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German Pages [254] Year 2010
Wirtschaftsgeschichte Die Entstehung der modernen Volkswirtschaft
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Akademie Studienbücher Geschichte
Toni Pierenkemper
Wirtschaftsgeschichte Die Entstehung der modernen Volkswirtschaft
Akademie Verlag
Der Autor: Prof. Dr. Toni Pierenkemper, Jg. 1944, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität zu Köln
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004623-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2009 www.akademie-studienbuch.de www.akademie-verlag.de Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einband- und Innenlayout: milchhof : atelier, Hans Baltzer Berlin Einbandgestaltung: Kerstin Protz, Berlin, unter Verwendung einer Reichsbanknote über 10 Millionen Mark zu Zeiten der Hyperinflation (1923) Satz: Druckhaus „Thomas Müntzer“ GmbH, Bad Langensalza Druck und Bindung: CS-Druck Cornelsen Stürtz GmbH, Berlin Printed in Germany
Wirtschaftsgeschichte Die Entstehung der modernden Volkswirtschaft
1 1.1 1.2 1.3
Armut und Reichtum Armut in Europa seit dem Mittelalter Armut im vorindustriellen Deutschland Armut heute
7 9 14 17
2 2.1 2.2 2.3
Wohlstand und Wirtschaftswachstum Vormoderne Entwicklung und modernes Wirtschaftswachstum Wohlfahrtsmessung und Wohlstandsindikatoren Wachstum und Wohlstand in Deutschland
23 25 29 33
3 3.1 3.2 3.3
Arbeit und Lohnarbeit Die Entstehung von Lohnarbeit in Deutschland Die Entfaltung eines Arbeitsmarktes Strukturen der Lohnarbeit in Deutschland
39 41 46 50
4 4.1 4.2 4.3
Wissen und Können Wissen als Produktivkraft ¨ Wissensgesellschaft und Wissensokonomie ¨ des Wissens Ertrage
55 57 60 65
5 5.1
69
5.2 5.3
Kapital und Investitionen ¨ Kapitalbildung in Großbritannien wahrend der Industriellen Revolution Kapitalbildung in Deutschland Kapital und Banken in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert
71 75 77
6 6.1 6.2 6.3
Innovationen und technischer Fortschritt Innovationen und Wirtschaftswachstum Technik in der Industriellen Revolution Technologische Innovationen in Deutschland
83 85 89 93
7 7.1 7.2
Geld und Währung Zur Entstehung des Geld- und Bankwesens in Mitteleuropa ¨ Die Konsolidierung der Wahrungsordnung in Deutschland im 19. Jahrhundert ¨ ¨ Die Zerruttung der deutschen Wahrung in zwei Inflationen ¨ Stabilitatskultur in Nachkriegsdeutschland
7.3 7.4
99 101 104 108 111
5
IN HA LT
8 8.1 8.2 8.3 8.4
Einkommen und Vermögen Kategorien und Maßkonzepte von Einkommensverteilung Einkommensungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert Reichtum und Armut in der Bundesrepublik Vermogensverteilung ¨ in der Industriegesellschaft
117 119 122 125 127
9 9.1 9.2 9.3
Wandel der wirtschaftlichen Strukturen Sektoraler Strukturwandel Sektortheorie Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaft?
131 133 136 139
10 10.1 10.2 10.3
Unternehmen und Big Business Pioniere in den USA und Deutschland Wachstum deutscher Großunternehmen im 19. Jahrhundert Big Business im 20. Jahrhundert
145 147 149 153
11 11.1 11.2 11.3
Stabilität und Entwicklung ¨ ¨ Historische Erfahrungen okonomischer Instabilitat ¨ ¨ Methoden zur Erfassung okonomischer Instabilitat Konjunkturen und Krisen in Deutschland
159 161 165 171
12 12.1 12.2 12.3
Handel und Globalisierung Die Entstehung der Weltwirtschaft ¨ Das Außenwirtschaftsregime europaischer Staaten Deutschlands Außenhandel 1800–2000
175 177 181 187
13 13.1 13.2 13.3
Staat und Wirtschaftsordnung Staat und Wirtschaft nach 1648 Die Rolle des Staates in der deutschen Wirtschaft im 19. Jahrhundert Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik im 20. Jahrhundert
191 193 197 201
14 14.1 14.2 14.3
Die Zukunft der modernen Volkswirtschaft Wirtschaftswachstum ohne Krisen? Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre Die erste Krise des 21. Jahrhunderts
207 209 211 215
15 Serviceteil 223 15.1 Das Fach Wirtschaftsgeschichte und seine Institutionen 223 15.2 Studium Wirtschaftsgeschichte – allgemeine bibliografische Hilfsmittel 225 16 16.1 16.2 16.3 16.4
Anhang Zitierte Literatur Abbildungsverzeichnis Sachregister Glossar
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229 229 245 248 252
1 Armut und Reichtum
Abbildung 1: Die Geschichte der Weltwirtschaft in einem Bild / Unser Aufstieg (Clark 2007, S. 2)
Warum gibt es Reichtum und Armut auf der Welt? Das ist die entscheidende moralische Frage der Menschheitsgeschichte. Wer durch den Zufall in Deutschland, Amerika oder Singapur wohnt, lebt im Wohlstand. Wer in Afrika auf die Welt kommt, bleibt arm. So war es nicht immer. Dass zwi¨ schen reichen und armen Landern ei¨ ne gigantische Einkommenslucke klafft, ist historisch ein relativ neues ¨ Phanomen. Mehr oder weniger bis zum Jahr 1800 sah die Verteilung des ¨ bescheidenen Wohlstands uber Jahr¨ tausende hinweg in nahezu allen Lan-
¨ dern der Welt gleich aus. Wahrend eine kleine Elite ein behagliches Le¨ ben fuhrte, verharrte die große Masse in bitterer Armut. [. . .]. Das alles an¨ derte sich schlagartig im England des fruhen 19. Jahrhunderts. Fortan wuchs ¨ die Ungleichheit zwischen den Staaten dramatisch, wahrend sie innerhalb der ¨ Staaten nicht minder dramatisch abnahm. Kein Wunder, dass die Wirtschaftshistoriker seit langem fieberhaft nach der Zauberformel fahnden, welche diesen Einschnitt der Menschheitsgeschichte zu verantworten hat.
Rainer Hank: Unser Aufstieg, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 33 vom 19. August 2007 (Hank 2007)
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AR MU T UND R EI CH TUM
Der Kurvenverlauf im Schaubild veranschaulicht auf einen Blick, worum es bei der Entwicklung von Armut und Reichtum in der Weltgeschichte geht. Über nahezu zwei Jahrtausende bis in die unmittelbare Gegenwart des 19. Jahrhunderts waren alle Gesellschaften arm. Ihre Bevolkerung bezog nur ein außerst bescheidenes Pro-Kopf-Ein¨ ¨ kommen und trotz aller Schwankungen blieb dieses auf einem geringen Niveau weitgehend stabil. Am Ende des 18. Jahrhunderts anderte ¨ sich diese Situation plotzlich und zunachst nur wenige, spater einige ¨ ¨ ¨ mehr Staaten erzielten einen rapiden Wohlstandsgewinn. Die entsprechende Kurve fur und uber¨ die Industriestaaten schoss in die Hohe ¨ ¨ stieg das Jahrtausende wahrende Ausgangsniveau bald um ein mehr¨ faches, wahrend fur Welt alles im Hergekommenen, in ¨ ¨ die ubrige ¨ tiefer Armut eben, verharrte. Nur wenigen Nationen gelang es in den letzten 250 Jahren, die Fesseln der Armut abzustreifen und einen bisher nie gesehenen Wohlstand zu erreichen. Dies gilt insbesondere fur ¨ Europa, wo eine einmalige Wohlfahrtssteigerung ihren Ausgangspunkt nahm und von dort uber den Atlantik zunachst nach Nord¨ ¨ amerika ausgriff, um spater auch auf anderen Kontinenten Ausbrei¨ tung zu finden. „Kein Wunder, dass die Wirtschaftshistoriker seit langem fieberhaft nach der Zauberformel fahnden, welche diesen Einschnitt der Menschheitsgeschichte zu verantworten hat.“ (Hank 2007, S. 28) Jedoch ist diese Zauberformel zur Generierung von Wohlstand bis heute noch nicht vollstandig entschlusselt. Vielfaltige Versuche und Ex¨ ¨ ¨ perimente zur Forderung gesellschaftlichen Wohlstandes haben ¨ unterschiedliche Ergebnisse gezeitigt und waren nicht immer erfolgreich. Wie effektiv diese im Einzelnen gewesen sind, kann man nur im Hinblick auf die jeweilige Ausgangssituation beurteilen. Deshalb ist es zunachst einmal wichtig, sich ein genaueres Bild von der vor¨ industriellen Armut zu machen, insbesondere in Europa, auf das sich die folgenden Ausfuhrungen schwerpunktmaßig beziehen und fur ¨ ¨ ¨ das auch die sichersten Daten verfugbar sind. Auch wenn heute viel¨ fach weiterhin offentlich uber eine „neue“ Armut diskutiert wird, so ¨ ¨ muss man dabei immer berucksichtigen, dass diese relative Armut ¨ nicht mit einer absoluten Armut der fruheren Menschheitsgeschichte ¨ zu vergleichen ist. 1.1 Armut in Europa seit dem Mittelalter 1.2 Armut im vorindustriellen Deutschland 1.3 Armut heute
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AR MUT I N E URO PA SE IT DE M M ITT EL ALTE R
1.1 Armut in Europa seit dem Mittelalter Der relative Wohlstand, den das romische Imperium in der Antike ¨ bereits geschaffen hatte, ging im Europa der Spatantike (3.–6. ¨ 6 Jahrhundert n. Chr.) wahrend des Zerfalls des Romischen Reiches wieder ¨ ¨ verloren. Der zivilisatorische Niedergang wahrend dieses Zeitraums ¨ fuhrte zweifellos auch zu einer okonomischen Verarmung. In Euro¨ ¨ pa, im westlichen Teil der antiken Welt, war die Armut vor allem ein landliches Phanomen. Große Stadte wie im Orient gab es hier nicht ¨ ¨ ¨ (mehr). Die Armut im westlichen Europa war daher vor allem darin begrundet, dass die Mehrheit der Bevolkerung von den Rechten an ¨ ¨ Grund und Boden ausgeschlossen war. Hinzu kamen Bevolkerungs¨ verluste (etwa durch die Pest 542–547 5 n. Chr.) und permanente kriegerische Auseinandersetzungen, sodass ein planvoller Landbau kaum moglich war und die Wirtschaft stark beeintrachtigt blieb. Hungers¨ ¨ note pragten die gesellschaftlichen Verhaltnisse ¨ und Volksaufstande ¨ ¨ ¨ der Spatantike und die Zahl der Armen wuchs stetig an, sodass ¨ „Bauer“ und „Armer“ gleichsam zu Synonymen wurden (Mollat 1984, S. 34f.). Die Situation von Armut, Not und Hunger fur ¨ eine große Zahl von Menschen hielt auch wahrend des Mittelalters (6.–15. ¨ 1 Jahrhundert) weiter an. Der Mangel an Nahrungsmitteln war allgegenwartig ¨ und immer wieder kam es zu periodischen Hungersnoten. Diese fan¨ den ihre Ursachen nicht nur in den witterungsbedingten Missernten, sondern auch in Naturkatastrophen, Klimaschwankungen, Epidemien (wie der Pest im 14. Jahrhundert), Schadlingsbefall und ahn¨ ¨ lichem, sowie in der generell unzureichenden Produktivitat ¨ der stetig wachsenden Bevolkerung. Diese Entwicklungen waren in allen euro¨ paischen Regionen mehr oder weniger gleichzeitig zu beobachten. ¨ Doch zeigten sich in den europaischen Landern daruber hinaus ¨ ¨ ¨ auch einige Besonderheiten speziell im Hinblick auf die Agrarverfassung. Insbesondere in England hatten die adeligen Grundherren den verfugbaren Boden nahezu ausschließlich unter sich selbst aufgeteilt. ¨ Dadurch verfugten die Kleinbauern nicht mehr uber ausreichendes ¨ ¨ Ackerland, von dem sie sich ernahren konnten. Ähnliches ließ sich in ¨ zahlreichen deutschen Territorien und auch im ostlichen Europa, ¨ dort insbesondere im Zuge der Ausdehnung der sogenannten zweiten Leibeigenschaft, beobachten. Auch in Spanien waren freie Bauern so gut wie verschwunden und mit hohen Ablieferungspflichten an die Grundherren versehen. Ähnlich war es in Italien, wo zum Teil sogar noch Sklavenwirtschaften verbreitet waren. Allein in Frankreich fand
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Niedergang in der Spätantike
Hungersnöte im Mittelalter
Armut auf dem Land . . .
AR MU T UND R EI CH TUM
. . . und in den Städten
Lokale Armenpflege
Klösterliches Hospizwesen
sich eine großere Zahl von Kleinbauern, die allerdings wegen der ge¨ ringen landwirtschaftlichen Produktivitat ¨ ebenfalls in großer Armut lebten. In den mittelalterlichen Stadten, in denen nur eine Minderheit der ¨ Bevolkerung wohnte, waren die Verhaltnisse nicht viel besser. Min¨ ¨ destens die Halfte aller Stadtbewohner lebte von der Hand in den ¨ Mund, also knapp an der Armutsgrenze und gelegentlich auch darunter. Es waren sogenannte Unterschichten, die die Stadtbevolke¨ rung dominierten. In ausgewahlten Stadten der Schweiz und ¨ ¨ Deutschlands lag der Anteil der Unterschichten an der Stadtbevolke¨ rung im spaten Mittelalter des 15. Jahrhunderts zwischen 50 und ¨ 75 % (Fischer 1982, S. 17). Dazu zahlten die kleinen Gewerbetrei¨ benden und Handwerksmeister ebenso wie deren Gesellen, Knechte, Magde und Tagelohner, außerdem eine beachtliche Marginalgruppe ¨ ¨ (Fahrensleute, Schafer, Kranke, Alte usw.). Die Lebenssituation dieser ¨ Unterschichten war außerordentlich schlecht und gelegentlich von Hunger gepragt. Etwa 80 % des gesamten Einkommens war fur ¨ ¨ Nahrung aufzubringen, 20 % allein fur ¨ Brot, dem Hauptnahrungsmittel der Zeit (Cipolla 1980, S. 29f.). Die Bekampfung einer derart weit reichenden Armut im Rahmen ¨ der Armenpolitik war nur begrenzt moglich. Man trennte daher ¨ strikt zwischen Formen einer „ehrbaren“ Armut, die als unverschuldet angenommen wurde und zu der Kranke, Kruppel, Witwen und ¨ Waisen zahlten, und der „selbstverschuldeten“ Armut, zum Beispiel ¨ der gesunden und arbeitsfahigen Bettler, die als lasterhaft, sundig ¨ ¨ und unmoralisch angesehen wurde. Die zumeist lokal angebundene Armenpflege bot in normalen Zeiten ein bescheidenes Maß an Unterstutzung fur ¨ ¨ die ehrbaren Armen. Insbesondere die Kirchspiele spielten dabei eine große Rolle. Hier wurden zum Teil Listen der unterstutzungswurdigen Armen (Armenmatrikel) gefuhrt, deren Versor¨ ¨ ¨ gung aus Kirchenabgaben finanziert wurde. In Krisenzeiten versagte dieses System jedoch sehr schnell, da der Umfang der notwendigen Unterstutzung die Leistungsfahigkeit der Gemeinden ubertraf. Ein ¨ ¨ ¨ klosterliches Hospizwesen trat dem lokalen Armenwesen erganzend ¨ ¨ hinzu. Die Leistungen der Kloster stutzten sich auf eine erfolgreiche ¨ ¨ Landwirtschaft und entsprachen dem Ziel zahlreicher Orden, die christliche Mildtatigkeit in ihre Ordensregeln mit aufgenommen hat¨ ten. Bruderschaften sollten eine gewisse solidarische Selbsthilfe bilden, zu denen sich verschiedene (Berufs-)Gruppen zusammenfanden und die durch minimale gegenseitige Unterstutzungen, die Einrich¨ tung von Herbergen, Waisenhausern etc., versuchten, ihr Armutsrisi¨
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AR MUT I N EURO PA SEIT DEM M ITT EL ALTER
ko zu begrenzen. Dies konnte naturlich nur fur ¨ ¨ einigermaßen gut situierte Gruppen funktionieren, die in der Regel uber ein gesichertes ¨ Einkommen verfugten. ¨ Alle diese Versuche einer Armenpolitik blieben angesichts des gewaltigen Ausmaßes der Armut im Mittelalter allerdings nicht viel mehr als jener haufig beschworene „Tropfen auf den heißen Stein“. ¨ Eine Losung des Armutsproblems im herrschenden Produktionssys¨ tem schien daher nicht moglich. Die unzureichende Produktivitat ¨ ¨ der menschlichen Tatigkeit bildete das Grundproblem der vorindus¨ triellen Arbeit. Diese war zu gering, um haufig selbst in normalen ¨ Zeiten und bei außerster Anstrengung ein hinreichendes Maß an ¨ Subsistenzmitteln, also die Deckung des Eigenbedarfs, zu generieren. Die Armut war daher absolut und nicht nur relativ, weil der zum Teil augenfallige Wohlstand der wenigen Reichen bei Umver¨ teilung auch nicht ausgereicht hatte, den Hunger der Armen zu stil¨ len. Dass diese Behauptung nicht aus der Luft gegriffen ist, mag an einer Beispielrechnung aus dem Jahre 1688 veranschaulicht werden. Es handelt sich um die Schatzung des Gesamteinkommens in Eng¨ land, welches der englische Wirtschaftsstatistiker Gregory King, differenziert nach verschiedenen Gesellschaftsklassen, vorgenommen hat. Demnach gab es 1688 in England gut 1,36 Millionen Familien, die zusammen ca. 43 Millionen Pfund Sterling als Einkommen bezogen (Sokoll 1988, S. 183, 189). Daraus lasst sich ein durchschnitt¨ liches jahrliches Familieneinkommen von 31 Pfund berechnen. Na¨ turlich waren die Familieneinkommen stark differenziert: die reichste ¨ Sozialklasse der Kaufleute und Seefahrer erzielte mit 240 Pfund ein mehr als zwanzigmal hoheres Jahreseinkommen als die unterste Ein¨ kommensklasse mit lediglich 11 Pfund. Wenn man nun in einer hypothetischen Umverteilung allen Sozialklassen das gleiche Einkommen zukommen ließe, so wurde das bedeuten, dass die Familien aller ¨ Klassen 31 Pfund Jahreseinkommen erzielten. Die hoheren Klassen ¨ mussten in diesem Fall alle auf einen Teil ihrer Einkommen verzich¨ ten, Großkaufleute und Adelige hatten bei einer Gleichverteilung so¨ gar gravierende Einbußen von uber zwei Dritteln ihres vormaligen ¨ Einkommens hinzunehmen (Großkaufleute: 87 %; die Sozialgruppe Adel etc.: 83 %). Ähnlich, wenn auch nicht ganz so schwerwiegend, wurde es den ubrigen Gruppen ergehen. Allein die armste Gruppe ¨ ¨ ¨ wurde ihr Durchschnittseinkommen steigern (immerhin fast um ¨ 200 % auf das Dreifache des Ausgangseinkommens). Was ware ¨ mit dieser hypothetischen Einkommensverteilung gewonnen? Ware die ¨
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Unzureichende Produktivität
Beispiel: Gesamteinkommen in England 1688 . . .
. . . und hypothetische Gleichverteilung
AR MU T UND R EI CH TUM
Verhältnis von Produktivität und Subsistenzmitteln
Bevölkerungszahl und Reallöhne
Armut des vorindustriellen Englands damit uberwunden? Vermutlich ¨ nicht, allenfalls ware ¨ die bitterste Armut gelindert, eine Wohlstandsgesellschaft ware Man konnte mit ¨ damit aber noch kaum begrundet. ¨ ¨ einer gewissen Überakzentuierung vielleicht festhalten, dass vor der Umverteilung die großte Mehrheit der Bevolkerung Englands im Jah¨ ¨ re 1688 arm gewesen sei, nach der Umverteilung aber alle Einwohner, denn reich war man mit 31 Pfund Jahreseinkommen auch damals nicht. Dieses Gedankenexperiment veranschaulicht eindringlich das Grundproblem der vorindustriellen Armut. Die Menschen waren nicht deshalb arm, weil die Guter der Welt ungleich verteilt waren ¨ und die Reichen auf Kosten der Armen lebten. Sie waren deshalb arm, weil die Produktivitat ¨ der Gesellschaft so gering war, dass nicht alle ihre Mitglieder mit hinreichenden Subsistenzmitteln versorgt werden konnten. Die „Zauberformel“ zur Reichtumsgewinnung hieß also nicht Umverteilung, sondern Produktivitatssteigerung. Aber diese ¨ Zauberformel war noch nicht entschlusselt. ¨ Wenn es zutreffend ist, dass die vorindustrielle Welt durchgehend von Armut gepragt ¨ war, so heißt das nicht, dass immer und uberall ¨ Elend oder gar Hunger gewutet hatten. Es hat stets mal bessere, mal ¨ ¨ schlechtere Zeiten gegeben. Einmal waren es drei der apokalyptischen Reiter – Krieg, Seuchen und Missernten –, die die Verhalt¨ nisse dramatisch werden ließen, in anderen Jahren fuhrten gluck¨ ¨ lichere Umstande moglicherweise zu einer kurzfristigen Verbesserung ¨ ¨ der Lage. Daruber hinaus hat es aber auch langfristige Entwicklun¨ gen in den Lebensverhaltnissen der europaischen Bevolkerung gege¨ ¨ ¨ ben. Bis in die fruhe Neuzeit hinein haben die beiden volkswirtschaftli¨ chen Zentralressourcen, die Arbeitskraft der Bevolkerung und der ¨ Umfang des bebaubaren Bodens, ganz wesentlich das Wohlfahrtsniveau der Bevolkerung bestimmt. Ihr Verhaltnis zueinander, die ¨ ¨ Wohlfeilheit bzw. Knappheit des einen Faktors gegenuber dem ande¨ ren, hat daruber bestimmt, welcher der beiden Produktionsfaktoren ¨ „Boden“ oder „Arbeit“ einen hoheren Anteil am gesamtwirtschaftli¨ chen Produkt fur ¨ sich beanspruchen konnte. Der Historiker Wilhelm Abel hat diesen Zusammenhang fur ¨ nahezu 800 Jahre grob umrissen und dabei festgestellt, dass mit steigender Bevolkerungszahl immer ¨ eine Tendenz zum Ruckgang der Reallohne und – vice versa – mit ¨ ¨ sinkender Bevolkerungszahl eine solche zu ihrem Anstieg zu beo¨ bachten war (Abel 1986, S. 17).
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Abbildung 2: Bevolkerung ¨ in Mitteleuropa und Bauarbeiterlohne ¨ im sudlichen ¨ England von 13. bis zum 20. Jahrhundert (Abel 1986, S. 17)
Der Bevolkerungsanstieg ¨ im hohen Mittelalter war verbunden mit Landesbau und Ostsiedlung und allenfalls stagnierenden Reallohnen ¨ (> ABBILDUNG 2). Der Bevolkerungsruckgang durch die große Pest im ¨ ¨ 14. Jahrhundert verringerte die Zahl der Arbeitskrafte und ließ die ¨ Reallohne tendenziell ansteigen. Das fuhrte wiederum zu einem be¨ ¨ merkenswerten Wachstum der Bevolkerung, was Arbeitskraft wohl¨ feiler werden ließ und die Reallohne tendenziell erneut nach unten ¨ druckte. Die Folgen des Dreißigjahrigen Krieges wirkten sich in Mit¨ ¨ teleuropa in hohen Bevolkerungsverlusten aus, sodass eine Verknap¨ pung des Faktors Arbeit und eine Tendenz zum Anstieg der Realloh¨ ne beobachtbar waren. Schließlich wuchs im 18. Jahrhundert die Bevolkerung abermals stark an, sodass sinkende Reallohne erneut zu ¨ ¨ beobachten waren. Erst im 19. Jahrhundert wurde dieser Zusammenhang zwischen Bevolkerungsund Reallohnentwicklung durchbro¨ chen und beide Großen, Bevolkerungszahl und Lohnniveau, konnten ¨ ¨ sich gleichzeitig nach oben bewegen. Der gesamtwirtschaftliche Produktionszusammenhang zwischen bebaubarem Land und verfugbarer ¨ Arbeitskraft hatte sich aufgelost, an seine Stelle waren industrielle ¨ Produktionsformen getreten. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts sind die arbeitenden Menschen zunehmend verarmt, sie haben einen gravierenden Kaufkraftschwund hinnehmen mussen. Zu dieser Zeit sind die Preise fur ¨ ¨ Nah-
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Industrielle Produktionsformen
Schwund der Kaufkraft
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rungsmittel und Gewerbeerzeugnisse weit starker gestiegen als die ¨ Lohne. Die sogenannte Preisrevolution des 16. Jahrhunderts, nicht ¨ zuletzt auch gespeist durch die umfangreichen Edelmetallzufuhren aus der Neuen Welt, beeintrachtigte die Kaufkraft der europaischen ¨ ¨ Konsumenten deutlich. Die Preise fur sich zum ¨ Getreide erhohten ¨ Beispiel von einem Index, den man fur ¨ den Zeitraum 1501 / 85 auf 100 festsetzen kann, bis zum Zeitraum 1576 / 1600 auf 280, das heißt, er stieg um 180 Prozentpunkte. Bei den Gewerbeerzeugnissen stieg der Index lediglich auf ca. 185, der Lohnsatz nur auf 150 (Abel 1986, S. 22). Und diese Entwicklung setzte sich im 17. Jahrhundert weiter fort. Dies wird auch in den Schwankungen der Kaufkraft der Bauarbeiterlohne in Leipzig deutlich, wie sie weiter unten dargestellt ¨ werden (> ABBILDUNG 3).
1.2 Armut im vorindustriellen Deutschland Pauperismus
Pauperismus als Bedrohung
In der fruhen Neuzeit kam es naturlich auch in den deutschen Terri¨ ¨ torien zu einem derartigen Reallohnverfall. Der Pauperismus wurde zum Signum dieser Epoche und pragte das Leben der Unterschichten ¨ bis in die Zeit der Industrialisierung hinein. Mit dem Begriff Pauperismus (von lateinisch pauper „arm“, davon englisch „pauperism“) bezeichnet man die katastrophale Massenarmut zur Zeit der Fruh¨ industrialisierung. Er erwies sich als letzter Auslaufer der weit zuruck ¨ ¨ reichenden Armut, die sich in der ersten Halfte des 18. Jahrhunderts ¨ in aller Scharfe zeigte und sich nach 1750 in Deutschland nochmals ¨ zu verstarken schien (Conze 1954; Abel 1966). ¨ Obwohl sich der Pauperismus in die seit Jahrhunderten vertraute Armutserfahrung der Unterschichten in Deutschland einfugte, ent¨ hielt er durchaus auch Elemente, die von den Zeitgenossen als etwas Neues empfunden wurden. Er wurde also nicht mit der traditionellen, der „alten“ Armut identisch erlebt, sondern wurde als hochst ¨ unheilvolle neue Erscheinung gedeutet. Den Zeitgenossen erschien die „neue“ Armut tief greifender als der bis dahin stetig empfundene Mangel an Subsistenzmitteln, weil sie eine absolute, unumkehrbare Verelendung zu bedeuten schien. Zudem wurde sie von einer viel großeren Zahl von Menschen erfahren, als das bislang der Fall gewe¨ sen war. Der gesamten Gesellschaft schien der Absturz ins Elend zu drohen. Diese Gefahr schien vor allem deshalb real, weil die Armut ¨ nunmehr nicht periodisch durch außere Ereignisse (Missernten etc.) hervorgerufen schien, sondern sich dauerhaft und permanent, quasi
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A RMU T IM VO RI NDUS TRI ELL E N DEU TSC HL AN D
strukturell verfestigte. Selbst durch regelmaßige Arbeit konnte man ¨ der ununterbrochenen Verarmung kaum noch entgehen. Man spricht daher in diesem Zusammenhang auch von den „labouring poor“, also den arbeitenden Armen (Schulz 1995, S. 389). Fur ¨ die Pauper, die Armen, zeigte sich die Situation Ende des 18. und im fruhen 19. Jahrhundert in Deutschland zunehmend gepragt ¨ ¨ durch eine wachsende Unterbeschaftigung. Es fanden sich immer we¨ niger Moglichkeiten, durch seiner Hande Arbeit den eigenen Lebens¨ ¨ unterhalt zu gewahrleisten. Selbst wenn man permanent arbeitete ¨ waren die Lohne so gering, dass man davon kaum leben konnte, ge¨ schweige denn eine Familie ernahren. Dem versuchte man durch ge¨ steigerten Arbeitseinsatz und erhohten Fleiß entgegen zu wirken, was ¨ sich allerdings in einer Ausdehnung der Arbeitszeit und in verschlechterten Arbeitsbedingungen niederschlug. Einen Ausdruck fand diese prekare ¨ Lebenssituation großer Teile der Bevolkerung in wachsendem Wohnungselend, unzureichender Er¨ nahrung sowie der Flucht vor den Verhaltnissen in Form von Aus¨ ¨ wanderung oder abweichendem Verhalten (Sozialkriminalitat). ¨ Die Zeitgenossen, insbesondere die der hoheren Stande, die sich in ¨ ¨ ihrer Stellung durch die wachsende Armut bedroht fuhlten, widme¨ ten sich diesen Problemen durch umfangreiche Untersuchungen und Elendsschilderungen, der sogenannten Pauperismusliteratur, in der gelegentlich auch Vorschlage ge¨ zur Überwindung dieser Missstande ¨ liefert wurden (Carl Jantke und Dietrich Hilger haben solche Texte in ihrem Band Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenossischen Literatur von 1965 zusammengestellt). ¨ An diese Beobachtungen knupfte sich dann Mitte des 19. Jahrhun¨ derts eine fruhe sozialpolitische Kontroverse um die Ursachen der ¨ Massenverelendung der Unterschichten an. Wahrend Friedrich Engels und Karl Marx auf das wachsende ¨ Elend der Industriearbeiterschaft, insbesondere in England, verwiesen und im Wachsen der „industriellen Reservearmee“ den eigentlichen Grund fur ¨ das Massenelend sahen, bezogen sich andere, wie etwa der Nationalokonom und Historiker Bruno Hildebrand, auf die ¨ Kontinuitat Armut. ¨ der vorindustriellen, insbesondere der landlichen ¨ Sie erwarteten von der aufstrebenden Industrie eher die Losung als ¨ eine Verscharfung der Sozialen Frage der Zeit. ¨ Empirische Untersuchungen und verlassliche Daten uber die Le¨ ¨ benssituation der arbeitenden Klassen in Deutschland fur ¨ diesen Zeitraum sind rar. Die Entwicklung der Lohne im fruhen 19. Jahr¨ ¨
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Unterbeschäftigung
Verelendung
Kontroverse über die Ursachen
Lebenssituation arbeitenden Klassen
AR MU T UND R EI CH TUM
Beispiel Bauarbeiterfamilie
hundert weist nach unten (Kuczynski 1961, S. 246, 253), kann aber nur als grober Indikator gelten, weil die meisten Menschen noch gar ¨ nicht gegen Geldlohn arbeiteten, sondern in vormodernen Beschafti¨ ¨ gungsverhaltnissen tatig waren (> KAPITEL 3). Blickt man auf die individuelle Haushaltsgestaltung der arbeitenden Bevolkerung, so zeigt sich beispielsweise fur ¨ ¨ eine funfkopfige ¨ ¨ Maurerfamilie um das Jahr 1800, dass diese nahezu drei Viertel (72,7 %) des gesamten Familieneinkommens allein fur ¨ Nahrungsmittel verwenden musste. Der knappe Rest wurde fur ¨ die Befriedigung weiterer Grundbedurfnisse, insbesondere fur ¨ ¨ Wohnung und Kleidung verbraucht, sodass fur ¨ die Befriedigung gehobener Kulturbedurfnisse ¨ nichts ubrig blieb (Abel 1974, S. 396). ¨
Abbildung 3: Kaufkraftschwankungen der Bauarbeiterlohne ¨ in Leipzig (1781 / 1800–50) 5 (Abel 1974, S. 350)
Diese zeitpunktbezogene Schilderung der Verhaltnisse ¨ um das Jahr 1800 gewinnt noch starker ¨ an Dramatik, wenn man die Lohnentwicklung der folgenden Jahre mit in Rechnung stellt. Die sinkenden Reallohne ¨ nach 1800 machten es offenbar auch den vollbeschaftigten ¨ Bauarbeitern unmoglich, ¨ ihre Familien angemessen zu versorgen. Zeitweise reichte der Lohn nicht einmal aus, hinreichend Nahrungs-
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mittel zu beschaffen, sodass Hunger die unabweisbare Folge fur ¨ die Familien darstellte. Sie waren gezwungen, durch Selbstversorgung weitere Subsistenzmittel zu erschließen, und auch Frauen und Kinder waren gehalten, zum Familieneinkommen und zum bloßen physischen Erhalt der Familie beizutragen. Erst nach 1820 besserte sich die Lage allmahlich und das Existenzminimum der Familien schien gesichert, ¨ wurde aber in periodisch auftretenden Krisen immer wieder auch kurzfristig unterschritten. Zusatzlich ist zu beachten, dass es sich bei diesen ¨ Bauarbeiterfamilien um eine Gruppe aus dem gehobenen Bereich der Erwerbstatigen handelte. Der Mann war als qualifizierter Arbeiter ge¨ gen Geldlohn tatig, was fur nicht zutraf. ¨ ¨ die Mehrheit der Bevolkerung ¨ Zudem wird in der Beispielrechnung unterstellt, dass der Ernahrer der ¨ Familie stetig beschaftigt war, eine Unterstellung, die fur ¨ ¨ die Mehrheit der Erwerbstatigen ebenfalls kaum Gultigkeit beanspruchen kann. Die ¨ ¨ Lage der Unterschichten war deshalb tatsachlich noch weitaus drama¨ tischer, als das in diesem Beispiel deutlich wird. Zu den kurzfristigen Schwankungen in den Lebensverhaltnissen ¨ der Bevolkerung trugen ganz wesentlich die Agrarkrisen bei, die auf¨ grund von Ernteschwankungen unregelmaßig auftraten und uber ¨ ¨ gravierende Preisvariationen fur ¨ Nahrungsmittel die Versorgung der Bevolkerung entscheidend pragten. Im fruhen 19. Jahrhundert sind ¨ ¨ ¨ in Deutschland mehrere solcher Agrarkrisen, wenn auch regional unterschiedlich gepragt, zu konstatieren. Diese haben maßgeblich auch ¨ zu den Schwankungen im Versorgungsgrad des in > ABBILDUNG 3 exemplarisch betrachteten Maurerhaushaltes beigetragen (Bass 1991). Eine erste solche Notlage lasst sich Anfang des 19. Jahrhun¨ derts in Preußen beobachten, 1817 / 18 folgte eine weitere schwere Krise, und diejenige von 1847 / 48 fuhrte ja bekanntlich auch in ¨ Deutschland zu einer Revolution.
1.3 Armut heute „Jeder Vierte in Deutschland ist von Armut betroffen“ stellte Arbeitsminister Olaf Scholz im Mai 2008 fest (Scholz in: Hank 2008, S. 33). Hat sich also im Vergleich zum 18. und 19. Jahrhundert oder gar zur mittelalterlichen und fruhneuzeitlichen Armut nur wenig ge¨ andert? Sind wir weiterhin in einer Gesellschaft der Armut befangen, ¨ und was hat es mit dem eingangs zitierten Artikel auf sich, in dem doch von dem gewaltigen Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens seit der Industriellen Revolution die Rede war?
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Selbstversorgung
Agrarkrisen
AR MU T UND R EI CH TUM
Armut in Deutschland?
Absolute und relative Armut
Nettoäquivalenzeinkommen
Die Existenz von Armut in fortgeschrittenen Industriegesellschaften scheint allen historischen Erfahrungen zu widersprechen. In den letzten beiden Jahrhunderten hat sich in Westeuropa die Wirtschaftsleistung insgesamt verzwanzigfacht, und auch die Reallohne und das ¨ Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland sind auf ein Vielfaches angewachsen. Ein Blick in die Konsumstrukturen der privaten Haushalte zeigt, dass sich die Ausgaben fur ¨ Nahrungsmittel auf weniger als 20 % des Gesamteinkommens belaufen, sodass Hunger wohl keine ernsthafte Bedrohung mehr fur ¨ die Menschen in Deutschland darstellt. Wieso also dann „Armut“ in der modernen Gesellschaft? Es kann sich hier wohl nur um ein Missverstandnis handeln, dergestalt ¨ namlich, dass in beiden Fallen unter demselben Begriff etwas ganz ¨ ¨ unterschiedliches verstanden wird. Galt es noch in der vorindustriellen Zeit, in einer Gesellschaft des Mangels, absolute Armut zu vermeiden, das heißt einem permanenten Elend und Hunger zu entfliehen, so tritt Armut in der Industriegesellschaft ganz anders auf. Hier steht die relative Armut einer Wohlstandsgesellschaft im Mittelpunkt der Betrachtung. Es geht im Wesentlichen um die Ungleichheit im Zugang zu den Reichtumern ¨ der modernen Welt. Wurde man heutzutage den Maßstab absoluter ¨ Armut an die moderne Industriegesellschaft anlegen, so fanden sich ¨ dort keine Armen mehr. Die Vereinten Nationen definieren zum Beispiel Armut durch die Verfugbarkeit von einem US-Dollar pro Tag ¨ und Person – und in zahlreichen Landern der sogenannten Dritten ¨ Welt finden sich bis heute Bevolkerungsgruppen, die unter einer der¨ artigen absoluten Armut leiden. Das lasst sich fur ¨ ¨ die Bundesrepublik Deutschland kaum behaupten. Worum geht es also hier? Was ist „Armut“ in der modernen Industriegesellschaft? Hier dreht sich die Diskussion zumeist um die Frage der Hohe ¨ des Einkommens bzw. genauer: um die „gerechte“ Einkommensverteilung. Die moderne Armutsforschung hat versucht, ein quantitatives Maß fur ¨ den Umgang mit der relativen Armut festzulegen. Sie bezieht sich dabei allein auf das Einkommen, wobei allerdings nicht einfach die personlichen Einkommen der Haushaltsmitglieder, son¨ dern ein Nettoaquivalenzeinkommen berechnet wird, sodass Haus¨ haltsgroße und Altersstruktur der Haushaltsmitglieder ebenfalls ¨ Berucksichtigung finden. Dieses wird ins Verhaltnis zum Durch¨ ¨ schnittseinkommen der Bevolkerung gesetzt. Wenn dann das Ein¨ kommen der betroffenen Haushalte einen bestimmten Anteil des Durchschnittseinkommens unterschreitet, gelten diese Haushalte als „arm“.
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A RMU T HE UT E
Zahlreiche Annahmen und Konventionen bestimmen also eine so gewonnene Armutsquote: Die Berechnung des Äquivalenzeinkommens durch unterschiedliche Berucksichtigung von Abgaben und ¨ Transfers, die Hohe ¨ des Gewichtungsfaktors fur ¨ das Alter der Haushaltsmitglieder, die Verwendung eines statistischen Mittelmaßes (arithmetisches Mittel oder Median) und auch den territorialen Bezug des Durchschnittseinkommens (Ost-, West- oder Gesamtdeutschland). Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung Lebenslagen in Deutschland (BT-Drucksache 14 / 5990) aus dem Jahre 2001 bietet daher insgesamt 22 verschieden definierte Armutsquoten und ermoglicht so die Auswahl, ob man zwischen 5,3 % oder ¨ 20 % der Bevolkerung in Westdeutschland als arm bezeichnen moch¨ ¨ te, fur ¨ Ostdeutschland reicht die Spanne von 2,9 % bis 29,6 %. Dieses Ergebnis tragt hinsichtlich der Bestimmung von Armut in ¨ Deutschland eher zur Verwirrung als zur Klarung des Sachverhaltes ¨ bei (Sell 2002, S. 12). Angesichts dieses Befundes verwundert es nicht, dass der Prasident des ifo Institut fur ¨ ¨ Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, bei Vorlage des dritten Armutsberichts der Bundesregierung im Jahr 2008 in diesem Zusammenhang von „bedarfsgewichtetem Kase“ spricht (Sinn 2008). ¨ Derartige Armutsberichte wurden seit den 1980er-Jahren zunachst ¨ von den Kommunen vorgelegt (Bremen 1987, Munchen 1987, Ham¨ burg 1993) und fanden dann in Berichten der Wohlfahrtsverbande und ¨ Gewerkschaften, die sich auf die gesamte Bundesrepublik bezogen, ihre Nachfolger (Caritasverband 1993, DGB 1994, Paritatischer Wohl¨ fahrtsverband 1994, 2000). Seit 2001 ist nunmehr die Bundesregierung gehalten, auf Beschluss des Bundestages in regelmaßigen Abstanden ¨ ¨ solche Berichte vorzulegen. Auch im Bereich der Sozialforschung lassen sich ahnliche Versuche seit Langerem beobachten. In Schweden (1968), ¨ ¨ den USA (1971) und in weiteren skandinavischen Landern (1972) hat¨ ten Sozialwissenschaftler Wohlfahrtsberichte (Quality of Live Survey) verfasst, in denen nach unterschiedlicher Schwerpunktsetzung uber die ¨ Lebensverhaltnisse in den jeweiligen Landern berichtet wurde. Ein ers¨ ¨ ter deutscher Wohlfahrtssurvey wurde 1978 von einer Forschergruppe an der Universitat ¨ Mannheim verfasst. Darin und in den folgenden wissenschaftlichen Untersuchungen eines Sonderforschungsbereiches an der Universitat ¨ Mannheim sowie des Wissenschaftszentrums Berlin wurde der Versuch unternommen, „objektive“ Merkmale der Wohlfahrt, wie die genannten Armutsquoten der Armutsberichte mit weiteren „subjektiven“ Merkmalen uber die Befindlichkeit der Bevolke¨ ¨ rung zu kombinieren (Zapf 1977; Becker 2001).
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Berechnung von Armutsquoten
Armutsberichte
Sozialwissenschaftliche Untersuchungen
AR MU T UND R EI CH TUM
Konzepte der Armutsmessung
Lebenslage
Relative Deprivation
Armut in der Europäischen Union
Es galt darin neben den Faktoren der objektiven Lebensbedingungen auch das subjektive Wohlbefinden und die wahrgenommene Qualitat ¨ der Gesellschaft zu messen und zu dokumentieren, um so eine Basis fur Gesellschaftspolitik bereitzustellen. ¨ eine zielfuhrende ¨ Dieser Ansatz ging weit uber eine bloße quantitative Konstatierung ¨ von „Armut“, wie immer man diese auch definierte, hinaus. Die Konzepte der Armutsmessung zeigen also eine außerordentliche Spannbreite. Absolute Armutskonzepte (1 US-Dollar pro Tag pro Person) erweisen sich fur ¨ entwickelte Industriegesellschaften als ganz¨ lich ungeeignet. Als Bezugspunkt der Bestimmung der relativen Armut in einer Gesellschaft eignet sich vielmehr der durchschnittliche Lebensstandard der Bevolkerung. In einem ersten, unvollkommenen ¨ Zugriff kann man sich ausschließlich auf das Einkommen konzentrieren und damit Schwellen der Armut identifizieren, die beispielsweise beim Sozialhilfesatz oder bestimmten Quoten des durchschnittlichen Einkommens liegen konnen (Ressourcenansatz). Daruber ¨ ¨ hinaus lassen sich weitere materielle Ressourcen (z. B. Wohnungsausstattung, Lebensfuhrung) mit in die Betrachtung einbeziehen und / ¨ oder auch die subjektive Bewertung der eigenen Situation. Damit na¨ hert man sich dem Konzept der Lebenslage, die vor allem durch die Versorgung mit zahlreichen Lebensnotwendigkeiten charakterisiert ist. Wird dem subjektiven Empfinden ein großerer Raum fur ¨ ¨ die Bestimmung von Armut in der Gesellschaft eingeraumt, so nahert man ¨ ¨ sich dem Konzept der relativen Deprivation als Maßstab der Armutsmessung. Unter diesem Konzept versteht man im Allgemeinen, wenn ¨ uber soziale Vergleichsprozesse in einer Referenzgruppe ein Individu¨ um feststellt, dass es hinsichtlich seiner Erwartungen und Wunsche ¨ benachteiligt, unzufrieden oder enttauscht ist. Alle diese unterschied¨ lichen Messkonzepte haben ihre eigentumlichen methodischen Probleme und keines scheint unumstritten die Armut in der modernen Gesellschaft gultig abzubilden. Ihre begrenzte Aussagekraft muss also ¨ immer mit reflektiert werden. Die Europaische Union verwendet zum Beispiel als Armutsmaß ¨ eine Schwelle, die dann uberschritten ist, wenn eine Person uber we¨ ¨ niger als 60 % des durchschnittlichen Netto-Jahreseinkommens je Einwohner (einschließlich Wohnungsmiete) verfugt. Fur ¨ ¨ Deutschland errechnet sich daraus fur ¨ das Jahr 2004 ein Betrag von 9 891 Euro pro Person, unter dem ein Einwohner als arm gelten wurde; im un¨ tersuchten Jahr 2004 fielen 13 % aller Bundesburger unter diese ¨ Schwelle. Mit 13 % Armen nimmt die Bundesrepublik einen mittleren Platz unter den europaischen Staaten ein. An der Spitze findet ¨
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FRAG EN UND LEK TÜR EEMPFEH LUNGEN
sich Litauen mit einer Armutsquote von 21 %; am Ende der Skala liegt Schweden mit einer Armutsquote von lediglich 9 %. Doch betrachtet man die absoluten Einkommen der Armutsschwelle in den ¨ betroffenen Landern, so liegt diese Schwelle in Schweden mit 8 582 Euro deutlich unter der deutschen (minus 1 309 Euro ¼ 13 %), in Litauen mit 2 341 Euro sogar noch viel gravierender (minus 7 758 Euro ¼ 78 %). Diese erheblichen Differenzen lassen an der Nutzlichkeit derartiger Vergleiche zweifeln. Die Zweifel verstarken ¨ ¨ sich noch, wenn man Lander mit gleichen Armutsquoten in Bezie¨ hung setzt. Deutschland, Luxemburg und die Slowakei haben beispielsweise alle eine Armutsquote von 13 %. Um arm zu sein, darf man in Deutschland ein Einkommen von 9 891 Euro erzielen, in Luxemburg hingegen 16 375 Euro, also fast doppelt so viel, und in der Slowakei lediglich 3 118 Euro. Zieht ein Normalverdiener aus Deutschland wenige Kilometer uber die Grenze nach Luxemburg, so ¨ wird er, statistisch betrachtet, zu einem armen Schlucker; zieht es ihn hingegen in die Slowakei, so wird er zum Krosus. ¨ Diese Unterschiede lassen sich gewiss nicht allein aus den unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in den drei betroffenen Landern ¨ erklaren, sondern weisen darauf hin, dass Armutsquoten in gewissen ¨ Grenzen immer auch ein statistisches Artefakt sind. Sie bilden also nicht die soziale Realitat erkla¨ eins zu eins ab, sondern sind hochst ¨ ¨ rungsbedurftig. Zudem ist daran zu erinnern, dass eine durch Ar¨ mutsquoten definierte Armut weniger die Lebenssituation der betreffenden Bevolkerungsgruppen abbildet als vielmehr ihre relative ¨ Stellung im Einkommensgefuge. Sie misst daher eigentlich gar nicht ¨ die Armut, sondern vielmehr die Ungleichheit der Einkommen. Daraus ergeben sich gravierende Probleme, auf die noch ausfuhrlicher ¨ einzugehen sein wird (> KAPITEL 7).
Fragen und Anregungen • Worin unterscheidet sich die vorindustrielle Armut von „Armut“, wie wir sie heute vorfinden? ¨ • Überlegen Sie, ob sich Armut messen lasst, und wenn ja, wie? ¨ • In welchem Verhaltnis stehen Armut und Ungleichheit in den modernen Industriegesellschaften?
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Grenzen der Vergleichbarkeit
Ungleichheit der Einkommen
AR MU T UND R EI CH TUM
Lektüreempfehlungen Übersichten
Forschung
• Erich Wiegand / Wolfgang Zapf (Hg.): Wandel der Lebensbedingungen in Deutschland. Wohlfahrtsentwicklung seit der Industrialisierung, Frankfurt a. M. 1982. Eine Sammlung wichtiger Aufsatze, ¨ in denen der quantitative Rahmen der Wohlfahrtsentwicklung in Deutschland seit der Industrialisierung entfaltet wird. • Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, Versuch einer Synopsis, Hamburg 1974. Umfassende Darstellung der Armuts- bzw. Wohlfahrtsentwicklung in Europa seit der Neuzeit mit quantitativen Informationen. • Wolfram Fischer: Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Losungsversuche der „Sozialen Frage“ in Europa seit dem ¨ Mittelalter, Gottingen 1982. Beschreibung der Armut in Europa ¨ seit dem Mittelalter mit dem Schwerpunkt Armenpolitik. • Bronislaw Geremek: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa, Munchen 1988. Gut lesbare Beschreibung der ¨ gewandelten Einstellungen gegenuber der Armut in Europa seit ¨ dem Mittelalter. • Wolfgang von Hippel: Armut, Unterschichten und Randgruppen in ¨ ¨ der fruhen Neuzeit (Enzyklopadie deutscher Geschichte Bd. 34), ¨ Munchen 1995. Zusammenfassende Darstellung von Armut und ¨ sozialer Ungleichheit in der fruhen Neuzeit.
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2 Wohlstand und Wirtschaftswachstum
„Reich ist, wer weiß, dass er genug hat.“ Laotse Abbildung 4: Chinesischer Lampion (Boule chinoise)
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Es ist ja nicht unbedingt richtig, dass mehr Besitz auch glucklicher ¨ macht. Die Eremiten der Antike oder die Bettelmonche des Mittel¨ alters suchten andere Moglichkeiten zum Glucklichsein. Und viel¨ ¨ leicht weist auch der Spruch des Laotse einen besseren Weg. Doch fur Mehrheit der Menschheit bleibt bis heute die Ver¨ die uberragende ¨ besserung des materiellen Wohlstandes ein zentrales Ziel. Die großen Unterschiede im Wohlfahrtsniveau zwischen Landern ¨ und Weltregionen sind relativ neu. Es ist gerade etwa 200 Jahre her, dass die Europaer ¨ anfingen reich zu werden. Bis etwa 1800 war es hier wie anderswo auf der Welt so, dass eine zahlenmaßig kleine Eli¨ te ein behagliches Leben fuhrte, wahrend die Masse der Bevolkerung ¨ ¨ ¨ in bitterer Armut verharrte. Das anderte sich erst mit der industriel¨ len Revolution in England, wo zwischen ca. 1780 und 1850, also in weniger als drei Generationen, eine Umwalzung, die seit der neo¨ lithischen Revolution knapp 10 000 Jahre zuvor nicht ihresgleichen gesehen hatte, die Lebensverhaltnisse der Menschen grundlegend um¨ gestaltete. Danach war ihre Welt nicht mehr die gleiche. Die industrielle Revolution verwandelte die Menschen von Ackerbauern und Viehzuchtern zu Betatigern von Maschinen, die von lebloser Energie ¨ ¨ angetrieben waren. Das sich entfaltende Industriesystem setzte eine Wirtschaftsweise frei, die stetiges Wirtschaftswachstum und permanente Wohlstandsmehrung ermoglichte. ¨ Auf welche Weise sich dieses moderne Wirtschaftswachstum von den vorangehenden Epochen unterscheidet, wie es zu bemessen ist und wie es sich bei uns darstellt, ist der Gegenstand des folgenden Kapitels.
2.1 Vormoderne Entwicklung und modernes Wirtschaftswachstum 2.2 Wohlfahrtsmessung und Wohlstandsindikatoren 2.3 Wachstum und Wohlstand in Deutschland
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VOR MO DER NE ENT WIC KLU NG, M ODER N ES W IRT SCH AF TSWACHS TUM
2.1 Vormoderne Entwicklung und modernes Wirtschaftswachstum sollte klar gemacht haben, dass die vorindustrielle Welt arm war. Jahrtausendelang existierte die Menschheit am Rande des Elends, auch wenn einzelne Wenige in Luxus leben konnten. Zwar gab es gelegentlich auch Zeiten verbesserter allgemeiner Lebensumstande, allerdings dauerten diese nie lange an. Solch eine Phase ¨ mag es im spaten Mittelalter gegeben haben, in der der Historiker ¨ Wilhelm Abel einen uppigen Fleischkonsum nachweisen zu konnen ¨ ¨ glaubt, wahrend es in den folgenden Dekaden zu einer Verarmung ¨ der Kost kam (Abel 1981, S. 9–13, 32f.). Auch die Lohnentwicklung scheint diesen Tendenzen seit dem spaten Mittelalter zu folgen (Abel ¨ 1986, S. 16–29). 2 Reallohnverfall und Verarmung der Kost pragten also die Wohl¨ fahrtsentwicklung der mitteleuropaischen Bevolkerung seit dem spa¨ ¨ ¨ ten Mittelalter. Ausgangspunkt war dabei ein langfristig eher untypisch gehobenes Niveau, das wegen der Bevolkerungsverluste der ¨ großen europaischen Pestwelle des 14. Jahrhunderts – es kam in ¨ manchen Landern mehr als die Halfte der Bevolkerung ums Leben – ¨ ¨ ¨ den Überlebenden fur ¨ etwa ein Jahrhundert deutlich verbesserte Lebenschancen bot (Le Roy Ladurie 1985, S. 19–62). Einen Wechsel 6 zwischen guten und schlechten Zeiten hat es daher auch schon in der vormodernen Welt gegeben, wie es ja schon aus biblischer Zeit heißt, dass es „fette“ und „magere“ Jahre gab. Die Frage aber bleibt, ob es sich bei diesen Veranderungen im ¨ Wohlfahrtsniveau vorindustrieller Gesellschaften um nachhaltige Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage der Bevolkerung gehandelt ¨ hat. Eine Antwort auf diese Frage versucht Graeme D. Snooks fur ¨ England im letzten Jahrtausend zu geben (Snooks 1994). Ausgehend von den Angaben im Doomsday Book, das der englische Konig Wil¨ helm der Eroberer fur ¨ das Jahr 1086 anlegen ließ und das eine Erfassung aller Haushalte seines neuen Herrschaftsbereichs beabsichtigte, versuchte der Autor eine Schatzung des Gesamteinkommens ¨ der englischen Gesellschaft. Er errechnete dafur von ¨ eine Große ¨ 136 621 Pfund Sterling, was bei einer angenommenen Bevolkerungs¨ zahl von gut einer halben Million einem Pro-Kopf-Einkommen von knapp 1,8 Schilling jahrlich entspricht. Diese Zahl lasst sich mit einer ¨ ¨ Schatzung von Gregory King, einem Pionier der fruhen Wirtschafts¨ ¨ statistik, aus dem Jahre 1688 uber das englische Volkseinkommen ¨ vergleichen. So ergibt sich fur ¨ den Zeitraum von 1086 bis 1688, also
> KAPITEL 1
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Vorindustrielle Welt war arm
Verbesserte Lebenschancen nach Pestwelle
Gesamteinkommen in England 1086
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600 Jahre geringes Wachstum
Adam Smith
Wachstum nur in wenigen Staaten
fur ¨ knapp 600 Jahre, eine Wachstumsrate von lediglich 0,29 % pro Jahr (Pierenkemper 1996, S. 30–31). Ein derart geringes Wachstum 3 war von den Zeitgenossen kaum wahrnehmbar, es betrug fur ¨ die Spanne einer Generation lediglich 8 % und pro Jahrhundert nur 34 %. Eine nachhaltige Verbesserung der Lebensverhaltnisse der Be¨ volkerung war damit nicht verbunden, eine solche lasst sich erst in ¨ ¨ einem spateren Zeitraum feststellen (Horn 2008, S. 56. Dort werden ¨ Wachstumsraten des Welt-Bruttoinlandsprodukts auf der Basis von Schatzungen der OECD und des IWF genannt. Fur ¨ ¨ die Jahre 1 bis 1000 betrug demnach die jahrliche Wachstumsrate 0,01 %, von ¨ 1000 bis 1820 0,22 %, fur ¨ die Jahre von 1820 bis 1998 jedoch 2,21 %). Erst das „moderne Wirtschaftswachstum“ (Kuznets 1966) im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts veranderte die Situ¨ ation vollkommen. Der Nationalokonom Adam Smith berichtete in ¨ seinem Werk mit dem bezeichnenden Titel The Wealth of Nations (Der Wohlstand der Nationen) von 1776 vorausschauend uber den ¨ moglichen Reichtum der Volker im sich nun entfaltenden Wirt¨ ¨ schaftssystem. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses epochemachenden Werkes war allerdings von der gewerblich-industriellen Expansion, wie sie sich wenige Jahre spater in England entfalten sollte, ¨ noch nicht viel zu beobachten. Und auch als die Industrielle Revolution bald darauf begann, wurden zunachst nur ein kleiner Teil der ¨ britischen Wirtschaft und sehr wenige weitere europaische Staaten ¨ von der neuen Dynamik erfasst. Die alte Armut blieb vorerst uberall ¨ bedruckend. Ganz im Gegenteil zerfiel in manchen Regionen das ¨ uberkommene Wirtschaftssystem und neue Formen der Verelendung ¨ breiteten sich aus (> KAPITEL 1). Das gesamtwirtschaftliche Wachstum wurde noch nicht entscheidend vorangebracht, die Wachstumsrate verharrte auf geringem, vorindustriellem Niveau. Erst die durchgreifende Industrialisierung im 19. Jahrhundert schuf fur ¨ einige wenige Lander die Basis fur ¨ ¨ ein beschleunigtes und stetiges Wirtschaftswachstum. Der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt beschreibt diese Situation folgendermaßen: „In Europa wurde die Barriere der Produktivitatsentwicklung ¨ durchstoßen, haben die Menschen begonnen, in großem Umfang den riesigen Vorrat anderer als pflanzlicher und tierischer Energie¨ ¨ quellen auszunutzen und Produktionsprozesse von erheblich gro¨ ßerem technischen Wirkungsgrad als zuvor anzuwenden. Hierfur ¨ sind viele Faktoren maßgebend gewesen. Der letzte Schlussel wird ¨ aber in der organisierten Erfindungs- und Neuerungstatigkeit gese-
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hen, die nach 1760 eine derartige Beschleunigung erfahren hat, dass wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel in allen Bereichen erstmals deutlich erkennbar wurde und nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum eingesetzt hat. Bis heute ist keine Barriere der Produktivitatsentwicklung aufgetaucht, da die organisierte ¨ Schopfertatigkeit des Menschen bislang noch – anders als fruher ¨ ¨ ¨ der Boden – unbeschrankt ausdehnbar scheint.“ (Borchardt 1967, ¨ S. 15f.) Das hohe Wirtschaftswachstum stellt eine epochale Neuerung der modernen Volkswirtschaft dar. Deutlich unterscheidet es sich von den Entwicklungsprozessen der vorindustriellen Zeit. Diese zeichneten sich nicht nur durch ihre kaum merklichen Wachstumsraten und einen Mangel an Stetigkeit aus. Vor allem waren vorindustrielle Wachstumsprozesse durch Extensivitat ¨ gekennzeichnet. Das bedeutet, dass sie uberwiegend von einer Ausweitung des okonomischen In¨ ¨ puts, also durch die Steigerung der Einsatzmengen physischer Produktionsfaktoren (Bevolkerungswachstum, Landesausbau) getragen ¨ wurden. Erst die grundlegende Neuerung des „industriellen Kapitalismus“ (Kuznets 1966, S. 9) verlagerte den Schwerpunkt der Wirtschaftstatigkeit auf das Gewerbe bzw. die Industrie, weil dort mit einer er¨ hohten Kapitalintensitat Einsatz von ¨ ¨ produziert wurde. Ein starkerer ¨ Kapital, beispielsweise durch den Kauf von Maschinen und den Bau von Fabriken, fuhrte letztlich zu uberproportional hoheren Gewin¨ ¨ ¨ nen als beim verstarkten Einsatz traditioneller Produktionsfaktoren. ¨ Damit verbunden war eine Ausdehnung des kapitalistischen Erwerbsstrebens in weite Bereiche der Wirtschaft; dieses Prinzip wurde gar zum tragenden Motiv der Wirtschaftstatigkeit. Hinzu trat auch eine ¨ technologische Dimension. Die Probleme der Produktion wurden zunehmend mit wissenschaftlichen Methoden angegangen, praktisches Wissen trat dahinter zuruck. Im Ergebnis bewirkte das moderne ¨ Wirtschaftswachstum eine ungeheure Ausdehnung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt. Reichtum wurde in einem solch hohen Maße generiert, dass die vorindustrielle Armut fur ¨ weite Teile der Bevolke¨ rung uberwunden schien. ¨ In Deutschland lasst sich z. B. seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis ¨ ca. 1990 eine Vervielfachung des Sozialproduktes pro Kopf der Bevolkerung konstatieren. Dabei zeigt sich in der zweiten Halfte des ¨ ¨ 19. Jahrhunderts ein relativ stetiges Wachstum mit einem Boom in den fruhen 1870er- und spaten 1890er-Jahren. Die Entwicklung im ¨ ¨ 20. Jahrhundert war hingegen zunachst wesentlich weniger stetig. ¨
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Vormodernes Wachstum durch Extensivität
Kapitalistisches Erwerbsstreben
Deutsche Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert
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Erster Weltkrieg
Zweiter Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg fuhrte zu deutlichen Wohlfahrtsverlusten, die in ¨ den 1920er-Jahren nur muhsam wettgemacht werden konnten. Zu¨ dem kam es wahrend der Hyperinflation 1923, in der die monatliche ¨ Inflationsrate bis zu 50 % betrug, und der Wirtschaftskrise von 1929–33, 3 die die gesamte Weltwirtschaft betraf, zu weiteren Einbru¨ chen. Erst der Rustungsboom in der NS-Zeit ließ das Pro-Kopf-Ein¨ kommen wieder kurzfristig auf und uber das Niveau von 1913 stei¨ gen, ehe der Zweite Weltkrieg einen gewaltigen Absturz bewirkte. Dieser konnte zunachst nur muhsam, ab den 1950er-Jahren aber ¨ ¨ merklich und nachhaltig uberwunden werden (> ABBILDUNG 5). Diese ¨ Charakterisierung der Wohlfahrtsentwicklung in Deutschland beruht auf Daten, die von verschiedenen Autoren fur ¨ das 19. und fruhe ¨ 20. Jahrhundert geschatzt wurden (Hoffmann 1965; fur ¨ ¨ Schatzungen ¨ fur der Schat¨ die Jahre vor 1850 vgl. Spree 1977; zur Verlasslichkeit ¨ ¨ zungen in einem kritischen Überblick vgl. Fremdling 1995). Fur ¨ die zweite Halfte des 20. Jahrhunderts ist es moglich, auf amtliche Daten ¨ ¨ zuruckzugreifen, weil nach dem Zweiten Weltkrieg eine international ¨ koordinierte Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung eingefuhrt wurde ¨ (> KAPITEL 2.2).
Abbildung 5: Sozialprodukt je Einwohner in Deutschland bzw. Westdeutschland 1850–1990 in konstanten Preisen von 1913 (nach Buchheim 1997, S. 87)
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Die Entwicklung einer exorbitanten Wohlstandssteigerung in den modernen Volkswirtschaften seit 1850 war naturlich nicht auf die ¨ deutsche Volkswirtschaft beschrankt. Allerdings waren es im ¨ 19. Jahrhundert erst wenige weitere Lander, die ein ahnliches Wachs¨ ¨ tum der Wohlfahrt realisieren konnten (Matis 1988, S. 234). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehorte Deutschland zu den reichsten Na¨ tionen Europas und damit der Welt. 80 Jahre zuvor hatte es nur knapp den europaischen Durchschnitt ubertroffen. ¨ ¨
Deutschland war eine der reichsten Nationen
2.2 Wohlfahrtsmessung und Wohlstandsindikatoren Die Einzigartigkeit der Wirtschaftsentwicklung wurde auch den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts bereits bewusst und es fehlte nicht an fruhen Versuchen, diesen neuen Tatbestand zu beschreiben und sta¨ tistisch zu erfassen. Die Veranderung der Wirtschaftsstruktur und die ¨ damit verbundene Wohlfahrtssteigerung waren augenfallig, doch es ¨ mangelte an Konzepten, diesen neuen Sachverhalt angemessen empirisch zu durchdringen. Es war eben nicht ganz klar, was eigentlich genau zu messen sei und wie man eine solche Messung zu bewerkstelligen habe. Ein fruher, wichtiger Versuch dieser Art wurde 1805 von Leopold ¨ Krug, einem preußischen Statistiker unternommen (Krug 1970). Krug benannte nicht nur zutreffend die wichtigsten Untersuchungsgegenstande (Ermittlung des Staatsreichtums, d. h. des Nationalein¨ kommens bzw. Sozialprodukts, und des Wohlstandes seiner Bewohner bzw. des Lebensstandards), er entwickelte auch ein Messkonzept dafur ihres Umfanges vor. Naturlich zeig¨ und nahm eine Schatzung ¨ ¨ ten sich dabei noch einige methodische Schwachen, etwa die unvoll¨ standige Erfassung aller okonomischen Aktivitaten sowie eine Über¨ ¨ ¨ schatzung der Bedeutung der landwirtschaftlichen Produktion. Auch ¨ war die empirische Basis der Schatzung, beruhend auf den preußi¨ schen Fabriktabellen, Katastern u. a., ¨ noch sehr schwach. Doch insgesamt stellt diese Arbeit einen bemerkenswerten Versuch dar, den wachsenden Wohlstand Preußens zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu bestimmen. Mit großer Akribie und in privater Initiative versuchte Krug die Gesamtproduktion im preußischen Staat zu erfassen. So entstand quasi eine Vorform der Entstehungsrechnung des Sozialprodukts.
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Veränderung der Wirtschaftsstruktur
Leopold Krugs Messkonzept
Vorform der Entstehungsrechnung
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Untersuchungen in privater Initiative
Erste offizielle Schätzung
Große Unterschiede in den Schätzungen
Internationales Standardverfahren
Weitere Untersuchungen dieser Art wurden mit abweichenden methodischen Ansatzen, z. B. uber die Erfassung des Gesamtverbrauchs, ¨ ¨ auf der Basis der Statistik des deutschen Zollvereins, d. h. als Verwendungsrechnung des Sozialprodukts unternommen (Dieterici 1838). Spater wurden auch die Ergebnisse der neueren Schatzungen mit den ¨ ¨ fruheren in Bezug gebracht und dabei deutliche gesamtwirtschaftliche ¨ Wohlfahrtsgewinne bereits in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts ¨ konstatiert (Dieterici 1846). Solche Untersuchungen gingen noch fur ¨ langere Zeit auf private Initiative zuruck, weil die entstehende amtli¨ ¨ che Statistik im 19. Jahrhundert noch mit ganz anderen Dingen als der Berechnung des Sozialprodukts befasst war (Tooze 2001). So legte z. B. Karl Helfferich, ein Direktor der Deutschen Bank, zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Schatzung uber die Entwicklung des deut¨ ¨ schen Volkswohlstands seit dem spaten 19. Jahrhundert auf der Basis ¨ der zeitgenossischen Steuerstatistik vor (Helfferich 1913). Eine erste ¨ offizielle Schatzung des Volkseinkommens fur ¨ ¨ das Deutsche Reich wurde vom Statistischen Reichsamt erst 1932 unternommen. Dazu waren zunachst umfangreiche theoretische Vorarbeiten durch den ¨ Statistiker Ernst Wagemann notwendig, die dieser auf der Basis der Arbeiten des Ökonomen Irving Fisher leistete (Tooze 2001, S. 116–125). Nunmehr gab es ein elaboriertes Messkonzept fur 1 ¨ einen klar definierten Gegenstand und auch eine hinreichende statistisch-empirische Basis zu seiner Bemessung. Die von verschiedenen Institutionen vorgenommenen Schatzungen waren aber noch wenig ¨ genau und differierten in bemerkenswertem Maße voneinander. Fur ¨ das Jahr 1925 schatzte z. B. der Reichsverband der deutschen Indus¨ trie das deutsche Volkseinkommen auf 43 Milliarden Reichsmark, die Gewerkschaften hingegen auf 52 Milliarden Reichsmark und das Statistische Reichsamt auf 50 bis 55 Milliarden Reichsmark (Tooze 2001, S. 123f.). Inzwischen hat sich fur ¨ die Berechnung von Sozialprodukt und Volkseinkommen ein internationales Standardverfahren entwickelt, das derartige Abweichungen nicht mehr zulasst. Wie in Deutschland ¨ hatte auch in den USA in den 1920er-Jahren eine Entwicklung eingesetzt, die zu ahnlichen Methoden fuhrte. Das National Bureau of ¨ ¨ Economic Research (NBER) der USA hatte bereits 1920 mit Versuchen zur Messung des Volkseinkommens der USA begonnen, und auch die Brookings Institution in Washington D. C. widmete sich seit ihrer Grundung im Jahre 1927 diesem Unterfangen. Der US-ame¨ rikanische Ökonom und spatere Wirtschaftsnobelpreistrager Simon ¨ ¨ Kuznets war von Anfang an daran beteiligt. Auch der Volkerbund in ¨
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Genf nahm sich dieser Aufgabe an und organisierte 1928 eine internationale Konferenz, auf der Richtlinien fur ¨ eine koordinierte Wirtschaftsstatistik beschlossen wurden. Auf dieser Basis konnte der Volkerbund ein Jahrzehnt spater (1939) einen „World Economic Sur¨ ¨ vey“ mit Volkseinkommensschatzungen von 26 Landern fur ¨ ¨ ¨ die Jahre 1929 bis 1938 vorlegen. 1945 prasentierte dann ein Unteraus¨ schuss des Volkerbundes unter wesentlichem Beitrag des Ökonomen ¨ Richard Stone ein Konzept zur Erfassung von Volkseinkommensdaten. Wie Kuznets (1971) erhielt auch Stone (1984) spater den No¨ belpreis fur ¨ Ökonomie fur ¨ seine bahnbrechenden Leistungen bei der Entwicklung von volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungssystemen, wodurch Stone die Grundlage empirischer Wirtschaftsanalyse umfassend verbesserte. An diese Vorarbeiten konnte ein Unterausschuss der Nachfolgeorganisation des Volkerbundes, der Vereinten Nationen (UN), 1947 ¨ unmittelbar anknupfen, als wiederum unter Leitung von Richard ¨ Stone ein „System of National Accounts“ zur Berechnung von Sozialprodukt und Volkseinkommen beschlossen wurde. Auf dieses System bezog sich auch die Organization of European Economic Cooperation (OEEC), als sie 1952 ein „Standardized System of National Accounts“ vorlegte, dessen Weiterentwicklung bis heute als Basis fur ¨ die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) aller entwickelten Staaten gilt. Dieses System wird auch in allen Standardlehrbuchern ¨ der Makrookonomie ausfuhrlich behandelt (Samuelson / Nordhaus ¨ ¨ 2005, S. 603–631; Mankiw / Taylor 2008, S. 561–583; zur ge6 5 schichtlichen Entwicklung der VGR vgl. Stobbe 1980, S. 368–405). 4 Die Berechnung des Sozialprodukts auf der Basis der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bildet heutzutage die Basis fur ¨ jegliche Art gesamtwirtschaftlicher Analysen. Allerdings ist diese Große als ¨ Wohlfahrtsmaß mit gravierenden methodischen und empirischen Problemen behaftet (Reich u. a. 1977, S. 21–55). Vor allem stellen sich 5 statistisch-technische Berechnungsprobleme, wie z. B. die Berucksich¨ tigung von Qualitatsanderungen der Guter (der Preis einer Wasch¨ ¨ ¨ maschine aus dem Jahre 1950 ist kaum mit dem einer heutigen Waschmaschine vergleichbar), Probleme der Auswahl und Bewertung der erfassten Guter und Dienste sowie die Probleme der Vergleich¨ barkeit von Schatzungen fur ¨ ¨ unterschiedliche Staaten. Auch zeigt sich, dass eine VGR nur fur ¨ kapitalistische Marktgesellschaften sinnvoll anzuwenden ist. Zur Bemessung der Wirtschaftsleistung z. B. einer sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft sind andere Messkonzepte notig (Heske 2005). In den modernen Volkswirtschaften ¨
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World Economic Survey
Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung
Methodische und empirische Probleme
WOH LSTA N D UN D WI RTS CHA FT SWACH STU M
Modifizierte und erweiterte Konzepte
Zusätzliche Variablen
System umfangreicher Sozialberichterstattung
Erfassung über Versorgungslage
werden daher auch modifizierte und erweiterte Konzepte zur Messung der Wirtschaftsleistung diskutiert (Weber / Hofmann 2006; Holtfrerich 2007, S. 92–106). Kurzum: Das Problem der Bemessung 1 der Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft besteht weiterhin. Und ob mit dieser Große uberhaupt Wohlfahrt und Lebensstandard der ¨ ¨ Bevolkerung beschrieben werden konnen, bleibt zweifelhaft. ¨ ¨ Die Kritik an den Schwachen und Mangeln der VGR hat schon ¨ ¨ fruh zur Be¨ dazu Anlass gegeben, nach alternativen Moglichkeiten ¨ messung von „Volkswohlfahrt“, „Lebensstandard“ u. a. ¨ Ausschau zu halten. Denn eine bloße Benennung des Pro-Kopf-Einkommens der Bevolkerung schien oft zu simpel, um die vielfaltigen Dimensionen ¨ ¨ von Wohlstand und Lebensstandard zu erfassen. Daher wurde in den 1970er-Jahren versucht, zusatzliche Variablen in die Betrachtung zu ¨ integrieren. Ziel war es, moglichst alle wohlfahrtsrelevanten Lebens¨ bereiche der Menschen einzubeziehen (Zapf 1977). Berucksichtigt ¨ wurden nun zahlreiche Zieldimensionen (z. B. Bevolkerungsentwick¨ lung, sozialer Status, Beschaftigung, Einkommen, Gesundheit, Bil¨ dung, Wohnung, Partizipation), die sich in weitere gesellschaftliche Unterziele aufspalten und durch Maßgroßen quantifizieren lassen ¨ (z. B. Gesundheit durch Ärztezahl, Krankenhausbetten u. a.). ¨ Somit steht ein System umfangreicher Sozialberichterstattung zur Verfu¨ gung, auf dessen Grundlage genauere Auskunft uber die Lebens¨ bedingungen der Bevolkerung gegeben werden kann als bei bloßer ¨ Betrachtung des Pro-Kopf-Einkommens. Allerdings handelt es sich dabei um ein komplexes, eher unuber¨ sichtliches System von Sozialindikatoren, deren Auswahl zudem keinesfalls systematisch-theoretisch begrundet werden kann und das da¨ her eher willkurlich und unsystematisch erscheint. Überdies sind die ¨ meisten dieser Indikatoren mit dem Pro-Kopf-Einkommen hoch korreliert, was ihren zusatzlichen Erklarungsgehalt im Hinblick auf die ¨ ¨ gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt stark einschrankt. ¨ Daher gibt es bereits seit langem Versuche, die Lebensverhaltnisse ¨ der Menschen unmittelbar durch ihre Versorgungslage zu erfassen und die Analyse dabei auf einige wenige Aspekte zu konzentrieren. Dazu zahlte in vormodernen Zeiten gewiss die Versorgung mit Nah¨ rungsmitteln, aber moglicherweise auch die Gestaltung der gesamten ¨ Haushaltsausgaben (Pierenkemper 1991). Dass z. B. ein Haushalt mit Normalbudget in vormodernen Zeiten etwa 80 % seiner Ausgaben fur ¨ Nahrungsmittel aufwenden musste und dass dieser Anteil in Deutschland im Jahr 2006 auf 14,6 % gesunken ist, veranschaulicht nachdrucklich den gewachsenen Wohlstand in diesem Teil der ¨
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Welt. Wo es an genaueren Angaben zur Nahrungsmittelversorgung fehlt, wurde in neuester Zeit sogar die Korpergroße der Menschen ¨ ¨ herangezogen, uber die es aus Rekrutierungsverzeichnissen oder alte¨ ¨ ren Grablegungen Informationen gibt. Sie wird als ein Maß der Nahrungsversorgung und Gesundheit, also damit indirekt der Wohlfahrt verwandt (Baten 2000). Auch ein neuer Versuch zur Bemessung nationaler Wohlfahrt im Vergleich knupft an die Vorstellung an, dass die Analyse der Ent¨ wicklung des Pro-Kopf-Einkommens allein fur ¨ eine Bestimmung der Wohlfahrt nicht ausreicht. Als weitere Dimensionen des „Human Development Index“ (HDI) der Vereinten Nationen wird daher die Lebensqualitat langes Leben, ¨ der Individuen durch die drei Großen ¨ hinreichende Bildung und materieller Lebensstandard zu erfassen versucht. Diese drei Dimensionen lassen sich quantifizieren, z. B. als durchschnittliche Lebenserwartung, Alphabetisierungsquote bzw. fur ¨ fortgeschrittene Lander Akademisierungsquote und Pro-Kopf-Ein¨ kommen. Dann kann man sie skalieren nach der relativen Auspra¨ gung gegenuber dem „besten“ Fall und miteinander verknupfen, ¨ ¨ wobei die jeweiligen Gewichte gleichmaßig ein Drittel betragen. Fur ¨ ¨ das Deutsche Reich und die Bundesrepublik Deutschland zeigt sich demnach ein differenziertes Bild (Wagner 2008). Erst in den 1970erJahren erreichte der Human Development Index fur ¨ Deutschland erstmals einen Wert von mehr als 0,8 und damit das Niveau eines hohen Lebensstandards. Zuvor hatten Kriege und Krisen die Wohlfahrtsentwicklung derartig beeintrachtigt, dass von einer Wohlstands¨ gesellschaft noch nicht die Rede sein konnte. Und bis heute bleibt in Deutschland die Dimension „Bildung“ deutlich hinter der des „Einkommens“ zuruck. Wenn also von einer „Wohlstandsexplosion“ in ¨ Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die Rede ist, sollte man immer beachten, dass damit vor allem der materielle Wohlstand gemeint ist und dass die Lebensqualitat ¨ in anderen Dimensionen moglicherweise weit weniger zufriedenstellend ist (Miegel 2003, ¨ S. 89–98). Darauf weisen auch Ergebnisse der neueren Glucksfor9 ¨ schung hin, die uber Ursachen und Verteilung von Zufriedenheit und ¨ Gluck ¨ Auskunft zu geben bemuht ¨ ist (Layard 2005, S. 42–43). 4
2.3 Wachstum und Wohlstand in Deutschland Seit der Industriellen Revolution hat also Deutschland ein relativ stetiges Wirtschaftswachstum genossen und trotz aller Ruckschlage ¨ ¨ in
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Körpergröße als Indikator
Human Development Index (HDI)
HDI in Deutschland
Glücksforschung
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Historisch einmalige Entwicklung
Deutsches Sozialprodukt seit 1850
Industrialisierung als Kern modernen Wachstums
Wiederaufbau und Wirtschaftswunder
Industrielle Produktion
Krisen und Kriegen eine nachhaltige Verbesserung des Lebensstandards seiner Bevolkerung erlebt. Diese Entwicklung ist historisch ein¨ malig. Sie blieb allerdings nicht auf Deutschland beschrankt, sondern ¨ ließ sich in ahnlicher Form zunachst in einigen anderen europaischen ¨ ¨ ¨ Landern, dann in den USA und schließlich in vielen Landern welt¨ ¨ weit beobachten. In den mehr als 100 Jahren seit 1850 stieg in Deutschland das reale Sozialprodukt (also unter Berucksichtigung der Inflation) jahr¨ ¨ lich im Durchschnitt um ca. 2,7 %. Da die Bevolkerung in diesem ¨ Zeitraum um jahrlich durchschnittlich 1,0 % angewachsen ist, betrug ¨ die durchschnittliche jahrliche Steigerung des realen Sozialprodukts ¨ pro Kopf ca. 1,7 %. So konnte der Lebensstandard der Bevolkerung ¨ nachhaltig angehoben werden (> ABBILDUNG 5). Ähnliche Entwicklungen gab es auch in den ubrigen Industriestaaten. In Frankreich stieg ¨ wahrend knapp 130 Jahren das reale Sozialprodukt pro Kopf um ¨ ebenfalls 1,7 %, in den USA wahrend 125 Jahren um 1,6 % und in ¨ Großbritannien gar uber einen Zeitraum von 180 Jahren um 1,2 % ¨ (Holtfrerich 1980a, S. 416). Eine Institutionalisierung des Wirtschaftswachstums als Folge der Industriellen Revolution macht den Kern der modernen Wirtschaft aus (Buchheim 1997, S. 21–23). 2 Diese „epochal innovation“ (Kuznets 1966, S. 9) schlug sich bereits im 19. Jahrhundert in einem deutlichen Zuwachs des Sozialprodukts und des Pro-Kopf-Einkommens nieder. Zwischen 1870 und 1913 betrug die jahrliche Wachstumsrate des Sozialprodukts pro ¨ Kopf in Deutschland durchschnittlich 1,8 %. Dieser Zuwachs konnte in den folgenden Dekaden wegen der Kriege, der daraus resultierenden Inflationen und der gravierenden Weltwirtschaftskrise nicht erreicht werden. Der entsprechende Wert sank fur ¨ den Zeitraum von 1913 bis 1950 auf 0,4 %. In den Zeiten von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder stieg er dann auf 5,6 % (1950–65) 6 an, ehe er sich uber 3,9 % (1965–80) normali¨ 8 auf wiederum 1,8 % (1980–2000) 2 sierte (Abelshauser 2004, S. 293). Buchheim verweist auf eine quasi „naturliche“ Wachstumsrate industriekapitalistischer Wirtschaftssys¨ teme in etwa dieser Großenordnung (Buchheim 1994, S. 17). ¨ Noch eindrucksvoller erscheint die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert, wenn man nicht das gesamtwirtschaftliche Wachstum betrachtet, welches ja auch die Wertschop¨ fung weniger dynamischer Teile der Wirtschaft (z. B. Handwerk, Landwirtschaft) beinhaltet, sondern sich dem besonders dynamischen Sektor, der Industrie, zuwendet. Die industrielle Produktion gewann, ¨ ¨ ausgehend von ihren bescheidenen Anfangen im fruhen 19. Jahrhun-
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dert, im Laufe der Industrialisierung der Volkswirtschaft eine immer großere Bedeutung fur ¨ ¨ die Gesamtwirtschaft. Dies wurde schon den Zeitgenossen deutlich, Friedrich Engels schrieb bereits 1878: „Wahrend in Frankreich der Orkan der Revolution das Land aus¨ fegte, ging in England eine stillere, aber darum nicht minder gewaltige Umwalzung vor sich. Der Dampf und die neue Werkzeug¨ maschinerie verwandelten die Manufaktur in die moderne große Industrie und revolutionierten damit die ganze Grundlage der bur¨ gerlichen Gesellschaft.“ (Engels 1975, S. 35) In den Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung schlug sich diese Entwicklung darin nieder, dass in der Hochphase der Industriegesellschaft in Deutschland in den 1950er- und 1960er-Jahren das produzierende Gewerbe 55 bis 60 % der Wertschopfung erwirtschaftete ¨ und auch die Mehrheit der Beschaftigten beanspruchte (> KAPITEL 3). ¨ Entsprechend dynamisch entwickelte sich die industrielle Nettoproduktion (Abelshauser 2004, S. 45). Zwischen 1870 und 1913 hatte sich diese bereits etwa verfunffacht, eine ahnliche Entwicklung lasst ¨ ¨ ¨ sich fur des 20. Jahrhunderts konstatieren. Die in¨ die zweite Halfte ¨ dustrielle Dynamik hat sich also trotz aller Tendenzen zu einer Dienstleistungsgesellschaft in Deutschland bis dahin nicht abgeschwacht. ¨ Die entscheidende Frage liegt nun darin, wo die Ursachen fur ¨ die exorbitante Steigerung des Sozialproduktes und der Industrieproduktion in den beiden letzten Jahrhunderten zu finden sind. Verschiedentlich sind im Kontext der heute vorherrschenden neoklassischen Produktionstheorie Versuche unternommen worden, durch die Bestimmung sogenannter Wachstumskomponenten die Grunde fur ¨ ¨ das moderne Wirtschaftswachstum zu identifizieren und ihren Wachstumsbeitrag zu messen (Pierenkemper 2005, S. 35–39). So lassen 3 sich die Beitrage der unterschiedlichen Produktionsfaktoren zum ¨ Wirtschaftswachstum einer Volkswirtschaft bestimmen. Fur ¨ die deutsche Volkswirtschaft ergibt sich danach folgendes Bild (Borchardt 1978, S. 78–98): Trotz zweier verheerender Kriege, Wirt9 schaftskrise und Inflation in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts ¨ lasst sich in der langen Sicht eine historisch einmalige Steigerung der ¨ gesamtwirtschaftlichen Produktion und des Wohlfahrtsniveaus beobachten. Dazu hat die Ausweitung des Arbeitspotenzials nur in geringem Maße beigetragen. Die verfugbare Arbeitsmenge stieg von ¨ 1873 bis 1913 jahrlich lediglich um 0,8 bis 0,9 %, zwischen 1913 ¨ und 1950 dann nur noch um 0,3 %. Zwar erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg wegen der zustromenden Vertriebenen und Fluchtlinge ¨ ¨
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Hochphase der Industriegesellschaft
Ursachen für Steigerung des Sozialprodukts
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Steigerung der Arbeitsproduktivität
Höhere Kapitalintensität
Technischer Fortschritt
kurzfristig wiederum eine deutliche Ausweitung des Arbeitsvolumens, doch bald stagnierte es und begann schließlich zu schrumpfen. Das hatte vor allem mit einer deutlichen Reduzierung der durchschnittlichen Arbeitszeit zu tun (seit 1870 um ca. 40 %), welche dem Wachstum der Bevolkerung und der Zuwanderung entgegen wirkte. ¨ Allerdings ist die Arbeitsproduktivitat ¨ im Gesamtbetrachtungszeitraum deutlich starker gewachsen als das Arbeitsvolumen, was auf ¨ eine zunehmende Bedeutung der Qualitat ¨ der Arbeit hinweist. Zwischen 1870 und 1923 wuchs die Arbeitsproduktivitat ¨ pro Beschaftig¨ tem in Deutschland im Durchschnitt um 1,5 % und pro Arbeitsstunde gar um 2,1 %. Die entsprechenden Vergleichszahlen betragen fur ¨ den Zeitraum von 1950 bis 1972 4,8 % bzw. 5,6 %. Aus diesen Angaben wird deutlich, dass das Wirtschaftswachstum in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert keinesfalls entscheidend auf eine zunehmende Arbeitsmenge zuruckzufuhren ist. ¨ ¨ Blickt man auf die Entwicklung des Kapitalstocks – und damit auf die Menge des eingesetzten Kapitals –, so ist dieser zwar durch die durchlittenen Kriege und Krisen ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen worden, aber insgesamt dennoch erheblich angewachsen. Das gilt nicht nur fur ¨ seinen bis heute bedeutendsten Teil, die Gebau¨ de, sondern auch fur dessen Bedeu¨ das industrielle Anlagevermogen, ¨ tung deutlich zugenommen hat. Diese Entwicklung schlagt ¨ sich in einer wachsenden Kapitalintensitat ¨ der Produktion nieder, d. h. ein Beschaftigter wird mit einem immer großeren Kapitalbestand aus¨ ¨ gestattet. Dazu sind permanent hohe Investitionen notig, die nicht ¨ nur den Kapitalbestand aufrechterhalten, sondern daruber hinaus ¨ auch der Verbesserung und der Erweiterung des Kapitalstocks dienen mussen. ¨ Aber auch eine hohe Investitionsquote allein vermag das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht zu erklaren. Dazu hat ganz wesentlich auch der tech¨ nische Fortschritt entscheidend beigetragen. Dieser bemisst sich in der neoklassischen Produktionstheorie als Residualgroße, als un¨ erklarter Rest des Wachstums, die allein durch eine Erhohung der ¨ ¨ Einsatzmenge von Kapital und Arbeit nicht zu erklaren ist. Der tech¨ nische Fortschritt ist zum Teil einverleibt in der zunehmenden Qualitat ¨ der Arbeit – wenn man so will also im Humankapital. Wichtig sind aber auch Erfindungen und Innovationen, die durchaus auch organisatorischer (wissenschaftliche Betriebsfuhrung, Rationalisierung ¨ u. a.) und Sozial¨ und politischer Art (z. B. Wettbewerbs-, Stabilitats¨ politik) sein konnen. ¨
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FRAG EN UND LEK TÜR EEMPFEH LUNGEN
Alles in allem lasst sich das moderne Wirtschaftswachstum also ¨ vor allem durch eine Effizienzsteigerung des Wirtschaftssystems, also eine bessere Nutzung der vorhandenen Ressourcen, erklaren und ¨ nicht durch die Erschließung weiterer, neuer Ressourcen. Fur ¨ den Zeitraum von 1950 bis 1962 lasst sich dieser Zusammenhang im ¨ Sinne der Wachstumskomponentenrechnung quantitativ etwas genauer darstellen (van der Wee 1984, S. 158–159). Demnach lasst 1 ¨ sich das enorme jahrliche Wachstum der „Wirtschaftswunderjahre“ ¨ von 6,27 % nur zu 44 % durch eine Ausweitung der Produktionsfaktoren, zu 56 % jedoch durch den technischen Fortschritt (also die Steigerung der Gesamtfaktorproduktivitat) Blickt man auf ¨ erklaren. ¨ die Entwicklung der Einsatzfaktoren im Einzelnen, so leistet der Produktionsfaktor Kapital hinsichtlich der Ausweitung der Faktoren den großten Beitrag zum Wachstum (51 %), der Faktor Boden gar keinen ¨ und der Faktor Arbeit beachtliche 49 %. Hierfur ¨ spielt die Ausweitung der Zahl der Beschaftigten trotz sinkender Arbeitszeit die großte ¨ ¨ Rolle; eine Veranderung in den Alters- und Geschlechterproportionen ¨ nur eine geringe und die verbesserte Ausbildung nur eine untergeordnete. Das Wachstum des Kapitalstocks wird im Wesentlichen durch eine Erhohung des industriellen Anlagevermogens getrieben. ¨ ¨ Den großten Beitrag zum Wachstum des Sozialprodukts leistet er¨ wartungsgemaß ¨ der technische Fortschritt (> KAPITEL 6). Die deutsche Wirtschaft wurde im Betrachtungszeitraum deutlich effizienter gestaltet, dies trug entscheidend zum Wachstum bei. Die quantitative Ausweitung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital trat demgegenuber ¨ in der Bedeutung fur ¨ das Wachstum deutlich zuruck. ¨
Fragen und Anregungen • Überlegen Sie, worin sich das moderne Wirtschaftswachstum von okonomischen Entwicklungen der vorausgehenden Zeiten unter¨ scheidet. • Glauben Sie, dass Sozialproduktsberechnungen hinreichend Aus¨ ¨ kunft uber die Wohlfahrt eines Landes geben konnen? Worin liegen ¨ ¨ die Schwachen dieses Messkonzeptes, worin aber auch dessen Starke? • Welche Faktoren trugen wesentlich zum außerordentlichen Wachstum der deutschen Wirtschaft in den letzten 150 Jahren bei?
