dass an Brecht was dran ist?«, hat er mich bei einem unserer Treffen gefragt. Ein Spielchen, wie er es häufig gespielt hat. Ich bin darauf reingefallen und habe einen Aufsatz über Brecht geschrieben. Nun gab es damals aber noch kein Buch über Brecht, und Höllerer meinte: »Wenn sie jemandem vorschlagen müssten, wie man ein Buch über Brecht schreiben sollte. Was würden sie ihm raten?« Das war ein langer Kampf, bis er mir schließlich gegen Ende, als ich ein paar Probekapitel geschrieben hatte, sagte: »Also wenn das nicht ein Buch wird, war das das letzte Wort, das wir beide je miteinander gesprochen haben.« So entstand also, noch vor meiner Dissertation, mein Buch über Brecht. Höllerer wollte es bei Suhrkamp unterbringen, aber Peter Suhrkamp hat gesagt: »Ich kannte Brecht, so war er nicht.« Dabei habe ich hinten nur eine Liste mit Lebensdaten, sonst geht es ausschließlich um das Werk. Und es heißt ja im Untertitel auch Versuch über das Werk.3 Dem Buch folgten dann noch ein paar weitere Auflagen, aber das eigentlich Schöne war, dass Höllerer auf jemanden setzte. Ich hatte

3

Klotz, Volker: Bertolt Brecht. Versuch über das Werk. Darmstadt 1957. Inzwischen 7., durchgesehene Aufl., Würzburg 2011.

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den Eindruck, sein Interesse am Theater gestärkt zu haben. Er war der Meinung, Brecht sei ein toller Autor, politisch nicht unbedingt sein Bier, aber ich könne das so machen. So ist das sehr häufig bei ihm gegangen. Er war auch ein guter Pädagoge. Er meinte einmal im ›Doktorandenkränzchen‹ – weil es bei Kurt May so betulich zuging, nannten wir das grundsätzlich immer das ›Doktorandenkränzchen‹: »›Doktorvater‹, das gibt es überhaupt nicht, der zeugt ja nicht. Und ›Doktormutter‹ kann man als Mann auch schwer sagen.« Er hat gesagt, er verstehe sich eher als ›Hebamme‹ und sähe nach, ob das Kind mit dem Kopf oder mit dem Hintern nach unten liegt. Das Einzige, worauf er aufpasste, war, ob richtig angepackt wird. Er sagte noch einen schönen Satz, der mir sehr gefallen hat und den ich ihm sofort geklaut habe. Ich sagte ihn später gerne den Doktoranden, die ich selbst betreute: »Ich bin dazu da, Steine, die sie sich selber in den Weg legen, wegzuräumen. Das ist aber auch alles.« Mit Höllerer ging das dann auf diese Weise weiter. Er hatte diesen gewissen Riecher. Immer wieder habe ich beobachtet, wie er bei Leuten, von denen ich nicht viel hielt, feststellte, dass etwas in ihnen steckte. Er konnte diesbezüglich auch sehr hartnäckig sein. Und womöglich besaß er dabei die List, die der Maus, die gerne verschwinden würde, die Löcher zumacht, wenn man nicht tat, was er für wünschenswert hielt. Das habe ich bei keinem anderen Menschen sonst so kennengelernt. Etwas anderes gehört aber auch noch dazu. Es ist vorhin in den Vorträgen und Diskussionen bereits ein paar Mal erwähnt worden: Höllerer hat wesentlich dazu beigetragen, dass die sture Philologientrennung der Anglisten, Romanisten, Hispanisten, Slavisten, Germanisten usw. durchlässig wurde, und zwar nicht nur in Bezug auf Dichtung, die er in seine Zeitschriften aufgenommen hat, sondern generell. Er hat auch mehr als einen Aufsatz über Littérature comparée geschrieben, zum Teil ein bisschen naiv, aber für uns war das sehr wichtig. Ich habe von Germanisten nichts gelernt – mit Ausnahme jenes Windhunds, der Lyrik gemacht hat –, sondern nur von Romanisten. Die Germanisten – das waren Benno von Wiese und dergleichen – waren nicht zu vergleichen mit dem, was in der Romanistik gemacht worden ist, etwa bei Erich Auerbach, Leo Spitzer, Helmut Hatzfeld und ähnlichen Leuten, die mit Sprachuntersuchungen und linguistisch

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orientierten Textuntersuchungen operierten. Das war auch das, was Höllerer uns beibrachte. Außerdem hat Höllerer die Linguistik gefördert, indem er beispielsweise Klaus Baumgärtner, der eines der beiden Asse in Deutschland war und die generative Grammatik vertrat, an die Technische Universität holte. Ich hatte die beiden zuvor einmal einander bekannt gemacht und kaum, dass Baumgärtner aus der DDR entwischt war, hatte Höllerer – mit irgendwelchen Tricks – eine Assistentenstelle für ihn organisiert. Baumgärtner lebte in München, kam abends zu uns und trug uns ab und zu seine neuesten Errungenschaften vor. Wir waren hingerissen und haben vor allem darüber gestaunt, dass er perfekt frei vortragen konnte. Das hat er also gefördert, aber zugleich auch, wie gesagt, komparatistisches Denken. Leute wie Norbert Miller oder ich, die wir uns nicht um Fachgrenzen geschert haben bei den Lehrveranstaltungen, die wir machten, oder den Büchern oder Aufsätzen, die wir schrieben, profitierten sehr davon. Wir konnten jetzt nach Lust und Laune in anderen Fächern wildern gehen. Ich beschäftigte mich beispielsweise mit der Komödie von Aristophanes bis zu Dario Fo und genierte mich nicht im Geringsten, dass ich nicht Dänisch konnte, und trotzdem Ludvig Holberg lehrend und schreibend behandelte, oder nicht Rumänisch konnte, und trotzdem Ion Luca Caragiale traktierte. Das sind Dinge, die ich in dieser Form ganz bestimmt nicht gewagt hätte, wenn Walter Höllerer nicht die Blockaden, die einem die Fachzunft gab, zur Seite geräumt hätte. Geisenhanslüke: Vielen Dank, Herr Klotz, das war ein sehr anschauliches Bild von dem, was ich am Anfang etwas unbeholfen ›Modernisierungen und Veränderungen‹ der 1960er Jahre genannt habe. Die Erweiterung der Germanistik hin zu einer Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, die Diskussion um die Zusammenarbeit zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik – das sind ja alles Tendenzen gewesen, an denen Walter Höllerer aktiv mitgewirkt hat. Ich glaube, dass Klaus-Michael Bogdal, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld, der sehr viel zur germanistischen Fachgeschichte der 1960er Jahre gearbeitet hat, an dem Punkt vielleicht einhaken kann. Bogdal: Ja, vielen Dank. Das war jetzt für mich sehr spannend, weil mir noch einmal klar geworden ist, wie wichtig die habituellen Aspek-

