Novalis und die Wissenschaften [Reprint 2010 ed.] 9783110928037, 9783484107410


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Novalis und die Wissenschaften [Reprint 2010 ed.]
 9783110928037, 9783484107410

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Novalis und die Wissenschaften

Schloß Oberwiederstedt

Novalis und die Wissenschaften Herausgegeben von Herbert Uerlings

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Schriften der Internationalen Novalis-Gesellschaft, Bd. 2

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Novalis und die Wissenschaft: hrsg. von Herbert Uerlings. - Tübingen : Niemeyer, 1997 NE: Uerlings, Herbert [Hrsg.] ISBN 3-484-10741-3 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Herbert Uerlings Zum Geleit: Hans-Joachim Mahl

VII IX

Herbert Uerlings Novalis und die Wissenschaften. Forschungsstand und Perspektiven

i

Gabriele Rommel Novalis' Begriff vom Wissenschaftssystem als editionsgeschichtliches Problem

23

John Neubauer Das Verständnis der Naturwissenschaften bei Novalis und Goethe

49

Dietrich von Engelhardt Novalis im medizinhistorischen Kontext

65

Ulrich Stadier Zur Anthropologie Friedrich von Hardenbergs (Novalis)

87

Dennis F. Mahoney Hardenbergs Naturbegriff und -Darstellung im Lichte moderner Chaostheorien

107

Fergus Henderson Romantische Naturphilosophie. Zum Begriff des >Experiments< bei Novalis, Ritter und Schelling

121

Manfred Engel »Träumen und Nichtträumen zugleich«. Novalis' Theorie und Poetik des Traumes zwischen Aufklärung und Hochromantik . .

143

Daniel Lancereau Novalis und Leibniz

169

VI

Inhaltsverzeichnis

Friedrich Strack Novalis und Fichte. Zur bewußtseinstheoretischen und zur moralphilosophischen Rezeption Friedrich von Hardenbergs

193

Gerhard Schulz Novalis' Erotik. Zur Geschichtlichkeit der Gefühle

213

Klaus Peter Novalis, Fichte, Adam Müller. Zur Staatsphilosophie in Aufklärung und Romantik

239

Ira Kasperowski Novalis und die zeitgenössische Geschichtsschreibung. Zum Bild des Mittelalters im >Heinrich von Ofterdingen
Novalis und die Wissenschaften< gewidmet. Die Tagung wäre nicht zustandegekommen ohne die tätige Mithilfe der Forschungsstätte für Frühromantik. Für ihre Bereitschaft, dafür über einen längeren Zeitraum hinweg bis an die Grenzen des Zumutbaren und darüber hinaus zu arbeiten, sei der Leiterin der Forschungsstätte, Frau Dr. phil. habil. Gabriele Rommel, und ihren Mitarbeiterinnen noch einmal nachdrücklich gedankt. Herzlicher Dank gebührt außerdem Sophia Victor, Hamburg, für ihre Diskussionsmitschriften, Gertrud Hoffmann, Trier, für ihre Mitarbeit bei der Transkription der Tonbänder und der Erstellung der Druckvorlage und vor allem Herrn Dr. Johannes Endres, Trier, für die Mühen der Korrektur. Ohne finanzielle Unterstützung hätte die Internationale Novalis-Gesellschaft ihre erste Fachtagung nicht in der Form, in der sie dann stattfand, durchführen können. Für die großzügige Förderung ist sie der DFG und dem Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes SachsenAnhalt zu Dank verpflichtet. Aus den Werken Friedrich von Hardenbergs wird in den Beiträgen dieses Bandes zitiert nach: Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mahl und Gerhard Schulz. 3., nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden mit einem Begleitband. Stuttgart, Bd. i: 1977, Bd. 2: 1981, Bd. 3: 1983. Bd. 4 wird nach der 2. Aufl. 1975, Bd. 5 nach der i. Aufl. 1988 zitiert.

Die Zitatnachweise erfolgen im laufenden Text in runden Klammern nach dem Muster (Bandzahl, Seite: Nr. einer Aufzeichnung). Trier, den 26. Juli 1995

Herbert Uerlings

Zum Geleit

Die Internationale Novalis-Gesellschaft, in deren Schriftenreihe der vorliegende Tagungsband erscheint, wurde am 2. Mai 1992, dem 220. Geburtstag des Dichters, im Schloß Oberwiederstedt (Sachsen-Anhalt) gegründet. Novalis, nach heutigem Urteil der bedeutendste Dichter und Denker der deutschen Frühromantik, fiel in der ehemaligen DDR bekanntlich über Jahrzehnte hinweg unter das Verdikt eines Schwärmers und Reaktionärs, und so kam dem Gründungsakt in seinem Geburtshaus, zu dem sich Mitglieder aus den alten wie aus den neuen Bundesländern gleichermaßen zusammenfanden, auch eine kulturpolitische Bedeutung zu. Unsere Gesellschaft fühlt sich dabei dankbar verpflichtet dem Einsatz mutiger Wiederstedter Bürger aus der Zeit noch vor der Wende, ohne den es das Schloß, den heutigen Sitz der Gesellschaft und einer Forschungsstätte für Frühromantik, nicht mehr gäbe: Dieser regionale Wurzelgrund, aus dem die Gesellschaft erwachsen und hervorgegangen ist, nämlich die vielfältigen Initiativen am Ort Wiederstedt und im Mansfelder Land, die dem Erhalt und der Restaurierung des bereits zum Abriß bestimmten Schlosses galten, sollten nicht in Vergessenheit geraten und werden daher auch durch die Wahl unseres Tagungsortes bei den jährlich stattfindenden Mitgliederversammlungen dankbar unterstrichen. Die Zahl unserer Mitglieder ist seit der Gründung der Gesellschaft ständig angewachsen und umfaßt mittlerweile über 300 Personen aus insgesamt 17 Ländern, darunter führende Romantikforscher aus aller Welt. Auch bedeutende Institutionen sind der Gesellschaft bereits beigetreten, so die Eichendorff-Gesellschaft oder die Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die Gesellschaft will nach den in ihrer Satzung festgelegten Aufgaben und Zielen die Auseinandersetzung mit dem Werk und der Persönlichkeit Friedrich von Hardenbergs fördern und einer weiteren Öffentlichkeit Anregungen zur Beschäftigung mit ihm geben. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten soll sie die Erforschung des Werkes und der Biographie sowie die Sammlung von Novalis-Dokumenten unterstützen und sich an der Erhal-

X

Zum Geleit

tung und Pflege der Wirkungsstätten von Novalis und anderen Künstlern der Romantik in der sächsisch-anhaltinischen Region beteiligen. Durch ihre Veranstaltungen, die Vorträge, Ausstellungen, Lesungen, Exkursionen umfassen, will sie auf die Bedeutung des Dichters im Kontext der Frühromantik für die Gegenwart aufmerksam machen. Diese Ziele sind in den zurückliegenden drei Jahren unter lebhafter Resonanz in der Öffentlichkeit und mit Unterstützung durch staatliche Stellen und private Stiftungen verfolgt und in ersten Schritten richtungsweisend verwirklicht worden: Die Bemühungen um den Wiederaufbau des Schlosses Oberwiederstedt und die Rettung der vom Verfall bedrohten Schloßkirche wurden in Zusammenarbeit mit dem Kuratorium »Novalis Geburtshaus« weitergeführt; in der Forschungsstätte wurde mit der Sammlung aller, über viele Orte und Länder verstreuten Handschriften von Novalis in Form von Filmen und Photokopien sowie mit dem Aufbau einer Bibliothek begonnen, die alle aus den Lektürenotizen und Bücherlisten des Autors zu erschließenden Werke des zeitgenössischen Schrifttums sammelt und zu einer >imaginären Bibliothek< zusammenstellt; bei den jährlichen Festveranstaltungen standen neben wissenschaftlichen Vorträgen auch Ausstellungen der modernen bildenden Künste, musikalische Darbietungen aus der Zeit der Romantik, Lesungen romantischer Texte und Exkursionen zu den Wirkungsstätten Hardenbergs und anderer Romantiker im Mittelpunkt des Programms. Erstmals wurde im Herbst 1994 mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft auch eine wissenschaftliche Fachtagung unter dem Leitthema >Novalis und die Wissenschaften< in Schloß Oberwiederstedt veranstaltet, für deren gedankliche und organisatorische Vorbereitung wir unserem Präsidiumsmitglied Herbert Uerlings zu besonderem Dank verpflichtet sind. Es war das erste Mal in der Geschichte der Romantikforschung, daß unserem Autor überhaupt eine eigene Konferenz gewidmet wurde — wenngleich Novalis in allen Romantik-Kongressen der letzten beiden Jahrzehnte natürlich immer schon eine zentrale Rolle gespielt hat. Das Leitthema erklärt sich aus der Tatsache, daß kein zweiter Autor der Romantik sich so gründlich und vielseitig mit den unterschiedlichsten, auch naturwissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt und Entwürfe zu einer romantischen >Enzyklopädistik'Blüthenstaub' — Rezeption und Wirkung des Werkes von Novalis Poetisierung der Wissenschaften< gearbeitet. Seine poetischen Texte, in besonderer Weise gilt das für die >Lehrlinge zu Sais< und Klingsohrs Märchen, sind voller Anspielungen auf Ergebnisse, Modelle und Theorien der zeitgenössischen Wissenschaften und der Naturphilosophie, und umgekehrt mündet die außerästhetische Behandlung der Wissenschaften in Fragen der Darstellung und endet mit der Überlegung, daß die Vielfalt des Wissens eine Vielfalt von Ausdrucksformen benötigt. 7

Dilthey, Wilhelm: Novalis. In: Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing — Goethe - Novalis - Hölderlin. 14. Aufl. Göttingen 1970 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 191), S. 187-241, 323-326, hier S. 211. 8 Zum Stand der Novalis-Forschung vgl. Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991.

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Herbert Uerlings

Die Beschäftigung mit den Wissenschaften ist also nichts, was dem Romantiker äußerlich geblieben wäre. Im Gegenteil: Über die Beschäftigung mit den Wissenschaften ist Novalis zum Romantiker geworden;9 ein schöner Beleg dafür ist seine bekannte Definition des >RomantisirensRomantisirensursprüngliche Sinn< zum Grenzwert wird und das >Romantisiren< zu einer unendlichen Tätigkeit. Diese Idee einer unendlichen Tätigkeit scheint genau das gewesen zu sein, was Novalis in der Mathematik zu finden glaubte. Sein Interesse an der Mathematik war eines an Phänomenen wie Grenzwert, Kontinuität und Ableitung oder an den Versuchen, das Verhältnis endlicher und unendlicher Größen im Infinitesimalkalkül zu bestimmen. Es war also ein Interesse am funktionalen Charakter mathematischer Gegenstände. Hier werden nicht Gestalten, sondern Beziehungen gesetzt, die aus sich heraus 9

Vgl. Uerlings, Herbert: Novalis in Freiberg - Die Romantisierung des Bergbaus. In: Aurora (im Druck).

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Größen generieren. Das einfachste Beispiel dafür ist die natürliche Zahlenreihe, die aus der Relation > + i < erzeugt wird und sich ins Unendliche selbst erzeugt. »Wer zuerst bis zwey zu zählen erfand, sah, wenn ihm auch selbst das Fortzählen noch schwer ward, doch die Möglichkeit einer unendlichen Fortzahlung nach denselben Gesetzen« (11,558:142). Der Begriff der Funktion als einer Relation zwischen mindestens zwei festen oder veränderlichen Größen ermöglichte es, Größen nicht mehr nur als diskrete, sondern auch als kontinuierliche, erzeugte und sich selbst erzeugende zu verstehen. Durch die Beschäftigung mit der Infinitesimalrechnung, d. h. der Analysis des Unendlichen und den Begriffen der Stetigkeit oder Kontinuität, gewinnt Novalis Modelle, die den stetigen Übergang zwischen Verschiedenem zu denken erlauben, in der Mathematik etwa den zwischen Ellipse, Parabel und Hyperbel und in der Mechanik den zwischen Ruhe und Bewegung. Abschließbar sind solche Prozesse nicht; in einem prinzipiell unendlichen Prozeß fallen Erzeugnis und Erzeugung zusammen, mit Novalis Worten: »Alle Vereinigung des Heterogenen führt auf 00 « (111,448:935). Hardenbergs Interesse an der Mathematik war also im Kern eines an einer »Erfindungskunst« (III, 128), an einem System des Wissens, das Wissen nicht statisch wie auf einem Tableau ordnet, sondern unendlich erzeugt. In diesem Sinne heißt es einmal: »Jedes wahre System muß dem Zahlensystem ähnlich geformt seyn« (111,396:682). Mit seinen Überlegungen stand Novalis in einer Tradition, die ihm gut vertraut war. Auf dem Felde der Mathematik führt sie über Hindenburgs Kombinatorik und Kants Auffassung von den Sätzen der reinen Mathematik als synthetischen Urteilen a priori zurück bis zur ars combinatoria und zur Idee einer mathesis universalis bei Descartes und Leibniz. Neben der Mathematik bildet die Geschichte der Naturphilosophie einen weiteren wichtigen Bezugspunkt für Novalis' Selbstverständigung. Seine Stellung in dieser Tradition hat er selbst einmal kurz umrissen. »Ritter ist Ritter und wir sind nur Knappen«, schrieb er Anfang 1799 an Caroline Schlegel. Aber auf Ritter, Baader und Schelling bezogen, heißt es dann selbstgewiß und hoffnungsfroh: Das Beste in der Natur sehn indeß diese Herrn doch wohl nicht klar. Fichte wird hier noch seine Freunde beschämen - und Hemsterhuis ahndete diesen heiligen Weg zur Physik deutlich genug. Auch in Spinotza lebt schon dieser göttliche Funken des Naturverstandes. Platin betrat, vielleicht durch Plato erregt, zuerst mit achtem Geiste das Heiligthum - und noch ist nach ihm keiner wieder so weit in demselben vorgedrungen. In manchen altern Schriften klopft

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ein geheimnißvoller Pulsschlag und bezeichnet eine Berührungsstelle mit der unsichtbaren Welt — ein Lebendigwerden. Göthe soll der Liturg dieser Physik werden — er versteht vollkommen den Dienst im Tempel. Leibnitzens Theodicee ist immer ein herrlicher Versuch in diesem Felde gewesen. Etwas ähnliches wird die künftige Physik - aber freylich in einem höhern Style. (IV,275f.)

Hardenbergs Stellung in der Geschichte mathematischen Denkens und der Tradition der Naturphilosophie sind in der Forschung verschiedentlich untersucht worden, dennoch gibt es offene Fragen und Desiderata, und deshalb wird in diesem Band den Beziehungen zu Fichte, zu Goethe, zu Leibniz, aber auch zu Johann Wilhelm Ritter nachgegangen, der in dem Brief an Caroline Schlegel so seltsam doppeldeutig bewertet wird. Ein zentrales Thema der Forschung ist dabei die Frage, wodurch Hardenbergs >Physik in einem höhern Style< ihre Verbindlichkeit erhält, d. h. ob sie im Rückgriff auf die Tradition bzw. zeitgenössische Entwürfe metaphysisch oder transzendentalphilosophisch begründet wird oder in einer spezifisch frühromantischen Religiosität, oder ob wir in ihr eine Art Vorläuferin moderner oder gar postmoderner Konzepte sehen dürfen. Das ist im einzelnen, d. h. wenn man sich Hardenbergs Aufzeichnungen ansieht, die während der Auseinandersetzung mit dem Werk eines anderen Autors entstanden sind, oft schwer zu sagen. Insgesamt aber bleibt seine Maxime zu bedenken: »Man studirt fremde Systeme um sein eignes System zu finden« (111,278:220). Was aber wäre das >eigne System< des Novalis? Die Frage ist schon deswegen schwer zu beantworten, weil wir nicht sicher sein können, ob er aus seiner Sicht ein >eignes System< gefunden hat. Die Enzyklopädistik jedenfalls, aus deren Umfeld diese Wendung stammt, ist eine Materialsammlung geblieben. Etwas >Eignes< aber, wenn auch vielleicht kein >Systemromantisches< System, hat Novalis in der Denkbewegung gefunden, die er >Romantisiren< nennt und die das poetische, theoretische und >politische< Werk durchzieht. Über die geplante Enzyklopädistik heißt es einmal, sie enthalte »wissensch[aftliche] Algeber - Gleichungen. Verhältnisse - Aehnlichkeiten Gleichheiten - Wirckungen der Wissenschaften auf einander« (III, 280:233). Das Projekt zielte nicht auf ein lexikalisches Kompendium, sondern auf eine systematische Wissenschaftskunde, eine Darstellung des Zusammenhangs aller Wissenschaften. Die gesuchte Einheit wird bei Novalis nicht über die Sammlung substantiellen Wissens, nicht über Inhalte, sondern über Verfahren gesucht. Solche Herstellung von Einheit über Verfah-

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ren hat Novalis häufig >Construction< genannt. Diese Bezeichnung verweist auf die mathematische Konstruktion von Unbekanntem aus Bekanntem, und eine Notiz aus den >Physicalischen Fragmenten< macht die Universalisierung dieses Modells deutlich: Wie man in der Mathemfatik] durch regelmäßiges Functioniren bekannter Glieder und Theile der ganzen Gleichung - die Unbekannten successive findet und construirt, so findet und construirt man in allen Wissenschaften - die Unbekannten, Fehlenden Glieder und Theile des Wissenschaftlichen Ganzen durch Functionirungen der Bekannten Glieder und Theile. (111,92)

>Constructionen< findet Novalis aber nicht nur in der Mathematik. Er nennt auch Fichtes Ich einen »Robinson — eine wissenschaftliche Fiction — zur Erleichterung d[er] Darstellung und Entwicklung] d[er] Wfissenschafts]L[ehre]« (111,405:717); andere Beispiele sind die Idee eines Anfangs der Geschichte, die »Schilderung des philosophischen] Naturstandes eines isolirten Princips - oder Begriffs« (ebd.). Grundsätzlich hält Novalis fest: »Jeder Anfang ist ein Actus d[er] Freyheit - eine Wahl — Construction eines abs[oluten] Anfangs« (ebd.). Die hier gemeinte Construction< bezeichnet ein hypothetisches Vorgehen, das von Voraussetzungen Gebrauch macht, deren Legitimität sich immer erst im Nachhinein erweisen ließe, und zwar dadurch, daß gezeigt wird, daß das Vorauszusetzende eine notwendige und hinreichende Bedingung von etwas Gegebenem ist. Die Möglichkeit eines solchen Beweises, des Abschlusses einer solchen >Construction< aber gibt es in den Augen von Novalis nicht. Insofern überschreitet die romantische Konstruktion die Grenzen der Wissenschaften. An die Stelle rationaler Selbst- und Letztbegründung tritt eine romantische Konstruktion, die Novalis in einem schönen Bild veranschaulicht hat: »Das Ganze ruht ohngefähr - wie die spielenden Personen, die sich ohne Stuhl, blos Eine auf der ändern Knie kreisförmig hinsetzen« (11,242:445). Aus dem Paradox von Notwendigkeit und Unmöglichkeit ergibt sich die spezifisch frühromantische Figur eines gegenläufigen Denkens, die in den >Fichte-Studien< als >ordo inversus< entwickelt wird und dann als >Hin und herWeg nach innen und wieder herausVor- und rückwärtsHereinwärts und herauswärtsVon unten hinauf und von oben hinunter, als >Transitus< und >Wechselrepräsentation< die gedankliche und formale Struktur des Gesamtwerkes sehr weitgehend bestimmt. Sie läßt sich als >narrative Konstruktion immanenter Transzendenzfreie Staat< aber ist eine regulative Idee, ein notwendiges, aber nie ganz zu realisierendes Ideal, kurz: eine Utopie. Die Bedeutung dieser und anderer utopischer Zielvorstellungen besteht nicht in ihrer Realisierbarkeit, sondern in ihrer Wirksamkeit als »Approximationsprincipe« (111,296:314). Das bedeutet auch, daß die Einheit der Wissenschaften, ja sogar die Einheit der Welt den Status eines Ideals, einer unendlichen Aufgabe hat. Die frühromantische Utopie geht davon aus, daß wir über »unvollkommne Wahrheiten« (111,174) nicht hinauskommen. »Um diese ist es uns aber gerade zu thun« (ebd.), denn die »Frage nach der Weltsubstanz etc. ist eine antinomische Frage« (111,178), deren Lösung nur durch Relation — »Differentiation - Integration« (111,174) ~~ gefunden werden kann. Über das Spiel dieser Relationen und ihr Zusammenschließen führt kein Weg hinaus. Schon in den >Fichte-Studien< hatte Novalis festgehalten: »[...] das Ziel des Menschen ist nicht die goldne Zeit« (11,269:565). " Vgl. Mahl, Hans-Joachim: Der poetische Staat. Utopie und Utopiereflexion bei den Frühromantikern. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp. Bd. 3. Frankfurt am Main 1985, S. 273-302.