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Bessere Nutzung vorhandener Ressourcen
Entwicklung der einzelnen Einsatzfaktoren
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Lektüreempfehlungen Übersichten
• Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Gottingen ¨ 1972. Knappe, mittlerweile klassische Beschreibung der Lebensverhaltnisse in Deutschland seit dem ¨ Mittelalter. • Christoph Buchheim: Industrielle Revolutionen. Langfristige Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien, Europa und in Übersee, Munchen 1994. Kompetente Diskussion von Wirtschaftswachstum ¨ und Wohlfahrtsentwicklung in vergleichender Perspektive. • Erich Wiegand / Wolfgang Zapf (Hg.): Wandel der Lebensbedingungen in Deutschland: Wohlfahrtsentwicklung seit der Industrialisierung, Frankfurt a. M. 1982. Enthalt ¨ eine Reihe wichtiger Beitrage ¨ zur langfristigen Entwicklung verschiedener Lebensbereiche in Deutschland.
Forschung
• Simon Kuznets: Modern Economic Growth. Rate, Structure, and Spread, New Haven 1966. Klassischer Text zum modernen Wirtschaftswachstum. • Graeme Donald Snooks: Great Waves of Economic Change: The Industrial Revolution in Historical Perspective, 1000 to 2000, in: ders. (Hg.), Was the Industrial Revolution Necessary?, London 1994, S. 43–78. 7 Anregende Auseinandersetzung mit dem langfristigen Wirtschaftswachstum in den spateren Industriestaaten. ¨ • Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900–1945. The 1 Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001. Wichtiger Beitrag uber die konzeptionelle Entwicklung der deut¨ schen Volkswirtschaft und der amtlichen Statistik.
Handbücher / Lexika
• Deutsche Bundesbank (Hg.): Wahrung und Wirtschaft in Deutsch¨ land 1876–1975, Frankfurt a. M. 1976. Anschauliche und umfas1 sende Darstellung der Wirtschaftsentwicklung Deutschlands. • Walther G. Hoffmann: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965. Trotz aller Kritik und Revisionen bis heute unverzichtbares Werk fur ¨ eine quantitative Darstellung der deutschen Wirtschaft seit Beginn der Industrialisierung. • Angus Maddison: The World Economy. A Millenial Perspective, Paris 2001. International vergleichende Daten uber einen langeren ¨ ¨ Zeitraum.
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3 Arbeit und Lohnarbeit
¨ Abbildung 6: Krupp-Werke, Deutschland; Lokomotiv- und Wagenraderbau in der Gussstahlfabrik von Friedrich Krupp in Essen (1900) ¨ Abbildung 7: Buroangestellte in der Schokoladenfabrik Cadbury, England (Ende 19. Jh.)
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AR B E I T U ND LOH NA RB E I T
Die beiden Bilder geben einen Einblick in die Radreifenherstellung der Kruppschen Gussstahlfabrik und in ein Buro der Schokoladen¨ fabrik Cadbury. Charakteristikum der Industrialisierung ist einerseits die Entstehung einer industriellen Arbeiterschaft, wofur ¨ das Beispiel Krupp stehen kann. Auf der anderen Seite entstand bei der Durchsetzung industrieller Großbetriebe am Ende des 19. Jahrhunderts auch ¨ ein Heer nicht manuell arbeitender Beschaftigter, die sogenannten Angestellten. Beiden Gruppen ist zu eigen, dass sie ihre Subsistenz, also ihren Lebensunterhalt, allein durch diejenige Arbeit sichern konnten, ¨ die sie gegen Entgelt einem Arbeitgeber zur Verfugung stellten. Gleichgultig, ob in Werkstatt oder Kontor, in Industriebetrieb oder ¨ Verwaltung, mit der Entstehung der modernen Volkswirtschaft hatten sich ganzlich neue Arbeitsbedingungen etabliert. Die optimale Al¨ lokation (Einsatz) des Faktors Arbeit im Industriesystem bildete eine wesentliche Voraussetzung fur ¨ die Steigerung der Effizienz und der weiteren Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums. Damit waren gravierende Veranderungen in der Organisation der gesellschaftlichen ¨ Arbeit verbunden. Die Entstehung von Lohnarbeit bzw. die Entstehung und Entfaltung von Arbeitsmarkten ist ein wesentliches Charakteristikum der ¨ modernen Volkswirtschaft. Es handelt sich bei einem derartigen sozialen Arrangement um Erwerbsarbeit, die dem Ziel der individuellen Reproduktion (also der Sicherung der eigenen Existenz und der der Familie) durch Erzielung von Einkommen diente und die zunehmend uber Markte in Form von Lohnarbeit getauscht wurde. Die Kom¨ ¨ modifizierung der Arbeitskraft, d. h. die Verwandlung der menschlichen Arbeit in eine Ware, bildet also eine wesentliche Bedingung der Entstehung der modernen Volkswirtschaft. Wie genau vollzog aber sich dieser Wandel, wo und auf welche Weise wurde und wird die menschliche Arbeitskraft in der modernen Volkswirtschaft eingesetzt?
3.1 Die Entstehung von Lohnarbeit in Deutschland 3.2 Die Entfaltung eines Arbeitsmarktes 3.3 Strukturen der Lohnarbeit in Deutschland
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DIE E NTST EHUNG VON LOHN ARBEIT I N D EU TSC HL AN D
3.1 Die Entstehung von Lohnarbeit in Deutschland Die Organisation von Arbeit in Form von Lohnarbeit ist historisch betrachtet eine relativ neue Erscheinung, die sich massenhaft erst im 19. Jahrhundert verbreitet hat. Naturlich haben die meisten Men¨ schen auch in fruheren Zeiten immer und zumeist sehr intensiv arbei¨ ten mussen. Aber sie taten es in anderen Formen als in der der Lohn¨ arbeit (Polanyi 1977). Fur ¨ die moderne, kapitalistische Industriegesellschaft erweist sich Lohnarbeit als die entscheidende Form der Allokation gesellschaftlicher Arbeit. Offenbar ist diese Form die angemessene fur ¨ die moderne Volkswirtschaft. Aber warum? Zu Beginn der Industrialisierung, in Deutschland im fruhen ¨ 19. Jahrhundert, war Lohnarbeit noch wenig verbreitet. Ein Blick auf die Beschaftigten in den deutschen Territorien um 1800 zeigt eine ¨ eindeutige Verteilung zugunsten der Landwirtschaft (> ABBILDUNG 8).
Beschäftigungsbereich
Landwirtschaft
¨ Guter ¨ Spannfahige Bauern Kleinbauern Landarme / Landlose ¨ Hausliche Dienste
0,08 2,05 3,29 2,77 0,97
0,60 16,20 26,10 21,90 7,70
Summe
9,17
72,50
Handwerk Verlegtes Textilgewerbe Sonstige Verlage Manufaktur, Bergbau
1,26 0,34 0,02 0,07
10,00 2,70 0,20 0,50
Summe
1,69
13,40
Dienstleistungen
Handel / Transport (ev.) Kirche, Beamte, Schule (kath.) Klerus ¨ Militar ¨ Hausliche Dienste Summe
0,94 0,26 0,09 0,20 0,29 1,78
7,50 2,00 0,70 1,60 2,30 14,10
Insgesamt
Summe
12,64
100,00
Gewerbe
Beschäftigte (in Millionen)
Beschäftigte (in %)
Sektor
¨ Abbildung 8: Beschaftigung in Deutschland um 1800 nach Wirtschaftssektoren (Dipper 1991, S. 98)
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Lohnarbeit als relativ neue Erscheinung
Unterschiedliche Arten gesellschaftlicher Arbeit
AR B E I T U ND LOH NA RB E I T
Arten der Beschäftigung in der Landwirtschaft
Tätigkeiten im gewerblichen Sektor
Zu dieser Zeit waren also etwa drei Viertel aller Beschaftigten in ¨ der Landwirtschaft tatig, im Gewerbe und im Dienstleistungssektor ¨ hingegen nur jeweils knapp 15 % (Schissler 1978, S. 72–74). Schaut 7 man auf die landwirtschaftlich Beschaftigten, so arbeitete nur eine ¨ verschwindend kleine Zahl direkt auf Gutern. Hierbei handelte es ¨ sich zumeist um leitendes Personal (Gutsbeamte, Verwalter), kaum um Lohnarbeiter. Auch Vollbauern waren keine Lohnarbeiter, sondern Selbststandige, ebenso wie die großte Gruppe der landwirt¨ ¨ schaftlich Beschaftigten, die Kleinbauern. Ihr Landbesitz reichte je¨ doch nicht aus, um eine Familie zu ernahren, sie waren daher auf ¨ Zuerwerb angewiesen. Dieser erfolgte selten als Lohnarbeit, sondern in einem eigentumlichen Dienstverhaltnis als Eigenversorger oder als ¨ ¨ kontraktlich gebundene Arbeitskraft (Heuerling, Scharwerker, Instmann o. a.) oder bei den Vollbauern. Oder sie arbei¨ auf den Gutern ¨ teten als Landhandwerker oder Heimgewerbetreibender in quasiselbststandiger Tatigkeit. Auch die Landlosen waren in ahnlichen ¨ ¨ ¨ Formen als Hilfskrafte (Deputatsempfanger, Dienstleute) in die Land¨ ¨ und Guterwirtschaft eingegliedert und somit kaum als moderne ¨ Lohnarbeiter zu klassifizieren. Ähnliches gilt auch fur ¨ das Gesinde, das gegen Kost und Logis im Haushalt der Bauern oder Gutsherren diente. Insgesamt lasst sich zeigen, dass in Deutschland zu Beginn ¨ des 19. Jahrhunderts im landwirtschaftlichen Sektor Lohnarbeitsverhaltnisse und ein entsprechend freier Arbeitsmarkt kaum vorzufinden ¨ waren. Es dominierten vielmehr traditionelle vormoderne, z. T. noch feudal gepragte Arbeitsformen (Kocka 1990a, S. 83–89). ¨ 8 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war dies auch fur ¨ den gewerblichen Sektor der Fall. Hier herrschten handwerkliche Tatigkeiten ¨ vor (Wehler 1987, S. 90–119). Zwar befand sich das alte Handwerk 1 bereits in der Auflosung, weil eine stark anwachsende Zahl von Ge¨ sellen immer weniger Aussicht auf Selbststandigkeit als Meister hatte. ¨ Dennoch blieben die Gesellen meist in einem traditionellen Arbeitsverhaltnis, jenseits der marktvermittelten Lohnarbeit. Sie unterlagen ¨ der hausherrlichen Gewalt des Meisters sowie den Regelungen der jeweiligen Zunfte (z. B. dem Wanderzwang). Kost und Logis stellten ¨ weiterhin einen beachtlichen Teil ihrer Entlohnung dar. Quasi-Selbststandige mit teilweise eigenen Produktionsmitteln (Spinnrad, Web¨ stuhl) und weiteren Hilfskraften (haufig Familienmitgliedern) arbeite¨ ¨ ten zeitlich begrenzt fur fungierende Verleger, so hießen ¨ uberortlich ¨ ¨ die Auftrageber, die Geld und Material „vorlegten“. Diese Verlagsarbeiter waren haufig nur im Nebenerwerb gewerblich tatig, teils in ¨ ¨ der Landwirtschaft (Landlose, Kleinstellenbesitzer), teils auch mit
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DIE E NTST EHUNG VON LOHN ARBEIT I N D EU TSC HL AN D
dem stadtischen Handwerk verbunden. Lohnarbeiter in dem Sinne, ¨ dass sie ihre Arbeitskraft auf einem freien Arbeitsmarkt anboten, waren sie jedenfalls keine. Diese ließen sich am ehesten noch in den wenigen Manufakturen und Bergfabriken (Montanunternehmen) finden. Doch auch hier gab es noch uberkommene Arbeitsformen, so ¨ z. B. die der Gewerke in den bergrechtlichen Gewerkschaften oder die Bergleute in den Knappschaften des Bergbaus. Lediglich in den ersten Eisenhutten und den fruhen Textilfabriken lassen sich in ¨ ¨ Deutschland um 1800 einige wenige moderne Lohnarbeiter finden (Kocka 1990b, S. 297–355, 377–520). 3 5 Blickt man auf den dritten und letzten Beschaftigungssektor, den ¨ der Dienstleistungen, so herrschten auch hier andere Beschaftigungs¨ verhaltnisse als freie Lohnarbeit. Militars, ¨ ¨ Geistliche und Beamte sind wohl kaum als Lohnarbeiter anzusehen. Am ehesten fanden sich solche im Transportbereich (Schiffer, Treidelknechte, Fuhrleute u. a.), ¨ wobei zahlreiche dieser Tatigkeiten nur nach Bedarf und selten voll¨ beruflich ausgeubt ¨ wurden. Auch der Handel war zumeist in selbststandiger Tatigkeit als Wanderhandel (Hoker, Hausierer), Kleinhan¨ ¨ ¨ del (Kramer) oder durch Großkaufleute organisiert. Dienstboten ¨ spielten in der vormodernen Gesellschaft eine große Rolle, erhielten jedoch als Diener, Kochinnen oder Alleinmadchen kaum Barlohn, ¨ ¨ sondern ebenfalls uberwiegend Kost und Logis (Kocka 1990b, ¨ S. 109–144). 1 Zusammenfassend lasst sich daher festhalten, dass Lohnarbeit in ¨ den deutschen Territorien um 1800 ein Minderheitenphanomen war. ¨ Die absolute Zahl der Lohnarbeiter wird auf 85 000 bis 160 000 Personen geschatzt (Schmoller 1900, S. 344; Kuczynski 1961, ¨ S. 222), also auf allenfalls etwa ein Prozent der Beschaftigten. In al¨ len Bereichen der Volkswirtschaft dominierten noch traditionelle Beschaftigungsverhaltnisse und vormoderne Allokationsformen, herr¨ ¨ schaftliche auf dem Lande, zunftige im stadtischen Handwerk und ¨ ¨ genossenschaftliche z. B. im Bergbau. Dem freien Arbeitsmarkt, d. h. dem Tausch von Lohn gegen Arbeitsleistung, waren noch enge Grenzen gesetzt. Das sollte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts grundlegend andern. ¨ In den folgenden 100 Jahren entwickelte sich Lohnarbeit zur vorherrschenden Form des Beschaftigungssystems und demgemaß ¨ ¨ der Arbeitsmarkt zur entscheidenden Institution fur ¨ die Allokation der gesellschaftlichen Arbeit. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts arbeitete nur noch die Halfte der Beschaftigten in der Landwirtschaft, ein ¨ ¨ Drittel war im Gewerbe tatig, der Rest entfiel auf den Dienstleis¨
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Beschäftigungen im Dienstleistungssektor
Lohnarbeit um 1800 ein Minderheitenphänomen
Lohnarbeit entwickelt sich zur dominierenden Form
AR B E I T U ND LOH NA RB E I T
Entstehung des Arbeitsmarktes
Industrielle Reservearmee
Emigration
Rückgang der Realeinkommen
Steigende Einkommen bis 1913
tungssektor, dessen Anteil bis dahin im Wesentlichen stabil blieb. Am Ende des langen 19. Jahrhunderts (1913) hatte der gewerbliche Sektor mit etwa 38 % die meisten Beschaftigten, die Landwirtschaft folg¨ te mit etwa 34 % und die Dienstleistungen mit etwa 28 % (Henning 1996, S. 678). Diese durren Zahlen spiegeln jedoch lediglich die quantitativen ¨ Veranderungen im Beschaftigungssystem wider und geben keine Aus¨ ¨ kunft uber die Grunde fur ¨ ¨ ¨ die Entstehung des Arbeitsmarktes in diesem Zeitraum. Zunachst einmal fuhrte ein enormes Bevolkerungs¨ ¨ ¨ wachstum – begunstigt durch eine verbesserte Versorgung mit ¨ Lebensmitteln, medizinische Fortschritte und verbesserte Hygiene – zu einer deutlichen Ausweitung des Angebots an Arbeitskraften. Eine ¨ gewaltige Lucke zwischen den Beschaftigungsmoglichkeiten und der ¨ ¨ ¨ Zahl der Erwerbspersonen tat sich auf (Kollmann 1974, S. 61–98). ¨ 9 Sowohl die Ausweitung der landlichen Unterschichten als auch die ¨ Entstehung eines stadtischen Proletariats fuhrten zu einem starken ¨ ¨ Anwachsen der arbeitenden Klassen, oder, wie Marx diese nannte, der „industriellen Reservearmee“. Das Ergebnis war eine tief greifende Verelendung weiter Bevolkerungskreise, deren Lebensschicksal, ¨ wie es schien, nachhaltig und ausweglos beeintrachtigt war. Diese ¨ historische Situation wird in der Literatur gemeinhin als Pauperismus bezeichnet (> KAPITEL 1). ¨ Als ein Ausweg aus dieser Situation galt uber Jahrzehnte hinweg die Auswanderung. Anfangs emigrierten viele Menschen nach Über¨ ¨ see, hauptsachlich nach Nordamerika (Marschalck 1973). Spater, als das industrielle Wachstum in Deutschland in Gang gekommen war, kam es zu einer ausgreifenden Binnenwanderung vom Land in die ¨ Stadte, vor allem aus den preußischen Agrarregionen Ostelbiens in die industriellen Zentren an Rhein und Ruhr (Ritter / Tenfelde 1992, 1 S. 175–197). ¨ Ein lang anhaltender Ruckgang der Realeinkommen der arbeiten¨ ¨ den Bevolkerung seit dem fruhen 18. Jahrhundert hielt bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts an. Zwar stiegen auch in diesem Zeitraum die Nominaleinkommen weiter an, doch die steigenden Lebensmittelpreise machten diesen Anstieg mehr als wett, und die Armut breitete sich immer weiter aus. In den wegen Missernten auftretenden Hungerkrisen der Jahre 1818 und 1846 erreichte diese Entwick¨ lung traurige Hohepunkte. Erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als ¨ die Industrialisierung auch in Deutschland allmahlich Raum gewann, ¨ kehrte sich diese Tendenz um und fuhrte bis 1913 zu nachhaltig stei¨ genden Einkommen (Gommel 1979, S. 12; > ABBILDUNG 9).
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DIE E NTST EHUNG VON LOHN ARBEIT I N D EU TSC HL AN D
Abbildung 9: Lohne ¨ in Deutschland (gleitende Dreijahresmittel, 1900–13 13 ¼ 100) (Saalfeld 1984, S. 231)
Traditionell wurde wahrend des Tageslichtes gearbeitet, im Som¨ mer also deutlich langer als im Winter. Moderne Fabrikbetriebe ver¨ fugten jedoch uber kunstliches Licht. Dies ermoglichte eine Ausdeh¨ ¨ ¨ ¨ nung der regelmaßigen taglichen Arbeitszeit von 10 bis 12 Stunden ¨ ¨ (um 1800) auf 14 bis 16 Stunden in den 1830er-Jahren. Bei sechs Arbeitstagen pro Woche lasst sich so eine Wochenarbeitszeit von 80 ¨ bis 85 Stunden errechnen. Als Lohnform setzten sich Geldlohne mehr ¨ und mehr durch und auch die Lohnperioden verkurzten sich deutlich ¨ von Jahres- zu Wochen- und Tagelohnen. Dies lasst auf einen ratio¨ ¨ nelleren Arbeitseinsatz schließen, Arbeitszeiten und ihr Preis wurden einer kaufmannischen Kalkulation unterworfen und Leistungslohne ¨ ¨ hielten Einzug in das Entlohnungssystem. So trat der Marktkontext des Tausches Lohn gegen Leistung immer deutlicher hervor. Diese Entwicklungen beschleunigten sich in der zweiten Halfte des ¨ 19. Jahrhunderts noch weiter. Das Bevolkerungswachstum hielt wei¨ ter an, doch wegen des dynamischen Wirtschaftswachstums wuchs das Angebot von Arbeitsmoglichkeiten noch starker. Der Auswan¨ ¨ derungsdruck ließ entsprechend nach. Die neuen Arbeitsplatze waren ¨ nun uberwiegend in Form von Lohnarbeit organisiert. Arbeiter fan¨ den Beschaftigung in den Bergwerken und Werkstatten, Angestellte ¨ ¨ in Buros und Ladengeschaften. Die Lohnarbeitsgesellschaft setzte ¨ ¨ sich flachendeckend durch, der Arbeitsmarkt wurde zur dominieren¨ den Instanz fur ¨ die Allokation gesellschaftlicher Arbeit. Die Verhalt¨
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Ausdehnung der Arbeitszeit
Geldlöhne setzen sich durch
Zahl der Erwerbspersonen verdoppelt sich
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nisse auf dem Arbeitsmarkt waren dabei zunehmend gepragt ¨ durch wachsende Beschaftigungsunsicherheit, einen stetigen Anstieg der Real¨ lohne und eine tendenzielle Senkung der Arbeitszeiten (Pierenkemper ¨ 2006a, S. 255).
3.2 Die Entfaltung eines Arbeitsmarktes Arbeitsmarkt zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Eingriffe des preußischen Staates
Einführung von Sozialversicherungen
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Arbeitsmarkt in Deutschland ganzlich frei und unreguliert. Die Unternehmer unterlagen kei¨ nerlei Restriktionen zur Nutzung oder auch Ausbeutung der Arbeitskraft ihrer Arbeiter. Diese waren dem Gewinnstreben und der Profitgier der Kapitalisten mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert. Dementsprechend waren auch die auf dem Arbeitsmarkt entstehenden Ergebnisse beklagenswert: Geringe Einkommen, uberlange Ar¨ beitszeiten und hohe Beschaftigungsunsicherheit pragten die Lage der ¨ ¨ Arbeiter und schufen eine Situation, die als Soziale Frage des 19. Jahrhunderts bezeichnet wird. Der preußische Staat sah sich daher bereits 1839 gezwungen, gegen die allerschlimmsten Auswuchse der Fabrikarbeit vorzugehen. Er ¨ verhangte ein gesetzliches Fabrikarbeitsverbot fur ¨ ¨ Kinder unter zwolf ¨ Jahren und begrenzte die Arbeitszeiten und die Nachtarbeit fur ¨ Frauen und Jugendliche. Weitere Eingriffe des preußischen Staates in den Arbeitsmarkt erfolgten durch die Gewerbeordnung von 1845, nach der auch den Fabrikarbeitern wie bislang nur den Handwerkern erlaubt wurde, zur Selbsthilfe und zur Verbesserung ihrer Lage Vereinigungen (Hilfskassen) zu grunden, die aber lediglich Unterstutzung bei ¨ ¨ Krankheit etc. anboten. Eine gewerkschaftliche Interessenvertretung (Koalitionsrecht) war den Arbeitern noch verwehrt. Als dann 1869 durch die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes dieses Koalitionsverbot aufgehoben wurde, blieb es wegen des restriktiven preußischen Vereinsrechts gleichwohl wesentlich eingeschrankt. ¨ Weit reichende Wirkungen entfaltete eine Initiative des Reichskanzlers Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelms I., die seit den 1880er-Jahren sukzessive halbstaatlich organisierte Sozialversicherun¨ gen gegen die Hauptrisiken der Arbeiterexistenz eingefuhrt hatten. Den Anfang machte die Krankenversicherung (1882), gefolgt von ¨ der Unfallversicherung (1883) und, als vorlaufigem Abschluss, einer ¨ Invaliden- und Altersversicherung (1889). Zu ubergreifenden, kollektiven Vereinbarungen zwischen den Arbeitsmarktparteien kam es ¨ abgeschlossen wurhingegen erst nach 1890, als erste Tarifvertrage
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DI E E NT FALTUN G EI NES A RBEI TSM AR KTES
den (Englberger 1995, S. 69–88). Den Tarifverbanden der Arbeiter, 8 ¨ den Gewerkschaften, stellten die Unternehmer dabei sogenannte Antistreikverbande (Arbeitgeberverbande) gegenuber. Damit waren die ¨ ¨ ¨ Konturen fur ¨ die folgenden Auseinandersetzungen um Lohn und Leistung gezeichnet. Insgesamt hatten die zahlreichen Regulierungen des 19. Jahrhunderts die Position der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt deutlich gestarkt. Es handelte sich dabei um gesetzliche (Arbeitsschutz), sozial¨ versicherungsrechtliche (Versicherungen) und in Ansatzen um tarif¨ vertragliche Regelungen. Arbeitszeiten, Lohne und Lebensrisiken ¨ wurden nicht mehr allein individuell und frei bestimmt, sie unterlagen nun vielmehr rechtlich definierten Begrenzungen und Bestimmungen. Eine Entwicklung vom freien Arbeitsvertrag zu kollektiven Tarifvertragen war deutlich erkennbar, ein gesetzlich, sozialversiche¨ rungsrechtlich und tarifvertraglich fixiertes „Normalarbeitsverhalt¨ nis“ war zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits in Umrissen erkennbar. Die Krisen und Katastrophen in der ersten Halfte des 20. Jahrhun¨ derts hatten jedoch herbe Ruckschlage auch auf dem Arbeitsmarkt ¨ ¨ zur Folge. Im Ersten Weltkrieg wurde ein freier Arbeitsmarkt außer Kraft gesetzt. Das Militar die Verwen¨ bestimmte weitgehend uber ¨ dung des deutschen Arbeitspotenzials. Einberufungen zum Militar¨ dienst reduzierten dieses Potenzial enorm, auch der Einsatz von Frauen und Kriegsgefangenen konnte die entstandene Lucke kaum fullen. ¨ ¨ Daher fuhrte man 1916 mit dem Gesetz uber den vaterlandischen ¨ ¨ ¨ Hilfsdienst einen Arbeitszwang fur Personen uber ¨ alle mannlichen ¨ ¨ 16 Jahren ein und unterwarf die Allokation der gesellschaftlichen Arbeit einem strengen burokratischen Regime. Die Lage der Beschaftig¨ ¨ ten veranderte sich wahrend des Krieges dramatisch: Überlange Ar¨ ¨ beitszeiten, sinkende Einkommen und eine immer schlechtere Versorgungslage, die bis hin zu Hunger fuhrte, pragten das Bild ¨ ¨ (Feldman 1985). Nach 1918 kam es in den revolutionaren Umstanden der unmit¨ ¨ telbaren Nachkriegszeit zu einer zentralen und grundsatzlichen Über¨ einkunft zwischen den Unternehmern, vertreten durch den Industriellen Hugo Stinnes, und dem Fuhrer der Gewerkschaften, Carl Legien. ¨ Es wurde eine Zentralarbeitsgemeinschaft eingerichtet, in der alle strittigen Fragen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gelost ¨ werden sollten. Angesichts der dramatischen Umstande, in denen ¨ auch Sozialisierung und Enteignung denkbar schienen, machten die Unternehmer dabei gewaltige Zugestandnisse (Feldman 1984). Sie ¨
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Kollektive Tarifverträge
Erster Weltkrieg
Hilfsdienstgesetz
Zentralarbeitsgemeinschaft
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Die „goldenen Jahre“
Soziale Errungenschaften in der Weimarer Republik
Arbeitslosenversicherung
Umgestaltung nach 1933
stimmten u. a. der Einfuhrung des Acht-Stunden-Tages und massiven ¨ Lohnerhohungen zu. Letzteres fiel ihnen angesichts einer stetig vo¨ ranschreitenden Inflation nicht besonders schwer. Dieser bis zum Herbst 1923 exponentiell wachsende Preisanstieg fuhrte namlich mit¨ ¨ telfristig zu deutlichen Realeinkommensverlusten der Arbeiter. Die wegen der Inflation niedrigen Reallohne hatten andererseits zur Fol¨ ge, dass es relativ wenige Probleme mit der Wiedereingliederung der aus dem Krieg zuruckgekehrten Soldaten in den regularen Arbeits¨ ¨ markt gab. Die durch den vermehrten Einsatz automatisierter Produktion hervorgerufene Rationalisierungskrise der Jahre 1925 / 26 fuhrte dann ¨ zu einem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit, die auch wahrend ¨ der kurzen „goldenen Jahre“ der Weimarer Republik (1927–29) 2 nicht ganzlich abgebaut werden konnte. Allerdings kam es in diesen ¨ Jahren zu einem merklichen Anstieg der Einkommen, welcher jedoch in der folgenden Wirtschaftskrise (1929–33) 3 und einer bis dahin unbekannten Massenarbeitslosigkeit schnell wieder aufgezehrt wurde. Dennoch kam es in der Weimarer Republik zu einigen sozialen Errungenschaften auf dem Arbeitsmarkt, auch wenn diese in den Zeiten der Wirtschaftskrise nur noch teilweise Anwendung fanden. Im Arbeitsrecht wurde der Arbeitsvertrag aus dem individuellen Schuldrecht (BGB) in ein kollektives Recht transformiert. Tarifvertrage ¨ traten an Stelle individueller Vereinbarungen, diese waren unabdingbar und allgemeinverbindlich. Eine Betriebsverfassung garantierte einen obligatorischen Betriebsrat, eine besondere Arbeitsgerichtsbarkeit wurde eingerichtet und der gesetzliche Arbeitsschutz wurde verbessert (z. B. Hochstarbeitszeiten). Auch in der Lohnpolitik ¨ und im Schlichtungswesen gab es Fortschritte. Einen Hohepunkt bil¨ dete 1927 das Gesetz uber die Arbeitslosenversicherung. Darin wur¨ de die Arbeitsvermittlung reichsweit in einer Reichsanstalt zentralisiert und dort eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit eingefuhrt, ¨ die als vierte Saule neben die drei bereits bestehenden Sozialversiche¨ rungen (Unfall-, Kranken- sowie Invaliden- und Alterversicherung) trat. Nach 1933 erfolgte erneut eine grundlegende Umgestaltung des Arbeitsmarktes. Die Gewerkschaften wurden zerschlagen, die Arbeitgeberorganisationen gleichgeschaltet und in der Deutschen Arbeitsfront (DAF) zusammengefuhrt. Der freie Arbeitsmarkt wurde durch ¨ das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit außer Kraft gesetzt und weitgehenden Regulierungen unterworfen. Ein sogenannter Treuhander der Arbeit bestimmte die Lohnhohe, im Betrieb galt das ¨ ¨
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DI E E NT FALTUN G EI NES A RBEI TSM AR KTES
„Fuhrerprinzip“, das den Arbeitnehmern als „Gefolgschaft“ nur we¨ nige Rechte ließ (Mason 1977). Ein Preisstopp (1936) und ein Lohnstopp (1938) setzten den Allokationsmechanismus des Marktes ganzlich außer Kraft, dieser wurde durch rigide burokratische Rege¨ ¨ lungen ersetzt. Selbst ein massiver Einsatz von Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und KZ-Haftlingen vermochte dabei die durch den ¨ Krieg entstandenen Lucken im Arbeitskrafteangebot nicht zu fullen ¨ ¨ ¨ (Spoerer 2001). Die Arbeits- und Lebensbedingungen der verbliebenen deutschen Arbeitskrafte wurden immer schlimmer, ihr Arbeits¨ einkommen stagnierte, die Anforderungen an Intensitat ¨ und Dauer der Arbeit stiegen und die Versorgungslage verschlechterte sich. Die Bundesrepublik Deutschland war ahnlich wie die DDR bei ih¨ rer Grundung mit einer durch die Kriegszerstorungen zerrutteten ¨ ¨ ¨ Wirtschaft konfrontiert. Auf dem Arbeitsmarkt gab es ein massives Überangebot an Arbeitskraften, welches durch den stetigen Zustrom ¨ von Vertriebenen und Fluchtlingen noch weiter erhoht ¨ ¨ wurde. Das Ergebnis war eine Arbeitslosenquote von uber 10 % in den 1950er¨ Jahren. Dennoch wurde im Zuge des sogenannten Wirtschaftswunders bis 1960 nahezu Vollbeschaftigung erzielt. In den 1970er-Jahren ¨ sprach man in Westdeutschland gelegentlich sogar von einer Überbeschaftigung. Die Nachfrage nach zusatzlichen Arbeitskraften ¨ ¨ ¨ wurde, nachdem dem Fluchtlingsstrom aus der DDR durch den ¨ Mauerbau 1961 ein Ende gesetzt war, durch eine erhohte Frauen¨ erwerbstatigkeit und die Anwerbung von „Gastarbeitern“ aus Sud¨ ¨ europa und der Turkei befriedigt. Die Zahl der Erwerbspersonen ¨ stieg stark an, von 22 Millionen (1950) auf 27 Millionen (1970). Die Arbeitskrafteknappheit, verstarkt durch sinkende Arbeitszeiten, fuhr¨ ¨ ¨ te außerdem zu steigenden Einkommen bei einem hohen Maß von Beschaftigungssicherheit. Der Staat hatte mit dem Stabilitatsgesetz ¨ ¨ von 1967 quasi eine Vollbeschaftigungsgarantie gegeben, und das Ar¨ beitsforderungsgesetz von 1969 sollte das Instrumentarium bereitstel¨ len, diese politische Zielvorgabe auch umzusetzen. Die Tarifparteien nutzten diese Situation, um den Beschaftigten zahlreiche Segnungen ¨ des Sozialstaates zukommen zu lassen. Die Lasten einer damals nicht erwarteten Arbeitslosigkeit wurden dem Staat und den Steuerzahlern aufgeburdet. Dass dieser Weg hohe Lohne zur Folge hatte und so die ¨ ¨ internationale Wettbewerbsfahigkeit der deutschen Wirtschaft unter¨ grub, was in den 1990er-Jahren zu einer Ruckkehr der Massen¨ arbeitslosigkeit fuhrte, wurde zunachst verdrangt. „Der kurze Traum ¨ ¨ ¨ immerwahrender Prosperitat“ ¨ ¨ (Lutz 1984) zerstob, und eine zogerli¨ che Reformpolitik wurde eingeleitet, um deren Ausgestaltung man
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Bürokratisierung des Arbeitsmarktes
Lücken im Arbeitskräfteangebot
Hohe Arbeitslosigkeit nach dem Krieg
Gastarbeiter
Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit
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Tendenz zum Normalarbeitsverhältnis
Prekäre Beschäftigung
beispielsweise im Zusammenhang mit der Agenda 2010 weiterhin heftig streitet. In den „goldenen“ 1970erund 1980er-Jahren hatte sich die im 1970 19. Jahrhundert begonnene Tendenz zu einem vielfaltig privilegierten ¨ Normalarbeitsverhaltnis weiter verstarkt. Arbeitgeber, Staat und Ge¨ ¨ werkschaften waren sich darin einig, stetig steigende Einkommen, nachhaltig sinkende Arbeitszeiten (35-Stunden Woche, 30 Tage Jahresurlaub), Kundigungsund Rationalisierungsschutz, verkurzte Le¨ ¨ bensarbeitszeit bei dynamisch steigenden Rentenbezugen und weitere ¨ Vergunstigungen seien nunmehr als normal anzusehen (Pierenkemper ¨ 2009). Diese Verhaltnisse waren allerdings einer historisch einmaligen ¨ glucklichen Situation des Arbeitsmarktes geschuldet – und damit al¨ les andere als normal – und nicht einmal fur gul¨ alle Erwerbstatigen ¨ ¨ tig. Zunachst einmal bedeutete diese Privilegierung einer Gruppe von ¨ Erwerbstatigen, dass Randbelegschaften (Leiharbeiter, unstetig Be¨ schaftigte) und Nicht-Erwerbstatige (Frauen in der stillen Reserve, ¨ ¨ Arbeitslose) einen Teil der Kosten zu tragen hatten. Daruber hinaus ¨ ließen sich im Zuge der Globalisierung diese Verhaltnisse nur fur ¨ ¨ eine immer kleiner werdende Gruppe von Beschaftigten aufrechterhal¨ ten. Die Zahl der Arbeitslosen hingegen stieg stetig an, und noch deutlicher die Zahl atypischer, prekar Vollbeschafti¨ Beschaftigter. ¨ ¨ gung und Normalarbeitsverhaltnis scheinen sich also auszuschließen. ¨ Ein Zielkonflikt zwischen Vollbeschaftigung bei flexiblem Arbeits¨ markt und Normalarbeitsverhaltnis bei Massenarbeitslosigkeit tut ¨ sich auf; entsprechende Interessensauseinandersetzungen sind in Deutschland fur ¨ die Zukunft absehbar.
3.3 Strukturen der Lohnarbeit in Deutschland
Hochgradig differenzierter Arbeitsmarkt Bedeutung des Geschlechts
Im Vorausgehenden war zumeist von dem Arbeitsmarkt die Rede. Einen solchen einheitlichen Arbeitsmarkt fur gibt es ¨ alle Beschaftigten ¨ aber gar nicht. Vielfaltige Unterschiede sind unubersehbar: die berufli¨ ¨ chen Tatigkeiten unterscheiden sich, das Alter der Menschen, die Bran¨ che, die Betriebsgroße ¨ der Unternehmen u. v. m. spielen eine Rolle. Eine bedeutsames Kriterium zur Strukturierung des Beschaftigungs¨ systems ist das Geschlecht. Frauen haben naturlich schon immer gear¨ beitet, im Durchschnitt vermutlich seit jeher mehr als Manner, aber sie ¨ arbeiteten vornehmlich in einem haushaltsbezogenen Kontext (Willms 1980). Mit der Industrialisierung sind die Chancen fur ¨ Frauen auf au-
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STRU KTUR EN DER L OHN ARBEIT I N DEU TSC HL AN D
ßerhausliche Erwerbsarbeit, d. h. vermittelt uber den Arbeitsmarkt ge¨ ¨ gen Geldlohn, deutlich gestiegen. Haus- und Heimarbeit als vormoderne Arbeitsformen fur Dieser Prozess ¨ Frauen treten dagegen zuruck. ¨ lasst sich auch an der Entwicklung der Frauenerwerbsquote in ¨ Deutschland ablesen. War Ende des 19. Jahrhunderts lediglich ein Viertel aller Frauen außerhalb des Hauses erwerbstatig (1882: 24 %) ¨ so verdoppelte sich dieser Anteil bis 2005 nahezu (42,7 %) (Statistisches Bundesamt 1972, S. 140; Institut der deutschen Wirtschaft 2007a, S. 11). Blickt man nur auf den Anteil der Frauen im erwerbsfahigen Alter, so sind inzwischen zwei von drei Frauen außerhausig ¨ ¨ erwerbstatig. Diese verstarkte Ausschopfung des weiblichen Arbeits¨ ¨ ¨ potenzials in Deutschland erfolgte jedoch nicht stetig, sondern unterlag den Konjunkturen des Arbeitsmarktes, fur ¨ den Frauen lange Zeit als „Puffer“ galten. In der Wirtschaftskrise nach 1929 sank deren Beteiligung am Erwerbsleben wieder, in der NS-Rustungswirtschaft wur¨ den sie verstarkt eingesetzt, in der Nachkriegszeit dann wieder weni¨ ger. Der Boom der 1960er-Jahre brachte schließlich den endgultigen ¨ Durchbruch zu einer umfassenden Frauenerwerbstatigkeit. ¨ Als wichtige Determinante fur ¨ die Einbeziehung von Frauen in außerhausliche Erwerbsarbeit erweist sich ihr Familienstand. Ledige Frauen ¨ waren, der Not gehorchend, auch im 19. Jahrhundert bereits in erheblichem Umfang erwerbstatig, verheiratete Frauen weit weniger. Diese ar¨ beiteten allerdings haufig im Familienkontext als mithelfende Familien¨ angehorige, z. B. im Handwerk, im Ladengeschaft ¨ ¨ oder im bauerlichen ¨ Betrieb. Dort wurden sie selten uberhaupt als Erwerbstatige wahr¨ ¨ genommen, und auch die amtliche Statistik wendet ihnen erst seit 1907 Aufmerksamkeit zu. Frauen, die außerhalb des Hauses erwerbstatig ¨ waren, arbeiteten in der Regel in nur wenigen Beschaftigungsbereichen ¨ (Stockmann 1985). Zunachst waren ledige Frauen vor allem als Dienst¨ madchen in burgerlichen Haushalten, als ungelernte Arbeiterinnen in ¨ ¨ Industrie und Landwirtschaft, spater auch als Verkauferinnen und Bu¨ ¨ ¨ rohilfskrafte beschaftigt. Verheiratete Frauen arbeiteten uberwiegend ¨ ¨ ¨ als Arbeiterinnen der Industrie oder Selbststandige im Kleinhandel. Das ¨ Beschaftigungssystem zeigte daher ein hohes Maß an geschlechtsspezi¨ fischer Segregation (Entmischung). Zwischen 1882 und 1933 war die uberwiegende Mehrheit der weiblichen Bevolkerung (70 bis 80 %) in ¨ ¨ nicht mehr als funf namlich Nahrung und Genuss, ¨ Branchen beschaftigt, ¨ ¨ Bekleidung, Textil, Handel sowie Gaststatten und Beherbergung. Es bil¨ deten sich typische Frauenbranchen mit sogenannten Frauenberufen heraus. In neuerer Zeit sind zu diesen Branchen zwei weitere, Gesundheit und Hygiene sowie Erziehung, hinzugekommen. Von einer gleichbe-
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Verstärkte Nutzung weiblichen Erwerbspotenzials
Familienstand als Determinante
Geschlechtsspezifische Segregation
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Kinderarbeit
Arbeitende Kinder Landwirtschaft und Heimgewerbe
Wachsende Jugendarbeitslosigkeit
Branche und Betriebsgröße
rechtigten Entwicklung von Frauen im Berufs- und Erwerbsleben ist man in der Bundesrepublik aber weiterhin deutlich entfernt. In vormodernen Zeiten waren auch Kinder in vielfaltiger Weise in ¨ das Arbeitsleben eingebunden. Eine wohldefinierte Kindheit als altersbedingter Schutzraum kindlicher Entwicklung war lange Zeit weitgehend unbekannt (Arie`s 1975). In der fruhen Industrialisierung ¨ war Kinderarbeit auch in den Fabriken verbreitet. Kinder arbeiteten zu deutlich geringeren Lohnen und waren leichter zu disziplinieren ¨ als Erwachsene. Der genaue Umfang der Kinderarbeit in dieser Phase ist nur schwer abzuschatzen. Haufig wird er aber auch uberschatzt, ¨ ¨ ¨ ¨ es handelte sich keinesfalls um ein Massenphanomen (Ritter / Tenfel¨ de 1992, S. 198–202). Dies ist nicht nur auf gesetzliche Vorschriften 2 (> KAPITEL 3.2) zuruckzufuhren. Auch die qualifikatorischen Anforde¨ ¨ rungen der Industriearbeit setzten dem Einsatz von Kindern Grenzen. Die scharfere Kontrolle der Schulpflicht wirkte in die gleiche Rich¨ tung, und wachsende Familieneinkommen minderten ebenfalls den Druck auf die Familien, ihre Kinder arbeiten zu lassen. Fur ¨ Preußen wird die Anzahl der Fabrikkinder in den 1840er-Jahren auf etwa 30 000 geschatzt. Sie waren vor allem in jenen Wirt¨ schaftsbereichen zu finden, die sich bereits im Abschwung befanden, z. B. im Textilgewerbe. Wichtiger als fur ¨ die Fabriken war Kinderarbeit im Heimgewerbe und in der Landwirtschaft. Dort war die Mitarbeit von Kindern bei Arbeitsspitzen (z. B. wahrend der Ernte) ¨ lange Zeit ublich und wurde kaum problematisiert. Naturlich waren ¨ ¨ Kinder in den Haushalten der Bauern und Heimgewerbetreibenden nicht vollberuflich tatig, ihre Mitarbeit beschrankte sich zumeist auf ¨ ¨ einige Stunden am Tag (Feldenkirchen 1981). Im 20. Jahrhundert war das Problem der Kinderarbeit weit weniger brisant als zuvor. Im Gegenteil kehrte sich das Problem gelegentlich gar um, wenn etwa in Krisenzeiten von wachsender Jugendarbeitslosigkeit die Rede war. Aber nicht nur Geschlecht und Alter determinieren Chancen am Arbeitsmarkt und die Beschaftigungsstruktur. Ein wichtiger Faktor ¨ sind berufliche Qualifikationen (> KAPITEL 4). Als letztes strukturierendes Element des Beschaftigungssystems soll daher kurz auf die Be¨ deutung von Branche und Betriebsgroße ¨ eingegangen werden. Bereits seit dem 19. Jahrhundert haben die neu entstehenden Großbetriebe, zunachst der Textil- und Montanindustrie, spater auch der elektro¨ ¨ technischen und chemischen Industrie, durch den Aufbau einer Stammbelegschaft versucht, sich von den Veranderungen des betrieb¨ sexternen Arbeitsmarktes unabhangig zu machen. Das war deshalb ¨ nutzlich und notig, weil das Beschaftigungssystem der fruhen Indus¨ ¨ ¨ ¨
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FRAG EN UND LEK TÜR EEMPFEH LUNGEN
trialisierung von einer außerordentlich hohen Flexibilitat ¨ gepragt ¨ war. Fluktuationsraten zwischen 50 und 100 %, d. h. ein weitgehender Austausch der Beschaftigten im Laufe eines Jahres, waren keine ¨ Seltenheit. Qualifizierte Fachkrafte waren allerdings, auch bei einem ¨ generellen Überangebot an Arbeitskraften, außerst knapp. Durch er¨ ¨ hohte Beschaftigungssicherheit, Anreize verschiedener Art und hohe¨ ¨ ¨ re Lohne (Effizienzlohne) wurde daher versucht, Fachkrafte mit be¨ ¨ ¨ triebsbezogener Qualifikation fur Zeit zu binden. Die Folge ¨ langere ¨ war die Entstehung quasi betrieblicher Arbeitsmarkte (Pierenkemper ¨ 1981), in denen Eintritt, Qualifikation, Aufstieg und Gratifikation durch bestimmte betriebliche Regeln bestimmt wurden. Auf diese Weite gewann das jeweilige Unternehmen ein gewisses Maß an Unabhangigkeit von den Entwicklungen auf dem allgemeinen Arbeits¨ markt. Naturlich galten diese Regelungen nur fur ¨ ¨ einen kleinen Teil der Arbeiterschaft, die „Arbeiteraristokratie“, und fur ¨ Teile der Angestellten, nicht fur ¨ die gesamte Belegschaft.
Quasi betriebliche Arbeitsmärkte
Fragen und Anregungen • Überlegen Sie, seit wann Arbeitsmarkte fur ¨ ¨ die Allokation menschlicher Arbeit bestimmend werden und ob sie heute in der modernen Volkswirtschaft uberall wirksam sind. ¨ • Vergleichen Sie die Beschaftigungsstruktur einer Agrargesellschaft ¨ mit der einer Industriegesellschaft. Wo lassen sich heute auf der Erde Beispiele fur ¨ diese beiden Gesellschaftstypen finden? • Kinderarbeit ist in modernen Volkswirtschaften weitgehend obsolet – uberlegen Sie, ob das uberall in der Welt so ist und ob es auch bei ¨ ¨ der Frauenarbeit Unterschiede in verschiedenen Gesellschaften gibt?
Lektüreempfehlungen • Leonhard Bauer / Herbert Matis: Geburt der Neuzeit. Vom Feudalsystem zur Marktgesellschaft, Munchen ¨ 1989. Untersuchung des gesellschaftlichen Wandels, der zur Entstehung der modernen Volkswirtschaft fuhrt. ¨
Übersichten
• Robert Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000. Eine allgemeine Gesellschaftsanalyse, aufbauend auf dem Formenwandel der Arbeit in der Neuzeit.
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AR B E I T U ND LOH NA RB E I T
¨ • Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und okono¨ mische Ursprunge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, (1. Auflage 1944) Wien 1977. Grundlegende Analyse der Entstehung und Entfaltung von Marktgesellschaften, auch des Arbeitsmarktes. Forschung
• Dietrich Freiburghaus / Gunther Schmid: Theorie der Segmentie¨ rung von Arbeitsmarkten. Darstellung und Kritik neuerer Ansatze ¨ ¨ mit besonderer Berucksichtigung arbeitsmarktpolitischer Kon¨ sequenzen, in: Leviathan. Zeitschrift fur ¨ Sozialwissenschaft 3, 1975, Heft 3, S. 417–448. Auseinandersetzung mit Ansatzen, die 4 ¨ die Homogenitatsannahme von Arbeitsmarkten aufgegeben haben ¨ ¨ und einen differenzierteren Zugang suchen. • Jurgen Kocka / Claus Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Ar¨ beit, Frankfurt a. M. 2000. Aktuelle Zusammenstellung von Ansatzen, die sich den Problemen von Arbeit und Arbeitsmarkten in ¨ ¨ historischer Perspektive nahern. ¨ • Toni Pierenkemper: Historische Arbeitsmarktforschung. Voruber¨ legungen zu einem Forschungsprogramm, in: ders. / Richard Tilly (Hg.), Historische Arbeitsmarktforschung. Entstehung, Entwicklung und Probleme der Vermarktung von Arbeitskraft, Gottingen ¨ 1982, S. 9–36. Beschreibung der Moglichkeiten einer historischen ¨ Perspektive auf das Arbeitsmarktgeschehen.
Handbücher / Lexika
• Jurgen Kuczynski: Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Ka¨ pitalismus, 40 Bande, Berlin 1961ff. Insbesondere Band 1 bis 4: ¨ Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland. • Gerhard A. Ritter (Hg.): Geschichte der Arbeiter und der Arbeitsbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 14 Bde., Bonn 1990ff. Ambitionierte Reihe, in der zahlreiche renommierte Autoren die Geschichte der Arbeit in der modernen Industriegesellschaft seit dem 18. Jahrhundert nachzeichnen. Beginnend mit Band 1 von Jurgen Kocka: Weder Stand noch Klasse ¨ (1990) bis zum mittlerweile erschienenen Band 14 von Christoph Kleßmann: Arbeiter im „Arbeiterstaat“ DDR (2007). • Frans van der Ven: Sozialgeschichte der Arbeit, 3 Bande, Munchen ¨ ¨ 1971 / 72. Umfassende allgemeinverstandliche Darstellung zum ¨ Thema Arbeit von der Antike bis ins 20. Jahrhundert.
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4 Wissen und Können
Gegen den Andrang zur Universitat ¨ Nachdem Se. Königl. Majestät in Preußen u. s. w. Unser allergnädigster König und Herr erwogen, was gestalt bereits von vielen Zeiten her geklagt worden, daß die Studia in allen Fakultäten dadurch in Abgang und fast in Verachtung gerathen, weilen ein jeder bis auf Handwerker und Bauern seine Söhne ohne Unterschied der Ingeniorum und Capacität studiren und auf Universitäten und hohen Schulen sumptibus publicis unterhalten lassen will, da doch dem Publico und gemeinen Wesen vielmehr daran gelegen, wann dergleichen zu denen Studiis unfähige Ingenia bei Manufacturen, Handwerkern und der Militz, ja gar bei dem Ackerbau nach eines jeden Condition und natürlicher Zuneigung angewendet, und sie dergestalt ihres Lebens Unterhalt zu verdienen unterwiesen würden. Als seynd Se. Königl. Majestät aus Landesväterlichen treuer Vorsorge veranlasset worden, dahin bedacht zu seyn, welcher gestalt solchen Inconvenientzien remediret, die Studia in vorigen Werth gebracht und das Commodum publicum befördert werden möge, zu welchem Ende Se. Königl. Majestät hiermit und Kraft dieses verordnen, auch zugleich allen und jeden Magisträten in Städten und fürnehmlich denjenigen, sowohl Geistlichen als Weltlichen, welchen die Aufsicht der Schulen anvertraut ist, allergnädigst und ernstlich anbefehlen auf die Jugend in selbigen fleißig acht zu haben, solche selbsten zum öftern zu visitiren, unter denen Ingeniis, welche zu denen Studiis sich wohl anlassen und von ihrer Fähigkeit gute Proben geben, einen Selectum zu machen, und diesen zwar in ihrem Zweck beförderlich zu sein, diejenigen aber, welche entweder wegen Stupidität, Trägheit oder Mangel des Lustes und Triebes, oder auch anderen Ursachen zum Studiren unfähig seynd, in Zeiten davon ab und zur Erlernung einer Manufactur, Handwerks oder anderen redlichen Profession anzuweisen, selbige auch nicht weiter, als fürnemlich in dem wahren Christenthum und Fundament der Gottesfurcht, dann auch im Lesen, Schreiben und Rechnen unterweisen und informiren zu lassen, damit nicht, wie es sich wohl zuträget, Schüler von 20 bis 30 Jahren dem Publico und ihnen selbst zur Last, und den Informatoren zur Verkleinerung erfunden werden mögen. Hieran geschiehet Unser ernstlicher Wille und Meynung. Signatum Charlottenburg, den 25. Aug. 1708.
Friedrich (Gegz.) Graf von Wartenberg. Abbildung 10: Erlass des preußischen Konigs ¨ Friedrich I. (1708)
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WI SSEN UN D KÖN NEN
Die verzweifelten Bemuhungen des preußischen Konigs Friedrich I. ¨ ¨ zu Beginn des 18. Jahrhunderts um die Sicherung und okonomische ¨ Konsolidierung des preußischen Staates schlossen in merkantilistischer Manier auch die Bildungspolitik ein. Neben der Durchsetzung einer allgemeinen Schulpflicht bezogen sie sich auch auf das Hochschulwesen. Konig Friedrich I. beklagte sich besonders uber die Ver¨ ¨ geudung von Ressourcen durch die ubermaßig hohe Zahl von Stu¨ ¨ denten in seinem Konigreich. An den Universitaten schienen ihm nur ¨ ¨ unnutze Dinge vermittelt zu werden, die die jungen Leute von einer ¨ nutzlichen Tatigkeit fernhielten. Um das „commodum publicum“, ¨ ¨ das Gemeinwohl zu fordern, schien ihm eine sorgfaltige Vorbereitung ¨ ¨ und Selektion fur ¨ den Hochschulzugang geboten, um „Stupiditat, ¨ Tragheit oder Mangel des Lustes und Triebes“ vorab als Ausschluss¨ kriterium zu bestimmen und den jungen Leuten die „Erlernung einer Manufactur, Handwerks oder anderen redlichen Profession“ anzuempfehlen. Eine „nutzlose“ Alimentierung von Studenten wollte der Konig offenbar dringend vermeiden. ¨ Die Sorge des preußischen Konigs um die effiziente Nutzung der Ar¨ beitskraft seiner Untertanen war durchaus berechtigt, und die Frage der Qualitat ¨ und der Effizienz der gesellschaftlichen Arbeit bildet bis heute ein zentrales Problem jeder Volkswirtschaft. Dabei wird immer wieder auf die Wichtigkeit von Bildungsinvestitionen als Voraussetzung des modernen Wirtschaftwachstums verwiesen. Die genaue Funktion von Bildung erscheint dabei jedoch widerspruchlich. Dient ¨ sie allein der Vervollkommnung des Menschen, wie dies im klassischen Bildungsideal umschrieben wird, so handelt es sich, okono¨ misch gesprochen, um ein Konsumgut: Bildungsaufwendungen dieser Art fließen ausschließlich in den privaten Verbrauch. Dient die Bildung jedoch auch „nutzlichen“ Zwecken, d. h. wird dadurch die Ar¨ beitsleistung und die Arbeitsfahigkeit von Menschen verbessert, so ¨ ist sie okonomisch betrachtet durchaus als Investition anzusehen: sie ¨ fordert die Bildung von Humankapital und stellt so einen wichtigen ¨ Produktionsfaktor dar. Es stellt sich also vorderhand die Frage, wie viel und vor allem welche Bildung sich eine Gesellschaft leisten kann und will, wenn sie auf den „Nutzen“ von Bildung schaut.
4.1 Wissen als Produktivkraft 4.2 Wissensgesellschaft und Wissensökonomie 4.3 Erträge des Wissens
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WIS SEN A LS PRODUKT IVK RA FT
4.1 Wissen als Produktivkraft Die Tatsache, dass Bildung, d. h. das Ergebnis der gesellschaftlichen Aufwendungen fur ¨ Erziehung und Ausbildung der Kinder und Jugendlichen, auch als Investition zu betrachten ist, hat sich in den Wirtschaftswissenschaften erst in den 1950er-Jahren auf breiter Basis Anerkennung verschafft. Die Bildungsokonomie entstand als eine ¨ wirtschaftswissenschaftliche Teildisziplin. Sie widmete sich insbesondere der Untersuchung gesellschaftlicher Bildungsinvestitionen und dem Umfang und der Akkumulation des sogenannten Humankapitals. Dieses wurde dem Sachkapital als wesentlichem Produktionsfaktor gleichbedeutend zur Seite gestellt. Naturlich haben auch die ¨ klassischen Ökonomen dieses Phanomen und seine Bedeutung bereits ¨ erkannt, doch gelang es ihnen noch nicht, diesen Sachverhalt umfassend in ihre okonomische Analyse zu integrieren (Borchardt 1965, ¨ S. 380–392). 3 Bereits der schottische Ökonom und Begrunder der klassischen ¨ Volkswirtschaftslehre Adam Smith hatte in seinem grundlegenden Werk Der Wohlstand der Nationen (1776) darauf hingewiesen, dass der okonomische Fortschritt nicht nur durch eine wachsende Arbeits¨ teilung zu erzielen war, sondern auch eine bessere Nutzung von Wissen einschließt. Der deutsch-russische Wirtschaftswissenschaftler Heinrich von Storch entwickelte gar eine Konzeption „innerer Guter“ ¨ (1818), in der „unkorperliche Arbeit“ und Dienstleitungen fur ¨ ¨ investive Zwecke eine große Rolle spielen. Auch der deutsche Wirtschaftstheoretiker Friedrich List schrieb in seinem Werk Das nationale System der politischen Ökonomie von 1841 der gehobenen Ausbildung eine große Bedeutung fur ¨ die Produktivitat ¨ der Arbeit zu. Ein halbes Jahrhundert spater bezeichnete der britische Ökonom Alfred Mar¨ shall in seinen Principles of Economics (1890) Wissen gar als die kraftvollste Produktionsmaschine. Ernst Engel, der bedeutende preußische Statistiker, hatte bereits 1883 umfangreiche empirische Untersuchungen uber das Bildungswesen im internationalen Vergleich un¨ ternommen und dabei auch den Versuch gemacht, den „Ertragswert“ des Menschen quantitativ zu bestimmen (Engel 1883). Diese Arbeiten ¨ kann man durchaus als den Beginn der modernen Bildungsokonomie ¨ bezeichnen, auch wenn sie damals noch keinen Eingang in die okono¨ mische Theoriebildung fanden (Helmstadter 2006). ¨ ¨ die Vernachlassigung ¨ Wesentliche Grunde fur des Wissens im Rah¨ ¨ men der okonomischen Theorie mogen neben der offensichtlichen ¨ die industriellen GroßBedeutung von Sachkapitalinvestitionen fur
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Bildungsökonomie
„Wissen“ in der historischen Literatur
WI SSEN UN D KÖN NEN
Abstraktes und konkretes Wissen
Rückkopplungen von abstraktem und konkretem Wissen
Technischer Fortschritt
unternehmen darin gelegen haben, dass Wissen als mehrdimensionales Phanomen sowohl theoretisch schwer zu fassen als auch empi¨ risch schwierig zu messen ist. Wie schon Friedrich I. im Eingangszitat bemerkte, ist Bildung bzw. Wissen mindestens in zwei Formen vorfindbar: Zum einen in einer eher abstrakten Form, als Wissensbestand der Gesellschaft, der in allen moglichen Formen (Kunst, Wissenschaft, Vergnugen u. a.) ¨ ¨ ¨ seinen Ausdruck findet, zum anderen in einer konkreten, „nutzlichen“ ¨ Form als Voraussetzung der Steigerung der Effizienz des bestehenden Produktionssystems, als technisches Wissen. Beide Formen des Wissens lassen sich aber in der Praxis nicht sauber voneinander trennen, sondern sind in vielfaltiger Weise miteinander verknupft (Mokyr ¨ ¨ 2002). Einerseits bauen die in der Praxis genutzten Techniken auf der abstrakten Wissensbasis einer Gesellschaft auf. So kann man darauf vertrauen, dass die Chance, konkret anwendbares Wissen zu entwickeln, mit dem Umfang der abstrakten Wissensbasis steigt. Doch dieser Zusammenhang ist nicht zwingend. Es finden sich viele Beispiele dafur, ¨ dass potenziell nutzbares abstraktes Wissen nicht genutzt wurde, z. B. weil der Forscher seiner Zeit voraus war. Andererseits ist es auch so, dass praktisch angewandtes Wissen zu einer Ausweitung der Wissensbasis einer Gesellschaft beitragt, also ¨ auch das abstrakte Wissen vermehrt. Die zahlreichen praktischen Erfindungen im Zuge der industriellen Revolution in England haben auch den Wissensbestand der englischen Volkswirtschaft, der bis dahin als eher gering anzusehen war, entscheidend befordert. Eine posi¨ tive Ruckkopplung von konkretem und abstraktem Wissen wurde so ¨ in Gang gesetzt und der Wissensbestand der gesamten Gesellschaft deutlich vermehrt. Auch wenn beide eng verwoben sind, so bleibt doch die Unterscheidung von abstraktem und konkretem Wissen, oder zwischen ¨ „Wissen“ (Knowledge) und „Konnen“ (Know-How), von entschei¨ die okonomische ¨ dender Bedeutung fur Analyse von Wissen und Bildung (Machlup 1980, S. XIII). Nur angewandtes Wissen vermag eine stetige Wohlfahrtsmehrung zu bewerkstelligen und damit das Er¨ diesem Gesetz fuhrt ¨ tragsgesetz außer Kraft zu setzen. Gemaß der vermehrte Einsatz von traditionellen Produktionsfaktoren zwar zu ¨ ¨ weiteren Ertragen, aber je großer der Faktoreinsatz wird, desto klei¨ ¨ (Grenzertrage). ¨ Ertrage Allein durch stener werden die zusatzlichen tigen technischen Fortschritt vermag eine Gesellschaft dieses Gesetz ¨ zu uberwinden ¨ ¨ abnehmender Grenzertrage und moglicherweise kons¨ zu realisieren (> KAPITEL 6). tante oder gar steigende Grenzertrage
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WIS SEN A LS PRODUKT IVK RA FT
Die Generierung von Wissen und die Nutzung dieses Wissens als technischen Fortschritt im Produktionsprozess sind also wichtige Bestandteile des modernen Wirtschaftswachstums. Innovationen vielfal¨ tiger Art, insbesondere technische Neuerungen, werden so zum Motor stetigen Wachstums. Die moderne Volkswirtschaft wachst damit ¨ in erster Linie nicht extensiv durch eine stetige Ausweitung des Faktoreinsatzes, sondern vornehmlich intensiv durch eine effektivere Nutzung vorhandener Faktoren auf der Basis eines verbreiterten Wissensbestandes. Dieser wird vor allem erreicht durch Investitionen in die Bildung, d. h. in die Qualitat ¨ des Faktors Arbeit. Zu diesem Zweck sind zahlreiche Institutionen geschaffen worden (Universita¨ ten, Forschungseinrichtungen u. a.), die einen zunehmenden Anteil ¨ der okonomischen Ressourcen benotigen. ¨ ¨ Die okonomische Theorie, insbesondere die Wachstumstheorie, ¨ hat mittlerweile diesen Zusammenhang auch modelltheoretisch zu erfassen versucht. Die in den 1950er-Jahren entstandene und auf den US-amerikanischen Ökonomen Robert M. Solow („Solow-Modell“) zuruckgehende neoklassische Wachstumstheorie hatte dabei zunachst ¨ ¨ den Wissensstand einer Gesellschaft noch als gegeben angenommen und in die Randbedingungen der okonomischen Analyse verwiesen. ¨ So ließ sich die Wirkung des technischen Fortschritts als Residualgro¨ ße lediglich exogen, als Restgroße unbekannter Herkunft, bestim¨ men, wie bereits fruh ¨ mit Hinweis auf die Bedeutung des Wissens kritisch angemerkt wurde (Hayek 1945). Der Teil des gesamtwirtschaftlichen Wachstums, der nicht durch eine Erhohung der Faktor¨ einsatzmengen zu erklaren war, wurde dem technischen Fortschritt ¨ als unerklarter Rest zugeschrieben, der gleichsam „wie Manna“ vom ¨ Himmel fiel. Erst in jungerer Zeit wurde versucht, diesen wenig zu¨ frieden stellenden Sachverhalt im Rahmen der „neuen“ Wachstumstheorie (Romer 1986) dadurch zu beheben, dass man den technischen Fortschritt endogenisiert, d. h. in den Analysezusammenhang mit einbezieht. Das geschieht in der einfachsten Weise, indem man neben der Kapitalakkumulation auch die Akkumulation von Humankapital in der Beschreibung der Produktionsentwicklung beruck¨ sichtigt. In der Regel nimmt man eine historisch gewonnene fixe Wachstumsrate des Humankapitals an, deren Determinanten zu spezifizieren waren. ¨
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Innovation als Wachstumsmotor
Wachstumstheorie
Endogenisierung des technischen Fortschritts
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4.2 Wissensgesellschaft und Wissensökonomie
Produktionsfaktoren
Wissen als Produktionsfaktor
Wissensgesellschaft
Wenn eine makrookonomische Produktionsfunktion als analytisches ¨ Instrument dazu geeignet sein soll, die gesamtwirtschaftliche Produktion als Ergebnis eines Systems produktiver Faktoren zu beschreiben, so bleibt die Aufgabe, Zahl, Art und Umfang der Produktionsfaktoren genauer zu bestimmen. Die klassischen Ökonomen waren sich weitgehend daruber einig, dass es drei zentrale Produktionsfaktoren ¨ gabe: Boden, Arbeit und Kapital. Doch diese klassische Dreiteilung ¨ war und blieb immer umstritten. Sahen z. B. die Physiokraten im Boden den alleinigen und ausschließlichen Werte schaffenden Produktionsfaktor, so begrenzten die Neoklassiker die Zahl der maßgeblichen Faktoren auf lediglich zwei: Arbeit und Kapital. Gelegentlich finden sich Vorschlage, auch Arbeitsteilung oder Außenwirtschaft als ¨ eigenstandige, Werte schaffende Krafte in die Liste der Produktions¨ ¨ faktoren einzufugen. Insgesamt bleibt festzustellen, dass eine formali¨ sierte Beschreibung des gesamtwirtschaftlichen Produktionszusammenhanges lediglich eine Konvention darstellt, die dem Erklarungs¨ zusammenhang adaquat sein muss. Deshalb spricht nichts dagegen, ¨ in aktuellen Modellierungen Wissen als eigenstandigen Produktions¨ faktor zu berucksichtigen. ¨ Die Benennung unserer modernen Gesellschaft als Wissensgesellschaft oder Wissensokonomie ruckt diesen Zusammenhang in den ¨ ¨ Vordergrund (Stehr 1994). Damit ist gemeint, dass erstens in der modernen Ökonomie der Ertrag der traditionellen Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital gegenuber den Ertragen des Wissens im¨ ¨ mer weiter zurucktritt, d. h. die Rentabilitat ¨ ¨ von Bildungsinvestitionen uberdurchschnittlich ist. Das hat zweitens zur Folge, dass in ei¨ ner derartigen Gesellschaft Wissen mehr als Arbeit und Eigentum okonomische Aktivitaten und soziale Chancen bestimmt. Drittens ist ¨ ¨ festzuhalten, dass eine Entwicklung hin zur Vorherrschaft des Wissens als bedeutendster Produktivkraft sich als ein nur allmahlich fort¨ schreitender Prozess vollzieht und zudem auch an weitere Kapitalakkumulation gebunden ist. Letztlich und viertens erweist es sich, dass der Einfluss von Kultur auf das wirtschaftliche Geschehen stetig zunimmt, je weiter der Prozess der Wissensakkumulation voranschreitet (Stehr / Bohme 1986). ¨ Wissensgesellschaft in diesem umfassenden Sinne ist damit weit mehr als nur eine Wissensokonomie. Sie umfasst alle Bereiche der ¨ Gesellschaft und nicht nur die der gesellschaftlichen Produktion. Sie uberwindet die reine Industriegesellschaft und entwickelt sich zu ei¨
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ner Gesellschaft, die man als postindustriell bezeichnen kann. Dieser Gesellschaftsentwurf war ursprunglich von dem US-amerikanischen ¨ Soziologen Daniel Bell (1973) als Kritik an der Sektortheorie formuliert worden, in der er eine zwangslaufige Entwicklung von der ¨ Agrar-, uber die Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft postuliert. ¨ In der postindustriellen Gesellschaft werde die Bedeutung der Ökonomie insgesamt zuruckgedrangt, weil Wissen an die Stelle der bis ¨ ¨ dahin dominierenden okonomischen Potenzen treten und zwangslau¨ ¨ fig daraus ein Überwiegen von Dienstleistungen gegenuber der Pro¨ duktion resultieren werde. Daraus ergaben sich, so die Vertreter ¨ dieses Ansatzes, zweierlei Konsequenzen: Einerseits werde der technische Wandel weitestgehend durch die Wissenschaft als dem prima¨ ren Produzenten neuen Wissens gepragt, andererseits werde sich die ¨ Form der erbrachten Dienstleistungen entscheidend verandern. Nicht ¨ mehr einfache, personliche und haushaltsbezogene Dienstleistungen ¨ oder Transportdienstleistungen wurden dominieren, sondern aka¨ neue Berufe (z. B. demisch begrundete Dienste (> KAPITEL 9). Ganzlich ¨ ¨ in Beratung und Gestaltung) konnten hervortreten und eine neue ¨ Klasse von „Dienstleistungsarbeitern“ entstehen lassen – mit allen Konsequenzen fur in der Sozialstruktur. Die ¨ die Veranderungen ¨ „Knowledge-Society“ (Lane 1966) uberwindet also die Vorstellung ¨ von Wissenschaft als untergeordnetem Subsystem der Gesellschaft und weist ihr eine dominante, allen ubrigen Systemen ubergeordnete ¨ ¨ Rolle zu. Aus okonomischer Sicht ist an der Knowledge-Society vor allem ¨ von Bedeutung, dass neben der gesellschaftlich strukturierenden Funktion von Wissen auch seine Produktivkraft nochmals unterstrichen wird. Das Wissen ersetzt quasi den Faktor Boden in der klassischen Produktionsfunktion, sodass in der modernen Volkswirtschaft Kapital, Arbeit und Wissen entscheidend den gesamtwirtschaftlichen Ertrag determinieren. Nicht zufallig tragt ¨ ¨ eines der wichtigen Werke zum Thema den Titel Arbeit, Eigentum, Wissen (Stehr 1994). Der Produktionsfaktor Wissen erbringt hohe Ertrage, weil die Wissens¨ produktion im Rahmen der Wissenschaften mit hoher Intensitat ¨ betrieben wird. Wissen in diesem umfassenden Sinne bedeutet aber nicht nur wis¨ senschaftlich gewonnenes Wissen. Wissen als Fahigkeit zum sozialen Handeln verstanden (Stehr) impliziert vielmehr mehr als nur ¨ ¨ Knowledge, sondern auch Know-How, „Konnen“, und daruber hi¨ naus soziale Kompetenz. Ein erweitertes Verstandnis von Wissen ist hier unterstellt, also konkretes Wissen der Praxis eingeschlossen. Um-
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Postindustrielle Gesellschaft
Rolle der Wissenschaft
„Knowledge-Society“
Produktionsfaktor „Wissen“ ist hochproduktiv
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Gesellschaftliche Arbeitsteilung
Wurzeln der modernen Wissensgesellschaft
Universitäten
Aufschwung der Naturwissenschaften
fang und Verfugbarkeit dieser beiden Dimensionen gesellschaftlichen ¨ Wissens, Knowledge und Know-How, hangen nun wiederum vom ¨ Entwicklungsstand einer Gesellschaft ab und sind damit ruckgekop¨ pelt mit der gesellschaftlichen Entwicklung und dem okonomischen ¨ Strukturwandel. Ein zweiter Sachverhalt der Wissensgesellschaft erscheint, neben der Bedeutung von Wissen als Produktivkraft, okonomisch ebenfalls ¨ als außerordentlich relevant: die Bedeutung des Wissens fur ¨ die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Das Entstehen einer neuen Arbeiterklasse der Dienstleistungsarbeiter lasst neue Formen der Arbeit in ¨ der Wissensgesellschaft deutlich hervortreten. Experten, Berater, Ratgeber und andere Gruppen formieren eine „neue Elite“ (Bell 1973) der auf Wissen basierenden Berufe der „Wissensdienstleister“. Ihre Aufgaben gehen haufig weit uber die bloße Vermittlung von Dienst¨ ¨ leistungen hinaus und beziehen z. B. die Mediation von Interessenkonflikten, die Organisation neuer Aufgaben oder die Innovation von Neuerungen mit ein. Das liegt z. T. daran, dass komplexes Wissen nur selten selbstverstandlich, sondern haufig erklarungsund in¨ ¨ ¨ terpretationsbedurftig ist. Die Implementierung neuen Wissens, wie ¨ auch eine Neukombination vorhandenen Wissens, stellt einen stetigen, beratungsbedurftigen Prozess dar. ¨ Blickt man auf die historische Entwicklung in Deutschland zuruck, so finden sich die Wurzeln der modernen Wissensgesellschaft ¨ spatestens im 19. Jahrhundert. Auch hier hat die Industrialisierung ¨ wesentlich zum Ausbau bestehender und zur Begrundung neuer Insti¨ tutionen der Wissensproduktion beigetragen. Die deutschen Universitaten waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch stark geisteswis¨ senschaftlich gepragt. Die Humboldtsche Bildungsreform um 1810 ¨ verstarkte diese Orientierung, die z. B. im Aufstieg der Geschichts¨ wissenschaft ihren Ausdruck fand. Erst ab den 1840er-Jahren ließ sich auch in Deutschland ein Aufschwung der exakten Wissenschaften bzw. der Naturwissenschaften beobachten. In Frankreich und England hatte diese Entwicklung schon fruher eingesetzt. Die neuen ¨ experimentellen Methoden, verbunden mit einer exakteren Messtechnik, den systematischen Fragen und theoretisch begrundeten Erkla¨ ¨ rungsversuchen, waren in der Chemie besonders erfolgreich. 1824 errichtete Justus von Liebig in Gießen ein zukunftsweisendes Forschungslabor, Otto Linne´ Erdmann experimentierte seit 1831 in Leipzig, Friedrich Wohler seit 1836 in Gottingen und Robert Wil¨ ¨ helm Bunsen seit 1839 in Kassel und Marburg. Die Pharmaforschung wurde außerhalb der Universitaten durch Apotheker voran¨
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getrieben (Heinrich Emanuel Merck, Carl Remigius Fresenius, Johann Bartholomaus Trommsdorff). Im Rahmen dieser fruhen che¨ ¨ mischen Forschungen entwickelten sich an deutschen Universitaten ¨ zwei zukunftsweisende Wissenschaftsprinzipien, die Einheit von Forschung und Lehre sowie ihre Freiheit in Bezug auf Obrigkeit und Wirtschaftsinteressen. Preis dieses elitaren Wissenschaftsverstandnis¨ ¨ ses waren Praxisferne und Mangel an technischer Umsetzung. Aus dieser Erfahrung heraus versuchte eine Reihe deutscher Staaten sehr bald starker praxisorientierte Ausbildungsstatten wissen¨ ¨ schaftlicher Art zu grunden. Sie konnten dabei an zahlreiche Schulen ¨ des Bau- und Bergwesens, an Veterinarkollegs u. a. und ¨ ¨ anknupfen ¨ hatten mit der 1794 in Paris geschaffenen „E´cole Politechnique“ und den daran orientierten Grundungen Politechnischer Institute in Prag ¨ (1806) und Wien (1815) glanzende Vorbilder vor Augen. Diesen ¨ folgte in Baden als erste 1825 die Karlsruher Polytechnische Schule als Fusion einer bestehenden Bau- und einer Ingenieurschule. Nur ein Jahr spater folgte Sachsen mit einer Grundung in Dresden, 1827 ¨ ¨ Munchen, 1828 Stuttgart, sodass bis 1910 in Deutschland insgesamt ¨ elf Technische Hochschulen entstanden waren. Bei diesen Grundun¨ gen standen von Anfang an gewerblich industrielle Interessen im Vordergrund, die auch regionale Sonderinteressen (wie z. B. bei der Grundung der TH Aachen 1874 die Interessen der rheinisch-westfali¨ ¨ schen Schwerindustrie) mit berucksichtigten. Eine starkere wissen¨ ¨ schaftliche Orientierung der Technischen Hochschulen vollzog sich erst im Zuge ihres Ausbaus und fand z. B. in der Verleihung des Promotionsrechts 1899 ihren Ausdruck. Auch vielfaltige private Initiativen forderten im 19. Jahrhundert ¨ ¨ eine Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und damit die Entstehung einer Wissenschaftslandschaft in Deutschland. Private Vereine, Stiftungen und wissenschaftliche Gesellschaften wurden hier in vielfaltiger Weise aktiv. Sie verfolgten im weitesten Sinne gemeinnutzige ¨ ¨ Ziele, aber eben auch die Forderung der Wissenschaft und schonen ¨ ¨ Kunste. Zu nennen sind hier z. B. die Polytechnische Gesellschaft in ¨ Frankfurt a. M. (1816), aber auch berufsstandische Vereine wie die ¨ Gesellschaft der Naturforscher und Ärzte (1822), der Verein deutscher Ingenieure (1856) und die Deutsche Chemische Gesellschaft (1868). Auch der Staat wurde in diesem Zusammenhang aktiv und war z. B. an der Grundung der Physikalisch-Technischen Reichs¨ anstalt (1887) beteiligt, mit der eine Tradition staatlich organisierter Forschung außerhalb der Universitaten mit dem expliziten Ziel der ¨ Industrieforderung begrundet wurde. Weitere offentliche wissen¨ ¨ ¨
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Technische Hochschulen
Vereine, Stiftungen, wissenschaftliche Gesellschaften
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Industrieforschung
Erfolge der Grundlagenforschung
schaftliche Einrichtungen entstanden auf direkte Initiative der Industrie. Die Farbwerke Hoechst grundeten 1891 das Robert-Koch¨ Institut und 1896 das Paul-Ehrlich-Institut, die Carl-Zeiss-Stiftung forderte seit 1895 die wissenschaftliche Forschung, und die Robert¨ Bosch-Stiftung tat es ihr seit 1910 nach. 1908 war der Verein Chemische Reichsanstalt nach dem Vorbild der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt gegrundet worden. Diese Initiative war auch in soweit ¨ erfolgreich, als dass 1911 als gemeinsame Institution der Reichsanstalten die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max-Planck-Gesellschaft) gegrundet wurde. ¨ Aber nicht nur im offentlichen Bereich, auch in den Unternehmen ¨ selbst war die Industrie inzwischen aktiv geworden und hatte eine eigene wissenschaftliche Forschung begrundet. Der Beginn einer In¨ dustrieforschung lasst sich moglicherweise mit der Einrichtung eines ¨ ¨ Laboratoriums fur ¨ Stahl- und Rohstoffanalyse in der Kruppschen Gussstahlfabrik im Jahre 1867 datieren, obwohl dessen Hauptaufgabe zunachst noch vornehmlich im Bereich der Qualitatskontrolle ¨ ¨ lag. Die Einrichtung eines Forschungslaboratoriums bei Siemens & Halske 1872 diente dann tatsachlich der Gewinnung neuer wissen¨ schaftlicher und dann praktisch verwendbarer Erkenntnisse. Gleiches galt fur Labor bei Linde (1879) und das glastech¨ das kaltetechnische ¨ nische Labor in den Zeisswerken (1882) sowie fur ¨ die chemischen Laboratorien bei Hoechst, BASF (1883) und Bayer (1885). Inwieweit diese vielfaltigen Bemuhungen von Erfolg gekront ¨ ¨ ¨ waren, ist schwer abzuschatzen. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwi¨ schen Forschungsbemuhungen, gesamtwirtschaftlichem Wachstum ¨ und einzelwirtschaftlichem Unternehmenserfolg ist kaum zu bemessen. Forschung und noch viel mehr Grundlagenforschung ist nicht unmittelbar rentabel. Nach empirischen Schatzungen zahlen sich ¨ Aufwendungen fur ¨ Grundlagenforschung auch heute erst in ca. 30 Jahren aus. Eine direkte Korrelation mit dem Betriebserfolg ist nicht zu erkennen. Andererseits ist der Zusammenhang zwischen Industrialisierung, Wirtschaftswachstum und technologisch-wissenschaftlicher Entwicklung zu augenfallig, als dass er ignoriert werden konnte (Weber ¨ ¨ 2004, S. 607–628). Der Umfang des verfugbaren Wissens und die 6 ¨ Gewinnung neuen Wissens konnen als maßgebliche Faktoren fur ¨ ¨ Industrialisierung und Wirtschaftswachstum wohl kaum zu hoch eingeschatzt werden. Zwar hat es auch vor der Industriellen Revolution in ¨ England gelegentlich Schube technologischer Innovationen gegeben, ¨ wie z. B. die Ausbreitung von Wassermuhlen im spaten Mittelalter, ¨ ¨
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ERTR ÄGE DE S WISS ENS
doch gelang es zuvor niemals, diesen Neuerungsprozess zu verfesti¨ gen. Sehr bald waren diese Produktivitatseffekte verpufft und durch ¨ eine wachsende Bevolkerung wieder aufgezehrt. Ein modernes Wirtschaftswachstum (> KAPITEL 2) konnte dadurch nicht in Gang gesetzt werden. Das neue, verwertbare Wissen war offenbar eher zufallig, ¨ nicht in vorhersehbarer Weise gewonnen worden. Die Voraussetzung fur ¨ die Industrielle Revolution war eine wissenschaftliche Revolution (Ortner 2006), die einen Fortschritt im Wissensbestand, hervorgerufen z. B. durch Galilei, Kopernikus und Newton, und eine neue wissenschaftliche Methode voraussetzte, wie sie seit dem 16. Jahrhundert etwa durch Francis Bacon entwickelt worden war. Diese neue Methode erlaubte, jenseits aller metaphysischen Weltinterpretationen, durch Beobachtung und Experiment und daraus hergeleitete Schlussfolgerungen einen stetigen Wissenszugewinn und die Eliminierung von Irrtumern. Die fur ¨ ¨ Deutschland im 19. Jahrhundert erfolgte Institutionalisierung wissenschaftlicher Forschung, die damit verbundene Routinisierung wissenschaftlichen Arbeitens und die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der gesellschaftlichen Produktion waren eine spate ¨ Auswirkung der wissenschaftlichen Revolution in der fruhen Neuzeit. Die Menschen hatten eine Methode zur Generie¨ rung von Erfindungen erfunden.