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te des universitären Lebens gewesen sind. Wenn in die Germanistik, die ja damals im Wesentlichen einen sehr kleinbürgerlichen Habitus gepflegt hat, jemand hinein kommt, der keine ›Schüler‹ haben will, sondern, heute würde man sagen, eine ›informelle Gruppe‹, eine offene Gruppe, die ganz andere Dynamiken entwickeln kann, wo ganz andere Kräfte frei gesetzt werden können, dann hat vielleicht dieser etwas schillernde Begriff der ›Innovation‹ wirklich seine Berechtigung. Aber darauf will ich jetzt gar nicht weiter eingehen, denn ich habe Achim Geisenhanslüke im Vorfeld dieser Tagung versprochen, dass ich mich ein wenig mit einem der Stichworte beschäftige, die mit Walter Höllerer verbunden sind, nämlich mit dem »technischen Zeitalter«. Wenn sie es mir erlauben, würde ich mich einfach darauf konzentrieren, denn aus biographischer Sicht werde ich kaum zum Gespräch beitragen können. Die einzige Brücke wäre vielleicht noch Karl Markus Michel, der in seinem Syndikat Verlag meine Dissertation betreut hat.4 Ich habe mich immer gewundert, warum Höllerer den Epochenbegriff »technisches Zeitalter« für seine Zeitschrift gewählt hat: Ausgerechnet diese epochale Großkonstruktion aus der Kulturphilosophie der ersten Jahrhunderthälfte für eine 1961 gegründete Zeitschrift. Vielleicht können sie, Herr Miller und Herr Klotz, dazu später noch genaueres sagen. Ich kann natürlich nicht wissen, wie das konkret gelaufen ist, in der Diskussion um den Titel gab es sicherlich mehrere konkrete und auch allgemeine Gründe für die letztendlich erfolgte Wahl. Aus fachgeschichtlicher Sicht ist Sprache im technischen Zeitalter jedoch ein Titel, der nicht untypisch ist für eine Übergangsphase des intellektuellen Raums der 1950er und 1960er Jahre. Wir können für diese Zeit einen Wandel beobachten von kulturphilosophischen Theorien – phänomenologischer, anthropologischer oder ontologischer Provenienz – hin zu neueren Theorien, die ich an dieser Stelle provisorisch als ›entideologisierte Theorien‹ bezeichnen möchte – also Theorien der analytischen Philosophie, des Strukturalismus, des logischen Positivismus usw. Die frühen 1960er Jahre markieren genau diese Übergangsphase und ich vermute, dass der Begriff des ›technischen Zeitalters‹, der ja nicht aus den neueren Theorien stammt, sondern eben aus den alten, möglicherweise dennoch eine Brücken- oder Passagenfunktion einge-

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Bogdal, Klaus Michael: Schaurige Bilder. Der Arbeiter im Blick des Bürgers am Beispiel des Naturalismus. Frankfurt 1978.

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nommen hat. Wenn die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter im Umkreis der kritischen Theorie entstanden wäre, dann hätte sie vermutlich einen Titel wie z. B. ›Sprache im Spätkapitalismus‹ erhalten. Ich glaube, dass der Titel Sprache im technischen Zeitalter im Laufe der 1960er Jahre dann deutlich an programmatischer Durchschlagskraft verloren hat, aber bei der Gründung – ich habe dazu ein wenig recherchiert – erlebte er eine durchaus beachtliche Resonanz im intellektuellen Feld. Es handelte sich um einen Begriff, mit dem man, einfach gesagt, etwas anfangen konnte. Eine der Quellen für den Titel wird sicherlich Edmund Husserl sein mit seiner Krisis der europäischen Wissenschaften. Bei Husserl steht ›Technik‹ ja für zweierlei, was in den Vorträgen und Diskussionen dieser Tagung in der Beschreibung von Höllerers Position zum Ausdruck gebracht wurde. ›Technik‹ steht einmal für das Vergessen der Ursprünge der Menschen. Damit ist all das gemeint, das mit Auslöschung von ›Herkunft‹ zu tun hat. Zugleich steht Technik aber auch für die Hingabe an die schiere Gegenwärtigkeit. Das sind bei Husserl die beiden zentralen Momente. Zwischen dem ›Vergessen‹ und der ›Hingabe an Gegenwärtigkeit‹ ordnet er den Begriff der Technik ein. Ich denke nun, dass die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter, und darin besteht das Gegenprogramm, genau gegen diese beiden Momente angeht. In der ersten Nummer gibt es zum Beispiel einen Aufsatz von Norbert Miller, der damals auch Redakteur dieser Zeitschrift war, über die Rolle des Zitierens. Und wenn man sich den Aufsatz genau ansieht, der im Grunde eine erweiterte Rezension eines Buches von Herman Meyer ist, geht es um eben diesen Zusammenhang. Das Zitieren schafft eine Brücke zwischen dem Ursprung und der Gegenwart. Diese Konstruktion stellt ein Gegenprogramm ist zu dem Riss in der Geschichte dar, auf den Edmund Husserl aufmerksam gemacht hatte. Der programmatische Titel der Zeitschrift zeigt einerseits nach vorne in die Moderne. Die Diagnose in den ersten zwei, drei Jahrgängen ist immer, dass diese Moderne als bedrohlich erlebt wird, und zugleich aber als verlockend und vielversprechend. Es besteht folglich keine klare Gegenwartsdiagnose. Es gibt die Bedrohungen: das ist Konsum, das ist Technik. Es wird aber auch das Verlockende wahrgenommen: die Freiheit, die Möglichkeiten, die Perspektiven, die sich eröffnen. Beides wechselt in den Beiträgen. Andererseits verweisen