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Das frühromantische Utopie-Konzept variiert also den Begriff der Constructions und zwar, wie Hans-Joachim Mahl gezeigt hat, im Anschluß an Kants Postulatenlehre. In dieser utopischen Variante wird deutlich, wie sehr der Begriff der Einheit nicht nur als Fluchtpunkt epistemologischer Bemühungen, sondern auch als Ausgangspunkt für Praxis fungiert. Dieser produktive Aspekt kehrt wieder, wenn im 5. >Dialog< die >Hypothese< als Mittel zur »Erweiterung der Wissenschaft« (II,668f.) gefeiert wird. Hypothesen sind unbewiesene Annahmen, mit deren Hilfe Bekanntes erklärt werden soll. Sie sind also selbst zunächst nicht beweisbar, sondern nur aus Beobachtbarem konstruierbar. Solche Konstruktion, zumal wenn sie nicht mehr auf eine wahrscheinlichkeitstheoretisch abgesicherte Bestätigung ausgerichtet ist, führt schnell in die Räume des Unsinns. Im 5. >Dialog< (und an anderen Stellen)12 hat Novalis das Arbeiten mit Hypothesen in diesem Sinne problematisiert. Der Skeptiker A nennt es »eine risquante Spielerey«. »Leidenschaftlicher Hang zur Unwahrheit« sei dabei im Spiel, und das Ganze sei eine »szientifische Unzucht«. B hält dem spöttisch entgegen: Hypothesen sind Netze, nur der wird fangen, der auswirft. Ist nicht America selbst durch Hypothese gefunden? (11,668)

Kolumbus' Hypothese war, daß man durch stetes Segeln in Richtung Westen nach Indien gelangen müsse. Diese Hypothese war in der Tat eine »risquante Spielerey« und, wie sich zeigte, eine »szientifische Unzucht«. Aber das Interessante ist eben, daß selbst — und gerade — diese Hypothese unser Wissen unendlich bereicherte und daß ohne sie Amerika für die Europäer nicht entdeckt worden wäre. Der Sprecher B hat also allen Grund zu rufen: Hoch und vor allen lebe die Hypothese - nur sie bleibt Ewig neu, so oft sie sich auch selbst nur besiegte. (Ebd.)

Die romantische Konzeption der Wissenschaft verbindet nun diese Hypothesenbildung mit der Annahme einer Einheit der Natur, einer Hypothese,13 die sich jeder Verifikation oder Falsifikation entzieht. Sie wird aber von Novalis als die notwendige andere Hälfte der Wissenschaft gedacht. »Wissenschaft ist nur Eine Hälfte. Glauben ist die Andre« "Vgl. 111,245:47, 111,468:1091 und 111,601:291. 13 Novalis spricht hier durchaus auch von einer Hypothese. Vgl.: »Die Natur fängt, um mich so auszudrücken mit dem Abstracten, an. Der Grund der Natur, ist, wie Mathematik, durchaus nothwendige Hypothese« (111,667:607). Vgl. auch 111,611:344.

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(11,257:490), schreibt er einmal und fordert gezielte »Glaubensconstruction - Construction durch Annahmen« (H,387:44).14 In dieser Verbindung von Wissenschaft und Glauben entsteht die romantische Konstruktion der Einheit der Welt. Diese Einheit ist mit szientifischen Mitteln immer nur via negationis15 zu sichern, aber auch für den politischen Bereich etwa gilt: »Jede immer getäuschte und immer erneuerte Erwartung deutet auf ein Capitel in der Zukunftslehre hin« (111,296:314). Auf diese Wechselrelation zielt auch das berühmte erste >BlüthenstaubAnalogie< meint bei ihm das, was wir heute eine >Homologie< nennen: eine Gleichheit, die durch einen gemeinsamen Ursprung verbürgt ist, auf I4

Vgl. auch »Wie der denkende Experimentator Gedanken oder Ideen, d.i. Gesetze in der Natur sucht - so sucht der Philosoph die Einheit der Gesetze oder des Gedankensystems zu einer reichen Mannichfaltigkeit zu entwickeln. Beyde können durch Verfolgung v[on] Hypothesen die glänzendsten Entdeckungen machen« (111,611:344). 15 In diesem Sinne beschreibt Novalis den »ächte[n] Hypothetiker« im 5. >Dialog< als den Erfinder, »dem vor seiner Erfindung oft schon dunkel das entdeckte Land vor Augen schwebt — der mit dem dunkeln Bilde über der Beobachtung, dem Versuch schwebt und nur durch freye Vergleichung — durch mannichfache Berührung und Reibung seiner Ideen mit der Erfahrung endlich die Idee trift, die sich negativ zur positiven Erfahrung verhält, daß beyde dann auf immer zusammenhängen — und ein neues himmlisches Licht die zur Welt gekommene Kraft umstrahle« (11,669).

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den die Analogie verweist, der aber unbekannt ist und bleibt. Die Analogie wird also möglich durch ein gemeinsames Drittes, das vorausgesetzt wird und zugleich erwiesen werden soll. Auch die Analogie führt demnach letztlich in die Räume des Nicht-Beweisbaren. Analogieschlüsse dieser Art sind ein szientifisch-poetisches Mischprodukt, wie schon Novalis wußte: »Geheimnisse der Kunst jede Naturerscheinung, jedes Naturgesetz zur Formel zu gebrauchen — oder die Kunst analogisch zu construiren« (111,561:40). Gleichwohl aber kann und soll die Analogiebildung als Erkenntnis-Verfahren dienen, darauf zielt die Aufforderung »lernt den Zauberstab der Analogie gebrauchen« (III,518). Novalis befand sich hier in guter Gesellschaft. Im Bereich der Geschichtsschreibung konnte er sich auf Schiller berufen, der in seiner Antrittsrede von 1789 von der Analogie als einem »mächtigen Hülfsmittel« 10 für den Historiker gesprochen hatte. Auch Goethe war zu dem Ergebnis gekommen: »Nach Analogien denken ist nicht zu schelten«.17 Goethe konnte auf seine Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen durch das Analogieverfahren verweisen, und Novalis schrieb schon 1798/99: »Der Magnet[ism] ist die verkehrte Elektricität und die Elektr[icität] der verkehrte Magnetism« (111,64). B's die Experimentalphysiker die magnetische Wirkung des Stroms >entdecktenVerwandtschaft< 19 aller Ideen behaupten zu können 16

Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 17: Historische Schriften, i. Teil. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn. Weimar 1970, S. 359 — 376, hier S. 373. 17 Goethe, Johann Wolfgang von: Maximen und Reflexionen. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 12. 7., überarb. Aufl. München 1973, S. 365 — 547, hier S. 308f. l8 Ebd., S. 368f. 19 »Alle Ideen sind verwandt. Das Air de Familie nennt man Analogie. Durch Vergleichung mehrerer Kinder würde man die Elternlndividuen deviniren können« (11,540:72).

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Herbert Uerlings

und dann, selbst ein »Ideenwebstuhl« (IV,2ii), die zahllosen Analogien aufzudecken. Man kann deshalb, statt die fehlende Letztbegründbarkeit zu beklagen, auch die Offenheit, die Produktivität und die Gegenstandsnähe eines solchen Denkens und Schreibens betonen, wie das im Blick auf das Analogiendenken zuletzt Ulrich Stadier getan hat: Zumindest bei Novalis dokumentiert der planvolle Umgang mit der Homologie [die Novalis >Analogie< nennt — H. U.] eine Konvergenz von Natur- und Subjektsbezug, eine Konvergenz, die es erlaubt, das Hardenbergsche Werk jener >zarten Empirie< zuzurechnen, welche Goethe aufs Höchste geschätzt hat. 20

Goethe hatte formuliert: »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird«. 21 Etwas von dieser Nähe zwischen Gegenstand und Theorie wird greifbar in der Vielfalt der Formen, in der die Enzyklopädistik ihren Ausdruck finden sollte. Schon relativ früh plant Novalis, Schlegel brieflich ein Bruchstück aus der Enzyklopädistik vorzutragen, und zwar »so romantisch, als möglich«, und er überlegt: Soll es eine Recherche (oder Essai), eine Sammlung Fragmente, ein Lichtenbergischer Commentar, ein Bericht, ein Gutachten, eine Geschichte, eine Abhandlung, eine Recension, eine Rede, ein Monolog oder Bruchstück eines Dialogs etc. werden? (111,278:218)

Und noch gegen Ende seiner Arbeit am Allgemeinen Brouillon< hält Novalis fest, daß jedes »Stück meines Buchs [...] in äußerst verschiedner Manier geschrieben seyn kann — In Fragmenten — Briefen — Gedichten — wissenschaftlich] strengen Aufsätzen etc.« (111,450:945). Hardenbergs Wissenschaftslehre, sein System der Wissenschaften, wäre demnach ein eigentümliches System geworden, »Systemlosigkeit, in ein System gebracht«, wie Novalis einmal schreibt. »Nur ein solches System kann die Fehler des Systems vermeiden und weder der Ungerechtigkeit, noch der Anarchie bezogen [bezichtigt] werden« (11,289).

20

Stadier, Ulrich: »Ich lehre nicht, ich erzähle«. Über den Analogiegebrauch im Umkreis der Romantik. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik (1993), S. 83—105, hier S. 105. 2 'Goethe, Johann Wolfgang von: Maximen und Reflexionen. In: Goethes Werke (s. Anm. 17), S. 435 (Nr. 509).

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I5

III Neuere Tendenzen der Forschung In solcher Vielfalt der Formen wird eine Lust an der Heterogenität spürbar, die bei der Beschäftigung mit Novalis leicht von den Einheitsgründen dem Absoluten, der Utopie oder dem gemeinsamen Dritten — verdeckt wird. Dabei gehört schon im >Romantisiren< zu jeder Tendenz die Gegentendenz, und auch in der Praxis führt das romantische Projekt bei Novalis ja zur Begegnung mit einer Fülle ganz unterschiedlicher Wissensbereiche und sehr verschiedener Muster der Wissensgewinnung und Wissensorganisation. Das Sammeln der Materialien zur Enzyklopädistik lebt von der Lust an der Vielfalt, auch der Vielfalt der Beziehungsstiftungen, genauso wie vom Interesse an der Einheit. In der Novalis-Forschung gibt es, wenn man vom Bereich der Hermeneutik absieht, bislang sehr wenige Arbeiten, die sich mit dieser >Lust an der Vielfalt< im Bereich der Wissenschaften auseinandersetzen. Zwei Ansätze seien kurz skizziert. Sie sind sehr unterschiedlich, haben aber gemeinsam, daß sie die Konstruktion der Natur< bei Novalis im Lichte gegenwärtiger Theorieentwicklungen beleuchten, deren Thema >Vielheit und/oder Wissenschaft^ ist.

a. Postmoderne Der erste Ansatz betrifft die Verbindlichkeit unserer Konstruktionen der Natur. Postmoderne und Dekonstruktion haben uns mit dem Gedanken der rhetorischen Natur unseres Wissens vertraut gemacht, also mit der wissenschaftskonstitutiven Rolle von Symbolen und Metaphern sowie anderer rhetorischer Figuren, mittels derer empirische Daten allererst organisiert werden. Für das ausgehende 18. Jahrhundert etwa könnte man verweisen auf die Rolle der Organismus-Metapher und, vor allem bei Novalis, auf die Bedeutung von chemischen Metaphern wie >MischungAmalgamierung< oder >Auflösungpoetische< Tätigkeit gewesen ist. So zu fragen, bedeutet, wie auch immer geartete utopiegeschichtliche, metaphysische, transzendentalöder identitätsphilosophische Hintergründe der >Konstruktion< der Natur einmal auszublenden. Zumindest in der Praxis, der Praxis der Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaftssystemen, gibt es Aufzeichnungen von Novalis, die in dieser Hinsicht einen erstaunlichen Relativismus erkennen lassen. So schreibt er einmal über das >System der Heilkunde< (dt. 1796) des schottischen Mediziners John Brown: Das Beste am Brownischen System ist die erstaunende Zuversicht, mit der Brown sein System, als allgemeingeltend, hinstellt - Es muß und soll so seyn - die Erfahrung und Natur mag sagen, was sie will. Darinn liegt denn doch das Wesentliche jedes Systems, seine wircklich geltende Kraft. Das Brownische System wird dadurch zum ächten System für die Brownianer. Dagegen läßt sich mit Grunde nichts mehr einwenden. Je größer der Magus, desto willkührlicher sein Verfahren, sein Spruch, sein Mittel. Jeder thut nach seiner eignen Art Wunder. (11,545^:107)

Von einer Versöhnung mit der Natur im traditionellen Sinne ist hier nicht die Rede, sondern davon, daß der Geist der Natur eine Struktur auferlegt, besser: eine Natur konstruiert, wo eine solche in einem strengen Sinne noch gar nicht existiert. Die Formel vom »ächten System für die Brownianer« ist mit traditionellen Vorstellungen von wissenschaftlicher Objektivität oder auch nur Intersubjektivität unvereinbar. Dieser Relativismus läßt sich auch transzendentalphilosophisch nicht mehr legitimieren, die ältere Forschung hat solche Passagen als >Magie< gefeiert oder verurteilt, den Relativismus also geleugnet oder abqualifiziert. Postmoderne, Dekonstruktion und Überlegungen zum Methoden-Pluralismus, etwa bei Paul Feyerabend, haben gezeigt, daß man mit dem Relativismus anders umgehen kann oder sogar sollte. Vielheit ist in dieser Perspektive kein Mangel, sondern eine unübersteigbare Grenze. Damit wird Novalis noch nicht zum Postmodernen am Beginn der Moderne, aber Passagen wie die über das Brownsche System, der sich andere an die Seite stellen lassen, Werke wie die >Lehrlinge zu Sais Konstruktion < der Natur bei Novalis deutlich von der Schellings und der romantischen Naturphilosophie unterschieden:

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I~J

If nature is a construct for Novalis, this does not imply that it possesses a unique and binding configuration. Rather, it is a multiplicity of hypothetical alternatives existing sideby-side and changing in time. The construction of theory is no patient, systematic endeavor but rather an intuitive and ultimately artistic shaping of what is otherwise chaos.23

Das ist im Rahmen des »Romantisirens«, der »Wechselerhöhung und Erniedrigung« nicht mehr verständlich, denn solcher Pluralismus ist nicht mehr nur eine Tendenz, die ihr Gegenstück in den regulativen Prinzipien des Absoluten, der Einheit und der Utopie fände. Neubauer hat versucht, das als Differenz zwischen programmatischen Entwürfen und Praxis verständlich zu machen: »The monistic thrust is undermined by Novalis' pluralistic practice«.24

b. Chaos-Theorie Der zweite Ansatz, der kurz skizziert sei, hat mit dem gerade genannten gemeinsam, daß er sich für nicht-kausale, allgemeiner: für nicht-lineare Zusammenhänge interessiert. Zustände oder Verhältnisse, in denen man keinerlei Zusammenhang erkennen kann, werden alltagssprachlich als >Chaos< bezeichnet. Die ChaosTheorie hat es sich seit einigen Jahrzehnten zur Aufgabe gemacht, auch dort noch Ordnung zu entdecken, wo mit herkömmlichen theoretischen Mitteln nur Unordnung zu finden ist. Das geht nur, indem neue Ordnungsmodelle entworfen werden, und in diesem Interesse berührt sich die Chaos-Theorie mit Hardenbergs Enzyklopädistik. Von daher mag eine auffallende Gemeinsamkeit im Sprachgebrauch kein Zufall sein. Von >Chaos< ist bei Novalis häufig die Rede, wenn es um schöpferische Prozesse im Bereich des Wissens oder des Dichtens geht. Zwei Bedeutungen lassen sich dabei unterscheiden. Zum einen fungiert >Chaos< als Bezeichnung für ungeordnete Anfangszustände, aus denen eine >schöne Ordnung< sich immer erst ergeben soll. So scheint Novalis mit >Chaos< gerade Zustände vor jeder Strukturierung zu bezeichnen.25 Es gibt 2

'Ebd., S. 135. Ebd., S. 136. 25 So heißt es im 75. >BlüthenstaubChaos< eine Ordnung bezeichnet wird, gelegentlich sogar die >romantische< Ordnung der Dinge. In den >Physicalischen Fragmenten< schreibt Novalis einmal: Instrumente und Apparate sind reale indirecte Formeln. Maschinen sind Formeln. (Ritters Figuren) Das Resultat einer vollständigen wissenschaftlichen Universalmaschine würde eine Natur, oder ein Chaos seyn. (111,91)

Und in einer berühmten Notiz über das romantische Märchen heißt es: In der künftigen Welt ist alles, wie in der ehmaligen Welt - und doch alles ganz Anders. Die künftige Welt ist das Vernünftige Chaos - das Chaos, das sich selbst durchdrang - in sich und außer sich ist - Chaos2' oder °o. (111,281:234)

Joyce S. Walker20 ist den Beziehungen zwischen dem >romantischen Chaos< und der modernen Chaos-Theorie kürzlich nachgegangen und zu bemerkenswerten Ergebnissen gekommen. Es ist verblüffend, wieviele Entsprechungen zu Hardenbergs Denken und zu seiner Poetik Walker aufzeigen kann, und manches scheint schon auf den ersten Blick in die Augen zu springen, etwa die Beziehung zwischen der Struktur des romantischen Romans und den Fraktalen, also geometrischen Formen, die aufgrund ihrer rekursiven Struktur in einer endlichen Figur unendliche Figuren enthalten. Andere Verbindungslinien führen zur paradigmatischen Rolle der Chemie sowohl als >Scheidekunst< wie als >MischungskundeVerflüssigung< aller Verhältnisse, zu den »fortschreitende[n], immer mehr sich vergrößernde[n] Evolutionen«, die der »Stoff der Geschichte« (111:510) sind, zur Bedeutung, die Kriege und Revolutionen im geschichtlichen Denken des Novalis haben, oder zu seiner Auffassung vom Zufall, der »nicht unergründlich« sei, sondern »seine Regelmäßigkeit« (111,414:752) habe. Die Vielzahl der Bezüge dürfte sich vor allem daraus ergeben, daß die Chaos-Theorie ein dynamisches Paradigma entwirft, das zusammentrifft mit der Grundfigur der Hardenbergschen Romantik, die, als >RomantisirenHeinrich von Ofterdingen< share a mutually illuminating dynamic paradigma which, in opposition to trends in Enligthenment science, emphasizes the wholeness of natural forms and processes instead of their reduction into useful, static components«. - Diese Betonung der Ganzheitlichkeit ist nicht gut verträglich mit der Vereinnahmung des o. a. Aufsatzes von Neubauer bei Walker und ihrer Charakterisierung des >Ofterdingen< als >postmodernPostmoderne< zugrunde. >Postmodern< ist bei Walker definiert als »gezielte Vermischung von Realitätsbereichen mit unterschiedlichem ontologischen Status«, während Neubauer sich eher am Paradigma der »irreduziblen Vielheit« orientiert.