Wissenschaftliche Revolution
4.3 Erträge des Wissens Diese „Erfindung“ wirkte sich fur ¨ die betroffenen Volkswirtschaften außerordentlich segensreich aus. War die vormoderne Wirtschaft bestenfalls mit Raten um ca. 0,2 % jahrlich ¨ gewachsen (1700 bis 1820), so vervielfachte sich das Tempo des Wachstums der gesellschaftlichen Wohlfahrt im Zuge der Industrialisierung in den europaischen ¨ Staaten auf 1,2 bis 2,0 % (> KAPITEL 2.3). Es ist wohl vor allem die Lernfa¨ higkeit der Menschen, die sich in dieser Rate niederschlagt. Daher ¨ bildet die Verbesserung der Lernfahigkeit, die Generierung von Wis¨ sen, die Humankapitalbildung oder wie immer man dieses Faktum bezeichnen will, den strategischen Faktor fur ¨ wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftlichen Fortschritt. Variationen in der Rate des tatsachlich realisierten Wachstums lassen sich auf exogene Schocks ¨ und institutionelle Rahmenbedingungen zuruckfuhren. ¨ ¨ Die Lernfahigkeit des Menschen, die Akkumulation von Wissen in ¨ der Gesellschaft und dessen Anwendung in der Wirtschaft bringt daher einen bemerkenswerten Nutzen, der sich in einer erhohten ¨
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Humankapitalbildung als strategischer Wachstumsfaktor
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Verteilung der Wohlfahrtsgewinne
Bildungserträge in den USA
Messgrößen für den Erfolg von Bildungsinvestitionen
Wachstumsrate niederschlagt. Dies ist die gesamtwirtschaftliche Sicht ¨ der Dinge. Es bleibt aber die Frage, wie sich die Wohlfahrtsgewinne in der Gesellschaft verteilen, ob tatsachlich auch jene von den Fruch¨ ¨ ten der Wissensakkumulation profitieren, die sich den Muhen des Er¨ werbs einer hoheren Bildung unterzogen haben. Diesen Fragen nach ¨ der Rentabilitat ¨ von Bildungsinvestitionen, gesamtwirtschaftlich und individuell, widmet sich die Bildungsokonomie, die nach dem Zwei¨ ten Weltkrieg in den USA begrundet wurde. Die Beobachtung, dass ¨ das dynamische Wachstum der Nachkriegszeit nur zum geringsten Teil auf einen erhohten Faktoreinsatz zuruckzufuhren war, verweist ¨ ¨ ¨ auf die Tatsache, dass es vor allem die verbesserte Qualitat ¨ der Faktoren war, die die Produktivitat Verschiedene ¨ entscheidend erhohte. ¨ Untersuchungen uber die US-Wirtschaft kamen zu dem Schluss, dass ¨ große Teile des Wachstums in den USA einer hoheren Bildung der ¨ Bevolkerung zu verdanken waren. Fur ¨ ¨ den Zeitraum von 1929 bis 1957 rechnete man 23 % des gesamtwirtschaftlichen Wachstums der Humankapitalakkumulation zu (Denison 1966), fur ¨ den Zeitraum von 1960 bis 1980 betrug dieser Wert 19 %. Andere Autoren kommen zu ahnlichen, im Zeitablauf zwar schwankenden, manchmal ¨ aber noch deutlich hoher liegenden Bildungsertragen der amerikani¨ ¨ schen Volkswirtschaft im 20. Jahrhundert (Schultz 1961, S. 46–88; 8 Engerman 1971). Ähnliches lasst sich auch fur ¨ ¨ die modernen Volkswirtschaften in Europa vermuten, wo sich ja das außerordentlich hohe Wachstumstempo ebenfalls durch eine Steigerung der Produktivitat ¨ der Faktoren und nicht allein durch erhohte Einsatzmengen erklaren lasst. Den ¨ ¨ ¨ Umfang und Wert dieser Bildungsinvestitionen genauer zu bestimmen, erweist sich hingegen als außerordentlich schwierig. Man kann diese nicht direkt messen, sondern ist auf Hilfsgroßen, wie z. B. Dauer ¨ des durchschnittlichen Schulbesuchs, Anteil der Hochschuler pro ¨ Jahrgang, offentliche Ausgaben fur ¨ ¨ die Bildung, Aufwendungen fur ¨ Forschung und Entwicklung u. a. ¨ angewiesen. Alle diese Großen ¨ messen lediglich den Aufwand, mit dem Wissen gesichert und generiert wird, nicht jedoch den Ertrag, der damit erzielt werden kann. Die Erwartung, die mit dieser Vorgehensweise verbunden ist, ist die, dass bessere Bildung irgendwie schon zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum beitragen wird. Berucksichtigt werden muss allerdings ¨ auch, dass ein beachtlicher Teil der Bildungsaufwendungen dem unmittelbaren Konsum der Bevolkerung dient und nicht okonomisch ¨ ¨ genutzt werden kann. Ein hoher Bildungsstand der Bevolkerung ga¨ rantiert eben noch nicht seine effiziente Nutzung in der Produktion.
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ERTR ÄGE DE S WISS ENS
Blickt man auf die Gegenwart der Bundesrepublik, so zeigt der Bildungsstand der Bevolkerung trotz allen Wehklagens bislang eine ¨ international außerordentlich gute Position. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft liegt Deutschland was den status quo angeht auf Rang 3 (Institut der deutschen Wirtschaft 2007b), doch mangelt es an der Aktualisierung des Wissens gemessen an Weiterbildungsmaßnahmen (Rang 22) und an der Ausnutzung des Wissenspotenzials in Form einer angemessenen Arbeitsdauer (Rang 24), sodass insgesamt Deutschland nur auf Rang 17 der internationalen Skala gefuhrt wird. Andere Indikatoren, wie z. B. der Anteil for¨ schungsintensiver Industrien an der gesamtwirtschaftlichen Wertschopfung, der Anteil forschungsintensiver Unternehmen und der ¨ Anteil forschungsintensiver Produkte am Export weisen darauf hin, dass Deutschland den Wettlauf um zukunftige Markte jedoch noch ¨ ¨ lange nicht verloren hat (Kroher / Muller 2007, S. 126). ¨ ¨ Lohnen sich Bildungsanstrengungen aber auch fur ¨ den Einzelnen? Die privaten Aufwendungen fur ¨ die Ausbildung in den USA zwischen 1939 und 1958 rentierten sich in beachtlichem Maße. Eine HighSchool-Ausbildung erbrachte eine Bildungsrendite (also einen Zugewinn an Arbeitseinkommen durch zusatzliche Bildungsmaßnahmen) ¨ zwischen 16 und 28 %, eine College-Ausbildung eine solche von 12 bis 14 % (Engerman 1971, S. 249). Der hohe private Nutzen einer guten Schul- und Hochschulausbildung bestatigt sich in vielen Lan¨ ¨ dern und fur (Laer 1977, S. 41). Die in ¨ unterschiedliche Zeitraume ¨ Bildung investierten Aufwendungen der privaten Haushalte zahlen sich in hoheren Lebenseinkommen aus. Das gilt allerdings nicht fur ¨ ¨ alle Berufe und alle Studienrichtungen im gleichen Maße. Eine neuere Untersuchung des Centrum fur ¨ Hochschulentwicklung (CHE) kommt zu dem Ergebnis, dass zahlreiche Studiengange an den Hochschulen ¨ zu beachtlichen Bildungsrenditen fuhren, zeigt allerdings auch, dass ¨ manche Studiengange nur geringe oder gar negative Renditen (Ver¨ luste) erwarten lassen (Ohlendorf 2003). Fur ¨ Medizinstudenten verzinsen sich demnach die Bildungsaufwendungen mit einer Rate von 11,62 %, fur ¨ Juristen mit 9,14 % und fur ¨ Betriebswirte immerhin noch mit 6,3 %. Das Studium der evangelischen Theologie weist hingegen eine negative Bildungsrendite von 4,79 % und Germanistik oder Anglistik sogar eine von minus 5,73 % auf. Langfristig lasst ¨ sich sogar noch ein weiterer Anstieg der Bildungsrenditen erwarten, ebenso wie eine Angleichung der heute noch bestehenden Unterschiede zwischen Mannern und Frauen hinsichtlich ihrer Bildungs¨ ertrage. ¨
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Bildungsstand in Deutschland
Bildungsrendite
WI SSEN UN D KÖN NEN
Fragen und Anregungen • Sie unterziehen sich derzeit einer gehobenen Ausbildung. Haben Sie einmal durchgerechnet, ob sich das finanziell fur ¨ Sie auszahlt, oder ob es nicht lukrativer gewesen ware, fruhzeitig einer Erwerbs¨ ¨ tatigkeit nachzugehen? Was wurden Sie Friedrich I. angesichts sei¨ ¨ ner Behauptung „nutzlosen“ Wissens entgegenhalten? • Frankreich galt im 18. Jahrhundert als fortschrittlichster Ort von Wissenschaft und Bildung, doch die Industrielle Revolution nahm im eher ruckstandigen England ihren Ausgang. Spielte der geringe¨ ¨ re Bildungsstand dafur ¨ eine Rolle und warum war z. B. das kulturell so hoch stehende China nicht am Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts beteiligt? • Ergibt es uberhaupt Sinn, den okonomischen „Wert“ eines Menschen ¨ ¨ zu berechnen? Wie konnte sich so etwas bewerkstelligen lassen? ¨
Lektüreempfehlungen Forschung
• Knut Borchardt: Zum Problem der Erziehungs- und Ausbildungs¨ investitionen im 19. Jahrhundert, in: Hermann Aubin (Hg.), Beitra¨ Hektor ge zur Wirtschafts- und Stadtgeschichte. Festschrift fur 3 Fruhe Ammann, Wiesbaden 1965, S. 380–392. ¨ Thematisierung von Wissen und Bildung fur ¨ die deutsche Industrialisierung. • Edward F. Denison: Why Growth Rates Differ. Postwar Experience in Nine Western Countries, Washington D. C. 1967. Umfassende Analyse der Wachstumsfaktoren der westeuropaischen und US¨ amerikanischen Nachkriegswirtschaft mit Hinweisen auf die Bedeutung von Erziehung und Bildung. • Hermann von Laer: Industrialisierung und Qualitat ¨ der Arbeit. Eine bildungsokonomische Untersuchung fur ¨ ¨ das 19. Jahrhundert, New York 1977. Eine erste Untersuchung uber die Bedeutung von ¨ Bildungsinvestitionen in Deutschland. • Joel Mokyr: The Gifts of Athena. Historical Origins of the Knowledge Economy, Princeton 2002. Wichtige neuere Arbeit zur Bedeutung von Wissen im Prozess wirtschaftlichen Wachstums. • Nico Stehr: Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, Frankfurt a. M. 2001. Verdienstvolle Untersuchung uber die Rahmenbedingungen wirtschaft¨ lichen Wachstums.
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5 Kapital und Investitionen
Abbildung 11: Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Titelblatt der Erstausgabe (1867)
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KA PITAL UN D IN VESTI TI ONEN
Nur wenige Bucher haben die Weltgeschichte mehr beeinflusst als ¨ „Das Kapital“ von Karl Marx, das im Jahr 1867 erschien. Darin unternimmt Marx nicht weniger als den Versuch, das Bewegungsgesetz der Geschichte zu ergrunden, das er in der Logik der Kapitalakkumu¨ lation der Klassengesellschaft gefunden zu haben glaubte. Damit war zugleich dem neuen Zeitalter und dem neuen Gesellschaftssystem eine Chiffre zugewiesen: „Kapitalismus“. Dieses Interpretationsmuster fasziniert bis heute. Es lieferte nahezu ein Jahrhundert lang die Grundidee fur ¨ den Auf- und Ausbau eines sozialistischen Weltsystems und gab auch der Wissenschaft vielfaltige Anregungen fur ¨ ¨ Interpretationen der historischen Entwicklung. Noch immer gibt es eine Reihe von Staaten, die sich auf die Lehren des Marxismus-Leninismus be¨ sich zu entdecken scheinen (Hugo ziehen (Kuba) oder diese neu fur Chavez in Venezuela). Und auch ein Teil der Globalisierungskritiker beruft sich auf die Lehren von Karl Marx. Der Mythos von „Das Kapital“ lebt also weiter. Der Mythos „Kapital“ dient dabei durchaus unterschiedlichen Zwecken. Begreifen die einen Kapital als zentralen Bestandteil einer Soziologie kapitalistischer Dynamik (Deutschmann 2009), machen die anderen „Kapitalismus“ zu einem Totschlagargument der politischen Auseinandersetzung. Doch erst wenn der derart weit gespannte Kapitalbegriff im Hinblick auf seine Bedeutung fur ¨ die wirtschaftliche Entwicklung prazisiert wird, kann er die Entstehungsbedingungen ¨ der modernen Volkswirtschaft erhellen. Dabei muss das Sachkapital als entscheidender Faktor im gesamtwirtschaftlichen Produktionsprozess isoliert betrachtet und vom Geld- und Humankapital unterschieden werden. Schließlich stellten Aufbau und Ausweitung des (Sach-)Kapitalstocks eine wesentliche Voraussetzung fur ¨ den Übergang einer vormodernen Wirtschaft in den Prozess des modernen Wirtschaftswachstums dar. Dieser Prozess setzte im 18. Jahrhundert zunachst in Großbritannien ein und erfolgte im 19. Jahrhundert auch ¨ in Deutschland. Erst sehr langsam orientierte sich das Bankensystem hin zu der neuen Aufgabe der Industriefinanzierung.
5.1 Kapitalbildung in Großbritannien während der Industriellen Revolution 5.2 Kapitalbildung in Deutschland 5.3 Kapital und Banken in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert
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K API TAL BIL DU NG IN GROS SBRI TAN N IEN
5.1 Kapitalbildung in Großbritannien während der Industriellen Revolution Versucht man den „Mythos Kapital“ zu dechiffrieren, so ist man gehalten, seinen empirischen Gehalt zu bestimmen. Dazu bedarf es einer genaueren Umschreibung des Gegenstandes. Kapital wird im Sinne eines gesamtwirtschaftlichen Produktionszusammenhangs als „Sachkapital“ begriffen, verkorpert in Anlagen und Gebauden; es ¨ ¨ wird von „Geldkapital“ und „Humankapital“ abgegrenzt. Dieses Sachkapital bildet den Kapitalstock einer Volkswirtschaft und besteht aus deren sachlichen Produktionsmitteln. Die Bildung dieses Sachkapitals erfolgt aus Investitionen, die aus den Ersparnissen der Gesellschaft getatigt werden mussen. Dies war in den vormodernen Ar¨ ¨ mutsgesellschaften ein außerordentlich schwieriges Unterfangen, weil aus dem gesamtwirtschaftlichen Produkt wegen der Not der Mehrheit der Bevolkerung kaum etwas zur Ersparnisbildung abgezweigt ¨ werden konnte. Wahrend der Industriellen Revolution in England ge¨ lang es erstmals, diesen „circulus vitiosus“, den Teufelskreis zwischen Armut und Stagnation der vormodernen Wirtschaft zu durchbrechen und eine hinreichende Menge von Geldkapital zur Finanzierung von Investitionen in Sachkapital zu mobilisieren. Damit konnten der Prozess des modernen Wirtschaftswachstums (> KAPITEL 2) in Gang gesetzt und langfristig die vorindustrielle Armut uberwunden werden. ¨ Sachkapitalbildung ist demnach vom Vorhandensein gesellschaftlicher Ersparnisse abhangig. Daruber hinaus muss es in der Gesell¨ ¨ schaft Personen und Personengruppen geben, die bereit und in der Lage sind, entsprechende Investitionen in Fabrikanlagen vorzunehmen, die entsprechenden Risiken zu tragen und sie erfolgreich zu Ende zu bringen. Der moderne Unternehmer (Mathias 1983, S. 136–148) entspricht diesem Typus und unterscheidet sich dadurch 1 deutlich vom vormodernen Kaufmann. Da tatendurstige und risikobereite „entrepreneurs“ nicht auch unbedingt uber entsprechende Er¨ sparnisse verfugen, bedarf es eines Mechanismus, der die gesell¨ schaftlichen Ersparnisse in die Hande der risikobereiten Unternehmer ¨ leitet. Zur Finanzierung entsprechender Investitionen musste sich daher zu Beginn der Neuzeit erst allmahlich ein Kapitalmarkt heraus¨ bilden. All dies geschah zuerst in Großbritannien gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Schatzungen uber den Umfang der Kapitalbildung in Großbritan¨ ¨ nien finden sich bereits fur ¨ die Mitte des 18. Jahrhunderts. Von 1761 bis 1770 sollen jahrlich lediglich 4,3 Millionen Pfund investiert wor¨
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Mythos Kapital
Teufelskreis zwischen Armut und Stagnation
Der moderne Unternehmer
Kapitalstock um 1770
KA PITAL UN D IN VESTI TI ONEN
Sprunghafter Anstieg
Public property
den sein. Davon mussten allein 3,7 Millionen Pfund fur ¨ den Erhalt des bestehenden Kapitalstocks aufgewendet werden (Abschreibungen). Demnach blieben nur 0,6 Millionen Pfund fur ¨ die Nettokapitalbildung, d. h. fur Das war ¨ den Zuwachs zum Kapitalstock ubrig. ¨ recht bescheiden im Vergleich zum Sozialprodukt. Das Sozialprodukt von England und Wales kann fur ¨ die Jahre um 1770 auf etwa 230 Millionen Pfund geschatzt werden (Deane / Cole 1969, S. 156), ¨ der Gesamtkapitalstock umfasste im gleichen Zeitraum nur etwa 262 Millionen Pfund (Feinstein / Pollard 1988, S. 277), heute hingegen ein Vielfaches des Sozialprodukts. Zu Beginn der Industriellen Revolution war der Kapitalstock in England also relativ klein und der Umfang der Nettoinvestitionen außerst gering. In den folgenden Dekaden stieg die Kapitalbildung ¨ jedoch sprunghaft an. Die Nettokapitalbildung pro Jahr vervielfachte sich z. B. bis ins erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts auf 12 Millionen Pfund jahrlich und der Gesamtkapitalstock wuchs auf 1,14 Mil¨ liarden Pfund. Auch in der Struktur des Kapitalstocks zeigten sich gravierende und fur ¨ die Entstehung einer modernen Volkswirtschaft charakteristische Veranderungen. Dies wird besonders deutlich, wenn ¨ man die Situation am Ende des 18. Jahrhunderts mit derjenigen nach der Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergleicht. Die Bedeutung von Grund und Boden fur ¨ den Kapitalstock reduzierte sich erheblich. Machte dieser Faktor 1798 noch 55% des Wertes am Gesamtkapital aus, so betrug sein Anteil 1912 nur noch 6,9 %. Andere Kapitalformen hatten den Boden in seiner Bedeutung als Produktivkraft verdrangt. Somit anderte sich auch die Zusammenset¨ ¨ zung des Kapitalstocks. Neben den Gebauden, welche im Zuge von ¨ Stadtewachstum und Urbanisierung eine immer großere Bedeutung ¨ ¨ gewannen, spielten vor allem Investitionen in private Verkehrsunternehmen (Eisenbahnen) und Industrieanlagen sowie Auslandsanlagen, z. B. in den USA, eine große Rolle. 1912 bildeten Sachanlagen ein Drittel (33,7 %) des Kapitalstocks Großbritanniens. Parallel dazu wuchsen auch die Investitionen in die offentliche Infrastruktur, 1912 ¨ gehorte knapp ein Zehntel (9,7 %) des Kapitalstocks dazu, waren al¨ so „public property“ (1798: 1,7 %). Diese erstaunliche Kapitalbildung in Großbritannien bereits in der fruhen Phase der Industrialisierung war auch deshalb moglich, weil ¨ ¨ das Land in der Phase des vorausgehenden Handelskapitalismus beachtlichen Reichtum hatte akkumulieren konnen (Kriedte 1980, ¨ S. 142–175), sodass auch Ersparnisse gemacht werden konnten. Die 1 Wirkung dieser Entwicklung auf die heimische Wirtschaft und den
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K API TAL BIL DU NG IN GROS SBRI TAN N IEN
Aufbau eines Kapitalstocks beschrieb und analysierte Karl Marx 1867 in Das Kapital unter dem Begriff der „ursprunglichen Akku¨ mulation“ (Marx 1972, S. 741–791). Dieses im Handel, im Finanz7 wesen und in der Landwirtschaft angesammelte Kapital konnte nun mobilisiert und einer Anlage zugefuhrt werden (Postan 1935, ¨ S. 2–7). Hinzu kam, dass die Kapitalbedurfnisse in den Betrieben der ¨ fruhen Industrialisierung nicht uberschatzt werden durfen (Pollard ¨ ¨ ¨ ¨ 1964, S. 299–314). Es handelte sich zumeist nur um kleine Unter3 nehmen, und ein Großteil der Produktivitatsgewinne resultierte eher ¨ aus einer veranderten Arbeitsorganisation und weniger aus der Ein¨ fuhrung komplexer technischer Anlagen (Hudson 1986). Die Her¨ kunft des Industriekapitals, also des Anlagekapitals der Industrie wahrend der Industriellen Revolution unterstreicht diesen Eindruck. ¨ Ein Großteil des Anlagekapitals industrieller Grundungen stammte ¨ aus Gewinnen handwerklicher Tatigkeiten oder aus dem Verlagssys¨ tem (> KAPITEL 3.1). Auch der Handelssektor, insbesondere in Gestalt der Kohlen- oder Eisenhandler, trug zur industriellen Kapitalbildung ¨ bei, ebenso wie Neugrundungen und Erweiterungen bereits bestehen¨ der Industriebetriebe. Einkommen aus Grundbesitz oder den Kolonien spielten hingegen eine untergeordnete Rolle (Crouzet 1976). Waren die Industrieunternehmen erst einmal erfolgreich in Geschaftstatigkeit getreten, so eroffneten sich ihnen danach neue Wege ¨ ¨ ¨ der Finanzierung. Zunachst einmal machten sie gute Geschafte und ¨ ¨ die hohen Gewinne versetzten sie in die Lage, einen Teil davon zu reinvestieren. Daneben stand es ihnen frei, „frisches“ Kapital durch die Aufnahme neuer Partner, die Begebung von Anleihen oder uber ¨ den Gang an den Kapitalmarkt zu beschaffen (Hoselitz 1968). Letztere Moglichkeit, also die Grundung einer Aktiengesellschaft, war al¨ ¨ lerdings durch den Bubble Act von 1720 stark eingeschrankt, wel¨ cher bis zu seiner Aufhebung 1825 die Grundung einer Gesellschaft ¨ mit Haftungsbeschrankung sehr erschwerte. ¨ Das Bankensystem Großbritanniens war strikt getrennt zwischen London und dem „Country“ und war zur Finanzierung langfristigen industriellen Anlagekapitals wenig geeignet (Cameron 1967, S. 35–59). 5 Die Landbanken, die als Finanzier der vorwiegend außerhalb Londons angesiedelten Industriebetriebe infrage gekommen waren, wid¨ meten sich vorwiegend dem kurzfristigen Kreditgeschaft ¨ und weniger der Investitionsfinanzierung (Pressnell 1956). Die Banken und der Kapitalmarkt waren fur ¨ die Finanzierung der britischen Industrieanlagen daher nur von untergeordneter Bedeutung. Sie stellten kaum langfristiges Kapital zur Verfugung, waren aber im kurzfristigen Kre¨
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Ursprüngliche Akkumulation
Selbstfinanzierung aus Gewinnen
Landbanken
KA PITAL UN D IN VESTI TI ONEN
Kurzfristiges Kapital
Englisches Bankensystem
ditgeschaft ¨ der Unternehmen stark engagiert. Dies entsprach durchaus auch den Bedurfnissen der fruhen Industrieunternehmen, deren Anla¨ ¨ gekapital im Verhaltnis zum Umlaufkapital eher gering war. Selbst in ¨ den Unternehmen der Eisenindustrie betrug das Umlaufkapital, also die Ausgaben fur ¨ Rohstoffe, Halb- und Fertigfabrikate, fur ¨ Zinsen, Mieten und Steuern und insbesondere Lohne, zum Teil ein Mehrfaches ¨ des Anlagekapitals. Zahlreiche ihrer Produktionsanlagen waren selbst erstellt und mussten daher gar nicht als Anlagekapital finanziert werden. Dieser Zusammenhang lasst ¨ sich auch an den Bilanzen der Unternehmen ablesen, die zeigen, dass der Umfang der Forderungen und Verbindlichkeiten im Verhaltnis zum Anlagekapital außerordentlich ¨ groß war (Pollard 1964, S. 306). Die Veranderungen in diesen Posten ¨ (Finanzinvestitionen) waren fur Industrieunternehmen min¨ die fruhen ¨ destens ebenso bedeutend wie Veranderungen im Anlagekapital (Kapi¨ talinvestitionen). Überstiegen die Schulden die ausstehenden Forderungen, entstand zudem die Moglichkeit, auf diesem Wege einen Teil der ¨ Anlageinvestitionen zu finanzieren. Der Handelskredit, d. h. kurzfristiges Kapital, hat durchaus einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung der britischen Industrie in der fruhen Phase der Entwicklung geleistet, allerdings nicht direkt bei ¨ der Kapitalbildung. Der britische Kapitalmarkt zu Beginn des fruhen ¨ 19. Jahrhunderts war daher weit entfernt davon, den Bedurfnissen ¨ der entstehenden modernen Volkswirtschaft zu entsprechen. Das Bankensystem war regional und funktional außerst spezialisiert und ¨ fragmentiert (Bagehot 1874). Neben den Landbanken gab es den von der Bank of England dominierten Geldmarkt und daruber hi¨ naus die großen Auslandsbanken (merchant bankers). Der Geldmarkt wurde neben der Bank of England von den großen Depositenbanken bestimmt, den „Big Five“, hinzu traten die Diskonthauser ¨ und Wechselhandler. Auf dem nationalen Kapitalmarkt tummelten ¨ sich zahlreiche Institutionen: neben der Borse gab es spezialisierte ¨ Emissions- und Brokerhauser, aber auch Sparbanken, Bausparkassen, ¨ Investment- und Versicherungsgesellschaften u. a. ¨ Sie boten Kapital zu unterschiedlichen Zwecken an, aber selten zur Investition in industrielles Anlagekapital; ganz abgesehen von den Handels-, Kolonial- und Auslandsbanken, die sich vorwiegend dem Außenhandel und Kapitalexport widmeten. Alles in allem bestand in Großbritannien ein außerordentlich komplexes Finanzsystem, das in seinen Grundzugen bis heute uberlebt hat und dessen uberragendes Ziel ¨ ¨ ¨ eben nicht die Forderung der Investitionen der heimischen Industrie ¨ war (Frey 1938).
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K AP I TAL B I L D U NG I N D EU TS C H L AN D
5.2 Kapitalbildung in Deutschland Als Deutschland sich im fruhen 19. Jahrhundert anschickte, England ¨ auf dem Weg in die Industriewirtschaft zu folgen, stand die Wirtschaft vor ahnlichen Problemen wie die in England ein halbes Jahr¨ hundert zuvor. Es ging darum, Kapital zu akkumulieren, genauer: Ersparnisse zu mobilisieren und diese in industrielles Anlagekapital zu uberfuhren. Vereinzelt war das an verschiedenen Stellen bereits ge¨ ¨ lungen, jedoch ohne nachhaltige Wirkung. So war etwa in Ratingen eine moderne Textilfabrik auf gruner Wiese entstanden oder in Ober¨ schlesien durch staatliche Initiative eine moderne Watt’sche Dampfmaschine im Bergbau installiert worden. Zu einem selbsttragenden gewerblichen Aufschwung hatten diese vereinzelten Maßnahmen noch nicht gefuhrt, dazu fehlte es an wagemutigen Unternehmern ¨ (Boch 1991) und an Kapital fur ¨ industrielle Investitionen. Schaut man auf den Umfang der gesamtwirtschaftlichen Investitionen, so zeigt sich, dass von den ca. 125 Millionen Mark, die in den Jahren 1816 bis 1822 in Preußen jahrlich netto investiert wurden, ¨ ganze 2,8 Millionen Mark (2,2 %) in die Industrie flossen. Bis in die 1840er-Jahre hatte sich dieser Anteil auf lediglich 3,3 % erhoht (7 ¨ von 209 Millionen Mark) (Tilly 1978a, S. 427). Der Lowenanteil der ¨ Nettoinvestitionen floss weiterhin in den Agrarsektor, der zwischen 1816 und 1822 knapp 70 % und auch von 1840 bis 1849 noch immer 29 % der Nettokapitalbildung auf sich zog. Neben den wachsenden Investitionen in Gebaude war es ab den 1840er-Jahren besonders ¨ der Eisenbahnbau, der einen Großteil der preußischen Kapitalbildung in Anspruch nahm (zwischen 1840 und 1849 waren es 35 %) und damit eine wichtige Voraussetzung fur Industrialisierung ¨ die spatere ¨ schuf. Erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ein nennenswerter industrieller Kapitalstock in Deutschland aufgebaut. Lasst sich der ¨ Wert des gewerblichen Kapitalstocks fur ¨ das Jahr 1850 auf ca. 7,16 Millionen Mark (15,3 % des gesamtwirtschaftlichen Kapitalstocks) beziffern, so stieg dieser bis 1913 auf 255,94 Millionen Mark (20,8 %) an (preisbereinigt, in Werten von 1913) (Hoffmann 1965, S. 253f.). Entsprechend verdoppelte sich die preisbereinigte Investitionsquote von 7,9 % auf 15,5 %, d. h. ein immer großerer Teil des So¨ zialprodukts wurde fur Investitionen aufgewandt (> ABBIL¨ zusatzliche ¨ DUNG 12). So wurde das Wirtschaftswachstum entscheidend befordert. ¨ Der erfolgreiche Aufbau eines bedeutsamen Kapitalstocks, welcher zu einem großen Teil auch aus industriellem Anlagekapital bestand,
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Kapitalakkumulation zu Beginn der Industrialisierung
Investitionen im frühen 19. Jahrhundert
Aufbau eines industriellen Kapitalstocks
KA PITAL UN D IN VESTI TI ONEN
Pauperismuskrise
Kapitalmangelthese
Nicht ausreichendes Kapitalangebot in der Industrie
Institutionelle Hemmnisse
ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch als arm eingeordnet werden muss. Nicht nur im Vergleich zum fortgeschrittenen England war eine deutliche ¨ Wohlstandslucke zu konstatieren, in den deutschen Territorien spitzte sich die Lage im Zuge der Pauperismuskrise der 1830er- und 1840erJahre (> KAPITEL 1) sogar noch dramatisch zu. Wie also war es in Deutschland angesichts dieser Situation moglich, großere und wach¨ ¨ sende Anteile des Einkommens in industrielles Kapital zu investieren? Die relative Armut Deutschlands galt lange Zeit als eines der wesentlichen Entwicklungshemmnisse der Volkswirtschaft im spaten 18. ¨ und fruhen 19. Jahrhundert und damit als Ursache dafur, ¨ ¨ dass die Industrialisierung im Vergleich zu England, Belgien und selbst Frankreich nur verzogert einsetzte. Entgegen alterer Annahmen deuten vie¨ ¨ le Anhaltspunkte jedoch auf eine ausreichende Kapitalversorgung der deutschen Wirtschaft in diesem Zeitraum. Nicht-Industrieunternehmen (Eisenbahnen, Handelsunternehmen) und auch der Staat hatten offenbar kaum Schwierigkeiten, sich zu finanzieren und dies z. T. sogar zu sinkenden Zinssatzen. Ablosungszahlungen, welche die Bau¨ ¨ ern den ehemaligen Grundherren nach den Agrarreformen zu leisten hatten, vergroßerten das Kapitalangebot ebenso wie die Ausdehnung ¨ des Sparkassenwesens und ein zunehmender Export ins Ausland. Es verwundert daher nicht, dass sich in manchen Kaufmannsfamilien, zu denen etwa die Krupps in Essen zahlten, beachtliche Vermogen ¨ ¨ angesammelt hatten (Pierenkemper 1990, S. 69–97). 9 Das Problem bestand allerdings darin, dass die verfugbaren Fonds ¨ nicht ohne Weiteres fur ¨ industrielle Investitionen eingesetzt wurden, weil deren Rentabilitat ¨ noch nicht erwiesen waren, ihre Risiken aber hoch erschienen. Obwohl also die Kapitalbedurfnisse der Indus¨ trieunternehmen im fruhen 19. Jahrhundert in Deutschland eher be¨ scheiden waren, stand diesen kein angemessenes Angebot gegenuber. ¨ Die zahlreich erhobenen Klagen der Unternehmer uber fehlende Fi¨ nanzierungsmoglichkeiten waren daher wohl berechtigt. Dies lag ¨ aber weniger an einem allgemeinen Kapitalmangel in Deutschland als vielmehr an einem fehlenden bzw. nicht funktionierenden Kapitalmarkt. Die Mangel waren z. T. auch institutionell begrundet. Den ¨ ¨ Sparkassen war das Kapitalanlagegeschaft ¨ rechtlich verwehrt, weil deren Anlagen mundelsicher (d. h. praktisch mit garantiertem Aus¨ schluss von Wertverlusten) sein mussten. Ebensowenig durfte die Preußische Bank Industrieunternehmen uber die Hereinnahme von ¨ Handelswechseln finanzieren. Fehlende Moglichkeiten der Haftungs¨
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KA PITA L UN D BA NK EN IN DE UT SCH LA ND SE IT DEM 19 . JA HR HUN DERT
beschrankungen (z. B. durch Aktiengesellschaften) erschwerten risi¨ koscheuen Investoren den Zugang zum Kapitalmarkt, hinzu kam eine allgemeine Scheu vor dem „Schuldenmachen“ in der Ethik der traditionellen Kaufleute. Dennoch gelang es den Industrieunternehmen, das notwendige Kapital zur Finanzierung ihrer Investitionen zu beschaffen. Die Quellen waren vielfaltig (Coym 1971): Ein Teil des Kapitals kam aus den ¨ vorausgehenden Handelsgewinnen oder aus den Ertragen des Grund¨ besitzes, und auch der Staat gewahrte gelegentlich Unterstutzungen ¨ ¨ und Darlehen, um die gewerbliche Entwicklung zu fordern. Daruber ¨ ¨ hinaus wurden sehr schnell Gewinne in teilweise beachtlicher Hohe ¨ erzielt, welche dann erneut investiert werden konnten. Das Bankensystem spielte fur ¨ die Finanzierung der Industrieunternehmen in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts dagegen kaum ein Rolle (Tilly ¨ 1967).
Quellen für industrielles Kapital
5.3 Kapital und Banken in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert Nach dem Durchbruch zum industriellen Wachstum Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Kapitalbedurfnisse der Industrie in ¨ Deutschland auf traditionelle Weise nicht mehr zu befriedigen. Es bedurfte neuer Institutionen und eines entwickelten Kapitalmarktes. Und diese wurden auch geschaffen. Die Privatbanken, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts insbesondere fur ¨ die Finanzierung des Staatskredits in den deutschen Territorien und auch daruber hinaus eine große Rolle gespielt hatten, ¨ waren nicht in der Lage, die Kapitalbedurfnisse der entstehenden ¨ Großindustrie, der Bergwerke und Hutten der Schwerindustrie im ¨ Besonderen, zu bedienen (Cassis 1992). Zwar waren sie im Rahmen des Handels mit Wechseln, Eisenbahnobligationen und Staatspapieren zu den vermutlich wichtigsten Kreditinstitutionen der deutschen Wirtschaft geworden, nunmehr aber mit der Finanzierung des industriellen Anlagekapitals uberfordert (Tilly 1966, S. 46–93). ¨ 9 Diese Aufgabe wurde von den neu gegrundeten Aktienbanken ubernommen. ¨ ¨ Ist die Umgrundung des A. Schaaffhausenschen Bankvereins 1848 ¨ noch als Notlosung einzuordnen, weil ihr ansonsten der Zusammen¨ bruch gedroht hatte, kam es seit den 1850er-Jahren zu zahlreichen ¨ Neugrundungen, auch gegen den anhaltenden Widerstand der preu¨ ßischen Regierung. Zum eigentlichen Siegeszug der Aktienbanken
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Neue Institutionen
Privatbanken
Aktienbanken
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Universalbanken
Kapitalimport nach dem Ersten Weltkrieg
Verstaatlichung der Großbanken
kam es allerdings erst in den 1870er-Jahren. 1870 wurden die Deutsche Bank und die Commerz- und Diskonto-Bank gegrundet, 1872 ¨ die Dresdner Bank. Diese Banken erlangten einen beachtlichen Einfluss in den Industrieunternehmen, die sie als Hausbanken betreuten. Sie schutzten sie aber zugleich in Krisen und gegenuber der in- und ¨ ¨ auslandischen Konkurrenz. Ihre Bedeutung wuchs auch dadurch, ¨ dass sie sich zu „Universalbanken“ entwickelten. Das bedeutet, dass praktisch alle Bankgeschafte in einem Haus betrieben wurden, das ¨ Wechsel, Kontokorrent- und Depositengeschaft ¨ ebenso wie das Emissionsgeschaft Die Finanzaktiva der Groߨ (Born 1976, S. 321–335). 3 banken vervielfachten sich von 0,9 Milliarden Mark (1880) auf 8,4 Milliarden Mark im Jahre 1913, wahrend die entsprechenden ¨ Zahlen fur ¨ die Privatbankiers (1880: 2,5 Milliarden; 1913: 4 Milliarden Mark) lediglich eine knappe Verdoppelung anzeigen. Die drei großten Banken waren, gemessen an ihrem Geschaftskapital, 1913 in ¨ ¨ Deutschland die drei großten Unternehmen, und unter den 25 groߨ ¨ ten Unternehmen Deutschlands befanden sich in diesem Jahr 17 Aktienbanken (Tilly 2003, S. 104). Zu diesem Aufstieg hatten sowohl die Liberalisierung des Aktienwesens wie auch die des Borsenwesens ¨ entscheidend beigetragen (Gommel 1992). ¨ Im 20. Jahrhundert operierten die Geschaftsbanken in Deutsch¨ land weit weniger erfolgreich und konnten nur in geringem Umfang zum Aufbau eines Kapitalstocks beitragen. Geschwacht durch finan¨ zielle Verluste bei der Kriegsfinanzierung im Ersten Weltkrieg und durch die daraus resultierende Inflation blieb die deutsche Kapitalbildung auch nach der Stabilisierung der Wahrung nur unzureichend. ¨ Ein latenter Kapitalmangel konnte zunachst mit einem durch hohe ¨ Zinsen ausgelosten bemerkenswerten Kapitalimport ausgeglichen ¨ werden. Doch nach Versiegen dieser Kapitalquelle gerieten die deutschen Banken sehr bald in eine schwere Krise, von der auch die Großbanken 1931 stark betroffen waren. Diese mussten zum Teil sogar verstaatlicht werden, um ihre Zahlungsfahigkeit sicherzustellen ¨ (Born 1967). Immerhin betrug der Staatsanteil bei der Dresdner Bank im Jahr 1931 91 %, bei der Commerz- und Privat-Bank 70 % und auch bei der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft noch 35 % (Hauser 1993, S. 407). Wahrend der Zeit des Nationalsozialis¨ ¨ mus war die Geschaftstatigkeit der Banken stark eingeschrankt, weil ¨ ¨ ¨ das Regime im Rahmen seiner Rustungsund Kriegspolitik den ¨ Spielraum privater Geschaftsbanken stark begrenzt hatte. Gleichwohl ¨ betrieben die Banken ihre Geschafte weiter und ließen dabei, wenn ¨ auch in unterschiedlichem Maße, die Regeln seriosen Geschaftgeba¨ ¨
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rens außer Acht. Teilweise beteiligten sie sich an den verbrecherischen Praktiken des Regimes, z. B. bei Arisierungen. Nach dem Krieg drohte den als Kriegstreibern angesehenen deutschen Großunternehmen und Banken daher zunachst die Zerschla¨ gung, zumindest war dies ein Ziel der US-amerikanisch gepragten ¨ Bankenpolitik der ersten Nachkriegsjahre. Die Reorganisation des deutschen Bankwesens in seiner alten Form gelang erst wieder 1957, als die in regional operierende Teilbanken entflochtenen Großbanken wieder zusammengefuhrt wurden. Von da an entwickelten sich die ¨ großen Geschaftsbanken wiederum zum Kern der allgemein soge¨ nannten „Deutschland AG“, welche durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Großbanken und Industrie gekennzeichnet war. Erst ¨ der vermeintliche Erfolg des amerikanisch gepragten Investmentbank¨ ¨ ings, welches Borse und Kapitalmarkt starker nutzte, machte in den 1990er-Jahren diesem Modell ein Ende – und legte damit die Basis ¨ die im fruhen ¨ fur 21. Jahrhundert erlebte internationale Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise.
Reorganisation des Bankenwesens nach dem Krieg
Abbildung 12: Investitionsquoten 1850 / 70–1994, Deutschland (Lindlar 1997, S. 149)
Die Finanzierung der Kapitalbildung nach den Zerstorungen des ¨ industriellen Kapitalstocks des Zweiten Weltkriegs, auch wenn diese nicht so gewaltig waren wie zunachst angenommen (Abelshauser ¨ 1983, S. 20–24), erfolgte mithilfe der Großbanken und mittels steu2 erlicher Forderung der Eigenkapitalbildung in der Großindustrie. ¨ Entsprechend wuchs auch der Kapitalstock in der Bundesrepublik und Ersparnisse und Investitionen erreichten im Wiederaufbau Re-
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Wiederaufbau stärkt Kapitalstock
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Kapitalkoeffizient
¨ kordhohen. Im Vergleich zur Industrialisierungsepoche des 19. Jahr¨ hunderts lag die Investitionsquote wahrend dieses Zeitraums deutlich ¨ hoher (Lindlar 1997, S. 149) (> ABBILDUNG 12) und entsprechend schneller wuchs der Kapitalstock. Der Kapitalstock betrug 2004 etwa 5,7 Billionen Euro und uber¨ stieg damit die Bruttowertschopfung des gleichen Jahres um den Fak¨ tor 3,3 Im Jahr 1970 hatte dieses Kapitalkoeffizient genannte Verhaltnis noch 2,7 betragen (Institut der Deutschen Wirtschaft 2007a, ¨ S. 27). Daraus lasst sich ablesen, dass immer mehr Kapital verwendet ¨ wird, um die gleiche Menge an Waren und Dienstleistungen zu produzieren. Daruber hinaus benotigt die moderne Volkswirtschaft aber ¨ ¨ weiterhin auch eine steigende Kapitalakkumulation, um den Prozess des modernen Wirtschaftswachstums weiter fortsetzen zu konnen. ¨ Diese wichtige und in Zukunft eher noch wachsende Bedeutung des Kapitals spiegelt sich auch im Umfang und in der Entwicklung der Anlageinvestitionen wider. Mehr als ein Funftel der jahrlich erbrach¨ ¨ ten Wirtschaftsleistung muss in Deutschland reinvestiert werden, um die Leistungsfahigkeit des gewaltigen Kapitalstocks aufrecht zu erhal¨ ten und ihn stetig zu erweitern.
Fragen und Anregungen • Wieso gelang es den industriellen Unternehmern in England so leicht, Kapital fur Industriebetriebe zu ¨ ihre neu begrundeten ¨ beschaffen? • Deutschland war im fruhen 19. Jahrhundert im Vergleich zu England ¨ gewiss ein ,armes‘ Land. Gab es daher einen gravierenden Kapitalmangel zur Finanzierung der Industrialisierung in Deutschland? • Industrie und Banken sind in Deutschland eine enge Symbiose ein¨ ¨ ¨ gegangen. Worauf lasst sich diese Entwicklung zuruckfuhren und ¨ sie an Grenzen? wann stoßt
Lektüreempfehlungen Übersichten
• Rondo E. Cameron: Banking in the Early Stages of Industrialization. A Study in Comparative Economic History, New York 1967. International vergleichende Studie zur Unternehmensfinanzierung wahrend ¨ der fruhen ¨ Industrialisierung.
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FRAG EN UND LEK TÜR EEMPFEH LUNGEN
• Jakob Riesser: Die deutschen Großbanken und ihre Konzentration. Im Zusammenhange mit der Entwicklung der Gesamtwirtschaft in Deutschland, Jena 1910. Klassische Darstellung der Entwicklung und der Bedeutung der Großbanken im Industrialisierungsprozess, von einem ,Insider‘ verfasst. • Richard Tilly: Geld und Kredit in der Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 2003. Umfassende Darstellung der Bedeutung des Finanzsystems fur ¨ die wirtschaftliche Entwicklung in international vergleichender Perspektive. • Carsten Burhop: Die Kreditbanken in der Grunderzeit, Frank¨ furt a. M. 2004. Neuere Untersuchung zur Rolle der Banken in der deutschen Industrialisierung.
Forschung
• Dietmar Petzina (Hg.): Zur Geschichte der Unternehmensfinanzierung, Berlin 1990. Verschiedene Beitrage ¨ zur Mobilisierung von Industrieinvestitionen und zur Bedeutung der Banken in Deutschland in verschiedenen Zeitraumen. ¨ • Richard Tilly: Capital Formation in Germany in the Nineteenth Century, in: Cambridge Economic History of Europe, Vol. VII, Cambridge 1978, S. 382-441. Schatzungen uber den Umfang der ¨ ¨ Kapitalbildung in Deutschland in der ersten Halfte des 19. Jahr¨ hunderts. ¨ ¨ • Gunter Ashauer (Hg.): Deutsche Bankengeschichte, 3 Bande, Frankfurt a. M 1982 und 1983.
Handbücher / Lexika
¨ • Hans Pohl (Hg.): Deutsche Borsengeschichte, Frankfurt a. M. 1992. ¨ • Hans Pohl (Hg.): Europaische Bankengeschichte, Frankfurt a. M. 1993.
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6 Innovationen und technischer Fortschritt
Abbildung 13: Die Waterframe. Mit Wasserkraft arbeitende Spinnmaschine von Richard Arkwright (1769) ¨ Der großte Umsturz der Geschichte seit der Neolithischen Revolution in der Steinzeit beginnt ¨ ¨ mit einem Peruckenmacher, der keine Lust mehr hat, Perucken zu machen. Der sich dazu entschließt, eine Apparatur zu erschaffen, die eine pflanzliche Faser ohne das Zutun mensch¨ ¨ licher Hande zu Faden spinnt. Der Dutzende dieser Apparate durch die Kraft von Wasser ¨ ¨ ¨ antreiben lasst. Dem es gelingt, die Faden schneller, gunstiger und besser zu fertigen als alle ¨ vor ihm. Und der auf diese Weise um 1770 in den landlichen Weiten Mittelenglands das erste ¨ Fabrikwesen, die erste Industrie der Welt begrundet. ¨ Jens-Rainer Berg: Schopfer einer neuen Welt, in: GeoEpoche, Nr. 30: Die industrielle Revolution, 2008 (Berg 2008, S. 25)
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IN N OVATIO NEN U ND TECH NI SCH ER FORTSC HRITT
Die Spinnmaschine, die sogenannte Waterframe, fur ¨ die der Englan¨ der Richard Arkwright, eigentlich ein gelernter Peruckenmacher, ¨ 1769 ein Patent erhielt, war in der Tat die erste „moderne“ Maschine. Anders als die Vorgangermodelle wie etwa die „Spinning Jenny“, die ¨ sich in ihrer Konstruktion noch sehr stark am uberkommenen Spinn¨ rad orientierte und von Hand betrieben wurde, konnte mit diesem neuen Mechanismus ein kontinuierlicher Spinnvorgang betrieben werden. Die Walzen im oberen Teil der Maschine verdrehten und festigten das Vorgarn zu einem gleichmaßigen und stabilen Garn und die ¨ Spindeln unten im Gerat, ¨ versehen mit losen, bei unterschiedlicher Spinngeschwindigkeit vor- und rucklaufenden Flugeln, ermoglichten ¨ ¨ ¨ ein kontinuierliches Aufwickeln des gesponnenen Garns. Links sieht man ein Antriebsrad, denn der neue Mechanismus war nicht mehr durch einen einzelnen Menschen zu betreiben, sondern bedurfte eines externen Antriebs. Dies konnte durch Pferde geschehen, wurde meist aber durch Wasserkraft bewerkstelligt – daher auch der Name Waterframe fur ¨ die Arkwrightsche Erfindung. Die Maschine war allerdings nahezu ganzlich aus Holz gefertigt und ¨ somit z. T. noch dem vorindustriellen, dem „holzernen“ Zeitalter ¨ zuzurechnen. Eiserne Maschinen fanden erst einige Zeit spater all¨ gemeine Verbreitung, und dann wurde auch der Antrieb durch Wasserrader von Dampfmaschinen ersetzt. Damit loste sich die Textil¨ ¨ industrie von den Standorten der Wasserkraft und wurde weitgehend ortsunabhangig. Das mechanische Spinnen stellte nur einen ersten ¨ Schritt in einer langen Kette von Tatigkeiten dar, bis aus der rohen ¨ Wolle fertiges Garn, Tuch oder schließlich Kleider oder Hemden wurden. Die Erfindung einer mechanischen Spinnmaschine war daher nur ein wenn auch zentraler Teil eines umfassenden Neuerungsprogrammes hin zu einer modernen Textilindustrie. Technische Innovationen waren nicht in erster Linie der Eingebung eines genialen Erfinders zu verdanken, sondern entwickelten sich in einem komplexen technischen, sozialen und okonomischen Umfeld, wobei die fur ¨ ¨ die Industrielle Revolution entscheidenden Innovationen in England entstanden. Das noch ruckstandige Deutschland konnte spater auf die ¨ ¨ ¨ dort entwickelten Technologien zuruckgreifen und in kleinen Schrit¨ ten selbst einfuhren. ¨ 6.1 Innovationen und Wirtschaftswachstum 6.2 Technik in der Industriellen Revolution 6.3 Technologische Innovationen in Deutschland
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IN N OVATI ONEN U ND W IRT SCH AF TSWACHS TUM
6.1 Innovationen und Wirtschaftswachstum Verschiedentlich wurde darauf hingewiesen, dass die Überwindung der Armut der vorindustriellen Welt der enormen Steigerung der Produktivitat ¨ der einzelnen Produktionsfaktoren seit der Industriellen Revolution, also dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft, geschuldet war. Auch die Malthusianische Bevolkerungsfalle ¨ (benannt nach dem britischen Ökonomen Thomas Robert Malthus), welche besagt, dass die Bevolkerung schneller wachse als die Versor¨ gung mit Lebensmitteln, wurde außer Kraft gesetzt. Das Gesetz abnehmender Ertragszuwachse bei zunehmendem Einsatz der Produkti¨ onsfaktoren galt nicht mehr, stattdessen wurden langfristig steigende Ertragszuwachse erzielt. Ein langfristig quasi „naturliches“ Wirt¨ ¨ schaftswachstum von ca. 1,5 bis 2,0 % wurde dadurch erreicht (> KAPITEL 2.3). Wie war das moglich? Eine erste Antwort gibt der Hinweis auf ¨ die steigende Leistungsfahigkeit durch die Bildung von Humanka¨ pital uber die qualitative Verbesserung beim Einsatz menschlicher Ar¨ beitskraft im Produktionsprozess. Aber die Steigerung der Gesamtfaktorproduktivitat Produktionsfunktion ist ¨ der makrookonomischen ¨ naturlich auch dadurch zu erklaren, dass die eingesetzten Hilfsmittel ¨ ¨ der menschlichen Arbeit, das „Kapital“, nicht nur mengenmaßig er¨ hoht, sondern auch qualitativ deutlich verbessert wurden. Die Pro¨ duktivitat ¨ der eingesetzten Kapitalbestandteile konnte sich optimieren, weil die Produktionstechnik, und damit die Qualitat ¨ der eingesetzten Maschinen und Anlagen, effizienter wurde (> KAPITEL 5). Diese Zuwachse in der Produktivitat ¨ ¨ des eingesetzten Kapitals waren naturlich nicht gleichmaßig, sondern es gab deutliche Schube ¨ ¨ ¨ und Phasen verlangsamter Entwicklung. Diese Unstetigkeit in der Wirkung des technischen Fortschritts ist offenbar auf bestimmte, un¨ ¨ gleichmaßig auftretende Schube von Neuerungen in der Volkswirt¨ ¨ ¨ schaft zuruckzufuhren, auf „Innovationen“, wie sie der osterreichische Ökonom Joseph A. Schumpeter in seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung aus dem Jahre 1912 nannte. Dabei lassen sich nicht nur technische Innovationen auffinden, sondern auch solche okonomischer, organisatorischer, gesellschaftlicher und institu¨ tioneller Art. Innovation, d. h. Einfuhrung von Neuerungen, ist also ¨ kein allein technischer Vorgang, sondern ein komplexer gesellschaftlicher Prozess, fur ¨ dessen Erfolg auch die sogenannten weichen Faktoren eine große Rolle spielen. Dazu zahlen u. a. betriebliche und so¨ ziale Interessen, kulturelle Normen und Wertvorstellungen, aber
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Überwindung der Bevölkerungsfalle
Entwicklung der Gesamtfaktorproduktivität
Schumpeters Theorie der Innovationen
IN N OVATIO NEN U ND TECH NI SCH ER FORTSC HRITT
Schöpferische Zerstörung
Schöpferisches Unternehmertum
auch Wissen und Konnen der Menschen. Individuelle Verhaltenswei¨ sen entscheiden daher weit mehr uber den Erfolg von Innovationen ¨ als etwa staatliche Forderprogramme. ¨ Auf Schumpeters Innovationstheorie beziehen sich nach ihrer Wiederentdeckung in den 1970er-Jahren heute zahlreiche neuere Arbeiten (Lazonick 2003). In diesem Fruhwerk verweist Schumpeter da¨ rauf, dass die Produktion als ein Prozess der Kombination von Produktionsfaktoren zu verstehen ist und ein Fortschritt dabei nur dann zustande kommen kann, wenn neue Formen der Kombination gefunden werden. Das bedeutet, dass die alten Kombinationen entwertet (schopferische Zerstorung) und durch Innovationen neue, effi¨ ¨ zientere gefunden werden. Dabei scheinen ihm im Hinblick auf die Erweiterung der wirtschaftlichen Produktionsmoglichkeiten Innova¨ tionen in verschiedenen Auspragungen denkbar: durch neue Guter, ¨ ¨ neue und erweiterte Absatzmarkte oder Bezugsquellen, verbesserte ¨ Organisationsformen oder effizientere technische Produktionsmethoden. Nur die letztgenannte Moglichkeit von Innovation thematisiert ¨ explizit Technik und technologische Erneuerung. Sie stellt zwar nicht die einzige Form der Effizienzsteigerung des Faktoreinsatzes dar, steht hier jedoch im Folgenden im Zentrum der Betrachtung. Trager von Innovationen in der Schumpeterschen Terminologie ist ¨ der „dynamische Unternehmer“, der sich im Unterschied zum „statischen Wirt“, welcher die vertrauten Formen der Geschaftstatigkeit ¨ ¨ nicht verlasst, an neue, risikoreiche, aber auch potenziell hochst pro¨ ¨ fitable Projekte herantraut, sie durchsetzt und bei Erfolg Pioniergewinne realisieren kann. Erst wenn ein solcher Pionierunternehmer ein neues Geschaftsfeld erschlossen hat, folgen ihm nach und nach ¨ weniger risikobereite Unternehmer und bringen durch ihre Konkurrenz die Pioniergewinne zum Verschwinden. Dieses Modell lasst sich ¨ auch auf managergeleitete Großunternehmen ubertragen, die heute ¨ weit mehr als eigentumergefuhrte „Schumpetersche“ Unternehmen ¨ ¨ das Geschaftsleben pragen. Demnach sucht ein „innovative enterpri¨ ¨ se“ standig nach neuen Moglichkeiten, seine Geschaftstatigkeit aus¨ ¨ ¨ ¨ zuweiten, wahrend eine „optimizing company“ lediglich nach Wegen ¨ einer optimalen Anpassung in einer gegebenen Situation Ausschau halt ¨ (Lazonick 2003, S. 31–61). 6 Wenn Innovationen eine so große Bedeutung fur ¨ den okono¨ mischen Fortschritt und das Wirtschaftswachstum zufallt, so besteht ¨ eine wichtige Aufgabe darin, ihren Umfang zu bestimmen und sie moglichst genau zu beschreiben. Das ist aber nicht so einfach. Zu¨ nachst einmal ist es notig, die Innovation als erstmalige erfolgreiche ¨ ¨
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IN N OVATI ONEN U ND W IRT SCH AF TSWACHS TUM
Einfuhrung einer Neuerung in den Produktionsprozess von dem vor¨ gelagerten Prozess der Invention, der Entdeckung oder Erfindung dieser neuen Produktionsmoglichkeit, zu trennen. Dies gilt ebenso ¨ fur ¨ den nachgelagerten Prozess der Diffusion, also der massenhaften Verbreitung dieser neuen Produktionsweise. Hierbei ist auf den Prozesscharakter von Innovationen zu verweisen, der sich formal unterscheiden lasst in gelegentlich auftretende, grundlegende Basisinnova¨ tionen und sich daran anschließende, zahlreiche kleinere Folgeinnovationen. Ob sich diese Unterschiede in der Praxis tatsach¨ lich genau antreffen lassen, ist eher unwahrscheinlich. Zudem sind Innovationen unterschiedlich ,verkorpert‘. Sie konnen als Produkt¨ ¨ innovationen, als Prozessinnovationen und als institutionelle Innovationen auftreten. Die „evolutionare Ökonomik“ als ein eigener ¨ Forschungszweig der Wirtschaftswissenschaften widmet sich in besonderer Weise diesen Fragestellungen (Nelson / Winter 1982). Verschiedene Autoren haben Versuche unternommen, die wichtigsten Innovationen der letzten Jahrhunderte zu benennen und zeitlich zu verorten, wie > ABBILDUNG 14 verdeutlicht.
Abbildung 14: Ereignishaufigkeit ¨ der Innovationsdaten, nach Gerhard Mensch, J. J. van Duijn und Ronald Baker (nach Metz 2001, S. 706)
Derartige Reihen veranschaulichen sowohl eine steigende Zahl von Innovationen in den letzten 300 Jahren, als auch offensichtliche ¨ ¨ Haufungen in bestimmten Zeitraumen. Der Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Mensch z. B. unterscheidet vier Epochen einer besonders
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Invention, Innovation und Diffusion
Evolutionäre Ökonomik
IN N OVATIO NEN U ND TECH NI SCH ER FORTSC HRITT
Europäische Industrialisierung
Zweite Industrielle Revolution
Dritte Industrielle Revolution
Kondratieff-Zyklus
Einführung des Patentschutzes
innovativen Wirtschaftstatigkeit, die er mit der Industrialisierungs¨ geschichte Europas in Beziehung setzt (Mensch 1975). Zwischen ca. 1740 und 1780 ist die Industrielle Revolution in Großbritannien anzusetzen, in deren Verlauf eine Vielzahl von Basisinnovationen, insbesondere in der Textil- und Eisenindustrie, vorgenommen wurden. Wahrend der erfolgreichen Industrialisierung des westeuropaischen ¨ ¨ Kontinents, dessen Hohepunkt zwischen 1815 und 1840 zu datieren ¨ ist, haben sich wiederum zahlreiche Innovationen im Eisenbahnbau, der Eisen- und Stahlindustrie und im Steinkohlebergbau ergeben. Wahrend der sogenannten „zweiten“ Industriellen Revolution ver¨ lagerte sich in den 1870er- und 1880er-Jahren die Neuerungstatigkeit ¨ auf die neuen Sektoren der chemischen und elektrotechnischen Industrie, von denen nun auch besonders die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland profitierte. Und schließlich ist in der vielfach gestorten okonomischen Entwicklung der ersten Halfte des ¨ ¨ ¨ 20. Jahrhunderts eine kurze, verstarkte Innovationstatigkeit in den ¨ ¨ 1920er- und 1930er-Jahren zu beobachten, die Mensch als „dritte“ Industrielle Revolution bezeichnet. Das Auftreten von derartigen ¨ Schuben im Innovationsverhalten einer Gesellschaft wurde schon ¨ vom russischen Ökonomen Nikolai D. Kondratieff (1892–1938) 1 fruh erkannt und zur Basis einer Theorie langer, etwa 45 bis 60 Jahre ¨ wahrender Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung gemacht, deren ¨ Bedeutung auch von Joseph A. Schumpeter in seinem Werk uber Business Cycles von 1939 nochmals hervorgehoben wurde und wie sie seitdem haufig und bis in die Gegenwart erweitert dargestellt wer¨ den (Lindlar 1997). Ob allerdings derartig langfristige Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung tatsachlich existieren und ob sie mit ¨ den empirisch nur schwer zu identifizierenden Innovationszyklen in einem kausalen Verhaltnis stehen, ist umstritten. ¨ Wie > ABBILDUNG 14 verdeutlicht, zeigen die verschiedenen Zeitreihen uber Innovationsfahigkeiten, die von unterschiedlichen Autoren ¨ ¨ (Mensch, van Duijn, Baker) zusammengestellt wurden, nicht ganz ubereinstimmende Muster. Eine Verlaufsskizze jungsten Datums ¨ ¨ (IAB–Datenbank) zeigt fur ¨ den Zeitraum von 1750 bis 1990 einen stetig ansteigenden Trend in der Haufigkeit von Neuerungen, gefolgt ¨ von einer Stagnation auf hohem Niveau – allerdings lassen sich daran keine „Kondratieff-Zyklen“ ablesen (Metz 2001). Seit dem 19. Jahrhundert haben Erfinder und Unternehmen verstarkt versucht, die Nutzungsrechte an Erfindungen und Innovatio¨ nen durch Patente rechtlich schutzen zu lassen. Derartige Moglich¨ ¨ keiten gab es in England bereits im 17. Jahrhundert und ahnliches ¨
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TEC HN IK IN DER IN DUSTR IEL LEN R E VOL UTI ON
erfolgte auch auf dem Kontinent. In Frankreich bestand seit 1791 ein Patentschutz, in Deutschland wurden 1877 die landesrechtlichen Regelungen im Reichspatentgesetz vereinheitlicht und eine Patentstatistik eingefuhrt. Die Nutzung dieser Statistik als Indikator der In¨ novationstatigkeit ist allerdings nicht ganz unproblematisch, weil ¨ manche Neuerungen aus Geheimhaltungsgrunden nicht patentiert ¨ werden. Ferner sagen Anmeldungen nichts uber den okonomischen ¨ ¨ Nutzen der Patente aus. Zudem fallen oft Nutzung und Anmeldung von Patenten zeitlich auseinander. Inhaltlich sind sie nur schwer zu klassifizieren, insbesondere ihre Zuordnung zu bestimmten Branchen und Produktionsbereichen ist nicht immer moglich. Gleichwohl exis¨ tieren Versuche, Patentanmeldungen hinsichtlich ihrer Werthaltigkeit zu beurteilen und entsprechende Haufigkeiten als Indikatoren der In¨ novationstatigkeit zu interpretieren (Streb / Baten 2007). ¨
Patente als Indikator
6.2 Technik in der Industriellen Revolution Die Industrielle Revolution in England wird haufig und vor allem ¨ auch als eine Revolutionierung der Produktionstechnologie verstanden. Zur Veranschaulichung dieses Zusammenhanges dient ja auch hier der Hinweis auf die Arkwrightsche Waterframe (> ABBILDUNG 13). Zugespitzt wird diese Interpretation vom franzosischen Nationaloko¨ ¨ nom Adolphe Je´roˆme Blanqui (1798–1854), der sich im Jahre 1837 1 wie folgt außerte: ¨ „Kaum dem Gehirn der beiden genialen Manner Watt und Ark¨ wright entsprossen, nahm die industrielle Revolution von England Besitz.“ (Blanqui 1840, S. 209) Der seinerzeit sehr beruhmte Gelehrte bezieht sich dabei auf die Er¨ finder der atmospharischen, doppelwirkenden Dampfmaschine von ¨ James Watt und auf Richard Arkwright und dessen Spinnmaschine. Dennoch ist die Verflechtung von Technik und Wirtschaft viel komplexer, als es aus den Worten des Zeitgenossen herausklingt. Die Erfindung als Ausgangspunkt einer genialen Idee einer Einzelperson ignoriert die Tatsache, dass sie wesentlich in einen sozialen Kontext eingebunden und meist das Ergebnis einer langen Folge von „Trial and Error“ ist. Ferner ist aus okonomischer Sicht nicht die theoreti¨ sche Neuerung (Invention), sondern deren erfolgreiche praktische Umsetzung (Innovation) entscheidend. Dazu bedarf es zusatzlicher ¨ Hilfe und Unterstutzung. Zudem stellt sich langfristiger okono¨ ¨ mischer Erfolg erst ein, wenn sich die Erfindung flachendeckend und ¨
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Verflechtung von Technik und Wirtschaft
Invention – Innovation – Diffusion
IN N OVATIO NEN U ND TECH NI SCH ER FORTSC HRITT
Entwicklung der Spinnmaschinen
John Wyatt und Lewis Paul
gegen konkurrierende Verfahren durchgesetzt hat (Diffusion). Dabei ist oft kaum zu bestimmen, ob eine technische Erfindung zur Losung ¨ eines bestimmten Problems durch Anregungen von außen (Nachfrage) oder eher zufallig durch den Gedankenblitz eines Individuums ¨ (Angebot) hervorgerufen wurde. Ein genauerer Blick auf die Geschichte der Technik in der Industriellen Revolution lasst diesen Zusammenhang deutlicher hervortre¨ ten. Die Industrielle Revolution in England war naturlich begleitet ¨ von zahlreichen technischen Neuerungen, aber diese erfolgten nicht voraussetzungslos und waren keinesfalls alternativlos (Mokyr 1990). Betrachten wir zunachst die Entwicklungen in der Spinntechnik, ¨ die mit dem Patent von Richard Arkwright 1769 einen ersten Hohe¨ punkt erlebten. Dabei standen zunachst Versuche im Vordergrund, ¨ das Spinnen von Wolle, dem traditionellen Faserstoff englischen Textilgewerbes, zu mechanisieren. Dabei spielten John Wyatt und Lewis Paul eine bedeutsame Rolle (Mantoux 1948). Charles Wyatt, der Sohn des John Wyatt, hatte vermutlich die Idee zur Entwicklung einer Spinnapparatur fur ¨ Wolle. Um 1730 begann er mit den ersten entsprechenden Versuchen. 1733 war ein erstes Modell fertig, und ein erster Faden konnte ohne Handarbeit verarbeitet werden. Ob dieser Mechanismus von Wyatt und Paul dabei tatsachlich die erste Spinn-„Maschine“ gewesen ist, bleibt unklar, ¨ denn in der englischen Patentrolle werden fur ¨ 1678 bereits Richard Dereham aus Sussex und Richard Haines aus London mit einer ahn¨ lichen Apparatur erwahnt (no. 202). Ferner findet sich 1723 ein wei¨ terer Eintrag (no. 459), der den Weber Thomas Thwaites und den Kaufmann Francis Clifton in der gleichen Sache auffuhrt (Mantoux ¨ 1948). Wie und ob diese Erfindungen funktioniert haben, lasst sich ¨ nicht mit Bestimmtheit sagen. Allerdings weisen diese Eintragungen darauf hin, dass man seit langem intensiv am Problem der Mechanisierung des arbeitsaufwendigen Spinnvorgangs im Textilgewerbe arbeitete. Lewis Paul jedenfalls erhielt 1733, also mehr als 30 Jahre vor Arkwright, ein Patent auf die mit Vater und Sohn Wyatt entwickelte Spinnapparatur. Diese war aber offenbar noch sehr unvollkommen und bedurfte noch weiterer, intensiver Entwicklungsarbeit. Ein oko¨ nomischer Erfolg stellte sich nicht ein und 1738 wurde das Patent auch wieder geloscht, das Unternehmen machte 1742 bankrott. ¨ Die Erfindung wurde an den englischen Geschaftsmann Edward ¨ Cave verkauft und dieser versuchte erneut sein Gluck mit den me¨ chanischen Spinnapparaturen. In Northampton grundete er eine gro¨ ¨
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TEC HN IK IN DER IN DUSTR IEL LEN R EVOL UTI ON
ßere Fabrik, die mit funf nunmehr durch Wasserkraft betriebene ¨ Spinnmaschinen bestuckt war und etwa 50 Arbeiter beschaftigte. ¨ ¨ Aber auch Edward Cave hatte keinen Erfolg und musste 1764 seine Fabrik stilllegen. Immerhin kann er fur ¨ sich in Anspruch nehmen, die erste mechanische Spinnerei in England betrieben zu haben. Allerdings hatte er sich dem Spinnen von Wolle und der Herstellung von Wollgarnen zugewandt, eine Faser, die wegen ihrer naturlichen ¨ Beschaffenheit fur ¨ einen mechanischen Spinnprozess nur schlecht geeignet ist. Auch schien eine Mechanisierung in diesem Zweig des englischen Textilgewerbes nicht so dringlich. Wyatt und Paul bzw. Cave waren mit ihren zukunftstrachtigen Neuerungen offenbar zu ¨ fruh ¨ am falschen Ort. Das war in der Baumwollverfertigung in England zur Mitte des 18. Jahrhunderts ganz anders. Die Nachfrage nach Baumwollprodukten war so enorm, dass die Handspinnerei nicht in der Lage war, die Nachfrage der Weber nach Baumwollgarnen hinreichend zu bedienen: Man sprach zu dieser Zeit von einer „yarn-famine“, einem ungeheuren Garnhunger also. Auch waren die Baumwollfasern besser als Wolle geeignet, in einer mechanischen Apparatur maschinell versponnen zu werden. Der britische Baumwollweber James Hargreaves brachte als erster eine dem traditionellen Handspinnrad noch sehr ahnliche Konstruktion zum mechanischen Spinnen auf den ¨ Markt. Die eingangs erwahnte Spinning Jenny, die erste industrielle ¨ Spinnmaschine zum Verspinnen von Wolle zu Garn, verbreitete sich sehr schnell, war sie doch handgetrieben und konnte daher leicht an die Stelle des Spinnrads treten. Bis dahin waren etwa drei bis vier Personen notig, um einen Weber mit genugend Garn zu versorgen. ¨ ¨ Nunmehr konnte ein Spinner mittels der neuen „Maschine“ mehr Garn produzieren als ein Weber verweben konnte. Der Kapazitats¨ engpass beim Spinnen war also durch eine technologische Innovation behoben und die Produktion von Baumwollstoffen gewaltig ausgedehnt worden. Zudem erschloss die Mechanisierung ein bis dahin nicht genutztes landliches Arbeitspotenzial (Frauen und Kinder), weil ¨ nunmehr auch wenig geubte und geschickte Personen mit dem Spin¨ nen von Baumwollgarnen betraut werden konnten. Die wirtschaftlichen Effekte dieser Innovation waren enorm (Landes 1973). Nicht ¨ eines einnur wurde damit eine Steigerung der Arbeitsproduktivitat zelnen Spinners um das sechs- bis vierundzwanzigfache gesteigert, ¨ wurde verbessert, weil nunmehr unabhangig ¨ auch die Garnqualitat von der individuellen Geschicklichkeit des Spinners eine immer glei¨ ¨ che, standardisierte Garnstarke produziert wurde. Wegen der uber-
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Erste mechanische Spinnerei in England
Baumwollverfertigung
Garnhunger
Spinning Jenny
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Steigerung der Produktivität
Protoindustrialiserung
Spinning Mule
Weitere Innovationen in der Baumwollspinnerei
Entwicklung und Einsatz von Dampfmaschinen
proportionalen Ausdehnung des Absatzes war diese Neuerung außerordentlich rentabel, trotz dramatisch sinkender Garnpreise. Dies galt auch und in besonderem Maße fur ¨ die Arkwrightsche Maschine, deren Produktivitatssteigerung gegenuber dem Handspinnen in ¨ ¨ etwa mit dem Faktor 100 anzusetzen ist. Auch erlaubte sie weitere Qualitatssteigerungen und Standardisierungen der Garne. Allerdings war ¨ diese Maschine recht komplex und daher teuer, und sie bedurfte eines mechanischen Antriebs. Erst die Waterframe machte daher eine zentralisierte fabrikmaßige Organisation des Spinnprozesses notig und gab ¨ ¨ damit den Anstoß zu dem, was wir heute Industrialisierung nennen. Naturlich war damit der Innovationsprozess in der Baumwollspinnerei ¨ noch nicht vollendet, er setzte sich stetig weiter fort. Der englische Weber Samuel Crompton erhielt z. B. bereits 1779 ein Patent fur ¨ seine „Spinning Mule“, eine Spinnmaschine zum Ausspinnen von Baumwolle, die sich nach 1790 weit verbreitete. Diese Maschine besaß Merkmale ihrer beiden Vorgangertypen Waterframe und Spinning Jenny. Aus der ¨ Vereinigung dieser beiden Maschinen leitet sich auch ihr Name ab: Maultier (englisch mule), eine Kreuzung aus Pferd und Esel. Der okono¨ mische Vorteil lag vor allem darin, dass damit auch feinere Garnsorten als Massenprodukt hergestellt werden konnten. Die Wirkung all dieser Innovationen in der Baumwollspinnerei war derartig groß, dass nunmehr Baumwollgarne im Überfluss zur Verfugung standen und die Handweber kaum noch nachkamen, die Garne ¨ zu Tuchen zu verweben. Handweber waren plotzlich außerordentlich ¨ begehrt und sie konnten in England hohe Einkommen erzielen. Ein Teil der Garne wurde exportiert, z. B. auch nach Deutschland, wo sie zur Entwicklung einer Baumwollindustrie beitrugen. In England suchte man nach einer technischen Losung zur Überwindung des Engpasses ¨ zwischen Spinnen und Weben. Edmund Cartwright, ein englischer Geistlicher, erlangte schließlich im Jahre 1785 ein Patent fur ¨ einen mechanischen Webstuhl. Seine Einfuhrung in die Praxis machte aber große ¨ Probleme, und erst zwischen 1800 und 1810 erfolgte eine erfolgreiche Innovation. Sie verzogerte sich u. a. auch durch Proteste der Hand¨ weber, die in ihrer Existenz bedroht waren und mit „Maschinensturme¨ rei“ reagierten. Da mechanische Webstuhle sehr teuer und wie die ¨ neueren Spinnmaschinen auf den Antrieb durch Dampfmaschinen angewiesen waren, trugen sie wesentlich zum Durchbruch des Fabriksystems in der englischen Industrie bei (Pierenkemper 1996). Leistungsfahige Dampfmaschinen standen mittlerweile dafur ¨ ¨ zur Verfugung. Aber auch deren Entwicklung und Implementierung in der ¨ Praxis ging ein langer Prozess voraus. Dem englischen Ingenieur Tho-
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TECHN OL OGIS CHE IN NOVAT ION EN I N DEU TSC HL AN D
mas Savery gelang es erstmals, eine relativ funktionstuchtige Dampf¨ pumpe zu konstruieren, die dann gegen die Probleme der Wasserhaltung in tiefer gehenden Bergwerken eingesetzt wurde. Obwohl diese lediglich mit Unterdruck arbeitete und uber keinen Zylinder verfugte, ¨ ¨ damit also hochst ineffizient arbeitete und gewaltige Mengen an Brenn¨ stoff benotigte, fand die 1698 patentierte Erfindung Einsatz in zahlrei¨ chen Kohlenbergwerken. Der englische Eisenwarenhandler Thomas ¨ Newcomen erarbeitete entscheidende Verbesserungen gegenuber dem ¨ Vorlaufermodell, insbesondere weil er einen Zylinder fur ¨ ¨ den Pumpvorgangs einsetzte. Die Newcomenschen „Feuermaschinen“ fanden im Bergbau des 18. Jahrhunderts weite Verbreitung und konnten sich anschließend auch auf dem europaischen Kontinent durchsetzen. Der ent¨ scheidende Fortschritt gelang aber erst James Watt, Sohn eines schottischen Zimmermanns, der durch den Einbau eines Kondensators den Wirkungsgrad des Energieeinsatzes entscheidend steigern konnte. Zugleich nutzte er erstmals beide Bewegungsrichtungen des Zylinders und daruber hinaus ein von ihm entwickeltes Planetengetriebe, das die Hub¨ bewegung des Zylinders in eine Drehbewegung ubersetzte. Doch der ¨ Weg zu dieser technischen Losung war lang und ihre Umsetzung in die ¨ Praxis gefahrvoll und beschwerlich (Scherer 1976). Die Geschichte der „Erfindung“ der Dampfmaschine durch James Watt zeigt erneut die Komplexitat ¨ des Innovationsprozesses einer technischen Neuerung in der Industrie. Sie knupfte an eine lange Tra¨ dition derartiger Versuche an und durchlief einen außerordentlich schwierigen und kostspieligen Entwicklungsprozess: sie war alles andere als plotzlich dem Gehirn eines genialen Mannes entsprungen, ¨ wie Adolphe Blanqui 1837 behauptete. Zudem ware ¨ Watt vermutlich ohne die finanzielle Unterstutzung der Unternehmer Roebuck und ¨ Boulton gescheitert. Auch technische Hilfe war notig, so z. B. durch ¨ John Wilkinson, der 1774 eine Zylinderbohrmaschine erfunden hatte, die wesentlich zur Fertigung eines passgenauen Zylinders beitrug. Weitere Probleme der Ventilsteuerung, der Ausgestaltung des Kessel¨ waren zu losen, ¨ ¨ bodens u. a. ehe die atmospharische Dampfmaschine des James Watt ihren Siegeszug in der Industrie beginnen konnte.