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aber einige Artikel auch immer wieder zurück auf die Domäne der kulturkonservativen Kulturkritik, wie sie in den 1950er Jahren am erfolgreichsten von Arnold Gehlen betrieben wurde. Von ihm stammt das einflussreiche Buch Die Seele im technischen Zeitalter. Miller: Ich glaube, der Begriff stammt ursprünglich einfach aus diesem Buch. Bogdal: Das wäre sehr interessant. Bei Arnold Gehlen geht es um eine sehr weiträumige und spekulative Geschichts- und Gesellschaftstheorie. Wenn man aber die Summe seiner Thesen nimmt, dann ist bei Gehlen das ›technische Zeitalter‹ eine Art ›Abschlussepoche‹ westeuropäischer Kultur, er nennt sie auch »Spätkultur« – und verbindet mit dieser Vorstellung Angst- und Untergangsszenarien.5 Technik wird bei Gehlen definiert als eine Entwicklung vom Organersatz zum Ersatz des Organischen. Hinter dem ›Organersatz‹ steckt die alte anthropologische Mangeltheorie. Aber jetzt wird von ihm eine Steigerung vorgenommen: Technik als Ersatz des Organischen überhaupt. In den trivialisierten (journalistischen) Formen wird dann häufig von der ›Roboterepoche‹ und dem ›Roboterzeitalter‹ geredet: ein eingängiges Bild für den vermuteten Antihumanismus der Zeit. Entscheidender für die Zeitschrift und für all das, was Höllerer unternommen hat, scheint mir noch ein anderer Begriff zu sein, den Gehlen dort entwickelt. Er sagt nämlich, das ›technische Zeitalter‹ habe keine eigene Zeitsignatur. Wenn man beispielsweise an die Anthologie Transit denkt, sieht man, dass dies ein ganz entscheidender Punkt für ihre Konzeption ist. Alle anderen großen Epochen haben eine eigene Signatur, das technische Zeitalter offenbare hingegen ein Janusgesicht. Über dessen Symptome und Erscheinungen heißt es bei Gehlen: »Sie erscheinen, in unser Koordinatennetz eingezeichnet, grundsätzlich mit doppeltem Gesicht: einem nach vorwärts, und einem nach rückwärts blickenden. Die Doppelsinnigkeit, Zweideutigkeit wird damit konstitutiv und zu einer vorfindbaren, verstehbaren Zeitsignatur.«6 Und dann schlussfolgert er: »Das Resultat ist dann ein surrealistisches oder gegenstandsundeutliches Gebilde von objektiver Unbestimmtheit.

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Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Hamburg 1957, S. 82.

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Ebd., S. 89.

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Haben wir Krieg oder Frieden? Haben wir Vaterland oder nicht? Leben wir im Zeitalter des Sozialismus oder des Kapitalismus? Diese Fragen kann man nach Belieben beantworten, nicht weil die Antwort ›Ansichtssache‹ wäre, sondern weil sachlich jede gleich richtig ist.«7 Ich denke, der Bezug zu Höllerer wird hier besonders deutlich. Im ersten Heft der Zeitschrift liefert Höllerer die entsprechenden Stichworte und siedelt die Zeitschrift auch genau in dem erwähnten Übergangszeitraum einer unbestimmten Zeitsignatur an. Die Zeitschrift setzt eben nicht ›Akzente‹, das tut ja die andere von ihm im Hanser Verlag herausgegebene Zeitschrift gleichen Titels, sondern sie sucht programmatisch eine Gegenwartsorientierung durch wissenschaftliche Analysen. Ich glaube, darin besteht der Unterschied zum anderen Zeitschriftenprojekt, das Konturen verdeutlicht und ästhetische Markierungen setzt. Die ›Sprache‹, und damit komme ich zum anderen Aspekt des Zeitschriftentitels, taucht hierbei doppelt auf. Einmal handelt es sich um die Sprache des signaturarmen oder signaturlosen technischen Zeitalters: die Sprache der Politik, der Wirtschaft, des Sports, der Statistik. Höllerer zählt das alles auf. Und das ist eine technische, verbrauchte, manipulierende Sprache. Dann gibt es aber auch »die Sprache, die standhält«, die widerständige Sprache der Kritik und der Kunst. Damit ist eine Sprache gemeint, die sich selbstständig prüft. An diese beiden Momente, der Sprache des technischen Zeitalters und der Sprache, die standhält, koppelt er auch sein Forschungsprojekt das exakt so heißt: »Sprache im technischen Zeitalter«, an das an einer technischen Universität angesiedelt wird. Wenn man das genauer hinschaut, lokalisiert er damit aber die eigene Tätigkeit – trotz der gewollten Widerständigkeit –inmitten des technischen Zeitalters, inmitten einer der Ausbildungs- und Forschungsinstitutionen, die für die ›Roboterepoche‹ stehen. Wir haben von der Listigkeit und ambivalenten Haltung Höllerers gesprochen. Das hat sicherlich etwas mit seiner Entscheidung zu tun: Ein kritisches Programm zu etablieren, aber institutionell im ›Herzen‹ dieses technischen Zeitalters anzusiedeln, an einer technischen Universität, und nicht in einer geisteswissenschaftlichen Nische. Höllerer ist nicht jemand, der die Peripherie sucht oder das Außenseitertum pflegt. Ein exzentrischer Anspruch nicht mit dem Forschungsprojekt verbunden,

7

Ebd., S. 89f.

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sondern es wird eine rational fundierte Mitsprache damit gesichert. Er will mitreden, genau an dem Ort, an dem die Technisierung der Lebenswelt vorangetrieben wird. Hieraus ergibt sich für mich für die Beurteilung von Höllerers Rolle eine merkwürdige Ambivalenz – ich lasse den Dichter Höllerer jetzt einmal außen vor, weil diese Facette für die Zeitschrift nicht so wichtig ist: eine Ambivalenz zwischen dem Beobachterstatus, den er einnimmt, und einem Mitspielerstatus. Er praktiziert beides. Er ist der kritische Beobachter, aber gleichzeitig ist er auch der Mitspieler. Hier wäre jetzt eine Frage an diejenigen zu richten, die das miterlebt haben: Nimmt Höllerer eine für die 1950er und 1960er Jahre symptomatische Intellektuellenposition ein, die sich erst 1968 verändern wird? Könnte man sagen, dass das zum Selbstbild des kritischen, nonkonformistischen Intellektuellen der 1950er und 1960er Jahre gehört, Beobachter und Mitspieler sein zu wollen? Das wollen die Achtundsechziger nicht mehr. Enzensberger wäre hier zu nennen. Sie wollen keine Mitspieler, sondern nur Beobachter sein, die radikale Veränderungen herbeiführen, indem sie sich in eine Außenposition versetzen… Klotz: Sie haben das gerade ganz richtig beschrieben. Es handelte sich gewissermaßen um eine Art ›trojanisches Fohlen‹ in der technischen Universität. Und das konnte deswegen gut anknüpfen, weil es ein sehr großes Positivum der TU Berlin darstellte, dass sie zwar eine technische Universität war, aber die Verpflichtung hatte, humanistisches und fächerübergreifendes Wissen zu vermitteln. Sie mussten damals eine Fremdsprache machen, ob sie jetzt Maschinenbauer, Chemiker oder Atomphysiker werden wollten. Und sie mussten ein geisteswissenschaftliches Fach machen. Dazu waren wir da. Das war für Höllerer gut und auch für diejenigen, die bei ihm als Assistenten arbeiteten. Es war deshalb gut, weil wir nicht irgendwelche verdorbenen Kleinstgermanisten belehren mussten, sondern handfeste Techniker, die gesagt haben: »Ist denn eine Gattung in der Zoologie das Gleiche wie eine Gattung in der Poesie?« Vieles haben wir einfach vorausgesetzt und gesagt: »Mensch, man muss da ›ab urbe condita‹ loslegen.« Geisenhanslüke: Norbert Miller, sie waren in den 1960er Jahren ebenfalls Assistent an der Technischen Universität, haben die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter von Anfang an redaktionell begleitet und sind heute ihr Mitherausgeber. Vielleicht können sie die Ausfüh-