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Herbert Uerlings

Chaostheorie eine Antwort auf ungelöste Probleme der Newtonschen Physik und linearer Modelle ist und wenn Autoren wie Goethe und Novalis immer wieder als Kronzeugen für eine frühe Einsicht in diese Denkformen aufgerufen werden, dann müßten sich in Hardenbergs Auseinandersetzungen mit den zeitgenössischen (Natur-)Wissenschaften entsprechende Konzepte zumindest in Ansätzen nachweisen lassen, vielleicht am ehesten im Bereich der Mathematik, denn zu den Voraussetzungen der Chaostheorie gehören neben den Computer-Modellen die nicht-linearen Gleichungen, und mit denen hat Novalis sich befaßt. Aber diese Forderung nach Historisierung betrifft nicht nur die ChaosTheorie. Bei Friedrich von Hardenbergs Auseinandersetzung mit den Wissenschaften spielt - wie in seinen Dichtungen — das Bewußtsein des narrativen oder diskursiven Charakters unseres Wissens und der zeitgenössischen Systeme eine große Rolle. Von daher bietet sich sein Werk für eine historische Diskursanalyse, in die sowohl postmodern-dekonstruktivistische als auch historisch-hermeneutische Impulse eingehen, geradezu an. Damit sollen nicht die irreduziblen Unterschiede zwischen diesen Ansätzen verwischt werden, aber es gibt andererseits genügend Spielraum für ein Zusammengehen, und der sollte genutzt werden. In eine so verstandene historische Diskursanalyse ließe sich auch das Verfahren integrieren, das in der Novalis-Edition und -Interpretation bis heute nicht nur unverzichtbar, sondern auch produktiv ist, die quellenkritische Interpretation. Von da aus wäre noch einmal neu zu fragen nach der Konkurrenz dialektischer, utopischer und chiliastischer Denkmodelle auf der einen mit nicht-teleologischen, nicht-linearen, infinitesimalen Konzepten auf der anderen Seite und nach der Bedeutung von Strukturmustern, die aus der Chemie, der Oryktognostik oder der Experimentalphysik stammen. Diese Fragestellungen erfassen, um abschließend die >intentionale< Seite zu betonen, den Dreh- und Angelpunkt des theoretischen wie des dichterischen Werkes. Friedrich von Hardenbergs >Poetisierung der Wissenschaften zielte auf die Konstruktion eines unendlichen Zusammenhangs von Subjekt und Objekt, Geist und Natur, System und Systemlosigkeit. Novalis' Verhältnis zu den Wissenschaften wird dabei angeleitet von der Idee des beständigen Neu-Entwurfs der positiven Formen, auch der Formen des Wissens, und ihrer erneuten >Verflüssigungvon heute aus< können wir nicht heraus. Aber was man sagen kann, ist, daß im ausgehenden 18. Jahrhundert durchaus noch strittig war, was Wissenschaft ist. In anderer Weise strittig als heute, strittig z.B. vor der Etablierung von Disziplinen. Mein Interesse geht dahin zu fragen, mit welchen Systemen, Methoden und Inhalten sich Novalis befaßt und was er davon aufgenommen und modifiziert hat für die Konstruktion einer eigenen Theorie, für das >RomantisirenVon heute< bedeutet dabei etwa, da haben Sie recht: vor dem Hintergrund der Diskussionen über Paradigmen und Paradigmenwechsel, über die rhetorische Natur unseres Wissens, über die Konstruktion von Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriffen, über den Zusammenhang von Diskursformationen und Wahrheit u. a. m. Andererseits wird im Lichte gegenwärtiger Kenntnisse häufig manches in der Vergangenheit erst erkennbar oder deutlicher sichtbar. Kalküle, Reihenbildungen, Kontinuität und Stetigkeit, Integralund Differentialrechnung als Modell - das waren Zusammenhänge, die Novalis interessiert haben, die er bezogen hat auf seine >Hin und her DirektionRomantisirenSubstantiellesNovalis und die Wissenschaften < zu sprechen und nach dem Zusammenhang von Poesie und Wissenschaften zu fragen? Gibt es nicht bei Novalis noch den alten Begriff der >poiesisLebenskunstLebenskunstlehreBlüthenstaubKant-Studien< auch Mahl, Hans-Joachim: Eine unveröffentlichte Kant-Studie von Novalis. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (1962), S. 30ff.; ders.: Novalis und Plotin. Untersuchungen zu einer neuen Edition und Interpretation des >Allgemeinen BrouillonsRomantische[n] Schule< (1870) erklärte Rudolf Haym die Äußerungen des Novalis über die Mathematik noch zu denen eines Zungenredners,11 so wie zuvor Wilhelm Dilthey in >Das Erlebnis und die Dichtung< eine scharfe Trennlinie gezogen hatte zwischen den seiner Ansicht nach mystischen naturphilosophischen Ideen des Novalis, entstanden ohne »besonnenes Studium«, und den Gedanken »über die Wissenschaften des Geistes«, denen er allerdings Originalität zusprach.12 Von der Position geistesgeschichtlicher Hermeneutik aus verengte sich folglich das Novalis-Bild nochmals, indem — da wissenschaftliche Betätigung des Dichters nun einmal in Erwägung gezogen war — der gesamte Bereich naturwissenschaftlicher und naturphilosophischer Studien entfiel und Novalis mit Leben und Werk gleichsam zum Kronzeugen geistesgeschichtlicher Betrachtungsweise von Literatur avancierte. »Allein weder Dilthey noch Rudolf Haym [...] noch auch Wilhelm Scherer haben nach den Ursprüngen der Romantik im achtzehnten Jahrhundert gefragt«, 13 zu deren Erhellung eben die theoretischen Schriften Novalis' wesentlich beitragen. Hingegen blieb, was er an poetischen Texten hinterließ, reduziert auf ein »geisteshistorisch höchst bemerkenswertes Denkmal [...] dichterisch fruchtbarer Verschmelzung frühidealistisch-geniezeitlichen und hochidealistisch-romantischen Geistes und Lebensgefühles«.14 Daß in vergleichbarem Zeitraum derart divergierende Urteile und Wertungen zu ein und demselben Werk zustande kamen, ist allerdings nicht ausschließlich unterschiedlichen methodologischen Ausgangspositionen der Philologen zuzuschreiben. Denn ganz gegen Dilthey gerichtet, sah Kate Hamburger, die »Gedankenwelt des Novalis füg[e] sich in das mathematisch-naturwissenschaftliche wie in das erkenntnistheoretische Bild des 19. Jahrhunderts [...], wie man es ohne weiteres nicht erwartet hätte«.15 Zwischen beiden Positionen lagen auch etwa acht unterschiedliche Werkausgaben.16 Es stellt sich vielmehr »die Geschichte der Novalis-Deutung nicht nur im 19. Jahrhundert weitgehend als die Geschichte seiner Edition dar und entwickelten Ideen an« (Die Aktualität der Frühromantik. Hrsg. von Ernst Behler und Jochen Hörisch. Paderborn/München/Wien/Zürich 1987, S. gf.). 11 Vgl. Haym, Rudolf: Die Romantische Schule. 4. Aufl. Berlin 1924. 12 Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung. Leipzig 1988, S. 25 if. I3 Träger, Claus: Die Herder-Legende des deutschen Historismus. Berlin 1979, S. 12. 14 Entgegen solcher gewaltsamer Werkreduktion stellt z.B. Heinz Ritter die >Hymnen< in (allerdings losen) Zusammenhang mit den naturwissenschaftlichen Erfahrungen des Novalis während der Freiberger Studienzeit (vgl.: Der unbekannte Novalis. Göttingen 1967). 15 Hamburger (s. Anm. 8), S. 70. l6 Es handelt sich um die Ausgaben von Tieck/Schlegel, Bülow, Heilborn, Minor, Kluckhohn.

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ist von dieser in ungewöhnlichem Maße abhängig geblieben«.17 Bis hinein in die konzeptionelle Struktur neuester Novalis-Werk- oder Auswahleditionen und Monographien erneuert sich der Widerspruch, den die erste von Schlegel und Tieck initiierte Werkausgabe (Berlin 1802) ins Leben rief: Es ist seither die [...] verhängnisvolle Tendenz zu verfolgen, alle Aufzeichnungen Hardenbergs als >Fragmente< zu betrachten und diese nicht in fortlaufend chronologischer, sondern in beliebig komponierbarer, meist systematischer Anordnung dem Leser darzubieten. So verständlich die Aufsplitterung längerer zusammenhängender Studiennotizen und ihre Umarbeitung zu >Fragmenten< bei den ersten Herausgebern noch gewesen sein mag - wählten sie doch das, was ihnen an Novalis wesentlich erschien, d.h. was ihrem Bilde des Dichters entsprach, und hatten sich überdies in einem umfangreichen und ungeordneten, z.T. kaum zur Veröffentlichung bestimmten Komplex von Handschriften zurechtzufinden -, so fragwürdig wirkte sich diese Art der Bearbeitung auf das Verfahren aller späteren Editoren aus.18

Zumal das Werk scheinbar problem- und folgenlos teilbar war in die »sogenannten >reinen< Dichtungen« einerseits und die Studien und theoretischen Fragmente andererseits.19 Völlig fern lag somit der Gedanke an einen systematischen Zusammenhang oder eine auf ein System hin konzipierte individuelle Methode, und er blieb ausgeschlossen, solange die Materialien Novalisscher Enzyklopädie aller Wissenschaften nicht zugänglich waren oder nur in Bruchstücken überliefert und ediert wurden. 20 Unter Berufung auf Schlegel und Tieck, deren Ausgabe Ernst Ribbat nach wie vor zugesteht, der erste »Bezugspunkt« überhaupt »für ein Begreifen der neuen Tendenzen als einer Einheit, als der >RomantikAügemeinen Brouillon< völlig auf zugunsten einer durchnumerierten Abfolge von >Fragmenten< mit thematischen (von Kamnitzer gewählten) Titeln. 28 Vgl. Striedter (s. Anm. 27), der auf die bis zum Beginn der joer Jahre vollständigste Bibliographie von Friedrich Hiebel verweist: Novalis. Der Dichter der blauen Blume. München/Bern 1951.

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beschwor.29 Otto Mann skizzierte 1939 das Bild des religiös motivierten Denkers, mehr Naturwissenschaftler als Historiker oder Erkenntnistheoretiker (wie Friedrich Schlegel): Geschichte ist für Novalis »offener Lebensraum, worin menschliche und göttliche Kräfte, einer empirisch oder spekulativen Erkenntnis unerforschbar, zusammenwirken«.30 Dem hier bei aller Rücksicht auf die wissenschaftlichen Studien und theoretischen Fragmente verkündeten Irrationalismus (Mann stützt sich auf Kluckhohns Ausgabe) entspricht das Auswahlverfahren von Fragmenten, das alle Chronologie und jeden ursprünglichen Kontext durchbricht, um in völlig neuer, sehr allgemeiner thematischer Gruppierung eine »Romantische Welt« zu entwerfen.31 Der Leser findet weder eine Möglichkeit der Überprüfung noch die, einen vermutbaren Theoriebildungsprozeß bei Novalis nachzuvollziehen. Die im Nachwort offenbarte Absicht, »systematisch den geistigen Kosmos, die persönliche und sachliche Ganzheit sichtbar zu machen, die in diesen zerstreuten Aufzeichnungen sich verbirgt«, 32 stützt sich auf eine an die Tradition des Aphorismus gelehnte Fragmentauffassung als eigentümlicher [...] romantischer Ausdrucksform. Der Begriff bezeichnet die Sache genau. Daß die Äußerung nicht vollständig, sondern nur vorläufig, einer Ergänzung bedürftig sei, daß sie hinweise auf einen romantisch vollendeten Zustand oder ein vollendetes Werk: dies ist der Anspruch und die Resignation zugleich, die im Fragment erscheint.33

In (fast wörtlicher) Anlehnung an Dilthey urteilt Mann über Novalis: Obwohl er viele Probleme, Verwandtschaften, Zusammenhänge vermutet, tritt er doch in die analysierende, experimentierende Untersuchung nicht ein. Er steht scheinbar neben Schelling, von dem streng theoretischen und systematisierenden Naturphilosophen nur durch poetische Unverbindlichkeit der kombinierenden Phantasie geschieden [. ..].34

So gelange Novalis freilich auch zu keinem »festen System der Natur«, und Manns Methode siegt über den historischen Entwicklungsstand von Quellentradierung und Forschung. Ewald Wasmuth rekurrierte im Nach29

Dichtungen. Hrsg. von Paul Friedrich mit einer Einleitung von Martin Kießig. Leipzig 1939,8. 138. 30 Novalis: Romantische Welt. Die Fragmente. Geordnet und erläutert dargeboten von Otto Mann. Leipzig 1939, S. XXXVI. . Mann ordnet willkürlich nach Sachgruppen: Der Mensch in der Welt - Philosophie Erkenntnis - Welt, Natur - Mensch - Der Mensch und seine Welt - Kunst - Dichtung und Literatur - Religion. 32 Ebd., S. 386. «Ebd., S. LVII. 34 Ebd., S. XXXVII.

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wort seiner dreibändigen Ausgabe der Briefe und Werke von Novalis (Berlin 1943) auf diese Editionsproblematik, als er darauf verwies, daß eine Anordnung überlieferter Texte eine »Gesamtschau und das ist eine Auslegung der Philosophie von Novalis« notwendig voraussetze.35 Der Gedanke an eine objektive, der Systematik Novalisschen Denkens entsprechende Darbietung von Texten (vor allem der Fragmente) unterliegt jedoch ohne gewinnbringende philologische Folgen schnell dem einschränkenden Wunsch, der Leser möge bei jedweder individuellen Anordnung der Texte doch »bei der Lektüre der Fragmente die Empfindung haben, Novalis in einer Form zu finden, wie sie ähnlich der Dichter seinen Aufzeichnungen gegeben haben könnte«. 3 Daß auch Wasmuth letzten Endes Novalis' Fragment-Begriff weder historisch noch funktional, sondern schlechthin im Sinne von >Bruchstück< interpretiert, markiert die alte Trennung zwischen einer immer möglichen systematisch interpretierenden Werkdeutung und einem ursprünglich unsystematischen Werk: Es scheint mir kein Zufall, daß das Werk des Novalis restlos Fragment bleiben mußte, denn er wollte sein Leben zum Sinnbild machen, aus seinem eigenen Leben ein Gedicht, und so wurde sein Leben und Werk Sinnbild in einem anderen Sinne. Bruchstück ist alles, was wir von ihm besitzen.37

Am Beispiel des editorisch-interpetatorischen Umgangs mit dem Begriff >Fragment< ist erkennbar, wie unter Umständen verhängnisvoll Edition und Forschung aufeinander bezogen sind. Von einer ungebrochenen Umsetzung neuester Forschungsresultate in der Editionspraxis konnte, kann auch heute, nach dem Erscheinen der historisch-kritischen Ausgabe nicht die Rede sein. Hans-Joachim Mahl qualifizierte diesen Umstand äußerst kritisch: Ein guter Teil der Verwirrung, die noch immer über das Fragment als bewußt konzipierte romantische Kunstform besteht und die Ursache dafür ist, daß eine zureichende Gattungsbestimmung bis heute zu den Desideraten der Romantikforschung gehört, ist auf Rechnung der Editoren zu setzen, die den wenigen >echtenFragmente< beigesellt haben.'8

Zugleich hob Mahl hervor, daß Novalis (wenn auch mit deutlichem Unterschied zu Friedrich Schlegel) das Fragment unter »eigene ständig reflek35

Novalis: Werke und Briefe. Hrsg. von Ewald Wasmuth. Bd. 3. Berlin 1943, S. 904. ' 6 Ebd., S. 903. "Ebd., 8.913. Völlig ähnlich wendet auch Alfred Kelletat in seiner Werkausgabe den Begriff >Fragment< im Sinne von >Bruchstück< an (vgl.: Novalis: Werke und Briefe. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Alfred Kelletat. Stuttgart/Hamburg/München !975> S. 726ff., bes. S. 728). ^ Mahl (s. Anm. 3), S. 684.

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tierte Formgesetze« stellte und es funktional seinem auf ästhetischer Bildung beruhenden Wirkungskonzept zuordnete.39 Das Fragment als Ideenkatalysator eines unendlich offenen Systems der buchstäblich gemeinten »Weltanschauung« - dieser Aspekt ist nach Mahl von »den früheren Editoren wie von den Interpreten gern übersehen worden — von Interpreten der jüngsten Zeit besonders dann, wenn einzelne Formulierungen, dem Buchstaben nach, erstaunliche Übereinstimmungen zu bestimmten Aspekten der modernen Dichtung, zu ästhetischen Begriffen und Kategorien« zeigen, wenn sie also Aktualisierung ermöglichen, die sich bewußt von der »zeitgeschichtlich gebundene[n] Semantik« entfernt.40 Viele der älteren und neuen Editionen verzichten auf nachvollziehbare Einordnung der als »Bruchstücke« ausgelösten Textsegmente ebenso wie auf eine historische Kommentierung, die für den Leser zugleich kultur- und quellengeschichtliche Stütze seines Textverständnisses sein könnte. Ein Beispiel bietet die Auswahl ausschließlich poetischer Texte (Gedichte, Romanfragmente, >Glauben und LiebeGeistliche LiederAufklärungKlassikRomantikromantisch — Romantik< ermitteln läßt.42 Um die geschichtliche Spezifik romantischer Ästhetik und Poesie im Vergleich (zu Aufklärung und Klassik) zu ermitteln, bedarf es eines [...] übergreifende[n] Gesichtspunktfes] [...], von dem aus die Dinge ihre dialektische Natur offenbaren. Dieser Gesichtspunkt kann nur aus einem Literaturverständnis gewonnen werden, das weltgeschichtlich dimensioniert ist. Und derlei Überlegungen haben das Literaturverständnis selbst - die Seite der Rezeption und Wirkung - mit zu reflektieren als einen geschichtlichen Vorgang, der nicht ablösbar ist von der Literatur.43

Ernst Ribbat hat, indem er die Novalis-Textedition hier einordnete, zu diesem Vorgang bemerkt: Die Auffassung, die Literatur der Romantik sei zu bestimmen als Versuch einer Darstellung der Epochenkrise im Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaftsordnung und zugleich als Versuch einer Überwindung durch die Mittel einer erneuerten Poesie, kann nicht anders als durch Analyse von Texten und Textreihen belegt werden. Dabei muß für die Anfangszeit, ehe es in der literarischen Öffentlichkeit zu einer romantischen >Fraktion< kam, die Orientierung an der Entwicklung einzelner Autoren maßgebend sein.44

Dergestalt erweist sich die Novalis-Textedition heute als eine Notwendigkeit im Schnittpunkt von kulturgeschichtlicher Erbebestimmung und wissenschaftlicher Begriffsbestimmung der Romantik. Nicht in erster Linie als Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe, vor allem als NovalisForscher hat Hans-Joachim Mahl - deutlich in der Tradition der philoso41

Träger, Claus: Geschichte und Romantik. Berlin 1984, S. 13. Zur Entwicklung und kulturpolitischen Funktion des Romantikbildes in der DDR-Literaturwissenschaft vgl. ebd., S. ijff. Zum Begriff >Romantik< vgl. das Stichwort im Wörterbuch der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Claus Träger. Leipzig 1986, S. 440ff. 4 'Ebd., S. 15. 44 Ribbat (s. Anm. 21), S. 99. 42

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phischen Hermeneutik — 4 5 Möglichkeiten und Forderungen zugleich umrissen, vor die sich Novalis-Forschung und -Edition heute, nach dem Erscheinen der historisch-kritischen Ausgabe gestellt sehen: So wird Novalis-Forschung in einer Art Spiralbewegung über die Erkenntnis der >Modernität< hinaus wieder zu einer neuen und vertieften Bestimmung des spezifisch >Romantischem im Werk des Dichters gelangen müssen - eines Romantischen freilich, das sich von der älteren, durch Tieck und Bülow begründeten Deutungstradition gelöst hat und auch die neu entdeckten, als spezifisch modern betrachteten Züge mit umgreift, da sie als ein integrierender Bestandteil des romantischen Poesieprogramms begriffen werden müssen. In dieser Hinsicht kann uns die eingangs geschilderte Ambivalenz der Wirkungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert nicht nur auf die hermeneutische Differenz zwischen dem einstigen und dem heutigen Verständnis hinweisen, sondern auch die meist unerkannten Normen eines modernisierenden Kunstverständnisses bewußt machen, d. h. uns unsere eigene Geschichtlichkeit mitzubedenken lehren. Darin liegt die Aufgabe, die sich nach der historisch-kritischen Edition der Schriften stellt und für die in einigen neueren Untersuchungen bereits erste Ansätze vorliegen. Mit ihnen wird sich die Erkenntnis durchsetzen, daß die früher so beliebte Trennung zwischen den >reinen< Dichtungen des Novalis und der Gedankenwelt seiner Fragmente und Studien sich nicht länger aufrecht erhalten läßt, daß die unterschiedlichen Aspekte des dichterischen und des theoretischen Werks sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr dialektisch aufeinander bezogen werden können [.. .].4 Da Mahl prononciert vom für die Editionspraxis fruchtbringenden Erkenntnisgewinn der Forschung ausgeht, entbehrt folglich jedes editorische Prinzip der Wissenschaftlichkeit, das die Ganzheit des Werkes von Novalis bei Auswahl und Kommentierung unberücksichtigt läßt oder einem fremden System beugt. Willkürlicher Umgang mit dem von Novalis funktional gedachten Fragment, somit die Nutzung der Materialien als »Zitatensteinbruch« negieren erreichte forscherische Einsichten: Die klare begriffliche Unterscheidung von bewußt fragmentarisch komponiertem Fragment und nur zufällig fragmentarisch überlieferten Lektürenotizen und Aufzeichnungen, die Rekonstruktion der ursprünglichen Texteinheiten und die präzisen quellenkritischen Nachweise ihrer Verankerung in zeitgenössischen 45

Für die Novalis-Forschung und -Edition wurden seine Entdeckung und Kommentierung einer unbekannten >Kant-Studie< (vgl. Mahl: Eine unveröffentlichte Kant-Studie [s. Anm. 2]) und der Nachweis von Plotin-Studien innerhalb des Allgemeinen Brouillons< (vgl. ders.: Novalis und Plotin [s. Anm. 2]) bedeutend. Was Mahls editorisch-philologische Leistungen betrifft, vgl. auch das Vorwort zu: Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Festschrift für Hans-Joachim Mahl zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller [...]. Tübingen 1988, S. Vff. 46 Mahl (s. Anm. 3), S. 695.