Innovation als komplexer Prozess
6.3 Technologische Innovationen in Deutschland ¨ ¨ Ein „Vorteil der Ruckstandigkeit“ (Gerschenkron 1976, S. 59) Deutschlands in wirtschaftlicher Hinsicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestand darin, dass man in den deutschen Territorien auf die
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Rückständigkeit Deutschlands
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Industriespionage
Einsatz der Dampfmaschine in Deutschland
entwickelten Produktionstechnologien Englands zuruckgreifen konn¨ te. Zwar versuchte das Britische Konigreich durch ein Ausfuhrverbot ¨ fur ¨ Maschinen und Konstruktionszeichnungen (1781) sowie ein Auswanderungsverbot fur ¨ Facharbeiter, den Transfer von Technologie zu verhindern. Doch fanden sich Mittel und Wege, diese Hindernisse zu uberwinden. Spionagereisen deutscher Beamter und Unternehmer, der ¨ Schmuggel von Maschinen, die Anwerbung auslandischer Arbeiter ¨ und Techniker sowie ein Netz von Agenten und Spionen in England selbst unterliefen aber erfolgreich die staatlichen Regelungen, die 1843 auch formal wieder aufgehoben wurden. Eine Übernahme der fortgeschrittenen englischen Technologien in Preußen und den ubrigen deutschen Landern erfolgte dennoch sehr ¨ ¨ zogerlich und verspatet (Mieck 1965). Vor 1780 kam es zu keinerlei ¨ ¨ entsprechenden Versuchen. Lediglich Carl Friedrich Buckling hatte ¨ auf zwei Englandreisen die Newcomenschen Feuermaschinen studieren konnen. Dem Huttenbauinspektor und spateren Bergassessor ge¨ ¨ ¨ lang 1784 / 85 ein erfolgreicher Nachbau, der in einigen Bergwerken zur Wasserhaltung Verbreitung fand (Wagenbreth 2002). Zu diesem Zeitpunkt waren Feuermaschinen gegenuber den Watt’schen Dampf¨ maschinen aber bereits technisch veraltet. Eine erste Watt’sche Dampfmaschine aus englischer Produktion wurde in Deutschland 1788 auf der staatlichen Friedrichsgrube, einem Blei- und Silberbergwerk in Oberschlesien, installiert. Dort konnte sie allerdings nur wenig effizient genutzt werden und wurde als technisches Wunderwerk eher bestaunt als okonomisch genutzt – u. a. auch von Johann Wolf¨ gang Goethe. Einige wenige weitere Versuche zur okonomischen ¨ Nutzung der Dampfmaschine in Deutschland wurden bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts unternommen. 1795 wurde von der Maschinen-Spinnerei Sieburg in Berlin eine englische Dampfmaschine erworben. Sie wurde jedoch auf dem Transportsweg beschadigt und die ¨ Beschaffung von Ersatzteilen gestaltete sich schwierig. Zwei Jahre spater war sie endlich betriebsbereit, doch es zeigte sich, dass die ¨ Maschine mit 118 PS zum Betrieb von 1 500 Spindeln viel zu stark ausgelegt war. Da sich ihr Betrieb als zu kostspielig und ineffizient erwies, wurde sie bald wieder stillgelegt. Auch bei der Koniglichen Porzellan Manufaktur in Berlin hatte es ¨ seit 1788 Plane ¨ zum Bau einer Dampfmaschine gegeben. Ihr Bau verzogerte sich jedoch. Erst im Jahr 1800 ging eine durch den Schotten ¨ John Baildon gebaute Dampfmaschine in Gleiwitz / Oberschlesien in Betrieb und lief dort etwa 25 Jahre als Antrieb von Werkzeugmaschinen. Die Aufstellung einer Dampfmaschine in der Spinnerei Alberti
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in Waldenburg / Niederschlesien war ebenfalls nur mit staatlicher Unterstutzung moglich. ¨ ¨ Es zeigt sich, dass die Einfuhrung moderner Dampfmaschinen in ¨ Deutschland um 1800 nur zogerlich und zumeist durch den Staat ¨ oder mit massiver staatlicher Hilfe erfolgte. Bei Privatpersonen gab es offenbar noch kein großes Bedurfnis nach einer Übernahme der ¨ modernsten Technologien aus England. Dazu waren die notwendigen Voraussetzungen im ruckstandigen Deutschland noch nicht vorhan¨ ¨ den, die eine rentable Verwertung derartig kostspieliger Innovationen ermoglicht hatten. Der Technologietransfer aus dem fortgeschrittenen ¨ ¨ England in das ruckstandige Deutschland geschah also sehr zogerlich ¨ ¨ ¨ und bedurfte bestimmter Formen angepasster Technologien an die spezifischen Bedingungen auf dem Kontinent. Ein gutes Beispiel dafur ¨ bietet die Eisenindustrie (Fremdling 1986). Die Eisengewinnung ist in ein zweistufiges Produktionsverfahren gegliedert, in dem auf einer ersten Stufe im Hochofen aus dem Erz ein kohlenstoffreiches Roheisen gewonnen wird, welches anschließend auf einer zweiten Stufe zu einem vielseitig einsetzbaren, schmiedbaren Eisen weiterverarbeitet wird. Die Ergebnisse dieser Verfahren tragen je nach Herstellungsart und Qualitat ¨ verschiedene Namen, wie beispielsweise Schmiedeeisen, Stabeisen oder Stahl. Die Fortschritte in der Eisentechnologie in England erfolgten auf beiden Stufen der Eisengewinnung. Die Roheisenherstellung (1. Stufe) wurde durch den mit Steinkohlenkoks betriebenen Hochofen revolutioniert und das Puddelverfahren (2. Stufe), also die Herstellung von Stahl aus Roheisen, ermoglichte erstmals eine Massenproduktion von ¨ schmiedbarem Eisen. Mit diesen grundlegenden Neuerungen waren auf beiden Produktionsstufen weitere zahlreiche Verbesserungen verbunden, wie z. B. das Heißluftblasen im Kokshochofen oder das Walzen des Puddeleisens. Der Übergang vom traditionellen Holzkohlehochofen zum modernen Kokshochofen erfolgte in Deutschland im Vergleich zu England erheblich spater. Dort hatte der Eisenfabrikant Abraham Darby be¨ reits zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Coalbrookdale erfolgreich Roheisen mithilfe von Steinkohlenkoks erschmolzen (Ashton 1924). Zwar dauerte es noch geraume Zeit, bis sich dieses neue Verfahren in England verbreitete, weil die unterschiedlichen chemischen Beimengungen zur Steinkohle in den verschiedenen Revieren eine einfache Übertragung erschwerten, doch der Erfolg des Kokshochofens in der Eisenindustrie ließ sich nicht aufhalten. Ganz anders in Deutschland. Hier hielt man noch sehr lange am Erschmelzen des
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Technologietransfer von England nach Deutschland
Beispiel aus der Eisenindustrie
Roheisenherstellung und Puddelverfahren
Entwicklung vom Holzkohle- zum Kokshochofen
IN N OVATIO NEN U ND TECH NI SCH ER FORTSC HRITT
Eisenbahn als Katalysator
Verbreitung des Puddelverfahrens
Roheisens durch Holzkohle fest, obwohl auf den staatlichen Hutten¨ werken in Oberschlesien bereits seit 1791 / 92 (Malapane) bzw. 1794 / 96 (Gleiwitz) mit den neuen Verfahren erfolgreich experimentiert wurde (Lange-Kothe 1965). Das hatte gewiss auch damit zu tun, dass die Nachfrage nach Eisenprodukten im agrarisch gepragten ¨ Deutschland um 1800 noch relativ gering war. Als jedoch mit dem Eisenbahnboom ab den 1830er-Jahren die Nachfrage deutlich anstieg, standen billige Roheisenimporte, insbesondere aus Schottland, zur Verfugung. Zudem war ein Teil der Verbesserungen am Koks¨ hochofen auch bei den Holzkohlehochofen einsetzbar, so z. B. die ¨ Nutzung der Gichtgase und die Verbesserungen beim Einblasen von Luft in den Schmelzprozess, um dessen Temperatur zu steigern. Zudem hatte das Holzkohlenroheisen zunachst noch qualitative ¨ Vorzuge gegenuber dem Koksroheisen. Der erste Kokshochofen im ¨ ¨ Ruhrgebiet wurde erst 1849 auf der Friedrich-Wilhelms-Hutte in ¨ Mulheim angeblasen. ¨ Auf der erwahnten zweiten Stufe der Eisengewinnung, beim „Fri¨ schen“ des Roheisens, um dessen Kohlenstoffgehalt zu reduzieren und ein schmiedbares und verformbares Eisen zu erhalten, wahlte ¨ man in Deutschland einen anderen Weg als bei der Roheisengewinnung. Der moderne Puddelprozess war 1784 durch den englischen Metallurgen Henry Cort (1740–1800) eingefuhrt worden und fand 1 ¨ dann seit dem fruhen 19. Jahrhundert in den deutschen Zentren der ¨ Eisenindustrie relativ rasch Verbreitung (Paulinyi 1987). Den Anfang machten die Gebruder Remy auf dem Rasselstein bei Neuwied und ¨ es folgten in rascher Folge die Unternehmer Eberhard Hoesch (1825) in Lendersdorf / Eifel, Friedrich Harkort (1826) in Wetter / Ruhr, Ferdinand Remy (1827) in Alf an der Mosel, Eduard Schmidt (1828) in Nachrodt bei Iserlohn und weitere Werke, sodass bis 1835 das Verfahren flachendeckend von mehr als zehn Eisenwerken unter Nut¨ zung von 38 bis 40 Puddelofen praktiziert wurde (Bosack 1970). ¨ Staatliche Eisenhutten hatten bereits seit 1817 (Rybnik in Oberschle¨ sien, Geislautern / Saarrevier) wenig erfolgreich mit dem Puddelverfahren experimentiert. In den 1840er-Jahren gingen dann praktisch alle deutschen Eisenhutten zu diesem Verfahren uber. Sie waren da¨ ¨ durch zunehmend in der Lage, die explodierende heimische Nachfrage nach Eisenbahnmaterialien (Schienen, rollendes Material) zu befriedigen. Dies geschah noch weitestgehend unter Verzicht auf den ¨ Ausbau einer heimischen Roheisenbasis, sondern gestutzt auf um¨ fangreiche Roheisenimporte. Man kann daher die Innovationstatig¨ keit in der deutschen Eisenindustrie im fruhen 19. Jahrhundert als
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FRAG EN UND LEK TÜR EEMPFEH LUNGEN
eine „Teilmodernisierung“ (Fremdling 1986, S. 153) bezeichnen. Damit wurde den Bedingungen der deutschen Wirtschaft zu diesem Zeitpunkt Rechnung getragen. Man befand sich gegenuber England ¨ in einem gravierenden technologischen Ruckstand und weder die ¨ eigenen Ressourcen, noch die vorfindbare Nachfrage hatten eine ¨ komplette Übertragung der neuen Technologien ermoglicht. Man be¨ gnugte sich daher mit kleinen Schritten unter Ausnutzung relativer ¨ Kostenvorteile. Das bedeutete, dass man einzelne Neuerungen aufgriff, um die uberkommenen Produktionsverfahren effektiver zu ge¨ stalten, z. B. durch Heißwindblasen im Holzkohlenhochofen, wodurch die Wettbewerbsfahigkeit der traditionellen Verfahren noch ¨ eine gewisse Zeit aufrecht erhalten werden konnte. Zum anderen nutzte man preiswerte Inputs (Roheisen), um neue Verfahren der Weiterverarbeitung (Puddeln) anzuwenden und zu optimieren. Man passte gleichsam die englischen Technologien an die noch unvollkommenen deutschen Verhaltnisse an und schuf so eine Basis fur ¨ ¨ eine spatere vollkommene Übernahme der neuen Verfahren. ¨
Teilmodernisierung der deutschen Eisenindustrie
Fragen und Anregungen • Großen Erfindern wird zumeist in der Öffentlichkeit eine große Wirkung auf den Lauf der Weltgeschichte zugeschrieben. Lasst sich ¨ eine derartig vereinfachende Sichtweise auch fur ¨ die Industriegeschichte nachweisen? • Ist das Wirtschaftswachstum der letzten 200 Jahre tatsachlich der ¨ Entwicklung der Technik geschuldet? • Kann man die Übernahme technologischer Neuerungen in Deutschland im 19. Jahrhundert mit den Problemen einer „ange¨ passten“ Technologie in Entwicklungslandern heute vergleichen?
Lektüreempfehlungen ¨ ¨ • Wolfgang Konig: Technikgeschichte. Eine Einfuhrung in ihre Konzepte und Forschungsergebnisse, Stuttgart 2009. Aktuelle ¨ Übersicht uber die Technikgeschichte als Wissenschaft und die ¨ ¨ Geschichte wichtiger Schlusselindustrien wahrend der Industrialisierung.
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Übersichten
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• David Landes: Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa 1750 bis zur Gegenwart, Koln ¨ 1973. Standardwerk zur Industrialisierung Westeuropas mit besonderer Berucksichtigung der technologischen ¨ Neuerungen. • Gerhard Mensch: Das technologische Patt. Innovationen uberwin¨ den die Depression, Frankfurt a. M. 1975. Untersuchung der Wachstumsschwache moderner Volkswirtschaften mit Ruckgriff ¨ ¨ auf die historische Innovationsforschung. Forschung
• Rainer Fremdling: Technologischer Wandel und internationaler Handel im 18. und 19. Jahrhundert. Die Eisenindustrie in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Deutschland (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 35), Berlin 1986. Grundlegende Untersuchung uber internationalen Wettbewerb und den ¨ Zwang zu Innovationen in den betrachteten Landern am Beispiel ¨ der Eisenindustrie. • Rainer Metz: Wirtschaftliches Wachstum, technischer Fortschritt und Innovationen in Deutschland. Eine Sakularbetrachtung, in: ¨ Dietrich Ebeling / Volker Henn u. a. (Hg.), Landesgeschichte als multidisziplinare ¨ Wissenschaft. Festgabe fur ¨ Franz Irsigler zum 60. Geburtstag, Trier 2001, S. 679–709. Guter Überblick uber 7 ¨ Ergebnisse der historischen Innovationsforschung.
Handbücher / Lexika
• Armin Hermann / Wilhelm Dettmering (Hg.): Technik und Kultur, 11 Bde., Dusseldorf 1989–95. ¨ 9 • Wolfgang Konig (Hg.): Propylaen ¨ ¨ Technikgeschichte, 5 Bde., Berlin 1990–92. 9 • Melvin Kranzberg / Carroll W. Pursell, Jr. (Hg.): Technology in Western Civilization, New York u. a. 1967. • Charles Singer u. a. (Hg): A History of Technology, 8 Bde., Oxford 1954–84. 8 • Rolf Sonnemann u. a. (Hg.): Geschichte der Technik, Koln ¨ 1978.
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7 Geld und Währung
¨ Abbildung 15: Reichsbanknote uber 10 Millionen Mark zu Zeiten der Hyperinflation (1923)
¨ Die Grundlage aller Nationalokonomie ist das sog. ,Geld‘. Geld ist weder ein Zahlungsmittel ¨ Geld noch ein Tauschmittel, auch ist es keine Fiktion, vor allem aber ist es kein Geld. Fur ¨ Waren kaufen kann man Waren kaufen, weil es Geld ist, und es ist Geld, weil man dafur kann. Doch ist diese Theorie inzwischen fallen gelassen worden. Woher das Geld kommt, ist unbekannt. Es ist eben da bzw. nicht da – meist nicht da. ¨ Kaspar Hauser (d. i. Kurt Tucholsky): Kurzer Abriß der Nationalokonomie, in: Die Welt¨ buhne, Nr. 37 vom 15. September 1931 (Tucholsky 1931)
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GELD UND WÄHRUNG
Die Verwirrung uber die Eigentumlichkeiten des Geldes, wie sie in ¨ ¨ den Zeilen von Kurt Tucholsky 1931 zum Ausdruck kommt, scheint verstandlich angesichts der Erfahrungen, die in jener Zeit gemacht ¨ wurden. Eine Banknote uber 10 Millionen Mark – welch eine un¨ glaubliche Summe! Nicht jedoch zur Zeit der Hyperinflation, der rasenden Geldentwertung im Deutschen Reich des Jahres 1923. In immer kurzeren Zeitabstanden vervielfachten sich die Preise: Am ¨ ¨ 1. September 1923 kostete ein einfacher Fahrschein fur ¨ die Straßenbahn in Berlin 150 000 Mark. Ende September waren es bereits 4,5 Millionen Mark. Schließlich verlor das Geld mit seinem Wert all seine Funktionen. Der abgebildete Geldschein wurde von einem Wertgegenstand wieder zu dem, was er eigentlich war: ein bedrucktes ¨ Papier. Stuck Was verbirgt sich aber hinter dem Phanomen Geld? In alteren Zeiten ¨ ¨ gab es in Mitteleuropa nur vollwertig ausgepragte Edelmetallmunzen ¨ ¨ und unedle unterwertige Scheidemunzen, deren Metallwert niedriger ¨ war als ihr nomineller Wert. Diese Form des Geldes dominierte bis weit in die Neuzeit, in Deutschland z. B. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Doch schon fruh der Be¨ schufen Kaufleute aus Grunden ¨ quemlichkeit und Sicherheit fur ¨ ihre unsicheren und schwer zu handhabenden Transaktionen mit Munzgeld Ersatz. Dazu dienten ihnen ¨ zunachst Wechsel, also gegenseitige Schuldverschreibungen. Auch ¨ Buchgeld fand bald Verbreitung und schließlich konnte mithilfe von Banken auch werthaltiges Papiergeld in Umlauf gebracht werden. Bei ¨ es bis heute schwer, dieser Vielfalt der Formen des Geldumlaufs fallt ¨ die tatsachliche Menge des Geldes einer Volkswirtschaft genau zu bestimmen.
7.1 Zur Entstehung des Geld- und Bankwesens in Mitteleuropa 7.2 Die Konsolidierung der Währungsordnung in Deutschland im 19. Jahrhundert 7.3 Die Zerrüttung der deutschen Währung in zwei Inflationen 7.4 Stabilitätskultur in Nachkriegsdeutschland
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ZUR ENT STEHUNG DES GELD- UND BAN KWESENS IN MITT ELEUROPA
7.1 Zur Entstehung des Geld- und Bankwesens in Mitteleuropa Geld als eine soziale Innovation zur Erleichterung des Warentausches ist eine kulturelle Errungenschaft, die seit Jahrtausenden verwendet wird. In Mitteleuropa konnte man im fruhen Mittelalter an das ro¨ ¨ mische Munzsystem anknupfen, das den Solidus als Goldmunze und ¨ ¨ ¨ Siliquen als Silbermunzen kannte. Beide orientierten sich am Romi¨ ¨ schen Pfund (327,45 Gramm). Der Solidus wurde in zwolf ¨ Unzen zu je sechs Solidi ausgepragt, wahrend aus einem Pfund Silber 144 Sili¨ ¨ quen geschlagen wurden. Diese Munzen blieben lange weiter in Um¨ lauf, auch als die Frankische Silberwahrung mit 288 Denaren ( Sili¨ ¨ que) aus dem romischen Pfund als neue Wahrung eingefuhrt war. ¨ ¨ ¨ Die stetigen Munzverschlechterungen, die Abnahme des Edel¨ metallgehaltes vom 4. bis zum 8. Jahrhundert, machten trotz aller Versuche zur Stabilisierung langfristig eine Sanierung des fruhmittel¨ alterlichen Munzwesens notig. Diese erfolgte in der Karolingischen ¨ ¨ Munzreform, von Karl dem Großen in den 780er-Jahren vollendet, ¨ welcher ein neues, das Karolingische Munzpfund, einsetzte. Dessen ¨ Gewicht bemaß sich nach unterschiedlichen Schatzungen auf 367 bis ¨ 409 Gramm, war also hoher als das der alten Wahrung. In England ¨ ¨ hielt sich ein entsprechendes Munzsystem mit zwanzig Schilling zu je ¨ zwolf ¨ Pence (denare) pro Pfund Sterling bis in die 1970er-Jahre, auf dem Kontinent hingegen fand die Mark als Munzgewicht, in Deutsch¨ land unter dem Namen „Kolnische Mark“, weite Verbreitung (Som¨ merland 1910). Daneben blieben altere Munzen weiter in Umlauf und neue mit ¨ ¨ unterschiedlichem Feingehalt traten hinzu. Auch fanden infolge der Kreuzzuge insbesondere seit dem 14. Jahrhundert von dort mitge¨ brachte Goldmunzen zunehmend Verbreitung, die das Munzwirrwarr ¨ ¨ in Mitteleuropa noch weiter vergroßerten. Trotz aller Bemuhungen ¨ ¨ der Munzherren, z. B. durch vertragliche Regelungen untereinander ¨ (Rheinischer Munzverein 1386) oder durch Reichstagsbeschlusse ¨ ¨ (Reichsmunzordnungen 1524, 1551 und 1559), gelang es bis in die ¨ fruhe Neuzeit nicht, der stetigen Munzverschlechterung Einhalt zu ¨ ¨ gebieten und zu einer Vereinheitlichung des Geldwesens zu gelangen. Besonders unubersichtlich wurde es in der sogenannten Kipper- und ¨ Wipperzeit um 1620, als der Munzwert der allseits verbreiteten Sil¨ berwahrungen besonders drastisch reduziert wurde (Lexis 1910, ¨ S. 847–853). 8
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Karolingische Münzreform
Münzenvielfalt in Europa
Stetige Münzverschlechterung
GELD UND WÄHRUNG
Handelsexpansion
Spezialisierung im Bankgeschäft
Wechselkreditsystem
Erst mit der Entwicklung großerer Territorialstaaten auf deut¨ schem Boden gluckte auch hier eine allmahliche Stabilisierung und ¨ ¨ Ordnung des Geldwesens. 1738 war ein Reichsmunzfuß mit 12 Ta¨ lern pro Mark festgelegt worden, an dem sich z. B. Preußen bereits seit 1690 orientierte (ein Taler zu 30 Groschen a` 12 Pfennige). Österreich folgte diesem Beispiel aber nicht und pragte 13 Taler aus der ¨ Mark. Im Hinblick auf die Uneinigkeit des Geldwesens der vormodernen Wirtschaft muss angemerkt werden, dass nur ein kleiner, im Zeitverlauf allerdings deutlich wachsender Teil der Bevolkerung in die Geld¨ wirtschaft integriert war. Der großere Teil lebte noch in Formen einer ¨ Subsistenzokonomie mit umfangreicher Selbstversorgung und einem ¨ gelegentlichen und außerst bescheidenen Bedarf an Bargeld, der mu¨ ¨ helos durch umlaufende unterwertige Scheidemunzen zu befriedigen ¨ war. „Gutes Geld“, also Edelmetallmunzen, blieb der Mehrheit der ¨ Bevolkerung noch weitgehend unbekannt. Das anderte sich in der ¨ ¨ fruhen Neuzeit grundlegend, als namlich die Expansion des uber¨ ¨ ¨ regionalen Handels immer mehr Menschen in die Verkehrswirtschaft mit einbezog (Braudel 1986, S. 426–431). Die Handler und Kaufleu4 ¨ te hingegen, die mit diesem interregionalen und internationalen Handel befasst waren, litten unter den Unzulanglichkeiten des Geldwe¨ sens und suchten nach Wegen diese zu beheben. In dieser Zeit gewannen Geldwechsler, die sich mit den unterschiedlichen Munzsor¨ ten, ihrem Feingehalt und Zustand auskannten, eine große Bedeutung. Aus diesen Geschaften wuchsen ebenso wie aus Handels¨ geschaften erste Geldhandler, Bankiers eben, hervor. ¨ ¨ Eine derartige Spezialisierung war als erstes in den italienischen Stadten zu beobachten (Ehrenberg 1910, S. 360–366). So bereits im ¨ 3 12. Jahrhundert in Genua, wo „bancheri“ neben dem Geldwechsel bereits regelrechte Bankgeschafte (Depositen- und Darlehensgeschaf¨ ¨ te) betrieben. Im 13. Jahrhundert traten die Florentiner hinzu, die nicht nur mit ihrem Geld den expandierenden Handel finanzierten, sondern z. B. auch den englischen Konigen Kredite gewahrten. Als ¨ ¨ dann nach der Entdeckung Amerikas zwischen 1550 und 1650 ein gewaltiger Silberstrom nach Europa floss, erlangten die als Lombarden bezeichneten italienischen Kaufleute und Bankiers in ganz Europa großen Einfluss, weil sie den Fluss des spanischen Silbers weitgehend kontrollierten. Neben dem Handel mit Munzen und Edelmetallen waren sie auch ¨ am Aufbau eines bargeldlosen Wechsel(kredit)systems beteiligt. Dieser „Handel mit Papier“, dem traditionelle suddeutsche Kaufleute ¨
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ZUR ENT STEHUNG DES GELD- UND BAN KWESENS IN MITT ELEUROPA
(z. B. die Fugger und Welser) eher skeptisch gegenuber standen, ver¨ drangte sehr bald das Bargeld aus den Kaufmannsgeschaften. Dem ¨ ¨ Ausgleich der Geldforderungen dienten die Messen von Piacenza, die ab 1535 regelmaßig, ab 1597 sogar viermal jahrlich abgehalten wur¨ ¨ den. Eine kleine Gruppe von ca. 60 „bancheri“, vornehmlich aus Genua, durch eine hohe Kaution legitimiert, glichen die gegenseitigen Wechselforderungen aus, und nur zur Abdeckung der Spitzen war noch Bargeld in relativ geringem Umfang notig. Ein weitgehend bar¨ geldloser Giroverkehr war damit erfolgreich etabliert. Er entlastete den Zahlungsverkehr zwischen Kaufleuten und schuf daruber hinaus ¨ neue Kreditmoglichkeiten. ¨ Neben diesen Privatbankiers gab es zu Beginn der Neuzeit auch bereits einige offentliche Banken, die ihren Ursprung haufig in mild¨ ¨ tatigen Stiftungen von Pfandhausern hatten. Diese stadtischen Ban¨ ¨ ¨ ken betrieben vornehmlich das ortliche Wechselgeschaft ¨ ¨ und organisierten den Giroverkehr untereinander. Daruber hinaus nahmen sie ¨ auch Einlagen der Stadte und gewahrten ihnen Kredite. Derartige of¨ ¨ ¨ fentliche Banken blieben nicht lange auf Italien begrenzt. Sehr bald wurden an anderen europaischen Handelsplatzen ahnliche Institutio¨ ¨ ¨ nen geschaffen. Den Anfang machte 1609 die Amsterdamer „Wisselbank“, deren Hauptaufgabe in der Wechselfinanzierung der Geschaf¨ te der hollandischen Kaufleute bestand. Sie entwickelte daruber ¨ ¨ hinaus zur Vereinfachung der Abrechnung und zur Versicherung der Transaktionen ein eigenes Rechengeld, eine Bancowahrung, und be¨ trieb daneben ein Depositen- und Kreditgeschaft ¨ mit vollwertigen Munzwahrungen. Ähnlich wie in Amsterdam wurden z. B. in Ham¨ ¨ burg (1619), Nurnberg (1621) und in London (1694) offentliche ¨ ¨ Banken gegrundet. Preußen war auch in dieser Hinsicht ruckstandig, ¨ ¨ ¨ die erst 1765 gegrundete Konigliche Giro- und Lehnbank war zudem ¨ ¨ nicht sehr erfolgreich und konnte erst nach 1848 als Preußische Bank erfolgreich wirken. Die offentlichen Banken widmeten sich zu¨ nachst vor allem der Abwicklung des Wechselgeschafts der Kaufleu¨ ¨ te. Erst spater ubernahmen sie dann die Rolle von Notenbanken ¨ ¨ durch die Ausgabe werthaltigen Papiergeldes, das sich in Form von Banknoten seit dem Mittelalter langsam verbreitete. Damit wurde der Wirtschaft Liquiditat gestellt, die den fur ¨ zur Verfugung ¨ ¨ den Handelsverkehr als unzureichend empfundenen Umfang der Edelmetallmunzen erganzte. ¨ ¨
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Entstehung öffentlicher Banken
Kreditgeber für die Wirtschaft
GELD UND WÄHRUNG
7.2 Die Konsolidierung der Währungsordnung in Deutschland im 19. Jahrhundert
Münchener Münzkonvention 1837
Einführung der Mark
Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts war in den deutschen Territorien eine gewisse Bereinigung der chaotischen Wahrungsverhaltnisse ¨ ¨ erfolgt. Eine Silberwahrung hatte sich uberall durchgesetzt und zwei ¨ ¨ große Wahrungsraume, der des preußischen Talers und der des sud¨ ¨ ¨ deutschen Guldens hatten sich etabliert. Doch die teilweise franzosi¨ sche Besetzung und die Kriege hatten an der Wende zum 19. Jahrhundert die gewonnene Ordnung wieder untergraben und eine Reorganisation war dringend geboten. Nach Neuordnung der staatlichen Verhaltnisse im Deutschen ¨ Bund 1815 und der Schaffung eines Zollvereins 1834 wurde auch die Vereinheitlichung der Wahrungsverhaltnisse zu einem dringenden ¨ ¨ Anliegen der deutschen Staaten (Holtfrerich 1989, S. 216–241). Die 2 suddeutschen Staaten unternahmen mit der Munchener Munzkon¨ ¨ ¨ vention von 1837 einen ersten Schritt in diese Richtung, weil hier wegen der Vielfalt der Wahrungen eine Regelung als besonders ¨ dringlich empfunden wurde. Die Hohe des Munzgewinns bei Neu¨ ¨ auspragungen, also die Differenz zwischen aufgepragtem Nennwert ¨ ¨ und tatsachlich anfallenden Kosten fur ¨ ¨ die ausgebende Stelle, wurde auf ein Zehntel reduziert und bildete neben der Eingrenzung des ubermaßigen Umlaufs von Scheidemunzen den Hauptgegenstand der ¨ ¨ ¨ Übereinkunft. Die Dresdener Munzkonvention des folgenden Jahres ¨ (1838) bezog auch den norddeutschen Talerraum mit ein. Alle deutschen Staaten sollten sich demnach in ihrer Wahrung entweder dem ¨ preußischen Taler oder dem suddeutschen Gulden anschließen. Da¨ mit verfugte das Zollvereinsgebiet quasi uber zwei Parallelwahrungen ¨ ¨ ¨ und war als ein einheitliches Wahrungsgebiet anzusehen, da der Kurs ¨ zwischen Taler und Gulden fixiert war (1 Taler entsprach 13/4 Gulden). Eine besondere Vereinbarung uber den Notenumlauf war of¨ fenbar noch nicht notig, da der Umlauf von Papiergeld in Deutsch¨ land zu diesem Zeitpunkt außerordentlich gering war. Noch 1871 waren mehr als drei Viertel der umlaufenden Geldmenge in Form von Edelmetallmunzen ausgepragt. Ab 1873 regelte das Munzgesetz ¨ ¨ ¨ fur neu und fuhrte die Mark zu ¨ das Deutsche Reich die Wahrung ¨ ¨ einhundert Pfennigen anstelle von Taler und Gulden als Reichswah¨ rung ein. Die Ausgabe von Papiergeld der 1875 gegrundeten Reichs¨ bank sollte durch Gold gedeckt werden, doch der Übergang von der Silber- zur Goldwahrung zog sich noch bis 1909 hin, sodass man fur ¨ ¨
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DIE KONS OLIDIERUNG DER WÄHRUNGSO RDN UNG I N DEU TSC HL AN D
diesen Zeitraum von einer „hinkenden Goldwahrung“ im Deutschen ¨ Reich spricht (Borchardt 1976, S. 3–55). Eine Neuordnung von Notenausgabe und Notenumlauf wurde erst durch die Reichsbank betrieben. Bereits 1870 war den Staaten des Deutschen Bundes eine weitere Ausgabe von Staatspapiergeld untersagt worden. Die in den betroffenen zwanzig Staaten noch in Umlauf befindlichen Staatspapiergeldnoten wurden 1874 durch Reichskassenscheine im Umfang von 120 Millionen Mark abgelost. 1876 ¨ trat dann die Reichsbank mit eigenen Reichsbanknoten ebenfalls an den Markt. Die Reichsbank lasst sich bis auf die bereits erwahnte 1765 in ¨ ¨ Berlin gegrundete Konigliche Giro- und Lehnbank zuruckfuhren. Sie ¨ ¨ ¨ ¨ war als private Grundung mit starker Beteiligung des Staates in Ge¨ stalt des Konigs gegrundet worden und erhielt bereits 1767 das ¨ ¨ Recht der Notenausgabe. Zunachst wurde von diesem Recht nur in ¨ geringem Umfang (200 000 Taler) Gebrauch gemacht, bis 1793 wurden dann aber mehr als 1,3 Millionen Taler in Banknoten emittiert. Allmahlich wuchs daruber hinaus die Bank in die Rolle einer Staats¨ ¨ bank hinein (Lichter 1999). Neben den Noten der Giro- und Lehnbank hatte der preußische Staat aber seit 1806 in der Finanzkrise auch eigenes Staatspapiergeld, sogenannte Tresorscheine, in Umlauf gebracht. Im Zusammenhang mit der Staatskrise nach 1806 wurde dann 1808 die Giro- und Lehnbank als „Konigliche Bank“ verselbst¨ standigt, um als Notenbank dienen zu konnen. Das tat sie wenig er¨ ¨ folgreich und fuhrte bis zu ihrer Sanierung und Reorganisation als ¨ Preußische Bank 1846 nur ein Schattendasein. Ihre Noten liefen kaum um. Wichtiger fur ¨ die Zirkulation erwiesen sich die Tresorscheine des preußischen Staates als Staatspapiergeld, die 1807 zu gesetzlichen Zahlungsmitteln wurden. Zwar sank ihr Kurs gemessen an den Ausgabewerten in den napoleonischen Kriegen deutlich (1813 auf 24 %), doch nach Kriegsende kehrte das Vertrauen zuruck, 1815 ¨ waren es wieder 99,25 %. Neben den wenigen Noten der Koniglichen Bank und dem preußi¨ schen Staatspapiergeld (Tresorscheine) gab es noch eine Reihe privater Banken, die mit dem Privileg der Notenausgabe ausgestattet waren und die deshalb ebenfalls Banknoten bzw. „Zettel“ in Umlauf brachten. Zu den fruhen sogenannten Zettelbanken zahlten die Baye¨ ¨ rische Hypotheken- und Wechselbank (1835), die Leipziger Bank (1839) und die 1846 als private Aktiengesellschaft umgegrundete ¨ Preußische Bank.
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Reichsbank
Preußische Bank 1846
Zettelbanken in den deutschen Staaten
GELD UND WÄHRUNG
Notenbanksperrgesetz
Das Notenbanksperrgesetz von 1874 untersagte dann den privaten Notenbanken eine weitere Ausdehnung ihrer Notenausgabe. Die Umstellung auf die Mark als Reichswahrung zwang sie, die Stu¨ ¨ ckelung ihrer Noten auf den hohen Betrag von mindestens 100 Mark zu begrenzen, was die Attraktivitat ¨ der Notenausgabe deutlich einschrankte. Hinzu kamen weitere Maßnahmen der Reichsbank, die ¨ die Kosten der Notenausgabe fur ¨ die Privatnotenbanken deutlich heraufsetzten und sie schließlich ganzlich aus dem Markt drangten. Die ¨ ¨ Reichsbanknoten monopolisierten damit quasi das Angebot an Banknoten im Deutschen Reich, deren Bedeutung bis 1913 deutlich an¨ ¨ wuchs, die jedoch keinesfalls den Munzgeldumlauf verdrangten (> ABBILDUNG 16).
Abbildung 16: Entwicklung der Geldbestande ¨ 1870–1913 1 (Deutsche Bundesbank 1976, S. 27)
Umgestaltung des Bankwesens
Parallel zur Reorganisation des Geldwesens in Deutschland im 19. Jahrhundert erlebte auch das Bankwesen eine grundlegende Um¨ gestaltung. Im fruhen 19. Jahrhundert waren es vornehmlich Privat¨ ¨ bankiers, die auf der Basis ihres privaten Vermogens Bankgeschafte ¨ betrieben. Frankfurt am Main und die dortige Borse dominierten eindeutig das Geschehen, und die Finanzierung des Staatskredits war ¨ der Hauptgeschaftszweig (Ullmann 1990). Zwar waren auch auf die-
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DIE KONS OLIDIERUNG DER WÄHRUNGSO RDN UNG I N DEU TSC HL AN D
sem Felde bereits bedeutende Finanzinnovationen (z. B. Partialobligationen, d. h. die Stuckelung einer großen Kreditsumme in zahlreiche ¨ kleine, handelbare Anteile) vollzogen worden, doch stellte die Finanzierung des Eisenbahnbaus seit den 1830er-Jahren und die der Großindustrie seit den 1850er-Jahren ganzlich neue Anforderungen, die ¨ die Finanzkraft der etablierten Institutionen uberforderten. ¨ Die Bankiers reagierten auf diese Herausforderungen, indem sie Aktienkreditbanken grundeten, zunachst gegen den Willen des preu¨ ¨ ßischen Staates unter Umgehung der entsprechenden Vorschriften, z. B. bei der Disconto Gesellschaft in Berlin (Grundung 1851), oder ¨ außerhalb des preußischen Staatsgebietes (Darmstadter Bank, 1853 ¨ als Bank fur Spater, als auch Ban¨ Handel und Industrie gegrundet). ¨ ¨ ken als Aktiengesellschaften zugelassen waren, entstanden in Übereinstimmung mit den rechtlichen Vorgaben z. B. die Deutsche Bank (1870) und die Dresdner Bank (1872). Diese neuen Banken, als „Privatbankiers erhohter Potenz“ erdacht, widmeten sich erfolgreich ¨ dem Grundungsund Finanzierungsgeschaft sehr bald ¨ ¨ und ruckten ¨ in eine zentrale Rolle bei der Finanzierung der deutschen Wirtschaft (> KAPITEL 5). Das Aktienwesen wurde neben dem Depositengeschaft ¨ zum Hauptgegenstand ihrer Geschaftstatigkeit, und die Berliner Bor¨ ¨ ¨ se gewann sehr bald als Handelsplatz an Bedeutung, weil hier am Sitz der Regierung und der Reichsbank auch alle großen Geschafts¨ banken ihre Hauptniederlassung hatten. Die Privatbankiers und die Frankfurter Borse verloren umgekehrt sehr schnell an Bedeutung und ¨ die Berliner „Big Five“ entwickelten sich zu Universalbanken, die nahezu alle Bankgeschafte in ihrem Hause tatigten (Tilly 1980a, ¨ ¨ S. 29–54). 5 Die geschilderte Konsolidierung des deutschen Geld- und Bankwesens ging einher mit einer Sanierung der Staatsfinanzen, denn eine stabile Wahrungsordnung setzt auch geordnete Staatsfinanzen vo¨ raus. Der Weg dorthin war jedoch lang. Die finanziellen Verhaltnisse ¨ vormoderner Staaten waren außerordentlich vielfaltig geregelt. Ne¨ ben den Fursten gab es weitere Institutionen mit eigener Finanzho¨ heit wie z. B. Stadte oder Stande und quasi offentliche Korperschaf¨ ¨ ¨ ¨ ten. Auch bei den Fursten war eine strikte Trennung der Finanzen ¨ zwischen der privaten Schatulle des Herrschers und den Einnahmen und Ausgaben seines Staates noch nicht gegeben. Ein rationales Steuersystem lag noch in weiter Ferne.
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Entstehung von Aktienkreditbanken
Sanierung der Staatsfinanzen
GELD UND WÄHRUNG
7.3 Die Zerrüttung der deutschen Währung in zwei Inflationen
Enormer Anstieg der Geldmenge
Beeinträchtigte Währungsstabilität
Das 20. Jahrhundert in Deutschland wurde in den 1950er-Jahren als Jahrhundert der Inflationen apostrophiert (Hielscher 1968). Dass darunter der Verlust des Geldwertes zu verstehen ist, ist uns heute durchaus vertraut. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das ganz und gar nicht der Fall und selbst der Begriff Inflation war weitgehend unbekannt, das gemeinte Phanomen wurde zunachst etwas ¨ ¨ unscharf als „Geldblahe“ umschrieben. In der Praxis hatte man sich ¨ weitgehend an stabiles Geld gewohnt und Abweichungen von dieser ¨ Norm wurden in einem Munzgeldsystem als Munzverschlechterung ¨ ¨ und in der fruhen Neuzeit allenfalls als Teuerung erfahren. Das ¨ sollte sich im 20. Jahrhundert gravierend andern (Borchardt 1982, ¨ S. 151–161). 1 Die wichtigste Ursache fur ¨ den Wertverfall der deutschen Wah¨ rung bildete die Finanzierung der Kriegskosten des Ersten Weltkriegs. Die enormen Kriegslasten hatten zu Staatsschulden von ca. 150 Milliarden Mark gefuhrt, die etwa zu zwei Dritteln durch Anleihen und ¨ zu einem Drittel durch die Erhohung der schwebenden Schuld des ¨ Reiches bei der Reichsbank finanziert wurden (Holtfrerich 1980b, S. 97–115). Dies war nur moglich, weil die Deckungsvorschriften 1 ¨ der Reichsbank gleich zu Beginn des Krieges außer Kraft gesetzt worden waren. Im Ergebnis zeigte sich eine Erhohung der Geldmenge ¨ (inklusive aller Schuldverschreibungen mit einer Laufzeit bis zu zwei Jahren) im Deutschen Reich von 36 Milliarden (1914) auf 120 Milliarden Mark (1919) bei einem real sinkenden Sozialprodukt von 46 auf 40 Milliarden Mark im gleichen Zeitraum. Die Wirkung dieser enormen Ausweitung der Geldmenge schlug sich sogleich in Preissteigerungen nieder, bereits im ersten Kriegsjahr war der Preisindex der Lebenshaltung deutlich angestiegen und der Wechselkurs der Mark stark gesunken. Dieser Prozess beschleunigte sich in den folgenden Jahren noch weiter. Der Außenwert der Wahrung fiel deutlich ab, ¨ wie auch der innere Wert, die Kaufkraft der Mark, stark beeintrach¨ tigt war. Mit diesem Erbe des Kaiserreichs – einer zerrutteten Wah¨ ¨ rung und gewaltigen Staatsschulden – musste nun die junge Weimarer Republik an den Start gehen. Die Weimarer Republik stand in ihrer Grundungsphase wirt¨ schaftlich und politisch unter außerordentlich hohem Druck. Nicht nur revolutionare Umtriebe von rechts und links bedrohten ihre ¨ Existenz, auch die Demobilisierung des Heeres und die Umstellung
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DI E ZER RÜ TTUN G DER DEU TSC HEN WÄ HRUN G IN ZW EI I NF LAT ION EN
der Wirtschaft auf Friedensproduktion stellten weitere große Belastungen dar. Unter diesen Umstanden, bei hohen finanziellen Anforde¨ rungen sowie geringen und sinkenden Einnahmen, war an eine Stabilisierung der Wahrung gar nicht zu denken und die Reichsregierung ¨ setzte die Politik des „leichten Geldes“ weiter fort. Der damit verbundene Inflationsschub stabilisierte zunachst die Lage und fuhrte zu ¨ ¨ Vollbeschaftigung und außerordentlichen Exporterfolgen. Doch nach ¨ einer Phase relativer Stabilisierung in den Jahren 1920 und 1921 beschleunigte sich der Verfall der Wahrung immer mehr, das Geld ver¨ lor seine Funktion ganzlich. Es diente nicht langer als Wertmaßstab ¨ ¨ und Wertaufbewahrungsmittel, und auch seine Tauschfunktion ging verloren. Man suchte nach Ersatz fur ¨ die Mark und fand sie im Gold (Goldmark), im Dollar oder in anderen Maßgroßen. Die Hyperinfla¨ tion des Jahres 1923, die in einem sich taglich beschleunigenden ¨ Wertverlust des Geldes ihren Ausdruck fand, erforderte unausweichlich eine Wahrungsstabilisierung. ¨ Diese erfolgte dann autonom, d. h. ohne die Unterstutzung des ¨ Auslandes, in zwei Stufen (Holtfrerich 1980b, S. 298–315). Zu3 nachst wurde am 15. November 1923 die Rentenmark eingefuhrt. ¨ ¨ Dabei handelte es sich um eine reine Binnenwahrung, deren Wert ¨ durch eine hypothekarische Belastung der Bodenbesitzer im Deutschen Reich in Hohe ¨ von 3,2 Milliarden Goldmark gesichert werden sollte. Die Halfte des so kreierten Betrages wurde der Regierung, die ¨ andere Halfte der Wirtschaft in Form neuer Banknoten zur Ver¨ fugung gestellt. Die Wertbestandigkeit der neuen Wahrung hing nun ¨ ¨ ¨ davon ab, ob das Reich die notwendige Ausgabendisziplin zeigen wurde. Und tatsachlich, das „Wunder der Rentenmark“ ereignete ¨ ¨ sich. Etwa ein Jahr spater, am 30. August 1924, wurde dann in ei¨ nem zweiten Schritt die Reichsmark (RM) als eine Goldkernwahrung ¨ eingefuhrt. Deren Wert war an Gold- und Devisenreserven gebunden ¨ und sie war international handelbar. Der Wechselkurs wurde wieder dem Vorkriegskurs gleichgestellt, was wegen der Schwachung der ¨ deutschen Wirtschaft zu einer Überbewertung der Reichsmark fuhrte ¨ und deshalb den deutschen Export behinderte. Die Geschaftspolitik ¨ der Reichsbank wurde der Kontrolle eines international besetzten Generalrats unterworfen, um Manipulationen der Wahrung vor¨ zubeugen (Holtfrerich 2001, S. 123–146). 1 Die internationale Kontrolle stand im Zusammenhang mit den Reparationsforderungen der Alliierten, die im Versailler Vertrag festgeschrieben waren und deren Hohe und Zahlungsmodalitaten in ¨ ¨ mehreren folgenden Konferenzen festgelegt worden waren. Die Be-
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Völliger Funktionsverlust des Geldes
Einführung der Rentenmark . . .
. . . und der Reichsmark
Alliierte Kontrolle
GELD UND WÄHRUNG
Erlass der Reparationsschulden
Staatliche Bewirtschaftung
dienung der Reparationsverpflichtungen wahrend der Inflationszeit ¨ stellte fur kein großes Problem dar. Das an¨ die Regierung zunachst ¨ ¨ derte sich allerdings nach der Stabilisierung der Wahrung und ein ¨ umfangreicher neuer Plan, der Dawes-Plan, legte den Umfang der Zahlungen und ihre Abwicklung fest. Zur Sicherstellung ihrer Forderungen griffen die alliierten Machte auch in die Souveranitatsrechte ¨ ¨ ¨ des deutschen Staates ein (Reparationsagent, Reichsbahnverpfan¨ dung, Kontrolle der Reichsbank u. a.). ¨ Als dann in den sogenannten goldenen Jahren der Weimarer Republik diese Problematik einigermaßen geregelt schien, kam man auf die Idee, die restlichen Reparationsschulden des Reiches zu kommerzialisieren und damit handelbar zu machen (Balderston 2002, S. 10–33), was jedoch durch den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 3 vereitelt wurde. Im Gegenteil, die Bedienung der Reparationsschulden wurde zunachst durch das „Hoover-Moratorium“ ausgesetzt ¨ und die Schulden schließlich ganz gestrichen (Lausanner Schuldenkonferenz 1933). Fur ¨ die Weimarer Republik bildete die Frage der Reparationen wahrend ihrer gesamten Existenz eine schwere Belas¨ tung und die internationalen Beziehungen wurden durch ihre Verquickung mit den interalliierten Schulden schwer belastet. Die Wah¨ rungsfrage blieb also bis zum Ende der Weimarer Republik prekar. ¨ In der Endphase der Weimarer Republik wurde zur Stabilisierung des Außenwertes der Reichsmark bereits zu dirigistischen Maßnahmen gegriffen z. B. der Devisenbewirtschaftung 1931, und nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ 1933 konnte nahtlos daran angeknupft werden (Boelcke 1983). Die Devisenknappheit der ¨ deutschen Wirtschaft erzwang sehr bald eine Rohstoffbewirtschaftung, was bedeutet, dass die knappen Rohstoffe staatlich zentral beschafft und zugeteilt wurden. Die mit der gestiegenen Rustungsnach¨ frage verbundenen Preissteigerungen fuhrten 1936 zu einem staatlich ¨ verordneten Preisstopp. Die Anspruche des Staates an das Sozialpro¨ dukt wuchsen immer weiter und das Regime erwies sich als außerordentlich kreativ bei der Finanzierung der Aufrustung. Zunachst ¨ ¨ dienten MEFO-Wechsel (benannt nach der Metallurgischen Forschungsgesellschaft) als Finanzinstrument. Nach Aufhebung der Unabhangigkeit der Reichsbank (1937) schuf dann ein neues Gesetz ¨ 1939 quasi unbegrenzte Moglichkeiten der Geldschopfung durch das ¨ ¨ Reich. Die Geldmenge war bis dahin bereits gewaltig angewachsen, konnte sich aber wegen des allgemeinen Preisstopps nicht im Preisindex niederschlagen. Zwei Drittel aller Rustungsausgaben waren bis ¨ dahin durch Kredite finanziert worden und hatten so einen inflatio-
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S TABI LIT ÄT SKULTUR IN N ACHK RI EG SDEU TSC HL AN D
naren Gelduberhang geschaffen, den man angesichts des Lohn- und ¨ ¨ Preisstopps als „zuruckgestaute Inflation“ bezeichnen kann (Boelcke ¨ 1985). Mit Beginn des Krieges liefen dann die Staatsfinanzen vollig ¨ aus dem Ruder. Der „totale Krieg“ erforderte auch die totale Mobilisierung aller okonomischen Ressourcen ohne Rucksicht auf finanz¨ ¨ wirtschaftliche Soliditat ¨ (Tooze 2007). Das gewaltige Loch im Staatshaushalt wurde durch eine wachsende Staatsverschuldung gedeckt, die „gerauschlos“ durch Schuldtitel ¨ bei institutionellen Anlegern finanziert wurde. Kaufkraft wurde somit in Ersparnis gebunden und der Inflationsdruck gemildert. Dennoch wuchs der Umlauf von Bargeld gewaltig an (er stieg von 8,7 Milliarden Reichsmark im Juni 1939 auf 70,3 Milliarden Reichsmark im April 1945). Guter waren rationiert, gravierender Mangel oder gar ¨ Hunger traten im Reichsgebiet jedoch nirgends auf. Zur relativ guten Versorgung der deutschen Bevolkerung trug u. a. auch die Ausbeu¨ tung der besetzten Lander wesentlich bei (Banken 2009). Als Ergeb¨ nis dieser Finanzpolitik hatte sich eine Staatsschuld von ca. 300 Milliarden Reichsmark angehauft, der ein auf ca. 25 Milliarden Reichsmark ¨ gesunkenes Volkseinkommen gegenuber stand. Fur ¨ ¨ die Nachkriegswirtschaft bedeutete dies, dass sie auf ein funktionierendes Wah¨ rungssystem verzichten musste. Ersatzwahrungen, z. B. Zigaretten ¨ fanden Verbreitung, die Tauschwirtschaft ersetzte die Geldwirtschaft und das Bewirtschaftungssystem musste beibehalten werden. Eine Reorganisation der Wahrung wurde zu einem dringenden Bedurfnis. ¨ ¨ Geld war weitgehend aus der Zirkulation verschwunden und eine Inflation konnte daher nicht offen zu Tage treten, obgleich der Wertverfall ahnlich dramatisch wie ein knappes Vierteljahrhundert zuvor ¨ war.
7.4 Stabilitätskultur in Nachkriegsdeutschland Fur ¨ den Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bildete die Wahrungsreform von 1948 eine wesentliche Vo¨ raussetzung. Der Zusammenbruch des Geldsystems, die nur unzureichende Versorgung der Bevolkerung und ein umfangreicher Schwarz¨ markt machten eine derartige Losung unabwendbar. Doch die ¨ Alliierten zogerten noch, weil die fur ¨ ¨ eine funktionierende Geldwirtschaft notwendige Gutermenge unmittelbar nach dem Krieg noch ¨ nicht bereit stand und erst muhsam in den ersten Nachkriegsjahren ¨ geschaffen werden musste. Erste Versuche, uber erhohte Steuerlasten ¨ ¨
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Geräuschlose Rüstungsfinanzierung
Ersatzwährungen
GELD UND WÄHRUNG
Unabhängige Zentralnotenbank
Einführung der D-Mark
Geldüberhang und Staatsschulden
einen Teil der uberschussigen Reichsmarkgeldmenge abzuschopfen, ¨ ¨ ¨ waren wenig erfolgreich, zu groß war die Diskrepanz zwischen Geldund Gutermenge. Zahlreiche Plane wurden ¨ ¨ zur Reform der Wahrung ¨ gemacht, auch von deutschen Experten (Moller 1961), doch diese ¨ alle wurden verworfen und stattdessen der amerikanische Colm-Dodge-Goldsmith-Plan umgesetzt. Zunachst wurde zum 1. Marz ¨ ¨ 1948 die Bank deutscher Lander als Zentralnotenbank gegrundet, aus der ¨ ¨ dann 1957 die Deutsche Bundesbank hervorging (Buchheim 1998, S. 91–138). Diese Notenbank war unabhangig von den politischen 1 ¨ Instanzen konzipiert, was auf Widerspruch bei zahlreichen Experten und auch bei der spateren Bundesregierung stieß. Die Unabhangig¨ ¨ keit der Notenbank wurde also auf amerikanische Initiative verankert und es dauerte lange, bis sich die Bundesregierung mit dieser Konstruktion abfand und schließlich sogar schatzen lernte. ¨ Am 20. Juni 1948 erfolgte dann die eigentliche Wahrungsreform ¨ mit der Außerwertsetzung der Reichsmark und der Einfuhrung der ¨ Deutschen Mark (DM) als neuer Wahrung in den westlichen Be¨ satzungsgebieten. Gesprache uber eine Wahrungsreform fur ¨ ¨ ¨ ¨ ganz Deutschland waren im Alliierten Kontrollrat gescheitert. Am 23. Juni 1948 verfugte die Sowjetunion fur ¨ ¨ ihre Zone eine eigene Wahrungs¨ reform, die Spaltung Deutschlands in Ost und West manifestierte sich zunehmend. Mit der Wahrungsreform in den Westsektoren wa¨ ren zahlreiche weitere Regelungen verbunden, so die Streichung der Staatsschuld, die Umstellung von Sparguthaben im Verhaltnis 10 RM ¨ zu 0,65 DM sowie die Auszahlung einer Kopfpramie von zunachst ¨ ¨ 40 DM und weiteren 20 DM zu einem spateren Zeitpunkt. Den Ban¨ ken, die durch die Wahrungsreform samtliche Aktiva verloren hat¨ ¨ ten, mussten zur Aufrechterhaltung ihres Geschaftsbetriebes als Gut¨ haben sogenannte Ausgleichsforderungen seitens des Staates eingeraumt werden. Damit waren zwei gravierende Probleme des ¨ Geldsystems der Nachkriegswirtschaft uberwunden: der immense ¨ Gelduberhang und die horrenden Staatsschulden im Inneren. Die Re¨ gelung der Auslandsschulden stand noch an und diese erfolgte durch das Londoner Schuldenabkommen im Jahre 1952 (Abs 1991). Ebenso war ein Lastenausgleich zwischen den unterschiedlich von den Kriegsfolgen betroffenen Teilen der Bevolkerung notig. Dies wurde ¨ ¨ durch das Lastenausgleichsgesetz von 1953 geregelt. Zeitgleich mit der Wahrungsreform wurden zahlreiche Bewirtschaftungsbestimmun¨ gen außer Kraft gesetzt, um die Bildung freier Preise zu ermoglichen. ¨ Wegen der befurchteten Wirkung dieser Wirtschaftsreform in Rich¨ tung auf eine Inflation wurde diese von der deutschen Wirtschafts-
112
S TABI LIT ÄT SKULTUR IN N ACHK RI EG SDEU TSC HL AN D
verwaltung (unter der Leitung des damaligen Wirtschaftsministers und spateren Bundeskanzlers Ludwig Erhard) veranlasste Maßnahme ¨ von den Alliierten außerst skeptisch beurteilt. Doch die befurchtete ¨ ¨ Wirkung blieb weitgehend aus und ein dynamischer Wachstumsprozess setzte sich in Gang. Der Bank deutscher Lander fiel nun die Auf¨ gabe zu, die Stabilitat nach innen ¨ des Geldwertes der neuen Wahrung ¨ und außen zu gewahrleisten. Mit den klassischen Instrumenten der ¨ Geldpolitik suchte sie, dieser Aufgabe gerecht zu werden, war aber hinsichtlich des Außenwertes der D-Mark durch die Bundesregierung gebunden, die diesen im System fester Wechselkurse fur ¨ die D-Mark festlegte. Die neue Wahrung erwies sich zunachst als schwach. Trotz ¨ ¨ restriktiver Geldpolitik geriet sie wegen der Importuberschusse der ¨ ¨ Jahre 1948 bis 1950 unter Druck und musste durch einen Kredit der Europaischen Zahlungs-Union in Hohe ¨ ¨ von 120 Millionen US-Dollar gestutzt werden (Buchheim 1990, S. 131). Erst danach wendete sich ¨ die Handelsbilanz ins Positive und permanente Zahlungsbilanzuber¨ schusse erhohten die interne Geldmenge, sodass nun eine importierte ¨ ¨ Inflation drohte, weil die Wechselkurse fixiert waren und nicht als Ausgleichsmechanismus genutzt werden konnten. Ein Konflikt zwischen innerem Geldwert und der Wechselkursstabilitat uber ¨ pragte ¨ ¨ viele Jahre die Politik der Zentralnotenbank und schlug sich in einer schleichenden Inflation nieder. Dieser Konflikt entfiel 1973, als nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Fixkurssystems flexible Wechselkurse in die Weltwirtschaft einkehrten (> KAPITEL 12). Die Deutsche Bundesbank versuchte in diesem neuen Rahmen Wahrungsstabilitat ¨ ¨ durch die Steuerung der Geldmenge zu erreichen. Dies gelang nur sehr unvollkommen und man versuchte zumindest im europaischen Rahmen in den 1970er¨ Jahren in verschiedenen Formen, die Außenwerte der Wahrungen ge¨ geneinander stabil zu halten (Pierenkemper 1999, S. 21–47). Die 4 Deutsche Mark diente in diesem System als stabile Ankerwahrung ¨ und trug so zur Entstehung einer Stabilitatskultur in den europai¨ ¨ schen Volkswirtschaften wesentlich bei. Bei der Grundung der Euro¨ paischen Wahrungsunion und der Einfuhrung des Euro (1999 / 2002) ¨ ¨ ¨ stand das bundesrepublikanische System Pate (Sarrazin 1997).
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Importüberschüsse 1848–1850
Stabilitätskultur
GELD UND WÄHRUNG
Fragen und Anregungen • Heute ist es uns ganzlich selbstverstandlich, mit Geldscheinen oder ¨ ¨ gar mit Geld- und Kreditkarte elektronisch zu zahlen. Dies war in der Generation unserer Eltern und Großeltern noch keineswegs der Fall, sie hatten mit Geld ganz andere Erfahrungen gemacht. Welche waren das? • Wahrend der NS-Zeit hat es keine Inflation gegeben und doch ¨ wurde das Wahrungssystem durch die staatliche Ausgabenpolitik ¨ ganzlich ruiniert. Konnen Sie diesen Widerspruch erklaren? ¨ ¨ ¨ • Vor der Einfuhrung des Euro wurde haufig darauf hingewiesen, ¨ ¨ dass eine gemeinsame Wahrung ohne die Schaffung einer politi¨ schen Einheit Europas nicht moglich sei. Wie beurteilen Sie dieses ¨ Argument vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts?
Lektüreempfehlungen Übersichten
• Theo Balderston: Economics and Politics in the Weimar Republic, Cambridge 2002. Knappe Diskussion der wichtigsten okono¨ mischen Probleme der Weimarer Republik. • Manfred Pohl: Konzentration im deutschen Bankwesen (1848–1980), Frankfurt a. M. 1982. Umfassende Darstellung des 1 deutschen Bankwesens seit Mitte des 19. Jahrhunderts. • Bernd Spenger: Das Geld der Deutschen. Geldgeschichte Deutschlands von den Anfangen bis zur Gegenwart, Paderborn 1995. Gut ¨ lesbare, umfassende Geldgeschichte Deutschlands.
Forschung
• Carl-Ludwig Holtfrerich: The Monetary Unification Process in the 19th Century Germany: Relevance and Lessons for Europe Today, in: Marcello de Cecco / Alberto Giovancini (Hg.), A European Central Bank? Perspectives on Monetary Unification after Ten Years 2 of the EMS, Cambridge 1989, S. 216–241. Vergleich der Entste¨ ¨ hung eines einheitlichen europaischen Wahrungsraumes mit den ¨ ¨ Erfahrungen der Vereinheitlichung der Wahrungsverhaltnisse in Deutschland im 19. Jahrhundert.
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FRAG EN UND LEK TÜR EEMPFEH LUNGEN
• Harold James Rambouillet: 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft, Munchen ¨ 1997. Umfassende Darstellung des internationalen Finanzsystems seit dem Zweiten Weltkrieg. • Richard Tilly: Banken und Industrialisierung in Deutschland, 1850–1870: Ein Überblick, in: ders.: Kapital, Staat und sozialer 1 Protest in der deutschen Industrialisierung, Gottingen 1980, ¨ S. 29–54. Beitrages des Geld5 Problematisierung des moglichen ¨ und Bankensystems zur deutschen Industrialisierung und zum Wirtschaftswachstum. • Deutsche Bundesbank (Hg.): 40 Jahre Deutsche Mark. Monetare ¨ Statistiken 1948–1987, Frankfurt a. M. 1988. 1 • Deutsche Bundesbank (Hg.): Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876–1975, Frankfurt a. M. 1976. 1 • Deutsche Bundesbank (Hg.): Funfzig Jahre Deutsche Mark. Noten¨ bank und Wahrung in Deutschland seit 1948, Munchen 1998. ¨ ¨ • Deutsche Bundesbank (Hg.): Wahrung und Wirtschaft in Deutsch¨ land 1876–1975, Frankfurt a. M. 1976. 1
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Handbücher / Lexika
8 Einkommen und Vermögen
Abbildung 17: Robert Dudley Baxter: Stilisierte Einkommensverteilung der englischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert (Mitte 19. Jhdt.)
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EINKOMMEN UND VERMÖGEN
Ein Geldsack als Symbol des Kaufmannskapitalismus bildet den Kopf der am menschlichen Korperbau orientierten Darstellung, die der ¨ englische Nationalokonom Robert Dudley Baxter Mitte des 19. Jahr¨ hunderts entwarf, um die Ungleichheitsverhaltnisse der englischen ¨ Gesellschaft abzubilden. Er wahlte dafur ¨ ¨ eine bildliche, allegorische Darstellung. In der gleichzeitigen Ähnlichkeit und Abweichung vom vertrauten Bild des menschlichen Korpers wurden die sozialen Ver¨ haltnisse seinen Zeitgenossen unmittelbar anschaulich. ¨ Dass die Fruchte der wirtschaftlichen Tatigkeiten in einer Volkswirt¨ ¨ schaft nicht allen Menschen in gleicher Weise zuteil werden, ist offensichtlich. In modernen Gesellschaften resultiert die Ungleichheit rechtlich gleichgestellter Menschen vor allem aus der Hohe ihrer ¨ Markteinkommen und nicht langer wie in vormodernen Zeiten aus ¨ ihrer unterschiedlichen Rechtsstellung etwa als Herr oder Knecht. An diese Tatsache lassen sich drei relevante Fragen knupfen. Zum ¨ einen ist zu fragen, wie denn diese Einkommensverteilung tatsachlich ¨ aussieht und wie sie zu bemessen ist. Daran schließt sich zweitens die Frage an, welche Grunde zu einer unterschiedlichen Beteiligung ¨ der Menschen am Ergebnis des Wirtschaftsprozesses fuhren, und ¨ schließlich drittens, welche Bedeutung die Ungleichheit in der Einkommensverteilung fur ¨ die gesellschaftliche Ordnung hat. Die Antworten auf diese drei Fragen hangen auch vom Entwicklungsstand ¨ der Volkswirtschaft ab. In einer Feudalgesellschaft z. B. vermochten sich die Grundherren, die Besitzer des knappen Produktionsfaktors Boden, einen großen Anteil am wirtschaftlichen Ertrag anzueignen, wahrend dies im Kapitalismus die Kapitalbesitzer zu sein scheinen ¨ und in der Arbeits- und Wissensgesellschaft moglicherweise Fach¨ arbeiter und Experten. Im Folgenden geht es vornehmlich um die Einkommensverteilung seit der Entstehung der modernen Industriewirtschaft im 19. Jahrhundert.
8.1 8.2 8.3 8.4
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Kategorien und Maßkonzepte von Einkommensverteilung Einkommensungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert Reichtum und Armut in der Bundesrepublik Vermögensverteilung in der Industriegesellschaft
KATEGOR IEN UN D MAS SKON ZEPTE VON E I NKOM MEN SVERT EIL UNG
8.1 Kategorien und Maßkonzepte von Einkommensverteilung Die Verteilung des Einkommens auf verschiedene Bevolkerungsgrup¨ pen lasst sich nach vielen verschiedenen Kriterien beschreiben. So ¨ kann man zunachst einmal auf die Funktion der Menschen hinsicht¨ lich der produktiven Faktoren der Volkswirtschaft blicken. Manche Menschen verfugen lediglich uber ihr Arbeitsvermogen und bringen ¨ ¨ ¨ „Arbeit“ als produktive Ressource in den gesamtwirtschaftlichen Produktionsprozess ein, andere haben zudem „Boden“, „Kapital“ und „Wissen“, die ebenfalls als Produktionsfaktoren wirken. Die Betrachtung der funktionalen Einkommensverteilung misst die Ertrage ¨ dieser Faktoren und schreibt sie ihren Besitzern zu. Man kann auch ganz unabhangig vom Produktionsprozess gesell¨ schaftliche Gruppen und Schichten, also unterschiedliche Kategorien sozialer Ungleichheit, bestimmen und nach deren Anteilen am Gesamteinkommen fragen. Arbeiter, Bauern und Grundbesitzer, Mittelschichten und Arme verfugen uber sehr unterschiedliche Anteile am ¨ ¨ Einkommen. Eine derartige kategoriale Einkommensverteilung gibt Auskunft uber wichtige Formen sozialer Unterschiede in der Gesell¨ schaft und lasst sich jeweils auf den bedeutendsten sozialen Sachver¨ halt hin prazisieren, z. B. Klasse, Schicht oder Ethnizitat. ¨ ¨ Schließlich lasst sich ganzlich von sozialer Stellung und okono¨ ¨ ¨ mischer Funktion abstrahierend eine personale Einkommensverteilung bestimmen, bei der die Individuen geordnet nach ihren Einkommen formalen Einkommensklassen zugerechnet werden. Teilt man die Individualeinkommen in dieser Art in zehn gleich große Gruppen (Dezile), bilden z. B. die 10 % der großten Einkommen die hochste ¨ ¨ von zehn Einkommensklassen. Werden funf ¨ Gruppen gebildet (Quintile) umfasst die hochste Einkommensklasse die 20 % der hochsten ¨ ¨ Einkommen. Weitere derartige Klassifizierungen sind denkbar und werden praktiziert, z. B. solche nach Stadt und Land, Ortsgroße, West- und ¨ Ostdeutschland u. a., ¨ sollen aber im Folgenden keine Berucksichti¨ gung finden. Fur ¨ die Entwicklung der modernen Volkswirtschaft bieten funktionale, kategoriale und personale Einkommensmaße hinreichende Informationen (Pierenkemper 2006b). Ein einfaches und genaues Maß fur ¨ die funktionale Einkommensverteilung bietet die sogenannte Lohnquote. Zur Errechnung der Lohnquote wird unterstellt, dass das gesamtwirtschaftliche Produkt (Y) durch den Einsatz von Arbeit (A) und Kapital (K) erstellt wird
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Funktionale Einkommensverteilung
Kategoriale Einkommensverteilung
Personale Einkommensverteilung
Lohn- und Gewinnquote
EINKOMMEN UND VERMÖGEN
und die Besitzer dieser beiden Faktoren entsprechend am gesamtwirtschaftlichen Einkommen beteiligt werden. Das Volkseinkommen (Y) ¨ verteilt sich demnach auf Lohne (L) und Gewinne (G), oder in Glei¨ chungen ausgedruckt: Y ¼ f(A, K) Y¼G+L
„Skill-Ratio“
Pareto-Alpha
Gini-Koeffizient
Das Verhaltnis der beiden Einkommensformen zum Gesamtein¨ kommen nennt man die Lohnquote (L / Y) bzw. die Gewinnquote (G / Y). Sie messen den jeweils relativen Anteil der beiden Faktoren am Gesamtprodukt und ihre Veranderungen in der Verteilungsrela¨ tion der Volkswirtschaft. Allerdings muss bei einer langerfristigen Be¨ trachtung in Rechnung gestellt werden, dass im Zeitverlauf eine zunehmende Anzahl von Menschen als Unselbststandige Lohn bezogen ¨ haben und immer weniger als Selbststandige Gewinn. ¨ Die Einkommensbezieher lassen sich ebenfalls in vielfaltige Kate¨ gorien aufteilen, z. B. nach Alter, Geschlecht, Ausbildung usw. In Deutschland spielten lange Zeit Einkommensunterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten eine große Rolle in der sozialpolitischen Auseinandersetzung. Heute werden Qualifikationsunterschiede zwischen den Beschaftigten immer wichtiger. Dieser Unterschied zwi¨ schen Hochqualifizierten und Geringqualifizierten heißt auch „skillratio“. Im Zeitverlauf zeigt sich z. B. eine relativ bessere Einkommenssituation der Hochqualifizierten. Und auch zur Bestimmung der personalen Einkommensverteilung gibt es verschiedene Verteilungsmaße, von denen die gebrauchlichs¨ ten das Pareto-Alpha und der Gini-Koeffizient sind, benannt nach zwei italienischen Gelehrten des spaten 19. bzw. fruhen 20. Jahrhun¨ ¨ derts, Vilfredo Federico Pareto und Corrado Gini, die sich besonders der Untersuchung sozialer Ungleichheit gewidmet haben. Das ParetoAlpha ist ein numerischer Wert, der die „Schiefe“ einer Verteilung misst (Blumle 1975, S. 27–29). Ein hoher Wert signalisiert ein hohes ¨ 2 Maß an Ungleichheit bei der Einkommensverteilung und ein geringer Wert entsprechend eine großere Gleichheit. ¨ Der Gini-Koeffizient ist ebenfalls ein numerisches Maß zur Bestimmung von Ungleichheit: Sein Wert liegt zwischen Null und Eins. Er misst den Grad der Abweichung einer beobachtbaren Verteilung von einer volligen Gleichverteilung. Der Gini-Koeffizient lasst sich ¨ ¨ sehr schon ¨ grafisch veranschaulichen (> ABBILDUNG 18).