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rungen von Klaus-Michael Bogdal an dieser Stelle aus ihrer Sicht ein wenig kommentieren und ergänzen. Miller: An den ersten Nummern der Zeitschrift waren im Grunde alle Mitarbeiter von Höllerers Lehrstuhl mehr oder weniger beteiligt. Besonders interessant fand ich vorhin die Frage nach dem Zeitschriftentitel. Lassen sie mich darauf zurückkommen: Wie kam also der Titel zustande? So etwas ist ja immer eine heikle Frage. Titel kamen bei Höllerer generell nicht so zustande, wie man es erwartet, etwa als ein intellektuelles Programm nach einer Art Bauplan, sondern – und das spricht für die Art, wie er mit so etwas umging – Sprache im technischen Zeitalter sollte zunächst ein Untertitel sein. Man sucht ja immer Übertitel: Spiele in einem Akt – wie eine Anthologie, die ich gemeinsam mit Höllerer herausgegeben hatte, hieß – da denkt man darüber nach, ob das nicht auch »Theatre Minute« heißen könnte. Nach kurzer Zeit fällt einem dann auf, dass »Theatre Minute« ein saublöder Titel ist. Selten gewöhnt man sich an etwas wie die Akzente und ist dann im Nachhinein bereit, das für einen wunderbaren Titel zu halten, weil er sich durchgesetzt hat. Der Titel kam sicher mit Blick auf Husserl und Gehlen zustande. Wenn Walter Höllerer über Philosophie und Intellektualität redete, was er nicht gerne tat, dann war es eher Husserl als jemand anderer, den er dabei schätzte. Und sicher kannte er das Gehlen’sche Buch. Das hatte damals jeder gelesen. Aber auch hier ist der Titel im Endeffekt ein Titel gegen Gehlen. Er hat aber auch noch einen banaleren Hintergrund, den Volker Klotz schon angedeutet hat. Der banalere Hintergrund war die Etablierung Höllerers an der Technischen Universität in Berlin einerseits, und seine Vorstellung, er könnte der Literatur ein neues Wissenschaftsspektrum zugänglich machen. Dazu gehörten seltsame Fächer wie Kybernetik, Hirnforschung und Linguistik. Wie Volker Klotz schon sagte, war Höllerer ein begeisterter Verfechter der generativen Grammatik. Es dauerte etwa bis zur sechsten Nummer unserer Zeitschrift, bis er sah, dass er von allen Linguisten – die Jerrold Katz und Jerry Fodor hießen oder Noam Chomsky – eigentlich nur einen mochte, nämlich Yehoshua Bar-Hillel. Der hatte gesagt, dass aus einer Übersetzungsmaschine nichts Sinnvolles werden könne. Das bedeutete im Grunde genommen schon eine gewisse Einschränkung dieses Anspruchs.

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Das hängt damit zusammen – das hat Klaus-Michael Bogdal, glaube ich, ganz richtig beschrieben –, dass die Position des kritischen Beobachters einer Umbruchsgesellschaft kombiniert werden sollte mit der Innensicht einer durch technische Veränderungen bestimmten Zeit. Dass diese technischen Veränderungen bis herauf zur Veränderung unserer Kommunikationssysteme bis heute weiterlaufen, ist ja letztlich auf die banale Weise nicht abzustreiten. Das hängt aber auch damit zusammen, dass die Technische Universität, als sie vom englischen Stadtkommandanten zugelassen wurde, nicht mehr Hochschule heißen durfte, sondern dass sie Universität heißen musste, weil man durch das Hinzufügen von Geisteswissenschaften, um es banal zu sagen, verhindern wollte, dass von deutschem Boden jemals wieder V-2‘s abgeschossen werden. (Ich füge in Klammern hinzu, dass man an der Frequenz der Goethe-Zitate bei deutschen Atomphysikern deren Verstrickung in das Dritte Reich ablesen kann. Sie ist bei erstaunlich vielen bemerkenswert hoch, nicht nur bei Pascual Jordan.) Alfred Döblin hatte 1949 bei der Gründung der Mainzer Akademie übrigens eine ähnliche Idee im Sinn und war deswegen der Auffassung, sie solle »Akademie der Wissenschaften und der Literatur« heißen – also Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und Literatur zusammen. Hier ist ebenfalls eine Korrekturvorstellung intendiert, aber auch eine Vorstellung von Veränderung, und genau das hat Höllerer sehr gefallen. Höllerer hatte jedoch, als er bereits in Frankfurt dieses Unternehmen plante, noch etwas naivere Vorstellungen, womit ich wieder zum Biografischen zurückkomme. Er sagte, in Amerika gäbe es das Massachusetts Institute of Technology. Davon versprach er sich durch Gastprofessuren, die er in Amerika wahrgenommen hatte, das Höchste: Da waren Noam Chomsky, Jerrold Katz, Jerry Fodor usw. In Moskau gab es außerdem die Lomonossow Universität. – Was machen wir also in Berlin? Ganz einfach: das »Institut für Sprache im technischen Zeitalter«. So sah das aus. Und dazu gehörte diese Zeitschrift als ein taktisches Manöver. Sie konnte sich bis heute behaupten, diese Zeitschrift, die wir zwischenzeitlich sogar schon für tot geglaubt hatten. Aber seit Thomas Geiger sie macht, als Redakteur, ist sie richtig aufgeblüht. In den Anfangsjahren war die – vorhin auch von Volker Klotz beschriebene – Neugier auf das Fächerspektrum enorm wichtig: dass man ausprobiert, indem man herumbastelt, auch wenn es uns manchmal auf die Nerven

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gegangen ist, weil wir die Freude an der Kybernetik nicht teilten. Aber das spielt hier keine Rolle. Geisenhanslüke: Heute wird uns ja mehr oder weniger von außen auferlegt, mit anderen Fächern zusammenzuarbeiten, am besten mit den Naturwissenschaften. Das scheint mir damals grundlegend anders gewesen zu sein, weil das Interesse an Interdisziplinarität ja gewissermaßen vom Fach selbst artikuliert worden ist, auch wenn uns beispielsweise die Begeisterung für Kybernetik aus heutiger Sicht manchmal etwas abstrus erscheinen mag. Bogdal: Aber es lief doch alles über Sprache. Die Sprache war doch immer der Ausgangspunkt. Miller: Aber es ging auch darüber hinaus. Ganz spät, in den 1970er und 1980er Jahren, gab es noch ziemlich aufregende Seminare über mehrere Semester hinweg, in denen Architekten, Zukunftsforscher, Literaten und Kunsthistoriker zusammensaßen. Das war nicht immer so erfolgreich wie in den frühen 1960er Jahren, aber es geschah in Höllerers Umfeld. Es kamen auch sehr viele Leute von außen hinzu, das wird häufig vergessen. Es waren ständig Leute da, die das repräsentierten, was gerade als neu und modern galt. Klotz: Vieles, was unternommen wurde, ist dabei – zumindest anfänglich – in hohem Maße spielerisch gewesen. Dazu fällt mir eine Anekdote ein, die einem Satyrspiel gleicht: Wir Assistenten haben mit Höllerer Mitte der 1960er Jahre einmal zusammengesessen. Es war am Wannsee, als das LCB schon eine seriöse Sache war. Ich weiß nicht mehr, warum wir dort saßen. Höllerer hatte jedenfalls wieder einmal die Gelegenheit, so zu tun, als würde er Alkohol zu sich nehmen, was er in Wahrheit aber strikt mied. Uns hat er dabei zugesehen, wie wir uns haben volllaufen lassen, und einer von uns, nicht mehr nüchtern, sagte: »Bekanntlich ist Griechenland eine Insel.« Und dann sagte ein anderer: »Ach, so müsste eigentlich ein Roman anfangen.« – Die Untersuchung von Romananfängen war ein Forschungsprojekt, das von uns damals angekurbelt wurde. Norbert Miller hat ein entsprechendes Buch herausgegeben, ich hatte darüber einmal ein Seminar gehalten usw. Und dann sagte Höllerer: »Lassen wir doch einen Roman auf der Insel Griechenland spielen.« Und dann sagte einer: »Der Roman muss