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Diskursen haben für die Bestimmung der Bedeutungszusammenhänge in diesem Werk und für dessen Situierung an seinem geschichtlichen Ort so überzeugende Grundlagen geschaffen, daß ernstzunehmende Romantikforschung von hier aus die Frage nach der Wirkung und aktuellen Bedeutung dieses Autors und mit ihm der Frühromantik in der deutschen Literatur- und Ideengeschichte ganz neu erörtern muß, und an der Romantikforschung der letzten zwanzig Jahre läßt sich der wachsende Einfluß dieser Grundlagenforschung deutlich ablesen.47

Dennoch bleibt das Novalis-Bild im methodologischen Pluralismus von Philologie und Editionen überraschend widersprüchlich. Gerhard Wehr unternimmt mit seiner Auswahledition (1976) den Versuch, das nach seinem Verständnis nicht geschiedene philosophische und Fragmentwerk auf die religiöse Thematik darin zu befragen, um so besonders für junge Menschen den esoterischen Christen Novalis als einer Art Vorbildfigur zu entwerfen. Seinem Auswahlverfahren (die Texte werden nach der historischkritischen Ausgabe wiedergegeben) liegt der Gedanke zugrunde, Novalis habe eine »universelle, den ganzen Wirklichkeitskosmos umspannende Christusanschauung« gehabt,48 die die naturwissenschaftlichen, philosophischen und poetischen Teile des Werkes untereinander verknüpft, so daß sich eigentlich eine ausschließlich auf religiöse und theologische Probleme orientierende Auswahl als problematisch darstellt. Neben den traditionellen Texten der >Hymnen an die NachtGeistlichen Lieder< und des >ChristenheitOfterdingen< und der eigenen Berufsarbeit klafft ein kaum zu schließender Riß. Die Romantisierung des Bergmanns im Roman stand im klaren Widerspruch zur Berufspraxis, während jene sich gegen die Erniedrigung der Bodenschätze im Berginnern zur Ware wendet.50

Daß hier kein zufälliges Mißverständnis einer Briefstelle,51 sondern prononciert konservative Betrachtungsweise obwaltet, klärt ein Blick auf die aktuelle Forschungs- und Editionssituation.52 Anhand des gleichen Briefes an Rahel Just (vom 5. Dezember 1798) hat Gerhard Schulz nachgewiesen, daß sich mit solchen und ähnlichen Novalisschen Schilderungen eines Gemütszustandes und der Ankündigung einer neuen Idee nie die Preisgabe aller bisherigen Gedanken und Unternehmungen oder gar ein völliger Rückzug in die Innerlichkeit verbunden haben.53 In welcher Weise Kenntnisse, Erfahrungen und Eindrücke aus der Berufstätigkeit sich im ästhetischen Konzept und schließlich in einer sehr weit analysierbaren Metaphorik insbesondere der Romane und der Hymnen vermitteln, hat Dennis F. Mahoney dargestellt.54 Im Verein mit Resultaten zahlreicher Einzelfor3

°Kurzke, Hermann: Novalis. München 1988 (Monographie Becksche Autorenreihe), S. 21. Vgl. Novalis an Rahel Just am 5. Dezember 1798 (IV,264ff.). 52 Zum Stand der Novalis-Forschung vgl. Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991. 53 Kurzke hat sich unter systematischem Aspekt mit der Herausbildung politischer Ansichten von Novalis und ihrer Wirkungsgeschichte beschäftigt (vgl.: Romantik und Konservatismus. Das »politische« Werk Friedrich von Hardenbergs [Novalis] im Horizont seiner Wirkungsgeschichte. München 1983). Seine Interpretation findet ihre Entsprechung offensichtlich in der konservativen methodologischen Position der Monographie. Vgl. dazu: Novalis: Werke. Hrsg. und kommentiert von Gerhard Schulz. München 1981, S. 572. 54 Vgl. Mahoney, Dennis F.: Die Poetisierung der Natur bei Novalis. Beweggründe, Gestaltung, Folgen. Bonn 1980. 51

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schungen der letzten fünfzehn Jahre erbringt diese Darstellung das Bild von einem engen Bezugssystem der Philosophie, Naturanschauung, Ästhetik, Poetik und Poesie mit der Vorbereitung auf den Beruf und die Berufswelt des Novalis, dessen Teilsysteme zwar längst nicht erschöpfend erforscht sind, aus dem sich aber die Basis für Novalis' Projekt einer universellen Enzyklopädie aller Wissenschaften ermitteln läßt. Gegen Kurzkes Behauptung, die Enzyklopädie als geniales Wissenschaftssystem sei mit »maßlosem Anspruch« begonnen, dann »sang- und klanglos« im Sande verlaufen, wie denn überhaupt Novalis' Denken keinesfalls systematisch, sondern sporadisch, rastlos nach Bestimmung suchend gewesen sei, um sich am Ende unter »Verzicht auf die ehrgeizige Poetisierung der Politik und der Wissenschaft« der Religion und der Dichtung zuzuwenden,55 mutet Walter Benjamins 1919 formuliertes Urteil über die Frühromantik höchst aktuell an: Erweislich [...] gegenüber allen Anzweiflungen ist, daß ihr Denken durch systematische Tendenzen und Zusammenhänge, die allerdings in ihnen selbst nur teilweise zur Klarheit und Reife gekommen sind, bestimmt wurde; oder, um es in der exaktesten und unanfechtbarsten Form auszudrücken: daß ihr Denken sich auf systematische Gedankengänge beziehen läßt, daß es in ein richtig gewähltes Koordinatensystem sich eintragen läßt, gleichviel, ob die Romantiker selbst dieses System vollständig angegeben haben oder nicht. 50

Weder die Novalis-Forschung noch die Editoren kommen folglich umhin, sein Diktum über sein Wissenschaftssystem ernst zu nehmen. Dabei ist weniger von Interesse, welchen Grad der Vollendung dieses System erlangen konnte. Was in zunehmendem Maße den Reiz des heutigen Erkenntnisstandes über Novalis" Werk nicht nur für Philologen, sondern auch für Philosophen und Naturwissenschaftler ausmacht, ist die von Novalis selbst ausgearbeitete Methode seines Denkens und die Gedankenführung. Sie läßt sich aber nur erschließen, wenn jeder Part des Werkes mit dem Blick auf das Ganze und in seinen vermittelten Beziehungen zu den anderen Teilen analysiert wird, so daß sich dabei Novalis' Denkmethode zugleich als strukturbildend und werkkonstituierend erweist. Der immer risikovolle Rückzug auf die fragmentarische Form führt zu Fehleinschätzungen wie im Falle Kurzkes oder zu möglichen Mißverständnissen und einseitigen Novalis-Bildern wie im Falle Wehr und anderer. Daß Novalis' »Wissen55

Kurzke (s. Anm. 50), S. * 6 Vgl. Benjamin, Walter: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1919), zitiert nach Schulz (s. Anm. 53), S. 576.

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Schaftssystem« keine spontane Idee, sondern bis zum Projekt der Enzyklopädie und darüber hinaus immer wieder kritisch reflektierter Begriff ist, kann anhand von Novalis' Behandlung des Begriffes >Wissenschaft< und des Begriffes >System< in den Studien, theoretischen Fragmenten und auch in poetischen Fragmenten verfolgt werden.57 Bereits in den ersten Aufzeichnungen der >Fichte-Studien< (1795) verbindet sich für Novalis der Begriff der Wissenschaft mit der Frage nach dem Menschen und seiner Entwicklung: »Wie ist reine Wissenschaft im Menschen möglich - oder wie ist d[er] Mensch, das, was er ist?« (11,185:245) Das darin verborgene erkenntnistheoretische Problem reflektiert Novalis stets, um Voraussetzungen, Inhalte, Wirkungen, Zielrichtungen und Grenzen des Wissens und den Prozeß der Wissensbildung zu erfassen. Daß der Begriff >Wissen< erst später in der Materialsammlung zur Enzyklopädie des »Wissenschaftssystems« für Novalis eine zentrale Stellung innehat, erklärt sich aus seinem offensichtlich epistemischen Anliegen: Kundig sein in der Welt, Wissenschaft haben von den Dingen, Fertigkeiten haben, sie zu meistern, durch Theorie die Vielheit der Erscheinungen im wesentlichen Allgemeinen erkennen, den Bezug zur Wirklichkeit durch die Selbstbezüglichkeit der Reflexion zu kontrollieren, schließlich: aus Wissen bewußt handeln können. 58

Novalis' wissenschaftliche Studien sind zu großen Teilen auch der Versuch, die sowohl durch die zeitgenössische Philosophie als auch durch die moderne Naturwissenschaft erreichte Erkenntniskrise produktiv aufzuheben und verfügbares Wissen in humanem Sinne nutzbar, das hieß zuerst überschaubar und auf die Lebensverhältnisse wirkend zu machen. Das Ideal eines dergestalt praktikablen Wissens bestimmt seine Auffassung vom die Individuen wie die Gesellschaft als Ganzes aktivierenden Bildungsprozeß und auch wesentlich sein Poesiekonzept, in dem die Wissenschaften eine erste Stufe darstellen. Der Gedankenbogen spannt sich in der Tat bis in die zuletzt (1799/1800) aufgezeichneten Fragmente, wo es heißt: Es ist nicht das Wissen allein, was uns glücklich macht - es ist die Qualitaet des Wissens - die subjective Beschaffenheit des Wissens. Vollkommnes Wissen ist Überzeugung und sie ists, die uns glücklich macht und befriedigt. Todtes lebendiges Wissen. (111,690:689) 37 58

Vgl. den Kommentar zur Hanser-Ausgabe von Balmes (s. Anm. 25). Sandkühler, Hans Jörg: Dialektik, Krise des Wissens, Enzyklopädie und Emanzipation. Das Enzyklopädische Wörterbuch zu Philosophie und Wissenschaften. In: Dialektik und Emanzipation: das ganze Wissen. Beiträge zu Philosophie und Wissenschaften. Hrsg. von H. J. S., Hans Heinz Holz, Lars Lambrecht. Köln 1988, S.

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Gerade unter dem Betracht der Lebendigkeit scheinen für Novalis auch Philosophie und Poesie logisch einander nahezukommen, denn sie sind unendlich zusammengesetzt aus Einzeleinsichten (vgl. 111,690:690) und stellen in ihrer synthetischen Struktur als »ideale, selbsterfundene Methode das Innre zu beobachten«, eine Annäherungsweise an das unerreichbare Ideal der Wissenschaft dar (111,690:694). Von anfänglich noch unkonturierten Bemerkungen zum Prozeß des Wissens in den frühen philosophischen Studien entfaltet sich ein systematisches Suchen, das von den >Kant-StudienOfterdingen< findet es wörtliche Aufnahme als praktische Arbeitsanleitung; vgl. I,338f.), über die naturwissenschaftlichen Studien bis hin zum Projekt einer Enzyklopädie aller Wissenschaften reicht und theoretische wie poetische Fragmente miteinander in Beziehung setzt. Indikator ist hierbei immer wieder die berufliche Praxis mit den erforderlichen Studien, durch die Novalis auf zahlreiche erst im Ansatz beschreib- und erklärbare Phänomene stieß. Solche Probleme wie moderne Elektrizitätsund Wärmelehre, Lichttheorie, die Lavoisiersche Theorie u.a. behandelt er, anschließend an Kants dynamische Erklärung des Materie-Begriffs, unter dem modernen Entwicklungsgedanken, der sich in der Betrachtung der Naturgeschichte durchsetzt und auch Novalis' Streben nach Erfassen der Naturgeschichte als Ganzes und nach einem Begriff von der Natur wesentlich bestimmt. Da jedoch weder die zeitgenössische Philosophie noch die Naturphilosophie imstande waren, aus unzähligen Einzelinformationen ein schlüssiges Bild von der Einheit der Natur in ihrer Vielfalt zu geben, die Teilinformationen in unendlichfachen Beziehungen zu schon vergangenen und noch möglichen zu denken, entdeckte Novalis als eine logische Vermittlung zwischen Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie die poetische Epistemologie.59 Als integratives, alle Wissensformen synthetisierendes System entwarf er das Projekt der Enzyklopädie, zu dem seine Materialien im Allgemeinen Brouillon< bezeugen, daß Novalis durch sie »auch zu einer Lösung der zeitgenössischen epistemologischen Fragestellungen beitragen wollte«.00 Schon die parallel zu dieser Materialsammlung betriebenen Freiberger Studien geben zu erkennen, [...] daß das Wissen der Zeit in einem Innovationsstrudel seine Konturen verliert und auch gerade N[ovalis] in Bezug auf die Naturgeschichte und Mathe59 6

Vgl. Balmes (s. Anm. 25), S. 475«: °Ebd., S. 476.

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matik nach neuen Lösungsmöglichkeiten für diese Krise sucht - Motive, die im Allgemeinen Brouillon< weiterverfolgt werden. Vor diesem zeitgenössischen Tableau wäre den Spekulationen N[ovalis'] nicht mehr bloße Unverbindlichkeit vorzuwerfen, sondern genauer zu beobachten, in wie weit sie Lösungsmöglichkeiten für solche Probleme projezieren.01

Poetische Epistemologie meint dann die symbolische Deutung der vielfältigen Realität auf der Ebene der Poesie, wodurch erst, im geistigen Verfahren, ein unendlich (individueller) mannigfacher Zusammenhang der Einzelphänomene, ein geistiges Universum entsteht.02 Wie innerhalb dieses Poesiekonzeptes selbst das von Novalis ausgiebig studierte mathematische Verfahren der Kombinatorik als Basis für Analogiebildungen fungiert, hat Friedrich A. Kittler gezeigt.03 Er interpretiert Novalis' >Dialoge< (1798) über den Informationswert des neuen Messebücherkataloges und die Qualität der Bücher überhaupt im Kontext der Idee vom »idealen Buch«, die Novalis an das Enzyklopädie-Projekt band und in den Materialien reflektierte.64 Danach steht hinter Novalis' Auffassung vom Buch überhaupt (wie von der Enzyklopädie als Buch) der Gedanke an ein offenes Kommunikationssystem, in dem Autor (Sender) und Leser (Empfänger) keine fixierten, sondern unbegrenzt austauschbare Positionen haben, so daß ein beliebiger Text (auch das Fragment!) sich erst durch die Aktion des Rezipienten in unendlich vielgestaltiger Form vollendet.05 Ein solcher »pragmatischer Adressatenbezug« ist für Peter Matussek die Grundlage der enzyklopädischen Idee,66 deren nochmalige Aufgipfelung er nach der großen Enzyklopädie der Aufklärung von Diderot und D'Alembert in Novalis' Enzyklopädie-Projekt sieht. Er weist nach, daß der methodische Kern des Projektes, die Novalissche Dreistufentheorie vom Enzyklopädisieren - i. Beobachtungen sammeln, 2. die Summe der Beobachtungen aufeinander beziehen — antinomisieren, 3. Systematisieren - Bestandteil der Entwick61

Ebd. Balmes schreibt dazu: »Durch die fortgesetzte Kombinatorik solcher Analogisierungen sollte eine neue Einheit der Naturlehre entstehen, die die alte Einheit repräsentiert und auslegt, indem sie gleichsam durch das Material ihrer zerbrochenen Einheit hindurchgegangen ist, ohne jedoch für sich zu behaupten, eine solche Einheit direkt und konkret auf der Ebene der Realia herstellen zu können« (ebd.). 63 Über romantische Datenverarbeitung. In: Die Aktualität der Frühromantik (s. Anm. 10),

6z

S. I2 7 ff. 64

Zur Bibel als dem idealen Buch schreibt Novalis am 7. November 1798 an Friedrich Schlegel (vgl. IV,262ff). 6 'Vgl. Kittler (s. Anm. 63), S. 135. 66 Vgl. Matussek, Peter: Aufhebung der Enzyklopädie im Expertensystem. In: Dialektik und Emanzipation (s. Anm. 58), S. 70.

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lung moderner Informationstechnik ist.07 Für den Umgang mit Büchern wie mit Computern gleichermaßen gültig, erklärt Matussek: Erst der Rezipient verwandelt tote Daten in lebendiges Wissen, indem er sie auf seine individuellen Interessen und Erwartungen bezieht, aus den transitorischen Aspekten des Wirklichen Einsichten in das Mögliche gewinnt.68

Da Novalis' Idee von einer universellen Enzyklopädie aller Wissensformen als einem offenen System, in dem alle Teile unendlichfach neue (kombinierte) informative Beziehungen miteinander eingehen können, im »modernen Expertensystem« aufgehoben erscheint, akzentuiert Matussek zugleich zwei Aspekte in Novalis' Wissenschaftskonzept: die unbedingte praxisorientierte Wirkungsabsicht und ihre theoretische Basis in der Idee eines universellen Systems der Wissenschaften: »Aufhebung der Enzyklopädie im Expertensystem? >Man studiert fremde Systemeum sein eigenes System zu findenversteht sich, wenn ich selbsttätig genug binAufsätze< enthalten größere Textabschnitte, in denen Novalis (dessen Autorschaft nur durch den exakten Bezug zum Studienwerk nachweisbar war) erwiesenermaßen auf Studien der Freiberger Zeit (1798/99) sowie auf philosophische Studien von 1797 zurückgeht. Berücksichtigt man den epistemischen Werkkontext, so bedeutet dieses Vorgehen eine systematische Verzahnung philosophischer, naturwissenschaftlicher und -philosophischer mit sogar poetischen Gedanken und Texten im Rahmen dieser Manuskripte. Zugleich bekräftigen diese für die Forschung völlig neuen Materialien, daß und wie Novalis zentrale Gedanken - in erster Linie aus den Studien und theoretischen Fragmenten —, die sein Bild von der Natur und der Geschichte und somit Eckpfeiler seines Poesiekonzepts betreffen,75 parallel zur Berufspraxis wie zu großen Projekten (dem >OfterdingenFichte-StudienAthenäum< konnte eine Bemerkung zu Franz Hemsterhuis' >Sur l'homme et ses rapports< als direkter Anschluß an die >Hemsterhuis-Studien< von 1797 erklärt werden. Auffällig sind innerhalb der Materialien Studien zu Schellings >Von der Weltseele< (1798), die den Anfang und den größten Teil des gesamten Konvolutes bilden. Sie schließen an Novalis' Freiberger Studienhefte zu Schellings Schrift (Ende 1798) an77 und beziehen auch noch die Frühschrift >Ideen zu einer Philosophie der Natur< (1797) ein. Bedeutsam sind diese Schelling-Studien vor allem deshalb, weil sie im Kern um den von Kant in den >Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786) im Abschnitt >Dynamik< entwickelten Materiebegriffkreisen, auf den sich auch Schelling fortwährend bezieht. So finden sich dann wirklich in den Manuskripten III und IV erstmals zusammenhängende Aufzeichnungen zu der Kantischen Schrift. D. F. Mahoney hat darauf aufmerksam gemacht, daß bei bisherigem Editionsstand von Novalis-Texten nur eine einzige Exzerptstelle neben vereinzelten inhaltlichen Bezügen in den späten Fragmenten als direkter Quellenbeleg für Novalis' Beschäftigung mit Kants Metaphysik dienen konnte — ein Stück aus dem Anfang der >Phoronomie< (vgl. II,392^:52). Er wies weiter darauf hin, daß (nach seiner Hypothese) eine philologische Analyse der naturwissenschaftlichnaturphilosophischen Studien von Novalis bereits den Nachweis erbringen müßte, daß dessen Hauptinteresse seit 1797 auf Kants Naturmetaphysik und den Abschnitt >Dynamik< mit der Materiedefinition gerichtet war, mit der Novalis dann vielfach operierte. Dies wäre nach Mahoney um so interessanter, als »weitere Blätter von Hardenbergs Kant-Studien, die sich vermutlich mit den >Metaphysischen Anfangsgründen< befaßten, abhanden gekommen sind«.78 Der Kommentar zu den bislang unbekannten Materialien belegt diese Hypothese durch den Nachweis größerer Exzerptteile aus dem Abschnitt >Dynamik< in Kants >Metaphysischen AnfangsgründenPathogenie< (Teil i: 1798) sowohl ein quellen- als auch ein editionsgeschichtliches Problem geklärt werden. Bisher war es weder innerhalb der historisch-kritischen Ausgabe noch in 77

In der Hanser-Ausgabe (s. Anm. 25), Bd. 2, S. 456, wird dieser Studienkomplex reduziert auf einen Satz wiedergegeben, wodurch ein bedenklicher Bruch zur Gesamtkonzeption und dem dort erklärten Fragmentbegriff entsteht. Vgl. auch Balmes (ebd.). Bd. 3, S. 79yff. 78 Mahoney (s. Anm. 54), S. 22.