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KATEGOR IEN UN D MAS SKON ZEPTE VON E I NKOM MEN SVERT EIL UNG
Abbildung 18: Personale Einkommensverteilung in Deutschland (Deckl 2003, S. 1182)
Die Flache zwischen den tatsachlichen kumulierten Einkommen in ¨ ¨ Deutschland und der Gleichverteilungsgeraden gilt nach Gini als Maß der Ungleichheit. Waren alle Einkommen gleich verteilt, so wur¨ ¨ de diese Gerade die tatsachliche Verteilung aller Einkommen repra¨ ¨ sentieren; der Wert des Gini-Koeffizienten ware ¨ gleich Eins. Je großer ¨ die Flache wird, je weiter der Koeffizient also unter den Wert Eins ¨ sinkt, umso großer ist die Ungleichheit. ¨
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Maß der Ungleichheit
EINKOMMEN UND VERMÖGEN
8.2 Einkommensungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert Industrialisierung und Einkommensverteilung
Lohn- und Gewinnquote in der Industrialisierung
Steuerstatistik zur Schätzung der Einkommensverteilung
Die Industrielle Revolution wird in marxistischer Tradition haufig ¨ gleichgesetzt mit einer Massenverelendung der unteren Volksschichten. Dabei wird zumeist vergessen, dass dieser Prozess im Zuge des ¨ ¨ Bevolkerungswachstums des 18. Jahrhunderts langst zuvor eingesetzt ¨ hatte und vor allem die landlichen Unterschichten betraf. In Deutschland hatte die Krise des Pauperismus (> KAPITEL 1) gerade in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts zu Massenelend auf dem Lande ge¨ fuhrt, sodass die erfolgreiche Industrialisierung in der zweiten Halfte ¨ ¨ des Jahrhunderts das Armutsproblem eher entscharfte als verstarkte. ¨ ¨ Wie aber spiegelt sich diese Entwicklung in den Daten zur Einkommensverteilung wider? In bereits weiter vorangeschrittenen Industriestaaten wie England lasst sich in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts tatsachlich ein ¨ ¨ ¨ deutlicher Anstieg der Lohnquote erkennen (Kaelble 1983, S. 35). Eine ahnliche, wenn auch zeitlich verzogerte Entwicklung war in ¨ ¨ Deutschland zu beobachten, sodass auch hier die Lohnquote stieg und die Gewinnquote entsprechend zuruckging. Dies signalisiert fur ¨ ¨ diesen Zeitraum eine Umverteilung des Volkseinkommens zugunsten der Lohnbezieher. In diesen Relationen lassen sich gewiss die Knappheitsverhaltnisse zwischen den Faktoren Arbeit und Kapital erken¨ nen. Arbeit wurde im Verlauf der fortschreitenden Industrialisierung gegenuber dem Kapital relativ knapper und ihr Preis, der Lohnsatz, ¨ erhohte sich im Verhaltnis zum Preis fur ¨ ¨ ¨ Kapital, der Kapitalrendite. Was die personelle Einkommensverteilung betrifft, so ist diese fur ¨ das Deutsche Reich insgesamt nur unzureichend zu rekonstruieren. Auf der Basis der Steuerstatistik lasst sich in Preußen fur ¨ ¨ den Zeitraum 1873 bis 1913 zunachst ein Anstieg der Anteile der hoheren ¨ ¨ Einkommensklassen konstatieren, danach dann wiederum ein Ruck¨ gang (Muller / Geisenberger, 1972, S. 39). Die Einkommensungleich¨ heit in Preußen hat demnach zunachst weiter zugenommen, ehe sich ¨ dann im 20. Jahrhundert eine Tendenz zu hoherer Gleichheit durch¨ setzen konnte. Entsprechend sank der Anteil der untersten Einkommensbezieher (unter 900 Mark jahrlich) von 75,2 % im Jahr 1895 ¨ auf 65,9 % im Jahr 1912 (Hentschel 1978, S. 67). In anderen deutschen Staaten lagen die Verhaltnisse ahnlich, wenngleich der jeweilige ¨ ¨ Industrialisierungsgrad fur ¨ die Verteilung der Einkommen noch eine wichtige Rolle spielte.
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EIN KOM MENS UNGL EIC HHEI T IM 19 . UN D 20 . JA HR HUN DERT
Daraus wird eine Entwicklung der Einkommensverteilung deutlich, die fur ¨ wachsende Volkswirtschaften als typisch angesehen wird und die von dem US-amerikanischen Ökonomie-Nobelpreistrager Si¨ mon Kuznets erstmals systematisch beschrieben wurde (Kuznets 1955). Die „Kuznets-Kurve“ zeigt einen unterstellten langfristigen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung (gemessen am Pro-Kopf-Einkommen) und der Verteilung. Sie verlauft wie ein ¨ umgekehrtes „U“, d. h. bei steigendem Pro-Kopf-Einkommen nimmt die Ungleichheit zunachst zu, spater andert die Kurve jedoch ihren ¨ ¨ ¨ Verlauf, nun sinkt die Ungleichheit bei weiter steigendem Einkommen wieder. Die Entwicklung in Deutschland unterstutzt diese all¨ gemeine Hypothese. Hier sank z. B. das Pareto-Alpha von einem Wert um 1,9 (1850) auf etwa 1,4 (1900) ab und signalisiert so eine deutlich wachsende Einkommensungleichheit. Die Bezieher hoherer Einkommen profitierten vom ¨ Industrialisierungsprozess zunachst offenbar deutlich mehr als die unte¨ ren Schichten. Das spiegelt sich auch in der Entwicklung der Lohnquote: Zunachst wurden ca. 80 % des Gesamteinkommens als Lohne, d. h. ¨ ¨ als Einkommen unselbststandiger Arbeitskrafte wa¨ ¨ verausgabt, spater ¨ ren es deutlich weniger als 75 %. Entsprechend wuchs der Anteil der Selbststandigen und Kapitaleigner am Volkseinkommen. Und auch die ¨ qualifizierten Arbeitskrafte profitierten vom Wachstum starker als die ¨ ¨ unqualifizierten, denn der skill-ratio schwankt im 19. Jahrhundert zwar stark, weist jedoch insgesamt eine sinkende Tendenz auf. Im 19. Jahrhundert scheint also die Einkommensverteilung in Deutschland deutlich ungleicher geworden zu sein. Die Reichen haben vom Aufschwung der Wirtschaft offenbar starker profitiert als ¨ die Armen. Wahrend das statistische Pro-Kopf-Einkommen stieg, ¨ nahm zunachst die Ungleichheit der Einkommensverteilung zu. ¨ In einer eher optimistischen Interpretation kann man darin einen zwar betrublichen, gleichwohl notwendigen Zwischenschritt zu einer ¨ langfristig hoheren Gleichheit sehen. Hierbei geht man davon aus, ¨ dass einkommensschwache Schichten in einer relativ armen Gesellschaft kaum Ersparnisse bilden konnen, sondern sozusagen von der ¨ Hand in den Mund leben, ihr gesamtes Einkommen also konsumieren mussen. In dieser Perspektive erscheint eine Umverteilung zu¨ gunsten der Reichen zunachst dazu geeignet, die Sparquote und ¨ damit die Investitionsquote erhohen zu konnen. Das aus den ver¨ ¨ starkten Investitionen resultierende Wirtschaftswachstum vermag ¨ dann Raum zu geben, um die Einkommensverteilung langfristig wieder zugunsten der Armen zu verandern. ¨
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Kuznets-Kurve
Entwicklung der Einkommensverteilung in Deutschland
Umverteilung von unten nach oben
Optimistische Interpretation: Wohlstand durch Wirtschaftswachstum
EINKOMMEN UND VERMÖGEN
Pessimistische Interpretation: Verelendung der Arbeiterschaft
Zielkonflikt zwischen Gleichheit und Wirtschaftswachstum?
Zunehmende Gleichheit im 20. Jahrhundert
Die weniger optimistische Interpretation dieser Entwicklung sieht darin eine zwangslaufige Verelendung der Arbeitermassen und das ¨ Potenzial zu verscharften Verteilungskonflikten. ¨ Der im 19. Jahrhundert in Deutschland zu beobachtende Trend zu steigender Einkommensungleichheit kehrte sich im 20. Jahrhundert jedoch um. Diese Entwicklung entspricht dem Verlauf der KuznetsKurve. Kuznets halt ¨ sie in modernen Volkswirtschaften fur ¨ typisch. Zu Beginn der Industrialisierung durchlaufen diese zumeist eine Zeit wachsender Ungleichheit. Doch „saturierte“ Lander mit einem ¨ gewissen Wohlfahrtsniveau konnen dann Umverteilungsmechanis¨ men, z. B. durch den Aufbau eines Sozialsystems, etablieren, die dann die bereits aus den Marktrelationen zwischen Arbeit und Kapital sich ergebende Tendenz zur Begrenzung der Einkommensungleichheit weiter verstarken und zu wachsender Gleichheit beitra¨ gen. Aus diesen Beobachtungen ließe sich ein moglicher Zielkonflikt ¨ zwischen Gleichheit und Wirtschaftswachstum herauslesen, denn ein gewisses Maß an Ungleichheit scheint als Triebkraft des Wirtschaftswachstums zu wirken und ist damit quasi ein Preis des Fortschritts. Die Einkommensverteilung entwickelter Volkswirtschaften im 20. Jahrhundert ist in hohem Maße durch Umverteilung bestimmt. In Europa ist der Wohlfahrtsstaat auf dem Vormarsch. Dies ist in Deutschland in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts, bedingt durch die durch¨ laufenen Krisen und Katastrophen, noch nicht augenfallig. Gleich¨ wohl ist infolge der in der Hyperinflation 1923 gipfelnden Geldentwertung und deren Verteilungswirkung fur ¨ die Besitzer von Geldvermogen der Anteil der Bezieher hoher Einkommen dramatisch ¨ zuruckgegangen: Pareto-Alpha und Lohnquote steigen deutlich an ¨ und auch der skill-ratio weist in die gleiche Richtung. Diese Entwicklung blieb naturlich nicht auf Deutschland be¨ schrankt. Auch in anderen Industriestaaten zeigt sich im 20. Jahrhun¨ dert langfristig eine Tendenz zu hoherer Einkommensgleichheit ¨ (Kraus 1987, S. 187). Der Anteil des obersten Dezils (also die 10 % mit den hochsten Einkommen) am Gesamteinkommen zeigte sowohl ¨ in Deutschland als auch in Großbritannien und den USA zwischen 1935 und 1970 eine deutlich fallende Tendenz. In Deutschland sank sein Anteil in diesem Zeitraum von knapp 40 % auf gut 30 %, in Großbritannien von ebenfalls knapp 40 % sogar auf gut 25 % und selbst in den USA von 35 % auf 25 %. Auf der anderen Seite stiegen die Anteile der unteren Dezile leicht an, wahrend die mittleren Dezile ¨ (sechs bis neun) die deutlichsten Fortschritte verzeichneten. Eine Ausnahme bildete hier allenfalls Deutschland, wo die unteren Dezile star¨
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REI CH TUM UN D ARMUT I N DER BUNDESREPUBL IK
ker und die mittleren weniger stark von der allgemeinen Entwicklung profitierten. In jungster Zeit weist jedoch die sinkende Lohnquote in den In¨ dustrielandern auf eine problematische Entwicklung hin. Dieser ¨ Ruckgang beruht allerdings weniger auf sinkenden Lohnen, sondern ¨ ¨ starker auf einer Veranderung in der Struktur der Erwerbstatigen. ¨ ¨ ¨ Die Zahl der Unselbststandigen und die der Arbeitslosen ist stetig ¨ gewachsen, sodass sich den steigenden Lohnanteil am Sozialprodukt immer mehr abhangig Beschaftigte teilen mussen, was die Vertei¨ ¨ ¨ lungswirkung einer wachsenden Lohnquote deutlich relativiert. Aber auch innerhalb der Erwerbstatigen ist eine wachsende Lohnspreizung ¨ zu beobachten. Qualifizierte Arbeitskrafte genießen weitaus starkere ¨ ¨ Lohnzuwachse als unqualifizierte, und letztere sind verstarkt von Ar¨ ¨ beitslosigkeit betroffen (> KAPITEL 3).
Jüngste Entwicklungen
8.3 Reichtum und Armut in der Bundesrepublik Gegenwartig wird in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder ¨ darauf hingewiesen, dass trotz aller Wohlfahrtszugewinne der letzen Dekaden auch bei uns Armut noch lange nicht verschwunden ist. ¨ Naturlich besteht die Armut der Gegenwart nicht in einer Bedrohung durch Hunger, sondern sie zeigt sich in relativer Armut und sozialer UntersuchunAusgrenzung (> KAPITEL 2). Nach zahlreichen jungeren ¨ gen gelten in unserer Gesellschaft mehr als ein Achtel aller Einwohner als armutsgefahrdet. Dieses Armutsrisiko konzentriert sich zu¨ dem bei bestimmten Bevolkerungsgruppen, bei den Unqualifizierten, ¨ bei allein erziehenden Frauen und bei Migranten. Auch ist in Ostdeutschland eine gravierendere Armutsrate als in Westdeutschland zu beobachten, dort stieg der Gini-Koeffizient von unter 0,21 (1992) auf 0,25 (2005), und die Armutsrate betrug 2005 sogar 22 %. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass es sich hierbei immer um relative Armut handelt (> KAPITEL 1). Als arm gilt in Deutschland, wer nur ein monatliches Einkommen erzielt, das weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens aller Einkommensbezieher entspricht: „Der Armutsbegriff hat sich vom absoluten Wohlfahrtsniveau gelost.“ (Mie¨ gel 2003, S. 103–106). 1 Zu dieser Entwicklung haben verschiedene Ursachen beigetragen. Einmal lasst sich auf den Arbeitsmarkten entsprechend der skill-ratio ¨ ¨ eine zunehmende Lohnspreizung beobachten, sodass gut und hoch qualifizierte Arbeitskrafte steigende Einkommen verzeichnen, wah¨ ¨
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Relative Armut
Armutsrisiken
EINKOMMEN UND VERMÖGEN
Absolute Armut im intertemporalen Vergleich
Absolute Armut im internationalen Vergleich
Ungleichheit unter Selbstständigen
rend die Geringqualifizierten z. T. unter die statistisch definierte Armutsgrenze sinken. Zweitens ist das Auseinanderbrechen uberkom¨ mener sozialer Institutionen wie Ehe und Familie ein Grund dafur, ¨ dass zahlreiche Menschen in relative Armut fallen. Sei es, weil etwa bei Alleinerziehenden die Moglichkeit der Erzielung hinreichender ¨ Erwerbseinkommen vermindert wird oder weil die finanziellen Aufwendungen durch Trennung, Scheidung, Haushaltsverdoppelung u. a. drit¨ deutlich ansteigen. Staatliche Transferleitungen vermogen ¨ tens diese Lucke zwischen den erforderlichen Subsistenzmitteln zu ¨ einer angemessenen Lebensfuhrung und den erzielbaren Erwerbsein¨ kommen wegen der Finanznot des Staates immer weniger zu schließen (Andreß / Seeck 2007). Allerdings empfiehlt es sich, in der gegenwartig heiß gefuhrten Ar¨ ¨ mutsdebatte der Bundesrepublik Deutschland gelegentlich auch einmal inne zu halten und in einer historischen Ruckschau das Problem ¨ absoluter Armut der Gegenwart zu reflektieren. In Geldwerten gemessen kann heute ein einzelner Sozialhilfeempfanger in etwa genau ¨ so viel ausgeben wie ein durchschnittlicher Vier-Personen-Arbeitnehmerhaushalt in den 1950er-Jahren, namlich ca. 600 Euro im Monat ¨ (Miegel 2003, S. 103). Die Mehrheit der heute uber 50-Jahrigen ist ¨ ¨ demnach in Haushalten aufgewachsen, die nach heutigen Maßstaben ¨ „Armenhaushalte“ waren, und diese Haushalte vermochten damals in sehr vielen Fallen Ersparnisse zu bilden und Wohneigentum zu er¨ werben. Ein Blick uber die Grenzen vermag das Bild der Armut in der ¨ Bundesrepublik Deutschland zu relativieren. In den osteuropaischen ¨ Beitrittsstaaten zur Europaischen Union beziehen Ärzte, Ingenieure ¨ und Universitatsprofessoren Einkommen, die, in Kaufkraft gemessen, ¨ kaum uber denen der deutschen Sozialhilfeempfanger liegen. Ein por¨ ¨ tugiesischer Durchschnittshaushalt hat weniger, der spanische nur wenig mehr als die „Armen“ in Deutschland. Daher finden sich in Deutschland speziell, aber auch in der EU allgemein, zahlreiche Migranten, die sich drangen, um hier „arm“ sein zu konnen. ¨ ¨ Auch ein naherer Blick auf die „Reichen“ in der Bundesrepublik ¨ kann das allzu simple Bild einer als ungerecht empfundenen Einkommensverteilung ein wenig korrigieren (Merz 2004). Die Einkommen der Selbststandigen, die gemeinhin als reich angesehen werden, sind ¨ noch viel ungleicher verteilt als die der unselbststandig Beschaftigten. ¨ ¨ An der Spitze der Einkommenspyramide der Reichen stehen natur¨ lich die Millionare, die deutlich hohere Einkommen erreichen als der ¨ ¨ Durchschnitt der Selbststandigen. Die ubrigen Selbststandigen erzie¨ ¨ ¨
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VERMÖGENSVERTEILUNG IN DER INDUSTRI EGESEL LS CHAFT
len eher durchschnittliche Einkommen, ein Teil von ihnen deutlich geringere als viele Unselbststandige, z. B. Manager. ¨ Manche Positionen in der Debatte um Armut in der Bundesrepublik scheinen als Ziel weniger die Bekampfung der Armut als viel¨ mehr die Gewinnung hoherer Gleichheit zu verfolgen: „Gesagt wird ¨ Armut, gemeint ist Gleichheit“, so bringt dies der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel auf den Punkt (Miegel 2003, S. 106). Ob eine gleiche Einkommensverteilung als gerecht empfunden wird, kann mit gutem Recht bezweifelt werden. Es geht wohl eher um ein angemessenes Maß von Gleichheit und Ungleichheit. In unserem Wertesystem nehmen Menschenwurde, Menschenrech¨ te u. a. ma¨ einen bedeutenden Platz ein, diese ethischen Grundsatze ¨ chen eine Sicherung der Existenz von Menschen unabweisbar. Und auch okonomisch betrachtet stellt die Grundsicherung aller Burger ¨ ¨ einen hohen Wert dar, weil nur so die gesellschaftliche Stabilitat ¨ als Voraussetzung fur ¨ ein gedeihliches Wirtschaftsleben gewahrleistet ¨ werden kann. Ungleichheit hat eine nutzliche Funktion als Antriebs¨ kraft fur ¨ Menschen, mehr und Neues zu wagen und dafur ¨ im Erfolgsfall uberproportional belohnt zu werden. Das richtige Maß von ¨ Gleichheit und Ungleichheit in einer Gesellschaft zu finden ist also die Aufgabe, wobei klar sein sollte, dass uber das Ausmaß der jewei¨ ligen Große sehr unterschiedliche Auffassungen bestehen und daru¨ ¨ ber zu Recht eine standige Auseinandersetzung gefuhrt wird. Eines ¨ ¨ hat die historische Erfahrung allerdings gelehrt, dass es offenbar recht einfach ist, alle Burger gleich arm zu machen, aber unendlich ¨ schwieriger, sie gleich reich zu machen. Ungleichheit ist wohl Preis der Effizienz und des Fortschritts, und dies wird in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend akzeptiert. Das Ziel sollte daher nicht Gleichheit heißen, sondern Chancengleichheit.
„Gesagt wird Armut, gemeint ist Gleichheit“
Gleichheit und Ungleichheit im rechten Maß
8.4 Vermögensverteilung in der Industriegesellschaft Reichtum in Deutschland tritt haufig weniger als ein Problem unglei¨ cher Einkommensverteilung als vielmehr als ein solches der ungleichen Verteilung des Vermogens der Gesellschaft auf. Vermogen wur¨ ¨ de in der Vergangenheit aus Einkommen aufgebaut, akkumuliert und sollte bei rentabler Verwendung in Zukunft weiteres Einkommen ge¨ nerieren. Was aber ist Vermogen?
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Bezug von Einkommen und Vermögen
EINKOMMEN UND VERMÖGEN
Konventionelle Definition
Vermögen als schwer zu fassender Begriff
Mangel an substanziellen Untersuchungen
Vermögensaufbau in der Bundesrepublik
Traditionell versteht man darunter die Summe all dessen, was in der Zukunft Einkommen erbringen kann, quasi die Wertsumme aller Aktiva in einer Gesellschaft. In erster Linie sind dies Geld-, Sachund Anlagevermogen. Doch so einfach diese Definition klingt, eine ¨ Menge Fragen bleiben dabei offen. Bilden z. B. Rentenanspruche oder Lebensversicherungen Ver¨ mogensbestandteile? Gerade fur Teil der Bevolkerung ¨ ¨ den armeren ¨ ¨ sind Anspruche an die gesetzliche Rentenversicherung außerordent¨ lich wichtig, obwohl er nicht frei uber dieses „Vermogen“ verfugen ¨ ¨ ¨ kann und dessen Umfang zudem nur schwer zu bewerten ist. Eine andere Frage ist, wie das gesellschaftliche Vermogen, die Einrichtun¨ gen des Bildungswesens oder die Infrastruktur (z. B. Autobahnen) zu bewerten ist. Auch sie stiften zukunftigen Nutzen und erhohen ¨ ¨ zukunftige Einkommen (Schulen, Universitaten etc.) (Opitz 1980, ¨ ¨ S. 69). Eine Zuordnung zu einzelnen Personen oder Haushalten als Teil deren Vermogens erscheint aber unmoglich. Das Humankapital ¨ ¨ einer Gesellschaft, verkorpert in Arbeitskraft und Qualifikation ihrer ¨ Bevolkerung, vermag ebenfalls in Zukunft Einkommen zu generieren ¨ und dieses fließt sogar unmittelbar seinen Tragern zu. Gleichwohl ¨ lasst sich diese Art von Vermogen nur schwer durch die konventio¨ ¨ nelle Vermogensdefinition erfassen. Eine erweiterte Definition von ¨ Vermogen in der modernen Volkswirtschaft erscheint daher angemes¨ sen, in die neben dem materiellen auch immaterielles Vermogen ein¨ bezogen wird. Zur Benennung von Umfang und Verteilung der Vermogen in den ¨ modernen Staaten stehen nur außerordentlich wenige Daten zur Verfugung. Seit den großeren Untersuchungen in den 1960er-Jahren ¨ ¨ durch die Volkswirte Carl Fohl ¨ (Fohl ¨ 1964), Wilhelm Krelle (Krelle 1968) und Bruno Gleitze (Gleitze 1969) sind in der Bundesrepublik Deutschland keine weiteren umfangreichen Erhebungen erfolgt. Die Wirtschaftspolitik und die Forschung der folgenden Dekaden haben sich eher der Steigerung von Einkommen zugewandt und der Vermogensbildung als politischem Ziel keine großere Aufmerksamkeit ¨ ¨ mehr gewidmet. Erst neuerdings scheint eine gewisse Ruckbesinnung ¨ erkennbar, beispielsweise in Gestalt des Investivlohns, bei dem die Arbeitnehmer einen Teil ihrer Bezuge ¨ in Form von Beteiligungen am Unternehmen erhalten. In der Wiederaufbauphase der Bundesrepublik Deutschland ist ein bemerkenswerter Vermogensaufbau zu beobachten. Dieser konzen¨ trierte sich zwar zunachst auf das unternehmerische Produktionsver¨ mogen, doch der Anteil privater Haushalte am Gesamtvermogen ist ¨ ¨
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FRAG EN UND LEK TÜR EEMPFEH LUNGEN
bereits seit den 1950er-Jahren deutlich angestiegen. Die Not der fru¨ hen Nachkriegszeit war bald uberwunden und nicht nur die offent¨ ¨ liche Infrastruktur wurde stark ausgebaut, auch der private Wohnungsbau und der Erwerb langlebiger Konsumguter wie Haushalts¨ ausstattung oder Autos schufen einen gewissen Vermogensbestand ¨ bei den privaten Haushalten. Die Ersparnisse wuchsen ebenfalls und auch Geldvermogen konnten wieder entstehen, wobei deutlich wur¨ de, dass sich gerade beim Vermogensaufbau die Unterschiede im Ein¨ kommen verstarkt auswirkten. Hohere Einkommen setzen die Men¨ ¨ schen eher in die Lage, Teile des Einkommens fur ¨ Sparzwecke zu erubrigen; je hoher die Einkommen, umso hoher die Ersparnis, und ¨ ¨ ¨ die Ertrage ¨ dieser Auslagen steigern wiederum die Einkommen und verscharfen so die Einkommensungleichheit. Die Verteilung der Ver¨ mogen ist daher noch weitaus ungleicher als die der Einkommen. ¨ Besonders bedeutsam ist dabei, dass eine hohere Ersparnis haufig ¨ ¨ in eine besondere Anlageform investiert wird: in das Produktionsvermogen. Zwar reprasentiert diese Vermogensform, als Betriebsver¨ ¨ ¨ mogen oder Kapitalanteile, nur einen kleinen Teil des Gesamtver¨ mogens einer Volkswirtschaft – sein Wert ist z. B. geringer als der ¨ der Spareinlagen –, doch ist dieser Teil von strategischer Bedeutung. Denn damit verbunden ist die unternehmerische Dispositionsfreiheit in einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Die Besitzer des Produktivvermogens treffen die zentralen okonomischen Entscheidungen in ei¨ ¨ ner Volkswirtschaft, namlich was, wie viel und wie produziert wird. ¨ Ihre Investitionsentscheidungen bestimmen uber Wachstum und Ar¨ beitsplatze, uber Konjunkturen und Krisen. Die ordnungspolitische ¨ ¨ Einbindung und politische Legitimation unternehmerischer Entscheidungen bleibt daher eine komplexe und brisante Aufgabe kapitalistischer Marktwirtschaften. Fragen und Anregungen • Denken Sie einmal daruber nach, ob die Pensions- und Renten¨ anspruche Ihrer Eltern zum Vermogen Ihres Familienhaushaltes zu ¨ ¨ zahlen sind. ¨ • Ist Ungleichheit tatsachlich der Preis des Fortschritts oder nur eine ¨ bequeme Ausrede zur Aufrechterhaltung einer uberkommenen und ¨ ungerechten Einkommens- und Vermogensverteilung? ¨ • Erlautern Sie verschiedene Dimensionen sozialer Ungleichheit. ¨
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Strategische Bedeutung des Produktivvermögens
EINKOMMEN UND VERMÖGEN
¨ ¨ • Wie lasst sich der historisch beobachtbare U-formige Verlauf der ¨ Entwicklung okonomischer Ungleichheit im Industrialisierungspro¨ zess erklaren?
Lektüreempfehlungen Übersichten
• Ferdinand Lundberg: Die Reichen und die Superreichen. Macht und Allmacht des Geldes, Hamburg 1969. Popularer und kriti¨ scher Versuch, sich mit der Ungleichheit und der amerikanischen Gesellschaft auseinander zu setzen. • Michael Jungblut: Die Reichen und die Superreichen. Macht und Allmacht des Geldes, Hamburg 1971. Folgt dem amerikanischen Vorbild, das Lundberg fur ¨ Amerika vorlegt, und versucht, die deutschen Verhaltnisse anschaulich und popular ¨ ¨ zu beschreiben. • Hartmut Kaelble: Industrialisierung und soziale Ungleichheit. Europa im 19. Jahrhundert. Eine Bilanz, Gottingen 1983. Zusam¨ menfassende Darstellung der historischen Ungleichheitsforschung mit einem wichtigen Kapitel zur Einkommens- und Vermogensver¨ teilung.
Forschung
• Anthony Giddens: Die Frage der sozialen Ungleichheit, Frankfurt a. M. 2001. Eine modernistische Kritik von Neoliberalismus und traditionell sozialdemokratischer Umverteilungspolitik sowie Propagierung eines „Dritten Wegs“. • Hartmut Kaelble: Historische Mobilitatsforschung. Westeuropa ¨ und die USA im 19. und 20. Jahrhundert, Darmstadt 1978. Bilanz der Ergebnisse der historischen Erforschung zu Chancengleichheit und Veranderung sozialer Ungleichheit im internationalen Ver¨ gleich.
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9 Wandel der wirtschaftlichen Strukturen
Abbildung 19: Traditionelle Feldarbeit (1930er-Jahre)
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WAN DEL DER WI RT SCH AFT LI CHEN S TRUK TUR EN
Ein Bauer bestellt seinen Acker – ein vertrautes Bild, gleichwohl aus einer fernen, scheinbar vergangenen Welt stammend. Man kann noch nicht einmal genau sagen, wo und wann die Szene zu verorten ware. ¨ Ob es sich dabei um einen sudosteuropaischen Bauern heute, einen ¨ ¨ aus Westfalen um 1950 oder um einen Schlesier des 19. Jahrhunderts handelt. Ja, mit wenigen Veranderungen konnte das Bild sogar aus ¨ ¨ dem Mittelalter stammen, und selbst die romischen Kolonisten haben ¨ vermutlich die Bodenbearbeitung ziemlich ahnlich betrieben. Das ¨ Bild vermittelt den Eindruck einer langfristig stabilen, gleichsam ewigen Wirtschafts- und Gesellschaftsform einer Agrargesellschaft. Über Jahrhunderte stellte die Bodenbewirtschaftung die Basis fur ¨ die menschliche Existenz dar und die Verfugung uber den Boden be¨ ¨ stimmte die gesellschaftliche Machtverteilung. Erst in historisch relativ kurz zuruckliegender Zeit, im Industrialisierungsprozess des ¨ 19. Jahrhunderts, hat sich die okonomische Basis der gesellschaftli¨ chen Existenz der Menschen deutlich verschoben, und der Boden als okonomische Zentralressource der Volkswirtschaft hat entscheidend ¨ an Bedeutung verloren. An dessen Stelle ist das Kapital als Ausdruck der schopferischen Kraft des Menschen getreten und hat die gesell¨ schaftlichen Verhaltnisse grundlegend umgestaltet. ¨ Den Prozess des sektoralen Strukturwandels nennen wir gemeinhin Industrialisierung. Er fand seinen unmittelbaren quantitativen Ausdruck seit dem fruhen 19. Jahrhundert in einem stetig sinkenden ¨ Anteil der Beschaftigten, die in der Landwirtschaft Arbeit und Brot ¨ fanden, und in einem parallelen Ruckgang der Bedeutung der Wert¨ schopfung im Agrarsektor. Die sogenannte Sektortheorie versucht ¨ diesen Strukturwandel theoretisch zu untermauern und den Übergang von der Agrargesellschaft der vormodernen Zeit zur modernen ¨ ist die SekIndustriegesellschaft zu analysieren. Bei aller Plausibilitat tortheorie jedoch auch kritisch zu befragen, ebenso wie die oft behauptete Entwicklung hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft.
9.1 Sektoraler Strukturwandel 9.2 Sektortheorie 9.3 Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaft?
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SEKTORA LER S TRUK TURWA NDEL
9.1 Sektoraler Strukturwandel Wachstum und Entwicklung sind mit tief greifenden Veranderungen ¨ in der Struktur der Wirtschaft und mit Ungleichgewichten verbunden. Es sind gerade auch die Veranderungen im okonomischen Kreis¨ ¨ lauf, die entscheidend zur Entwicklung der Volkswirtschaft beitragen. Der osterreichische Ökonom Joseph Alois Schumpeter hat dem Pha¨ ¨ nomen der „schopferischen Zerstorung“ durch Innovation / Neuerung ¨ ¨ in seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (> KAPITEL 6) eine theoretische Basis verschafft. Seiner Auffassung nach besteht okono¨ mische Produktion grundsatzlich in der Kombination produktiver ¨ Faktoren. Diese konnen sowohl technischer Art sein als sich auch ¨ auf Produkte, Rohstoffe, Organisation und Markte beziehen. Fort¨ schritt und Entwicklung konnen sich nur ergeben, wenn diese Fak¨ torkombination verandert, d. h. effektiver gestaltet wird. Alte Kom¨ binationen werden aufgegeben, neue Kombinationen ersonnen und durchgesetzt. Diesen Prozess der Durchsetzung neuer Faktorkombinationen nennt Schumpeter Innovation. Die jeweilige Kombination produktiver Faktoren findet ihren Ausdruck in der komplexen Struktur der Volkswirtschaft. Diese zeigt sich ja nicht als ein monolithischer Block, sondern vielfach gegliedert. Das gilt sowohl fur ¨ die Inputseite, die Vielfalt der Einsatzfaktoren, wie auch fur ¨ die Outputseite mit der Vielgestaltigkeit der volkswirtschaftlichen Wertschopfung. Dieser Sachverhalt war auch ¨ fruheren Denkern bereits gegenwartig und sie suchten nach Moglich¨ ¨ ¨ keiten, die strukturellen Eigentumlichkeiten der Wirtschaft zeitgemaß ¨ ¨ zu beschreiben. Fur der physiokratischen Schule der Ökonomie im ¨ den Begrunder ¨ 18. Jahrhundert, Franc¸ois Quesnay, schien in seinem beruhmten ¨ Tableau e´conomique von 1758, einer der ersten Darstellungen des Wirtschaftskreislaufs, eine Aufteilung der Wirtschaft in drei Klassen angemessen. Er unterschied zwischen einer Klasse von Grundbesitzern, die als Eigentumer den Grund und Boden zur gesellschaftlichen ¨ Produktion bereitstellten, einer „produktiven“ Klasse der Landwirte, die mit diesem Boden einen Ertrag erwirtschafteten, von dem die Gesellschaft leben musste, und einer „unproduktiven“ (sterilen) Klasse von Handwerkern und Kaufleuten, die lediglich mit der Stoffumwandlung des landwirtschaftlichen Produkts befasst waren. Diese Unterteilung in drei Klassen entsprach der physiokratischen Vorstel¨ lung, dass allein der Boden und die landwirtschaftliche Tatigkeit einen Reinertrag zu erwirtschaften erlaubte. Der Begriff Physiokratie
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Veränderungen des ökonomischen Kreislaufs
Tableau conomique
Physiokratie
WAN DEL DER WI RT SCH AFT LI CHEN S TRUK TUR EN
Primärsektor
Sekundärsektor
Tertiärsektor
Beschreibung der sektoralen Entwicklung
Entwicklungsvergleich Output . . .
kommt aus dem griechischen und bedeutet ursprunglich „Herrschaft ¨ der Natur“. Diese Auffassung mag einer vorindustriellen Agrargesellschaft adaquat gewesen sein, den Verhaltnissen einer modernen ¨ ¨ Volkswirtschaft entspricht sie kaum. Das war auch gut 100 Jahre spater Karl Marx vollig bewusst, der ¨ ¨ in seinem System der „erweiterten Reproduktion“ zwei Sektoren unterschied: einen, der sich mit der Produktion von Gutern zum unmit¨ telbaren Verbrauch befasste (Konsumguter), und einen zweiten, der ¨ Guter produzierte (Produktionsguter), die erst in weiteren Perioden ¨ ¨ zur Produktion von Konsumgutern dienen konnten. Die relative Be¨ deutung dieser beiden Sektoren zueinander kann sogar zum Maßstab fur ¨ den Entwicklungsstand einer Volkswirtschaft gemacht werden (Hoffmann 1931) mit dem Ergebnis: Je großer der Anteil der indi¨ rekten Produktion (Investitionen), um so fortgeschrittener die Volkswirtschaft. In der Volkswirtschaftslehre hat die Vorstellung einer Unterteilung der wirtschaftlichen Produktion in drei Hauptsektoren weite Verbreitung gefunden. Man geht davon aus, dass es in diesen drei Sektoren eigentumliche, deutlich voneinander zu unterscheidende Produktions¨ bedingungen gibt. Im primaren Sektor, der sogenannten Urge¨ winnung, geht es darum, die „Fruchte der Natur“ fur ¨ ¨ produktive Zwecke unmittelbar zu nutzen. Als Beispiele dafur ¨ gelten die landwirtschaftliche Produktion (Ackerbau und Viehzucht), die Forstwirtschaft, das Fischereiwesen und z. T. auch der Bergbau. Im sekundaren Sektor erfolgt dann eine Stoffumwandlung der Produkte der ¨ Urproduktion in eine Vielzahl gewerblich hergestellter Produkte: Aus dem Korn wird Brot, aus Erzen Maschinen usw. Schließlich widmet sich der tertiare ¨ Sektor der Verteilung der gewerblichen Produkte (Handel) und erstellt daruber hinaus mithilfe gewerblicher Vorpro¨ dukte zahlreiche immaterielle Produkte (Dienstleistungen). Auf der Basis dieses dreigliedrigen Konzepts hat es zahlreiche Versuche gegeben, den sektoralen Strukturwandel der modernen Volkswirtschaften zu beschreiben und dabei insbesondere zunachst den ¨ Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft genauer zu erfassen. Im fortgeschrittenen Entwicklungsstadium wird dann aber auch der moglichen Weiterentwicklung zu einer sogenannten Dienstleis¨ tungsgesellschaft besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Eine Moglichkeit einer derartigen Betrachtung bietet die Unter¨ suchung der Veranderung in der Verteilung der gesamtwirtschaftli¨ chen Wertschopfung auf die genannten drei Sektoren. Schaut man ¨ auf die Entwicklung in Deutschland, so zeigt sich dort zur Mitte des
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SEKTORA LER S TRUK TURWA NDEL
19. Jahrhunderts ein deutliches Überwiegen der Wertschopfung der ¨ Landwirtschaft mit 45 %, gefolgt von Dienstleistungen (34 %) und erst danach dem Gewerbe (21 %). Das war gut 50 Jahre spater ¨ 1910 / 13 ganz anders: Nun war die gewerbliche Wertschopfung ¨ (45 %) am bedeutendsten geworden und die Landwirtschaft hatte daran den geringsten Anteil (23 %) (Hoffmann 1965, S. 33). Eine vergleichbare Entwicklung lasst sich konstatieren, wenn an¨ stelle der Wertschopfung (Output) die Anteile der Beschaftigten (In¨ ¨ put) in den drei volkswirtschaftlichen Hauptsektoren zum Maßstab genommen werden. Im 18. Jahrhundert waren zwei Drittel, um 1850 immer noch mehr als die Halfte aller Beschaftigten in der Landwirt¨ ¨ schaft tatig. Tatigkeiten im Gewerbe und im Dienstleistungssektor ¨ ¨ hielten sich in etwa die Waage (1780 ca. 19 % : 16 %; 1850 ca. 24 % : 21 %) (Henning 1973, S. 20). Erst danach nahm die Beschaf¨ tigung im sekundaren Sektor (Gewerbe) deutlich zu und uberflugelte ¨ ¨ ¨ schließlich am Ende des 19. Jahrhunderts diejenige im primaren Sek¨ tor. Die Entwicklung war damit allerdings nicht beendet, wie ein kurzer Blick auf > ABBILDUNG 20 zeigt.
. . . und Input
Abbildung 20: Anteil der in den einzelnen Wirtschaftssektoren Beschaftigten ¨ an der Gesamtzahl (angelehnt an Henning 1973, S. 20)
Die landwirtschaftliche Beschaftigung ¨ verlor im Laufe des 20. Jahrhunderts dramatisch an Bedeutung und Dienstleistungen, z. B. im Banken- und Versicherungswesen, bei den Verkehrsbetrieben oder im ¨ ¨ offentlichen Dienst, wurden bald zum dominierenden Beschaftigungs¨ die Entwicklung der Wertschopfung ¨ bereich. Ähnliches gilt auch fur
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Niedergang der Landwirtschaft
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Industrialisierung als Motor der sektoralen Veränderung
Aufstieg des Dienstleistungssektors
in Deutschland im 20. Jahrhundert. Die Dienstleistungsgesellschaft scheint die Industriegesellschaft abzulosen. ¨ Es sieht so aus, als sei der fur ¨ Deutschland beschriebene Wandel der sektoralen Struktur der Wirtschaft im 19. Jahrhundert prototypisch fur ¨ alle sich entwickelnden Volkswirtschaften (Chenery / Syrquin 1975). International vergleichende Untersuchungen haben nachgewiesen, dass in allen beobachteten Landern mit einem wachsenden ¨ Pro-Kopf-Einkommen im Zuge der Industrialisierung deutliche Veranderungen in der sektoralen Struktur der Wirtschaft zu beobachten ¨ sind. Die Beschaftigungsmoglichkeiten in der Landwirtschaft gehen ¨ ¨ uberall erheblich zuruck, wahrend diejenigen in Industrie und ¨ ¨ ¨ Dienstleistungen deutlich zunehmen. Doch zeigt sich hier bereits eine Entwicklung, die die „Gesetzmaßigkeit“ der sektoralen Veranderun¨ ¨ gen infrage stellen: Die Beschaftigungsanteile des Dienstleistungssek¨ tors liegen bei allen beobachteten Landern ¨ uber denen der Industrie. ¨ Bei einer Betrachtung der Entwicklung der sektoralen Anteile der Wertschopfung gilt diese Beobachtung analog. Eine eindeutige Domi¨ nanz industriell-gewerblicher Beschaftigungsund Wertschopfungs¨ ¨ anteile wie in Deutschland im spaten 19. und fruhen 20. Jahrhundert ¨ ¨ findet sich also nicht uberall. ¨
9.2 Sektortheorie
Wandel der gesamtwirtschaftlichen Struktur
Engelsches Gesetz
Die historischen Erfahrungen der fruhen Industriestaaten wurden ¨ gleichwohl zum Anlass genommen, eine allgemeine Theorie gesellschaftlicher Entwicklung zu formulieren, die als „Sektortheorie“ einige Verbreitung fand und bis heute z. T. sehr unkritisch propagiert wird. Der augenfallige sektorale Strukturwandel entwickelter Volks¨ wirtschaften wurde bereits in den 1930er-Jahren (Fisher 1939) zum Gegenstand theoretischer Erorterungen gemacht. Die Ursache der ¨ Veranderungen in der Wirtschaftsstruktur wurde in einem Wandel in ¨ der gesamtwirtschaftlichen Struktur vermutet. Mit wachsenden Einkommen wurden Guter des taglichen Bedarfs, insbesondere Nah¨ ¨ rungsmittel, die ja gerade bei geringem Einkommen einen großen Teil des Haushaltsbudgets beanspruchten, relativ immer weniger nachgefragt. Gemaß ¨ dem Engelschen Gesetz sanken z. B. die Anteile der Ausgaben von Nahrungsmitteln an den Gesamtausgaben. Das Engelsche Gesetz ist eine von dem deutschen Statistiker Ernst Engel erstmals beschriebene Gesetzmaßigkeit, der zufolge der Prozentanteil des ¨ Einkommens, den ein Privathaushalt fur ausgibt, mit ¨ die Ernahrung ¨
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S E KTORTH EO RI E
steigendem Einkommen sinkt (Engel 1857). Entsprechend gewinnen in einer Wohlstandsgesellschaft die gewerbliche Produktion und die gewerbliche Beschaftigung nicht nur absolut, sondern auch relativ an ¨ Bedeutung. Sind auch diese Bedurfnisse gesattigt, so bieten sich im ¨ ¨ Bereich der Dienstleistungen theoretisch nahezu unbegrenzte Mog¨ lichkeiten der Nachfrageausweitung. In einem fortgeschrittenen Stadium der Entwicklung steigen entsprechend die Ausgaben fur ¨ Dienstleistungen uberproportional an und bieten zahllose neue Beschafti¨ ¨ gungsmoglichkeiten. ¨ Diese Beschaftigungschancen im Dienstleistungssektor bezeichnete ¨ Jean Fourastie´, franzosischer Ökonom und Entwickler der Drei-Sek¨ toren-Hypothese fur ¨ die wirtschaftliche Entwicklung eines Staates, als Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts (Fourastie´ 1954). Dies 1 ist vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Massenarbeitslosigkeit in Europa in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts zu be¨ trachten. Neben den unterschiedlichen Wirkungen der Nachfrageentwicklung auf die Struktur der Volkswirtschaft wird hier auch die Wirkung des technischen Fortschritts zum Thema gemacht. Die Chancen, technologische Neuerungen zu realisieren, erscheinen nam¨ lich in den drei volkswirtschaftlichen Hauptsektoren nicht gleich, sondern außerordentlich unterschiedlich. Fur Sektor ¨ den primaren ¨ wird angenommen, dass sich dort nur ein maßiger, quasi naturlich ¨ ¨ begrenzter technischer Fortschritt erzielen lasst. Der technische Fort¨ schritt wirke vor allem im maschinisierten, technikbasierten Industriesektor, wahrend auch bei den Dienstleistungen nur maßige, eher ¨ ¨ noch geringere technische Fortschritte als in der Landwirtschaft mog¨ lich seien. Die Nachfrageveranderungen in Verbindung mit der Wir¨ kung des technischen Fortschritts beeinflussen die Entwicklungschancen der Sektoren daher in außerst unterschiedlicher Weise. Der ¨ maßige technische Fortschritt in der Landwirtschaft lasst diesen Sek¨ ¨ tor in Verbindung mit tendenziell sinkender relativer Nachfrage nach Agrarprodukten der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung eher nachhinken: Er verliert an gesamtwirtschaftlicher Bedeutung. Die hohe Nachfrage nach gewerblichen Produkten und technischen Innovationen weisen dagegen dem sekundaren Sektor eine dominante Rolle ¨ zu. Doch langfristig wird dem tertiaren Sektor durch die hohe Nach¨ frage nach Leistungen bei gleichzeitig geringen Rationalisierungschancen eine immer großer werdende Rolle zufallen. Der Weg in die ¨ Dienstleistungsgesellschaft scheint daher vorgezeichnet (Clark 1960). Die hier in knappen Strichen umrissene Sektortheorie beinhaltet weit mehr als lediglich eine Theorie des sektoralen Strukturwandels
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Veränderung in der Nachfrageentwicklung und . . .
. . . unterschiedliche Umsetzung technischer Möglichkeiten
. . . führen zu unterschiedlicher Sektorentwicklung
. . . und zukünftiger Dominanz des tertiären Sektors
WAN DEL DER WI RT SCH AFT LI CHEN S TRUK TUR EN
Kritik an der Sektortheorie
Abgrenzung schwierig
Uneinheitliche Klassifikation
Erklärungsgehalt unklar
der Wirtschaft. Diese Theorie bildet den Kern der Vorstellungen einer Dienstleistungsgesellschaft (Bell 1975, S. 136–146) oder gar einer 1 „tertiaren Zivilisation“ (Fourastie´ 1 1954, S. 310). Doch diese weiter ¨ gehenden Interpretationen sektoralen Strukturwandels konnen an ¨ dieser Stelle nicht vertieft werden, hier gilt es die okonomischen Im¨ plikationen dieses Konzeptes zu veranschaulichen. Wie jede wissenschaftliche Theorie muss sich auch die Sektortheorie der Prufung stellen, ob sie logisch widerspruchsfrei und empirisch ¨ zutreffend ist. Tatsachlich lassen sich sowohl auf der systematischen ¨ wie auf der empirischen Ebene Vorbehalte gegenuber einer allzu un¨ kritischen Übernahme dieses auf den ersten Blick so uberzeugenden ¨ Konzeptes formulieren. Zunachst einmal ist einzuwenden, dass die Abgrenzung dreier ¨ Sektoren der primaren, sekundaren und tertiaren Produktion einer ¨ ¨ ¨ reinen „ad-hoc“-Konvention entspricht und die Zuordnung der einzelnen Wirtschaftsbranchen unklar und z. T. widerspruchlich ist – ¨ gehort ¨ der Bergbau z. B. zur Urproduktion oder zur Industrie, ist die kapitalintensive Agrarindustrie tatsachlich Teil der Landwirtschaft ¨ u. a.? ¨ Auch sind die unterschiedlichen nationalen Klassifikationssysteme nicht einheitlich. Die Untergliederung der Sektoren folgt der amtlichen Statistik einer Industriegesellschaft und ist z. B. fur ¨ den Teil der gewerblichen Produktion außerst differenziert, wahrend ¨ ¨ Dienstleistungen nur ganz allgemein als Restkategorie angefuhrt wer¨ den. Sie entspricht daher nicht den Anforderungen einer modernen Dienstleistungsokonomie. Überhaupt erscheint eine Gliederung der ¨ Beschaftigten nach beruflichen Funktionen weitaus angemessener als ¨ eine solche nach den Eigenarten der erstellten Produkte (> KAPITEL 8.1). Auch lasst sich uber den Erklarungsgehalt der Sektortheorie man¨ ¨ ¨ cher Zweifel anmelden. Die Nachfrage nach Gutern ist naturlich ¨ ¨ nicht allein von der Einkommensentwicklung abhangig, sondern ¨ auch Geschmacksveranderungen, technische Neuerungen u. a. ¨ ¨ tragen zu Veranderungen bei. Zudem wirkt der technische Fortschritt inner¨ halb der drei Sektoren sehr unterschiedlich. Dass z. B. die Landwirtschaft nur einen maßigen technischen Fortschritt realisieren kann, ist ¨ zwar eine weit verbreitete Ansicht, gleichwohl aber empirisch falsch (Kopsidis 2006). Die große Hoffnung auf eine quasi automatische Kompensation von Beschaftigungsverlusten im gewerblichen Sektor ¨ durch ein erweitertes Angebot an Dienstleistungen hat sich leider als unzutreffend erwiesen, weil dabei der Einkommens-Kosten-Aspekt von Dienstleistungen nicht mitbedacht wurde, dass namlich die mog¨ ¨
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IN DU STR IE- ODER DI EN ST LEIS TUN GSGESEL LSC HAFT?
licherweise gewunschten Dienstleistungen sehr teuer und daher nicht ¨ effektiv nachgefragt werden. Kurzum: Die Sektortheorie erweist sich als zu grobschlachtig fur ¨ ¨ die Erfassung des Strukturwandels in den komplexen modernen Volkswirtschaften, und ein Teil ihrer Annahmen erweist sich als fragwurdig und sogar falsch. Wie aber sieht es mit der empirischen Be¨ wahrung des darin inkorporierten sektoralen Strukturwandels aus? ¨ Betrachtet man allein die fruhen Industriestaaten Westeuropas, wie ¨ Großbritannien, Belgien, Deutschland und die Schweiz, so bestatigt ¨ sich das unterstellte Entwicklungsschema von einer Agrar- uber die ¨ Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Doch erweitert man die Betrachtung auf außereuropaische Staaten (USA, Japan, Australien, Ka¨ nada), so zeigt sich, dass dort in keiner historischen Phase die Industrie den Dienstleistungssektor in seiner Bedeutung ubertroffen hat ¨ (Kaelble 1986). Allein in Westeuropa scheint eine derartige Sequenz einige Plausibilitat Über diese Grenzen hi¨ beanspruchen zu konnen. ¨ naus hat es wohl eine Industriegesellschaft niemals gegeben und die Agrargesellschaft ist direkt in eine Dienstleistungsgesellschaft uber¨ fuhrt worden. ¨
Sektortheorie zu unkomplex für moderne Volkswirtschaften
Sektortheorie außerhalb Europas
9.3 Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaft? Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine tief greifende Kontroverse in Deutschland um die Ausgestaltung der Zollpolitik, in der es darum ging, zu klaren, ob Deutschland eine Agrargesellschaft mit star¨ ker industrieller Basis bleiben oder eine moderne Industriegesellschaft werden sollte (Wagner 1901). Diese Kontroverse erscheint vor dem Hintergrund des damals langst vollzogenen Schritts zur Industriege¨ sellschaft im Ruckblick ein wenig kurios, veranschaulicht aber zu¨ gleich, dass es damals um weit mehr als bloß um die Frage der sektoralen Wirtschaftsstruktur ging (Wehler 1995, S. 662–80). Es ging 8 um Macht und Einkommen, darum, ob den traditionellen Eliten ihre feudale Machtbasis erhalten blieb oder ob Unternehmertum und industrielle Arbeiterschaft eine starkere Position in Gesellschaft und ¨ Politik erringen durften. Ähnlich wie vor 100 Jahren stellt sich auch heute die Frage nach ¨ der Ausgestaltung einer zukunftstrachtigen Wirtschaftsstruktur und den damit verbundenen Wirkungen auf die Verteilung von Wohlstand und politischem Einfluss im 21. Jahrhundert. Welche Rolle kann die Industrie weiterhin spielen und welche Chancen haben ihre
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Kontroverse um Agrar- oder Industriegesellschaft
Frage nach zukünftigen Wirtschaftsstrukturen
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Industrie- versus Dienstleistungsgesellschaft
Postindustrielle Gesellschaft
Wissensgesellschaft
Dienstleistungsgesellschaft
Herausforderer im Dienstleistungssektor? Welche Rolle soll der Finanzsektor spielen und welchen Einfluss will man ihm zugestehen? Die besondere Bedeutung der Industrie und insbesondere die uber¨ ragende Rolle industrieller Großbetriebe in der modernen Volkswirtschaft wurde in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts immer wie¨ der hervorgehoben (Baran / Sweezy 1968). Doch zugleich wurde der Industriegesellschaft als Gegenentwurf die zukunftige Dienstleistungs¨ gesellschaft entgegen gehalten (Bell 1975). Ganz im Sinne der Sektortheorie erschien dem Autor ein uberproportionales Wachstum von ¨ Wertschopfung und Beschaftigung im tertiaren Sektor unvermeidbar, ¨ ¨ ¨ mit einem Vorrang professionalisierter und qualifizierter Berufe und der Dominanz theoretischen Wissens vor praktischer Erfahrung als Quelle beruflichen und gesellschaftlichen Erfolgs. In der kommenden nach- oder postindustriellen Gesellschaft werde zudem die Planung und Steuerung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse die Anpassungen an den Markt zuruckdrangen und eine neue intellektu¨ ¨ elle Technologie der Entscheidungsfindung dabei die Basis bilden (Hausermann / Siebel 1995). ¨ Ob diese schone neue Welt mittlerweile bei uns Einzug gehalten ¨ hat, ware ¨ zu hinterfragen. Das Konzept der postindustriellen Gesellschaft bezieht sich naturlich auf weitaus mehr als auf den sektoralen ¨ Wandel im Beschaftigungssystem. Wesentliche Elemente lassen sich ¨ unter dem Begriff „Wissensgesellschaft“ subsumieren (> KAPITEL 4.2). Die Frage ist, ob heutzutage im Verhaltnis zu den anderen Sektoren ¨ wesentlich mehr Dienstleistungen als fruher produziert werden, oder ¨ ob es sich bei dem wachsenden Anteil von Dienstleistungsbeschaftig¨ ten moglicherweise lediglich um ein „outsourcing“, also eine Aus¨ lagerung von Dienstleistungstatigkeiten handelt, die fruher in der In¨ ¨ dustrie erbracht wurden. Schon vor knapp 30 Jahren wurde fur ¨ Großbritannien die Auffassung vertreten, dass in der dort bereits weiter fortgeschrittenen Dienstleistungsgesellschaft relativ eben nicht mehr Dienstleistung als zuvor bereitgestellt wurden (Gershuny 1981, S. 88–93). 9 Als Maß der Dienstleistungsproduktion wurde nicht die gesamtwirtschaftliche Wertschopfung und nicht die sektorale Beschaftigung gewahlt, son¨ ¨ ¨ dern der Endverbrauch, der von der Bevolkerung privat oder offent¨ ¨ lich konsumiert wurde. Eine Untersuchung uber die Struktur der ¨ Ausgaben der privaten Haushalte zwischen 1954 und 1974 zeigte keinen signifikanten Anstieg des Verbrauches von Dienstleistungen. 1954 wurden 13,1 % des Budgets fur ¨ Dienstleistungen ausgegeben, 20 Jahre spater sogar nur 12,1 %, also weniger. Lediglich fur ¨ ¨ Trans-
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port wurden relativ hohere Ausgaben getatigt (1954: 7 %; 1974: ¨ ¨ 13,5 %). Doch diese bezogen sich vor allem auf Ausgaben fur ¨ den Kauf und den Betrieb von Kraftfahrzeugen (Transportguter 1974: ¨ 11,1 %) und nicht auf Transportdienste (z. B. Reisen). In einer deutlichen Akzentuierung dieses Sachverhaltes kann man daher die moderne Gesellschaft weit zutreffender als „Selbstbedienungsgesellschaft“ denn als „Dienstleistungsgesellschaft“ bezeichnen. In die gleiche Richtung einer Infragestellung eines augenscheinlichen Wandels zur Dienstleistungsgesellschaft weist auch die Tatsache, dass ein großer Teil der erbrachten Dienstleistungen in engem Zusammenhang mit der materiellen Produktion erbracht werden und konsumorientierte Dienstleistungen, seien sie personen- oder haushaltsbezogen, nur einen Teil der Dienstleistungen ausmachen. Im Gegenteil, es herrscht zunehmend eine Tendenz, die Kunden und Verbraucher immer mehr Aufgaben selbst erledigen zu lassen, sie holen ihr Geld vom Geldautomaten, benutzen Fahrkartenautomaten oder schrauben ihre Mo¨ bel selbst zusammen. Die Konsumenten werden, durch die modernen Medien verkoppelt, sogar fur ¨ die betriebliche Produktion eingesetzt (Voss / Rieder 2007), z. B. zur Qualitatssicherung, wenn sie im Inter¨ net die Zuverlassigkeit einer Leistung beurteilen sollen. Die zwangs¨ laufige Zunahme der Produktion von Dienstleistungen fur ¨ ¨ den Endverbrauch wie auch die wachsenden Beschaftigungschancen im tertia¨ ¨ ren Sektor sind bislang also lediglich eine „Hoffnung“ (Fourastie´ 1954) geblieben. Dies gilt auch fur ¨ die Bundesrepublik Deutschland. Auch hier gibt es keinen ungebrochenen Trend zur Dienstleistungsgesellschaft. Denn einerseits signalisiert ein wachsender Anteil offentlicher Dienstleistun¨ gen, gemessen in einer wachsenden Staatsquote, eben nicht automatisch eine Zunahme konsumnaher Dienstleistungen. Und andererseits beruht eine wachsende Staatsquote z. T. darauf, dass staatliche Dienstleistungen nur als Vorleistungen zur materiellen Produktion gelten (die Rechtssprechung z. B. erhoht ¨ nicht unmittelbar die private Wohlfahrt, tragt des Rechtsfriedens und zur Si¨ aber zur Forderung ¨ cherung arbeitsteiliger Produktionsformen bei) und zudem moglicher¨ weise lediglich Preiseffekte spiegeln, etwa beim wachsenden Einkommen der Staatsdiener. Und andererseits erscheint in der Struktur des privaten Verbrauchs ein Trend zum Verbrauch langlebiger Konsumguter ungebrochen (Reckendrees 2007). Die Wertschopfung im ter¨ ¨ tiaren Sektor in Deutschland wachst allenfalls schwach (Voss 1982). ¨ ¨ Eine genauere Analyse der Entwicklung der privaten Ausgaben in Deutschland auf der Basis der Einkommens- und Verbrauchsstich-
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Selbstbedienungsgesellschaft
Entwicklung des tertiären Sektors in Deutschland
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probe des Statistischen Bundesamtes zeigt, dass auch hier die Ausgaben der privaten Haushalte fur ¨ Dienstleistungen nicht gestiegen sind, wie die Tabelle (> ABBILDUNG 21) verdeutlicht.
DL Bekleidung DL Haushaltsführung DL Gesundheitspflege DL Körperpflege DL Verkehr DL Nachrichtenübermittlung DL Freizeit und Kultur DL Reisen / Ferien DL Bildung DL Hotel, Gaststätten DL Persönliche Ausstattung Gesamt
62 / 63 %
1973 %
1978 %
1983 %
1988 %
1993 %
1998 %
0,14 1,92 0,48 1,00 2,36 0,60 1,21 * 1,32 4,66 0,44
0,21 0,96 1,59 0,62 1,30 1,29 1,16 2,36 0,47 5,90 0,51
0,16 0,80 1,42 0,64 1,11 1,66 1,32 2,59 0,37 6,25 0,56
0,13 0,64 1,29 0,65 1,13 1,69 1,28 1,86 0,52 5,02 0,44
0,11 0,54 1,29 0,67 0,99 1,64 1,28 2,05 0,49 5,27 0,37
0,04 0,23 1,74 0,89 1,39 1,70 1,46 1,96 0,46 4,77 0,22
0,14 0,49 1,42 0,68 1,01 1,68 2,15 2,14 0,38 3,66 1,23
14,11
16,37
16,89
14,64
14,70
14,85
14,99
* ¼ nicht getrennt erhoben Abbildung 21: Anteil der Aufwendungen fur ¨ Dienstleistungen am gesamten privaten Verbrauch (nach Loheide 2008, S. 90)
Private Ausgaben für Dienstleistungen
„Servicewüste“ Deutschland
Nur ca. 14 % der Ausgaben der privaten Haushalte, sowohl im Jah¨ den Kauf von Dienstre 1962 / 63 wie auch im Jahre 1998, werden fur leistungen ausgegeben, wenn man die Preiseffekte eliminiert. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Einkommen in diesem Zeitraum real um ca. 82 % angestiegen sind. Es sind eben nicht die Ausgabenanteile ¨ den Konsum von Dienstleistungen im Budget der privaten Hausfur ¨ langlebige Konsumguter ¨ halte gestiegen, sondern vor allem solche fur ¨ Haushaltsgerate, ¨ wie z. B fur Kraftfahrzeuge oder Unterhaltungselek¨ tronik. Die Haushalte benutzen diese industriell gefertigten Guter wiederum dazu, Leistungen selbst zu produzieren, die alternativ durch ¨ hausliche Dienste, Verkehrsdienste oder Kulturproduktion, also durch ¨ Dienstleistungen herzustellen waren. Eine Substitution von Dienstleistungen durch den Kauf und Gebrauch von langlebigen Verbrauchs¨ ¨ ¨ gutern in der haufig zitierten „Dienstleistungs-“ bzw. „Servicewuste“ Bundesrepublik ist daher weit eher zu konstatieren, als Umrisse einer ¨ Dienstleistungsgesellschaft. Der preisbereinigte Ausgabenanteil fur Haushaltsdienste ging z. B. von 1,92 % (1962 / 63) des Budgets auf ¨ ¨ ¨ den Kauf von Trans0,49 % (1998) zuruck, wahrend der Anteil fur ¨ portgutern (vornehmlich Autos) im gleichen Zeitraum von 2,2 % auf
142
FRAG EN UND LEK TÜR EEMPFEH LUNGEN
8,58 % anstieg. Ebenso erhohte sich der entsprechende Anteil fur ¨ ¨ Unterhaltungselektronik von 0,8 % auf 1,21 %. Erweitert man die Betrachtung von der privaten Nachfrage auf die offentliche Nachfrage, ¨ so bestatigt sich das gewonnene Bild. Auch deren Anteile sind in den ¨ betrachteten Dekaden nicht gestiegen, sie sind sogar gesunken. 1962 / 63 umfasste der Anteil der offentlichen Ausgaben fur ¨ ¨ Dienstleistungen am Gesamtverbrauch (Guter und Dienstleistungen) lediglich ¨ 18,6 % und dieser Anteil sank sogar bis 1998 auf 10,9 %. Auch die Entwicklung der offentlichen Dienstleistungen lasst ¨ ¨ Deutschland kaum als Dienstleistungsgesellschaft erscheinen. Das modische Reden von einer Dienstleistungsgesellschaft, einer „tertiaren Zivilisation“, ist also mit großer Skepsis zu betrachten. ¨ Gewerbliche Produktion und der Verbrauch von industriell gefertigten langlebigen Verbrauchsgutern stellen immer noch den Kern unse¨ res Produktionssystems, zumindest in Deutschland, dar. Das mag man bedauern und moglicherweise als ruckstandig oder uberindus¨ ¨ ¨ ¨ trialisiert betrachten. Doch angesichts einer „McDonaldisierung“ in den USA und den Erfahrungen mit einem aufgeblahten Finanzsystem ¨ in den angelsachsischen Landern kann man mit gutem Recht Zweifel ¨ ¨ an der Zukunftstrachtigkeit derartiger Dienstleistungen haben. ¨
Fragen und Anregungen • Ist der Strukturwandel in der deutschen Wirtschaft in den letzten zwei Jahrhunderten durch die sogenannte Sektortheorie erklarbar? ¨ Inwieweit gilt dies auch fur ¨ andere moderne Volkswirtschaften? • Wenn Sie an Ihre personlichen Lebensumstande denken, konnen ¨ ¨ ¨ Sie dann behaupten, dass Sie zunehmend personenbezogene Dienstleistungen konsumieren? Ist das Reden von der Dienstleistungsgesellschaft also begrundet oder handelt es sich eher um eine ¨ fixe Idee? • Zogern Sie haufig, im taglichen Leben personenbezogene Dienst¨ ¨ ¨ leistungen zu kaufen und machen stattdessen vieles lieber selber? Wenn ja, warum?
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Öffentliche Ausgaben für Dienstleistungen
Tertiäre Zivilisation
WAN DEL DER WI RT SCH AFT LI CHEN S TRUK TUR EN
Lektüreempfehlungen Übersichten
• Colin Clark: The Conditions of Economic Progress, 3. Auflage London 1960. Klassische Begrundung der Sektortheorie mit zahl¨ reichen Belegen fur ¨ verschiedene Lander. ¨ • Allan G. B. Fisher: Production. Primary, Secondary, Tertiary, in: The Economic Record 15, 1939, Heft 1, S. 24–38. 3 Erster Versuch einer sektoralen Analyse der Industriegesellschaft. • Jean Fourastie´: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, Koln ¨ 1954. Ausdehnung der Sektortheorie zu einer umfassenden Theorie zivilisatorischen Wandels.
Forschung
• Jonathan Gershuny: Die Ökonomie der nachindustriellen Gesellschaft. Produktion und Verbrauch von Dienstleistungen, Frankfurt a. M. 1981. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Sektortheorie und der darin behaupteten Entwicklung am Beispiel Großbritanniens. • Walther G. Hoffmann: Stadien und Typen der Industrialisierung. Ein Beitrag zur quantitativen Analyse historischer Wirtschaftsprozesse, Jena 1931. Klassische Arbeit, die sektoralen Wandel mit der Industrialisierung in Beziehung setzt. • Boris Loheide: Wer bedient hier wen? Service oder Selfservice – Die Bundesrepublik Deutschland als Dienstleistungsgesellschaft, ¨ Saarbrucken 2008. Anwendung des Ansatzes von Gershuny auf die Bundesrepublik Deutschland.
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10 Unternehmen und Big Business
Abbildung 22: Karte der Gussstahlfabrik Friedrich Krupp (1889)
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UNTERNEHM E N UN D BI G BUS INES S
Die Kruppsche Gussstahlfabrik in Essen war zeitweise das großte ¨ deutsche Unternehmen im 19. Jahrhundert. Die Karte gibt einen Eindruck von dem gigantischen Ausmaß der Werksanlagen. Die Stadt Essen, eine bedeutende Stadt bereits seit dem Mittelalter, erscheint nur noch als ein Anhangsel des Industriebetriebes, der 1889 ein ¨ Mehrfaches der Flache der Stadt beanspruchte. Die Fabrik wurde zu ¨ einer Welt fur ¨ sich mit einer eigenen Infrastruktur (Wasserver- und -entsorgung, Eisenbahn, Hafen, Energieversorgung u. a.) ¨ und eigenen Wohnkolonien. Dies alles war das Ergebnis eines gewaltigen Wachstumsprozesses, den das Unternehmen unter der Ägide von Alfred 8 in nur einer Generation durchlaufen hatte. Krupp (1812–87) Der am Beispiel Krupp deutlich werdende Prozess der Herausbildung moderner Großunternehmen vollzog sich zunachst in nur wenigen ¨ Branchen. Verkehrsunternehmen, Textilbetriebe, Eisenhutten und ¨ Bergwerke schritten voran, und erst spater konnten auch andere ¨ Branchen von den Großenvorteilen industrieller Großbetriebe (eco¨ nomics of scale) profitieren. Neben den Unternehmen der chemischen und elektrotechnischen Industrie zahlten dazu am Ende des 19. Jahr¨ hunderts auch solche der Nahrungsmittelindustrie. Im 20. Jahrhundert setzte sich der Prozess der Verbreitung industrieller Großunternehmen weiter fort, etwa in der Automobil- und Flugzeugindustrie. Eine Zusammenstellung der großten Industrieunternehmen des Jahres ¨ 1912 in den USA, Großbritannien und Deutschland zeigt eine entsprechende Verteilung. In den USA fuhrte US-Steel mit 757 Millionen ¨ US-Dollar Marktkapitalisierung vor Standard Oil (NJ) mit 389 Millionen US-Dollar, in Deutschland Krupp (umgerechnet 142 Millionen US-Dollar) vor Siemens (umgerechnet 121 Millionen US-Dollar) (Schmitz 1995, S. 23). Die Entstehung und Entwicklung der großen Unternehmen wird im Folgenden nachgezeichnet, beginnend mit den Eisenbahngesellschaften des 19. Jahrhunderts bis hin zu den industriellen Großbetrieben der heutigen Zeit.
10.1 Pioniere in den USA und Deutschland 10.2 Wachstum deutscher Großunternehmen im 19. Jahrhundert 10.3 Big Business im 20. Jahrhundert
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PIONIER E I N DEN US A U ND DEU TSC HL AN D
10.1 Pioniere in den USA und Deutschland Die ersten modernen Großunternehmen waren die Eisenbahngesellschaften, die im fruhen 19. Jahrhundert in den USA und in Europa ¨ entstanden waren. Hier stellte sich erstmals die innovative Aufgabe, eine große Menge von Fixkapital bei der Leistungserstellung uber ¨ weite Distanzen durch eine große Zahl von Mitarbeitern erfolgreich einzusetzen. Die schiere Große dieses Unterfangens stellte nach der ¨ Fertigstellung der großen Ost-West-Linien in den USA zwischen 1851 und 1854 eine gewaltige Aufgabe dar und bedurfte des Aufbaus einer neuen Großorganisation, um planvoll bewaltigt zu werden ¨ (Chandler 1965). Diese Großorganisation fuhrte in den USA zu neuen Methoden ¨ der Finanzierung umfangreicher Investitionen wie auch des laufenden Geschafts. Dabei war die Unterstutzung der New Yorker Borse von ¨ ¨ ¨ großer Bedeutung, wo neue Finanzinstrumente wie Vorzugsaktien erprobt wurden, die neben die bereits vertrauten Hypothekenkredite traten. Wegen der hohen Kapitalbindung ruckte die Notwendigkeit ¨ einer kontinuierlichen Kapazitatsauslastung in den Vordergrund und ¨ machte neue Formen der Tarifgestaltung und -staffelung fur ¨ die Arbeitnehmer sowie der Rabattgewahrung fur ¨ ¨ die Kunden notig. ¨ Erstmals war eine großere Zahl technischer Experten fur ¨ ¨ die Aufrechterhaltung des laufenden Betriebs vonnoten und unter den Eisen¨ bahnbediensteten kam es in den USA erstmals zur Formierung nationaler Gewerkschaften, die der Geschaftsfuhrung mit ihren Forderun¨ ¨ gen entgegentraten. Auch der Staat intervenierte verstarkt, weil auch ¨ ein offentliches Interesse an der Aufrechterhaltung eines effizienten ¨ Verkehrssystems bestand. So ermoglichte er umstrittene Streckenfuh¨ ¨ rungen, forderte die Übereinkunft uber technische Standards zwi¨ ¨ schen den privaten Gesellschaften und leistete gelegentlich auch finanzielle Unterstutzung. ¨ Eine planvolle Unternehmensorganisation musste aufgebaut werden, um diesen Anforderungen entsprechen zu konnen. Die bedeut¨ samsten Innovationen in diesem Feld waren erstens die Errichtung einer funktional gegliederten Organisation mit separaten Abteilungen fur ¨ Beschaffung, Instandhaltung, Verkauf usw. Damit war zweitens eine eindeutige Festlegung der Verantwortlichkeiten und Informationspflichten, d. h. der Aufbau einer betrieblichen Hierarchie, verbunden, sowie drittens eine entsprechende Formalisierung des Informationsflusses zwischen den Abteilungen und Hierarchieebenen. Ein Liniensystem klarte Autoritat ¨ ¨ und Verantwortung und machte zu-
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Pionierrolle der Eisenbahngesellschaften
Großorganisation und Großunternehmen
Funktionale Unternehmensstruktur
UNTERNEHM E N UN D BI G BUS INES S
Erste Eisenbahngesellschaften sind private Unternehmen
Aktive Eisenbahnpolitik des preußischen Staates
Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft
gleich eine Abgrenzung gegenuber den Stabsaufgaben und -positio¨ nen notig. ¨ Auch in Deutschland stellte sich der Bau von Eisenbahnen nicht nur als ein technisches, sondern vor allem auch als ein wirtschaftliches Problem dar. In den Eisenbahngesellschaften wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts „die Organisationstendenzen der Zukunft bereits deutlich“ (Wiedenfeld 1940, S. 2). Neben neuen Wegen der Kapitalbeschaffung und -verwendung waren auch solche der Verwaltung und Organisation zu beschreiten. Die ersten Eisenbahnen wurden auch hier nicht wegen ihrer volkswirtschaftlichen Nutzlich¨ keit, sondern wegen der Aussicht auf bedeutende private Gewinne gegrundet (Schreiber 1874, S. 1). Zur Grundung und zum Betrieb ei¨ ¨ ner Eisenbahngesellschaft in Deutschland war im fruhen 19. Jahr¨ hundert zunachst noch die Konzession des Landesherrn notig, deren ¨ ¨ allgemeine Bestimmungen fur ¨ Preußen 1836 festgelegt wurden (Treue 1987, S. 5 –28). Das Eisenbahngesetz von 1838 enthielt daruber kei¨ ne Aussagen, wohl aber uber den Betrieb der Gesellschaften (Enteig¨ nungsrecht fur Schutz vor konkur¨ den Streckenbau, dreißigjahriger ¨ rierendem Streckenbetrieb sowie Kontrolle und Oberaufsicht durch den Staat). Die zehn bis 1842 in Preußen konzessionierten Bahnen waren rein privatwirtschaftlich orientierte Unternehmen, bedurften aber schon in der Anfangszeit staatlicher Unterstutzung. Als sich diese fruhen ¨ ¨ Unternehmen in ihren hohen Gewinnerwartungen getauscht sahen, ¨ ging die Grundertatigkeit schnell zuruck. Doch der preußische Staat ¨ ¨ ¨ hatte ein großes Interesse an einer Verkehrserschließung des gesamten Staatsgebiets und entschloss sich zwischen 1842 und 1848 zu einer aktiven Eisenbahnpolitik durch die Einraumung von Zinsgaran¨ tien an Privatbahnen. Nach der Krise von 1848 und dem darauf folgenden Kursverfall der Eisenbahnpapiere reichte diese Politik aber nicht mehr aus. Der Staat errichtete deshalb eine zentrale Eisenbahnverwaltung, baute einen Teil der fehlenden Bahnen selbst und etablierte so ein Mischsystem staatlicher und privater Bahnen. Noch 1866, durch territoriale Angliederung bedingt, weitete sich das preußische Staatsbahnsystem weiter aus. Gleichzeitig kam es vor allem uber den Umfang der Staatsaufsicht zu Konflikten mit den Privat¨ bahnen. Ein anschauliches Beispiel fur Eisenbahn¨ die Probleme der fruhen ¨ unternehmen in Deutschland liefert die Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft, die 1835 in Koln wurde (Kumpmann 1910). Sie ¨ gegrundet ¨ sollte den Rhein an das belgische Eisenbahnnetz und damit indirekt
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WACHS TUM DEUTS CHER GROSS UN TERN EHM EN IM 19 . JA HRHUN DERT
an den Seehafen Antwerpen anschließen. Schon die Festlegung der Streckenfuhrung der Bahn fuhrte zu schwerwiegenden Konflikten mit ¨ ¨ den Interessen der Stadt Aachen und ihrer Kaufleute, die gerne einen die Stadt Aachen beruhrenden, aber topografisch schwer zu realisie¨ renden Streckenverlauf gesehen hatten. Die wachsenden Kapitalerfor¨ dernisse wahrend der mehrjahrigen Bauphase brachten das Projekt ¨ ¨ immer wieder an den Rand des Scheiterns, was nur durch gewagte Finanztransaktionen der beteiligten Bankiers und durch Unterstut¨ zung des preußischen Staates verhindert werden konnte. Erst nach Überwindung der Anfangsschwierigkeiten und dem Aufbau einer effizienten Unternehmensorganisation konnte die Rheinische EisenbahnGesellschaft nach der Mitte des Jahrhunderts zu einem erfolgreichen und profitablen Unternehmen heranreifen (Pierenkemper 1976). Die privaten Eisenbahnunternehmen waren schließlich derart erfolgreich, dass sie nicht nur nach ihrer Verstaatlichung in den 1880er-Jahren einen beachtlichen Beitrag zur Finanzierung des preußischen Staatshaushaltes liefern konnten, sondern uberhaupt in ihrer Bedeutung ¨ fur wer¨ das industrielle Wachstum in Deutschland kaum uberschatzt ¨ ¨ den konnen (Fremdling 1975). ¨
Verstaatlichung der Eisenbahnen
10.2 Wachstum deutscher Großunternehmen im 19. Jahrhundert Das Wachstum der Großunternehmen in Deutschland hat das Wachstum der deutschen Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert entscheidend mit befordert. Allerdings hat die eigentliche Expansion der ¨ Großunternehmen in Deutschland erst nach 1850 eingesetzt und blieb zunachst auf den Steinkohlebergbau, die Eisen- und Stahlindus¨ trie und den Maschinenbau beschrankt, also auf Branchen, die eng ¨ mit dem Eisenbahnbau verbunden waren (Tilly 1974). Einige dieser Unternehmen beschaftigten schon bald mehr als 1 000 Arbeitskrafte ¨ ¨ und investierten Kapitalien von mehr als eine Million Taler. Das erste industrielle Großunternehmen in Deutschland war die 1808 / 10 gegrundete Huttengewerkschaft Jacobi, Haniel & Hyssen in Oberhau¨ ¨ sen, die Gutehoffnungshutte, die bereits bei ihrer Grundung ein ¨ ¨ Grundkapital von nahezu 100 000 Talern aufwies (Bahr ¨ / Banken / Flemming 2008, S. 38). Doch war diese Grundung ihrer Zeit noch ¨ voraus, und die zahlreichen Unternehmenszusammenbruche in der ¨ ersten Halfte des 19. Jahrhunderts unterstreichen die okonomischen ¨ ¨ Probleme in dieser fruhen Phase der deutschen Industrialisierung. ¨
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Erste Großunternehmen
UNTERNEHM E N UN D BI G BUS INES S
Siegeszug der Großunternehmen ab den 1870er-Jahren
Aufkommen von Aktiengesellschaften
„Gründerboom“ und „Gründerkrach“
Erst ab den 1870er-Jahren, nach Grunderboom und Grunder¨ ¨ krach, begann der eigentliche Siegeszug industrieller Großunternehmen in Deutschland (Tilly 1978b). Entsprechend wuchsen auch die industriellen Anlageinvestitionen, allerdings nicht stetig, sondern in Abhangigkeit von der konjunkturellen Lage. Zwischen 1850 und ¨ 1857 wurden in den preußischen Aktiengesellschaften mehr als 80 % aller Anlageinvestitionen in Bergbau- und Huttenunternehmen geta¨ ¨ tigt. Daneben findet sich allenfalls in der Textilindustrie noch ein bemerkenswerter Anteil von Investitionen – andere Industriebranchen gab es ja auch noch kaum. Ein beachtlicher Teil des investierten Kapitals stammte dabei von Investoren jenseits der preußischen Grenzen, fur ¨ die eine Anlage in Preußen offenbar vielversprechend war. Da der Großteil der industriellen Anlageinvestitionen in Aktiengesellschaften erfolgte, gibt die Verbreitung dieser Rechtsform einen Anhaltspunkt fur ¨ das Wachstum von Großunternehmen (Martin 1969). Zunachst war die Grundung einer Aktiengesellschaft an eine staatli¨ ¨ che Konzession gebunden. Das Prozedere wurde in Preußen erstmals im „Gesetz uber die Aktiengesellschaften“ (1843) geregelt. Deren ¨ Verbreitung blieb allerdings zunachst außerordentlich begrenzt. ¨ Vor 1800 fanden sich in Preußen ganze acht Aktiengesellschaften (Engel 1875, S. 467). Nach 1826 gab es dann eine erste Hochphase in der Grundung von Aktiengesellschaften, der insbesondere dem Ei¨ senbahnbau geschuldet war. Erst die Aktienrechtsnovelle von 1870, mit der die Konzessionspflicht abgeschafft wurde, fuhrte zum ¨ „Grunderboom“. Mit knapp 1 000 Neugrundungen von Aktienge¨ ¨ sellschaften im Deutschen Reich zwischen 1871 und 1873 in zahlreichen Branchen setzte sich in diesem Boom die Aktiengesellschaft als Rechtsform endgultig durch (Moll 1923, S. 155). Das Aktienkapital ¨ der neu gegrundeten Aktiengesellschaften betrug uber drei Milliarden ¨ ¨ Mark und gibt, selbst wenn es nur selten voll eingezahlt war, eine gewisse Vorstellung von den gesamtwirtschaftlichen Investitionen, die mit diesem Grundungsboom verbunden waren. Auch wenn der Auf¨ schwung der Aktiengrundungen im folgenden „Grunderkrach“ schon ¨ ¨ 1873 sein Ende fand, so blieb die Aktiengesellschaft die typische Rechtsform industrieller Großbetriebe, und seit den 1880er-Jahren erfolgten wieder Neugrundungen. Bis 1909 stieg ihre Anzahl auf ¨ uber 5 000 und das nominelle Aktienkapital auf uber 14 Milliarden ¨ ¨ Mark; 229 Gesellschaften wiesen ein Grundkapital von je mehr als zehn Millionen Mark aus. Aber nicht nur in der Rechtsform haben die modernen Großunternehmen in Deutschland wesentlichen Neuerungen zum Durchbruch
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verholfen. Auch hinsichtlich der Organisation hat es bedeutende Veranderungen gegeben. Dem Vorbild der Eisenbahngesellschaften ¨ folgend bedienten sich die Industrieunternehmen zunachst einer funk¨ tionalen Gliederung der Geschaftsbereiche, die nach Aufgaben diffe¨ renziert und zentral kontrolliert wurden. Erst nach 1900 begannen die Unternehmen verstarkt Teilaufgaben dezentral zu organisieren, in ¨ Abteilungen mit starkerer Autonomie auszugliedern. Dieser Prozess ¨ setzte sich z. T. weiter fort bis hin zu einer weitgehend selbststandi¨ gen Geschaftsfuhrung von Unternehmensteilen unter lediglich finan¨ ¨ zieller Kontrolle (Holding). Bei der Kapitalmobilisierung wurden in Deutschland ebenfalls neue Wege beschritten. Die Borse erlangte fur ¨ ¨ die Aktiengesellschaften als Finanzquelle eine immer großere Bedeu¨ tung, und private Aktienbanken wurden zur Unterstutzung indus¨ trieller Kapitalbildung immer wichtiger. In der Unternehmensfuhrung ¨ behielten in manchen Fallen zwar die Grunderfamilien (Krupp, Sie¨ ¨ mens, Bosch u. a.) weiterhin großen Einfluss oder vermochten gar neue Unternehmen zu grunden, doch blieb andererseits die Tendenz ¨ zu einem durch angestellte Manager gefuhrten Großunternehmen un¨ ubersehbar. Der Trend zur Trennung von Eigentum und Kontrolle in ¨ Großunternehmen breitete sich weiter aus. In vielfaltiger Weise gewann der Staat fur ¨ ¨ die modernen Großunternehmen bereits im 19. Jahrhundert an Bedeutung. Er griff durch gesetzliche Regelungen in die Arbeitsbeziehungen ein, initiierte ein umfassendes Programm sozialversicherungsrechtlicher Regelungen zur Sicherung vor den Grundrisiken proletarischer Existenz (Alund ¨ ter, Krankheit, Unfall, Invaliditat) ¨ (> KAPITEL 3.2) und ermoglichte forderte Wettbewerbsregulierungen gegen die Bildung von Kartellen. ¨ Einen manchesterliberalen „Nachtwachterstaat“ hat es daher in ¨ Deutschland auch im 19. Jahrhundert niemals gegeben. An der Geschichte der Gelsenkirchener Bergwerks AG (Gelsenberg) kann man gleichsam paradigmatisch die Begrundung und Ent¨ wicklung moderner Großunternehmen in Deutschland nachvollziehen (Steinkohlebergwerke 1930). Mit 4,5 Millionen Talern (13,5 Millionen Mark) Kapital – 1873 als Umgrundung einer bereits seit 1 ¨ den 1850er-Jahren betriebenen gewerkschaftlichen Zechenanlage durch den deutschen Industriellen Friedrich Grillo als Aktiengesellschaft geschaffen – sollte sie die mit uberwiegend auslandischem Ka¨ ¨ pital im Gelsenkirchener Raum betriebenen Zechen vereinen. In einer ersten Phase der Konsolidierung wurde die ehemalige bergrechtliche Gewerkschaft Vereinigte Alma & Rheinelbe nun zielstrebig ausgebaut. Die verschiedenen Grubenfelder wurden konsolidiert, d. h.