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›Fuente‹ heißen.« Wir kannten den Autor Carlos Fuentes damals noch gar nicht. Und dann wurden Spielregeln für das Schreiben eines Gemeinschaftsromans aufgestellt. Es sollten so viele Figuren sein, wie wir in der Gruppe waren, und die Figuren sollten sich an die Mitglieder der Gruppe anlehnen. Aber keiner durfte über sich selbst schreiben, sondern aus der Sicht eines anderen. Ich habe sofort Höllerer gewählt, und zwar als Vertreter eines Lesezirkels für Illustrierte, so wie man diese etwas schmierigen Zeitschriften bei den Frisören und Zahnärzten findet, mit den grauen Umschlägen. Es ging für damalige Verhältnisse ziemlich säuisch zu und irgendwann haben wir das Ganze tatsächlich ernst genommen – zu unserem größten Amüsement. Wir kamen dann häufiger zusammen und brachten unsere Ehefrauen mit, soweit wir welche hatten. Die fanden es unsäglich blöd, was wir da gemacht haben, aber wir waren sehr ergötzt davon. Dann ist leider nichts daraus geworden, weil Höllerer bei dieser Gelegenheit die Idee kam, im Literarischen Colloquium den Gemeinschaftsroman Das Gästehaus schreiben zu lassen, mit wirklichen Dichtern und nicht mit irgendwelchen Assistenten, die da vor sich hin stümperten. Das waren so Sachen. Manchmal kamen ihm auch spontane Ideen in den Sinn, wie etwa bei der ersten Nummer der Sprache im technischen Zeitalter. Da hat er gesagt, wir müssten einen fertig machen, und zwar den widerlichen Dauer-Nazi Kurt Ziesel. Er hatte zuerst gesagt, ich solle das gemeinsam mit Norbert Miller machen. Miller und ich, wir saßen in einem Schwimmbad und haben überlegt, wie der erste Satz lauten soll, und Miller hatte absolut keine Lust. Ich habe dann einfach wüst losgedroschen und Ziesels Buch analysiert. Das ging dann auch. Ein anderes Beispiel ist die berühmte Veranstaltungsreihe Modernes Theater auf kleinen Bühnen im Wintersemester 1964/65. In diesen Jahren schrieb ich nebenher für mehrere Zeitungen Theaterkritiken, so dass Höllerer diesbezüglich auf mich zukam. – Das war auch listig: Höllerer hat uns eigentlich nie irgendwelche Anweisungen gegeben, obwohl er das gedurft hätte, er hatte ja Weisungsbefugnis. Er sagte nur: »Klotz, wenn Sie dann die Programmhefte machen, würde ich meinen, es sollte jeweils Folgendes drin stehen…« Ich habe dann gesagt: »Ich weiß von nichts. Ich weiß von der ganzen Aktion nichts.« – »Der Miller kann Ihnen ja helfen!« Und wir haben dann in diesen Dingern teilweise einfach etwas erfunden – weil das weithin unbekannte Theater waren, die nach Berlin eingeladen wurden, hatten wir ja nicht

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viel Material, es sollten aber immer soundso viele Seiten voll sein. Und was wir da zusammengelogen haben in dem Zeug…! Der Miller war damals noch so brav, der hat mich immer zu bremsen versucht. Wir bauten etwa Zitate aus Paul Hankammers Buch über Gegenreformation und Barock ein... Miller: Oder über jenen berühmten amerikanischen Dramatiker »Carnap«, an dem wir sehr gehangen haben... (lacht) Klotz: Das schönste war das Living Theatre aus New York. Das war ein ziemlich avanciertes Theater von Julian Beck und seiner Frau Judith Malina. Beides ziemliche Chaoten, und wir haben keinerlei Informationsmaterial gehabt. Wir haben dann kurzerhand fingierte Pressestimmen zitiert, unter anderem auch vom berühmten Lyriker Lawrence Ferlinghetti. Ich hatte eine Zeile geschrieben im Stile von: »This is what a theatre should be, stimulating…«, irgend so etwas. Und dann hatten wir etwas Angst, als die Leute vom Living Theatre nach Berlin kamen. Der Theaterdirektor hat sich das Programmheft angeguckt und meinte: »Wo habt ihr denn das Zitat her?« Dann haben wir gesagt: »Nun ja, von Ferlinghetti.« – »Ich bin doch gut mit ihm befreundet, der Schlamperer hat mir das nie gegeben. Das ist ein tolles Ding, mit dem Zitat werden wir weiter arbeiten!« Und diese Sachen sind dann eben auch von der Presse gerne aufgenommen worden. Es war, wie gesagt, sehr viel Spielerisches dabei – und manchmal ist das plötzlich ernst geworden. Jedenfalls haben wir, im Unterschied zu den meisten anderen Assistenten in der damaligen Zeit, nicht geschmachtet. Wir wurden nicht geknechtet. Es wurden auch die Studenten nicht gequält. Und wenn der ein oder andere von uns sich unter die Achtundsechziger begab – etwas zu alt dazu wie ich –, dann gab es keinen Grund, das wegen Walter Höllerer zu tun. Die Grundtendenz der Achtundsechziger schien uns aber sehr wichtig und das hätte mich auch fast die Habilitation gekostet, weil man das als anständiger Assistent nicht machte. Miller: Beim Stichwort ›Achtundsechziger‹ würde ich gerne noch eimal zu den Debatten von vorhin zurücklenken. Klaus-Michael Bogdal hatte angedeutet, dass das Jahr 1968 einen Endpunkt markiert, und in der Diskussion im Anschluss an den Beitrag von Susanne Krones wurde ja auch die Frage aufgeworfen, warum Höllerer im Jahr 1967,