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der auf ihr fußenden Hanser-Studienausgabe möglich, die unter den späten Fragmenten von 1799/1800 stehende Nr. 485 (vgl. 111,632), überliefert in der Handschrift Karl von Hardenbergs, einzuordnen und die merkwürdige Beschäftigung Novalis' mit dem scholastischen Begriff der >Qualitas occultae< zu diesem Zeitpunkt zu begründen, da jeder intertextuelle, chronologische wie überhaupt Quellenbezug fehlte. Es ergibt nunmehr die philologische Kommentierung der unbekannten Materialien ihre genaue kontextuelle Einordnung sowie den exakten Quellennachweis. Dabei offenbarte sich auch die editorische Praxis Karl von Hardenbergs, die durch Herauslösen eines Textsegments und dessen Komposition im Zusammenhang einer anderen Fragmentgruppe ein >Fragment< im Sinne eines willkürlichen Bruchstückes herstellte, das mit Novalis' bewußt verfaßten, funktional begriffenen Fragmenten nichts zu tun hatte, sondern ursprünglich nur eine Bemerkung innerhalb eines fortlaufenden Textes darstellte.79 Mit dieser Entdeckung und der Veröffentlichung der neuen Quellentexte als geschlossenem Komplex im VI. Band der historisch-kritischen Ausgabe bieten sich für die Novalis-Forschung neue Anhaltspunkte, um etwa das wissenschaftliche System von Novalis' Natur- und Weltanschauung zu bestimmen bzw. aus der zu einem eigentümlichen Pantheismus tendierenden Naturanschauung Schlußfolgerungen über den methodischen Vorgang der Poetisierung der Natur bei Novalis abzuleiten, die den von Mahoney gelieferten Ansatz weiterführen können. In jedem Falle bestätigen die aufgefundenen Texte bereits, daß Novalis' wissenschaftliches Denken weder zeitlich noch inhaltlich aus der beruflichen und poetischen Tätigkeit, schon gar nicht aus dem zeitgenössischen wissenschaftlichen Umfeld ausgrenzbar ist, wie Kurzke behauptet. Hingegen erwies sich an den geschilderten Beispielen die von Mahl und Schulz aufgestellte Forderung, auch Studienausgaben Quellentexte und philologische Prinzipien zugrunde zu legen, ein weiteres Mal als wesentlich. Besonders, da durch die Auswertung der von der Jagiellonen-Bibliothek in Krakow verwalteten Salinenschriften von Novalis und ihre philologische Bearbeitung auch das Bild seiner Berufspraxis durch bisher ungedruckte Zeugnisse vervollständigt wird, so durch den bibliographischen Nachweis von 86 wissenschaftlichen oder technischen Schriften, mit denen sich Novalis zwischen 1798 und 1800 beschäftigte oder deren Lektüre er 79

Vgl. Samuel (s. Anm. 2), S. 3Oiff., und Verf.: Eine unbekannte Handschrift aus dem Oberwiederstedter-Familienarchiv der Hardenbergs. In: Zeitschrift für Germanistik i

(1990), s. 33-48.

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im Zusammenhang praktischer und theoretischer Probleme der Salinistik und des Bergwesens plante. Die übertragenen Protokolle und technischen Aufsätze80 fügen sich ergänzend zu den in der historisch-kritischen Ausgabe gedruckten Zeugnissen aus der Berufstätigkeit, indem sie chronologische Lücken im Ablauf von Novalis' Inspektionsreisen schließen und zugleich Einblick gewähren, wie Novalis als Salinenassessor seine wissenschaftlichen Kenntnisse zur Argumentation im Sinne ökonomischen und sozialen Fortschritts zu nutzen verstand. Wie sehr Novalis bestrebt war, widersprüchliche philosophische und naturwissenschaftliche Spekulationen und Beobachtungen über die Natur und das Universum in einem pantheistischen Bild einer Einheitsnatur aufzuheben, es mithin als Muster einer lebbaren (poetischen) Natur zu denken, zeigt sich in einer seiner Formulierungen aus dem letzten der sechs bislang unbekannten Manuskripte: Die ganze Natur erst in metaphysische Formeln bringen - dann höhere Gleichungen in unsere geistige Sfäre übertragen. D[ie] Formeln beleben. - Eine neue Mythologie der Natur, eine pantheistische Natur darstellen.

Unübersehbar ist der Zusammenhang von systematisch erarbeitetem Naturbild und poetischem Programm der Darstellung, das Novalis innerhalb des Allgemeinen Brouillons< unter dem Stichwort >Repräsentation< als erkenntnistheoretisches und methodisches Problem diskutiert. In solchen und ähnlichen gedanklichen Beziehungen konstituiert sich das nachvollziehbare Bild von Novalis' stufenweisem Aufbau der Wissensformen (philosophisch, naturwissenschaftlich, technisch, poetisch), ihrer theoretischen Reflexion, auf die das Aufeinanderbeziehen folgte, so daß sich das frühromantische Enzyklopädie-Projekt des Novalis in der Tat als die gedachte große dialektische Einheit von philosophischer, naturwissenschaftlicher und poetischer Epistemologie darstellt. Ein Gedanke, der gleichsam als »Incitament« der philologischen und interdisziplinären Diskussion um Geschichtlichkeit und Aktualität der Romantik, ihre Grenzen und Leistungen im philosophischen und ästhetischen Theoriebildungsprozeß wie in der Poesie wirken kann.

Aus der Diskussion Publikum: Gibt es in den neu aufgefundenen Handschriften weitere Bezugnahmen auf Jakob Böhme? 8

°Vgl. den Regestdruck der Salinenschriften im Bd. V der historisch-kritischen Ausgabe.

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Rommel: Nein. Uerlings: Sie sind mit den noch zu veröffentlichenden Materialien so gut vertraut, daß ich Sie nach einer Lieblingskontroverse der Novalis-Forschung fragen möchte: Kann oder muß man sogar angesichts der neuen Funde davon sprechen, daß in den Augen von Novalis das Projekt einer engen Verknüpfung von Poesie und Wissenschaft, das Projekt der Enzyklopädistik gescheitert ist und er sich deshalb der Poesie zugewandt hat? Rommel: Nein. Eindeutig nein. In den späten Wernigeroder Handschriften haben sich ja Exzerpte aus Kants >Metaphysischen AnfangsgründenWeltseele< und aus anderen naturphilosophischen Schriften gefunden. Das zeigt, daß Novalis sich nicht von der Wissenschaft abgewandt hat. Er hat im Gegenteil weiter nach einer Vertiefung und Bestätigung seiner naturwissenschaftlichen Ideen gesucht. Hansen: Inwieweit hat der Fragmentbegriff Friedrich Schlegels die Auswahl und Bearbeitung der Fragmente in der Erstausgabe beeinflußt? Mahl: Bei der Edition von 1802 wirkte nicht Schlegel, sondern Tieck bestimmend. Er hat abgeschlossene Fragmente im Sinne Schlegels hergestellt und aus losen Notizen und offenen Textstellen künstlich Fragmente konstruiert. Rommel: Was man bei Novalis >Fragment< nennen darf, das ist erst allmählich, im Verlauf der Editionsgeschichte, geklärt worden. Müller: Mir scheint das gegenwärtige Interesse am frühromantischen Fragment bemerkenswert, aber auch an der Form des Exzerpierens und des Notierens. Es gibt offenbar einen Zusammenhang zwischen dem Ende der Buchkultur und einer zunehmenden Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Denk- und Schreibformen der Vergangenheit. Novalis' Werk ist ein besonders ergiebiges, vielseitiges Spiegelkabinett der Schreibtechniken, in dem man den Vorgang der Verschriftlichung studieren kann.

John Neubauer (Amsterdam)

Das Verständnis der Naturwissenschaften bei Novalis und Goethe

»Hätt ich mich mit den Naturwissenschaften nicht abgegeben, so hätt ich die Menschen nie kennen lernen« — so schreibt Goethe an Zelter am 29. Januar 1831, ein Jahr vor seinem Tode. Die erstaunliche Aussage überrascht uns nicht nur, weil sie ein Paradoxon enthält, sondern auch, weil sie Goethes jugendliche Einstellung auf den Kopf stellt. Sowohl in den Briefen seiner Jugend als auch in den autobiographischen Schriften über die Kampagne in Frankreich und die Belagerung von Mainz finden wir immer wieder Stellen, in denen die Natur und ihre Erforschung als Flucht aus der sozialen und politischen Misere hingestellt wird. Die Natur und der kontemplative Umgang mit ihr - so der junge Goethe — übe eine heilsame Wirkung auf den in der Gesellschaft verletzten Menschen aus. Goethes Brief an Zelter zeigt jedoch, daß schließlich auch die Naturforschung ihn zu den Menschen zurückführte und daß die durch Naturforschung gewonnenen psychologischen, anthropologischen und soziologischen Einsichten ihm ebenso wichtig oder noch wichtiger waren als Naturverständnis. Die Bedeutung, die Goethe seiner Naturforschung im Laufe seines Lebens zuschrieb, änderte sich tatsächlich grundlegend: War es ursprünglich die Natur selbst, die der junge Goethe begeistert beobachtete, so wurden mit zunehmendem Alter immer mehr der Naturbetrachter, der mit der Natur umgehende Mensch und seine Institutionen Objekt seiner Aufmerksamkeit. Die Ursache dieser Verschiebung ist darin zu suchen, daß die Fachleute Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten überwiegend negativ beurteilten. Die bittere Erfahrung, daß seine Ansichten durch die erkannten wissenschaftlichen Autoritäten immer wieder ignoriert oder zurückgewiesen wurden, zwang Goethe zu stets intensiverer Reflexion über die psychologischen, soziologischen und geschichtlichen Bedingungen der Forschung. So rückten Autobiographie, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheo-

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rie in den Vordergrund von Goethes späteren Schriften zur Naturwissenschaft. Der wissenschaftlich autodidakte Goethe begehrte nichts mehr als eine Aufnahme in die Zunft der Naturforscher, mußte sich aber trotz seiner zahlreichen Beiträge zu verschiedenen Wissenschaftsgebieten bis zum Ende seines Lebens als Dilettant betrachten. In den Naturwissenschaften hat er dann die Rolle des Dilettanten auch immer kräftig verteidigt.1 Er war der Meinung, die dogmatischen professionellen Institutionen und Verbände hätten ihn als Ketzer ausgestoßen und verbannt. Dieses Gefühl der Ausgeschlossenheit war Goethe besonders bitter, denn er betrachtete Zusammenarbeit und Gedankenaustausch als kennzeichnend für die naturwissenschaftliche Forschung im Gegensatz zur künstlerischen Schöpfung. Die zu seiner Lebenszeit schnelle Institutionalisierung der Naturwissenschaften spielte aber eine widersprüchliche Rolle bei der naturwissenschaftlichen Zusammenarbeit. Einerseits führte die Gründung von Lehrstühlen, Forschungsinstituten, wissenschaftlichen Akademien und anderer wissenschaftlicher Gesellschaften zur einer Professionalisierung und Standardisierung der Forschung, die Goethe und Schiller als Modell diente in ihrem Projekt über den Dilettantismus in den Künsten. Andererseits war es aber Goethes persönliche Erfahrung, daß die Institutionalisierung der Forschung zur Beschränkung der wissenschaftlichen Kommunikation und Freiheit führen kann. Nun ist Goethes Position innerhalb der Naturwissenschaft seiner Zeit und seine kritische Rolle der organisierten Naturforschung gegenüber 1

»[...] das Kunstwerk soll aus dem Genie entspringen, der Künstler soll Gehalt und Form aus der Tiefe seines eigenen Wesens hervorrufen, sich gegen den Stoff beherrschend verhalten, und sich der äußern Einflüsse nur zu seiner Ausbildung bedienen. [...] Die Wissenschaften ruhen weit mehr auf der Erfahrung als die Kunst, und zum Erfahren ist gar mancher geschickt. Das Wissenschaftliche wird von vielen Seiten zusammengetragen, und kann vieler Hände, vieler Köpfe nicht entbehren. Das Wissen läßt sich überliefern, diese Schätze können vererbt werden; und das von Einem erworbene werden manche sich zueignen. Es ist daher Niemand, der nicht seinen Beitrag den Wissenschaften anbieten dürfte. Wie vieles sind wir nicht dem Zufall, dem Handwerk, einer augenblicklichen Aufmerksamkeit schuldig. Alle Naturen, die mit einer glücklichen Sinnlichkeit begabt sind Frauen, Kinder sind fähig, uns lebhafte und wohlgefaßte Bemerkungen mitzuteilen. In der Wissenschaft kann also nicht verlangt werden, daß derjenige, der etwas für sie zu leisten gedenkt, ihr das ganze Leben widme, sie ganz überschaue und umgehe; welches überhaupt auch für den Eingeweihten eine hohe Forderung ist. Durchsucht man jedoch die Geschichte der Wissenschaften überhaupt, besonders aber die Geschichte der Naturwissenschaften; so findet man, daß manches Vorzüglichere von Einzelnen in einzelnen Fächern, sehr oft von Laien geleistet worden« (Schlußwort zum didaktischen Teil der >FarbenlehreDie Metamorphose der PflanzenDer Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt< (1792) und die Studien zur vergleichenden Anatomie. Ertrag der mittleren Periode ist vor allem die 1810 erschienene >FarbenlehreZur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zu MorphologieVersuch einer Witterungslehre< (1825) und weiterhin vor allem die Aufsätze >Über die Mathematik und deren Mißbrauch< (1826), >Zu den Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte< (1827), >Physikalische Preis-Aufgabe der Petersburger Akademie der Wissenschaften< (1827) und >Principes de Philosophie Zoologique< (1830 und 1832). Versuchen wir in Hardenbergs Entwicklung auch drei Etappen zu unterscheiden, dann kommt man auf die folgenden, kurzen und sich teilweise überschneidenden Phasen: Die erste ist die Zeit der philosophischen und naturphilosophischen Fundierung, in der zweiten wird der Versuch des Allgemeinen Brouillons< unternommen, und im dritten folgt die dichterische Verarbeitung der naturwissenschaftlichen Ansichten, die mit der Salinenarbeit parallel läuft.

I Ausgangspunkt und Grundlage für Hardenbergs Naturbetrachtung ist eine philosophisch-naturphilosophische Idee, die er sich aus Spinoza, Hemsterhuis, Kant, Fichte und Schelling ausarbeitete — also keine sinnliche Naturerfahrung oder ein intuitives Gefühl für die Natur wie bei Goethe. Hardenbergs Ansatzpunkt ist demnach ein aus Lektüre und nicht aus empirischen Beobachtungen gewonnener Naturbegriff, der sich für Experimente wenig eignet. Die kurzen philosophischen Lehrjahre bis zu Sophies Tod bilden die erste Etappe in seinem Naturverständnis. Eben weil die Natur bei Novalis nicht als sinnliche Erfahrung, sondern als eine Idee wirksam ist, könnte man versuchen, den Vergleich mit Goethe auf Schillers Unterscheidung zwischen >naiv< und >sentimental< zu gründen. Das wäre aber sowohl bei Novalis als bei Goethe irreführend. Im philosophischen Naturbegriff Hardenbergs spielt die ursprüngliche, für den Mensch verlorengegangene Natur eine nur untergeordnete Rolle. Eben weil Novalis seinen Naturbegriff aus der Tranzendentalphilosophie und

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dem Idealismus gewinnt, ist Natur für ihn bereits in dieser Phase im Werden, nämlich als naturphilosophische und naturwissenschaftliche Idee. Sie ist in diesem Sinne, mehr noch als bei Schiller, eine menschliche Konstruktion und keine sinnlich-materielle Gegebenheit. Nach gängiger Auffassung liegt der Ansatzpunkt Goethes ganz anderswo, nämlich in einem Gefühl der unvermittelten Naturverbundenheit, in einer sinnlichen Erfahrung der Naturgegenstände. Diese Erfahrung ist jedoch nicht ganz so naiv wie Schillers Begriff vorstellt und wie die Goetheliteratur geneigt ist zu behaupten, teils aufgrund von Goethes eigener Stilisierung seiner Sturm-und-Drang Periode. Denn Goethes Naturerfahrung ist zunächst stark durch mystisch-alchemistische und spinozistische Vorstellungen geprägt. Wenn Goethe sich dann in den i78oer Jahren den eigentlichen Naturwissenschaften zuwendet, verstärkt sich das ideelle und theoretische Element in seiner Naturauffassung. Die genannten wichtigen Schriften aus dieser Periode — die Aufsätze über den Zwischenkieferknochen und die >Metamorphose der PflanzenDer Versuch als Vermittler - sie alle reagieren, wie polemisch auch, auf den Stand der damaligen Naturforschung, und sie sind sowohl theoretisch als auch methodologisch unterbaut — wenn auch nicht immer explizit. Goethe war also bereits in der ersten Phase seiner naturwissenschaftlichen Laufbahn kein naiver und intuitiver Empirist. Allerdings hat er in seinem später geschriebenen berühmten Aufsatz über die Begegnung mit Schiller (>Glückliches EreignisGlückliches Ereignis^ nannte auch er die Urpflanze eine Idee. Einen besseren Ausgangspunkt für eine Unterscheidung bietet Goethes erste methodologische Polemik mit Newton im Aufsatz >Der Versuch als 2

Goethe (s. Anm. i), Bd. 12. München 1989, S. 89.

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Vermittler^ Newton hatte in seiner >Optik< behauptet, ein einziges Experiment, ein experimentum crucis, könne die Korrektheit einer Theorie entscheiden. Goethe befürwortete dagegen, Karl Popper antizipierend, eine unendliche Reihe von Experimenten, denn er glaubte, »daß Ein Versuch, ja mehrere Versuche in Verbindung nichts beweisen, ja daß nichts gefährlicher sei als irgend einen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu wollen, und daß die größten Irrtümer eben dadurch entstanden sind, daß man die Gefahr und die Unzulänglichkeit dieser Methode nicht eingesehen«.3 Auch Hypothesen sind suspekt, denn sie werden meistens voreilig, ohne ausreichende Beweise hypostasiert, d.h. als Wahrheit akzeptiert: Man kann sich daher nicht genug in acht nehmen, daß man aus Versuchen nicht zu geschwind folgere, daß man aus Versuchen nicht unmittelbar etwas beweisen, noch irgendeine Theorie durch Versuche bestätigen wolle: denn hier an diesem Passe, beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil, von der Erkenntnis zur Anwendung ist es, wo dem Menschen alle seine inneren Feinde auflauren, Einbildungskraft, die ihn schon da mit ihren Fittigen in die Höhe hebt, wenn er noch immer den Erdboden zu berühren glaubt, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefaßte Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit, und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag, alle liegen hier im Hinterhalte und überwältigen unversehens den handelnden so auch den stillen von allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter.4

Was Goethe hier gegen die Newtonsche, mathematische und aus Modellen und theoretischen Vorstellungen ausgehende Naturwissenschaft sagt, hätte er auch gegen Hardenbergs spekulative Gedankenexperimente, seine konstruktivistische und Hypothesen befürwortende Methodologie einwenden können. Wenn Goethe dadurch Popper antizipiert, daß er glaubt, Theorien kann man nie mit absoluter Sicherheit beweisen, so antizipiert Novalis eben das andere Grundelement von Poppers Methodenideal, nämlich, daß Hypothesen notwendig sind: »Hypothesen sind Netze, nur der wird fangen, der auswirft« (11,668). Den Satz hat Popper tatsächlich als Motto für sein Hauptwerk, >Logik der ForschungFarbenlehre< und bei Novalis das >Allgemeine Brouillon< kennzeichnend. Diese wesensverschiedenen Projekte spielen analoge Rollen, denn beide wurden die wichtigsten naturwissenschaftlichen Projekte ihrer Verfasser, auch wenn beide, allerdings aus verschiedenen Gründen, zum Scheitern kamen: das >Allgemeine Brouillon< noch in der Ausführung, die >Farbenlehre< im Urteil der Fachleute. Ich beschränke mich auf einige Punkte, die meinen Vergleich weiterbringen. Das >Allgemeine Brouillon< enthält keine Naturforschung, am ehesten Anregungen dazu. Die einzelnen Themen und Probleme werden nicht in ihrem eigenen Kontext analysiert, sondern stets miteinander verglichen. Es waltet der »Zauberstab der Analogie«. Der Text gestaltet sich aus vielen kurzen Eintragungen, die oft bereits im Titel die Koppelung zweier Erscheinungen oder Ideen andeuten. Das >Brouillon< war, wie bekannt, eine Antwort auf die große französische Encyclopedic: Deren Artikel werden hier durch kürzere Eintragungen ersetzt, die alphabetische Organisation durch eine scheinbar willkürliche Reihenfolge, die aber innere Analogien und Kennzeichen aufweisen sollte. Hardenbergs Replik auf die Organisation der Encyclopedic ließe sich mit Goethes morphologischer Antwort auf Linnes Klassifikationsmethode vergleichen. Ich kann hier nur nebenbei andeuten, welche vielseitige Rolle Analogien bei Goethe spielen: theoretisch-methodologisch war ihm der Gebrauch der Analogien suspekt, und er übte öfters scharfe Kritik am Mißbrauch der Analogien in der Naturphilosophie. Aber Goethes naturwissenschaftliche Schriften sind gesättigt mit analogischem Denken, und es verwundert deshalb nicht — wenn es auch einigermaßen ironisch ist —, daß seine morphologischen Schriften dann endlich eine breitere Öffentlichkeit in Frankreich erreichten, als der große biologische Analogiedenker, Geoffroy de Saint-Hilaire, in Goethe einen Vorläufer entdeckte. Ich habe in einer früheren Arbeit versucht zu zeigen, daß das Analogieprinzip des >Brouillons< nicht aus dem organischen Bereich stammt, sondern aus der mathematischen Kombinatorik.6 Uerlings hat in seinem ausgezeichneten Buch mit Recht gefragt, was eigentlich die Elemente dieser Ideenkombinatorik wären und wie die Gültigkeit des Kalküls zu sichern ist.7 6

Vgl. Verf.: Symbolismus und symbolische Logik. Die Idee der Ars Combinatoria in der Entwicklung der modernen Dichtung. München 1978. 7 Vgl. Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991, S. 190.