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Funktionale Gliederung auch in Deutschland
Wachsende Bedeutung der Börse
Staatliche Interventionen
Musterbeispiel Gelsenkirchener Bergwerks AG
Drei Phasen der Entwicklung von Großunternehmen
UNTERNEHM E N UN D BI G BUS INES S
Externes Wachstum
Vertikale Integration
Strategische Erweiterung des Produktangebotes
zu einem einzigen Grubenfeld zusammengefugt, und zahlreiche tech¨ nische Neuerungen eingefuhrt, etwa ein Wetterschacht, der der Beluf¨ ¨ tung der Grube diente, ein Eisenbahnanschluss und eine eigene Brikettfabrik. Trotz des Konjunktureinbruchs nach 1873 gelang es dem Unternehmen, sich durch den Abbau der Belegschaft und somit sinkende Lohnkosten bei gesteigerter Forderung zu behaupten. Das Un¨ ternehmen blieb stetig in der Lage, Dividenden zu erzielen und Reserven aufzubauen, die es im Konjunkturaufschwung der 1880er-Jahre in einer zweiten Phase der Unternehmensentwicklung zum Erwerb und zur Angliederung weiterer Kohlenzechen nutzen konnte. Diese nach interner Konsolidierung ab 1882 verfolgte Strategie externen Wachstums konnte nur durch Unterstutzung der großen Ak¨ tienbanken bewerkstelligt werden, und fur ¨ Gelsenberg spielte die Disconto-Gesellschaft dabei als Hausbank die entscheidende Rolle. Die Vorteile externen Wachstums lagen fur ¨ das Unternehmen in einer Stabilisierung der Produktion durch die Verminderung des bergman¨ nischen Risikos bei sowie in der Verfugbarkeit zahlreicher Zechen, der ¨ Nutzung der Kostenvorteile des Großbetriebs und in einer Stabilisierung der Ertrage ¨ und Dividenden. Auch spielte die gute Position innerhalb des im Jahr 1893 geschaffenen Rheinisch-Westfalischen Kohlen¨ Syndikats eine Rolle. 1903 begann dann fur ¨ das Unternehmen eine dritte Entwicklungsphase, als es den Aachener Huttenverein Rothe Er¨ de erwarb, dafur ¨ das Grundkapital auf 119 Millionen Mark fast verdoppelte und damit den Weg zu einem gemischten schwerindustriellen Unternehmen mit Kohlenzechen und Huttenwerk beschritt. Im fruhen ¨ ¨ 20. Jahrhundert war damit die Gelsenkirchener Bergwerks AG zu einem der großten deutschen Industrieunternehmen herangewachsen. ¨ Dass diese Entwicklung keine Ausnahme darstellt, veranschaulicht eine Untersuchung, die die 100 großten Industrieunternehmen ¨ Deutschlands im Jahre 1907 mit denen des Jahres 1887 vergleicht (Kocka / Siegrist 1979). Es zeigt sich nicht nur eine Struktur, in der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen- und Stahlindustrie eindeutig dominieren, und in der sich mehrheitlich Aktiengesellschaften finden. Auch wird eine wesentliche Zunahme der Komplexitat ¨ dieser Unternehmen offensichtlich. Es erfolgte eine deutliche Erweiterung der Produktgruppen, insbesondere in der Metallindustrie, und bei den betrieblichen Funktionen erhohte sich der Integrationsgrad der ¨ Großunternehmen. Deutsche Großunternehmen erweiterten also strategisch ihr Produktionsangebot und erschlossen sich dadurch erweiterte Markte. Zugleich kombinierten sie verstarkt zusatzliche Auf¨ ¨ ¨ gaben innerhalb ihrer Großorganisation.
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10.3 Big Business im 20. Jahrhundert Die wachsende Bedeutung industrieller Großbetriebe in Deutschland rief auch das Interesse der amtlichen Statistik auf den Plan. Bereits 1906 hatte das Statistische Reichsamt damit begonnen, ein Register deutscher Kapitalgesellschaften anzulegen. Moglich war eine derarti¨ ge Sammlung von Einzelinformationen uber Kapitalgesellschaften ¨ geworden, weil diese seit 1900 durch das Handelsgesetzbuch verpflichtet worden waren, regelmaßig uber ihr Geschaftsergebnis Re¨ ¨ ¨ chenschaft abzulegen und dies auch zu veroffentlichen. In einer ers¨ ten Publikation des Statistischen Reichsamts aus dem Jahre 1927 ergab sich, dass rund 300 deutsche Konzerne etwa 3 500 einzelne Unternehmen kontrollierten und uber ca. 500 auslandische Zweig¨ ¨ stellen verfugten (Tooze 2001, S. 99). 1931 wurden gar 1 688 deut¨ sche Konzerne und Trusts registriert. Eine weitere Ausdehnung von Großunternehmen in Deutschland im 20. Jahrhundert ist also offensichtlich. Struktur und Leistungsfahigkeit von Großunternehmen ¨ entwickelten sich aber sehr unterschiedlich. Die Bedeutung der unterschiedlichen Industriebranchen in Deutschland wahrend des 20. Jahr¨ hunderts hat sich sehr stark verschoben. Betrachtet man die jeweils großten 25 Industrieunternehmen in unterschiedlichen Zeitraumen, ¨ ¨ so zeigt sich hinsichtlich der Bilanzsumme bzw. des Gesamtumsatzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine deutliche Dominanz der Schwerindustrie, die bis zur Mitte des Jahrhunderts diese Fuhrungsposition ¨ mit knapp einem Drittel (29–30 3 % zwischen 1911 / 13 und 1954 / 56) auf sich vereinigte. Eine gewisse Bedeutung erlangten daneben auch die chemische und die elektrotechnische Industrie (Dammers / Fischer 2006). Die zweite Halfte des 20. Jahrhunderts ist demgegenuber vom ¨ ¨ Aufstieg der Automobilindustrie gepragt, die 1998 / 2000 in Deutsch¨ land die Stelle der einstmals dominierenden Schwerindustrie mit einem Anteil von 28 % eingenommen hat. Diese Zahlen reflektieren einen dramatischen Strukturwandel innerhalb der deutschen Industrie im 20. Jahrhundert. Der Niedergang des deutschen Steinkohlebergbaus nach der ersten Kohlekrise 1957 ist augenfallig, und auch ¨ die Grundung der Ruhrkohle AG bzw. deren Weiterentwicklung zur ¨ Deutschen Steinkohle AG konnte diesen Trend kaum stoppen. Gegenwartig ist eine Losung politisch vereinbart, die das Ende des deut¨ ¨ schen Steinkohlebergbaus fur 21. Jahrhundert vorsieht. ¨ das fruhe ¨ Die zahlreichen Unternehmen der deutschen Eisen- und Stahlindustrie sind in den letzten 50 Jahren ebenfalls fast vollig verschwunden. ¨
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Statistische Erfassung industrieller Großbetriebe
Dominanz der Schwerindustrie
Aufstieg der Automobilindustrie
UNTERNEHM E N UN D BI G BUS INES S
¨ Als einzigem uberlebenden Unternehmen scheint der Thyssen-Krupp ¨ AG neben der Salzgitter AG noch eine erfolgreiche Zukunft gewahrt zu sein. Branche
1911–13
1927–29
1954–56
1970–72
1998–2000
¨ Bergbau u. a. ¨ Eisen- und Stahlindustrie u. a. Schwerindustrie insgesamt Elektrotechnische Industrie Chemische Industrie Fahrzeugbau
12 % 17 % 29 % 14 % 6% 5%
4% 25 % 29 % 12 % 20 % 2%
15 % 15 % 30 % 12 % 14 % 6%
7% 14 % 21 % 16 % 19 % 18 %
4% 3% 7% 11 % 8% 28 %
Abbildung 23: Verteilung der Bilanzsumme verschiedener Branchen bezogen auf den Gesamtumsatz der jeweils 25 großten Industrieunternehmen ¨
Die „großen Drei“ der chemischen Industrie
Auch die „großen Drei“ der chemischen Industrie, die Bayer AG, die Hoechst AG und die BASF, haben ein sehr unterschiedliches Schicksal durchlaufen. Hoechst ist im Pharmateil zu Aventis gewor¨ den und mittlerweile im franzosischen Unternehmen Sanofi-Aventis aufgegangen, Bayer hat sich neu aufgestellt und einen Teil des Ge¨ ¨ schafts als Lanxess abgespalten, wahrend allein die BASF in weit¨ gehend unveranderter Form weiter fortexistiert. Im Bereich der elektrotechnischen Unternehmen hat von den zwei deutschen Giganten ¨ ¨ nur Siemens uberlebt, wahrend die AEG untergegangen ist. Und ¨ auch von den zahlreichen, spater stark gewachsenen deutschen Auto¨ mobilunternehmen des fruhen 20. Jahrhunderts konnten nur wenige ¨ ¨ selbststandig ihre Existenz bewahren, namlich Volkswagen, Porsche und Daimler. Oder sie fanden wie Opel als Teil amerikanischer Unternehmen eine Überlebenschance bzw. wurden wie Ford als solche ¨ gegrundet. Doch nicht nur das bloße Überleben am Markt kann als entscheidendes Ziel von industriellen Großunternehmen beschrieben werden. Auch Zugewinn von Marktanteilen (relatives Wachstum) ¨ ¨ bilden weitere Fixpunkte erund Gewinntrachtigkeit (Rentabilitat) folgreichen unternehmerischen Handelns. Eine Untersuchung der Di¨ videndenrendite (Return on Equity, ROE) und der Kapitalrentabilitat ¨ (Holding Return, HR) zeigt, dass diese Maßgroßen in der Schwer¨ waren und sich im industrie eher unterdurchschnittlich ausgepragt Zeitverlauf eher noch verschlechterten. Der beschriebene Struktur¨ wandel folgt damit auch veranderten Erfolgschancen der betroffenen ¨ Großunternehmen. Eine Reallokation des Kapitals, also ein verander¨ tes Investitionsverhalten, fuhrte zu Strukturanpassungen, die dem
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BI G BUS IN ES S IM 20 . JA HRHUN DERT
Wachstum zukunftstrachtiger Branchen diente. Die ,alten‘ Industrien ¨ verloren dramatisch an Bedeutung und ,neue‘ traten an ihre Stelle. Neben einer Reallokation des Kapitals war wahrend des 20. Jahr¨ hunderts auch eine umfassende Internationalisierung der Großunternehmen pragend. Dies galt fur ¨ ¨ Deutschland in hohem Maße, obwohl hier infolge zweier Weltkriege mehrfach der Verlust des Auslandsvermogens deutscher Großunternehmen zu beklagen war. Zu Beginn ¨ des 21. Jahrhunderts stellt sich daher die Frage, wie „deutsch“ die deutschen Unternehmen uberhaupt noch sind. Die internationale Ver¨ flechtung der deutschen Unternehmen hat dazu gefuhrt, dass nach ¨ einer Ausdehnung des Auslandsabsatzes zusatzlich die Produktion im ¨ Ausland aufgenommen wurde und auslandische Kapitalbeteiligungen ¨ erfolgreich eingeworben wurden. Eine Untersuchung der an der Deutschen Borse gelisteten deut¨ schen DAX-Unternehmen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt, dass das Kapital dieser „deutschen“ Großunternehmen zumeist mehrheitlich in auslandischer Hand liegt, ebenso der Umsatz zumeist zu mehr ¨ als der Halfte im Ausland erzielt wird und selbst die Mitarbeiter ¨ haufig im Ausland tatig sind (Petersdorff 2005). Es ware ¨ ¨ ¨ aber verfehlt, aus dem hohen Umfang der Internationalisierung der DAX-Unternehmen zu schließen, dass die deutschen Großunternehmen international eine uberragende Rolle spielen wurden. Dies ist mitnichten ¨ ¨ der Fall, ganz im Gegenteil. International spielen deutsche Großunternehmen in zahlreichen Bereichen lediglich eine untergeordnete Rolle. Im internationalen Rahmen dominieren uberwiegend angel¨ sachsische Unternehmen: weltweit jene der USA, europaweit haufig ¨ ¨ britische. International betrachtet sind deutsche Großunternehmen eher klein. Ob dies unbedingt ein Nachteil sein muss, ist jedoch umstritten. Die Forderung nach einer aktiven Industriepolitik zu Forde¨ rung „nationaler Champions“ erscheint daher zwiespaltig (Donges ¨ 2005). Wer vermag schon von vornherein die Zukunftsfahigkeit be¨ stimmter Technologien abzuschatzen und damit sichere Wohlfahrts¨ gewinne aus sogenannten „Zukunftsindustrien“ zu garantieren? Zu zahlreich sind Gegenbeispiele (Kernenergie, Transrapid, Concorde), die zu gigantischen Fehlinvestitionen gefuhrt haben. Zukunftstrach¨ ¨ tiger erscheint es daher, gunstige Rahmenbedingungen fur ¨ ¨ private Investitionen zu schaffen, deren Erfolg oder Misserfolg privatwirtschaftlich getragen wird. Die Betrachtung der Bedeutung und des Wachstums industrieller Großunternehmen verstellt den Blick darauf, dass diese Institutionen industriellen Wachstums im 19. und 20. Jahrhundert bis heute noch
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Internationalisierung der deutschen Großunternehmen
Dominanz der angelsächsischen Unternehmen
UNTERNEHM E N UN D BI G BUS INES S
Kleinere und mittlere Unternehmen als „hidden champions“
Große Bedeutung von familiengeführten Unternehmen
eine Minderheit im Wirtschaftsleben darstellen. Kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) bilden die absolute Mehrheit aller Unternehmen in Deutschland, sie beschaftigen ca. 70 % aller Werktatigen, er¨ ¨ wirtschaften mehr als die Halfte der gesamtwirtschaftlichen Wert¨ schopfung, tatigen nahezu die Halfte aller Investitionen und fuhren ¨ ¨ ¨ ¨ in vielen weiteren Bereichen die Statistiken an. Zwar wird bereits seit den Zeiten von Karl Marx der Untergang des Mittelstandes immer wieder prognostiziert, doch zeigen kleine und mittlere Unternehmen bis heute eine außerordentlich große Beharrungskraft (Berghoff 2006). Moglicherweise liegt das an der hohen Anpassungsfahigkeit ¨ ¨ der KMUs, die sich zahlreiche profitable Nischen neben Großunternehmen erschließen und dort nicht selten zu „hidden champions“ (Simon 1996) heranreifen konnten. Allerdings finden sich auch zahlreiche Branchen, in denen kleinere Unternehmen deutlich an Bedeutung verloren haben. Das gilt in Deutschland z. B. fur ¨ Unternehmen der Unterhaltungselektronik, der Uhrenindustrie, des Fotoapparatebaus, der Bekleidungs- und der Textilindustrie, wo deutsche Unternehmen praktisch keine Rolle mehr spielen. Gerade in Deutschland ist zudem das Beharrungsvermogen fami¨ liengefuhrter Unternehmen augenfallig, und das gilt nicht nur fur ¨ ¨ ¨ KMUs, sondern auch fur ¨ eine ganze Reihe von Großunternehmen (BMW mit der Familie Quandt, VW / Porsche mit der Familie Porsche / Piech, Bosch, Haniel usw.). Dieser Sachverhalt lasst sich auch ¨ bereits im 19. Jahrhundert konstatieren, wo neben den weit verbreiteten Aktiengesellschaften unter den 100 großten deutschen Unter¨ nehmen 1887 auch 15 und 1907 noch 7 Personengesellschaften zu finden waren.
Fragen und Anregungen • Kennen Sie Familienunternehmen? Welche Bedeutung hat dieser Typus von Unternehmen in der deutschen Wirtschaft? • Internationale Konzerne pragen z. T. die Weltwirtschaft. Dem¨ gegenuber mussen sich deutsche Großunternehmen behaupten. Auf ¨ ¨ welche Weise tun sie das und inwieweit lassen sie sich noch als „deutsch“ betrachten? ¨ • Konnen Sie sich vorstellen, dass die Deutsche Bahn AG als privates ¨ Unternehmen gefuhrt werden kann? Welche historischen Vorbilder ¨ und lassen sie sich auf die Gegenwart ubertragen? ¨ gibt es dafur
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FRAG EN UND LEK TÜR EEMPFEH LUNGEN
Lektüreempfehlungen • Youssef Cassis: Big Business. The European Experience in the Twentieth Century, Oxford 1997. Kompakte Darstellung der Entwicklung von Großunternehmen und ihrer Leiter in Großbritannien, Frankreich und Deutschland in Staat und Gesellschaft sowie deren okonomischen Erfolge. ¨
Übersichten
• Christopher J. Schmitz: The Growth of Big Business in the United States and Western Europe, 1850–1939 (New Studies in economic 1 and social history 23), Cambridge 1995. Knapper Überblick uber ¨ die Entwicklung von Großunternehmen in international vergleichender Perspektive. • Alfred D. Chandler: Strategy and Structure. Chapters in the History of the Industrial Enterprise, Cambridge / Mass. 1962. Bahnbrechende Studie uber die Entstehung und Entwicklung ¨ moderner Großunternehmen am Beispiel von vier US-amerikanischen Firmen. • Alfred D. Chandler: Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge / Mass. 1990. Grundlegender, quantitativ unterlegter Vergleich der Entwicklung von Großunternehmen in den USA, Großbritannien und Deutschland seit dem 19. Jahrhundert auf der Basis zahlreicher Fallstudien. • Jurgen Kocka / Hannes Siegrist: Die hundert großten deutschen ¨ ¨ Industrieunternehmen im spaten 19. und fruhen 20. Jahrhundert. ¨ ¨ Expansion, Diversifikation und Integration im internationalen Vergleich, in: Norbert Horn / Jurgen Kocka (Hg.), Recht und Entwick¨ lung von Großunternehmen im 19. und 20. Jahrhundert. Wirtschafts-, sozial- und rechtshistorische Untersuchungen zur Industrialisierung in Deutschland, Frankreich, England und der USA, Gottingen 1979, S. 55–122. Umsetzung des Chandlerschen ¨ 1 Ansatzes fur ¨ die deutschen Großunternehmen.
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Forschung
11 Stabilität und Entwicklung
Abbildung 24: Semper Augustus, die schonste ¨ aller hollandischen ¨ Tulpen (um 1640)
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Waren Sie bereit, fur 20 000 Euro zu ¨ ¨ das hier abgebildete Gewachs ¨ bezahlen? Wohl kaum, und dennoch wurden 1637 wahrend des „Tul¨ penwahns“ in den Niederlanden vergleichbare Summen bezahlt. Die hier abgebildete Tulpenart „Semper Augustus“ soll in jener Zeit in der Spitze pro Stuck Preise von ca. 20 000 Gulden erzielt haben, ¨ wahrend z. B. ein Handwerker fur ¨ ¨ 250 Gulden ein ganzes Jahr arbeiten musste. Waren also die Leute verruckt geworden, wenn sie solch ¨ exorbitante Preise fur wie Tulpen boten und ¨ relativ nutzlose Guter ¨ offenbar auch zahlten? Die Antwort auf diese Frage ist: Nein! Denn auch eine derartige Spekulation folgt einer eigenen Logik, die sich allerdings von der Logik des gewohnlichen Geschaftsbetriebs deutlich ¨ ¨ unterscheidet und deren Folgen fur ¨ die Wirtschaft manches Mal in verheerenden Krisen enden. Die wirtschaftliche Entwicklung einer Volkswirtschaft sollte idealer Weise stetig und storungsfrei erfolgen, doch bleibt dies leider nur ein ¨ frommer Wunsch. Immer wieder wird die Wirtschaftstatigkeit von ¨ Storungen beeintrachtigt und manche davon wachsen sich sogar zu ¨ ¨ bedrohlichen Krisen aus. Das galt schon fur ¨ die vormoderne Wirtschaft, in der manchmal „fette Jahre“ genossen wurden, haufig aber ¨ auch Elend und Hunger das Leben der Menschen bestimmten. Die moderne, dynamische Wirtschaft ist sogar noch weit starker von In¨ stabilitat Regelmaßige Konjunkturschwankungen konnen ¨ gepragt. ¨ ¨ ¨ sich dabei gelegentlich zu Boomphasen oder zu Krisen auswachsen. War die vormoderne Welt noch von klimabedingten Ernteschwankungen und langfristigen Veranderungen der Bevolkerungszahl ge¨ ¨ pragt, so wurde die Wirtschaftsentwicklung in der Industriegesell¨ schaft zunehmend durch eine der Dynamik der Industriewirtschaft innewohnende konjunkturelle Rhythmik gepragt. ¨
11.1 Historische Erfahrungen ökonomischer Instabilität 11.2 Methoden zur Erfassung ökonomischer Instabilität 11.3 Konjunkturen und Krisen in Deutschland
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11.1 Historische Erfahrungen ökonomischer Instabilität Die okonomische Instabilitat ¨ ¨ der vorindustriellen Welt ist in ihren Erscheinungsformen und Determinanten nur schwer zu erfassen. Die Menschen erfuhren sie zumeist im Niedergang als eine drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen, in schweren Fallen als ¨ Hunger und Not. Aufschwunge fuhrten allenfalls zu Zeiten einiger¨ ¨ maßen auskommlicher Lebensverhaltnisse. Vormoderne, kurzfristige ¨ ¨ Krisen waren zumeist die Folge von schlechten Ernten, die entscheidend von den wechselhaften Witterungsverhaltnissen bestimmt wa¨ ren. Agrarkrisen traten demnach erratisch und nicht regelmaßig oder ¨ gar vorhersagbar auf. Inwieweit Schwankungen der Wirtschafts- und Lebensverhaltnisse ¨ der Bevolkerung auch in fruheren Zeiten zu beobachten waren, ist in ¨ ¨ der Literatur umstritten, weil die zugrunde liegenden Daten sehr mangelhaft sind (Schuster 1999). Die auf Missernten beruhenden Schwankungen in vormodernen Zeiten fuhrten zwar zu Preissteige¨ rungen der Agrarprodukte, bewirkten aber bei den Bauern dennoch Einkommensverluste, weil ein Nachfrageruckgang die Wirkung der ¨ Preise auf das Einkommen nicht kompensieren konnte. Da der Verbrauch von Nahrungsmitteln aber eher unelastisch war, musste an anderer Stelle gespart werden und auf den Kauf von Gutern und ¨ Dienstleistungen verzichtet werden. Gewerbeabsatz und Handelsumschlag stagnierten, die Arbeitslohne zeigten eine sinkende Tendenz ¨ und die Lage konnte sich erst wieder bessern, wenn gute Ernten die Nahrungsmittel wohlfeiler machten. Bereits seit dem hohen Mittelalter lassen sich langfristig deutliche Schwankungen der Nahrungsmittelpreise, vor allem von Getreide beobachten, die von Auf- und (> ABBILAbschwungen der Wirtschaft in diesem Zeitraum kunden ¨ ¨ DUNG 25). Eine solche Krise wird von dem Wirtschaftshistoriker Wilhelm Abel insbesondere fur ¨ das 15. Jahrhundert konstatiert, als sich die Schere zwischen Agrarpreisen und Lohnen zuungunsten der ar¨ beitenden Bevolkerung weit offnete. ¨ ¨ Der franzosische Sozial- und Wirtschaftshistoriker Camille-Ernest ¨ Labrousse nannte diese agrarisch determinierten Phasen in der Vormoderne Krisen vom „typ ancien“ (Labrousse 1944). Dieser typ ancien einer Agrarkrise wurde im Zuge der Industriali¨ sierung verdrangt durch einen neuen Typus von Wirtschaftsrhythmik. In Deutschland waren infolge der Missernten 1816 / 17 und 1846 / 47 letztmalig gravierende Hungerkrisen beobachtbar, weil da-
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Krisen in der Vormoderne
Missernten und Agrarkrisen
Krisen des „Typs Ancien“
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Abbildung 25: Getreidepreise in Mitteleuropa vom 13. bis zum 20. Jahrhundert (Abel 1978, S. 13)
Gewerbliche Konjunkturen statt Agrarkrisen
bei offenbar noch die Mechanismen der fruheren Agrarkrisen wirk¨ ten (Bass 1991). Doch bereits in der Krise der 1840er-Jahre waren zusatzliche Elemente einer Handels-, Finanz- und Gewerbekrise sicht¨ bar. Eine neue, gewerblich determinierte Form wirtschaftlicher Instabilitat ¨ wurde darin deutlich, die nun nicht mehr langfristige Veran¨ derungen der Lebensverhaltnisse betraf, sondern bei einer stetigen ¨ Verbesserung der Lebensumstande kurzfristige Schwankungen der ¨ Wirtschaftstatigkeit offensichtlich werden ließ. Ein agrarisch geprag¨ ¨ tes Krisenmuster wurde durch gewerblich determinierte Konjunkturen ersetzt. Die letzte agrarisch bedingte Krise der 1840er-Jahre in Deutschland außerte sich zunachst wiederum in einer massiven Hun¨ ¨ gerkrise. Wegen der sinkenden Realeinkommen der Bevolkerung und ¨ der gewachsenen Bedeutung der gewerblichen Wirtschaft wuchs sich die Krise sehr bald zu einer Gewerbekrise aus. Dies brachte einen Niedergang des Handwerks mit sich und den Verfall des Heimgewerbes, d. h. des Nebenerwerbs landlicher Haushalte, die als Zubrot ¨ z. B. Garn gesponnen hatten. Auf ihrem Hohepunkt entwickelte sich ¨ die Krise auch zu einer Handels- und Geldkrise. Sie fuhrte zu Unter¨ nehmens- und Bankenzusammenbruchen, z. B. der Privatbank Abra¨ ham Schaaffhausen, die, um vor dem Konkurs bewahrt zu werden,
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1848 als erste Bank in Preußen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde (Tilly 1990, S. 12–38). 3 Neben den Agrarkrisen vom typ ancien hat es seit dem Entstehen des modernen Kapitalismus in der Neuzeit ebenfalls schon Finanz-, Handels- und Spekulationskrisen gegeben. Diese waren aber fur ¨ die Gesamtwirtschaft noch von begrenzter Bedeutung geblieben. Die großen Handelshauser und die vermogenden Burger eines Landes waren ¨ ¨ ¨ seit Jahrhunderten mit der internationalen Wirtschaft verbunden. Sie beteiligten sich an weltumspannenden Handels- und Spekulationsgeschaften und vermochten so Reichtum anzuhaufen, konnten aber ¨ ¨ auch scheitern. Die Geschichte gibt Auskunft uber zahlreiche solcher Finanz- und ¨ Spekulationskrisen, die offenbar einem bis heute kaum veranderten ¨ Ablauf unterlagen (Kindleberger 2001). Die Gegenstande solcher ¨ Spekulationen konnen jedoch sehr unterschiedlich ein. So wuchs sich ¨ 1634–37 3 in Holland der lebhafte Handel mit Tulpenzwiebeln in eine gigantische Spekulation aus, an deren Hohepunkt einzelne Zwiebeln ¨ zum Wert eines ganzen Hauses gehandelt wurden. Das Ende war ein totaler Zusammenbruch des Marktes. Gut 100 Jahre spater war es ahnlich, nur wurde jetzt mit Aktien ¨ ¨ von Überseekompanien spekuliert, die die Reichtumer der Sudsee ¨ ¨ oder des Mississippi-Tales zu heben versprachen. 1711 war in London zu diesem Zweck die „South Sea Company“ als privilegierte (chartered) Aktiengesellschaft entstanden, und bis 1720 wurden etwa zweihundert weitere derartige Handelsgesellschaften gegrundet, eini¨ ge davon von vornherein in betrugerischer Absicht. Eine gewaltige ¨ Spekulation setzte ein und ließ die Aktien der Sudseekompanie um ¨ ca. 600 % ansteigen, obwohl die Gesellschaft selbst uber einen ¨ schlechten Geschaftsgang klagte: Eine sogenannte Spekulationsblase, ¨ bei der den ungeheuren Kursen der Aktien wenig reale Werte gegenuberstanden, hatte sich gebildet. Der Zusammenbruch des Marktes ¨ ließ nicht lange auf sich warten und veranlasste den Staat zum Erlass des Verbots der Grundung von Gesellschaften mit Haftungsbegren¨ zung, dem Bubble Act von 1720, der bis 1824 gultig war. Diese Kri¨ se ging unter dem Namen „South Sea Bubble“ (Sudsee-Spekulations¨ blase) in die Finanzgeschichte ein. Ähnliches spielte sich zur gleichen Zeit auch in Frankreich ab. Dort war 1717 die „Compagnie des Indes“ als Aktiengesellschaft gegrundet worden, deren Geschaftsziel darin bestand, die vermuteten ¨ ¨ Schatze am Mississippi in Nordamerika zu heben. Die Mississippige¨ sellschaft entwickelte sich zunachst wenig Erfolg versprechend und ¨
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Finanz-, Handelsund Spekulationskrisen seit der frühen Neuzeit
Tulpenkrise in den Niederlanden 1634–37
South Sea Bubble in England 1711–20
Mississippi-Schwindel in Frankreich 1718–20
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Gleichförmiger Verlauf von Spekulationskrisen
Spekulations-Manie: „Gier besiegt Vernunft!“
Platzen der Spekulationsblase
demgemaß ¨ halbierte sich der Kurs ihrer Aktien bis 1718. Im folgenden Jahr setzte aber eine gewaltige Spekulation mit Papieren der Gesellschaft ein und im Fruhjahr 1720 wurde der Hochststand von ¨ ¨ 3 600 % erreicht. Bald darauf kam es zum Zusammenbruch des Marktes und zum Totalverlust. Diese Beispiele ließen sich bis in die Gegenwart, bis zur InternetBlase der Jahre 1999–2001 und bis zur Finanzkrise 2009 zwanglos 2 weiterfuhren. Ihre Verlaufe zeigen bemerkenswerte Gleichformigkei¨ ¨ ¨ ten, aus denen fur ¨ die Folgekrisen aber offenbar nicht gelernt wird. Am Anfang steht immer eine scheinbar tragfahige, moglicherweise ¨ ¨ auch tatsachlich gute Geschaftsidee, wie z. B. der Handel mit exo¨ ¨ tischen Tulpenzwiebeln, die Erschließung des okonomischen Potenzi¨ als ferner Weltregionen oder in der Gegenwart die okonomische Nut¨ zung des Internets oder der Handel mit strukturierten Krediten. Im Prinzip ist ein derartiges Geschaftsmodell praktikabel und nicht sel¨ ten zukunftsweisend. Zumeist bewahrt es sich zunachst auch und ¨ ¨ weckt weitere Erwartungen. Diese Erwartungen losen sich dann aber ¨ sehr schnell vom tatsachlichen Geschaftsgang und verselbststandigen ¨ ¨ ¨ sich zu einer Spekulation. Eine „Manie“ nimmt ihren Anfang mit einer entsprechenden Verblendung hinsichtlich der tatsachlichen Geschaftsvorgange und ¨ ¨ ¨ -chancen. Auch rational handelnde Wirtschaftssubjekte beginnen im Boom, sich an der wachsenden Spekulation zu beteiligen, um die dabei gebotenen Geschaftschancen nicht zu verpassen. Alles Warnen ¨ vor der Übertreibung des Marktes wird durch die Entwicklung des Marktes widerlegt. Diese Entwicklung tragt ¨ aber nur solange, wie alle Beteiligten Anlass haben zu glauben, dass die Spekulation noch weitergeht. Davon kann man vernunftiger Weise nicht ausgehen, nur weiß niemand, ¨ wann dieser Zeitpunkt gekommen ist, wann die Spekulationsblase platzt. Ein beliebiger Anlass kann nun dazu fuhren, dass die Erwar¨ tungen sich andern, und sogleich schlagt ¨ ¨ die Manie in eine Panik um. Nunmehr versucht jedermann, die sachlich nicht zu rechtfertigenden Spekulationsgewinne zu realisieren. Die ersten mogen das ¨ noch konnen und einen schonen Gewinn einstreichen, die anderen ¨ ¨ aber beißen die Hunde, und sie bleiben auf den Verlusten sitzen. Das Geschaftsmodell ist damit nicht unbedingt gescheitert, Tulpen wer¨ den heute noch gehandelt und mit dem Internet werden Geschafte ¨ gemacht. Nur konnten diese Geschaftsmodelle keine Basis fur ¨ ¨ die gewaltige Übertreibung bieten, die unabhangig davon zur Spekulation ¨ gefuhrt hatte (> KAPITEL 14). ¨
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Die Vorstellung eines stetigen, in sicheren Bahnen ablaufenden Wirtschaftsprozess der vormodernen Zeiten ist also falsch, auch hier zeigte sich bereits ein bemerkenswertes Maß von Instabilitat. ¨ Allerdings sind unterschiedliche Formen der Storung eines Gleichgewichts ¨ unterscheidbar. Neben langfristigen, sakularen Schwankungen der ¨ Lebensverhaltnisse lassen sich kurzfristige Hunger- bzw. Agrarkrisen ¨ beobachten, die durch witterungsbedingte Ernteschwankungen verursacht wurden. Daruber hinaus finden sich seit Beginn der Neuzeit, ¨ d. h. mit dem Entstehen eines kapitalistisch motivierten Handelsund Finanzsystems, auch Spekulationskrisen, die mit den genannten okonomischen Ursachen nicht unmittelbar in Beziehung stehen, son¨ dern offenbar einer eigenen Logik folgen.
Wirtschaftliche Instabilität als Kennzeichen der vormodernen Wirtschaft
11.2 Methoden zur Erfassung ökonomischer Instabilität Die historischen Erfahrungen mit dem Wandel zwischen prosperierenden und krisenhaften Wirtschaftszustanden haben schon fruh ¨ ¨ zum Nachdenken uber dieses Phanomen Anlass gegeben. Bei den ¨ ¨ klassischen Autoren, wie etwa dem Schotten Adam Smith als bekanntestem Vertreter, standen zwar zunachst die Gesetze der Produk¨ tion und der Verteilung im Vordergrund, doch zeitgleich (1837) hat der englische Bankier und Geldtheoretiker Lord Overstone (eigentlich Samuel Jones Loyd 1st Baron Overstone) darauf hingewiesen, dass der Umfang der wirtschaftlichen Tatigkeiten periodisch schwan¨ ke und in einen festen Zyklus gebunden sei. „Zuerst finden wir sie in einem Zustand der Ruhe – dann der Verbesserung – des wachsenden Vertrauens – der Prosperitat ¨ – der Erhitzung – der Überaktivitat – der Be¨ – der Erschutterung ¨ drangnis – der Stagnation – der Not – und dann wieder in der ¨ Ruhe endend.“ (Overstone 1837, zitiert nach: Vosgerau 1978, S. 479) Damit hat er bereits das umschrieben, was man spater einen Kon¨ junkturzyklus nannte. Als der eigentliche Entdecker des Konjunkturzyklus gilt allerdings nicht zu unrecht der franzosische Ökonom Cle¨ ment Juglar, weil er die Wirtschaftskrisen Frankreichs, Englands und der Vereinigten Staaten in einem großeren Werk einer genaueren Un¨ tersuchung unterzog (Juglar 1860). Auf der Basis historischer Analyse und untermauert durch statistisches Material war er in der Lage, wiederkehrende, wenn auch nicht ganzlich gleichformige Muster ¨ ¨
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Entdeckung der Konjunkturzyklen: Overstone und Juglar
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Beginn der Konjunkturforschung: Harvard Barometer
Vorläufer im deutschen Kaiserreich
Institut für Konjunkturforschung
Theorie der wirtschaftlichen Wechsellagen
okonomischer Aktivitaten dieser Lander aufzuzeigen. Damit war eine ¨ ¨ ¨ systematische Konjunkturbeobachtung und -analyse begrundet. ¨ Auch in Deutschland wandte man sich diesem Phanomen, wenn ¨ auch im internationalen Vergleich verspatet, zu. In den Vereinigten ¨ Staaten, in Großbritannien und Schweden wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine empirische Konjunkturforschung betrieben, wahrend im Statistischen Reichsamt in Berlin erst im Jahre 1924 eine ¨ konjunkturstatistische Abteilung eingerichtet wurde. Seit 1919 veroffentlichte die Harvard Universitat ¨ ¨ auf der Basis von seit 1903 gesammelten statistischen Daten Konjunkturberichte, die dann zur Konstruktion des sogenannten „Harvard Barometers“, eines ersten Konjunkturindikators in grafischer Darstellung, herangezogen wurden. Dabei konnten sich die Forscher auf das bahnbrechende Werk Business Cycles (englisch fur ¨ Konjunkturzyklen) ihres Landsmannes Wesley Clair Mitchell beziehen (Mitchell 1913). In Deutschland war zwar seit 1895 in den Jahrbuchern fur ¨ ¨ Nationalokonomie und Statistik eine Volkswirtschaftliche Chronik regel¨ maßig erschienen, deren Daten reichten jedoch fur ¨ ¨ konjunkturstatistische Aussagen nicht aus. Auch die Entstehung der Zeitschrift Thunen Archiv, die sich dezidiert als Zeitschrift fur ¨ ¨ exakte Wirtschaftsforschung bezeichnet, wirkte in eine ahnliche Richtung, eben¨ so wie private Initiativen etwa der Deutschen Bank, die seit 1920 in ihren Wirtschaftlichen Mitteilungen insbesondere preisstatistisches Material regelmaßig publizierte. Eine eigenstandige Konjunkturfor¨ ¨ schung hatte sich in Deutschland bis in die Mitte der 1920er-Jahre dadurch allerdings noch nicht etablieren konnen. Dazu sollte die ¨ Grundung des „Instituts fur ¨ ¨ Konjunkturforschung“ auf Betreiben von Ernst Wagemann, dem Prasidenten des Statistischen Reichs¨ amtes, im Jahre 1925 erst entscheidend beitragen. Im gleichen Jahr erschien im Handworterbuch der Staatswissen¨ schaften der Artikel Krisen des Volkswirts Arthur Spiethoff (Spiethoff 1925). Darin setzt sich der Autor mit dem seit etwa 1820 in den fortgeschrittenen Landern beobachtbaren Wechsel von Aufschwung und ¨ Stockung der Wirtschaftstatigkeit auseinander. Er bezeichnet dieses ¨ Phanomen mit dem Begriff „Wechsellagen“, der Begriff „Konjunktur“ ¨ war zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebrauchlich. „Die Wechsellagen ¨ Aufschwung und Stockung sind die Entwicklungsform hochkapitalistischer Wirtschaft“, so Spiethoff (Spiethoff 1925, S. 8). Ihren Ablauf formalisiert er in einem Musterkreislauf in funf Phasen (> ABBIL¨ DUNG 26).
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Abbildung 26: Funf-Phasen-Zyklus ¨ der Konjunktur (Spiethoff 1925, S. 38)
Der Ablauf innerhalb dieser funf ¨ Phasen wird rein empirisch hergeleitet und entsprechend beschrieben. Derartige Wechsellagen unterscheiden sich deutlich von den bereits seit Jahrhunderten bekannten Agrarschwankungen, die auf variierende Enteergebnisse der Land¨ ¨ wirtschaft zuruckzufuhren waren und eben keine kurzfristige Rhythmik wie die industriellen Wechselspannen aufwiesen und daher unre¨ gelmaßig und erratisch auftraten. Eine Vielzahl von Indikatoren zieht er zur Veranschaulichung einer Wechselspanne heran, z. B. Renditen, ¨ ¨ Investitionen, Umsatze, Produktion, Zinssatze und Preise. In seinem Hauptwerk Die wirtschaftlichen Wechsellagen unternahm Spiethoff dann den Versuch, verschiedene Wechsellagen empirisch aufzuzeigen ¨ und theoretisch zu begrunden (Spiethoff 1955). Es zeigte sich dabei, dass mehrere Wechsellagen zu Stockungs- bzw. Aufschwungsspannen ¨ zusammengefasst werden konnen und jeweils danach bestimmt wer¨ den konnen, ob in diesem Zeitraum Aufschwungsjahre die Sto¨ ckungsjahre numerisch ubertreffen oder umgekehrt.
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Fünf-Phasen-Zyklus der Konjunktur
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Wechsellagen in England 1822–42
Wechsellagen in Deutschland 1842–1913
Konzept der „Business Cycles“
Konjunktur oszilliert um einen Wachstumstrend
Zyklen unterschiedlicher Dauer und Amplitude
In der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts beobachtet er ein regel¨ maßiges Auf und Ab der Wirtschaft allein in England, weil nur dort ¨ der industrielle Entwicklungsstand entsprechend weit fortgeschritten war. Zwischen 1822 und 1844 waren dort zwei Wechsellagen mit einer Dauer von zehn bzw. elf Jahren zu beobachten. Neun Aufschwungs- standen zwolf sodass die ge¨ Stockungsjahre gegenuber, ¨ samte Spanne als Stockung zu klassifizieren ist. Nach 1842 sieht Spiethoff die Wechsellagen auch in Deutschland, sie bescherten dem Land in drei Kreislaufen mit einer Dauer von ¨ zwischen sieben und elf Jahren einen lang anhaltenden Aufschwung bis 1873. Es folgte dann wiederum eine Stockungsspanne (1874 bis 1894 mit drei Wechsellagen) und danach eine Aufschwungsspanne (1895 bis 1913 mit zwei und einem halben Kreislauf). Der Konjunkturbegriff findet in diesem Konzept noch keine Verwendung und die Entwicklungen der amerikanischen Konjunkturforschungen wurden weitgehend ignoriert. In den USA war bis dahin der Begriff „business cycle“ langst ge¨ brauchlich geworden, das Konzept von Mitchell wurde im National ¨ Bureau of Economic Research (NBER) weiter ausgebaut (Burns / Mitchell 1964). Die NBER entwickelte fur ¨ die Darstellung von Konjunkturzyklen ein einfaches Zwei-Phasen-Schema mit einer je dreifach unterteilten Aufschwungs- und Abschwungsphase, die als Expansion bzw. Kontraktion bezeichnet wurden. Dieses einfache Schema gilt bis heute als Referenzzyklus fur ¨ die Darstellung empirisch zu beobachtender Konjunkturzyklen, wobei allenfalls unterschiedliche Charakterisierungen und Unterteilungen der Auf- bzw. Abschwungsphasen vorgenommen werden. Daruber hi¨ naus hat sich bisher gezeigt, dass Konjunkturzyklen in einer stetig wachsenden Wirtschaft um einen aufwarts gerichteten Trend oszillie¨ ren. Nun erweist es sich in der Realitat ¨ allerdings weitaus schwieriger als in diesen Schemata, verschiedene Konjunkturzyklen zu bestimmen und eindeutig voneinander abzugrenzen. Verschiedene Autoren haben auf Unterschiede in Dauer und Intensitat ¨ der Auf- und Abschwunge hingewiesen und diese durch die Konstruktion anderer ¨ Zyklen zu erfassen gesucht. Diese alternativen Zyklen unterscheiden sich von den bisher beschriebenen Konjunkturzyklen hinsichtlich ihrer Amplitude und der Zeitdauer (Kitchin 1923). Die bekanntesten Zyklen dieser Art sind wohl Lagerzyklen, welche die kurzfristigen Wirkungen der Ausdehnung und Verminderung der Lagerhaltung reflektieren, und Innovationszyklen, die die Wirkungen von Neuerungen auf den Wirtschafts-
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prozess spiegeln und die neben Konjunkturen den zeitlichen Ablauf der Wirtschaftstatigkeit pragen. Saisonale Schwankungen mit weni¨ ¨ ger als einem Jahr Dauer sowie 18 bis 22 Jahre wahrende Wachs¨ tums- oder Kuznets-Zyklen bleiben dabei noch außer Betracht. Der Ökonom Joseph A. Schumpeter benannte die unterschiedlichen Zyklen 1939 nach ihren „Entdeckern“ (Schumpeter 1961, S. 179). So bezeichnete er die etwa vierzig Monate dauernden Lagerzyklen als „Kitchin-Zyklen“ nach dem englischen Geschaftsmann Jo¨ seph Kitchin, den etwa zehn Jahre wahrenden Konjunkturzyklus als ¨ „Juglar-Zyklus“ nach dem franzosischen Mediziner und Konjunk¨ turforscher Cle´ment Juglar und einen etwa ein halbes Jahrhundert wahrenden Innovationszyklus als „Kondratieff-Zyklus“ nach dem ¨ russischen Wirtschaftswissenschaftler Nikolai D. Kondratieff. Eine schematische Darstellung dieser drei Zyklen und die Addition der dort auftauchenden Abweichungen von der Ausgangslage ergibt einen guten Eindruck uber die Unstetigkeit der Wirtschaftsentwicklung ¨ (> ABBILDUNG 27).
„Kitchin-Zyklus“, „Juglar-Zyklus“ und „Kondratieff-Zyklus“
Abbildung 27: Unterschiedliche Vorstellungen von wirtschaftlichen Zyklen (Schumpeter 1961, S. 223)
Die Veranderungsrate der Abweichungen, mathematisch bestimmt ¨ durch die 1. Ableitung, lasst die Instabilitat ¨ ¨ der Entwicklung noch drastischer deutlich werden, wobei unterstellt wird, dass die Abweichungen eindeutig zu bestimmen und zu messen sind. Nach welchen Kriterien aber misst man am besten Abweichungen vom gewohnten ¨ Gang der Geschafte, um sinnvolle Aussagen zum Konjunkturverlauf ¨ treffen zu konnen?
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Verknüpfung der Zyklen
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Wachstum des BIP
Verschiedene KonjunkturIndikatoren
Vor- und nachlaufende Konjunkturindikatoren
Widersprüche zwischen KonjunkturIndikatoren
In der neueren Konjunkturforschung werden haufig die Wachs¨ tumsraten des Sozial- (BSP) oder Inlandsprodukts (BIP) und deren Veranderungen als Maßstab der konjunkturellen Zyklizitat ¨ ¨ verwendet. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ein so allgemeines Maß tatsachlich in der Lage ist, die Komplexitat ¨ ¨ des Wirtschaftsprozesses im Hinblick auf seine Stabilitat ¨ bzw. Instabilitat ¨ hinreichend abzubilden. Zweifel sind erlaubt, und fur ¨ historische Untersuchungen steht es außer Frage, dass wegen des Mangels solcher Daten andere, zusatzliche ¨ Indikatoren zur Beschreibung des Konjunkturverlaufs herangezogen werden mussen. ¨ Eine Vielzahl entsprechender Indikatoren steht fur ¨ derartige Untersuchungen zur Verfugung. So verwendete Spiethoff z. B. bei seiner ¨ Analyse der wirtschaftlichen Wechsellagen eine große Zahl verschiedener Indikatoren, die er z. T. der Finanzsphare ¨ (Gewinne, Zinssatze, ¨ Kreditbestande, Geldversorgung u. a.), ¨ ¨ der realen Sphare ¨ (Guterver¨ brauch, Produktion, Investitionen etc.) und der Marktsphare ¨ (Preise) entnahm. Das Problem, das sich bei der Verwendung einer derartigen Vielfalt von Daten ergibt, besteht allerdings darin, dass diese verschiedenen Indikatoren in unterschiedlicher Weise zeitlich mit dem Konjunkturverlauf verkoppelt sind. Manche laufen dem Konjunkturzyklus zeitlich voraus, andere parallel und wiederum andere folgen der Entwicklung zeitlich verzogert. Man versucht daher die zeitlichen Differenzen zwischen Kon¨ junktur und den sie messenden Indikatoren durch eine Klassifikation nach „lag“-, d. h. verzogert folgenden, Prasensund „lead“-Indikato¨ ¨ ren, also voraus laufenden Indikatoren, zu erfassen. Ein Fruhindika¨ tor, z. B. die Auftragseingange von Unternehmen, erreicht seinen Ho¨ ¨ hepunkt zwangslaufig, ehe die Produktion als Prasensindikator ihr ¨ ¨ Maximum erreicht. Die Auftragseingange sinken bereits, wenn die ¨ Unternehmen noch damit beschaftigt sind, ihre alten Auftrage bei ¨ ¨ steigender Produktion abzuarbeiten. Sie erfolgt noch moglicherweise ¨ zu steigenden Preisen, weil diese sich noch an der vorausgehenden Boomphase orientieren und daher als Spatindikatoren zu betrachten ¨ sind. Entsprechend unterschiedlich und sogar widerspruchlich sind da¨ her in den einzelnen Konjunkturphasen die Reaktionen der unterschiedlichen Indikatoren. So konnen etwa steigende Zinssatze einen ¨ ¨ neuen Aufschwung signalisieren, wahrend wachsende Arbeitslosen¨ zahlen noch vom schon beendeten Abschwung kunden. ¨
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11.3 Konjunkturen und Krisen in Deutschland Die Zyklizitat ¨ der deutschen Wirtschaft seit den 1840er-Jahren, also seit Beginn der eigentlichen Industrialisierung in Deutschland wurde von dem Wirtschaftshistoriker Reinhard Spree genauer untersucht (Spree 1977). Er orientiert sich dabei an einer Methode, die das NBER (National Bureau of Economic Research) der USA ohne Bezug auf die Große Sozialprodukt entwickelt hat. Diese Methode er¨ fasst ein Grundmuster von etwa 1 000 Reihen realer und okono¨ mischer Großen in Form von Monatsdaten, um daraus ein Maß zur ¨ Feststellung des Konjunkturzyklus’ zu entwickeln. Seit 1967 werden daraus insgesamt 88 Reihen von Indikatoren ermittelt, von denen 25 Reihen als Kern der Konjunkturanalyse dienen. Aus diesen Reihen wird ein sogenannter Referenzzyklus gebildet, indem die jeweiligen Hoch- und Tiefpunkte der einzelnen Reihen bestimmten Phasen des Konjunkturzyklus zugeordnet werden. Ein „Diffusionsindex“ zur Modellierung des Konjunkturverlaufs wird durch die Kombination der expansiven und kontraktiven Reihen gebildet und deren Differenzen dargestellt. Überwiegen die positiven Reihen, signalisiert das einen Aufschwung, ist es umgekehrt, handelt es sich um einen Abschwung (A-Kurve in > ABBILDUNG 28). Die kumulierten Differenzen zeigen demnach die konjunkturelle Lage an ¨ und deren Veranderungen die Entwicklung der Wirtschaft (BCC-Kurve in > ABBILDUNG 28). Genau dieses Verfahren verwendet auch Reinhard Spree, wenn er aus insgesamt 48 verschiedenen Reihen, von denen 21 Reihen Mengen- und 27 Reihen Wertgro¨ßen erfassen, einen Gesamtindikator der konjunkturellen Entwicklung der deutschen Wirtschaft zwischen 1840 und 1880 konstruiert (> ABBILDUNG 28). Dem Verlauf der abgebildeten, mit BCC bezeichneten Kurve nach gab es in den Jahren 1847, 1857, 1873 einen oberen Wendepunkt der Konjunktur, die einen konjunkturellen Abschwung einleitete, wahrend in den Jahren 1848 und 1859 bereits wieder leichte Auf¨ schwungtendenzen zum Durchbruch kamen, die die konjunkturellen Abschwunge sehr verkurzten. ¨ ¨ Der Abschwung von 1873 nach dem Grunderboom hat unter ¨ dem Namen „Große Depression“ Eingang in die Literatur gefunden, obwohl es sich dabei wohl eher um eine „Große Deflation“ gehan¨ Indikatoren einen Abschwung redelt hat, weil vorwiegend monetare flektieren, reale Indikatoren weit weniger. Zwischen 1873 und 1895 ¨ ¨ zeigten namlich die realen Großen weiterhin eine deutliche Tendenz
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NBER-Methode zur Bestimmung von Konjunkturzyklen
Bildung eines „Referenzzyklus“
Konjunkturzyklen in Deutschland 1840–80
Erste Wachstumszyklen zwischen 1840–73
1873–95: „Große Depression“ als „Große Deflation“?
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Die A-Kurve misst den Anteil expansiver Reihen an der Gesamtzahl der betrachteten Reihen von Konjunkturindikatoren. Der Wert liegt zwischen 100 %, wenn alle Reihen expansiv sind, und 0 %, wenn nur kontraktive Reihen zu beobachten sind. Die BCC-Kurve summiert die Anteile der expansiven Reihen im Zeitverlauf auf und vermittelt so einen Eindruck von der langfristigen Expansionsfahigkeit ¨ der Wirtschaft. ¨ Abbildung 28: Schatzung von Wachstumszyklen aus Konjunkturindikatoren (nach Spree 1977, S. 90)
Erhöhte Industrieproduktion
Wachstumszyklen 1895–1913
der Expansion, wahrend die Preise weitgehend stagnierten und z. T. ¨ sogar gesunken sind. Die Industrieproduktion erhohte sich in diesem ¨ Zeitraum beispielsweise deutlich. Ausgehend von einem Indexwert von 22,5 % der Gesamtproduktion des Jahres 1913 verdoppelte sie sich auf immerhin 47,5 %, wahrend das Preisniveau eine deutlich ¨ sinkende Tendenz aufwies (Borchardt 1976, S. 24). Naturlich ließ ¨ auch diese Entwicklung wahrend der Großen Depression bzw. der ¨ Großen Deflation eine deutliche konjunkturelle Rhythmik erkennen, die sich in verschiedenen Indikatoren abbilden lasst, bis heute aber ¨ noch einer genaueren Untersuchung harrt. Der konjunkturellen Entwicklung in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg hat die Wirtschaftshistorikerin Margrit Grabas besondere Aufmerksamkeit gewidmet (Grabas 1992). Ein lang anhaltender Aufschwung setzte in Deutschland nach Ende der Großen Depression (1895) ein und hielt bis 1913 an. Es handelte sich bei den in diesem Zeitraum beobachteten Schwankungen der Wirtschaftstatigkeit wohl ¨ eher um Wachstumszyklen, ahnlich der Zeit vor 1873, die sich durch ¨ 21 ausgewahlte Indikatorenreihen auf Monatsbasis beschreiben las¨
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FRAG EN UND LEK TÜR EEMPFEH LUNGEN
sen. Dazu berechnete Grabas fur ¨ jeden Monat die Abweichung jeder Reihe vom Trend und nutzte das arithmetische Mittel aller Standardabweichungen als Gesamtmaß der Konjunkturentwicklung. Auf diese Weise offenbart sich auch fur ¨ diesen Zeitraum ein deutliches konjunkturelles Muster im Wachstumsprozess. Im 20. Jahrhundert wurde die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland von einer Reihe dramatischer Krisen beeintrachtigt, hin¨ ter die die Bedeutung konjunktureller Zyklen deutlich zurucktrat. ¨ Als gravierende Einbruche in den sakularen Wachstumstrend der Volks¨ ¨ wirtschaft sind hier vor allem die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise zu benennen. Erst in der Bundesrepublik Deutschland konnte sich ein „normaler“ Konjunkturzyklus allmahlich wieder ¨ durchsetzen. Nach den sogenannten Wirtschaftswunder-Jahren wurde erst 1967 erstmals ein geringer Ruckgang der gesamtwirtschaft¨ lichen Wirtschaftsleistung beobachtet, der jedoch nur kurzfristig anhielt. Diese Erfahrung wiederholte sich in den folgenden Abschwungen und pragt die Erwartungen. Allerdings ¨ ¨ auch gegenwartig ¨ zeigen sich im Vergleich der bundesrepublikanischen „Krisenjahre“ mit der Weltwirtschaftskrise bislang gravierende Unterschiede: Weder in der Dauer noch in der Schwere der Rezession sind die Szenarien vergleichbar. Man ist also gut beraten, „Konjunkturen“ mit einer kurzfristigen, zyklischen Storung der Wirtschaftstatigkeit – erkennbar an einem ¨ ¨ leichten Innehalten des ansonsten stetigen wirtschaftlichen Wachstums – zu unterscheiden von tatsachlichen „Krisen“, in denen die ¨ Funktionsfahigkeit des kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Systems ¨ grundlegend gestort ¨ ist und die zu gravierenden Wohlstandsverlusten fuhren konnen. Von derartigen Krisen wurde die Wirtschaftsentwick¨ ¨ lung der Bundesrepublik bislang verschont, einen dauerhaften Schutz gibt es aber wohl nicht. Gegenwartig (2009) zeigt sich allerdings eine ¨ Lage, die der oben diskutierten Spekulationskrise nicht ganz unahn¨ lich sieht, in der die Wirtschaftsaktivitaten weit gravierender vom ¨ langfristigen Gleichgewichtspfad abweichen, als das im Rahmen konjunktureller Zyklizitat ¨ zu erwarten ware. ¨ Fragen und Anregungen • Glauben Sie, dass unser Wirtschaftssystem langfristig stabil ist und gravierende Wirtschaftskrisen durch besonnene wirtschaftspoliti¨ ¨ sche Maßnahmen abgewendet werden konnen? Begrunden Sie Ihre Auffassung.
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Weltkriege und Weltwirtschaftskrise
Konjunktureller Abschwung vs. Krise
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• Überlegen Sie einmal, ob und wie man „normale“ Konjunkturschwankungen von Krisen unterscheiden kann. ¨ • Was lasst sich aus Tulpenkrise, South Sea Bubble und Mississippi¨ unsere Gegenwart lernen? Schwindel fur
Lektüreempfehlungen Übersichten
• Charles P. Kindleberger: Manien, Paniken, Crashs. Die Geschichte der Finanzkrisen dieser Welt, Kulmbach 2001 (Englische Originalausgabe 1978). Ausfuhrliche Auseinandersetzung mit der Logik in¨ ternationaler Spekulationskrisen seit dem 17. Jahrhundert bis ca. 1996. • Joseph A. Schumpeter: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, Gottingen 2008 (Englische Originalausgabe 1939). Umfassende ¨ Darstellung der modernen Konjunkturzyklen im internationalen Vergleich.
Forschung
• Reinhard Spree: Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880 mit einem konjunkturstatistischen Anhang, Berlin 1977. Erstmaliger Versuch der Anwendung des modernen konjunkturstatistischen Konzepts auf die historische Entwicklung in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung. • J. Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900–1945. The 1 Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001, insb. S. 103–148. Darstellung der Entwicklung der amtlichen Statistik 1 in Deutschland und der Anfange der modernen Konjunkturfor¨ schung.
Handbücher / Lexika
• Arthur Spiethoff: Die wirtschaftlichen Wechsellagen. Aufschwung, ¨ Krise, Stockung, 2 Bde., Tubingen 1955. Grundlegende Darstel¨ von emlung der Spiethoffschen Konjunkturtheorie mit einer Fulle pirischem Material in Band 2.
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12 Handel und Globalisierung
Abbildung 29: Willem van de Velde: The Capture of the Royal Prince, 13 June 1666, Ölgemalde ¨ (1666 oder spater) ¨
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Mit geblahten Segeln stechen die niederlandischen Galeonen in See ¨ ¨ auf dem Weg zu den Reichtumern der Welt. Sie reprasentieren ein ¨ ¨ Zeitalter, das man in den Niederlanden das „goldene“ genannt hat, in dem niederlandische Kaufleute, geeint in der 1602 gegrundeten ¨ ¨ „Vereenigde-Oost-Indische Compagnie“ (VOC), die Markte der Welt ¨ dominierten. Sie hatten vor allem das Geschaft ¨ mit den in Europa hoch geschatzten Gewurzen aus Ostasien auf eine neue Grundlage ¨ ¨ gestellt. Nicht mehr uber den Landweg und uber das Mittelmeer ge¨ ¨ langten diese zu den europaischen Verbrauchern, sondern uber den ¨ ¨ Seeweg um das Kap der Guten Hoffnung, nachdem der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama (1469–1524) diese Route Ende des 1 15. Jahrhunderts erschlossen hatte. Das Geschaft ¨ war allerdings nicht konkurrenz- und risikolos. Spanier und Portugiesen hatten bereits zuvor ausgedehnte Handelsreisen unternommen und zeitgleich organisierte sich die englische Konkurrenz in der „East India Company“ (gegrundet 1600). Auch war der Weg ¨ bis Sudostasien weit, beschwerlich und gefahrvoll, sodass Totalver¨ luste nicht selten waren. Gleichwohl lockten Gewinne, die gigantisch waren und daher das Risiko wert schienen. In der Heimat wurde dadurch ein gewaltiger Reichtum angehauft. Amsterdam entwickelte ¨ sich zum Zentrum eines internationalen Handelssystems und die Niederlande im 17. Jahrhundert zur reichsten und okonomisch fort¨ geschrittensten Region Europas. Die okonomische Eroberung der ¨ Welt hatte ihren Anfang genommen.
12.1 Die Entstehung der Weltwirtschaft 12.2 Das Außenwirtschaftsregime europäischer Staaten 12.3 Deutschlands Außenhandel 1800–2000
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DIE EN TS TE HUN G DER W ELTWI RTS CHA FT
12.1 Die Entstehung der Weltwirtschaft Die Entdeckungsreisen, vornehmlich die der Portugiesen und Spanier am Ende des 15. Jahrhunderts, schufen die Voraussetzungen fur ¨ die okonomische Erschließung der Erde. Der Handel folgte den Ent¨ deckern auf dem Fuße und das europaische Handelssystem begann ¨ sich vom Ostseeraum und Mittelmeer weg hin zum Atlantik und Pazifik zu orientieren. Er begrenzte sich anfangs auf wenige Produkte, vor allem auf Edelmetalle aus Amerika und Gewurze aus Asien, de¨ ren Gewicht im Verhaltnis zu ihrem Wert sehr gering war und daher ¨ die hohen Transportkosten rechtfertigen konnte. Das Kolonial- und Handelssystem des 16. Jahrhunderts blieb zunachst noch wesentlich ¨ durch Raub, Plunderung und nackte Ausbeutung gepragt, doch bald ¨ ¨ zeigte sich, dass eine systematische Plantagenwirtschaft ein nachhaltigeres Geschaftsmodell darstellte. In Brasilien und in der Karibik ¨ stutzte sich die Plantagenwirtschaft wesentlich auf die Arbeitskraft ¨ importierter afrikanischer Sklaven, sodass neben dem Handel mit Kolonialwaren auch der Sklavenhandel eine weitere Quelle fur ¨ hohe Gewinne bot. Das Reservoir fur ¨ den lukrativen Sklavenhandel bildete Westafrika, von wo aus bereits bis zum Jahre 1700 mehr als zwei Millionen Sklaven nach Amerika verkauft worden sein mussen ¨ (Kriedte 1980, S. 104). Ein Großteil von ihnen wurde nach Sudame¨ rika und in die Karibik verschleppt sowie im 18. Jahrhundert in den Suden Nordamerikas. ¨ Hier konnte sich eine ineinander greifende Kolonialwirtschaft entfalten, zu der Edelmetallbergbau, Rinderfarmen und Plantagen mit den verschiedensten Bepflanzungen gehorten. Zu den wichtigsten ¨ Handelsgutern zahlten Tabak, Baumwolle, Kaffee, Kakao, Ingwer, ¨ ¨ Indigo und vor allem Zucker. Ihr Absatz in Europa bildete die dritte Ecke eines Handelsdreiecks zwischen Afrika, Amerika und Europa als Basis der atlantischen Ökonomie (O’Rourke / Williamson 1999). Aus Europa wurden preiswerte Industrieprodukte, vor allem Textilien und Metallwaren, nach Afrika verschifft. Dort wurden neben einigen Gutern, die wiederum direkt nach Europa geliefert wurden ¨ wie Gold und Elfenbein, vor allem Sklaven eingehandelt und diese dann auf brutale Weise nach Amerika verschleppt. Der Verkaufserlos ¨ der Sklaven konnte zum Ankauf von Kolonialwaren genutzt werden, die dann profitabel in Europa an den Markt gebracht werden konnten. Auf allen Stufen dieses Handels konnten hohe Gewinnmargen erzielt werden. Auch das Handelsvolumen war beachtlich und nahm stetig zu.
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Ausweitung des europäischen Handelssystems
Handel mit Kolonialwaren und Sklaven
Entstehung einer atlantischen Ökonomie
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Die europäischen Handelsmächte
Kriege um Kolonien
Neue Welt
Das Vordringen der niederlandischen und englischen Handelskom¨ panien in den asiatischen Raum im 17. Jahrhundert verdrangte dort ¨ zum Teil die Portugiesen und Spanier und zog Veranderungen in der ¨ Struktur des Asienhandels nach sich (Rothermund 1978). Neben Gewurzen wurden nun auch Textilien, vor allem Kattun, immer wichti¨ ger. Doch es fehlte den Europaern weitgehend an Handelsgutern, mit ¨ ¨ denen sie die hochwillkommenen asiatischen Importe bezahlen konnten. Die negative Handelsbilanz mit Asien musste daher zum Teil durch Edelmetallexporte ausgeglichen werden. Dies gelang mitunter durch Ertrage, die die europaischen Handelsgesellschaften durch den ¨ ¨ Vorstoß in den innerasiatischen Handel erzielten. Die Niederlande konnten als uberragender Stapelplatz uberseeischer Produkte in Eu¨ ¨ ropa eine beherrschende Stellung als Finanz- und Handelsplatz erringen und ein wahrhaft „goldenes“ Zeitalter genießen, ehe die Handelskriege mit England diesem im 18. Jahrhundert ein Ende setzten und England an die erste Stelle rucken ließen (Wilson 1969, ¨ S. 22–47). Im 18. Jahrhundert verstrickten sich die europaischen 4 ¨ Machte in eine Reihe kriegerischer Auseinandersetzungen, in denen ¨ auch Kolonialfragen eine große Rolle spielten. Angesichts der sich bemerkbar machenden Schwache Spaniens war es fur ¨ ¨ die rivalisierenden europaischen Staaten England, Frankreich und die Niederlande ¨ von großer Bedeutung, am Reichtum Spanisch-Amerikas teilzuhaben, weil von dort weiterhin große Mengen an Silber nach Europa strom¨ ten. Die Plunderung spanischer Schiffe, die Eroberung spanischer Ko¨ lonien und der Schleichhandel boten verschiedene Wege zu diesem Ziel, und alle wurden beschritten. Zudem grundeten die europai¨ ¨ schen Staaten eigene Kolonien, vornehmlich in Nordamerika, welche dann auch von Europaern besiedelt wurden und so fur ¨ ¨ sich eine „Neue Welt“ schufen. Die dortigen Kolonien entwickelten sich zu bedeutenden Nachfragern nach europaischen Waren und lieferten be¨ gehrte Produkte nach Europa, z. B. Tabak. So entwickelte sich der direkte Handel mit Nordamerika insbesondere fur ¨ England neben dem vertrauten Dreieckshandel zu einer zweiten Saule des Außen¨ handels (Davies 1974). Ein besonders lukrativer Geschaftszweig tat ¨ sich dabei neu auf: die Weiterverarbeitung kolonialer Vorprodukte und ihr Absatz im In- und Ausland. Die Baumwollindustrie in England und ihr exorbitanter Aufschwung am Ende des 18. Jahrhunderts bildet dafur ¨ ein herausragendes Beispiel: Baumwolle wurde als Rohstoff importiert und als Garn oder Stoff mit hohem Gewinn weiter verkauft.
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DIE EN TS TE HUN G DER W ELTWI RTS CHA FT
Mit der beginnenden Industrialisierung in England verlagerte sich der Schwerpunkt der internationalen Ökonomie nach Europa und die koloniale Welt verlor zumindest zeitweilig deutlich an Bedeutung. Das Handelskapital drang in die Produktionssphare ein und im ¨ Rahmen einer „Protoindustrialisierung“, der Ausbreitung heimgewerblicher Warenproduktion auf dem Lande vor der eigentlichen Industrialisierung (Mendels 1972), erfolgte auch eine gewerbliche Durchdringung des Landes in einigen europaischen Regionen (Flan¨ dern, Schlesien, Rheinland u. a.). Die Rentabilitat ¨ derartiger Investitionen innerhalb der europaischen Lander lag offenbar uber der in ¨ ¨ ¨ den Kolonien und es begann danach in verschiedenen europaischen ¨ Landern der Aufbau einer Industriewirtschaft. Dabei gewannen die ¨ Außenwirtschaftsverflechtungen zwischen diesen Landern mehr und ¨ mehr and Bedeutung, wohingegen ihre Beziehungen zu den außereuropaischen Regionen zuruckgingen. ¨ ¨ Auch wenn das 19. Jahrhundert gelegentlich als das Zeitalter des europaischen Imperialismus gekennzeichnet wird, so ist doch darauf ¨ hinzuweisen, dass die Bildung dieser Imperien weit weniger von oko¨ nomischen denn von politischen Motiven geleitet wurde (Wehler 1984). Erst nach erfolgreicher Industrialisierung richteten einige europaische Staaten ihr Augenmerk erneut auf die außereuropaische ¨ ¨ Welt. Dabei lagen ihre okonomischen Interessen nicht in erster Linie ¨ in der Ausbeutung von Kolonien, sondern im Kapitalexport. Gerade Großbritannien kontrollierte durch umfangreiche Direktinvestitionen in Sudamerika und Ostasien ein „informal empire“ (Imlah 1958) for¨ mal selbststandiger Staaten neben seinen eigentlichen Kolonien. Die ¨ erwarteten hoheren Renditen waren der Grund fur ¨ ¨ diese umfangreichen Auslandsanlagen (in Verkehrsinfrastruktur, Rohstoffgewinnung, Landwirtschaft u. a.) ¨ britischer Investoren, die sich bis 1913 auf umgerechnet etwa 80 Milliarden Mark beliefen. Zusammengefasst waren deren Ertrage als die jahrlich neu getatigten Aus¨ deutlich hoher ¨ ¨ ¨ landsinvestitionen, d. h. es kam zu einem Vermogensimport nach ¨ Großbritannien. Im Vergleich dazu werden die deutschen Direktinvestitionen im Ausland bis zum Ersten Weltkrieg auf lediglich 20 Milliarden Mark geschatzt. ¨ Die weltwirtschaftlichen Beziehungen hatten sich also in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts erneut intensiviert, sie waren dabei ¨ aber auf eine neue Basis gestellt worden. Nicht mehr nur der Austausch von Handelsgutern bestimmte die außenwirtschaftlichen Be¨ ziehungen, auch die Mobilitat ¨ der Produktionsfaktoren, sichtbar in Kapitalexport und der enormen Emigration von Arbeitskraften, war ¨
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Kolonien verlieren, Europa gewinnt an ökonomischer Bedeutung
Imperialismus im 19. Jahrhundert
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Beginn der Globalisierung Wirtschaftliche Verflechtung
an dessen Seite getreten (Torp 2005). Neben den enormen Direktinvestitionen waren auch umfangreiche Bevolkerungsbewegungen, ¨ vornehmlich uber den Atlantik nach Nordamerika, zu beobachten. ¨ Eine wahre Weltwirtschaft mit einem eigenen Systemcharakter, mit mobilen Gutern und Faktoren war entstanden: die Globalisierung ¨ hatte begonnen! Der Grad der Verflechtung, den diese Weltwirtschaft bereits am Ende des 19. Jahrhunderts gewonnen hatte, lasst sich sehr gut an ¨ einigen Indikatoren aufzeigen. So wuchsen im 19. Jahrhundert die Weltagrarmarkte zusammen (O’Rourke 1997). Betrug der Unter¨ schied im Weizenpreis zwischen Chicago und Liverpool bis ca. 1880 etwa 20 Dollar, so waren es danach nur noch wenige Pence (Tilly 1999, S. 30). Die Differenzen im Preis fur ¨ Rindfleisch zwischen den USA und Großbritannien verminderten sich durch die Einfuhrung ¨ von Kuhlketten nach 1910 ebenfalls dramatisch. Dies hatte mitunter ¨ weltweite Auswirkungen auf die internationale Verteilung der Handelsgewinne. Die Konkurrenz der britischen Exporteure auf den Weltmarkten druckte die Preise fur ¨ ¨ ¨ Industrieprodukte weit mehr als die Preise von Nahrungsmitteln und Rohstoffen. Deren Erzeuger profitierten von der steigenden Nachfrage, die Preise in diesem Bereich blieben daher weitestgehend stabil.
Abbildung 30: Unterschiedliche Konzepte der Globalisierung im 19. und 20. Jahrhundert (Tilly 1999, S. 8)
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Durch Direktinvestitionen, d. h. durch die Konkurrenz zwischen Inlands- und Auslandsinvestitionen, naherten sich die Renditen von ¨ Auslands- und Inlandsanlagen deutlich an. Auch die Wechselkurse zwischen den verschiedenen Wahrungen naherten sich, sobald diese, ¨ ¨ wie etwa Russland und Österreich, dem Goldstandard beigetreten waren, den ubrigen Goldwahrungen an und blieben stabil (Tilly ¨ ¨ 1999, S. 26–27). 2 Überdies darf die große Mobilitat ¨ der Arbeitskrafte ¨ im Rahmen der Weltwirtschaft nicht vergessen werden. Millionen von Auswanderern strebten von Europa aus in alle Welt, die Mehrzahl nach Nordamerika, aber auch nach Sudamerika, Sudafrika, ¨ ¨ Australien und Neuseeland. Eine globale Weltwirtschaft war begrun¨ det, auch wenn sie zunachst noch nicht den gesamten Globus um¨ fasste, sondern uberwiegend auf einen Teil der nordlichen Hemispha¨ ¨ ¨ re begrenzt blieb (Tilly 1999, S. 8). Auch Deutschland spielte im Rahmen dieser Weltwirtschaft eine bedeutende Rolle (> KAPITEL 12.3).
Direktinvestitionen
12.2 Das Außenwirtschaftsregime europäischer Staaten ¨ Adam Smith, der Begrunder der modernen Ökonomik, hat in seinem großen Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations von 1776 (deutsch: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen) bereits nachdruck¨ lich auf die Vorteile des Außenhandels hingewiesen. Er bezog sich dabei auf Erfahrungen, die die Menschen mit der vorausgehenden Handelsexpansion des 17. und 18. Jahrhunderts gemacht hatten, und von der England in besonderem Maße profitierte. In diesem „Merkantilsystem“, wie Smith die okonomischen Verhaltnisse seiner ¨ ¨ Zeit bezeichnete, beruhte der Austausch zwischen den Weltregionen auf deren unterschiedlichen Ausstattungen mit produktiven Ressourcen. Man produziert das, was man gut und gunstig herstellen kann, ¨ verkauft dies und kauft dafur ¨ Produkte ein, die andere besser und gunstiger produzieren (Smith 1974, S. 347). Getauscht wurden also ¨ Gewurze aus Asien gegen Eisenwaren oder Kolonialprodukte aus der ¨ Karibik gegen Gewerbeprodukte aus Europa. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts weckten neue Veranderungen – ¨ die Ausdehnung des innereuropaischen Handels sowie die fort¨ geschrittene und richtungweisende Entwicklung der englischen Volkswirtschaft – die Aufmerksamkeit der Ökonomen. Sie beobachteten, dass offenbar auch zwischen unterschiedlich weit entwickelten Volks-
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Merkantilsystem
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Außenhandelstheorie Ricardos . . .