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wenn man so will auf dem Höhepunkt seines Einflusses, von den Akzenten zurücktritt. Ich muss gestehen, dass ich zu dem eigentlichen Entschluss nicht viel sagen kann. Ich habe versucht, mich zu erinnern, aber weiß es nicht mehr genau. Ich weiß nur, dass wir längere Zeit darüber debattiert haben. Ich glaube aber, mit Blick auf die Frage nach dem Zeitpunkt des Endes von Höllerers ›Großprojekt‹ muss man zunächst über eines nachdenken: Das Ereignis 1968 ist nicht etwas, was 1968 anfängt, sondern spätestens um 1964/65 beginnen die Bewegungen, die dann 1968 kulminieren. Dass sie zum Teil von Amerika herüber kommen, ist nochmal ein anderes Thema. Aber es war schon in den letzten, eigentlich aufwändigsten dieser Höllerer’schen Veranstaltungsreihen spürbar, dass es nicht mehr funktionierte. Die Veranstaltungsreihen hatten ja das Programm der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter gewissermaßen ergänzt und erfreuten sich zunächst eines unglaublichen Zulaufs. Ab Mitte der 1960er Jahre war jedoch allmählich spürbar, im Lehrbetrieb wie in der Kultur und auf den öffentlichen Podien, dass das nicht mehr lange gut geht. Und dann gab es eine der Veranstaltungen, wo Höllerer vorne mit einer Reihe von Kritikern saß. Es war etwas unruhig im Publikum, das spärlich war, und dann meldete sich Wolf Wondratschek, der im Publikum saß, und sagte: »Da sitzt ihr nun wie fünf muntere Grabsteine.« Und ich glaube, für Wondratschek, mit seiner seismographischen Wahrnehmung von Augenblicken, muss da schon das Problem deutlich geworden sein. Nicht spontan, nicht sofort, aber es war dann eben etwas, das zu Höllerers Überarbeitung hinzu kam. Er hat sich vor Diskussionen nicht gescheut, er hat die Thesen zur Hirnforschung gegenüber der Dialektik immer gerne öffentlich vertreten. Er hatte dann aber, 1968, einen großen, gesundheitlichen Zusammenbruch. Ich glaube, dass das eine Zäsur ist, die viele Facetten hat. Geisenhanslüke: Zum Schluss würde ich gerne noch einmal einen fachgeschichtlichen Aspekt aufrollen, und zwar im Hinblick auf literaturwissenschaftliche Standardwerke, die weit über die 1960er Jahre hinaus wichtig waren. Volker Klotz hat eines davon vorgelegt, Geschlossene und offene Form im Drama, Eberhart Lämmert hat ein anderes vorgelegt, Bauformen des Erzählens, und Peter Szondi die Theorie des modernen Dramas. Das waren ja Versuche, gattungspoetische Überlegungen zu machen, die gleichzeitig aber auch einen philosophi-

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schen Hintergrund hatten, bei Szondi jedenfalls sehr deutlich. Hugo Friedrich hat so etwas in der Romanistik für die Lyrik vorgelegt. War etwas in dieser Richtung bei Walter Höllerer nie geplant? Man hätte sich das bei ihm doch sehr gut vorstellen können. Ich war immer der Auffassung, Höllerer wäre der ideale Kandidat gewesen für eine Standarduntersuchung, die das Zeug gehabt hätte, zu einem Klassiker zu werden, eben wie die Bauformen oder die Theorie des modernen Dramas. Klotz: Walter Höllerers Buch Zwischen Klassik und Moderne. Lachen und Weinen in der Dichtung einer Übergangszeit ist, glaube ich, nicht genügend zur Kenntnis genommen worden, obwohl es in den letzten Jahren nochmal aufgelegt worden ist.8 In dieser Arbeit hat Höllerer Dinge herausbekommen, die seiner Vorstellung von moderner Literatur entsprachen. Er hat festgestellt, dass es bestimmte Autoren in der deutschen Sprache gab, die eigentlich die Avantgarde vorweg genommen hatten, wie eben Heinrich Heine, Christian Dietrich Grabbe, Georg Büchner und noch einige mehr. Das ist eigentlich ein ziemlich starkes und bemerkenswertes Ergebnis gewesen, vor allem, wenn man das an dem misst, was Pseudometaphysiker wie Benno von Wiese oder Fritz Martini damals immer noch geschrieben haben. Die hatten immer so eine Waschtrommelprosa losgelassen: Fünfmal so rum, so rum, und du weißt nicht, wo du aufhörst zu lesen. Vermutlich kam Höllerers Studie fast einen Moment zu spät heraus, um den Rang, den sie eigentlich hatte, auch in der Öffentlichkeit zeigen zu können. Vielleicht war er aber auch schon zu sehr abgestempelt als der ›Poet‹ unter den Philologen. Dichtende Literaturwissenschaftler gelten ja in der Regel als fragwürdige Gesellen. Miller: Nun ja, das Problem war auch, dass er sein zweites Buch nicht geschrieben hat. Das zweite Buch wären seine Bausteine der Poetik der Moderne gewesen, darüber hat er schon in Frankfurt Vorlesungen gehalten. Es wäre der ganzen Funktion nach aber dennoch nicht das geworden, was man sich unter einem ›Standardwerk‹ vorstellt. Die Theorie des modernen Dramas bei Peter Szondi kommt ja von einer ganz anderen Ecke her und ein Buch wie Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens, obwohl es ja sehr nahe ist an dem, was Höllerer

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Stuttgart 1958. Neuaufl., Köln 2005.

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mit ›Bausteinen‹ meinte, hätte er niemals schreiben können oder schreiben mögen. Interferenzen von Forschungsrichtungen, wenn sie nicht an der Literatur unmittelbar erprobt waren, hätten ihn nämlich zu Tode gelangweilt. Das hätte ihn nicht interessiert. In den Augen Höllerers hat Volker Klotz sein Standardwerk eigentlich ursprünglich auch einmal als ›Einleitung‹ zu einem größeren historischen Werk verstanden und ist sozusagen ungewollt zum Klassiker geworden… Geisenhanslüke: War das vielleicht auch wieder ein didaktischer Trick von Walter Höllerer, dass er sie darauf angesetzt hat eine große, mehrteilige historische Untersuchung zum Drama zu schreiben? Klotz: (lacht) Nein, dessen war ich mir zumindest nicht bewusst… Und Kurt May, bei dem ich die Promotion eingereicht hatte, der aber noch vor Abschluss des Verfahrens verstorben ist, hat mir auch nicht sonderlich geholfen. Er meinte: »Das artet aus, als Typologie, wie schrecklich. Aber, machen sie mal.« Ich glaube auch, dass es da ein Defizit gibt. Norbert Miller sagt das ganz richtig. Es war wohl so eine Art Triptychon geplant. Ich selbst habe auch einmal so ein Triptychon gemacht, als Wiedergutmachung daran, wie die Leute mit meiner Dissertation umgegangen sind. Ich habe dann das, was fehlte – sozialhistorisch und theatergeschichtlich – mit Büchern wie Dramaturgie des Publikums wieder gut machen wollen. Das hat aber nichts geholfen. Die Dramaturgie des Publikums kam nicht über die zweite Auflage hinaus.9 Ich glaube man sollte nicht dem Richard Wagner nacheifern mit diesen etwas größeren Konstruktionen. Walter Höllerer hatte jedoch ein spezielles Verständnis, wie das Verhältnis von Teil und Ganzem bei größeren Projekten aussehen sollte. Das zeigte sich auch bei der Konzeption von Anthologien wie Transit. Es gab beinahe eine gewisse Nähe zur avancierten E-Musik, bei der man ja mit ›Würfelvorstellungen‹ vorgegangen ist. Man hatte eine Art aleatorisches System im Sinne, das in der Literatur beispielsweise den Roman Rayuela von Julio Cortázar inspirierte.