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Wenn ich auf diese Fragen auch heute keine schlagende Antwort geben kann, so liegt die Schuld meiner Meinung nach nicht nur beim Historiker, sondern auch beim Autor Hardenberg selbst, dessen Ideenwebstuhl sehr viel Disparates, nach meiner Meinung auch Leibnizsches Gedankengut, miteinander verknüpft hat. Wir berühren damit die grundsätzliche Frage, ob das >Brouillon< - und das CEuvre von Novalis im allgemeinen — rein konstruktivistisch, also ohne Bezug auf Leibnizsche oder andere metaphysische Voraussetzungen zu verstehen ist. Ich kann sie im Rahmen dieses Vertrags nicht befriedigend behandeln, möchte zu ihr aber am Schluß meines Vertrags nochmals Stellung nehmen. Hardenbergs eigene Unzufriedenheit mit den Undeutlichkeiten seines Projektes mag dazu geführt haben, daß er das >Brouillon< liegen ließ und sich der Dichtung, vor allem dem Roman, zuwandte. Ob bei dieser Umschaltung Kontinuität oder Bruch vorherrscht, das ist eine schwierige und umstrittene Frage. Ich habe in der Vergangenheit manchmal, vielleicht zu einseitig, den Bruch betont, finde aber auch heute noch, daß nicht die vom >Brouillon< in die Romane übernommenen Themen und Ideen das Wesen der Kontinuität ausmachen, sondern die Übertragung der kombinatorischen Idee. Novalis formuliert und praktiziert eine kombinatorische Poetik, die weit in die moderne Dichtung hineinwirkte, wenn auch nicht immer im direkten Zurückgriff auf ihn selbst. Diese Umfunktionierung des kombinatorischen Prinzips ließe sich mit jener narrativistischen Modifizierung des Konstruktionsprinzips vergleichen, die Uerlings in seinem Buch beschreibt. In einem 1989 erschienenen kleinen Aufsatz habe ich, unabhängig von Uerlings, auch von einer »Construction of Nature« bei Novalis gesprochen.8 Auszudiskutieren wäre noch, wo die epistemologischen und methodologischen Unterschiede liegen. In diesem Sinne, Uerlings folgend, könnte man die drei Phasen in Hardenbergs Entwicklung als philosophische Konstruktion der Natur, naturphilosophische Ideenkonstruktion und »poetisch-narrative Konstruktion« bezeichnen. Vor der Besprechung der letzten, narrativen Konstruktionsphase bei Novalis möchte ich jedoch über Goethes zweite und dritte naturwissenschaftliche Phase sprechen und damit den Sinn meines Vergleiches verdeutlichen. Wenden wir uns der >FarbenlehreFarbenlehre< mit dem autobiographischen Abschnitt >Konfession des Verfassers< schließt und daß Goethe sieben Monate vor der Publikation der > Farbenlehre Die Wahlverwandtschaften veröffentlichte. Die zweite Phase schließt also bei Goethe mit historischen, autobiographischen und fiktiven Texten, in denen allerdings nicht mehr die Natur selbst, sondern der mit der Natur umgehende Mensch Hauptakteur ist.

III Man darf dann bei dem Übergang von der zweiten zur dritten Phase somit in beiden Fällen von einer »narrativen Wendung« sprechen, die allerdings verschiedene Bedeutung bei den zwei Dichtern erhält. > Wilhelm Meisters Wanderjahre< und >Faust II< enthalten nur wenige, allerdings nicht unwichtige Stellen naturwissenschaftlichen Inhalts. Die narrative Behandlung der Naturwissenschaft im Alterswerk Goethes ist überwiegend autobiographisch, biographisch und historisch, nicht fiktiv. Dazu einige konkrete Angaben. Goethes wichtigstes naturwissenschaftliches Projekt nach dem Abschluß der >Farbenlehre< ist die Publikation der zwischen 1817 und 1824 parallel erscheinenden Heftreihen >Morphologie< und >Zur Naturwissenschaft überhaupt^ In den morphologischen Heften werden zunächst die erwähnten biologischen Schriften der ersten Phase veröffentlicht, manchmal als Erstdruck. Sie werden mit Aufsätzen ergänzt, die über ihre Entstehung, über Goethes naturwissenschaftliche Laufbahn und über die Entwicklung seines Denkens berichten. Die morphologischen Hefte sind also mit den damals entstandenen autobiographischen Schriften — >Dichtung und

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WahrheitZur Naturwissenschaft überhaupt sind weniger autobiographisch orientiert. Hier werden neue Gebiete, die Wolkenlehre, die Meteorologie und die Lehre der entoptischen Farben erschlossen und die Geologie fortgesetzt. Aber Problemstellung und Perspektive sind hier oft auch narrativ, denn im Vordergrund stehen die Entdeckungen, Lebensläufe und Streitereien anderer Forscher. Die Natur selbst erscheint nur indirekt, durch ihre Handlungen und Ideen. So verlangt Goethe von Luke Howard, dem Verfasser der Wolkenlehre, einen Lebenslauf und von Seebeck einen Bericht, wie er zu seinen Entdeckungen über die entoptischen Farben gekommen ist. Ein weiteres Erzählelement dieser Hefte ist in den Anekdoten zu finden, mit denen Goethe seine eigenen psychologischen und wissenschaftssoziologischen Reflexionen illustriert. In den wichtigsten Schriften, die nach der Einstellung der Hefte im Jahre 1824 entstanden sind, stehen wiederum die Geschichte und die institutionelle Umgebung der Naturforschung und nicht die Natur selbst im Mittelpunkt. Goethe berichtet über die konkreten Bedingungen des Wissenschaftsbetriebes: Er dramatisiert die Auseinandersetzungen über optische Fragen, er stellt die Entwicklung der Wissenschaften während seines Lebens dar, er beschreibt den großen Streit zwischen Cuvier und Geoffroy, wobei er eine historische Parallele mit dem Streit zwischen Buffon und Daubenton zieht und auch die traurige Geschichte der Zurückweisung seines Aufsatzes über den Zwischenkieferknochen erzählt. Das Zitat aus Montaigne, das Goethe zweifach als Brücke zwischen dem ersten und zweiten Teil seines Rezensionaufsatzes >Principes de Philosophie Zoologique< einschaltet, könnte als Motto für alle seine späten naturwissenschaftlichen Schriften dienen: »Ich lehre nicht, ich erzähle«.10 Was Goethe erzählt, ist weder Geschichte der Natur noch poetisierte oder fiktionalisierte Naturwissenschaft; es sind nicht-fiktive Darstellungen des naturwissenschaftlichen Betriebes. Wie anders gestaltet sich die Narrativisierung der Naturwissenschaft bei Novalis! Die philosophisch-naturphilosophische und später enzyklopädistische Konstruktion der Natur in den ersten zwei Phasen seines Schrei9

Vgl. Kühn, Dorothea: Das Prinzip der autobiographischen Form in Goethes Schriftenreihe >Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie^ In: Neue Hefte zur Morphologie 4 (1962), S. 129-149. 10 Goethe: Principes de Philosophie Zoologique discutes en mars 1830 au sein de Academic

Das Verständnis der Naturwissenschaften bei Novalis und Goethe

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bens enthält nur wenige narrative Stellen im engeren Sinn. Nicht die an Menschen haftende Entstehungsgeschichte, die Wandlungen naturwissenschaftlicher Ideen interessieren ihn, sondern ihre eher ahistorische strukturelle Morphologie und die Analogien zwischen ihnen. Über die Entstehungsgeschichte einer Idee, über ihren biographischen, soziologischen oder geschichtlichen Hintergrund schreibt er selten. Er ist psychologisch äußerst subtil, fragt jedoch nur selten, wie und warum Ideen von Menschen vertreten werden. Die philosophisch-naturwissenschaftlichen Fragen werden in der letzten, narrativen Phase zwar durch Romanfiguren vorgetragen, aber in den meisten Fällen führt das zu keiner Psychologisierung der Naturwissenschaft, da wir über diese Figuren kaum mehr wissen, als daß sie diese oder jene naturwissenschaftlichen Ideen vertreten. Etwas zugespitzt möchte ich sagen: Goethe bettet die naturwissenschaftliche Forschung autobiographisch, biographisch, institutionell und wissenschaftsgeschichtlich ein; Novalis bietet im Romankontext symbolische Geschichten über die Erde und den Kosmos. In >Principes de Philosophie Zoologique< begründet Goethe die biographische Gestaltung des naturwissenschaftlichen Diskurses mit dem Satz: Da aber alles, was sich unter Menschen im höheren Sinne ereignet, aus dem ethischen Standpunkt betrachtet, beschaut und beurteilt werden muß, zunächst aber die Persönlichkeit, die Individualität der fraglichen Personen vorzüglich zu beachten ist. 11

Pragmatische und praxisgerichtete Fragen sind ihm also letztlich wichtiger als epistemologische, wie auch die Betrachtung des Wissenschaftsbetriebes ihm wichtiger ist als die Kontemplation der Natur selbst. Goethe ist der große Diagnostiker und Verhaltensforscher der Naturwissenschaftler wobei er natürlich oft dieselben Fehler begeht, die er bei anderen kritisiert. Die ethische Dimension der naturwissenschaftlichen Betrachtungen ist bei Novalis anderswo zu finden. Er ist kein Verhaltensforscher; die Art und Weise, wie die Naturwissenschaft eigentlich funktioniert, interessiert ihn relativ wenig, weil er die Naturwissenschaft als ein zukunftsträchtiges Projekt schätzt, deren Ziel es ist, die Menschen umzuwandeln und zu erhöhen. Weil die Erhöhung, die »Potenzierung« des Menschen ein ethisches Ziel ist, werden der Naturwissenschaft ethische Aufgaben aufgebürdet. Nicht die historische und bestehende Praxis rechtfertigt diese EinRoyale des Science par Mr. Geoffrey de Saint-Hilaire Paris 1830. In: Goethe: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd. 24. Frankfurt am Main 1987, S. 8i9f. "Ebd., S. 815.

DO

John Neubauer

Schätzung, sondern die in der Naturwissenschaft liegende Potenz zur Verwirklichung eines utopischen Projektes. Eine empirisch-soziologische Betrachtung des geschichtlichen und zeitgenössischen Wissenschaftsbetriebs liegt darum außerhalb von Hardenbergs Horizont.

IV Zum Abschluß möchte ich an mein Thema anknüpfend und meine eigene These einigermaßen relativierend, einige Worte über die Probleme der heutigen Novalis-Diskussion hinzufügen. Ich habe Hardenbergs Konstruktionsprinzip der Natur als Ausgangspunkt gewählt und habe Uerlings' Formel »narrative Konstruktion« übernommen, um einige Parallelen und Gegensätze zu Goethes naturwissenschaftlicher Narrativität aufzuzeigen. Darf aber das bei Novalis sicher wesentliche utopische Konstruktionsprinzip zum Hauptschlüssel seines Denkens und Dichtens ausgewählt werden? Ist ein rein konstruktivistischer Novalis nicht vielleicht unsere eigene Konstruktion, deren Kohärenz nur auf Kosten einer Reduktion erkauft wird, nämlich durch die Vernachlässigung vergangenheitsorientierter und — ja — substantialistischer Elemente in seinem Denken? Ähnliche Fragen ließen sich zu anderen aktuellen Novalisbildern stellen, die von der Einheit seines Denkens ausgehen. Auf diese inhaltlichen Fragen, die erst auf der breiten Ebene aller Hardenbergschen Texte ausdiskutiert werden könnten, ist hier keine Antwort zu geben. Ich möchte das Problem deshalb auf eine für die Novalis-Forschung spezifische methodologische Frage zuspitzen. Bei vielen anderen Dichtern und Denkern, z.B. bei Hölderlin und Shakespeare, zerbröckelt heute das früher als einheitlich — oder jedenfalls einheitlicher — gedachte Textbild. Die philologische Akribie löst den Text in zahllose miteinander konkurrierende Textvarianten auf. Dank der brillanten Arbeit der Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe liegt die Sache bei Novalis genau umgekehrt, denn philologischer Scharfsinn hat in diesem Fall die Einheit des Textes und den Gedankenzusammenhang wesentlich besser herausstellen können und dadurch die Falsifizierung von vielen älteren Novalisbildern, etwa die von Tieck und Dilthey, möglich gemacht. Wir alle haben unendlich viel von diesen für uns sichtbar gemachten Zusammenhängen profitiert, und ich möchte bei dieser Gelegenheit nochmals meinen Dank für die hervorragende Leistung an die hier

Das Verständnis der Naturwissenschaften bei Novalis und Goethe

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anwesenden Herausgeber aussprechen. Dieser große Fortschritt hat aber wohl bei uns allen auch ein Stückchen positivistischen Glauben wiederbelebt, denn die neue Textlage, die viele ältere Anschauungen falsifiziert, bietet nun die verführerische Hoffnung, wir könnten der Hermeneutik entkommen. Diese Hoffnung erweist sich als besonders paradoxal, wenn es um einen konstruktivistischen Novalis geht, um einen, für den alle Bilder der Natur und der Vergangenheit — ob Elektrizität, Mittelalter oder Goldenes Zeitalter — poetische oder historisch-hermeneutische Konstruktionen und keine faktentreuen Abbildungen waren. Ich kann, wie gesagt, hier nicht näher ausführen, warum mir auch der neue, philologisch besser verstandene Novalis nicht ganz einheitlich und widerspruchslos konstruktivistisch erscheint. Aber der rein konstruktivistische Novalis, wie übrigens auch der dekonstruktivistische, ist mir schon deshalb suspekt, weil er zu konsequent unseren eigenen anti-substantialistischen und anti-dogmatischen Denkidealen entspricht! Und widerspricht sich unsere Methodologie nicht, wenn sie dem anti-substantialistisch gedachten Novalis eine holistischmetaphysische Einheit im Denken und Dichten zuschreibt? Ist diese ersehnte Einheit nicht vielleicht der metaphysische Traum des Interpreten sei er Positivist, Konstruktivist oder selbst Dekonstruktivist? Sind es nicht die Reste einer Metaphysik bei uns, die uns die Idee eines widerspruchslosen Novalis einflößen? Man ist nicht notwendig Dekonstruktivist, wenn man solche Einheitsbilder oder auch nur die Sehnsucht nach ihnen mit Skepsis betrachtet. Es ist eine wesentliche Errungenschaft eben des heutigen Konstruktivismus, solche vermeintlichen Wahrheiten der Vergangenheit als kaschierte Selbstkonstruktionen zu entlarven. Auch wissenschaftliche Objektivität verlangt, daß wir uns immer wieder fragen, wo, in welcher Weise und zu welchem Grade unser Bild der Vergangenheit unsere Konstruktion und keine zeitlose Wahrheit ist. Wenn wir, Novalis paraphrasierend, sagen: »Konstruktionen sind Netze, nur der wird fangen, der auswirft«, sollten wir in Goethes Geist hinzufügen, daß die Einbildungskraft auch den Wissenschaftler »mit ihren Fittigen in die Höhe hebt, wenn er noch immer den Erdboden zu berühren glaubt«, und daß die Hoffnung auf sicheres und kohärentes Wissen auch »den stillen, von allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter« irreführen mag. In diesem Sinne muß hinzugefügt werden, daß eine vergleichende Betrachtung von Goethes und Hardenbergs Naturverständnis in zwanzig oder dreißig Jahren wohl ganz anders aussehen wird.

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Aus der Diskussion Stadier: Nur eine kleine Korrektur: Es ist nicht Novalis selbst, der sagt: »Hypothesen sind Netze [...]« (11,668), sondern der Sprecher B im 5. >DialogFarbenlehre< dem Subjekt und der Aktivität des Sehens zugewandt. In den Schriften zur Metamorphose der Pflanzen und Insekten äußert er sich noch als empirischer Optimist. Novalis hat ja z.B. auch festgestellt, daß Goethe die Antike > konstruiert Maximen und Reflexionen< über die Hypothese als Gerüst, das vom Baumeister wieder abgetragen werden muß, vergleichen mit Novalis' Problematisierung der Hypothese im 5. >Dialoghinter< den Phänomenen liegt? Ich frage mich, inwieweit Novalis den Unterschied zwischen Goethes Naturanschauung und einer mathematisch geprägten Naturwissenschaft überhaupt gesehen hat. Neubauer: Darüber können wir wohl auf der Basis der Quellen, die wir haben, kaum etwas aussagen. Mahl: Hinzu kommt, daß Novalis Vorliegendes immer im Blick auf seine eigenen Vorstellungen rezipiert hat.

Dietrich von Engelhardt (Lübeck)

Novalis im medizinhistorischen Kontext I Dimensionen — Perspektiven Das Thema >Novalis im medizinhistorischen Kontext< lenkt den Blick auf die Geschichte der Medizin in mehrfachem Sinne: die Epoche um 1800 im Spektrum von Handeln, Wissen und Denken; die Entwicklung der Medizin seit dieser Zeit bis in die Gegenwart; schließlich der Verlauf der Historiographie der Medizin im Zeitraum der vergangenen 200 Jahre. Novalis soll in diesem Beitrag auf den Hintergrund der Medizin um 1800 bezogen und die Rezeption dieser Medizin in seinem Werk sowie die Beachtung dieser Rezeption in der Medizin der Folgezeit erörtert werden. Medizin meint: Physiologie, Pathologie, Ätiologie, Diagnostik, Therapie, Arzt, Patient, Krankenhaus, Forschung, Lehre, Theorie und Philosophie der Medizin wie ebenfalls Gesellschaft und Kultur. Studien zur Beziehung von Novalis und der Medizin um 1800 liegen mehrfach vor.1 Eine souveräne Einschätzung der Forschungslage bietet Uerlings; mit Recht wird hier darauf hingewiesen, daß die Veröffentli1

Bluth, Karl Theodor: Medizingeschichtliches bei Paracelsus. Berlin 1934; Diepgen, Paul: Novalis und die romantische Medizin. Stuttgart 1938; Fischer, Hans: Die Krankheitsauffassung Friedrich von Hardenbergs (Novalis). In: Arzt und Humanismus. Zürich 1962, S. 248-271; Grieshaber, Arved: Natur, Mensch und Krankheit bei Novalis. Diss. med. Heidelberg 1983; Heller, Eitel-Fritz: Die Ursprünge der Krankheitsanschauungen bei Novalis und seine persönlichen Beziehungen zur romantischen Medizin. Diss. med. Leipzig 1945; Henkelmann, Thomas: Die Struktur des Lebendigen. Die Fragmente zur Physiologie von Novalis. In: Bausteine zur Medizingeschichte. Heinrich Schipperges zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Eduard Seidler und Heinz Schott. Wiesbaden 1984, 8.45-52; Mahl, Hans-Joachim: Novalis und Plotin. Untersuchungen zu einer neuen Interpretation des >Allgemeinen BrouillonsUntersuchungen über Pathogenie< (1798/1800) war für Hufe2

Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991, S. 151. 3 Hegel and the Sciences. Hrsg. von Robert S. Cohen und Marx W. Wartofksy. Dordrecht 1984; Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte. Hrsg. von Ludwig Hasler. Stuttgart/Bad Cannstatt 1981; Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling. Hrsg. von Reinhard Heckmann, Hermann Krings und Rudolf W. Meyer. Stuttgart/Bad Cannstatt 1985; Hegels Philosophie der Natur. Hrsg. von Rudolf-Peter Horstmann und Michael J. Petry. Stuttgart 1986; Hegel und die Naturwissenschaften. Hrsg. von Michael J. Petry. Stuttgart 1987; Hegel and Newtonianism. Hrsg. von Michael J. Petry. Dordrecht 1993; Natur und geschichtlicher Prozeß. Studien zur Naturphilosophie F. W. J. Schellings. Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler. Frankfurt am Main 1984. 4 Romanticism and the Sciences. Hrsg. von Andrew Cunningham und Nicholas Jardine. Cambridge 1990; Verf.: Bibliographie der Sekundärliteratur zur romantischen Naturforschung und Medizin 1950-1975. In: Romantik in Deutschland. Hrsg. von Richard Brinkmann. Stuttgart 1978, S. 307 — 330; Verf.: Romantische Naturforschung. In: Verf.: Historisches Bewußtsein von der Aufklärung bis zum Positivismus. Freiburg i. Br. 1979, S. 103-157; Leibbrand, Werner: Die spekulative Medizin der Romantik. Hamburg 1956; Lohff, Brigitte: Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik. Ein Beitrag zur Erkenntnisphilosophie der Medizin. Stuttgart 1990; Romanticism in Science. Science in Europe 1790—1840. Hrsg. von Stefano Poggi und Mauritio Bossi. Dordrecht 1994; Romanticism in National Context. Hrsg. von Roy Porter und Mikuläl Teich. Cambrigde 1988; Rothschuh, Karl Eduard: Naturphilosophische Konzepte der Medizin aus der Zeit der deutschen Romantik. In: Romantik in Deutschland (s.o.), S. 243-266; Sohni (s. Anm. i); Wiesing, Urban: »Kunst oder Wissenschaft?« Konzeptionen der Medizin in der deutschen Romantik. Stuttgart/Bad Cannstatt 1995.