. . . und ihre Kritikpunkte
wirtschaften, vor allem bzgl. Produktivitat ¨ und Kosten, ein fur ¨ beide Seiten profitabler Außenhandel moglich sei. Dem britischen National¨ okonomen David Ricardo gelang es 1817 am Beispiel des gerade ab¨ geschlossenen Methuen-Handelsvertrags zwischen England und Portugal nachzuweisen, dass ein vorteilhafter Handel auch dann moglich ist, wenn ein Land bei allen Gutern einen Produktivitats¨ ¨ ¨ bzw. Kostenvorteil hat (Ricardo 1994, S. 109–128). Dabei wird al1 lerdings vorausgesetzt, dass diese Vorteile nicht bei allen Gutern ¨ gleich sind. Konzentriert sich ein fortschrittliches Land auf die Produktion derjenigen Guter, bei denen der Kostenvorsprung am groߨ ¨ ten ist und uberlasst die Produktion der Guter mit dem geringsten ¨ ¨ ¨ Kostenvorteil einem anderen Land, so ist die Produktion beider Lan¨ der großer, als wenn jedes seine Guter selbst herstellt. Durch den ¨ ¨ Austausch kann so der Wohlfahrtsgewinn beiden Landern zugute ¨ kommen. Diese Überlegungen haben unter der Bezeichnung „Theorem der relativen Kostenvorteile“ Eingang in die Außenwirtschaftstheorie gefunden und dienen bis heute zur Begrundung, warum inter¨ nationaler Handel fur ¨ alle Teilnehmer von Nutzen sein kann (Kurz 2008). Allerdings enthalt ¨ dieses Theorem keinen Hinweis darauf, wie die moglichen Handelsgewinne verteilt werden, d. h. welches Land ¨ den großeren Nutzen aus dem Außenhandel zieht. Daruber hinaus ¨ ¨ berucksichtigt diese Theorie nur die gegebene Faktorausstattung. Eine ¨ Aussage uber langfristige Wirkungen der internationalen Arbeits¨ teilung kann auf dieser Basis deshalb nicht getroffen werden. Es handelt sich also um eine statische Analyse mit eng begrenzten Modellannahmen. Dies wurde auch sehr bald erkannt und bereits von Zeitgenossen vehement kritisiert. Der Wirtschaftstheoretiker Friedrich List wies 1841 in seinem Werk Das nationale System der Politischen Ökonomie darauf hin, dass es fur ¨ ein weniger entwickeltes Land als England nicht darauf ankomme, zu einer optimalen internationalen Arbeitsteilung unter den gegebnen Bedingungen zu gelangen. Vielmehr musse die Entwicklung der „produktiven Kraf¨ ¨ te“ einer Volkswirtschaft im Vordergrund stehen (List 1950, S. 220–238). 2 Dementsprechend pladierte er dafur, Ent¨ ¨ bereits in der fruhen ¨ wicklungsphase einer nationalen Wirtschaft weniger profitable bzw. unterlegene Gewerbezweige durch Zolle auslan¨ vor der uberlegenen ¨ ¨ dischen Konkurrenz zu schutzen. Dies sollte solange erfolgen, bis die ¨ eigene Wettbewerbsfahigkeit hergestellt war. Erst danach sollte als ¨ nachster Schritt ein offener Handelsaustausch moglich sein. Ganz ¨ ¨ ahnlich argumentierte 1791 auch Alexander Hamilton, einer der ¨
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Grundervater der Vereinigten Staaten von Amerika, der die jungen ¨ ¨ USA in einer vergleichbaren Situation sah (Hamilton 1966, S. 230–240). 2 Die praktischen Konsequenzen der einzelnen Staaten aus diesen theoretischen Erwagungen waren hingegen z. T. uberraschend und ¨ ¨ widerspruchlich. So schirmte England einerseits seine Landwirtschaft ¨ durch einen Schutzzoll vor der auslandischen Konkurrenz ab und ¨ wollte gleichzeitig seine uberlegenen Industrieprodukte auf dem euro¨ paischen Markt absetzen. Preußen ging 1818 mit dem neuen Zoll¨ gesetz andere Wege und verschrieb sich dem Freihandel, obwohl seine Gewerbeprodukte noch keine Wettbewerbsreife gegenuber Eng¨ land erreicht hatten. Preußen sah seine Interessen zunachst einmal in ¨ einer forcierten Integration des deutschen Marktes, die ja mit dem 1834 gegrundeten Zollverein einen wesentlichen Schritt vorankam ¨ (Hahn 1984). Die USA verschrieben sich einem strikten Protektionismus, der die eigene Wirtschaft schutzen sollte, im Verlauf des ¨ 19. Jahrhunderts weiter ausgebaut wurde und mit der Monroe-Doktrin von 1823 sogar den gesamten Kontinent ins Visier nahm. Diese handelspolitische Konstellation des fruhen 19. Jahrhunderts ¨ war jedoch nicht von Dauer. In Deutschland drangen schutzzollneri¨ sche Interessen weiter vor, und 1844 wurden in Preußen Eisenzolle ¨ zum Schutz der Eisenindustrie vor der uberlegenen britischen Indus¨ trie eingefuhrt. In Großbritannien hingegen setzten sich Freihandels¨ interessen langsam durch, die Kornzolle ¨ wurden abgeschafft und der Cobden-Chevalier-Vertrag von 1860 mit dem bis dahin stark protektionistisch orientierten Frankreich brachte das Prinzip des Freihandels endgultig zum Durchbruch. Massive Zollsenkungen in Frank¨ reich und die vereinbarte Meistbegunstigung, nach der alle weiteren ¨ Lander, mit denen Handelsvertrage abgeschlossen werden, ebenfalls ¨ ¨ die Vorteile dieses Vertrags nutzen konnten, fuhrten zu einem euro¨ paischen Freihandelssystem. 1862 kam es zu einem entsprechenden ¨ Vertrag zwischen Frankreich und Preußen und dieser entfaltete eine positive Wirkung im deutschen Zollverein (Torp 2005, S. 121–145). 1 Nach der Herausdrangung des weiterhin protektionistischen Öster¨ reich aus dem deutschen Bund 1866 erlebten die deutschen Territorien im Rahmen des europaischen Systems eine Hochphase der Frei¨ handelspolitik mit einem stetigen Abbau von Zollen. Doch diese ¨ Phase wahrte nicht sehr lange, denn bereits in den fruhen 1870er¨ ¨ Jahren meldeten sich die Schutzzollner wieder zu Wort. Das lag zum ¨ einen daran, dass durch die „grain invasion“, die „Korninvasion“ aus den USA die deutsche Landwirtschaft unter Druck geriet und in
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Die politischen Konsequenzen der Theorien
Änderungen in den nationalen handelspolitischen Konzeptionen
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Desintegration der Weltwirtschaft
Neubeginn eines liberalen Außenwirtschaftssystems
Etablierung eines liberalen Weltwirtschaftssystems
ihrer Wettbewerbsfahigkeit beeintrachtigt war (O’Rourke 1997). ¨ ¨ Zum anderen hatte die Grunderkrise von 1871 / 73 die inzwischen ¨ aufgebauten Überkapazitaten der deutschen Schwerindustrie offenbar ¨ werden lassen. Zwei wichtige Handelsbranchen der deutschen Volkswirtschaft, Roggen und Eisen, suchten in einer Abschottung vor der internationalen Konkurrenz einen Ausweg aus der Krise. Und sie waren erfolgreich, denn bereits 1879 wurden Agrar- und die erst 1872 aufgegebenen Eisenzolle wieder eingefuhrt. Dieses Schutzzollsystem ¨ ¨ wurde in den folgenden Dekaden, wenn auch in Schwankungen und gegen Widerstande, stetig weiter ausgebaut. Die USA folgten ¨ einem noch radikaleren protektionistischen Weg (Morrill-Tarif 1861, McKinley-Tarif 1890, Dingley-Tarif 1889) mit Zollsatzen von ¨ bis zu 50 % (Torp 2005, S. 325f.). Das internationale Wirtschafts- und Handelssystem in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts wurde durch massive Desintegrationsten¨ denzen gepragt, in denen die Vorteile einer globalen Arbeitsteilung ¨ wieder aufgeben wurden und die zum Zerfall der im 19. Jahrhundert begrundeten Weltwirtschaft fuhrten (Borchardt 2001, S. 21). Dabei ¨ ¨ forderten Zahlungsbilanzprobleme, beruhend auf Ungleichgewichten ¨ im Handel miteinander, die protektionistische Entwicklungen. Das Bild der internationalen Wirtschaft wurde durch die Aufgabe des Goldstandards, der Abwertungskonkurrenz zwischen den nationalen Wahrungen, sowie striktem Protektionismus vieler Lander neu ge¨ ¨ zeichnet. Ein gedeihlicher Außenhandel war unter diesen Bedingungen kaum mehr moglich. ¨ Dies anderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als unter der ¨ Fuhrung der USA ein liberales Außenwirtschaftsregime fur ¨ ¨ die westlichen Industriestaaten mehr oder weniger erzwungen wurde. Den Anfang machten die Konferenz von Bretton-Woods im Jahr 1944, auf der ein neues Weltfinanzsystem begrundet wurde, und das GATT (General ¨ Agreement on Tariffs and Trade), das sich der Reduzierung der Zolle ¨ und dem Abbau nicht tarifarer – d. h. von diskriminierenden Regeln ¨ und Vorschriften bestimmter – Handelshemmnisse widmete. Eine enorme Expansion des Welthandels seit den 1950er-Jahren war die Folge (Lindlar 1997, S. 151–155). Auch das internationale Finanzsys1 tem expandierte in großem Stil und trug trotz aller gelegentlicher Krisen wie des Zerfalls des Bretton-Woods-Systems (1972), der Asienkrise (1997 / 98) und der Bankenkrise (2008 / 09) wesentlich zum Wachstum der Weltwirtschaft bei (> KAPITEL 7). Ein liberales Weltwirtschaftssystem konnte sich zu Beginn nur muhsam ¨ etablieren. Man wollte von Anfang an nicht die Fehler der
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Zwischenkriegszeit wiederholen, also nicht die Probleme des internationalen Handels und der Weltfinanzen in einem Schritt auf einmal losen. Deshalb trennte man beide Problemkomplexe voneinander. ¨ Das System von Bretton-Woods hatte den US-Dollar mit seiner Goldbindung als Leitwahrung etabliert und die angeschlossenen Wahrun¨ ¨ gen mit fixen Wechselkursen an diesen gebunden. Wechselkursveran¨ derungen waren nur bei gravierenden Ungleichgewichten und nur mit Zustimmung der Beteiligten moglich. Zum Ausgleich temporarer ¨ ¨ Zahlungsbilanzungleichgewichte war der Internationale Wahrungs¨ fonds geschaffen worden. Die ebenfalls neu gegrundete Weltbank ¨ sollte sich der Wirtschaftsforderung weniger entwickelter Staaten ¨ widmen. Die europaischen Staaten waren unmittelbar nach dem ¨ Ende des Zweiten Weltkriegs von den Amerikanern nur schwer fur ¨ dieses Liberalisierungsprogramm zu gewinnen (Buchheim 1990, S. 109–170). Ihre Volkswirtschaften litten unter den Lasten des Krie1 ges und seinen Zerstorungen, ihre Wahrungen waren schwach und ¨ ¨ ein Handelsdefizit gegenuber den USA verschlimmerte die Lage wei¨ ter. Ihre Handelsbeziehungen wurden zumeist bilateral abgewickelt, weil es ihnen an internationaler Liquiditat, ¨ also an Dollars fehlte. Erst die Einrichtung der Europaischen Zahlungsunion (EZU), die ¨ amerikanische Unterstutzung durch den Marshallplan und die Orga¨ nisation fur wirtschaftliche Zusammenarbeit OEEC, der ¨ europaische ¨ spateren OECD, schufen die Voraussetzung fur ¨ ¨ die Teilnahme der westeuropaischen Staaten am amerikanisch initiierten Projekt der Li¨ beralisierung der Außenwirtschaft – die sozialistischen Staaten unter Fuhrung der Sowjetunion blieben außen vor. ¨ Fur ¨ den Abbau von Handelshemmnissen war das bereits erwahnte ¨ GATT geschaffen worden. Es wurde schon wahrend des Zweiten ¨ Weltkriegs mit der Havanna-Charta, die auf einer ersten Konferenz auf Kuba beschlossen wurde, in zahlreichen Verhandlungsrunden vorbereitet. Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen wurde im Oktober 1947 mit 23 beteiligten Landern in Genf abgeschlossen, als ¨ der Plan fur ¨ eine Internationale Handelsorganisation nicht verwirklicht werden konnte. Bis 1994 wurden in acht Verhandlungsrunden Zolle und andere Handelshemmnisse Schritt fur ¨ ¨ Schritt abgebaut und der Mitgliederkreis auf 128 Partnerlander erweitert. Im Laufe ¨ der letzten Jahrzehnte ist das GATT dem Ideal eines freien Welthandels deutlich naher gekommen. Probleme macht bezeichnender Weise ¨ heute vor allem der Handel mit Agrarprodukten, der in den fortgeschrittenen Industriestaaten kurioser Weise durch Zolle und Han¨ delshemmnisse besonders geschutzt wird. Dies fuhrt gegenwartig in ¨ ¨ ¨
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Bretton-Woods
Kriegslasten
GATT
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Ungleiche Verteilung der Gewinne
Neuere Außenhandelstheorie
der laufenden Doha-Runde (benannt nach der in Doha begonnen neuesten Verhandlungsrunde) zur Blockierung bei der Weiterentwicklung des Welthandelssystems (WTO), weil weitere Zugestandnisse ¨ beim Abbau von Zollen von der Aufgabe des Agrarprotektionismus ¨ der Industrielander abhangig gemacht werden. ¨ ¨ Hier zeigt sich aber auch die Wirkung eines freien Welthandels, denn die Fruchte der Liberalisierung und der Wohlstandsmehrung sind ¨ nicht allen Landern gleichmaßig und innerhalb der Lander nicht allen ¨ ¨ ¨ Bevolkerungsgruppen in gleicher Weise zuteil geworden. Gewinner ¨ waren vor allem die Erzeuger hochwertiger Gewerbeprodukte, wah¨ rend die Agrarproduzenten eher zu den Verlierern der internationalen Arbeitsteilung gehoren. Die Verteilungswirkungen der internationalen ¨ Arbeitsteilung ebenso wie ihre dynamischen Effekte ließen sich im Rahmen der klassischen Außenhandelstheorie nach Smith und Ricardo nicht analysieren. Das Faktorpreistheorem, auch Heckscher-OhlinTheorem genannt, macht daher den Versuch zu erklaren, wie uber den ¨ ¨ Austausch der Handelsguter ein Ausgleich zwischen den Preisen der ¨ als immobil angenommenen nationalen Produktionsfaktoren zustande kommt (Werner 2004). Über die Konkurrenz der Produkte der verschiedenen Produktionsfaktoren auf den Weltmarkten kommt es ten¨ denziell zu einer Angleichung der Entlohnung der Faktoren. Dabei neigen die betroffenen Bevolkerungsgruppen in einer Volkswirtschaft ¨ dazu, sich gegen die damit verbundenen Einkommensverluste zu stemmen. Sie fordern in diesem Zusammenhang z. B. den „Schutz der nationalen Arbeit“ und sehen ihr Heil in der Errichtung von Handelsbarrieren in Form von Schutzzollen o. a. ¨ ¨ Die neuere Außenhandelstheorie hat inzwischen die Annahme fallen lassen, dass Außenhandel zwischen Volkswirtschaften „in toto“ stattfindet. Der Wirtschaftsnobelpreistrager Paul Krugman, als wich¨ tigster Vertreter dieser Theorie, verweist darauf, dass es Unternehmen aus Branchen mit ahnlichen Strukturbedingungen sind, die inter¨ nationalen Handel treiben, und nicht Volkswirtschaften als ganze. Deshalb stellen sich fur ¨ die verschiedenen Branchen die wirtschaftlichen Chancen fur ¨ den Außenhandel ganz unterschiedlich dar (Krugman 1984): fur ¨ die Textilindustrie anders als fur ¨ den Maschinenbau, fur ¨ die chemische Industrie anders als fur ¨ die Landwirtschaft. Außerdem gilt es bei den Exportinteressen die Marktstruktur zu beruck¨ sichtigen, wie auch die Tatsache, dass man selbst durch Exporte weit unter Preis zu einer Senkung der Durchschnittskosten kommen kann, weil auf diese Weise Skalenertrage, also die Vorteile hoherer Produk¨ ¨ tionsmengen zum Tragen kommen.
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DEUTSC HLAN DS AUSSENHANDEL 1800 – 2000
12.3 Deutschlands Außenhandel 1800–2000 Der deutsche Außenhandel zu Beginn des 19. Jahrhunderts war noch sehr begrenzt (Kutz 1974). Die großten Guterstrome bewegten sich ¨ ¨ ¨ auf dem Rhein und der Elbe zu den Seehafen, und ein weiterer Strom ¨ fuhrte auf dem Landwege in West-Ost-Richtung mit Leipzig als Zent¨ rum. Die Niederlande und Hamburg als Deutschlands Tor zur Welt nahmen im Außenhandel der deutschen Territorien ebenfalls eine bedeutende Stellung ein. Die Struktur des preußischen Außenhandels um 1800 vermittelt das Bild einer noch wenig entwickelten Volkswirtschaft (Borries 1970). Bei der Ausfuhr dominierten zwar bereits gewerbliche Fertigprodukte mit einem Anteil zwischen 60 und 70 %, doch handelte es sich dabei vorwiegend um heimgewerblich gefertigte Textilien und nicht um maschinell erzeugte Industriewaren. An zweiter Stelle der Ausfuhr standen Rohstoffe und Nahrungsmittel, vor allem Getreide, mit ca. 20 % der Exporte. Auch bei der Einfuhr dominierten Gewerbeprodukte (ca. 50 %), wobei sich darunter textile und eisenindustrielle Vorprodukte wie Garne und Roheisen fanden, die dem Ausbau einer eigenen industriellen Grundlage dienen konnten. Es folgten bei den Importen Nahrungsmittel, Kolonialwaren und Rohstoffe mit einem Anteil von ca. 40 %. Es lasst sich also ¨ festhalten, dass Deutschland um 1800 schon in beachtlichem Maße in den internationalen Warenhandel integriert war. Es war zwar gegenuber England noch ruckstandig, keinesfalls jedoch auf dem Stand ¨ ¨ ¨ eines „unterentwickelten“ Landes. Dagegen spricht auch der in der Summe bedeutende Außenhandel der deutschen Staaten, der um 1800 auf ca. 360 Millionen Mark jahrlich geschatzt wird. Dies ent¨ ¨ spricht einer durchaus beachtlichen Exportquote, dem Verhaltnis von ¨ Export zum Bruttoinlandsprodukt, von etwa acht bis neun Prozent. Allerdings fuhrte weder das preußische Zollgesetz von 1818 – das ¨ alle Binnenzolle im preußischen Staatsgebiet beseitigte und ein ein¨ heitliches Außenzollsystem fur – noch die Grun¨ Preußen begrundete ¨ ¨ dung des Deutschen Zollvereins 1833 / 34 unmittelbar zu einer sprunghaften Ausdehnung des Handels bzw. des Außenhandels. Zwar wuchs der Außenhandel des Zollvereins nach 1834 stetig an, doch war dieser eingebunden in eine langfristige Expansion und die Pro-Kopf-Ausfuhr erhohte sich zunachst nicht. Bis in die 1850er-Jahre ¨ ¨ lief die Entwicklung des Außenhandels im Zollverein mit der allgemeinen Entwicklung allenfalls parallel. Erst danach erhohte sich dieser ¨ Wert allmahlich und nachhaltig, um dann zu Beginn der 1870er-Jahre ¨ ein signifikant hoheres Niveau zu erreichen. Was die Struktur des deut¨
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Außenhandel im frühen 19. Jahrhundert
Integration in den internationalen Warenhandel
HA NDE L U ND GLOBA LI SIE RUN G
Expansion des Außenhandels nach 1871
Weltkriege und Neubeginn
schen Außenhandels in diesem Zeitraum betraf, so lasst sich eine Ver¨ schiebung beobachten. Bei der Einfuhr ging die Bedeutung von Fertigwaren deutlich zuruck. Dementsprechend wuchs der Anteil von Nah¨ rungsmitteln und Rohstoffen beim Import. Bei der Ausfuhr ist das Bild weniger eindeutig. Der Export von Nahrungsmitteln stieg insgesamt leicht an, die Ausfuhr von Fertigwaren dagegen zeigte eine leicht sinkende Tendenz. Der Außenhandelsstruktur eines fortgeschrittenen Industriestaates entsprach dieses Bild also (noch) nicht. Nach der Grundung des Deutschen Reiches und der durchgreifen¨ den Industrialisierung der deutschen Volkswirtschaft setzte eine bis dahin unbekannte Expansion des deutschen Außenhandels ein. Wah¨ rend der ersten beiden Dekaden erhohte sich der deutsche Export ¨ zunachst erst moderat, ab den 1890er-Jahren dann explosionsartig ¨ und deutlich starker als der ebenfalls stark wachsende Welthandel. ¨ Die Exportquote der deutschen Volkswirtschaft verdoppelte sich nahezu von 8,5 % (1874 / 78) auf 15,8 % (1909 / 13) (Torp 2005, S. 72). Wahrend dieses gesamten Zeitraumes lagen die Importe nach ¨ Deutschland immer deutlich uber den Exporten, weshalb der Saldo ¨ der Handelsbilanz negativ blieb. Dies mag z. T. Ergebnis der unterschiedlichen Rechnungsstellung fur ¨ Export- und Importpreise sein – weil die Exporte mit den Werten bis zur Landesgrenze („free on border“, fob) berechnet werden, die Importpreise aber einschließlich aller Transportkosten („cost, insurance, freight“, cif) – spiegelt aber wohl auch die reale Situation des deutschen Außenhandels wider (Kutz 1974, S. 14–16). 1 Einen genaueren Einblick gibt daher die Zahlungsbilanz (> ABBILDUNG 31). Die beachtlichen Ertrage der Auslandsinvestitionen und der Ex¨ port von Dienstleistung (z. B. Schiffstransport, Finanzdienstleistungen u. a.) waren demnach bis 1913 in der Lage, die moglicherweise leicht ¨ negative Handelsbilanz Deutschlands bis 1913 auszugleichen und daruber hinaus noch einen weiteren Kapitalexport zu finanzieren. Ge¨ werbeprodukte bestimmten zunehmend die Struktur des Exports. Besonders Industrieprodukte wurden immer wichtiger, wahrend bei den ¨ Importen Nahrungsmittel und Rohstoffe an Bedeutung gewannen. Drei Viertel aller Exporte gingen in europaische Lander, auch die ¨ ¨ meisten Importe kamen von dort. Der Erste Weltkrieg stellte naturlich einen tiefen Eingriff in die ¨ Weltwirtschaft dar. Danach, in der Zwischenkriegszeit, gelang es nicht, ein ahnlich liberales und expansives Außenwirtschaftssystem ¨ wie vor 1913 wieder zu errichten. Ganz im Gegenteil, alle Versuche dazu scheiterten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden wieder-
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DEUTSC HLAN DS AUSSENHANDEL 1800 – 2000
1883 / 88
1889 / 93
1894 / 98
1899 / 1903
1904 / 08
1909 / 13
Export Import
2807 3104
3143 4053
3439 4426
4588 5661
6112 7583
8246 9726
Handelsbilanz Kapitalerträge (Saldo) Sonst. Dienstleistungen (Saldo)
–297 786 184
–910 980 513
–987 1139 655
–1072 1304 400
–1472 1464 840
–1480 1618 699
Dienstleistungsbilanz
970
1494
1794
1704
2304
2318
Leistungsbilanz Kapitalbilanz i. e. S. Devisenbilanz
673 681 –7
584 549 34
808 721 87
631 486 145
833 585 248
838 643 195
Kapitalbilanz i. w. S.
673
584
808
631
833
838
Abbildung 31: Deutsche Zahlungsbilanz 1833–1913 (in Millionen Mark, laufende Preise) (Torp 2005, S. 72)
um Bedingungen geschaffen, die zu einer erneuten dynamischen Ent¨ wicklung des internationalen Wirtschaftssystems fuhrten, und Deutschland profitierte davon in besonderem Maße. Die deutsche Exportquote erholte sich von einem historischen Tief (1935 / 38 ¼ 6,0 %; 1950 ¼ 0,9 %) und stieg auf Rekordhohen. Deutschland wur¨ de zum „Exportweltmeister“, im Jahr 2000 lag die Exportquote bei 29,5 % (Abelshauser 2004, S. 219). Allerdings ist dabei zu bedenken, dass dieser hohe Exportanteil auch darauf beruht, dass ein großer Teil der Exportprodukte Importe aus anderen Landern enthalt, ¨ ¨ die in Deutschland nur als Zulieferungen und Teilkomponenten in „deutsche“ Produkte eingebaut werden. Somit konnen diese Exportwerte ¨ nicht als Maß fur herangezogen werden. ¨ die deutsche Wertschopfung ¨ Ein Problem besteht darin, dass die Handelsgewinne sehr ungleich anfallen und verteilt werden (Sinn 2005, S. 9). Deutsche Arbeitskraf¨ te profitieren von den Handelsgewinnen immer weniger, wenn immer großere Anteile der deutschen Ausfuhren aus einer auslandischen ¨ ¨ Wertschopfung stammen. 1995 waren das 31 % und zehn Jahre spa¨ ¨ ter (2005) bereits 42 %. Die Erfolge der Globalisierung der Weltwirtschaft und die Vorteile, die insbesondere Deutschland daraus gezogen hat, sind also keinesfalls langfristig gesichert. Ein liberales Weltwirtschaftssystem ist es wert verteidigt zu werden, zu groß sind die Vorteile, die alle Beteiligten langfristig daraus ziehen konnen. ¨
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Deutschland als „ExportWeltmeister“
Ungleich verteilte Handelsgewinne
HA NDE L U ND GLOBA LI SIE RUN G
Fragen und Anregungen ¨ ¨ • Die okonomische Entwicklung Europas in der fruhen Neuzeit wur¨ ¨ de wesentlich durch außereuropaische Ressourcen gefordert. Worin ¨ und auf welche Weise wurden diese fur ¨ Europa lagen die Beitrage mobilisiert? • Ist die internationale Arbeitsteilung tatsachlich fur ¨ ¨ alle Volkswirtschaften von Nutzen? • Wodurch unterscheidet sich das internationale Außenwirtschaftsregime nach dem Zweiten Weltkrieg von dem nach dem Ersten Weltkrieg und welche unterschiedlichen Folgen sind daraus erwachsen? ¨ ¨ • Lasst sich der deutsche Außenhandel wahrend des gesamten 19. Jahrhunderts als „Motor“ des Wirtschaftswachstums ansehen oder lassen sich deutlich unterscheidbare Perioden beobachten?
Lektüreempfehlungen Übersichten
¨ • Peter Kriedte: Spatfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien ¨ der europaischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis zum Ausgang ¨ 1980. Informative Darstellung des 18. Jahrhunderts, Gottingen der weltwirtschaftlichen Beziehungen vor der Industrialisierung. • Kevin H. O’Rourke / Jeffrey G. Williamson: Globalization and History: the Evolution of a Nineteenth Century Atlantic Economy, Cambridge / Mass. u. a. 1999. Beste Darstellung der Globalisierung aus historischer Perspektive. • Cornelius Torp: Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Gottingen 2005. 1 ¨ Darstellung der Expansion der deutschen Außenwirtschaft im 19. Jahrhundert mit Bezug zur Entwicklung der Weltwirtschaft.
Forschung
• Knut Borchardt: Globalisierung in historischer Perspektive (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 2 / 2001), Munchen 2001. Die moderne Globalisierung in einer ¨ umfassenden historischen Perspektive. • Richard Tilly: Globalisierung aus historischer Sicht und das Lernen ¨ ¨ zur Sozial- und Wirtschaftsaus der Geschichte (Kolner Vortrage ¨ 1999. Die Globalisierung des 19. Jahrhungeschichte 41), Koln derts im Vergleich zur aktuellen Entwicklung.
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13 Staat und Wirtschaftsordnung
Abbildung 32: Abraham Bosse: Leviathan, Frontispiz von: Thomas Hobbes, Leviathan (1651)
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STA AT UN D WI RT SCHA FT SOR DN UN G
Der uber allem thronende allgewaltige Herrscher, versehen mit Bi¨ schofsstab und Schwert, den Insignien der geistigen und weltlichen Macht, reprasentiert die Allmacht des Souverans, die Thomas Hobbes ¨ ¨ in seinem Hauptwerk „Leviathan“ (1651) als Losung fur ¨ ¨ die Gewahrleistung von staatlicher Ordnung und individueller Sicherheit ¨ empfiehlt. Den Hintergrund fur ¨ die staatstheoretischen Ausfuhrungen ¨ des Gelehrten bilden die chaotischen Erfahrungen des englischen Bur¨ gerkrieges (1642–49), in dem ein gesetzloser Zustand, der „Natur4 zustand“, herrschte, dem nur durch einen staatlich verordneten Zwang zum Frieden erfolgreich zu begegnen sei, so Hobbes. Als Symbole des Widerspruchs zwischen chaotischem Naturzustand und geordnetem Staatswesen bedient sich Hobbes zweier Fabeltiere der judisch-christlichen Mythologie, des Behemoth und des Leviathan ¨ (Hiob 38–40). Ersterer, ein Landungeheuer, reprasentiert den Natur4 ¨ zustand, in dem ein Krieg aller gegen alle tobt (bellum omnium contra omnes) und der Mensch als des Menschen Wolf (homo homini lupus) erscheint – so die klassischen Formulierungen bei Hobbes. Dem muss daher ein mit uneingeschrankter Gewalt regierender Sou¨ veran, ¨ der Leviathan, ein biblisches Seeungeheuer, entgegen gesetzt werden, der den Menschen zum Frieden zwingt und Sicherheit garantiert. Eine derartige Vorstellung vom Staat, gewonnen aus den traumatischen Burgerkriegserfahrungen in der fruhen Neuzeit, scheint kaum ¨ ¨ geeignet, einen Rahmen fur ¨ eine selbstbestimmte produktive Wirtschaftstatigkeit des Menschen zu geben. Nicht der absolutistische ¨ Staat, in dem die individuelle Freiheit der Sicherheit geopfert wird, bildet daher das Modell fur ¨ die entstehende Marktgesellschaft, sondern eine staatliche Ordnung, die dem individuellen Erwerbsstreben der Menschen hinreichend Raum lasst. Eine solche Staatsordnung ¨ begann sich in Europa seit dem 18. Jahrhundert allgemein zu entwickeln. Auf diesem Weg waren zahlreiche Reformen und Neuerungen in Gesellschaft und Staat von Noten. ¨
13.1 Staat und Wirtschaft nach 1648 13.2 Die Rolle des Staates in der deutschen Wirtschaft im 19. Jahrhundert 13.3 Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik im 20. Jahrhundert
192
STA AT UN D WI RT SCH AFT N ACH 16 48
13.1 Staat und Wirtschaft nach 1648 Die Entstehung des modernen Staates und die Nationenbildung in der fruhen Neuzeit sind nicht zuletzt auch vom Bedurfnis der Men¨ ¨ schen nach Sicherheit und nach dem Schutz vor Willkur ¨ bestimmt worden (Fehrenbach 2007). In der vorneuzeitlichen Gesellschaft und bis weit in die Geschichte zuruckreichend hatten sich immer wieder ¨ Situationen eingestellt, in denen die herrschenden Ordnungsregeln, seien sie durch die geistliche oder die weltliche Obrigkeit gesetzt, versagten und Willkur ¨ oder gar Chaos Raum griff. Besonders verheerend waren diese Erfahrungen wahrend des Dreißigjahrigen Krieges, ¨ ¨ als alle Regeln außer Kraft gesetzt zu sein schienen. Der Westfalische ¨ Frieden von 1648 versuchte auf der zwischenstaatlichen Ebene einen neuen Rahmen fur ¨ Europa zu setzen, und innerhalb der Staaten wurden Standesystem und Feudalverfassung neu befestigt. ¨ Das galt auch fur ¨ die deutschen Territorien. Die wesentlichen Entwicklungen wurden dabei von den neu entstehenden Einzelstaaten getragen. Die fortschreitende Verrechtlichung der sozialen Beziehungen fuhrte zu einer dichten Regulierung, in die alle Menschen, reich ¨ und arm, hoch oder niedrig, eingebunden waren. Stadt und Land bildeten dabei nicht nur sehr unterschiedliche Lebensbereiche, sondern begrundeten auch verschiedene Rechtsraume. Auf dem Lande be¨ ¨ stand eine an die Bodenrechte, das Lehen (feudum), gebundene Rechtsordnung, die man gemeinhin als Feudalismus bezeichnet, wah¨ rend in der Stadt eine vielfach geschichtete, standisch genannte Ord¨ nung vorherrschte. Die landliche Sozialordnung war gepragt ¨ ¨ durch die Eigentumsrechte an Grund und Boden. Die Folge war eine Scheidung zwischen Grundherren und Hintersassen, den mehr oder minder abhangigen Landbewohnern. Die Grundherren hatten das aus¨ schließliche Recht am Boden und sie gaben dieses in Form von differenzierten Nutzungsrechten an ihre Hintersassen weiter. Daraus entwickelte sich im Laufe der Zeit eine vielfach gegliederte landliche ¨ Sozialordnung. In den preußischen Mittel- und Ostprovinzen entschied z. B. der Grundherr als Eigentumer der okonomischen Zentralressource einer ¨ ¨ Agrargesellschaft, dem Boden, uber die okonomischen Chancen der ¨ ¨ Landbevolkerung. Deren Nutzungsrechte waren dabei sehr unter¨ schiedlich ausgepragt. Die Bodenbindung der Hintersassen, mit der ¨ verschiedene Formen der Leibeigenschaft verbunden waren, sowie weitere Rechte des Grundherrn schrankten die personlichen Frei¨ ¨ heitsrechte eines großen Teils der Landbevolkerung sehr weit ein. So ¨
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Die Entstehung moderner Staaten
Feudalismus
Ländliche Rechtsordnung
Unterschiedliche Nutzungsrechte am Boden
STA AT UN D WI RT SCHA FT SOR DN UN G
Herrenrechte
Städtische Hierarchien
Gewachsene Wirtschaftsordnung
Institutioneller Wandel
musste z. B. eine Heirat durch den Grundherrn genehmigt werden (Heiratskonsens). Zudem unterwarf die preußische Wehrverfassung, das Kantonalsystem, die wehrpflichtigen Landbewohner der Wehrhoheit ihres Grundherrn. Dieser war daruber hinaus auch als Ge¨ richtsherr im Rahmen der unteren Gerichtsbarkeit sowie als Patronatsherr in Kirchenfragen gegenuber seinen Hintersassen mit Herren¨ rechten ausgestattet (Henning 1978a, S. 45–48). Kurzum: In allen 4 Lebensbreichen war die landliche Sozialordnung durch die Herr¨ schaft des Grundherrn entscheidend gepragt. Fur ¨ ¨ den einfachen Landbewohner gab es kein Entrinnen. Dies galt in ahnlichen Formen ¨ fur ¨ alle deutschen Territorien. Nur Flucht in die angeblich freie Stadt schien einen Ausweg zu bieten. Doch auch dort wurde klar zwischen Stadtburgern mit ent¨ sprechenden Burgerrechten und Inwohnern ohne dieselben unter¨ schieden. Der Anteil der Stadtbewohner ohne Burgerrechte war im¨ mer beachtlich gewesen und wuchs im 18. Jahrhundert weiter an (Gall 1996, S. 22–37). Aber auch die Stadtburger selbst waren viel3 ¨ fach geschichtet und mit unterschiedlichen Rechten ausgestattet, was gelegentlich zu schweren Konflikten fuhrte. An der Spitze der stadti¨ ¨ schen Hierarchie standen die Patrizier, gefolgt von den Großkaufleuten. Darunter standen die Handwerker mit ihren Zunften und die ¨ Kramer, welche in Gilden organisiert waren. Auch in den Stadten ¨ ¨ waren also die Moglichkeiten okonomischer Betatigung und damit ¨ ¨ ¨ die Lebenschancen streng reguliert. Die vormoderne Gesellschaft besaß demnach eine Wirtschaft mit hoher Regulierungsdichte. Von Freiheit im Erwerbsleben ließ sich keinesfalls sprechen. Diese Wirtschaftsordnung hatte sich uber viele ¨ Jahrhunderte herausgebildet und verfestigt und entsprach offenbar den gewachsenen Verhaltnissen. ¨ Am Ende des 18. Jahrhunderts anderten sich die Bedingungen ¨ grundlegend. Gravierende, ja revolutionare in Gesell¨ Veranderungen ¨ schaftsordnung, Wirtschaftsverfassung und Rechtssystem schienen unausweichlich. Die Industrielle Revolution war weit mehr als nur eine Veranderung der Produktionsweise. In England hatten sich die ¨ Veranderungen des institutionellen Rahmens der Wirtschaftstatigkeit ¨ ¨ allmahlich herausgebildet, wahrend Deutschland dieser Entwicklung ¨ ¨ noch hinterherhinkte. Insbesondere in Preußen schuf jedoch die Staatskrise von 1806 einen dringenden Bedarf zum institutionellen Wandel, und die folgenden Reformen lassen sich, ahnlich wie nach ¨ dem Zusammenbruch des Sozialismus 1989, als „Perestroika a` la Prusse“ (Tilly 1996, S. 147–160) bezeichnen. 1
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STA AT UN D WI RT SCH AFT N ACH 16 48
Die Veranderungen begannen in Preußen bzw. Deutschland mit ¨ dem beruhmten Oktoberedikt vom 9. Oktober 1807. In diesem fin¨ det sich in § 12 1 folgender Satz: „Nach dem Martinstage 1810 gibt es nur freie Leute“. Damit war die Leibeigenschaft aufgehoben. Zugleich wurden in diesem Edikt weitere Maßnahmen angekundigt, so ¨ die „Freiheit des Guterverkehrs“, die „Freie Wahl des Gewerbes“ ¨ und die Reform der landlichen Agrarverfassung. Die Umsetzung die¨ ser Maßnahmen nahm allerdings noch einen betrachtlichen Zeitraum ¨ in Anspruch, auch kam es zu gravierenden Konflikten mit den Betroffenen. Das Projekt der Agrarreformen zog sich z. B. noch bis etwa 1850 hin (Dipper 1980, S. 9–37). Es umfasste neben der Aufhebung der personlichen Bindungen noch die Klarung der Rechtsver¨ ¨ haltnisse zwischen den Grundherren und ihren Hintersassen, u. a. die ¨ Entlastung von Diensten (1807), die Regulierung der Bodennutzung (Verordnungen 1808, 1809, 1810; Edikt 1811; Deklaration 1815) sowie die Ablosung von Zinspflichten (Ordnung 1821, Gesetz 1850). ¨ Daruber hinaus waren die Verhaltnisse zwischen den nunmehr „frei¨ ¨ en“ und Grund besitzenden Bauern zu regeln, sowohl was die Separation vom Gutsland (1811) als auch was die Teilung der Gemeinheiten (1821) und die Flurbereinigung, also die Neuordnung der landwirtschaftlichen Flachen betraf. Die Grundherren gaben ihre Rechte ¨ zudem nicht ohne Entschadigungen auf. Um die Hohe der Ablo¨ ¨ ¨ sungszahlungen und ihre Dauer gab es z. T. erhebliche Auseinandersetzungen und ihre Abwicklung zog sich in einigen Fallen bis zum ¨ Beginn des 20. Jahrhunderts hin. Ein komplexes Regelwerk war an die Stelle der alten Agrarverfassung getreten. Ziel war es, eine freie Wirtschaftstatigkeit der Land¨ bewohner zu ermoglichen. Der Erfolg war beachtlich. Produktion ¨ und Produktivitat ¨ des Agrarsektors in Preußen stiegen gewaltig an (Harnisch 1984, S. 204–252). Der Index der Agrarproduktion ver2 doppelte sich zwischen 1800 / 10 und 1846 / 50 und die Arbeitsproduktivitat sich im gleichen Zeitraum ¨ in der Landwirtschaft erhohte ¨ um ca. 60 % (Helling 1966, S. 129–141). Die anderen deutschen 1 Staaten durchliefen eine ahnliche Entwicklung wie Preußen, auch ¨ wenn dort die Reformen z. T. spater einsetzten und durch staatliche ¨ Zuschusse erleichtert wurden. ¨ Auch im Bereich des Gewerbes stellte die uberkommene Gewerbe¨ verfassung in Deutschland, ahnlich wie die Agrarverfassung, zu Be¨ ginn des 19. Jahrhunderts ein Entwicklungshemmnis auf dem Weg zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft dar. Gleichwohl hatte das alte Handwerk wesentliche Veranderungen durchschritten und sich ¨
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Oktoberedikt
Agrarreform
Entschädigung der Grundherren
Erhöhte Agrarproduktion und -produktivität
STA AT UN D WI RT SCHA FT SOR DN UN G
Wandel der Gewerbeverfassung
Expansion der Gewerbeproduktion
Handwerkerbewegung
Handwerkskammern
als anpassungsfahig an die neue Zeit erwiesen (Abel 1978). Gewer¨ bebeschrankungen waren umgangen oder außer Kraft gesetzt worden ¨ und das Land war im Rahmen der Ausdehnung einer heimgewerblichen Gewerbeproduktion, der Protoindustrialisierung, weitgehend gewerblich durchdrungen worden, ein Prozess, den man auch Rustikalisierung des Gewerbes nennt (Kriedte u. a. 1978). Eine merkantilistisch orientierte Gewerbeforderung hatte zudem neue Produk¨ tionsmoglichkeiten, z. B. Manufakturen geschaffen. Der Wandel der ¨ Gewerbeverfassung war also langst auf dem Weg, dennoch entspra¨ chen die Ergebnisse noch nicht den Erfordernissen der neuen Wirtschaftsweise. Weitere Gewerbereformen waren dringend erforderlich. Auch hier machte die Ankundigung im Edikt vom 9. Oktober 1807 ¨ den Anfang, sehr bald gefolgt vom Gewerbesteueredikt vom 2. November 1810 und dem Gesetz uber die polizeilichen Verhaltnisse im ¨ ¨ Gewerbe vom 7. September 1811, das den Zunftzwang aufhob und die allgemeine Gewerbefreiheit einfuhrte. Damit wurden Monopole ¨ durchlochert und standische Privilegien beseitigt (Vogel 1983). Eine ¨ ¨ Expansion der Gewerbeproduktion in zahlreichen alten und neuen Bereichen, wie z. B. in der Leinenproduktion oder bei der Aufnahme der Produktion von Baumwollgeweben war die unmittelbare Folge. Ähnliches erfolgte wiederum zeitgleich in den ubrigen deutschen Staaten. In¨ wieweit der Aufschwung der Gewerbeproduktion in Deutschland nach 1815 allerdings der Gewerbefreiheit zuzurechnen oder einem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung geschuldet ist, ist umstritten und nur schwer zu entscheiden (Henning 1978b, S. 147–177). 1 Zeitgleich formierte sich eine Handwerkerbewegung, die zu den vertrauten Verhaltnissen zuruckkehren wollte. Sie suchte die all¨ ¨ gemeine Gewerbefreiheit durch die Einfuhrung der Meisterprufung ¨ ¨ als Befahigungsnachweis zur Fuhrung eines Handwerksbetriebs und ¨ ¨ die Zwangsmitgliedschaft in einer Zunft einzuschranken. Diese Be¨ wegung war zunachst nur maßig erfolgreich, langfristig gelang es je¨ ¨ doch, mit der Zuweisung der Aufsicht uber das Lehrlingswesen an ¨ die freiwilligen Zunfte (1881), der Errichtung von Handwerkskam¨ mern (1897), der Einfuhrung des „kleinen“ Befahigungsnachweises ¨ ¨ fur ¨ die Lehrlingsausbildung (1908) und des „großen“ Befahigungs¨ nachweises zur Fuhrung eines Meisterbetriebes (1934) das Rad der ¨ Geschichte noch einmal zuruckzudrehen (Pierenkemper 1994, ¨ S. 61–78). Doch das Handwerk hatte bis dahin langst seinen Cha7 ¨ rakter von einem Produktions- zu einem Wartungs- und Reparaturgewerbe verandert und gesamtwirtschaftlich entscheidend an Bedeu¨ tung verloren.
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DIE RO LLE DES STAATES IN DER DE U TSCHEN WIRTS CHAFT
Industrie und Dienstleistungen pragten in zunehmendem Maße ¨ weit starker das Wirtschaftsleben in Deutschland als Handwerk ¨ und Landwirtschaft. Deren Bedingungen waren in diversen Gewerbeordnungen geregelt, von denen in Preußen die erste 1845 in Kraft trat. Diese blieb mit entsprechenden Novellierungen auch fur ¨ den Norddeutschen Bund und spater fur ¨ ¨ das Deutsche Kaiserreich gultig. Fur ¨ ¨ einige Gewerbezweige gab es besondere Regulierungen, die in Spezialgesetzen, z. B. fur ¨ den Bergbau in den Bergordnungen bzw. 1854 im Allgemeinen Preußischen Berggesetz, ihren Ausdruck fanden. Auch gab es besondere Regulierungen fur ¨ bestimmte Sachverhalte, z. B. die Arbeitszeiten in den Fabriken, die bereits 1839 fur wur¨ Frauen, Jugendliche und Kinder gesetzlich beschrankt ¨ den. Kurzum: Nicht absolute Freiheit oder gar Willkur ¨ bestimmten die Wirtschaftsverfassung nach Überwindung des Feudalsystems und der Standeordnung. Vielmehr war eine neue Ordnung an die Stelle der ¨ alten getreten. Diese neue Ordnung entsprach offenbar weit mehr den Bedingungen einer dynamischen, kapitalistischen Marktwirtschaft als es die alte je hatte tun konnen. Und der Erfolg war uberra¨ ¨ ¨ gend: In weniger als einem Jahrhundert wurde Deutschland in eine moderne Industriewirtschaft transformiert und konnte zu den vorausgeeilten Volkswirtschaften aufschließen.
Gewerbeordnungen für Industrie und Dienstleistungen
Erfolge der neuen Ordnung
13.2 Die Rolle des Staates in der deutschen Wirtschaft im 19. Jahrhundert Deutschland ist als Nationalstaat erst 1871 endgultig begrundet wor¨ ¨ den. Bis 1806 hatte das „Alte Reich“ bestanden, welches in den Wirren der napoleonischen Zeit endgultig verfallen und im Deutschen ¨ Bund 1815 einen ganzlich veranderten Nachfolger gefunden hatte. In ¨ ¨ diesem betrieben 39 Einzelstaaten eine eigenstandige und z. T. konfli¨ gierende Politik, welche dann uber den Norddeutschen Bund von ¨ 1866 schließlich zu einer kleindeutschen, d. h. unter Ausschluss Österreichs erfolgten Grundung des Deutschen Reichs fuhrte. ¨ ¨ Entsprechend lasst sich vor 1871 in den unkoordinierten Maßnah¨ men verschiedener Obrigkeiten kaum eine konsistente Wirtschaftspolitik und ein umfassendes Ordnungssystem entdecken (Fischer 1976, S. 287–304). Das gilt auch fur 3 ¨ Preußen, wo z. B. Friedrich II. bis zu seinem Tode 1786 eine Merkantilpolitik verfolgte, die den Be-
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Gründung des Deutschen Reichs
Preußische Wirtschaftspolitik
STA AT UN D WI RT SCHA FT SOR DN UN G
Staatsausgaben in Preußen
Investitionen in Infrastruktur
Staatliche Einnahmen
durfnissen des entstehenden Industrialismus nicht mehr entsprach. ¨ Immerhin hatte er am Ende seiner Regentschaft ein einigermaßen stabiles Wahrungssystem und eine stabile Finanzverfassung hinterlassen, ¨ auf denen die weitere Entwicklung aufbauen konnte. Zwischen 1792 und 1815 gerieten die offentlichen Finanzen wegen der zahlreichen ¨ kriegerischen Verwicklungen Preußens ganzlich aus dem Gleichge¨ wicht (Ullmann 2005, S. 22). Dies legte dem Staatshandeln nach 1815 enge Fesseln an und eroffnete der fruhmodernen Gewerbefor¨ ¨ ¨ derung, die in merkantilistischer Tradition Subventionen, Kredite und Privilegien gewahrte, nur geringen Spielraum. Zwar wuchsen ¨ auch in Preußen die Staatsausgaben, doch gemessen an der Bevolke¨ rungsentwicklung und damit an der Zahl der potenziellen Steuerzahler sanken diese nominell sogar zeitweilig: Betrugen sie 1821 pro Kopf noch 7,5 Taler, waren es 1874 pro Kopf nur noch 5,8 Taler (Tilly 1980b, S. 60). Blickt man auf die Struktur der preußischen Staatsausgaben in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts, so zeigt sich eine Umschichtung ¨ der Ausgaben zugunsten der Erwerbsforderung. Militarausgaben und ¨ ¨ Schuldendienst stagnierten hingegen und die Verwaltungsausgaben konnten sogar gesenkt werden. (> ABBILDUNG 33) Es wurden wichtige Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere in den Bau eines Eisenbahnnetzes getatigt. Dabei baute und betrieb der Staat nur einen ¨ Teil der Bahnen, die okonomisch weniger lukrativ schienen, z. B. die ¨ Ost-West-Bahn, selbst. Die meisten Eisenbahnlinien wurden durch private Aktiengesellschaften errichtet, der Staat unterstutzte dies al¨ lenfalls durch Zinssubventionen und -garantien sowie durch Beteiligungen (> KAPITEL 6). ¨ Auch auf der Einnahmeseite anderte sich etwas im preußischen Staatsbudget. Die nichtsteuerlichen Einnahmen, vornehmlich also
Ausgabensparte Militär Schulden Erwerb* Verwaltung
1821
1829
1838
1847
1849
1856
1866
27 13 16 44
26 14 16 44
31 13 16 40
28 8 19 44
29 8 27 36
27 11 30 32
29 11 31 29
¨ Bergwerke, Domanenlander ¨ ¨ ¨ * Schließt Ausgaben fur und Walder, Eisenbahnen, die Post und ¨ Handel und offentliche ¨ Ausgaben des Ministeriums fur Arbeiten ein. Abbildung 33: Zusammensetzung der Staatsausgaben in Preußen 1826–66 (in % aller Ausgaben) (Tilly 1980b, S. 61)
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DIE RO LLE DES STAATES IN DER DE U TSCHEN WIRTS CHAFT
staatliche Erwerbseinkunfte, gewannen gegenuber den Steuern an Be¨ ¨ deutung: Sie stiegen zwischen 1821 und 1866 von einem Drittel auf die Halfte der Staatseinnahmen (Tilly 1980b, S. 61). Zudem lasst ¨ ¨ sich eine außerst vorsichtige Schuldenpolitik des preußischen Staates ¨ beobachten. Das hatte gewiss ebenfalls damit zu tun, dass eine Erho¨ hung der Staatsschuld nach dem Staatsschuldengesetz von 1820 die Einberufung des Reprasentationsorgans der Reichsstande erforderlich ¨ ¨ gemacht hatte. Dies hatte eine Bewilligung hoherer Schulden von der ¨ ¨ ¨ Gewahrung einer parlamentarischen Zustimmung abhangig gemacht, ¨ ¨ was der preußische Konig strikt ablehnte. So reduzierte sich die ¨ Staatsschuld bis 1848 sogar deutlich. Auch die Ausgabe von Staatspapiergeld, die sogenannten Tresorscheine und die Notenemission durch die Preußische Bank konnte hier kaum Ersatz schaffen (> ABBILDUNG 34). Eine expansive Ausgabenpolitik des preußischen Staates lasst sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts demnach kaum kons¨ tatieren. Die Staatsnachfrage fiel als Motor der Forderung des ge¨ samtwirtschaftlichen Wachstums weitestgehend aus. Ganz im Gegenteil sieht Richard Tilly im Verhalten des Staates wahrend der ¨ Industrialisierung Preußens eher einen hemmenden Faktor, weil dieser im Munzwesen und bei der Papiergeldemission zogerlich blieb ¨ ¨ und damit das Geldangebot fur ¨ die expandierende Wirtschaft unno¨ tig begrenzte (Tilly 1980b, S. 55–64). Die Wirtschaft musste daher 6 selbst tatig werden, um eine nicht ausreichende Geldversorgung zu ¨ kompensieren. Sie tat dies durch die Grundung privater Notenban¨ ken, der sogenannten Zettelbanken, und die Ausdehnung des Wechselverkehrs und Wechseldiskonts. Eine aktive Rolle des Staates bei der Fuhrung der modernen ¨ Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert ist trotz aller Maßnahmen zur Gewerbeforderung kaum zu konstatieren. Am bedeutsamsten waren ¨
Jahr
%
Papiergeld
1820 1833 1848 1855 1865
206,6 163,8 138,1 227,7 258,7
11,2 17,7 30,8 20,8 15,8
Notenumlauf*
0,7 10,5 63,4
Gesamt 217,8 181,5 169,6 259,0 347,9
Schließt einen Teil der Staatsverschuldung aus, da die Passiva einiger Staatsinstitutionen wie z. B. die Seehandlung hier nicht erfasst werden. * Abzuglich ¨ der Bargeldbestande ¨ der Preußischen Bank Abbildung 34: Preußische Staatsschulden, 1820–65 (in Millionen Thaler) (Tilly 1980b, S. 63)
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Staatsschuld Preußens
Private Notenbanken
STA AT UN D WI RT SCHA FT SOR DN UN G
Interventionsstaat
Verhältnis von Reich und Einzelstaaten
Protektionistische Außenwirtschaftspolitik
noch die Beitrage ¨ zur Bereitstellung der materiellen und immateriellen Infrastruktur, wobei die Eisenbahninvestitionen fur ¨ ersteres und Auf- und Ausbau eines differenzierten Bildungs- und Ausbildungssystems fur ¨ letzteres wohl die wichtigsten Beispiele darstellen. Dies anderte sich jedoch mit fortschreitender Industrialisierung bis ¨ gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Immer mehr traten Elemente eines direkt in den Wirtschaftskreislauf eingreifenden Interventionsstaats hervor. Mit dem Abschluss der Agrarreformen, der weitgehenden Durchsetzung der Gewerbefreiheit und der Etablierung eines internationalen Freihandelssystems in den 1860er-Jahren (> KAPITEL 12) hatte der Staat sich weitestgehend aus der Wirtschaft zuruckgezogen, doch ¨ das anderte sich nach 1871 wieder. Und dies, obwohl das neu ge¨ schaffene Deutsche Reich im Rahmen seiner Finanzpolitik nur geringe Spielraume hatte, denn direkte Reichssteuern wurden nicht ¨ erhoben, dies scheiterte am Widerstand der Einzelstaaten. Die Finanzhoheit verblieb weitgehend bei den Einzelstaaten, das Reich wurde zu deren „Kostganger“. Aber auch in den Einzelstaaten, in ¨ den 22 Flachenstaaten, drei Stadtstaaten und im Reichsland Elsass¨ Lothringen, blieben die Moglichkeiten fur ¨ ¨ staatliches Handeln in der Wirtschaftssphare ¨ begrenzt und die Mittel knapp. Das „arme Reich“ (Ullmann 2005, S. 56) musste seine wachsenden Ausgaben aus wenigen Verbrauchs- und Verkehrssteuern, den Zollen und den Ertragen offentlicher Unternehmen wie der Post- und ¨ ¨ ¨ Telegrafenverwaltung finanzieren. Daruber hinaus erhielt es von den ¨ Einzelstaaten begrenzte Zuschusse und auch die Kreditaufnahme ¨ spielte am Ende des 19. Jahrhunderts eine immer großere Rolle. Als ¨ neue Aufgabe wuchs dem Staat der Ausbau der Infrastruktur zu. Daruber hinaus schuf er neue, quasi halbstaatliche Institutionen, soge¨ nannte Parafisci, die im Zuge des Auf- und Ausbaus eines Sozialversicherungssystems die Grundrisiken des Lebens fur ¨ die unteren Klassen absichern sollten (Berufsgenossenschaften, Versicherungsanstalten u. a.) Auch durch regulative ¨ (Syrup 1957, S. 126–142). 1 Maßnahmen auf gesetzlicher Basis, z. B. durch das Arbeitsschutzgesetz, griff der Staat zunehmend in den Wirtschaftskreislauf ein und entwickelte sich immer mehr zu einem Interventionsstaat, der auch Sorge fur ¨ das wirtschaftliche Wohl des Landes und die Lebensbedingungen seiner Bevolkerung ubernahm (Ritter 1991). Dazu zahlte ¨ ¨ ¨ auch die insbesondere nach der Zolltarifreform von 1902 vollzogene Wende zu einer protektionistischen Außenwirtschaftspolitik, die den besonderen Schutz bedrohter Wirtschaftszweige, vor allem der Landwirtschaft und der Schwerindustrie beabsichtigte.
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WIRTSC HA FTS ORDN UN G UN D WI RT SCH AFT SPOL IT IK
Alles in allem zeigte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Umkehr der Entwicklung in Deutschland. Das Deregulierungsprogramm mit den durchgreifenden Reformen des fruhen Jahrhun¨ derts trug zum Durchbruch des Industrialismus in einer liberalen Phase zur Mitte des Jahrhunderts entscheidend bei. Doch mit den Problemen einer entwickelten Industriegesellschaft, die sich am Ende des Jahrhunderts abzeichneten, setzte sich erneut eine Tendenz zu ¨ verstarkten Staatseingriffen in den Wirtschaftsablauf durch (Boch 2004).
13.3 Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik im 20. Jahrhundert Der Beginn des Ersten Weltkriegs setzte der liberalen Phase der deutschen Volkswirtschaft endgultig ein Ende. Man hatte offenbar bei ¨ der Obersten Heeresleitung mit einem nur kurzen Krieg gerechnet und auf umfangreiche okonomische Kriegsvorbereitungen verzichtet. ¨ Das erwies sich bald als vollige Fehleinschatzung und nach einem ¨ ¨ kurzen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu Beginn des Krieges – aufgrund unkoordinierter Einberufungen – bestimmte bald der Mangel auf allen Ebenen das Bild der Wirtschaft. Man suchte einen Ausweg aus diesem Dilemma in einer straffen Organisation und Militarisierung der deutschen Wirtschaft. Die Militars ¨ in den Wehrbezirkskommandos ubernahmen die Koordination der wirtschaftlichen Aktivita¨ ¨ ten und bestimmten die Zuweisung von Rohstoffen und Arbeitskraf¨ ten. Dazu dienten die Grundung von Kriegsrohstoffgesellschaften ¨ und ab 1916 die Einfuhrung eines allgemeinen Arbeitszwanges fur ¨ ¨ alle mannlichen Staatsburger (Hilfsdienstgesetz). Z. T. wurden eigene ¨ ¨ Kriegsgesellschaften gegrundet, um den Bedurfnissen der Kriegswirt¨ ¨ schaft besser entsprechen zu konnen. Von diesen stark burokratisier¨ ¨ ten Maßnahmen profitierten vor allem die großen Rustungsbetriebe, ¨ deren Investitionen und Gewinne gewaltig anstiegen. Die kleineren Unternehmen und solche des zivilen Sektors waren die Leidtragenden, und die Bevolkerung litt große Not bis hin zum Hunger, beson¨ ders dramatisch im sogenannten Steckrubenwinter 1916 / 17 (Feld¨ man 1985). Es wundert daher kaum, dass mit Ende des Krieges und der Ausrufung der Republik Chaos und Revolution an zahlreichen Orten in Deutschland um sich griffen. Die Auflosung der staatlichen ¨ Ordnung schuf ungewohnlichen Arrangements Moglichkeiten. So ¨ ¨
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Erster Weltkrieg
Kriegswirtschaft
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Stinnes-LegienAbkommen
Weimarer Republik
Währungsreform
Reparationszahlungen
fanden die Vertreter der Wirtschaft und der gemaßigten Arbeiter¨ schaft eine Übereinkunft, in der den Bedurfnissen der Wirtschaft ¨ wie auch denen der Gewerkschaften entsprochen wurde. Die Arbeitgeber erhielten Schutz vor Verstaatlichung, die Gewerkschaften konnten den Acht-Stunden-Tag und weitere sozialpolitische Zugestandnisse erreichen. Zudem wurde im „Stinnes-Legien-Abkommen“ ¨ die Errichtung einer „Zentralarbeitsgemeinschaft“ von Wirtschaftsund Gewerkschaftsvertretern vereinbart, einer quasi privaten Ein¨ richtung, die wesentlich zur Stabilisierung der offentlichen Ordnung und zur Wiederingangsetzung einer Friedenswirtschaft beitrug (> KAPITEL 3.2). Die Begrundung einer neuen staatlichen Ordnung in Gestalt der ¨ Weimarer Republik erfolgte erst spater. Diese Republik und ihre ¨ Wirtschaft standen von Beginn an vor schweren Aufgaben. Dazu zahlte zunachst die Wiederherstellung des Geldwertes, der durch eine ¨ ¨ Politik der Finanzierung des Krieges auf Kredit untergraben worden war, was bereits 1918 einen ersten Inflationsschub zur Folge hatte. Die junge Republik mit ihren zahllosen Aufgaben der Demobilisierung und Schaffung neuer staatlicher Institutionen nach dem Ende des Kaiserreichs war kaum in der Lage, hier gegenzusteuern, nicht zuletzt, da viele die Republik grundsatzlich ablehnten und bekampf¨ ¨ ten. So setzte sich die Politik des Schuldenmachens zunachst fort und ¨ auch eine bald darauf einsetzende relative Stabilisierung, gemessen in Inflationsrate und Entwicklung des Außenwerts der Mark, erwies sich nicht als nachhaltig. Eine Stabilisierung gelang erst nach einer Wahrungsreform mit der Einfuhrung der Rentenmark 1923 und ¨ ¨ schließlich 1924 der Reichsmark, der eine dramatische Hyperinflation vorausgegangen war (Holtfrerich 1980b). Zu den großen Schwierigkeiten hatte auch die Reparationspolitik der alliierten Siegermachte des Ersten Weltkriegs beigetragen. Diese ¨ hatten dem Deutschen Reich eine schwere Burde von umfangreichen ¨ Reparationszahlungen auferlegt, die zunachst unter den Bedingungen ¨ einer galoppierenden Inflation relativ leicht zu tragen, nach der Wah¨ rungsstabilisierung aber neu zu fixieren waren. Unzweifelhaft befand sich der Staat in einer durch die Rahmenbedingungen gesetzten Zwangslage, die sich am Ende dieser Epoche durch die Weltwirtschaftskrise 1929 noch verscharfte. Auch der Young-Plan von 1929, ¨ mit dem eine Kommerzialisierung der Reparationsschulden versucht wurde, verscharfte die Situation weiter, weil nun die Reparationszah¨ lungen gegenuber dem privaten kommerziellen Schuldendienst star¨ ¨ ker in den Vordergrund ruckten und damit zum Versiegen auslandi¨ ¨
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scher Kapitalzuflusse in die deutsche Volkswirtschaft fuhrte. Diese ¨ ¨ hatten seit 1925 immerhin ca. 25 Milliarden Reichsmark betragen. Deutschland geriet in eine Schuldenkrise, die sich zu einer Finanzkrise auswuchs und in der Weltwirtschaftskrise den Staat praktisch zahlungsunfahig machte (Ritschl 2002). An den Versuchen zur Sanie¨ rung des Haushaltes ist dann die Weimarer Koalition letztendlich gescheitert, das folgende Prasidialregime bereitete den Weg zur Macht¨ ubernahme durch die Nationalsozialisten. ¨ Diese setzten von Anfang an andere Prioritaten des staatlichen ¨ Handelns und eine geordnete Finanzsituation gehorte gewiss nicht ¨ dazu. So erhielten Arbeitsforderung und Aufrustung bald allerhoch¨ ¨ ¨ sten Vorrang. Lastige Restriktionen wie Gesetze und internationale ¨ Vertrage, die einer solchen Politik entgegenstanden, wurden durch ¨ dirigistische Maßnahmen ausgehebelt. Die außenwirtschaftliche Flanke wurde durch Devisenbewirtschaftung, also dadurch, dass Verfugungen uber auslandische Zahlungsmittel einer staatlichen Kont¨ ¨ ¨ rolle unterlagen, geschlossen, der Zugriff auf nahezu unbegrenzten Kredit durch Staatspapiere und Änderungen bei den Deckungsvorschriften der Notenbank gewahrleistet und die Begrenzung des pri¨ vaten Konsums durch Steuerpolitik, Lohn- und Preisstopp bewirkt. So konnte sich der Staat bei wachsendem Sozialprodukt einen immer großeren Anteil an der volkswirtschaftlichen Wertschopfung sichern ¨ ¨ (Overy 1996). Die privaten Unternehmen waren darin voll eingebunden und folgten mehr oder weniger willig den staatlichen Vorgaben, weil der Staat die kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht anderte und okonomische Anreize zum Mittun setzte. ¨ ¨ Die Zusammenarbeit zwischen Staat und Unternehmen ging so weit, dass zahlreiche Unternehmen und Unternehmer auch bei den verbrecherischen Aktivitaten des Regimes, der Arisierung, Sklavenarbeit, ¨ Raub und Plunderung besetzter Gebiete und schließlich der Massen¨ vernichtung in den Konzentrationslagern beteiligt waren (Tooze 2007). Nach Zusammenbruch der Wirtschaft und einer turbulenten Nachkriegszeit musste in Deutschland, getrennt nach Ost und West, eine neue Wirtschaftsordnung gefunden werden. In der 1949 gegrun¨ deten Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurde eine sozialistische Zentralverwaltungswirtschaft eingefuhrt. Da dieses Wirt¨ schaftsmodell jedoch vollkommen anderen Prinzipien folgte und nach dem Zusammenbruch des Ostblocks im Jahr 1989 auch keinen großeren Einfluss auf die (wirtschaftliche) Entwicklung in Deutsch¨ land nahm, soll es an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden.
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Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten
Unternehmen als Profiteure
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Soziale Marktwirtschaft
Marshallplan
Wohlstand für alle
Gesetz zur Entwicklung und Stabilität
Bundesbank
Fur ¨ die Bundesrepublik Deutschland wurde die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft entwickelt. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass bei grundsatzlich marktwirtschaftlichen Verhaltnissen dem ¨ ¨ Staat die Aufgabe zufallt, regulierend in den Wirtschaftsablauf ein¨ zugreifen und Stabilitat ¨ und sozialen Ausgleich zu gewahrleisten. ¨ Dieses war nach den Verwustungen und Verwerfungen des voraus¨ gegangenen Krieges eine schwierige Aufgabe. Zunachst galt es, die ¨ Wirtschaft wieder in Gang zu setzen und zu einem gedeihlichen Verhaltnis mit den ubrigen Staaten der Welt zu gelangen (Eichengreen ¨ ¨ 1995, S. 3–35). Die Stabilisierung der Wahrung machte dabei bereits ¨ 1948 den Anfang, die Einbindung in den Marshallplan, die Organisation fur ¨ wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und in das europaische Finanzsystem (EZU) waren weitere Schritte. ¨ Es folgte die Regulierung der deutschen Auslandsschulden und die allmahliche Öffnung zum Weltmarkt, die mit der vollen Konvertibili¨ tat einen ersten Abschluss fand (Buchheim 1990). ¨ 1958 der Wahrung ¨ Das Wirtschaftswunder der 1950er- und 1960er-Jahre erleichterte diesen Prozess ganz wesentlich (Lindlar 1997). Im Inland gelangen die Überwindung der zunachst gewaltigen Arbeitslosigkeit und eine ¨ bis dahin nie gekannte Wohlstandsmehrung breiter Bevolkerungs¨ schichten („Wohlstand fur ¨ alle“). Der Erfolg der deutschen Wirtschaft auf den Auslandsmarkten ermoglichte eine enorme Expan¨ ¨ sion der Außenwirtschaft und schuf so stabile Wahrungsressourcen: ¨ Deutschland wurde zum „Exportweltmeister“. In diesem Umfeld boten sich zahlreiche Moglichkeiten fur ¨ ¨ staatliche Interventionen. Im Mittelpunkt stand dabei zunachst die Stabilisierung der wirtschaftli¨ chen Entwicklung. Dies fand im Gesetz zur Entwicklung und Stabilitat ¨ der Wirtschaft von 1967 seinen Ausdruck. Das Gesetz war gepragt von den Theorien des amerikanischen Ökonomen John ¨ Maynard Keynes, die in der wirtschaftspolitischen Debatte jener Zeit eine große Rolle spielten (Nutzenadel 2005). Nach der Aufgabe des ¨ Systems fester Wechselkurse 1972 wurde der Bundesregierung die Herrschaft uber den Außenwert der D-Mark genommen (Abelshau¨ ser 2004). Die Bundesbank ubernahm im Rahmen ihrer monetaris¨ tisch begrundeten Geldpolitik die Pflege des Geldwertes nach innen ¨ und damit des Preisniveaus und die Bestimmung des Wechselkurses nach außen. Da ihr dies offenbar sehr erfolgreich gelang, wurde sie nach Einfuhrung des Euro 1999 / 2002 auch zum Vorbild fur ¨ ¨ die europaische Zentralbank (Sarrazin 1997). ¨ Durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates versuchte der westdeutsche Teilstaat außerdem, seiner Aufgabe des sozialen Ausgleichs im
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FRAG EN UND LEK TÜR EEMPFEH LUNGEN
Rahmen der sozialen Marktwirtschaft gerecht zu werden. Damit wuchsen die Staatsausgaben permanent und gewaltig an, ganz im Sinne des Wagnerschen Gesetzes vom wachsenden Staatsbudget, welches fur ¨ die Entwicklung der modernen Wirtschaft einen stetig wachsenden Staatsanteil prognostiziert. Zugleich stieg auch der Schuldenstand des Staates. Dies fuhrte insbesondere durch die Milli¨ ardenlasten, die mit der Wiedergewinnung der deutschen Einheit 1990 aufgehauft wurden, in eine Krisensituation, der mit strikter ¨ Ausgabendisziplin begegnet werden sollte (Ritter 2006). Die 2008 ausgebrochene Weltfinanzkrise und die daraus erwachsenen Anforderungen an das staatliche Handeln stellen das Konsolidierungsziel der Staatsfinanzen allerdings wieder in Frage.
Weltfinanzkrise
Fragen und Anregungen • Versuchen Sie sich einmal in die Situation eines gutsabhangigen ¨ ostelbischen Hintersassen des 18. Jahrhunderts zu versetzen. Welche Motivation zu verstarkten Anstrengungen und Eigen¨ initiativen scheint Ihnen dabei gegeben? • Welche konkrete Bedeutung hatte der Satz „Nach dem Martinstage 1810 gibt es nur freie Leute“, der sich im beruhmten Oktoberedikt ¨ von 1807 findet? • Wenn man die okonomischen Krisen der Weimarer Republik be¨ denkt (Inflation, Reparationen, Depression) so verwundert es einigermaßen, dass man diese Epoche mit dem Aufbau eine Wohlfahrtsstaates in Beziehung setzt. Inwiefern stimmt dies und worin bestehen Unterschiede im Vergleich zur Bundesrepublik?
Lektüreempfehlungen ¨ • Rudolf Boch: Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert (Enzyklopa¨ die deutscher Geschichte 70), Munchen 2004. Umfassende Darstellung der Rolle des Staates in der deutschen Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. • William O. Henderson: The State and the Industrial Revolution in 1 Prussia 1740–1870, Liverpool 1967. Bewertung der staatlichen ¨ die wirtschaftliche EntwickGewerbe- und Technologiepolitik fur lung Preußens.
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Übersichten
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¨ • Hans-Peter Ullmann: Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der of¨ fentlichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute, Munchen Darstellung der Grundlinien 2005. Hervorragende, ausfuhrliche ¨ der deutschen Finanzpolitik seit dem 18. Jahrhundert. Forschung
• Eric D. Brose: The Politics of Technical Change in Prussia. Out of the Shadows of Antiquity 1809–1848, Princeton 1993. Kritische 1 Darstellung der Bedeutung technischer Experten und der Staatsbeamten fur der technologischen Entwicklung in ¨ die Forderung ¨ Preußen. • Karl Heinrich Kaufhold: Preußische Staatswirtschaft – Konzept und Realitat Zum Gedenken an Wilhelm Freue, in: ¨ 1640–1806. 1 Jahrbuch fur ¨ Wirtschaftsgeschichte, 1994 / 2, S. 33–70. Positive Wurdigung der staatlichen Gewerbepolitik fur ¨ ¨ die Industrialisierung Preußens. • Richard H. Tilly: Die politische Ökonomie der Finanzpolitik und die Industrialisierung Preußens, 1815–1866, in: ders., Kapital, 1 Staat und Sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 41), Gottingen 1980, ¨ S. 55–64. der preußischen Industrialisie6 Kritische Wurdigung ¨ rungspolitik im fruhen 19. Jahrhundert. ¨
Handbücher / Lexika
• Wolfram Fischer: Deutschland 1850–1914, in: ders. (Hg.), Hand1 buch der europaischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 5, ¨ Stuttgart 1985, S. 357–442, insbesondere S. 425–442. 4 4 • Friedrich Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Band 2: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert, Paderborn 1996, S. 267–282, 2 S. 618–634 Übersicht uber die offentlichen 6 und S. 1080–1094. 1 ¨ ¨ Finanzen im 19. Jahrhundert. • Eckart Schremmer: Die Wirtschaftsordnungen 1800–1970; Wolf1 gang Zorn: Staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik und offentliche Finanzen, in: Hermann Aubin / Wolfgang Zorn (Hg.), ¨ Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 2, Stuttgart 1976, S. 122–147; 148–197. 1 1
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14 Die Zukunft der modernen Volkswirtschaft
Abbildung 35: Schwarzer Freitag an der Wall Street (1929)
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DIE ZUKU NFT D ER M ODERN E N VOL KSW IRT SCH AF T
Am Donnerstag, den 24. Oktober 1929, begann an der New Yorker Borse in der Wall Street ein Kurssturz, in dessen Verlauf die ame¨ rikanischen Standardwerte etwa 90 % ihres Wertes verloren. Am folgenden „Schwarzen Freitag“ brachen auch in Europa die Kurse ein, die bereits krankelnde Weltwirtschaft sturzte in die Weltwirtschafts¨ ¨ krise. Vorausgegangen war eine gewaltige Aktienspekulation in den USA mit einer nach herkommlichen Kriterien grotesken Überbewer¨ tung der Aktien. Zahlreiche Wertpapiere waren in der Hoffnung auf weitere Kurssteigerungen auf Kredit gekauft worden und weite Teile der Bevolkerung bis hin zu den sprichwortlichen „Witwen und Wai¨ ¨ sen“ hatten sich an diesem Spiel beteiligt. Nur ein Windstoß war no¨ tig, um dieses Kartenhaus zum Einsturz zu bringen, und dieser blies im Oktober 1929, als eine leichte Verscharfung der Geldpolitik die ¨ Erwartung der Anleger in einen weiteren Borsenaufschwung in Zwei¨ fel umschlagen ließ. In Panik versuchte nun jeder seine Aktien zu verkaufen, die plotzlich niemand mehr haben wollte. Emporte Anleger ¨ ¨ stromten zur Wall Street und belagerten dort das Gebaude der Borse, ¨ ¨ ¨ um Neuigkeiten zu erhaschen oder ihre Papiere noch einigermaßen gunstig losschlagen zu konnen. ¨ ¨ Die moderne Volkswirtschaft hat seit ihrer Entstehung immer wieder mit solchen Spekulationskrisen zu kampfen, weil ihr Zustand eben ¨ nicht stabil und statisch ist, sondern dynamisch und instabil. Der wirtschaftliche Fortschritt beruht auf immer wieder auftretenden Neuerungen, die neue Gewinnchancen eroffnen und zu Spekulatio¨ nen Anlass geben. Diesen destabilisierenden Prozess gilt es hier nachzuzeichnen und damit zugleich die Frage zu verbinden, ob solche regelmaßig auftretenden Krisen des kapitalistisch-marktwirtschaftli¨ chen Systems zu einer derartig großen Instabilitat konnen, ¨ fuhren ¨ ¨ dass das gesamte System vom Einsturz bedroht ist. Ist die seit mehr als zwei Jahrhunderten wahrende Phase industrie¨ wirtschaftlichen Wachstums weiter fortzusetzen? Ist in einer endlichen Welt unendliches Wachstum denkbar, und welche Funktionen ¨ haben die sich regelmaßig wiederholenden Krisen innerhalb des Sys¨ tems? Diese Fragen sollen in diesem abschließenden Kapitel erortert werden.
14.1 Wirtschaftswachstum ohne Krisen? 14.2 Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre 14.3 Die erste Krise des 21. Jahrhunderts
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WIRTSC HA FTS WACH STUM O HN E K RI SEN?
14.1 Wirtschaftswachstum ohne Krisen? Dass die Entwicklung der modernen Volkswirtschaft mit der Hypothek eines endlichen Wachstums behaftet sei, ist keine Erkenntnis der neuesten Zeit. Schon die Begrunder der modernen Volkswirtschafts¨ lehre hatten Zweifel an der Nachhaltigkeit des neu entstehenden Wirtschaftssystems. Thomas Robert Malthus schrieb bereits am Ende des 18. Jahrhunderts uber das Problem einer permanenten Ver¨ armung der Masse der Bevolkerung, und auch sein noch bedeutende¨ rer Freund David Ricardo erwartete einen stagnierenden Endzustand der kapitalistischen Entwicklung. Karl Marx sah die Grenze einer kapitalistischen Akkumulation in der Logik des Kapitalismus selbst und brachte dies in seinem beruhmt gewordenen „Gesetz vom ten¨ denziellen Fall der Profitrate“ zum Ausdruck, nach dem ein stetig wachsender Kapitalstock einer immer relativ geringeren Endnachfrage gegenuber stehe, sodass schließlich die Profitrate auf Null ge¨ druckt werde und damit der Wachstumsprozess zum Stillstand kom¨ me (Marx 1979). An Krisenpropheten besteht also seit Anbeginn der modernen Volkswirtschaft kein Mangel. Die wichtige Erkenntnis uber die latente Instabilitat ¨ ¨ der modernen Volkswirtschaft ist aber in den letzten Dekaden unter den meisten Ökonomen offenbar verloren gegangen. So zitiert der Wirtschaftsnobelpreistrager von 2008, Paul Krugman, mit offensichtlichem Ver¨ gnugen seinen nicht minder renommierten Kollegen Robert Lucas ¨ mit einer Äußerung aus dem Jahre 2003: „Das zentrale Problem der Depressionsvermeidung ist in jeder praktischen Hinsicht gelost.“ ¨ (Krugman 2009, S. 17) Lucas glaubte offenbar, dass die zyklischen Auf- und Abschwunge der Wirtschaftstatigkeit, die kapitalistisch¨ ¨ marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystemen inharent sind (> KAPI¨ TEL 11), insoweit gezahmt seien, dass ein langfristiges und stetiges ¨ Wirtschaftswachstum so gut wie gesichert sei. Die Erkenntnisse der makrookonomischen Theorie, ihrer Modelle und die daraus ableit¨ baren wirtschaftspolitischen Maßnahmen, sowie die entsprechenden institutionellen Vorkehrungen hatten dazu gefuhrt, dass ausgedehnte ¨ ¨ und tief greifende Rezessionen der Vergangenheit angehorten. Ben ¨ Bernanke, Vorsitzender des amerikanischen Notenbanksystems, bestarkte ihn in dieser Einschatzung und ging ebenfalls davon aus, dass ¨ ¨ dank wirtschaftswissenschaftlichen Forscherfleißes die Probleme der Konjunktur unter Kontrolle seien. Allenfalls seien noch kleine Unpasslichkeiten, aber keine Krisen der modernen Volkswirtschaft zu ¨ erwarten (Krugman 2009, S. 18).
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Krisenpropheten
Mangelndes Krisenbewusstsein
Wachstum langfristig gesichert
DIE ZUKU NFT DER MODERNEN VOLKSWIRT SCHAF T
Krisen als notwendiger Bestandteil
Gemeinsamkeiten von Spekulationskrisen
Kritische Stimmen von Ökonomen, die einer solchen Verengung des Gesichtskreises widerstanden und der Untersuchung historischer Wirtschaftskrisen gebuhrende Aufmerksamkeit zukommen ließen, ¨ wurden lange Zeit nicht gehort ¨ (Kindleberger 2001). So kommt John Kenneth Galbraith, einer der herausragenden Ökonomen des 20. Jahrhunderts, zu einer ganzlich anderen Einschatzung der Stabili¨ ¨ tat ¨ kapitalistischer Entwicklung. Er behauptet in bewusstem Widerspruch zu herrschenden okonomischen Lehrmeinungen, dass freie ¨ Marktwirtschaften den Keim zu immer wiederkehrenden Zerstorun¨ gen in sich tragen, dass Krisen also ein unentrinnbares Schicksal der kapitalistischen Entwicklung bilden (Galbraith 1992). Und Hyman Minsky hat 1986 mit Stabilizing an Unstable Economy ein Buch veroffentlicht – offenbar zur Unzeit, denn es blieb damals weitgehend ¨ unbeachtet – in dem er auf unvermeidliche Instabilitat ¨ kapitalistischmarktwirtschaftlicher Systeme hinwies. Der langfristige Aufschwung der Weltwirtschaft schien ihn damals zu widerlegen. Inzwischen hat sein Werk wieder erstaunliche Aktualitat ¨ erhalten, denn es versucht zu erklaren, warum es immer wieder zu Spekulationsblasen kommt, ¨ wann Euphorie in Panik umschlagt und wann ein Finanzsystem ¨ praktisch bankrott ist. Mynski argumentiert, dass Finanzmarkte nach ¨ anderen Regeln als normale Gutermarkte funktionieren. Dort kon¨ ¨ ¨ nen sich daher spekulative Blasen einstellen, nach deren Zusammenbruch dann gravierende Auswirkungen in der Realwirtschaft auftreten konnen (Minsky 1986). ¨ In der Geschichte der modernen Volkswirtschaften lassen sich bis in die Gegenwart zahlreiche Beispiele fur ¨ gewaltige Spekulationen und Marktzusammenbruche finden. (> KAPITEL 11.1) Ihnen allen schei¨ nen jedoch Gemeinsamkeiten zu Eigen zu sein. Alle derartigen Entwicklungen beginnen mit einer Neuerung, einer zukunftstrachtigen ¨ Innovation – die sich langfristig durchaus erfolgreich bewahren ¨ kann, bei ihrer Einfuhrung aber hinsichtlich ihres moglichen Ge¨ ¨ schaftserfolges zu positiv bewertet wird. Das machen sich einige ¨ Marktteilnehmer zu Nutze, die beginnen, aus dem Handel mit positiven Erwartungen ein Geschaft ¨ zu machen, sie beginnen zu spekulieren. Die Wertsteigerung der den Erwartungen unterlegten Wertpapiere muss allerdings an Grenzen stoßen, weil ja die Rendite des ursprunglich betriebenen Kerngeschafts dieser Entwicklung nicht ¨ ¨ folgt. Wenn diese Erkenntnis sich durchsetzt, ist die Krise da und die Kurse sturzen plotzlich in die Tiefe, weil jeder Spekulant sich mog¨ ¨ ¨ lichst schnell noch zu gunstigen Kursen von seinen Papieren trennen ¨ mochte. ¨
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DIE WELT WIRTSCH AF TSK RI SE DER 1 930 ER- JA HR E
Diese Prozesse beschranken sich im Wesentlichen auf die Fi¨ nanzsphare ¨ einer Wirtschaft und bewirken lediglich eine Umverteilung von Vermogen zwischen in der Regel reichen Personen. Ob sie ¨ auch eine Wirkung in der sogenannten Realwirtschaft haben, hangt ¨ von einer Reihe von Faktoren ab. Dazu zahlen das Maß der Integra¨ tion der Finanz- und Realwirtschaft, der Umfang der Vermogensum¨ verteilung, die Tiefe der Spekulation, d. h. wie weit sie in der Bevol¨ kerung verbreitet war, und nicht zuletzt der Zustand der Realwirtschaft, ob sich diese also in einer Phase der Prosperitat ¨ befindet oder bereits im Abschwung.