9

Volker Klotz: Dramaturgie des Publikums. Wie Bühne und Publikum aufeinander eingehen, insbesondere bei Raimund, Büchner, Wedekind, Horváth, Gatti und im politischen Agitationstheater. München 1976. 2. Aufl., Würzburg 1998.

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Dass man sagt: »Die Abfolge der Teile überlassen wir dem Belieben des Pianisten«, das entspricht eher Höllerers Denkweise als die Vorstellung eines pompösen Gesamtkunstwerks. Geisenhanslüke: Damit sind wir am Ende unseres Gesprächs angelangt. Ich danke ihnen, Herr Klotz, Herr Miller und Herr Bogdal, dass sie aus so unterschiedlichen Perspektiven das universitäre Leben der 1960er Jahre sowie die Modernisierungs- und Transformationsprozesse im Umfeld Walter Höllerers beleuchtet haben. Ich glaube, es sind viele Fragen aufgeworfen und erörtert worden, die dazu anregen, hier mit fach- und institutionengeschichtlichen Überlegungen anzuschließen.

Autorinnen und Autoren Roland Berbig, Dr. phil., Professor am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 19. Jahrhunderts, insbesondere Heinrich Heine, Theodor Fontane und Theodor Storm, Literatur nach 1945, insbesondere Günter Eich, Ilse Aichinger und Uwe Johnson. Publikationen (Auswahl): Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine. Berlin u.a. 2000; (Hg.) Zeitdiskurse. Reflexionen zum 19. und 20. Jahrhundert als Festschrift für Wulf Wülfing. Heidelberg 2004; (Hg.) Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost. Von Christa Wolf über Günter Grass bis Wolf Biermann. Berlin: 2005. Klaus-Michael Bogdal, Dr. phil., Professor für germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Gegenwartsliteratur, Literaturtheorie und Wissenschaftsgeschichte, Alteritätsforschung, Fachgeschichte der Germanistik. Publikationen (Auswahl): Schaurige Bilder. Der Arbeiter im Blick des Bürgers am Beispiel des Naturalismus. Frankfurt a.M. 1978; Zwischen Alltag und Utopie. Arbeiterliteratur als Diskurs des 19. Jahrhunderts. Opladen 1991; Historische Diskursanalyse der Literatur, 2. Aufl., Heidelberg 2007; Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Berlin 2011. Johanna Bohley, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Neoavantgarde und Interkunst um 1960, Wissenssoziologie, Wissenschaftsgeschichte, Poetologie der Gegenwartsliteratur. Publikationen (Auswahl): »Es gibt keine Psychologie nur Physik u Chemie«? Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers im Laboratorium des Nichts-Erzählens. In: Bies, Michale /

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Gamper, Michael (Hg.): »Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Wort.« Experimente und Literatur III 1890-2010. Göttingen 2011, S. 263-280; »[…] dem Erfinder der Entropie der Kunst« – Text und Wissen bei Helmut Heißenbüttel und Max Bense. In: Friedrich, HansErwin / Hanuschek, Sven (Hg.): Reden über die Schwierigkeiten der Rede. Das Werk Helmut Heißenbüttels. München 2011, S. 291-304. Vanessa Brandes, M.A., Studium der Literatur- und Politikwissenschaft, Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur an der Humboldt Universität Berlin, Redaktionsmitglied bei goldmag.de. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 20. Jahrhunderts, Literatur und Politik, Literaturbetrieb. Publikationen (Auswahl): Literarische Grenzziehungen. Die Schriftsteller und der Mauerbau. In: Blätter für internationale Politik (2011), H. 8, S. 109-120; (mit Roland Berbig) Berliner Studenten und deutsche Literatur nach 1989/90. Materialien für eine ausstehende Literaturgeschichte der Berliner Universität. In: Zeitschrift für Germanistik, N.F. XX (2010), H. 2, S. 395-410. Achim Geisenhanslüke, Dr. phil., Professor am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Literaturtheorie, Diskurstheorie, Dekonstruktion, Psychoanalyse, klassisches Drama in Frankreich und Deutschland, Lyrik und Roman der Moderne, Gegenwartsliteratur. Publikationen (Auswahl): Gegendiskurse. Literatur und Diskursanalyse bei Michel Foucault, Heidelberg 2008; Das Schibboleth der Psychoanalyse. Freuds Passagen der Schrift. Bielefeld 2008; Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens. München 2011; Nach der Tragödie. Lyrik und Moderne bei Hegel und Hölderlin. München 2012. Sven Hanuschek, Dr. phil., Professor am Institut für deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Arbeitsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts, Literatur und Sozialpsychologie, Ethnologie, Film, Biografie. Publikationen (Auswahl): Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners. München und Wien 1999; Geschichte des bundesdeutschen PENZentrums von 1951 bis 1990. Tübingen 2004; Elias Canetti. Biographie. München und Wien 2005; Laurel & Hardy. Eine Revision. Wien 2010.