Novalis im medizinhistorischen Kontext

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lands Journal der practischen Arzneykünde und Wundarzneykunst< geplant, wurde aber nicht ausgeführt (vgl. 111,377:622). Die Beiträge haben nur gelegentlich den Status eines romantischen Fragments als »Anfänge interessanter Gedankenfolgen — Texte zum Denken«,5 sie entsprechen vielmehr dem Verzicht auf einen möglichen Abschluß: »so geb ich nur die Methodik des Verfahrens — und Beyspiele — den allgemeinsten Theil und Bruchstücke aus den Besondern Theilen« (111,356:526). Einen Einfluß auf die Medizin seiner Zeit hat Novalis nicht ausgeübt. Dennoch verdient Novalis das Interesse der Medizingeschichte: als Reflex der zeitgenössischen Medizin um 1800 und als Ausdruck ihrer ästhetisch-philosophischen Potentialität. Die medizinhistorische Auseinandersetzung legt sich auch im Blick auf die Gegenwart nahe; die Beziehung des Menschen zur äußeren Natur und seinem eigenen Leib, der Gesundheits- und Krankheitsbegriff, die Ziele der Therapie, die Arzt-PatientenBeziehung, ethische Fragen der medizinischen Forschung wie ärztlichen Praxis bewegen das Denken innerhalb der Medizin wie allgemein in der Öffentlichkeit; Novalis verspricht Anregungen auf allen diesen Ebenen.

II Medizin um 1800 Medizin um 1800 bedeutet eine Vielfalt von Positionen und Initiativen auf den Ebenen der Theorie wie Praxis, der Lehre wie Forschung. Eine besondere Bewegung jener Jahrzehnte - vor allem unter dem Einfluß der Naturphilosophie Schellings, aber ebenfalls anderer philosophischer wie theologischer Richtungen - stellt die sogenannte romantische Medizin oder besser Medizin im Zeitalter der Romantik dar. Der sich seit dem Beginn der Neuzeit und vor allem im 18. Jahrhundert verstärkenden Tendenz zur Trennung der Medizin von der Philosophie werden noch einmal Versuche einer philosophischen Durchdringung und Begründung der medizinischen Theorie und therapeutischen Praxis entgegengesetzt. Der Zug zur Spezialisierung soll aufgehalten, die Verabsolutierung des mechanischen Denkens vermieden, die Spaltung von Natur- und Geisteswissenschaften überwunden werden. Empirie und Metaphysik, Praxis und Theorie, Detail und Totalität, Geschichte, Gegenwart und Zukunft sollen sich verbinden lassen. 'An A. C. Just am 26.12.1798 (vgl. IV,27o).

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Die Zeit einer besonderen Geltung der romantischen Medizin ist faktisch allerdings kurz; vom Ende der 9oer Jahre des 18. bis in die 3oer Jahre des 19. Jahrhunderts dauert diese Bewegung, die unterschiedlich intensiv in den einzelnen deutschen Staaten und Universitätsorten ausfällt und auch in den Prinzipien und in der Ausführung keineswegs einheitlich ist. Einwände werden gegen den spekulativen Vernunftbegriff eines Schelling und vor allem Hegel erhoben. Novalis formuliert seinerseits: »Dies uns gegebne Absolute läßt sich nur negativ erkennen« (11,270:566). Glaube, Gefühl und Traum sollen den Verstand ergänzen, aber nicht ersetzen; romantische Wissenschaft bedeutet keineswegs einseitige Verherrlichung der Irrationalität. In diesem Sinn heißt es auch bei Novalis: Ich bin überzeugt, daß man durch kalten, technischen Verstand, und ruhigen, moralischen Sinn eher zu wahren Offenbarungen gelangt, als durch Fantasie, die uns blos ins Gespensterreich, diesem Antipoden des wahren Himmels, zu leiten scheint. (111,578:182)

Die Medizin um 1800 ist allerdings keineswegs insgesamt durch eine Phase der Romantik und des Idealismus hindurchgegangen — auch in Deutschland nicht. Stets gibt es empirische oder metaphysikfeindliche Standpunkte im Sinne einer strikten Ablehnung sowohl der Transzendentalphilosophie Kants als auch der Naturphilosophie Schellings oder Hegels. Diese Vielfalt und diese Entwicklungslinien der Medizin müssen bei der Beurteilung von Novalis aus medizinhistorischer Perspektive ebenso beachtet werden wie die Fülle an neuen Beobachtungen, Erfindungen und speziellen theoretischen Beiträgen und Impulsen dieser Jahrzehnte. Der Bogen spannt sich von der wissenschaftlichen Grundlegung der Zahnheilkunde durch John Hunter (1771), der Schrift >Von der Lebenskraft (1774) von F. K. Medicus, Mesmers >Sendschreiben über die Magnetkur< (1775), Johann Peter Franks >System einer vollständigen medicinischen Polizey< (i779ff.), John Browns >Elementa Medicinae< (1780), dem >Magazin der Erfahrungsseelenkunde< (1783 — 1793) von Karl Philipp Moritz, der Interpretation der Atmung als Verbrennungsprozeß durch Lavoisier und Laplace (1783), Mascagnis >Ouvrage sur le Systeme des vaisseaux lymphatiques< (1784), die Eröffnung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien (1784), Blumenbachs Abhandlung über den >Nisus formativus< (1787), Galvanis >De viribus electricitatis in motu musculari commentarius< (1791), Sömmerrings Schrift >Vom Bau des menschlichen Körpers< (1791), die Einrichtung fliegender Lazarette für Verwundete im Kriege (1792), Kielmeyers Rede >Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte< (1793) zur legendären >Befreiung der Irren von den Ketten< durch

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Philippe Pinel (1794/95), Jenners erster Kuhpockenimpfung durch Vakzination (1796), Hufelands >Kunst, das menschliche Leben zu verlängere (1796, später >Makrobiotik< genannt), Hahnemanns homöopathischen Thesen (1796), Sömmerrings Abhandlung >Ueber das Organ der Seele< (1796), Voltas kontaktelektrische Studien (i792ff.), Ritters >Beweis, dass ein beständiger Galvanismus den Lebensprocess in dem Thierreich begleite< (1798) und Bichats >Anatomie generale< (1801), um einige wichtige Beispiele aus der Lebenszeit von Novalis anzuführen. Wird der Blick auf den Zeitraum bis 1810 gerichtet, lassen sich als weitere Daten der Medizingeschichte vor allem nennen: Spallanzanis >Memorie sulla respirazione< (1803), Percivals >Code of medical ethics< (1803), Reils > Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen< (1803), Sertürners Entdeckung des Morphiums (1804), die Eröffnung der ersten deutschen >Psychischen Heilanstalt für Geisteskranke< in Bayreuth (1805), Blumenbachs >Handbuch der vergleichenden Anatomie< (1805), die >Histoire des phlegmasies ou inflammations chroniques< von Broussais (1808), die Verbreitung der Perkussionsmethode Auenbruggers durch Corvisart (1809), Hahnemanns Veröffentlichung des >Organons der rationellen Heilkunde< (1810) sowie Bells >Anatomy of the Brain< (1811).

Ill Resonanz und Rezeption der Medizin bei Novalis Novalis' Interesse an der Medizin ist groß, seine Kenntnis medizinischer Beobachtungen, Erklärungen, Theorien und therapeutischer Verfahren beeindruckt. Besitz und Lektüre zahlreicher medizinischer Aufsätze und Monographien lassen sich nachweisen (vgl. 1^1058—1073). Nicht nur die Aufnahme verdient Beachtung, ebenso bemerkenswert ist, was Novalis nicht gekannt, übergangen oder vernachlässigt hat. Neben Rezeption und Resonanz stehen Korrespondenz oder Übereinstimmung ohne direkte Beeinflussung. Diese Formen der Beziehung gelten ebenfalls für die Folgezeit; wurde Novalis in der Medizin aufgenommen, kam es zu Wirkungen, lassen sich Übereinstimmungen feststellen?

a. Beziehung zu den Naturwissenschaften Nach den Vorstellungen der Medizin um 1800 soll Medizin mit den Naturwissenschaften verbunden und ihnen zugleich nicht untergeordnet wer-

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den, vor allem nicht der Mechanik oder Physik; Medizin soll weder angewandte Naturwissenschaft im allgemeinen, noch speziell angewandte Biologie sein. Besonders von romantischen Medizinern wird für die Einheit von Medizin und Naturwissenschaften, die allerdings ideell oder in der Logik des Organischen konzipiert werden, plädiert. Biologie, die als Fachbezeichnung in den Jahren 1797—1802 zum ersten Mal auftaucht, umgreift nach romantischem Verständnis auch die Welt des Geistes. Chemie und Physik werden von Novalis für den Organismus für wesentlich, aber nicht ausreichend gehalten: »Wäre unser Körper eine Maschine, so müßte jede Reitzung ewig dauern [...]« (111,78). Chemismus muß Mechanismus ergänzen. Galvanismus stellt die Verbindung zur Biologie her, sein Verständnis geht über den empirischen Gebrauch der Zeit weit hinaus: Wenn man die Kunst zu azotiren, zu hydrogeniren und zu Carbonisiren so gut nachzumachen wüßte, wie das Säuren, so hätten wir vielleicht die Kunst, lebendige Wesen zu machen, in unsrer Gewalt. (III,390

Stets muß nach Novalis beim Studium der Körperwelt die Natur transzendiert werden — sei diese nun nach der Logik der Mechanik, Chemie oder Biologie untersucht und interpretiert. Hergestellt werden müsse die Beziehung zur Psychologie oder Anthropologie: »Der Körper soll Seele — die Seele Körper werden. Eins durch das Andre — dadurch gewinnen beyde« (111,352:505).

b. Physiologie und Anatomie Mit den Namen von Haller, Wolff, Blumenbach, Spallanzani, Kielmeyer, Galvani, Volta, Brown, Reil, Hufeland, Röschlaub, Ritter und Humboldt verbinden sich entscheidende Impulse und Innovationen der Physiologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion, Assimilation und Fortpflanzung, Erregbarkeit, Reiz und Erregung, Lebenskraft, Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus und Chemismus sind einige Stichworte für eine Entwicklung, die sich insgesamt gegen das mechanische Verständnis des Lebens richtet. Die neue Sauerstoffchemie wird rezipiert, zugleich bleibt die phlogistische Chemie, modern in ihren Beiträgen zu den Prozessen der Affinität oder Attraktion, weiterhin und für Novalis in übergreifendem Sinn bedeutungsvoll: »Oxyd[ation] Verminderung der Personalitaet. Phlogiston = Geist« (111,659:597).

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Nähe und Distanz bestimmen die Beziehung von Novalis zur Naturforschung und Medizin der Zeit. Stets wird Empirie mit Philosophie und Kunst verbunden; in dieser Beziehung interessieren ihn vor allem Baader (>Beyträge zur Elementar-PhisiologieSäze aus der Natur-Metaphysik auf chemische und medicinische Gegenstände angewandtUeber die Verhältniße der organischen Kräfte< (1793), mit der nach Schelling eine neue Epoche der Naturgeschichte beginnt, wird auch von Novalis aufgenommen. Je höher die Entwicklung, desto systematischer sind auch die Funktionen verteilt, desto größer ist aber auch die »Vulnerabilität«. Das organische Gleichgewicht »unser Körper ein gebildeter Fluß« (111,595:248) - trägt die Tendenz zur Auflösung in die mechanisch-chemischen Elementarkräfte in sich, der »Erneuerungsproceß« erliegt letztlich dem »Vernichtungsproceß« (II,556:i35)-

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John Brown ist mit seiner Lehre der Erregbarkeit, der Reize und des Erregungszustandes, in Deutschland vor allem über Weikard, Marcus und Röschlaub verbreitet, auch für Novalis wesentlich; der Text »Einige Sätze des Brownischen Syst[ems]« (111,656:587) resümiert diese Lehre, die von Novalis wie allgemein von den romantischen Medizinern und idealistischen Naturphilosophen für zu mechanisch und undifferenziert erklärt wird: Nachgerade häufen sich immer mehr Gründe, die mich die Brownische Erregungstheorie nicht mehr in dem günstigen Lichte erblicken lassen, als ehedem. Das Leben läßt sich schlechterdings nur aus Leben erklären - die Erregung nur aus der Erregung. (10,369:593)

Physiologie und Anatomie müssen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert noch in enger Verbindung gedacht werden; Physiologie wird von Haller als »Anatomia animata« bezeichnet. Zur institutionalisierten Trennung kommt es erst im 19. Jahrhundert. Bedeutende Beiträge zur Anatomie stammen von Camper, Lieutaud, William und John Hunter, Blumenbach, Soemmerring, Wrisberg, Bichat und J. F. Meckel. Das romantische Konzept der Anatomie (z.B. bei Carus) fällt ebenso umfassend wie das romantische Physiologiekonzept aus. Von Novalis werden zahlreiche Aufgaben und Pläne sowie Beobachtungen und Überlegungen formuliert: »Über Adern und Gefäßbildung — Haut - Knochen - Nerven und Muskeln« (III, 577:173) lautet eine Eintragung. An anderer Stelle heißt es: »Die Nerven sind Gefäße und bestehn eigentlich ganz aus Muskularsubstanz — mithin muß der eigentliche Charakter des Nerv[s], der Grund der Sensib[ilitaet] in dem Marke, in der Gehirnsubstanz stecken« (111,659:595). Bestimmte Organe scheinen besonders faszinierend zu sein: »Die Haut überhaupt ist äußerst merckwürdig« (111,54). Auch für die Anatomie gilt der Leib-Seele-Zusammenhang: »Je geistvoller, gebildeter ein Mensch ist, desto persönlicher sind seine Glieder. z.B. seine Augen, seine Hand, seine Figur etc.« (111,308:375). Physiologie und Anatomie stehen in einem Zusammenhang mit der Welt der Natur und des Geistes. »Physiologie überhaupt wäre Weltpsychologie — und Natur und Seele auch eins — da unter Natur doch nur Geist des Ganzen, substantielles Princip verstanden wird« (111,249:59). Physiologie und Anatomie gehen für Novalis über die Beziehung von Leib und Seele hinaus, meinen allgemein die Verbindung von Mensch und Natur: »Beyde Bahnen laufen vom Menschen aus und endigen in Gott« (111,383:634).

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c. Pathologie Für den Bereich der Pathologie gewinnt Novalis wichtige Anlegungen aus det Lektüre von Kurt Sprengeis >Handbuch der Pathologie< (i795ff.), für die er sich zugleich eine »Kritik« vornimmt (111,274:191). Vor allem Browns Konzept der sthenischen oder asthenischen Krankheiten mit einer entsprechenden Therapie der Beruhigung oder Erregung bewegt die Diskussionen der Zeit. Die anatomische Grundlegung der Pathologie erfolgt durch Morgagnis Schrift >De sedibus et causis morborum< (1761). Mit Bichats Gewebelehre in der >Anatomie generale< (1801) wird der Sitz der Krankheiten von den Organen auf die Gewebe verlagert. Brown — in den Darstellungen von Weikard und Röschlaub — spielt für Novalis auch in der Pathologie und Nosologie eine zentrale Rolle: Brown scheint also das Hauptverdienst zu haben — das wesentlichste, karakteristische Symptom der Kr[anckheit] bemerckt und sie darnach in Beziehung auf Arzeneykunde, (also schon angewandte Pathologie) geordnet zu haben. (111,477:1148)

Brown wird allerdings auch als Pathologe oder Nosologe kritisiert: »Kranckheit hat Brown schlechterdings nicht erklärt« (111,453:978). In pathologischer Hinsicht vertritt Novalis weder eine Humoral- noch Solidarpathologie, sondern eine Verbindung: »Sollt es wircklich Humoralkranckheiten geben - so gut wie Nervenkranckheiten und diese nosologische Classification die Queerspeichen im medicinischen Rade bilden - den Nord und Südpol« (111,311:386). In Krankheiten herrschen jeweils bestimmte Organe — Magen, Lunge — oder spezifische Funktionen vor. Krankheiten setzen sich selbst wieder aus Krankheiten zusammen, von ihnen wird der ganze Körper ergriffen: »Der ganze Körper erkranckt, wenn einzelne Organe erkranken« (111,444:918). Krankheiten sind nicht nur »Vereinzelungen«, sondern für sich existierende »Schmarotzerthiere (oder Thierpflanzen) — sie wachsen, sie werden erzeugt, sie zeugen, sie haben ihre Organisation [...]« (111,264:128). Die Ursachen der Erkrankung sind vielfältig, sie können somatisch wie psychisch sein, Anlage wie Umwelt spielen eine Rolle. »Die meisten Kranckheiten sind complicirt und sowohl in der Seele, als im Körper, wie in den festen Theilen und den Säften zugl[eich], d[er] Sitz des Übels zu suchen« (111,415:754). Der antike Gedanke der >Neutralität< zwischen den Extremen der Gesundheit und Krankheit findet sich auch bei Novalis: »Das Unkritische Sich für Gesund halten — so wie das unkritische Sich für Kranck halten —

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Beydes ist Fehler - und Kranckheit« (111,359:539). Ebenso taucht das christlich-eschatologische Verständnis der Krankheit auf: »Das vollkomne Leben ist der Himmel. Die Welt ist der Inbegriff des unvollkomnen Lebens« (III,6o). Entsprechend werden gängige Werturteile abgelehnt; Krankheiten können auch einen positiven Sinn besitzen, sie können »Lehrjahre der Lebenskunst und der Gemüthsbildung« (111,686:675) semKrankheit und Tod gehören zum Leben, sie besitzen bildende und vergeistigende Funktionen: »zu Leiden ist der Mensch geboren. Je hülfloser, desto empfänglicher für Moral und Religion« (111,667:606). Komparation steht neben Differenzierung: »Nähere vergleichende Betrachtung der Verwandtschaften der Glieder am menschlichen Körper — der Krankheitssymptome — der Kranckheiten selbst — der möglichen Kranckheiten« (111,578:177). Ideelle Evolution gilt auch für die Pathologie. Mit Ordnungen der Krankheiten im naturhistorischen Stil von Linne ist Novalis vertraut; Krankheiten der Steine sind Vegetationen, Krankheiten der Pflanzen Animalisationen, Krankheiten der Menschen schließlich Transzendenzen in das Jenseits oder in die Idealität. »Alle Krankheiten gleichen der Sünde, darein; daß sie Transcendenzen sind« (III,662:6oi). Am Tod scheiden sich empirische und romantische Medizin um 1800. Bleibt der empirische Standpunkt auf die Phänomenologie des physischen Endes beschränkt, werden von den romantischen Medizinern naturphilosophische oder anthropologische Betrachtungen vorgetragen. »Wer weiß, wo wir in dem Augenblick anschießen — in dem wir hier verschwinden« (111,559:27), stellt sich Novalis als Frage: Der Tod ist »das romantisirende Princip unsers Lebens« (111,559:30). Mit dem Verständnis der Krankheit als Spannungszustand zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit wird eine Verbindung zur christlichen Auffassung in eschatologischer Sicht hergestellt; dem Paradies (constitutio) folgt das irdische Leben (destitutio) mit Krankheit und Leiden: als eine »Erinnrung höherer Heymath, einer höhern, verwandtern Natur« (111,687:675); der Tod führt über die Auferstehung (restitutio) in die Gemeinschaft des Jenseits zurück: »Tod - eine nähere Verbindung liebender Wesen« (111,389:653).

d. Therapie Dem Organismusverständnis und Krankheitsbegriff entspricht das Konzept der Therapie. Diätetik, Materia Medica und Chirurgie als die drei großen

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Richtungen der Therapie werden von Novalis wie allgemein von der Medizin um 1800 beachtet. Akzentuierung und Begründung fallen allerdings bei den verschiedenen Strömungen und Positionen abweichend aus. Das antike Konzept der Diätetik, das während des 19. Jahrhunderts in der Schulmedizin seine Reduktion auf Diät erfahren wird, kommt noch einmal zur Geltung. Besondere Resonanz besitzt Hufeland mit seiner >Kunst, das menschliche Leben zu verlängere (1796). Mesmers animalischer Magnetismus wird von den romantischen Ärzten rezipiert und metaphysisch gedeutet. Wiederholt werden die Künste in der Therapie aufgegriffen. Reil entfaltet ein umfassendes Konzept psychischer Heilmethoden für Geisteskranke. Bei Novalis erscheint Diätetik ebenfalls noch im antiken Spektrum der >sex res non naturalessechs nicht natürlichen DingeAusscheidungsphänomenen< im Konzept der Diätetik. Kohlfeldt: Bei Novalis gibt es eine ausgesprochene Wertschätzung der Krankheit. Krankheit und sogar der Tod werden als Heiler angesprochen. Neubauer: Ja, aber das sind Spekulationen über die Erlösung von Krankheit und Sünde, die als Utopien gemeint sind, die erst am jüngsten Tag verwirklicht werden können.