Betroffenheit der Realwirtschaft
14.2 Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre Dass eine Systemkrise kapitalistischer Marktwirtschaften moglich ist ¨ und welche verheerenden Folgen daraus resultieren konnen, haben ¨ die 1930er-Jahre gelehrt. Die Große Depression in den USA von 1929 bis 1936 fuhrte dabei zum gravierendsten Einbruch der Wirt¨ schaftstatigkeit in zahlreichen Industrielandern wahrend des 20. Jahr¨ ¨ ¨ hunderts. Insbesondere die Volkswirtschaften der USA und Deutschland hatten unter den Folgen dieser Krise besonders zu leiden: Dauer, Tiefe und Ausbreitung waren einmalig. Ihren Ausgangspunkt nahm die Krise in einer enormen Aktienhausse in den USA (Galbraith 1963). 1929 erlebte die US-amerikanische Wirtschaft ein gutes Jahr und man sah mit großem Optimismus in die Zukunft. Die Geschafte liefen gut, teilweise sogar zu gut, wie ¨ ein Grundstucksboom in Florida 1925 deutlich machte, als – durch ¨ z. T. betrugerische Praktiken befeuert – eine erste Spekulationswelle ¨ Amerika erfasste. Galbraith verweist auf Charles Ponzi aus Boston, der wesentlich an dieser Spekulation beteiligt war und derartigen Booms seitdem einen Namen gibt („Ponzi-System“) (Galbraith 1992, S. 66). Der Zusammenbruch dieses Marktes hatte nur lokale Bedeutung, lasst sich aber als ein erstes Anzeichen einer um sich greifenden ¨ Spekulationsbereitschaft interpretieren. Diese griff denn auch auf den Aktienmarkt uber und fuhrte seit 1927 dort zu einem stetigen Auf¨ ¨ schwung der Kurse. Unterstutzt wurde diese Entwicklung durch ge¨ ringe Zinssatze des Zentralbanksystems, sodass das Jahr 1928 be¨ reits Ansatze eines „Spekulationstaumels“ (Galbraith 1963, S. 37) ¨ zeigte. Nicht nur individuelle Spekulanten erkannten die Gewinnchancen, auch die Banken organisierten das Geschaft ¨ in großem Stil. Sie grundeten Investmentgesellschaften, die Kredite aufnahmen, da¨
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Große Depression
Grundstücksboom in Florida
Investmentgesellschaften
DIE ZUKU NFT DER MODERNEN VOLKSWIRT SCHAF T
„Schwarzer Freitag“
mit Wertpapiere kauften und aus den Verkaufserlosen dann wiede¨ rum neuen Aktien kauften. Ganze Kaskaden solcher Kettengeschafte ¨ wurden vollzogen und damit eine Verschuldungspyramide aufgebaut, deren Zusammenbruch verheerende Folgen haben musste. Doch diese Furcht schien zunachst nicht zu bestehen; Galbraith kann den zeit¨ genossischen Ökonomen Irving Fisher von der Yale Universitat ¨ ¨ im Herbst 1929 mit dem Satz zitieren, die „Aktienkurse haben, wie es aussieht, ein dauerhaft hohes Niveau erreicht“ (Fisher 1929 in: Galbraith 1992, S. 71). Im September 1929 schien sich das Blatt jedoch zu wenden, und am Montag den 21. Oktober begann der Absturz, der am Donnerstag, den 24. Oktober – in Europa wegen Zeitverschiebung erst am nachs¨ ten Tag als „Schwarzer Freitag“ wahrgenommen – seinen ersten tragischen Hohepunkt erlebte. Die Lage spitzte sich dramatisch zu, eine ¨ Borsenpanik griff um sich und es gelang trotz vielfaltiger Bemuhungen ¨ ¨ ¨ nicht, die Lage zu stabilisieren. Der Kursverfall setzte sich in der folgenden Woche fort und am 29. Oktober 1929 erlebte die New Yorker Borse ihren bis dahin schlimmsten Tag (> ABBILDUNG 36). ¨
Abbildung 36: Amerikanischer Aktienmarkt in der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre (Kiehling 2000, S. 120)
Internationale Verkopplung
Das gravierende Problem mit dem Aktienboom und dem Zusammenbruch der Spekulation in den USA war, dass sich daraus eine schwerwiegende Depression der US-Wirtschaft entwickelte und dass diese wegen der internationalen Verkopplung der Wirtschaft auch
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DIE WELT WIRTSCH AF TSK RI SE DER 1 930 ER- JA HR E
auf andere Volkswirtschaften ausstrahlte. Die Folgen betrafen also nicht nur die Reichen und deren Vermogensverteilung, sondern die ¨ gesamte Volkswirtschaft und somit auch den ,kleinen Mann‘. Das lag daran, dass sich die amerikanische Wirtschaft im Herbst 1929 in einem deutlichen konjunkturellen Abschwung befand, was in der Entwicklung der industriellen Produktion ablesbar war und zu einer Reduzierung von Einkommen und Beschaftigung fuhrte. Dies war ge¨ ¨ wiss nicht der eigentliche Anlass fur ¨ das Platzen der Aktienblase, verscharfte aber dessen Wirkung auf die Realokonomie entscheidend. ¨ ¨ Anzeichen einer ungewohnlichen Geld- und Kreditknappheit waren ¨ unubersehbar und niemand war bereit oder in der Lage, neue Geld¨ mittel in den Markt zu bringen. Das amerikanische Zentralbanksystem fiel als „lender of last resort“, als „Kreditgeber der letzten Zuflucht“ (Kindleberger 2001) aus; die Haltung der amerikanischen Notenbank, die sich in dieser Situation weigerte, durch eine expansive Geldpolitik weitere Liquiditat zu geben, wird von ¨ in die Markte ¨ der Forschung als Hauptursache fur ¨ die Ausweitung der Aktienkrise zu einer gravierenden Depression gesehen (Friedman / Schwartz 1963, S. 392). Auch eine „organisierte Unterstutzung“ (Galbraith 1963, ¨ S. 151) durch die fuhrenden Bankhauser konnte nur kurzfristig Ent¨ ¨ lastung bringen. Im Gegenteil, bald waren die Banken gezwungen, Wertpapiere aus dem eigenen Bestand zu verkaufen (Galbraith 1963, S. 167). Auch die Senkung des Diskontsatzes der Federal Reserve Bank von sechs auf funf ¨ Prozent mit dem Ziel, die Kreditversorgung der Wirtschaft zu erleichtern, konnte den Sturz der Kurse nicht mehr stoppen. Die Verkaufsordern ubersturzten sich und viele Banken sa¨ ¨ hen sich gezwungen, auch gute Aktien unter Wert zu veraußern. ¨ Die Wirkung der Baisse war verheerend. Nicht nur wird von zahlreichen Selbstmorden berichtet, auch Unterschlagungen erfolgten: Die „Depression bringt oft an den Tag, was Rechnungsprufer ver¨ geblich suchen“ (Galbraith 1963, S. 192), weil nun Bilanztricks, die in normalen Zeiten verborgen blieben, offenbar wurden. Der allgemeine Glaube an freie Markte, an das Laisser-faire in der Wirt¨ schaft, schien schwer erschuttert. Eine Untersuchung des Senatsaus¨ schuss fur deckte zudem gravierende ¨ Bankwesen und Wahrung ¨ Verfehlungen bei den Banken auf. Eine Konsequenz aus diesen Erkenntnissen bildete der Security Act von 1933 und der Security Exchange Act von 1934, mit dem eine Borsenaufsicht, die Security Ex¨ change Commission (SEC) begrundet wurde. ¨ Dem großen Krach an der Borse folgten die große Depression und ¨ der Versuch, deren schwerwiegende Folgen im „New Deal“ zu uber¨
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Konjunktureller Abschwung
Rolle der Banken
Wirkung der Baisse
New Deal
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Depressionsspirale
Entwicklung in Deutschland
Wirtschafts- und Staatskrise
Öffentliche Haushalte
winden, einem vom damaligen US-Prasidenten Franklin D. Roosevelt ¨ initiierten Paket von Wirtschafts- und Sozialreformen, welches mit massiven staatlichen Subventionen die Konjunktur ankurbeln sollte (Krugman 2008, S. 67–90). Dies gelang nur sehr begrenzt, die Ver9 einigten Staaten verharrten in einer gedruckten Lage. Die trostlose ¨ Zeit wahrte etwa zehn Jahre und wurde erst in der Kriegskonjunktur ¨ des Zweiten Weltkriegs uberwunden. Das Sozialprodukt der USA ¨ sank bis 1933 um etwa ein Drittel, zumeist gab es im Jahresdurchschnitt mehr als 8 Millionen Arbeitslose, in der Spitze (1933) gar 13 Millionen. Die ungleiche Einkommensverteilung, die weite Verbreitung unserioser Geschaftspraktiken, ein labiles Bankwesen, Au¨ ¨ ßenhandelsdefizite, ein unausgeglichener Staatshaushalt und manches mehr hatten zu dem betrublichen Zustand der amerikanischen Wirt¨ schaft beigetragen, die durch den Aktiencrash in eine Depressionsspirale hineingetrieben worden war. Die Lage war in Deutschland nicht viel besser als in den USA. Hier hatte der Erste Weltkrieg die Wirtschaft entscheidend geschwacht und die Hyperinflation des Jahres 1923, in der die finan¨ ziellen Kriegslasten auf Kosten der Staatsglaubiger reguliert worden ¨ waren, hatte weitere Verwerfungen hervorgebracht. Reparationsverpflichtungen fuhrten zu weiteren Belastungen, der sich die deutsche ¨ Wirtschaft nur durch erhohte Rationalisierungsanstrengungen, ver¨ bunden mit einer extremen Verschuldung im Ausland, entgegen stellen konnte. Dies wurde ihr nach 1929 zum Verhangnis, als der Zu¨ fluss von Liquiditat ¨ aus dem Ausland zum Erliegen kam, ja sogar Kredite gekundigt wurden und Mittel wieder abflossen. Eine Wirt¨ schafts- und Staatskrise war die Folge, die die Wirtschaft in eine schwere Depression zwang und die in der Bankenkrise von 1931 einen Hohepunkt fand. Massenarbeitslosigkeit, sinkendes Sozialpro¨ dukt und Verarmung weiter Bevolkerungskreise waren die Folge. ¨ Doch noch ein weiterer Problemkomplex spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle, namlich die Lage der offentlichen Haushalte. ¨ ¨ Die Gebietskorperschaften, Stadte und Gemeinden, die Lander und ¨ ¨ ¨ auch das Reich hatten in den vorausgegangenen Jahren uber ihre ¨ Verhaltnisse gelebt und Schulden gemacht. Diese wirkten nun in der ¨ Krise angesichts sinkender Einnahmen und fehlender Kreditmoglich¨ keiten prozyklisch auf den Konjunkturverlauf und verschlechterten die desastrose ¨ Lage weiter. Offensichtlich wurden in der Zwangslage der Weimarer Republik von nahezu allen Beteiligten schwere Fehler gemacht, die mitverantwortlich fur ¨ die tiefe Depression waren, in die die deutsche Volkswirtschaft zu Beginn der 1930er-Jahre fiel. Es fallt ¨
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allerdings schwer zu zeigen, wie denn diese Fehler unter den Bedingungen der Zeit hatten verhindert werden konnen. Dass daraus ein ¨ ¨ Scheitern der Weimarer Republik und die „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten folgte, war keine zwangslaufige Konsequenz ¨ des Krisenszenarios, befordert hat es diese tragische Entwicklung je¨ doch zweifellos.
14.3 Die erste Krise des 21. Jahrhunderts Der erfolgreiche Ausbau einer globalisierten Weltwirtschaft (> KAPITEL 12) hat zur außerordentlichen Expansion des Wohlstandes wah¨ rend der letzten Dekaden beigetragen. Ist dieser Wohlstand angesichts der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 als einer ersten Krise im jungen 21. Jahrhundert nunmehr bedroht und droht die Weltwirtschaft, der Zwischenkriegszeit gleich, wieder zu zerfallen? Noch im Sommer des Jahres 2008 waren sich die Experten einig: ein konjunktureller Abschwung der deutschen Wirtschaft war nicht absehbar, eine gravierende Wirtschaftskrise ganzlich unvorstellbar. ¨ „Der Aufschwung in Deutschland halt ¨ an, nur der Schwung lasst ¨ etwas nach“, so lasst sich Axel Weber, der Prasident der Deutschen ¨ ¨ Bundesbank am 1. Mai 2008 zitieren, und auch Hans-Werner Sinn, Ökonomieprofessor und Prasident des ifo-Instituts fur ¨ ¨ Wirtschaftsforschung in Munchen außerte sich hinsichtlich der Aussichten fur ¨ ¨ ¨ das Jahr 2008 optimistisch: „Eine Rezession steht nicht an.“ (Nienhaus / Siedenbiedel 2009). Es kam jedoch alles ganz anders, die Fragen des Jahres 2009 lauteten „Ist es schon so schlimm wie im Jahr 1929?“ (Abelshauser 2008) oder „War 2008 das neue 1931?“ (Ritschl 2009). Wie konnte das alles geschehen, obwohl doch warnende Stimmen beizeiten zu horen waren? Bereits im Jahr 2000 schrieb der Yale¨ Ökonom Robert Shiller ein Buch, in dem er vor dem Platzen der New-Economy-Blase warnte, und bei der Neuauflage des Buches im Jahr 2005 (deutsch 2008) konnte er sich in einem neuen Kapitel der sich mittlerweile in den USA aufgebauten Immobilienblase widmen (Shiller 2000; Shiller 2008). Um die Problematik auf dem amerikanischen Immobilienmarkt besser analysieren zu konnen, wurde sogar ¨ ein eigener Index der Immobilienpreise entwickelt (Case / Shiller 2003) (> ABBILDUNG 37). Auch blieb Shiller nicht der einzige, der vor ¨ dem drohenden Zusammenbruch der Immobilienmarkte und der daraus folgenden Finanz- und Wirtschaftskrise warnte. Der amerikani-
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Falsche Vorhersagen
Warnende Stimmen
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Deutschland 2009
Beginn der Krise
Subprimes
sche Ökonom Nouriel Roubini z. B. trat ihm an die Seite (Roubini 2006), wurde jedoch im Jahr 2006 fur ¨ seine Prognosen ausgelacht (Bernau 2008). Inzwischen hat sich das Blatt gewendet und jene Ökonomen stehen am Pranger, die wie der eingangs erwahnte Robert ¨ Lucas noch vor wenigen Jahren vollmundig das Ende aller Wirtschaftskrisen verkundeten. ¨ So war die Lage in Deutschland im Sommer 2009 gekennzeichnet durch einen gewaltigen Ruckgang der Auftragseingange in der Indus¨ ¨ trie, einem daraus folgenden Einbruch der Industrieproduktion und von einem drohenden Anstieg der Arbeitslosigkeit. Viele Unternehmen standen am Rande des Bankrotts, zahlreiche Banken waren ebenfalls in ihrer Existenz gefahrdet und wurden nur durch umfang¨ reiche staatliche Unterstutzung am Leben gehalten, obwohl ihnen sei¨ tens der Zentralbanken nahezu kostenlos umfangreiche Liquiditat ¨ zur Verfugung gestellt wurde. ¨ Begonnen hat die Geschichte der Finanzkrise in den Vereinigten Staaten, wo angesichts deutlich steigender Hauserpreise die Banken ¨ dazu ubergingen, Hauskaufe mit mehr als 100 % ihres Wertes zu fi¨ ¨ nanzieren. Damit war es als Kaufer moglich, durch den Kauf eines ¨ ¨ Hauses zugleich Geld fur Ausgaben zu erhalten. Die Til¨ zusatzliche ¨ gung der Schulden schien durch steigende Hauserpreise beim Wieder¨ verkauf quasi automatisch zu erfolgen. Das lockte zusatzliche Kaufer ¨ ¨ in den Markt, weil diese bei weiter steigenden Hauserpreisen mit ho¨ hem Profit rechnen konnten. Dazu war weder Eigenkapital notig, ¨ noch war damit ein Risiko verbunden, da nach US-amerikanischem Recht zwar das Objekt an den Glaubiger fallt, falls der Schuldner ¨ ¨ den Hypothekenkredit nicht erfullen kann, dieser jedoch jeder wei¨ teren Verpflichtung ledig ist. Diese Rechtskonstruktion setzte auch fur neue Hypo¨ Hausbesitzer Anreize, bei steigenden Hauserpreisen ¨ theken auf ihre Hauser aufzunehmen, um so zusatzlichen Konsum ¨ ¨ zu finanzieren. Hinzu kamen die Wirkungen des Community Reinvestment Act (RCA) von 1977, welcher ursprunglich der Sanierung ¨ von Slums und deren zukunftiger Vermeidung dienen sollte. In einer ¨ Novelle von 1995 wurde den Banken quasi die Pflicht auferlegt, ohne Bonitatsprufungen Hypothekenkredite an Bewohner in problema¨ ¨ tischen Wohnvierteln zu vergeben. Es entwickelte sich dadurch ein Markt mit Hypothekenkrediten geringer Bonitat, ¨ der sogenannte Subprime-Markt, der bis 2006 einen immer großeren Anteil an den ¨ neu ausgegebenen Immobilienkrediten gewann (Sinn 2009, S. 121). Dies ging gut, solange die amerikanischen Zinsen auf einem extrem niedrigen Niveau verharrten und die Hauserpreise tatsachlich stiegen. ¨ ¨
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Als aber die Zinsen zu steigen begannen und die Hauserpreise ¨ fielen (> ABBILDUNG 37), zeigte es sich, dass viele Hypothekenschuldner ihren Kreditverpflichtungen nicht nachkommen konnten – die SubprimeKrise wurde zum Ausloser ¨ einer weltweiten Finanzkrise.
Fallende Häuserpreise
Abbildung 37: Preisentwicklung der US-Immobilien (Case-Shiller-Index) (Sinn 2009, S. 48)
Dies lag nicht zuletzt auch daran, dass die Banken mittlerweile ein neues Geschaftsmodell entwickelt hatten, welches ihre Rentabilitat ¨ ¨ außerordentlich, bis auf mehr als 25 % pro Jahr, verbessert hatte. Die Erkenntnis, dass man durch die Übernahme und Diversifizierung von finanziellen Risiken ein Geschaft ¨ machen, aber ebenfalls auch scheitern kann, gehort von Banken uber¨ zu den Existenzgrunden ¨ ¨ haupt. Und auch die Tatsache, dass man durch die Übernahme sehr hoher Risiken und ihre Weiterleitung an die Ausleger hohe Gewinne machen kann, ist keine neue Erkenntnis, wie ein Blick auf vergangene Wirtschaftskrisen zeigt. Heute sind es nur nicht mehr Optionen auf Tulpenzwiebeln wie weiland 1637, Anteile an Kolonialhandelsgesellschaften wie 1720 oder uberoptimistische und teilweise gar be¨ trugerische Grundungen von Aktiengesellschaften wie 1871 / 72 ¨ ¨ (> KAPITEL 11.1), sondern strukturierte Kredite. In den Risikomanagementabteilungen der Banken haben sich vor einiger Zeit Mathematiker daran begeben, die Risiken einzelner Kre-
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Strukturierte Kredite
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CDOs
Toxische Papiere
Staatliche Hilfen
Kreditklemme der Banken
dite, d. h. ihre Ausfallwahrscheinlichkeit in komplexen Modellen genauer zu bestimmen. Dabei schien es ihnen angemessen, Kredite mit unterschiedlich hohem Ausfallrisiko zu mischen, diese in einem Fond zusammenzufassen und dann als nahezu todsichere Papiere an das Publikum weiterzureichen. Diese sogenannten CDOs (Collateralized Debt Obligations) konnen mit sehr unterschiedlichen Krediten unter¨ legt werden; naturlich auch mit Subprime-Hypotheken, wie das in ¨ den USA geschehen ist. Das macht aber nur Sinn, wenn sie in Tranchen verpackt werden, in denen auch besser gesicherte Papiere enthalten sind, sodass ihr rating, also ihre durch sogenannte ratingAgenturen zugeschriebene Qualitat, ¨ und damit ihre Marktgangigkeit ¨ deutlich verbessert wird. Werden solche Tranchen erneut mit anderen gemischt, oder geschieht dies gar mehrmals (Sinn 2009, S. 132–136), 1 so entsteht ein gewaltiges Angebot an zinstragenden Papieren, deren Werthaltigkeit kaum noch zu uberblicken ist. Die Banken verdienten ¨ an all diesen Transaktionen prachtig und brachten hochriskante Pa¨ piere unter das Publikum, deren toxischer Gehalt sich erst spat ¨ herausstellte. Zahlreiche Banken und Privatanleger fanden sich nach Abklingen des Booms in der Position, auf großen Bestanden derarti¨ ger „Ramschpapiere“ zu sitzen. Gerade die US-Banken haben seit den 1990er-Jahren den Markt mit solchen Papieren uberschwemmt ¨ und nicht nur daran gut verdient, sondern entscheidend mit dazu beigetragen, die Verschuldung der amerikanischen Verbraucher und des US-amerikanischen Staates zu finanzieren. Diese Finanzanlagen sind weitgehend abzuschreiben, das dabei verlorene Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Zahlreiche Banken befanden sich an der Grenze zur Zahlungsunfahigkeit und mussten durch gewaltige staatliche ¨ Hilfen unterstutzt bzw. gerettet werden. Das deutsche Rettungspakt ¨ des Jahres 2009 belief sich auf 578 Milliarden Euro und war mit ca. 14 % das zweitgroßte nach den USA (32 %) an der weltweit bereit¨ gestellten Gesamtsumme von uber vier Billionen Euro (Sinn 2009, ¨ S. 212). Diese Summe stellt allerdings keine echten Ausgaben des Staates dar, sondern umfasst vor allem Burgschaften, mit denen der ¨ Staat moglicherweise sogar noch ein gutes Geschaft ¨ ¨ machen kann. Die Kreditklemme der Banken, deren Kapitalausstattung aufgrund des sinkenden Werts ihrer Forderungen stark schmolz, fuhrte dazu, dass ¨ diese keine neuen Kredite ausgeben konnten oder wollten. Dies brachte auch zahlreiche Unternehmen der Realwirtschaft in Bedrangnis. So ¨ strahlte die Krise der Finanzwirtschaft in die Realwirtschaft aus und machte kostspielige Konjunkturprogramme zur Stutzung der Wirt¨ schaft notig. Die aufgelegten Konjunkturprogramme der G-20-Staaten ¨
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– einem Forum der Finanzminister und Zentralbank-Prasidenten der ¨ fuhrenden Wirtschaftsnationen – in Hohe einer Billion Euro ¨ ¨ von uber ¨ fuhrten in jedem Falle zu einer wachsenden Staatsverschuldung, deren ¨ Abbau durch Steuererhohung oder Hinnahme einer erhohten Infla¨ ¨ tionsrate die Volkswirtschaften belastet. War dieses alles nicht absehbar und das Elend unvermeidlich? Hier lasst sich wieder auf das oben dargelegte Szenario einer Speku¨ lation verweisen. Es ist durchaus rational, sich an einer Spekulation auch mit CDOs zu beteiligen. Mit Warnungen verdient man eben kein Geld, wie Robert Shiller selbst in einem Interview resignierend feststellte (Bernau / Germis 2008). Gary Becker, Ökonomie-Nobelpreistrager von 1992, gibt eine einfache und einleuchtende andere ¨ Antwort: Die Menschen hatten andere Sorgen als die Zukunft des Finanzsystems, die Vogelgrippe fuhrte 2004 weltweit zur Hysterie, ¨ der Ölpreis sprang auf ein historisches Hoch von fast 150 Dollar pro Fass, der Dollar-Kurs schien angesichts des enormen Leistungsbilanzdefizits der USA vom Absturz bedroht und vieles andere mehr. Schließlich kann auch auf die Kurzfristigkeit des Erinnerungsvermogens der Menschen verwiesen werden, denen Krisenerfahrungen ¨ ganzlich abhanden gekommen zu sein scheinen, wie der Schriftsteller ¨ Hans Magnus Enzensberger bemerkte (Matussek / Brauck 2008). Dynamik gehort ¨ eben zum Betriebssystem des Kapitalismus, ein Verzicht darauf fuhrt zu Wachstumsverlusten. Daher wird man in ei¨ ner wachsenden Wirtschaft immer wieder mit solchen Krisen rechnen mussen. Diesem kapitalistisch gesteuerten Wachstumsprozess verdan¨ ken wir aber eine uber mehr als zwei Jahrhunderte andauernde ein¨ zigartige Wohlstandssteigerung (> KAPITEL 2). Ob und wie lange dieser Wachstumsprozess allerdings anhalten kann, ist eine offene Frage. An Untergangsszenarien herrscht seit den Zeiten von Karl Marx kein Mangel. Noch 1972 wurde der Wirtschaft der westlichen Welt ein baldiger Untergang wegen Überbevolkerung, Verschmutzung und ¨ Ressourcenmangel vorausgesagt (Maedows 1972), und eine reiche Literatur zu Nachhaltigkeit und Qualitat ¨ des Wachstumsprozesses wird bis heute produziert. Dem stetigen Wirtschaftswachstum hat das wenig geschadet, das kapitalistische Wirtschaftssystem hat sich bis in die Gegenwart als außerordentlich flexibel erwiesen. Nebenbei ist sogar einem alternativ ausgestalteten Wirtschaftssystem – der Planwirtschaft – im Systemwettbewerb die Luft ausgegangen. Ob dieser Prozess ,ewig‘ anhalten kann ist eine irrelevante Frage, denn dass in einer endlichen Welt unendliches Wachstum nicht moglich ist, ¨ stellt eine logisch zwingende Erkenntnis dar. Das mag Philosophen
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War die Krise vermeidbar?
„Ewiges“ Wachstum?
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Aus der Geschichte lernen
beschaftigen – fur ¨ ¨ Ökonomen gilt es, die Grenzen des Wachstums zu bemessen, und diese sind in einem absehbaren Zeitraum nicht zu erkennen. Die Zukunft bleibt jedoch ungewiss und problematisch, nicht weniger als die Gegenwart, und es bleibt die berechtigte Hoffnung, dass die Kreativitat ¨ des Menschen ausreicht, die zukunftigen ¨ Probleme zu beherrschen. Bis dahin bietet einen ganzlichen Schutz ¨ vor Krisen nur die Abschaffung des Kapitalismus – ein Preis, der zu hoch erscheint. Allerdings sollte man die Fehler der Vergangenheit nicht immer neu begehen: wer aus der Geschichte nicht lernt, ist ver¨ dammt sie zu wiederholen. Nicht zu Unrecht werden gegenwartig die ¨ vier Worter „this time is different“ als die kostspieligsten der englischen Sprache bezeichnet.
Fragen und Anregungen • Glauben Sie, dass es heute noch sinnvoll ist, sich mit historischen Wirtschaftskrisen wie der Tulpenspekulation von 1637 in den Niederlanden oder dem Aktienboom in den USA in den spaten ¨ 1930er-Jahren zu befassen? • Die Große Depression der 1930er-Jahre bildet bis heute eine traumatische Erfahrung fur ¨ zahlreiche Volkswirtschaften. Hat es damals besondere Grunde gegeben, dass eine Wirtschaftskrise der¨ artige Ausmaße annehmen konnte? • Worin unterscheidet sich die schwere internationale Wirtschaftskrise 2008 / 09 von der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren und gibt es Anlass zu vermuten, dass diese die letzte derartige Systemkrise bleiben wird?
Lektüreempfehlungen Übersichten
1 • Charles P. Kindleberger: Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, ¨ die Munchen 1973. Grundlegende klassische Darstellung uber ¨ große Depression im internationalen Kontext. • Hans-Werner Sinn: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise ¨ kam, und was jetzt zu tun ist, Frankfurt a. M. 2009 Ausfuhrliche Analyse der Wirtschaftskrise 2008 / 09 mit Bewertung der politischen Stabilisierungs- und Restrukturierungsmaßnahmen.
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FRAG EN UND LEK TÜR EEMPFEH LUNGEN
• Peter Temin: Lessons from the Great Depression, Cambridge / Mass. 1989. Neueres Standardwerk zur großen Depression und den daraus resultierenden Folgen fur ¨ die internationale Politik.
Forschung
• Ben Bernanke: Essays on the Great Depression, Princeton 2000. Eine Auseinandersetzung neuester Art mit den Erfahrungen der großen Depression.
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15 Serviceteil 15.1 Das Fach Wirtschaftsgeschichte und seine Institutionen Eine Darstellung der Entstehung der modernen Volkswirtschaft sollte in Begriffen und Kategorien erfolgen, die dem modernen okono¨ mischen Denken entlehnt sind und die es zugleich erlauben, der Komplexitat ¨ der historischen Entwicklung im Bereich der Wirtschaft der letzten beiden Jahrhunderte gerecht zu werden. Insoweit ist sie – wie der vorliegende Band – zugleich eine Einfuhrung in Gegenstand ¨ und Methode der Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Die Wirtschaftsgeschichte ist eine akademische Teildisziplin, die eine Bruckenfunktion zwischen den Wirtschaftswissenschaften und ¨ den Geschichtswissenschaften wahrnimmt und sich der z. T. unterschiedlichen Methoden beider Disziplinen bedient. Es ist Aufgabe des Wirtschaftshistorikers, auch die Werkzeuge der modernen Wirtschaftswissenschaften systematisch auf die Analyse des (historischen) Wirtschaftsprozesses anzuwenden. Wenn es denn zutreffend ist, dass das „Denken in Modellen“ den Kern der Wirtschaftswissenschaften beschreibt, so muss der Wirtschaftshistoriker auch die Modelle und Kategorien der Ökonomik fur der Logik des ¨ die Entschlusselung ¨ Wirtschaftsprozesses zu Rate ziehen. Gleichzeitig ist es notig, auch ¨ der Komplexitat ¨ der historischen Realitat ¨ gerecht zu werden und die Abstraktion okonomischen Modelldenkens durch eine historische ¨ „Rekonstruktion von Komplexitat“ ¨ zu erganzen. ¨ Der angemessene Zugang zum Gegenstand der Wirtschaftsgeschichte ist daher nicht unumstritten. Ein deskriptiv-historischer steht neben einem starker analytisch-okonomischen Zugang. Beide ¨ ¨ Sichtweisen lassen sich begrunden, mussten aber idealer Weise zu¨ ¨ sammengefuhrt werden. ¨ ¨ • Toni Pierenkemper: Wirtschaftsgeschichte, in: Hans-Jurgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, 3. revidierte und erweiterte Auf4 Versuch, die molage, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 413–429. derne Wirtschaftsgeschichte in ihrem Spannungsfeld zwischen oko¨ nomischem und historischem Zugang zu beschreiben. Es zeigt sich, dass das Fach im produktiven Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Historie mit unterschiedlicher theoretisch-methodischer Orientierung operiert.
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Wirtschaftsgeschichte zwischen Ökonomie und Historie
Überblicksartikel
SERVICETEIL
Theorie und Methode
• John Komlos / Scott Eddie (Hg.): Selected Cliometric Studies on German Economic History, Stuttgart 1997. Gibt einen Einblick in die Ansatze der „New Economic History“. ¨ • Gunther Schulz (Hg.): Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeits¨ gebiete – Probleme – Perspektiven, Stuttgart 2005. Hier steht die traditionell historiografische Vorgehensweise im Vordergrund.
Wirtschaftsgeschichte als akademische Disziplin
Zeitschriften
Wissenschaftliche Vereinigungen
Begrundet wurde das Fach Wirtschaftsgeschichte als akademische Dis¨ ziplin im Jahr 1919, als Bruno Kuske als erster eine spezifische „venia legendi“ (lateinisch: „Erlaubnis zu lesen“) erhielt. Kuske, der bereits seit 1912 als Privatdozent an der Handelshochschule in Koln ¨ tatig ¨ gewesen war, wirkte ab 1919 an der im gleichen Jahr neu gegrundeten Univer¨ sitat ¨ zu Koln ¨ als Ordinarius fur ¨ Wirtschaftsgeschichte. In den USA war bereits 1892 an der Harvard University der weltweit erste wirtschaftshistorische Lehrstuhl geschaffen und mit William J. Ashley besetzt worden. In Deutschland stand zu dieser Zeit noch die Historische Schule der Nationalokonomie in voller Blute, die Geschichte als integralen, ¨ ¨ zentralen Gegenstand der Wirtschaftswissenschaften betrachtete, sodass es innerhalb der Volkswirtschaftslehre unnotig ¨ erschien, Geschichte besonders zu lehren. In den USA hatte sich dagegen, wie im gesamten angelsachsischen Raum, bereits am Ende des 19. Jahrhunderts eine abs¨ trakt-theoretisch argumentierende „economics“ von der empirisch-forschenden „economic history“ geschieden. Dieser Prozess vollzog sich in Deutschland erst nach der Jahrhundertwende, fuhrte dort zu betracht¨ ¨ lichen Kontroversen uber Gegenstand und Methode der modernen ¨ Volkswirtschaftslehre und hielt fur ¨ mehr als ein halbes Jahrhundert an. Die Spezialdisziplin Wirtschaftsgeschichte etablierte sich im Zuge einer starker theoretisch orientierten Volkswirtschaftslehre zu einem ¨ anerkannten akademischen Fach mit eigenen Lehrstuhlen, Lehr¨ buchern, wissenschaftlichen Zeitschriften und Gesellschaften. ¨ • Virtual Library. Deutsche Datenquellen zur Geschichte. Sektion: Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Web-Adresse: www.wiso.uni-koeln.de / wigesch / VL-DE / sites-lit.html. Ein Überblick uber die fachrelevanten Zeitschriften lasst sich heute leicht ¨ ¨ uber das Internet gewinnen. ¨ Die Grundung wissenschaftlicher Vereinigungen weist ebenfalls auf ¨ die Etablierung des Faches als einer wissenschaftlichen Disziplin hin. • International Economic History Association, Web-Adresse: www.uni-tuebingen.de / ieha. Bereits 1958 gegrundete internationa¨ le wissenschaftliche Vereinigung des Faches.
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ST UDIUM WIRTSCH AF TSGESC HI CHT E
• Gesellschaft fur ¨ Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Web-Adresse: www.gswg.net. Da der „International Economic History Association“ in Deutschland ein Ansprechpartner fehlte, grundete man ¨ 1961 diese deutsche Gesellschaft. • Wirtschaftshistorischer Ausschuss im Verein fur ¨ Sozialpolitik, Web-Adresse: wisoge.uni-hohenheim.de / VfS. Zusammenschluss von Wirtschaftshistorikern im Rahmen der großten wirtschafts¨ wissenschaftlichen Vereinigung im deutschsprachigen Raum. Alle diese (und eine Reihe weiterer, starker spezialisierter) Vereini¨ gungen entfalten bis heute lebhafte wissenschaftliche Aktivitaten. ¨ Ebenso organisieren sie zahlreiche wissenschaftliche Veranstaltungen, Tagungen u. a., ¨ in denen ein intensiver Austausch von Forschungsergebnissen auch uber Landesgrenzen hinaus erfolgt. ¨ Mit der Etablierung von Lehrstuhlen an den Universitaten tat ¨ ¨ man sich in Deutschland zunachst schwer. Der Bestallung Bruno ¨ Kuskes in Koln folgte lediglich noch diejenige Jakob Strieders in ¨ Munchen. Erst nach 1950 erlebte das Fach einen weiteren Ausbau. ¨
Entwicklung des Faches
• Knut Borchardt: Wirtschaftsgeschichte. Wirtschaftswissenschaftliches Kernfach, Orchideenfach, Mauerblumchen oder nichts von ¨ dem?, in: Hermann Kellenbenz / Hans Pohl (Hg.), Historia Socialis et Oeconomica. Festschrift fur ¨ Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1987, S. 17–31. uber den Aus3 Berichtet ausfuhrlich ¨ ¨ bau des Faches in der deutschen Universitatslandschaft seit 1950. ¨ Alles in allem stellt sich die Wirtschaftsgeschichte in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts als eine etablierte akademische Disziplin dar, mit einem wohl definierten Gegenstandsbereich an der Schnittstelle zwischen den Wirtschaftswissenschaften und den Geschichtswissenschaften. Sie verfugt eine eigenstandige Methode, die das ¨ uber ¨ ¨ Denken in Modellen der Ökonomen mit der Technik der hermeneutischen Rekonstruktion von Komplexitat ¨ der Historiker verknupft. ¨
15.2 Studium Wirtschaftsgeschichte – allgemeine bibliografische Hilfsmittel • Virtual Library. Deutsche Datenquellen zur Geschichte. Sektion: Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Web-Adresse: www.wiso.uni-koeln.de / wigesch / VL-DE / sites-uni.html. Bietet
Studienorte
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¨ ¨ eine Übersicht uber die Universitaten im deutschsprachigen Raum, ¨ an denen heute das Studium der Wirtschaftsgeschichte moglich ist.
Promotion
Die Wirtschaftsgeschichte ist z. T. in den wirtschaftswissenschaftlichen, z. T. aber auch in den philosophischen Fakultaten angesiedelt, ¨ ein integrativer Studiengang existiert ebenso wenig wie ein separater Studiengang „Wirtschaftsgeschichte“; ein entsprechender Versuch auf ¨ Master-Ebene wird allerdings in Gottingen unternommen. Eine Pro¨ ¨ motion im Fach ist problemlos an zahlreichen Universitaten moglich, ¨ als „Dr. rer. pol.“ oder „Dr. phil.“. In Nordrheinje nach Fakultat Westfalen soll eine Graduiertenschule in „Economic History“ konzipiert werden, um ein strukturiertes Promotionsstudium auf interna¨ tionalem Niveau zu gewahrleisten. • N. W. Posthumus Instituut, Web-Adresse: www.rug.nl / posthumus / index. Vorbildliches Modell fur ¨ eine solche Graduiertenschule, initiiert von niederlandischen Wirtschaftshistorikern. ¨
Einführungen
• Ludwig Beutin: Einfuhrung in die Wirtschaftsgeschichte, Koln ¨ ¨ 1958. Bietet ganz traditionell einen ersten Eindruck uber die Stu¨ dieninhalte. • Gerold Ambrosius (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einfuhrung fur und er¨ ¨ Historiker und Ökonomen, 2. uberarbeitete ¨ weiterte Auflage, Munchen 2006. Fokussiert starker auf interdis¨ ¨ ziplinare und Konzepte. ¨ Ansatze ¨ • Christoph Buchheim: Einfuhrung in die Wirtschaftsgeschichte, ¨ Munchen 1997. ¨ • Toni Pierenkemper: Wirtschaftsgeschichte. Eine Einfuhrung – oder: ¨ Wie wir reich wurden, Munchen 2005. ¨ Beide Bande setzen als neuere Einfuhrungen eher thematische ¨ ¨ Schwerpunkte, die sich um Industrialisierung, Wirtschaftswachstum und Wohlstandmehrung ranken.
Integrative Darstellungen des historischen Stoffs
Neben diesen allgemeinen Einfuhrungen bieten naturlich auch inte¨ ¨ grative Darstellungen, die den historischen Stoff umfassend und gegliedert darbieten, einen guten Zugang zur Entstehung und Entwicklung der modernen Wirtschaft. • Jurgen Kuczynski: Allgemeine Wirtschafsgeschichte. Von der Urzeit ¨ bis zur sozialistischen Gesellschaft, Berlin 1949. Bezieht seine Ausfuhrungen in einer sehr langen Zeitperspektive stark auf marxisti¨ sches Gedankengut.
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ST UDIUM WIRTSCH AF TSGESC HI CHT E
• Friedrich Lutge: ¨ Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1960. Nimmt eine liberal-marktwirtschaftliche Perspektive gegenuber der Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahrhunderte ein. ¨ Daran haben sich zahlreiche weitere Versuche angeschlossen, die Ful¨ le des historischen Materials uber die Entwicklung der modernen ¨ Volkswirtschaft in Form von Lehrbuchern zu erschließen. ¨
Lehrbücher
• Michael North (Hg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, Munchen 2000. Neuerer Versuch zur Er¨ fassung der wirtschaftlichen Entwicklung in einer langen Perspektive. • Hans Mottek: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß (3 Bande), Berlin (Ost) 1976. ¨ • Hermann Kellenbenz: Deutsche Wirtschaftsgeschichte (2 Bande), ¨ Munchen 1977. ¨ Zwei etwas altere, aber immer noch lohnende Arbeiten, die in ¨ einem gut lesbaren Stil die Geschichte der deutschen Wirtschaft seit ihren Anfangen bis in die 1970er-Jahre aus zwei unterschiedli¨ chen Perspektiven beschreiben und interpretieren. Das Werk von Mottek ist eine marxistisch begrundete Geschichtsschreibung aus ¨ der Zeit der DDR, das von Kellenbenz eine liberal-kapitalistisch fundierte aus der Bundesrepublik. Weitaus haufiger als derart zeitlich weit zuruckreichende langs¨ ¨ ¨ schnittartige Darstellungen finden sich solche, die sich auf kurzere ¨ Zeitraume, insbesondere die Neuzeit bzw. die Industrielle Revolution ¨ beziehen.
Geschichte der deutschen Wirtschaft
Wirtschaftsgeschichten der Neuzeit
• Gustav Stolper u. a.: Deutsche Wirtschaft seit 1870, Tubingen ¨ 1966. Der bekannte Ökonom verfasste mit diesem Band eine Wirtschaftsgeschichte bis in die 1930er-Jahre, welche spater durch ¨ Karl Hauser und Knut Borchardt bis in die Nachkriegszeit fort¨ gesetzt wurde. • Richard Tilly: Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands 1834 bis 1914, Munchen 1990. ¨ Komplexe Darstellung der Entwicklung der Wirtschaft in Deutschland in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts. ¨ • Dieter Ziegler: Die Industrielle Revolution, Darmstadt 2005. Didaktisch gut aufbereitete Darstellung der Entwicklung der deutschen Wirtschaft wahrend der Industriellen Revolution. ¨
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Industrielle Revolution
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International vergleichende Darstellungen
• Toni Pierenkemper: Umstrittene Revolutionen. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1996. Stellt die unterschiedlichen Industrialisierungsprozesse der wichtigsten europaischen Staaten vor. ¨ • Sidney Pollard: Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760–1970, Oxford 1981. Analysiert diesen Prozess ausgehend 1 von den englischen Verhaltnissen. ¨
Handbücher
Internationale Standardwerke
In Handbuchern werden wichtige Themen des Faches vertiefend oder ¨ uberblicksartig dargestellt. ¨ • The Cambridge Economic History of Europe, hg. von John H. Clapham und Michael M. Postan, 8 Bde., Cambridge 1966–89. 8 Erstes wirtschaftswissenschaftliches Handbuch, in dem auch zahlreiche Artikel uber die deutsche Wirtschaft erschienen sind. ¨ • Fontana Economic History of Europe, hg. von Carlo M. Cipolla, Hassocks 1973. Identisch mit • Europaische Wirtschaftsgeschichte (5 Bande), hg. von Carlo M. ¨ ¨ Cipolla und Knut Borchardt, Stuttgart 1976–80. 4 8 In den Banden ¨ und 5 findet sich jeweils auch ein Artikel uber Deutschland. ¨
Deutsche Wirtschaftsgeschichte
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16.2 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Die Geschichte der Weltwirtschaft in einem Bild, nach: Gregory Clark, A farewell to alms: a brief economic history of the world, Oxfordshire: Princeton University Press 2007, S. 2. ¨ ¨ ¨ Abbildung 2: Bevolkerung in Mitteleuropa und Bauarbeiterlohne im sudlichen England von 13. bis zum 20. Jahrhundert, aus: Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vor¨ industriellen Deutschland, 3. Auflage, Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, S. 17. ¨ 5 Abbildung 3: Kaufkraftschwankungen der Bauarbeiterlohne in Leipzig (1781 / 1800–50), aus: Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg: Verlag Paul Parey 1974, S. 350. Abbildung 4: Chinesischer Lampion (Boule chinoise). AcheDeZoo. 1 Abbildung 5: Sozialprodukt je Einwohner in Deutschland bzw. Westdeutschland 1850–1990 in ¨ konstanten Preisen von 1913, nach: Christoph Buchheim, Einfuhrung in die Wirt¨ schaftsgeschichte, Munchen: C. H. Beck 1997, S. 87. ¨ Abbildung 6: Krupp-Werke, Deutschland; Lokomotiv- und Wagenraderbau in der Gussstahlfabrik von Friedrich Krupp in Essen (1900). ullstein bild, Berlin. ¨ Abbildung 7: Buroangestellte in der Schokoladenfabrik Cadbury, England (Ende 19. Jh.). ¨ Abbildung 8: Beschaftigung in Deutschland um 1800 nach Wirtschaftssektoren, aus: Christof Dip1 per, Deutsche Geschichte 1648–1789, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 98. ¨ 13 ¼ 100), aus: Diedrich Abbildung 9: Lohne in Deutschland (gleitende Dreijahresmittel, 1900–13 Saalfeld, Lebensverhaltnisse der Unterschichten Deutschlands im Neunzehnten Jahr¨ hundert, in: International Review of Social History XXIX (1984), Internat. Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam, S. 231. ¨ Abbildung 10: Erlass des preußischen Konigs Friedrich I. (1708). Abbildung 11: Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Titelblatt der Erstausgabe. Hamburg: Verlag von Otto Meissner, 1867. Abbildung 12: Investitionsquoten 1850 / 70–1994, Deutschland, aus: Ludger Lindlar, Das mißverstan¨ dene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropaische Nachkriegspros¨ (Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung 77), Tubingen: ¨ peritat Mohr Siebeck 1997, S. 149. Abbildung 13: Die Waterframe. Mit Wasserkraft arbeitende Spinnmaschine von Richard Arkwright (1769). Holzstich, 19. Jhdt. akg.images. ¨ Abbildung 14: Ereignishaufigkeit der Innovationsdaten, nach Gerhard Mensch, J. J. van Duijn und Ronald Baker, nach: Rainer Metz, Wirtschaftliches Wachstum, technischer Fortschritt ¨ und Innovationen in Deutschland. Eine Sakularbetrachtung, in: Dietrich Ebeling u. a. ¨ Wissenschaft. Festgabe fur ¨ Franz Irsigler (Hg.), Landesgeschichte als multidisziplinare 7 zum 60. Geburtstag, Trier: Porta Alba Verlag 2001, S. 679–709, hier: S. 706. ¨ Abbildung 15: Reichsbanknote uber 10 Millionen Mark zu Zeiten der Hyperinflation (1923). ¨ 1 ¨ Abbildung 16: Entwicklung der Geldbestande 1870–1913, aus: Deutsche Bundesbank (Hg.), Wah1 rung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt a. M.: Fritz Knapp GmbH 1976, S. 27. Abbildung 17: Robert Dudley Baxter: Stilisierte Einkommensverteilung der englischen Gesellschaft im ¨ 19. Jahrhundert (Mitte 19. Jhdt.), aus: Adolph Wagner, Theoretische Sozialokonomik oder allgemeine und theoretische Volkswirtschaftslehre, Leipzig: Winter Verlag 1907,
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S. 466 (hier nach: Toni Pierenkemper, Einkommens- und Vermogensverteilung, in: ¨ Gerold Ambrosius / Dietmar Petzina / Werner Plumpe (Hg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einfuhrung fur Oldenbourg Ver¨ ¨ Historiker und Ökonomen, Munchen: ¨ lag 1996, S. 265–288, hier: S. 280). 2 Abbildung 18: Personale Einkommensverteilung in Deutschland, aus: Silvia Deckl, Indikatoren der Einkommensverteilung in Deutschland 2003. Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, in: Statistisches Bundesamt (Hg.), Wirtschaft und Statistik, Nr. 11 / 2006, S. 1178–1186, hier: S. 1182. 1 Abbildung 19: Traditionelle Feldarbeit (1930er-Jahre). Privatbesitz Martin Regenbrecht, Berlin. Abbildung 20: Anteil der in den einzelnen Wirtschaftssektoren Beschaftigten an der Gesamtzahl. Eige¨ ne Darstellung, angelehnt an: Friedrich-Wilhelm Henning, Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 2, Paderborn: Verlag Ferdinand Schoningh 1973, S. 20. ¨ Abbildung 21: Anteil der Aufwendungen fur ¨ Dienstleistungen am gesamten privaten Verbrauch, nach: Boris Loheide, Wer bedient hier wen?: Service oder Selfservice – Die Bundesrepublik Deutschland als Dienstleistungsgesellschaft, Saarbrucken: VDM Verlag Dr. Muller ¨ ¨ 2008, S. 90. Abbildung 22: Karte der Gussstahlfabrik Friedrich Krupp (1889). Historisches Krupp-Archiv. Abbildung 23: Verteilung der Bilanzsumme verschiedener Branchen bezogen auf den Gesamtumsatz der jeweils 25 großten Industrieunternehmen. Eigene Erhebung. ¨ Abbildung 24: Semper Augustus, die schonste aller hollandischen Tulpen (um 1640). ¨ ¨ Abbildung 25: Getreidepreise in Mitteleuropa vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, aus: Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernahrungswirt¨ schaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, 3. Auflage , Hamburg / Berlin: Verlag Paul Parey 1978, S. 13. Abbildung 26: Funf-Phasen-Zyklus der Konjunktur, aus: Arthur Spiethoff, Krisen, in: Ludwig Elster ¨ u. a. (Hg.), Handworterbuch der Staatswissenschaften. Sechster Band. 4. ganzlich ¨ ¨ uberarbeitete Auflage, Jena: Verlag Gustav Fischer 1925, S. 8–91, ¨ 9 hier: S. 38. Abbildung 27: Unterschiedliche Vorstellungen von wirtschaftlichen Zyklen, aus: Joseph A. Schumpeter, Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, [Business Cycles : a Theoretical, Historical and Statistical Analysis of the Capitalist Process, 1939], Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961, ¨ S. 223. Abbildung 28: Schatzung von Wachstumszyklen aus Konjunkturindikatoren, aus: Reinhard Spree, ¨ Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880. Mit einem konjunkturstatistischen Anhang, Berlin: Duncker & Humblot 1977, S. 90. Abbildung 29: Willem van de Velde: The Capture of the Royal Prince, 13 June 1666 (Niederlandi¨ sche Galeonen). Ölgemalde (1666 oder spater). ¨ ¨ Abbildung 30: Unterschiedliche Konzepte der Globalisierung im 19. und 20. Jahrhundert, aus: Richard H. Tilly, Globalisierung aus historischer Sicht und das Lernen aus der Geschichte (Kolner Vortrage Forschungsinsti¨ ¨ zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 41), Koln: ¨ tut fur ¨ Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universitat ¨ zu Koln ¨ 1999, S. 8. Abbildung 31: Deutsche Zahlungsbilanz 1833–1913 (in Millionen Mark, laufende Preise), aus: Cor1 nelius Torp, Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 72. 1 ¨ Abbildung 32: Abraham Bosse: Leviathan, Frontispiz von: Thomas Hobbes, Leviathan (1651).
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Abbildung 33: Zusammensetzung der Staatsausgaben in Preußen 1826–66 6 (in % aller Ausgaben), aus: Richard H. Tilly, Die politische Ökonomie der Finanzpolitik und die Industrialisierung Preußens, in: ders., Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Indus¨ ¨ trialisierung. Gesammelte Aufsatze, Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980, 6 hier: S. 61. S. 55–64, 6 (in Millionen Thaler), aus: Richard H. Tilly, Die Abbildung 34: Preußische Staatsschulden, 1820–65 politische Ökonomie der Finanzpolitik und die Industrialisierung Preußens, in: ders., Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung. Gesammelte ¨ ¨ 6 hier: S. 63. Aufsatze, Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980, S. 55–64, Abbildung 35: Schwarzer Freitag an der Wall Street (1929). AP Associated Press. Abbildung 36: Amerikanischer Aktienmarkt in der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre, aus: Hart¨ mut Kiehling, Kurssturze am Aktienmarkt. Crashs in der Vergangenheit und was wir ¨ ¨ daraus lernen konnen, 2. Auflage, Munchen: dtv 2000, S. 120. Abbildung 37: Preisentwicklung der US-Immobilien (Case-Shiller-Index), aus: Hans-Werner Sinn: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist, Berlin: Econ 2009., S. 48.
¨ ¨ (Der Verlag hat sich um die Einholung der Abbildungsrechte bemuht. Da in einigen Fallen die Inhaber ¨ ¨ der Rechte nicht zu ermitteln waren, werden rechtmaßige Anspruche nach Geltendmachung ausgeglichen.)
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16.3 Sachregister Ablosungszahlungen 76, 195 ¨ Afrika 7, 177, 181 Agrarkrise 17, 161–165 1 Akkumulation 57, 59f., 65f., 70, 72f., 75, 80, 209 Aktienbank 77f., 151f. Aktienblasen 163f., 210 Aktienkurse 163, 208, 210–213 2 Alimentierung 56 Allokation 40f., 43–45, 4 47, 49, 53, 154f. Amerika 7f., 44, 66, 79, 102, 112, 154, 163, 168, 177–185, 208–218 1 2 Antike 9, 24 Arbeit 10–17, 1 35–37, 3 40–53, 5 56f., 59–62, 6 67, 73, 85f., 90f., 118–120, 122–126, 128f., 132, 1 1 137, 139, 147, 149, 151, 161, 177, 179, 181f., 184, 186, 189, 195, 197, 200–204, 214, 216 2 Arbeiteraristokratie 53 Arbeiterbewegung 196 Arbeitskraft 12f., 40, 42f., 46, 56, 85, 128, 177 Arbeitslosenquote 49 Arbeitslosigkeit 48–50, 5 52, 125, 137, 201, 204, 214, 216 Arbeitsmarkt 42–53 Arbeitsteilung 57, 60, 62, 182, 184, 186 Armut 7–21, 24, 26f., 44, 71, 76, 85, 122, 125–127 1 Asien 176–179, 181, 184 1 Bank 30, 70, 73f., 76–80, 135, 149, 8 100–113, 1 151f., 162f., 165f., 184f., 199, 203f., 209, 211, 213–219 2 Bankenkrise 184, 214 Basisinnovation 87f. Bildung 32f., 37, 56–60, 6 62–67, 6 102, 109, 120, 128, 196, 200 Bildungsokonomie 57, 66 ¨ Bildungsreform 62 Boden 9, 12, 27, 37, 60f., 72, 118f., 132f., 193, 195 Borse 74, 78f., 106f., 111, 147, 151, 155, ¨ 208–213 2 Bretton-Woods-System 113, 184f. Bruttoinlandprodukt 26, 187 Bubble Act 73, 163 Bundesrepublik Deutschland 18–20, 2 33, 49, 52, 67, 79, 113, 125–128, 141f., 173, 203 1 CHE (Centrum fur ¨ Hochschulentwicklung) 67 Cobden-Chevalier-Vertrag 183 Colm-Dodge-Goldsmith-Plan 112
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Dampfmaschine 75, 84, 89, 92–95 95 Dawes-Plan 110 Deflation 171f. Depositenbank 74 Depositengeschaft ¨ 78, 102f., 107 Depression 171f., 209, 211–214 2 Desintegrationstendenz 184 Deutsches Reich 30, 33, 100, 104–111, 122, 1 150, 188, 197, 200–202 2 Deutschland AG 79 Devisenbewirtschaftung 110, 203 Dienstleistung 42–44, 61f., 80, 134–143, 161, 1 188, 197 Dienstleistungsgesellschaft 35, 61, 132, 136f., 139–143 1 Dienstleistungssektor 42f., 135–140 1 Diffusion 87, 89f., 171 Dirigismus 110, 203 Diskonthaus 74, 78 Dividendenrendite 154 Doha-Runde 186 Dreißigjahriger Krieg 13, 193 ¨ East India Company 176 Effizienz 37, 40, 53, 56, 58, 86, 127 Effizienzlohn 53 Einkommen 7f., 10–12, 1 16–21, 2 25, 28–34, 3 40, 44, 46–52, 5 67, 73, 76, 92, 111, 117–129, 1 136–142, 161f., 186, 213f. 1 Einsatzfaktoren 37, 133 Eisenbahn 72, 75–77, 7 88, 96, 107, 146–152, 1 198–200 2 Emissionsgeschaft ¨ 78 Engelsches Gesetz 136 England 7, 9, 11–13, 1 15, 24–26, 2 35, 58, 62, 64, 71f., 74–76, 7 83f., 88–97, 9 101, 122, 163, 165, 168, 178–183, 187, 194 1 Erfindung 26, 36, 58, 65, 84, 87–93 93 Erster Weltkrieg 28, 47, 78, 108, 166, 172, 179, 188, 201f., 214 Ertragsgesetz 58 Ertragswert 57 Europa 8–14, 1 18, 20, 24–26, 2 29, 34, 65f., 88, 93, 100–103, 113, 124, 126, 132, 137, 1 139, 147, 155, 176–189, 192f., 204, 208, 1 212 Europaische Zahlungsunion (EZU) 185 ¨ Evolutionare ¨ Ökonomik 87 Export 67, 74, 76, 92, 109, 178–180, 1 186–189, 204 1 Extensivitat ¨ 27
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Feudalgesellschaft 118 Feudalismus 193 Finanzmarkte 210 ¨ Fixkapital 147 Fluktuationsraten 53 Folgeinnovation 87 Frankreich 9, 34f., 62, 76, 89, 163, 165, 178, 183 Freihandel 183, 200 GATT 184f. Geldblahe 108 ¨ Gesamtfaktorproduktivitat ¨ 37, 85 Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate 209 Gewinnquote 119–122 1 Gini-Koeffizient 120f., 125 Globalisierung 50, 70, 175–189 1 Goldbindung 185 Golddeckung 104 Goldstandard 181, 184 Grain invasion 183 Großbritannien 34, 70–74 7 88, 124, 139f., 146, 166, 179f., 183 Große Depression 171, 211, 213 Grunderboom 150, 171 ¨ Grunderkrach 150 ¨ Grundkapital 149f., 152 Handelskapital 72, 179 Haushalt 16–19, 1 25, 32, 42, 50–52, 5 67, 126, 128f., 136, 140–142, 162 1 Heckscher-Ohlin-Theorem 186 Heuerling 42 Hintersassen 193–195 1 Hochschule 63, 67, 224 Hoover-Moratorium 110 Human Development Index (HDI) 33 Humankapital 36, 56f., 59, 65f., 70f., 85, 128 Hunger 9–12, 1 17f., 44, 47, 111, 125, 160–162, 1 165, 201 Hyperinflation 28, 100, 109, 124, 202, 214 Hypothek 147, 209, 216–218 2 Hypothekarische Belastung 109 IAB-Datenbank 88 Imperialismus 179 Industrialisierung 14, 26, 34f., 40f., 44, 50, 52, 62, 64f., 72f., 75f., 80, 88, 92, 122–124, 132, 1 136, 149, 161, 171, 179, 188, 196, 199f. Industrialismus 198, 201 Industriegesellschaft 18, 20, 35, 41, 60, 85, 127, 132, 134, 136, 138–140, 160, 201 1 Industrielle Reservearmee 15, 44 Industrielle Revolution 24, 26, 65, 84, 88–90, 9 122, 194
Inflation 34f., 48, 78, 108–113, 202, 219 1 Inflationsrate 28, 202, 219 Innovation 24, 36, 59, 62, 64, 83–96, 9 101, 107, 133, 137, 147, 168f., 210 Innovationszyklen 88, 168f. Institutionalisierung des Wirtschaftswachstums 34 Institutionelle Innovation 87 Intervention 151, 200, 204 Invention 87, 89 Investmentbanking 79 Jugendarbeitslosigkeit 52 Kapital 27, 36f., 60f., 70–80, 8 85, 119, 122, 124, 132, 147–152, 154f., 163 1 Kapitalbindung 147 Kapitalintensitat ¨ 27, 36 Kapitalismus 27, 70, 72, 118, 163, 209, 219f. Kapitalistische Marktgesellschaft 31 Kapitalkoeffizient 80 Kapitalrentabilitat ¨ 154 Kapitalstock 36f., 70–73, 7 75, 78–80, 8 209 Kartell 151 Kataster 29 Koalitionsrecht 46 Koalitionsverbot 46 Kolonialsystem 177 Kommodifizierung 40 Konjunktur 51, 129, 150, 152, 160, 162, 165–173, 209, 213–215, 219 1 2 Konjunkturelle Rhythmik 160, 172 Konjunkturprogramm 219 Kredit 73f., 77, 102f., 106f., 110, 113, 147, 164, 170, 198, 200, 202f., 208, 211, 213f., 216–218 2 Krieg 9, 12f., 28, 33–36, 3 47–51, 5 66, 78f., 104f., 108f., 111f., 129, 155, 166, 172f., 178f., 184f., 188, 192f., 198, 201–204, 214f. 2 Kriegsrohstoffgesellschaften 201 Krise 10, 17, 28, 33–36, 3 47f., 51f., 76, 78f., 105, 110, 122, 124, 129, 148, 153, 160–173, 1 184, 194, 202f., 205, 208–220 2 Krisenpropheten 209 Kuhlkette 180 ¨ Lagerzyklen 168f. Landwirtschaft 9f., 34, 41–44, 4 51f., 73, 132–138, 167, 179, 183, 186, 195, 197, 200 1 Langes 19. Jahrhundert 44 Leibeigenschaft 9, 193, 195 Lohn 13f., 16f., 25, 40–51, 5 111, 128, 152, 186, 203 Lohnniveau 13
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Lohnquote 119–125 1 Lohnstopp 49 Londoner Schuldenabkommen 112 Machtergreifung 110, 215 Malthusianisches Gesetz 85 Manufaktur 35, 43, 196 Marktkapitalisierung 146 McDonaldisierung 143 MEFO-Wechsel 110 Merkantilismus 196, 197f. Merkantilsystem 181 Mississippi-Schwindel 163 Mittelalter 9–13, 1 24f., 64, 101, 103, 132, 146, 161 Monopol 106, 196 Monroe-Doktrin 183 National Bureau of Economic Research (NBER) 30, 168, 171 Nationalokonomie 99, 224 ¨ Nationalsozialismus 78, 110, 203, 215 Naturwissenschaft 62 Neoklassische Produktionstheorie 35f. Neoklassische Wachstumstheorie 59 Neolithische Revolution 24 Nettokapitalbildung 72, 75 Nettoproduktion 35 Neuzeit 12, 14, 17, 65, 71, 100–103, 108, 163, 1 165, 192f. New Deal 213f. New Economy 215 Norddeutscher Bund 46, 197 Normalarbeitsverhaltnis 47, 50 ¨ Ökonomischer Input 27 Organisation fur ¨ wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 26, 185, 204 Pareto-Alpha 120, 123f. Partialobligation 107 Patrizier 194 Patronatsherr 194 Pauperismus 14f., 44, 76, 122 Pest 9, 13, 25 Physiokratie 60, 133f. Ponzi-System 211 Preisstopp 49, 110f., 203 Preußen 17, 29, 52, 55f., 75, 94, 102–105, 1 107, 122, 148–150, 163, 183, 187, 194–199 1 1 Preußische Fabriktabellen 29 Produktinnovation 87 Produktionsfaktor 12, 27, 35, 37, 56–58, 5 60f., 85f., 118, 119, 179, 186
250
Produktivitat ¨ 9–12, 1 57, 66, 85, 91f., 182, 195 Pro-Kopf-Einkommen 8, 17f., 25, 28, 32–34, 3 123, 136 Protektionismus 183f., 186, 200 Prozessinnovation 87 Public property 72 Puddelverfahren 95–97 97 Rating-Agenturen 218 Rationalisierung 36, 48, 50, 137, 214 Reallohnverfall 14, 25 Realwirtschaft 210f., 218 Reparationen 109f., 202, 214 Reproduktion 40 Rohstoffbewirtschaftung 110 Romisches Imperium 9 ¨ Sachkapital 57, 70f. Schlesien 75, 94–96, 9 179 Schlichtungswesen 48 Schwarzer Freitag 207f., 212 Security Exchange Act 213 Segregation 51 Sektortheorie 61, 132, 136–143 1 Siliqua 101 Skalenertrage 186 ¨ Skill-ratio 120, 123–125 1 Sklavenhandel 177 Solidus 101 Soziale Frage 46 Sozialprodukt 27–31, 3 34f., 37, 72, 75, 108, 110, 125, 171, 203, 214 Spekulation 160, 163–165, 173, 208, 210–212, 1 2 219f. Spekulationsblase 163f., 210 Staatshaushalt 111, 149, 203, 214 Stille Reserve 50 Strukturwandel 62, 132–139, 153f. 1 Subprimes 216 Subsistenz 11f., 14, 17, 40, 102, 126 Tarifvertrag 47 Tulpenmanie 160, 163 Universitat ¨ 55 Unternehmer 46f., 71, 75f., 80, 86, 93f., 96, 128f., 139, 154, 203 Unternehmerische Dispositionsfreiheit 129 USA 19, 30, 34, 66–68, 6 72, 124, 139, 143, 146f., 155, 168, 171, 180, 183–185, 208, 1 211f., 214f., 218–220, 224 2 Versailler Vertrag 109 Versicherung 46–48, 4 74, 103, 128, 135, 151, 200
SACHREGIS TER
Volkseinkommen 25, 30f., 111, 120, 122f. Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) 28, 31f. Vollbeschaftigung 49, 50, 109 ¨ Wachstum 13, 23–30, 3 32–38, 3 44f., 56–68, 6 70–75, 129, 7 77, 80, 84–87, 8 113, 122–124, 1 133, 140, 146, 149–155, 168–173, 184, 199, 1 1 208–210., 219f. 2 Wachstumskomponenten 35, 37 Wachstumsrate 26f., 34, 59, 66, 170 Wachstumstheorie 59 Wagnersches Gesetz vom wachsenden Staatsbudget 204 Wall Street 207f. Wasserhaltung 93f. Wechseldiskont 199 Wechselverkehr 199 Wehrhoheit 194 Weimarer Republik 48, 108, 110, 202, 214f. Weltwirtschaftskrise 34, 110, 173, 202f., 208, 211–213 2 Wertschopfung 34f., 67, 80, 132–136, 140f., ¨ 1 156, 189, 203
Wettbewerb 36, 49, 97, 151, 182–184, 219 1 Wirtschaftswachstum 24–28, 2 33–37, 3 45, 59, 64f., 70f., 75, 80, 84–87, 8 97, 123f., 173, 208f., 219 Wirtschaftswunder 34, 37, 49, 173, 204 Wissensgesellschaft 60–63, 6 118, 140 Wohlfahrt 8, 12, 19, 24f., 27–33, 3 35, 58, 65f., 124f., 141, 155, 182, 204 Wohlfahrtsrelevante Lebensbereiche 32 Wohlstand 7–9, 9 11f., 18, 23f., 28–37, 3 57, 76, 123, 137, 139, 151, 173, 186, 204, 215, 219 Wohlstandsgesellschaft 12, 18, 33, 137 WTO 186 Zahlungsbilanz 113, 184f., 188f. Zentralverwaltungswirtschaft 31 Zettelbank 105, 199 Zoll 30, 104, 139, 183–185, 187, 200 1 Zunftzwang 196 Zweiter Weltkrieg 28, 33, 35, 66, 79, 111, 184f., 188, 214
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AN HA N G
16.4 Glossar Tiefpunkt in der landwirtschaftlichen Entwicklung aufgrund von Missernten, wirtschaft-
Agrarkrise
liche Not. Akkumulation
Baisse
Anhaufung, ¨ Konzentration, Ansammlung (von Kapital).
(von mittellateinisch allocare – platzieren, zuteilen) Verteilung (von knappen Gutern). ¨
Allokation
Phase anhaltender starker Kursruckgange ¨ ¨ an der Borse. ¨ Das Gegenteil ist eine > Hausse.
Internationales Wahrungssystem von festen Wechselkursen nach dem Zwei¨ ten Weltkrieg. Leitwahrung war der auf einem > Goldstandard beruhende US-Dollar. 1973 wurde ¨ das Bretton-Woods-System außer Kraft gesetzt, in den meisten Landern wurden die Wechselkurse frei¨ gegeben. Bretton-Woods-System
¨ Gesamtwert aller Guter (Waren und Dienstleistungen), die innerhalb eines Jahres in einer Volkswirtschaft (in einem Land) produziert werden.
Bruttoinlandprodukt (BIP)
Dawes-Plan Neuregelung der > Reparationsverpflichtungen Deutschlands nach dem Ersten Welt¨ ¨ krieg im Jahre 1924. In ihm wurde u. a. die Hohe der Forderungen begrenzt und man bemuhte sich, ¨ ¨ wirtschaftliche Faktoren gegenuber politischen mehr in den Vordergrund zu rucken. Ziel war es, die ¨ ¨ Reparationsforderungen der tatsachlichen Leistungsfahigkeit der Weimarer Republik anzupassen. Deflation
Allgemeiner und signifikanter Ruckgang ¨ des Preisniveaus.
Staatliche Eingriffe in den Zahlungsverkehr mit dem Ausland, die die Um¨ ¨ ¨ ¨ ¨ tauschbarkeit der inlandischen Wahrung in auslandische Wahrungen einschranken. Die wichtigsten ¨ ¨ Grunde sind ein Mangel an Devisen (Forderungen und Guthaben in fremder Wahrung) und das Bestreben, einen nicht marktgerechten Wechselkurs aufrechtzuerhalten bzw. durchzusetzen.
Devisenbewirtschaftung
Vorherrschende Gesellschaftsform im europaischen Mittelalter; der uberwiegende Teil ¨ ¨ der Bevolkerung bewirtschaftet als Lehnsmanner das Land der jeweiligen Lehnsherrn. Lehnsmann und ¨ ¨ -herr sind einander zu gegenseitiger Treue verpflichtet.
Feudalismus
Freihandel Internationaler Handel, der durch keine staatlichen Interventionen und Bestimmungen (z. B. Zolle) gehemmt und beeinflusst wird. ¨ Faktorproduktivität
¨ ¨ Verhaltnis zwischen erzeugten Gutern und Einsatzmenge der > Produktionsfak-
toren. GATT Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade); interna-
¨ tionale Vereinbarung uber den Welthandel. Das Abkommen trat 1948 in Kraft, bis 1994 wurde von den bis dahin 123 beteiligten Staaten in acht Verhandlungsrunden eine weitgehende Liberalisierung des internationalen Handels (> Freihandel) vereinbart. Das Abkommen gilt als Grundlage der > WTO, in die es heute eingegliedert ist. ¨ Wahrungssystem, in dem der Wert des Geldes eines Landes durch Gold ¨ gedeckt ist; eine bestimmte Wahrungseinheit kann also gegen eine bestimmte Menge an Gold eingetauscht werden.
Goldbindung / Goldstandard
Große Depression
(Englisch: Great Depression) Schwere Wirtschaftskrise in den USA, die mit dem
> Schwarzen Donnerstag am 24. Oktober 1929 begann und die amerikanische Wirtschaft in den
1930er-Jahren dominierte. Die wirtschaftliche Entwicklung in den USA war dabei Ursache und Bestandteil der Weltwirtschaftskrise jener Zeit. (> KAPITEL 14.2) Hausse
Phase stark ansteigender Kurse an der Borse. Das Gegenteil ist eine > Baisse. ¨
Hintersassen
Vom Grundherrn abhangige Bauern im Mittelalter. ¨
¨ Bildung, Wissen und Konnen von Individuen, sofern dies als > Produktionsfaktor eingesetzt werden kann. (> KAPITEL 4)
Humankapital
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GL OSSA R
Hyperinflation Rascher und gigantischer Anstieg des Preisniveaus (mehr als 50-prozentige > Infla¨ tionsrate im Monat) infolge der Erhohung der kursierenden Geldmenge durch Staat oder Zentralbank. Ein Beispiel ist die Hyperinflation in der Weimarer Republik in den Jahren 1922 und 1923. (> KAPITEL 7)
Auf Karl Marx zuruckgehende ¨ Bezeichnung der Masse arbeitsloser Arbeiter, die durch den technischen Fortschritt ihre Arbeit verlieren. Nach Marx brauchen die Kapitalisten die Arbeitslosen, um die arbeitende Bevolkerung unter Druck zu setzen. ¨
Industrielle Reservearmee
Inflation
Geldentwertung gemessen durch einen Anstieg des Preisniveaus und / oder des Wechselkur-
ses. Innovation Erneuerung im betrieblichen oder volkswirtschaftlichen Produktionsprozess von technischer, organisatorischer, institutioneller oder sozialer Art. (> KAPITEL 6) Kapital / Kapitalstock Produktionsmittel und -guter, wie z. B. Werkzeuge, Maschinen, Anlagen etc., ¨ die zur Produktion verwendet werden; auch: Finanzkapital (Kapital in Form von Geld). Kapitalismus Wirtschaftsordnung, die durch das Privateigentum an Produktionsmitteln und eine ¨ Steuerung uber den freien Markt bestimmt ist.
¨ Sich wiederholende Phasen von Auf- und Abschwung der Wirtschaftstatigkeit in einer Volkswirtschaft.
Konjunktur Liquidität
Verfugbarkeit ¨ von Zahlungsmitteln.
Vorherrschende Wirtschaftsform vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in Europa, die ¨ durch das Streben nach Reichtum durch Überschusse im Außenhandel gekennzeichnet war (hoher Export, geringer Import).
Merkantilismus
Monopol Marktsituation, in der ein bestimmtes Gut nur von einem Anbieter angeboten wird. Daraus ¨ folgt, dass der Monopolist Preise und Mengen ohne Berucksichtigung von Konkurrenten selber festlegen kann. Neoklassik Wirtschaftswissenschaftliches Theoriegebaude, welches die klassischen Theorien ab der ¨ zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts abloste und bis heute die Wirtschaftswissenschaften dominiert. ¨ ¨ Die neoklassische Theorie stellt die Wirtschaft vor allem als System von Markten dar, auf denen An¨ gebot und Nachfrage durch die Guterpreise ins Gleichgewicht gebracht werden. Die Verbraucher ha¨ ben dabei bestimmte Bedurfnisse und wollen durch den Konsum von Gutern großtmoglichen personli¨ ¨ ¨ ¨ ¨ chen Nutzen erreichen.
Paket von Wirtschafts- und Sozialreformen in den USA in den 1930er-Jahren. Initiator ¨ war der damalige US-Prasident Franklin Roosevelt. Durch staatliche Investitionen sollten die Folgen der > Großen Depression, im Wesentlichen die aufkommende Massenarbeitslosigkeit, aufgefangen werden.
New Deal
¨ Normalarbeitsverhältnis Unbefristetes Arbeitsverhaltnis mit geregeltem Lohn, bei dem der Arbeitnehmer in eine Unternehmensstruktur eingebettet ist und der Weisungsgewalt des Arbeitgebers unterliegt. (> KAPITEL 3.2) OECD Organisation fur ¨ wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Cooperation and Development); Zusammenschluss von 30 Industriestaaten mit dem Ziel, wirtschaftliches Wachstum und Welthandel zu fordern. ¨ Die OECD ist keine uberstaatliche ¨ Organisation, sondern hat eher den Charakter einer permanent tagenden Konferenz.
Katastrophale Massenarmut (vor allem im landlichen Bereich) zu Beginn des 19. Jahr¨ hunderts, welche durch ein schnelles Wachstum der Bevolkerung und eine damit einhergehende Ver¨ knappung der Ressourcen ausgelost ¨ wurde.
Pauperismus
Physiokratie Wirtschaftslehre aus der Zeit der Aufklarung, ¨ welche den landwirtschaftlichen Sektor ¨ ¨ als einzig wertschopfenden begreift. Hauptvertreter war der franzosische Ökonom Franc¸ois Quesnay.
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¨ Produktionsfaktor Alle materiellen und immateriellen Mittel, die zur Produktion von Gutern beitragen. Klassischer Weise sind dies Arbeit, Boden und > Kapital. Produktivität
Verhaltnis ¨ zwischen produzierten Gutern ¨ und eingesetzten > Produktionsfaktoren.
¨ Einkommen, das ein Einwohner eines Landes jahrlich im Durchschnitt ver¨ des jeweiligen dient. Zur Berechnung teilt man das > Volkseinkommen durch die Bevolkerungszahl Landes. Pro-Kopf-Einkommen
Reparationen
¨ Kriegsentschadigungen.
Reproduktion
¨ Vermehrung, Vervielfaltigung.
¨ 24. Oktober 1929, der Tag an dem an der New Yorker Borse die Aktienblase platze. Der Schwarze Donnerstag gilt als Beginn der > Großen Depression und der Weltwirtschaftskrise. In Europa wird er aufgrund der Zeitverschiebung auch „Schwarzer Freitag“ genannt. Schwarzer Donnerstag
(> KAPITEL 14.2)
¨ ¨ Sektortheorie Auf den franzosischen Ökonomen Jean Fourastie´ zuruckgehende volkswirtschaftliche ¨ ¨ Theorie, welche eine Volkswirtschaft in drei Sektoren (primarer Sektor: Landwirtschaft; sekundarer ¨ Sektor: Industrie; tertiarer Sektor: Dienstleistungen) unterteilt. Fourastie´ beobachtete in vielen Volks¨ ¨ und spater ¨ wirtschaften einen Strukturwandel, in dessen Rahmen zunachst der sekundare vor allem ¨ Sektor zunehmend Bedeutung erlangten. (> KAPITEL 9) der tertiare ¨ Skalenerträge (economies of scale) Rate der Erhohung der Produktionsmenge bei proportionaler ¨ Erhohung der > Produktionsfaktoren. Bei Massenproduktion wird in der Regel von steigenden Ska¨ ¨ ¨ ausgegangen. lenertragen aufgrund von Arbeitsteilung, großeren Produktionsmitteln u. a. Soziale Frage Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Missstanden, die mit dem Aufkommen ¨ der Industriellen Revolution einhergingen. War zunachst der > Pauperismus Kernproblem der Sozialen ¨ Frage, betraf diese im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts vor allem die Industriearbeiter. Diese waren zunehmend von schlechten Arbeits- und Wohnbedingungen betroffen.
¨ Summe aller von Inlandern im Laufe eines Jahres aus dem In- und Ausland bezogenen ¨ ¨ ¨ Erwerbs- und Vermogenseinkommen, wie Lohne, Gehalter, Mieten, Zinsen, Pachten und Vertriebsgewinne.
Sozialprodukt
> Sozialprodukt
Volkseinkommen
Volkswirtschaftliche Gesamtrechung (VGR) Statistisches Erfassung makrookonomischer Daten mit ¨ dem Schwerpunkt Entstehung, Verteilung und Verwendung des > Bruttoinlandsprodukts. In Deutschland wird die VGR vom statistischen Bundesamt aufgestellt. Wachstumsrate
Durchschnittliche relative Zunahme einer Große ¨ pro Zeiteinheit.
Wirtschaftswachstum Änderung des > Bruttoinlandproduktes von einer Periode zur nachsten. Wirt¨ schaftswachstum gilt heute als eines der Hauptziele staatlicher Wirtschaftspolitik. Wohlfahrt
¨ Sicherung der menschlichen Grundbedurfnisse und eines gewissen Lebensstandards.
WTO Welthandelsorganisation (World Trade Organization); Organisation, die sich mit der Regelung ¨ ¨ von internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen beschaftigt. Die WTO wurde 1994 gegrundet und hat derzeit 153 Mitglieder. Im Rahmen der WTO abgeschlossene Abkommen haben Bedeu¨ nationales Recht, da die Mitgliedsstaaten sich verpflichtet haben, ihre nationalen Gesetze enttung fur sprechend anzupassen. Zahlungsbilanz Erfasst alle okonomischen ¨ Transaktionen zwischen Inlandern ¨ und Auslandern ¨ und gibt so Auskunft uber ¨ die Verflechtung einer Volkswirtschaft mit dem Ausland.
¨ Als Aktiengesellschaften organisierte private Notenbanken in den deutschen Landern ¨ vor der Grundung des Deutschen Reichs 1874.
Zettelbanken
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