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Michael Peter Hehl, M.A., wissenschaftlicher Leiter des Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg, Lehrbeauftragter an der Universität Regensburg und der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 20. Jahrhunderts, Gegenwartsliteratur, Literaturtheorie, Literatursoziologie, Mediensoziologie, Kultursoziologie, Archivtheorie, Archivkunde, Editionsphilologie. Publikationen (Auswahl): Ein Autor, der den Literaturbetrieb erfand. Der Nachlass Walter Höllerers im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg. In: Hansen, Volkmar / Horstenkamp, Ulrike / Weidle, Gabriele (Hg.): Special Delivery. Von Künstlernachlässen und ihren Verwaltern. Bonn 2011, S. 182-199; Digitale Bohéme vs. Bildungsbürgertum? Kultursoziologische Überlegungen zur Debatte um Helene Hegemanns Axolotl Roadkill. In: Bohley, Johanna / Schöll, Julia (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts, Würzburg 2011, S. 259-278. Volker Klotz, Dr. phil., Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart (bis 1995), Theaterkritiker und Dramaturg. Arbeitsschwerpunkte: Europäische Literatur der Moderne, Theaterwissenschaft, Literatursoziologie. Publikationen (Auswahl): Geschlossene und offene Form im Drama. München 1960, 15. Aufl. 2011; Literaturbeamter auf Lebenszeit. Spielräume der akademischen Verwaltung von Dichtkunst. Essays und Notizen. Darmstadt 1991; Radikaldramatik. Szenische Vor-Avantgarde. Von Holberg zu Nestroy, von Kleist zu Grabbe. Bielefeld 1996; Erzählen. Von Homer zu Boccaccio, von Cervantes zu Faulkner. München 2006; Verskunst. Was ist, was kann ein lyrisches Gedicht? Bielefeld 2011. Susanne Krones, Dr. phil., Verlagslektorin und Publizistin, Lehrbeauftragte an der Ludwig-Maximilian-Universität München und der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, Buchmarkt, Buchwissenschaft, Verlagswesen, Verlagsgeschichte, Literaturkritik, literarische Zeitschriften, Editionphilologie. Publikationen (Auswahl): Lesende Schreiber, schreibende Leser. Lektorat in den Literaturverlagen der Jahrhundertwende / Vierter Aufguss, abgestanden? Bestsellerbibliotheken auf dem Buchmarkt. In: Krones, Susanne / Zemanek, Evi (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Bielefeld: 2008, S. 373-388/S. 413-426; Akzente im Carl Hanser Verlag. Geschichte, Programm und Funktionswandel einer literarischen Zeitschrift. Göttingen 2009; Zwischen Salinger und Hegemann.

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Jugendrevolte im Roman. In: Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte 4 (2010), S. 60-62; Innovation und Konvention. Literarische Debüts zwischen 2000 und 2010. In: Bohley, Johanna / Schöll, Julia (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts, Würzburg 2011, S. 197-211. Norbert Miller, Dr. phil., Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin (bis 2006). Arbeitsschwerpunkte: Europäische Literatur von 1700 bis zur Gegenwart, Literatur und bildende Kunst, Geschichte der Oper, Literatur und Musik. Publikationen (Auswahl): Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968; Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi. München 1978; Strawberry Hill. Horace Walpole und die Ästhetik der schönen Unregelmäßigkeit. München 1986; Der Wanderer. Goethe in Italien. München 2002; Die ungeheure Gewalt der Musik. Goethe und seine Komponisten. München 2009; Fonthill Abbey. Die dunkle Welt des William Beckford. München 2012. Rolf Parr, Dr. phil., Professor für Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, Gegenwartsliteratur, Literaturtheorie, Medientheorie, (Inter-)Diskurstheorie, Kollektivsymbolik, literarisches Leben, Geschichte des modernen Literaturbetriebs. Publikationen (Auswahl): Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarischkulturellen Gruppierungen zwischen Vormärz und Weimarer Republik. Tübingen 2000; Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz (1830-1930). Heidelberg 2008; (Hg. mit Kammler, Clemens / Schneider, Ulrich J.) Foucault-Handbuch. Stuttgart und Weimar 2008; Warum die Bildung von Schriftstellergruppen eine so schwierige Angelegenheit ist. Das Beispiel der »Dortmunder Gruppe 61«. In: Cepl-Kaufmann, Gertrude / Grande, Jasmin (Hg.): Schreibwelten – Erschriebene Welten. Begleitband zur Ausstellung zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61. Essen 2011, S. 155-162. Heribert Tommek, Dr. phil., Akademischer Rat am Institut für Germanistik der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des späten 18. Jahrhunderts, Literatur des 20. Jahrhunderts, Gegenwartsliteratur, Literaturtheorie, Literatursoziologie, Editionsphilologie.

A UTORINNEN

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Publikationen (Auswahl): J. M. R. Lenz. Sozioanalyse einer literarischen Laufbahn. Heidelberg 2003. Am Rande des Soziologisierbaren? Bourdieus Literatursoziologie – ihre Bedeutung für die Feld- und symbolische Herrschaftsanalyse. In: Farber, Richard / Hager, Frithjof (Hg.): Rückkehr der Religion oder säkulare Kultur? Kultur- und Religionssoziologie heute. Würzburg 2008, S. 90-107; Die Durchsetzung einer ästhetisch-symbolischen Exzellenz: Der Aufstieg Durs Grünbeins in den neunziger Jahren. In: Schmidt, Robert / Woltersdorff, Volker (Hg.): Symbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu. Konstanz 2008, S. 147-167.

Literalität und Liminalität Christine Bähr, Suse Bauschmid, Thomas Lenz, Oliver Ruf (Hg.) Überfluss und Überschreitung Die kulturelle Praxis des Verausgabens 2009, 246 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-989-3

Achim Geisenhanslüke, Rasmus Overthun (Hg.) Kino der Blinden Figurationen des Nichtwissens bei David Lynch Oktober 2012, 302 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2086-3

Eckart Goebel Jenseits des Unbehagens »Sublimierung« von Goethe bis Lacan 2009, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1197-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literalität und Liminalität Oliver Kohns, Claudia Liebrand (Hg.) Gattung und Geschichte Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie Mai 2012, 384 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1359-9

Inge Kroppenberg, Martin Löhnig (Hg.) Fragmentierte Familien Brechungen einer sozialen Form in der Moderne 2010, 238 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1400-8

Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Medien des Wissens Interdisziplinäre Aspekte von Medialität 2011, 270 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-779-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literalität und Liminalität Natalie Bloch Legitimierte Gewalt Zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Theatertexten von Elfriede Jelinek und Neil LaBute 2011, 362 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1786-3

Bernhard J. Dotzler, Henning Schmidgen (Hg.) Parasiten und Sirenen Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion 2008, 248 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-870-4

Jens Elberfeld, Marcus Otto (Hg.) Das schöne Selbst Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik 2009, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1177-9

Thomas Ernst Literatur und Subversion Politisches Schreiben in der Gegenwart März 2013, ca. 490 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1484-8

Achim Geisenhanslüke Das Schibboleth der Psychoanalyse Freuds Passagen der Schrift 2008, 158 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-877-3

Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Grenzräume der Schrift

Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Monströse Ordnungen Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen 2009, 694 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1257-8

Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Schriftkultur und Schwellenkunde 2008, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-776-9

Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hg.) Ignoranz Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen 2008, 262 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-778-3

Nicola Gess, Tina Hartmann, Robert Sollich (Hg.) Barocktheater heute Wiederentdeckungen zwischen Wissenschaft und Bühne 2008, 220 Seiten, kart., inkl. Begleit-DVD, 25,80 €, ISBN 978-3-89942-947-3

Sebastian Reddeker Werbung und Identität im multikulturellen Raum Der Werbediskurs in Luxemburg. Ein kommunikationswissenschaftlicher Beitrag 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1988-1

2008, 292 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-777-6

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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