Novalis im medizinhistorischen Kontext

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Mahl: Es gibt aber als vermittelndes Glied die Idee der unendlichen Annäherung. Martin: Ich habe den Eindruck, daß angesichts der offenkundigen Grenzen der Schulmedizin eine Neuorientierung in der Medizin stattfindet, bei der Novalis eine besondere Rolle spielt. Würden Sie dem zustimmen? von Engelhardt: Nein. Wenn man sich die >etablierte Weltmedizin< ansieht, dann muß man sagen: Novalis spielt heute keine Rolle, könnte aber konzeptionell anregend wirken. Vietta: Mir scheint ein Vergleich der unterschiedlichen Entwicklungen der Medizin in Frankreich und Deutschland aufschlußreich zu sein. Die Entwicklung in Deutschland ist viel weniger vom Cartesianismus geprägt; hier spielen Herder und Moritz mit seiner >Erfahrungsseelenkunde< eine große Rolle. Für die romantische Medizin waren dann auch Darwin und Erasmus wichtig. Novalis fusioniert die Erforschung der Körperlichkeit und die Betrachtung der Natur als gewaltigen Verdauungsprozeß mit erkenntnistheoretischen und theologischen Momenten. Diese beiden Seiten werden vor allem in den >Teplitzer Fragmenten< und in der Auffassung der Eucharistie miteinander verbunden. Einerseits soll der Körper zum Naturorgan werden, andererseits werden Wollust und Sexualität zum Erkenntnismittel. von Engelhardt: Das stimmt, und man kann es von Hegels idealistischer Naturphilosophie absetzen. Hegel denkt an eine Vergeistigung der Mahlzeiten und noch allgemeiner der Körperlichkeit, Novalis geht es darum, auch das Geistige zu verkörpern. Um dieser Durchdringung willen hat er sich der Anthropologie und der Religion zugewandt.

Ulrich Stadier (Zürich)

Zur Anthropologie Friedrich von Hardenbergs (Novalis)

Die menschliche Gestalt und das Verhältnis des Inneren zur äußeren Erscheinung beim Menschen haben Hardenberg zeitlebens beschäftigt. Das ließe sich u.a. an der intensiven Auseinandersetzung mit Lavater aufzeigen, dessen >Physiognomische Fragmente< er mehrfach erwähnt bzw. zitiert hat.' An Lavaters physiognomischem Hauptwerk muß ihm nicht nur die durchgängige Interpretation der körperlichen Bestandteile als »Chiffernschrift« (1,79) eines Moralischen, eines Geistigen gefallen, sondern auch das Selbstverständnis des Physiognomikers als eines Religiösen fasziniert haben, der durch seine Beschäftigung mit der menschlichen Gestalt und mit dem menschlichen Gesicht das Christusbild rekonstruieren und damit die Wiederannäherung des Menschen an dessen göttliche Herkunft vorantreiben möchte. Lavaters, dem Mechanismus der Wölfischen Philosophie verpflichtetes Denken war allerdings denkbar schlecht geeignet, das Interesse an einer Progression des Menschengeschlechts mit einer Technik zu verknüpfen, bei der die Bedeutung einzelner körperlicher Merkmale von lebendigen, individuellen Menschen entziffert und festgehalten werden sollte. Der Kant- und Fichte-Schüler Novalis hat, wie ich an anderer Stelle ausführlich gezeigt habe,2 die Schwachpunkte in Lavaters Lehre sehr genau gesehen und in der von ihm angestrebten >höheren Physiognomik< zu vermeiden gesucht. Dabei ging es ihm nicht nur darum, die Lavaterischen Liebes- und Religionskonzeptionen seinen eigenen Vorstellungen an'Zum Verhältnis der beiden Autoren zueinander vgl. Verf.: Novalis und Lavater. Hardenbergs »höhere Physiognomie« im >Heinrich von OfterdingenVon den äußerlichen Kennzeichen der Fossilien< sehr intensiv auseinandergesetzt,8 er war auch als Student und Hörer Werners mit dessen Klassifikationsversuchen vertraut, die dieser in immer neuen Anläufen an der Bergakademie vortrug. Ein entschieden systematisches, ja enzyklopädisches Interesse war kennzeichnend für das Denken Werners. Novalis schätzte diese Eigenschaft,9 die er an Lavaters Physiognomie-Lehre schmerzlich vermißt hatte, wenn er es auch nicht unterließ, Werners Systematisierungsversuche als unzulänglich zu kritisieren. So genau und differenziert Werner nämlich die äußeren Merkmale beschrieben hat - viele der von ihm verwendeten Termini sind noch heute bei der Deskription von Mineralien im Gebrauch -, so sehr bauen seine Bestimmungen doch auf einem unbedingten Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der sinnlichen Anschauung. Wie für Lavater besteht für Werner kein Zweifel daran, daß ein äußerliches Kennzeichen die innere Beschaffenheit »zuverläßig« anzeige.10 Novalis leugnete zwar keineswegs einen Zusammenhang zwischen dem Äußeren und dem Inneren, aber er mißtraute entschieden dem Automatismus, mit dem die beiden vom einen aufs andere schlössen. Er versuchte statt dessen jenen Zusammenhang durch eine Art doppelter Lektüre zu überprüfen, bei der die Aufmerksamkeit sich nicht nur vom Äußeren aufs Innere, sondern auch vom Inneren aufs Äußere richten sollte. »Man beobachte nur fleißig« - so hielt er in seinen >Werner-Studien< fest — »die äußern Veränderungen bey innern Veränderungen und umgek[ehrt] und ich bin gewiß, man wird auf ächte, state, Relationsverhältnisse und Gesetze stoßen« (111,141). Auffällig an dieser selbstauferlegten Maxime ist die Betonung des Dynamischen, die Absicht, die äußere Erscheinung und den inneren Zustand als Variable zu fassen, deren Abhängigkeit voneinander in einem testenden Verfahren jeweils überprüft werden kann. Das Äußere ist für Novalis weder die Causa des Inneren, noch einfach bloß dessen sichtbar gewordenes Zeichen. Äußeres und Inneres erscheinen ihm vielmehr als wechselseitige Funktionen voneinander. An Werners simplem Abbildmechanismus vermißt Hardenberg ganz allgemein die Berücksichtigung des Zeitfaktors. Die Zeit als »Basis alles Veränderlichen« (111,428:809) ist für Novalis von entscheiden-

die zwischen beiden Gattungen genau das Mittel halten« (so Werner nach Frisch, Samuel Gottlob: Lebensbeschreibung Abraham Gottlob Werners [...]. Leipzig 1825, S. 8 Vgl. III,i3 5 ff. y Vgl. Schulz (s. Anm. 4), S. 312. IO Werner (s. Anm. 3), § 16, S. 35.

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dem Einfluß auf chemische Verwandtschaften."' Schon gleich zu Beginn seiner Exzerpte aus dem Buch Werners bemängelt er an dessen Einteilung das Fehlen eines Hinweises auf die Relativität aller Kriterien. Diese müßten stets auch aus der dreifachen Perspektive »Ehmals, jezt, künftig« betrachtet werden (111,135). Dem naiven erkenntnistheoretischen Empirismus Werners liege kein notwendiges und vollständiges Prinzip zugrunde, vielmehr lasse sich dieser durch bloß zufällige Grundsätze leiten. Darum stelle seine Gesamtdarstellung der Fossilien nur ein »Convolut« (111,367:580) dar, nicht aber ein System. Ein solches könne schlechthin nicht unabhängig vom Menschen und dessen Position innerhalb der Natur aufgestellt werden. Werner hatte zwar auf eine Analogie zwischen Gesteins- und »Menschenkunde« hingewiesen,12 und er hatte diese Analogie auch in seiner Praxis anerkannt, denn man fand in seinem Nachlaß Aufzeichnungen über eine der mineralogischen Kennzeichenlehre entsprechende Psychologie, die der akademische Lehrer offensichtlich zur »individuellen Behandlung und Erziehung seiner Schüler« benützt hatte.13 Gleichwohl hatte er in seiner Oryktognosie-Lehre den Gegensatz zwischen dem Reich der Mineralien und dem der Pflanzen, Tiere und Menschen geradezu schroff betont. Die Mineralien bestünden »aus einerlei Teilen«, während die den höheren Naturreichen zugehörigen Körper aus verschiedenen Stoffen zusammengesetzt seien. Eine Verschleifung zwischen diesen niederen und höheren Bereichen gebe es nicht. Jedenfalls habe man »von den Uebergängen des Thier- und Pflanzenreichs ins Foßilienreich nichts, das Stich hielte, aufweisen können« und werde es auch niemals, »weil die natürliche Reihe der Verhältnisse bey den erstem [d. h. bei den Pflanzen, Tieren und Menschen] in ihren Zusammensetzungen [...] und bey den letzern [den Mineralien] in ihren Mischungen [...] fortgehet«.14 Hardenberg bestritt eine solche grundsätzliche Getrenntheit der Naturreiche. Er distanzierte sich an diesem Punkt sowohl von Werner, der solche Übergänge von unten nach oben ausgeschlossen hatte, wie auch von Lavater, für den es Übergänge in der umgekehrten Richtung nicht geben durfte. Lavaters zentrales Interesse hatte dem Menschen gegolten.15 Dieser "111,630:478; vgl. auch II.ioS. 12 Vgl. Schmid, Heinz Dieter: Friedrich von Hardenberg (Novalis) und August Gottlob Werner. Phil. Diss. [Masch.] Tübingen 1951, S. 88f. "Vgl. ebd., S. 18. 14 Werner (s. Anm. 3), § n, S. 251"., Fußnote. 15 Vgl. Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe [...]. Vier Versuche. Bd. I. Ndr. der Ausgabe Leipzig/ Winterthur 1775-1778, Zürich igoSf., S. 33, 154 und 157. - In der Ausrichtung all

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war für ihn auch noch in seinen verworfensten Exemplaren und in den Mißgeburten ein Ebenbild Gottes.10 Er durfte nicht mit den niedereren Wesen verbunden erscheinen, sondern mußte stets von ihnen klar abgegrenzt werden.17 Die Versuche Giovanni Battista della Portas, die Ähnlichkeit mancher Tier- und Menschenphysiognomien aufzuzeigen, wehrte Lavater als erzwungene Vergleichungen und als Produkte »einer überspannten Einbildungskraft« entschieden ab.18 Und das Zitat eines ungenannten Physiognomikers, der Salze mit Gesichtsformen verglichen hatte, kommentierte er mit sichtlicher Empörung: Welche Vergleichung! Salze und Steinarten - mit einem von innen aus belebten organischen Körper! - Ein in dem tausendsten Theil eines Wassertropfens augenblicklich zerfließender Salzwürfel — und ein allen Anfällen der Witterung, und Millionen Eindrücken von außen Jahre und Jahrhunderte lang Trutz bietender Schädel - Philosophie! erröthest du nicht bey dieser unbegreiflichen Vergleichung? — Nicht allein Menschenorganisationen — nicht allein Menschenschädel — nicht allein Thiere — nur Pflanzen, die doch ohne solche innere Resistenz, ohne solche Reßorts, wie sich in dem Menschen befinden [d. h. ohne Knochengerüst, wie etwa dem menschlichen Schädel - U. St.], - Millionen sich kreuzenden Drücken des Lichts, der Luft u.s.f. ausgesetzt sind - welche verwandelt sich dadurch in eine andere Gestalt? welche wird unkenntlich dadurch für den Kenner? die allergewaltsamsten Zufälle können sie kaum unkenntlich machen - so lange sie noch ihren Organismus behalten?" 9

Hardenberg hingegen scheute vor Engführungen, bei denen Menschen sogar mit Steinen in Beziehung gesetzt werden, keineswegs zurück. Seine anthropognostische Theorie ließe sich als >Mischung< der PhysiognomieLehre Lavaters und der Oryktognosie-Lehre Werners interpretieren, wenn der Begriff der Mischung im - noch zu erläuternden - Sinne der Chemie des 18. Jahrhunderts verstanden wird. Aus beiden übernahm er wesentliche Momente, und gegenüber beiden bezog er zuweilen auch sehr deutlich andere Positionen. Für das Resultat seiner Bemühungen darf der Kommentar gelten, den der Freund Friedrich Schlegel an Friedrich Schleiermacher im Sommer 1798 schickte: »Hard[enberg] ist daran, die Religion und die Physik durcheinander zu kneten. Das wird ein interessantes Rührey werden« (IV,62o). seiner Überlegungen auf den Menschen als Mittelpunkt ist Lavater noch in einem viel strikteren Sinne ein Sohn der historischen Aufklärung als Novalis. ' 6 Vgl. Lavater (s. Anm. 15), Bd. II, S. 31, iSgf. und 195, und Bd. IV, S. 482. I7 Lavater (s. Anm. 15), Bd. II, S. 28, 30, 174 und 218; Bd. III, S. 232 und Bd. IV, S. 177. '8Lavater (s. Anm. 15), Bd. II, S. 218 und 192. ' 9 Lavater (s. Anm. 15), Bd. IV, S. 30; Hervorhebungen getilgt.

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Ich will dieses von Hardenberg zubereitete Gericht hier vorstellen, wenn ich auch für seine Schmackhaftigkeit nicht bürgen kann. Ansetzen möchte ich - und das ist ebenfalls eine Rekapitulation früherer Darlegungen -20 bei einer der vielen scheinbaren Gemeinsamkeiten zwischen Novalis und Lavater. Der Blick des letzteren ist auf eine Haupt- oder Grundform, 21 derjenige Hardenbergs auf eine »Grundgestalt« (111,389:653) konzentriert, die sich beide jeweils erst in der Negation des Individuellen herausschälen. Was für Lavater Christus — »das Urbild aller körperlichen und geistigen Schönheiten und Vollkommenheiten« — bedeutet,22 das ist für Novalis »der Tugendhafte«. Über ihn, die zentrale Instanz von Hardenbergs Programm einer »Moralisierung der Natur«, heißt es in den >Fragmenten und Studien der Jahre iy99-i8ooGattung< umgreift vielmehr nach Werner alle Individuen, bei denen das gleiche Mischungsverhältnis vorliegt.20 Novalis indessen versucht mit seinem Gattungsbegriff noch sehr viel mehr 2

-'Vgl. auch 11,645:466: »Jede Person, die aus Personen besteht, ist eine Person in der 2ten Potenz — oder ein Genius. In dieser Beziehung darf man wohl sagen, daß es keine Griechen, sondern nur einen Griechischen Genius gegeben hat. Ein gebildeter Grieche war nur sehr mittelbar, und nur zu einem sehr geringen Theil sein eignes Werck. Daher erklärt sich die große und reine Individualitaet der griechischen Kunst und Wissenschaft [...]«. 24 Vgl. auch 11,592:298: »Jede Idee hat eine Skale von Namen [...]« und die Passage aus dem >Christenheitauflösen< bei Hardenberg ist ohnehin nicht identisch mit dem unsrigen. Wie Kapitza28 nachgewiesen hat, gebraucht Novalis das Wort mit Vorliebe im Sinne der zeitgenössischen Chemie, die mit dem Terminus nicht nur einen Dekompositionsvorgang, sondern auch einen Konstitutionsprozeß bezeichnet hat. Die Auflösung der gewöhnlichen »irdische[n] Gestalt«, von der Heinrich im Gespräch mit Mathilde redet, führt zum Aufbau einer höheren Gestalt, die Heinrich »ein ewiges Urbild« nennt (1,289), wobei er sich übrigens eines Begriffes bedient, der in Lavaters >Physiognomischen Fragmenten< eine zentrale Funktion besitzt.29 Auf eine solche Überführung in eine höhere Gestalt kam es Hardenberg gerade an. Sie steht im Zentrum seiner »Menschenbildungslehre« (vgl. 111,290:282), und er hat sie ganz in Übereinstimmung mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit einzuleiten versucht. Zu Höherbildungen kann es nur unter drei Voraussetzungen kommen, über die Hardenberg an der Bergakademie Freiberg umfassend unterrichtet worden sein dürfte: i. Die Substanzen müssen heterogen und zugleich miteinander verwandt sein, damit sie eine Verbindung miteinander eingehen können. 2. Eine der Substanzen (oder mehrere) muß (müssen) flüssig sein, damit eine neue, höhere entstehen kann. Allerdings darf 3. nicht alles flüssig sein, weil die neu entstehende Mischung auch etwas Festes braucht, das ihre Kristallisation ermöglicht oder, wie es in der Fachsprache heißt, an dem sie >anschießen< kann.

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Vgl. u.a. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Frankfurt am Main 1970 (Theorie-Werkausgabe. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 8), § 96, S. 204, Zusatz. 28 Kapitza, Peter: Die frühromantische Theorie der Mischung. Über den Zusammenhang von romantischer Dichtungstheorie und zeitgenössischer Chemie. München 1968 (Münchener Germanistische Beiträge 4), S. 94ff. und 103. 29 Vgl. z.B. Lavater (s. Anm. 15), Bd. I, S. a2v, 9, 13 und 94; Bd. II, S. 16 und 72; Bd. III, S. 58 und Bd. IV, S. 56, 208 und 211 u. ö.

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ad i. In Friedrich Albert Grens Nachschlagewerk >Systematisches Handbuch der gesammten Chemie< (lySyff.), einem Werk, das Hardenberg besaß,30 findet sich die folgende Unterscheidung zwischen Zusammenhäufung und Mischung: Die Verbindung der gleichartigen Theile unter einander zu einem Ganzen heißt die Zusammenhäufung oder Zusammenfügung (aggregatio); die Verbindung von ungleichartigen zu einem homogenen Ganzen hingegen die Mischung oder Zusammensetzung (synthesis, compositio, mixtio). Durch jene erhält man natürlicher Weise keinen neuen Körper, sondern nur einen der Masse nach vergrößerten und ähnlichen; durch diese aber einen ganz neuerzeugten und verschiedenen.3'

Jede Höherentwicklung beruht also auf der Verbindung ungleichartiger, heterogener Teile; werden homogene Teile zusammengefügt (z.B. zwei Wassermoleküle), so kann nichts Neues, und schon gar nichts Höheres entstehen.32 Die neu erworbene Homogenität erheischt einen neuen, anderen heterogenen Stoff, damit sie sich noch höher entwickeln kann, und dieser Vorgang schlingt die ganze Kette aller Wesen in sich hinein. Wenn der Mensch sich zu einem Tugendhaften, zu einem »substantiellen Individuum«, zum Genius, zu Gott oder zur Gattung verwandeln soll, dann muß er mit Nicht-Menschlichem, mit Steinen, Pflanzen, Tieren und Sternen Verbindungen eingehen, bzw. es muß ihm etwas von diesen Entitäten eigentümlich sein. Der Roman >Heinrich von Ofterdingen< liefert dafür immer wieder anschauliche Beispiele. Zu Beginn des 2. Teils stößt der zum Pilger gewordene Romanheld auf einen Felsen, den er mit seinem alten thüringischen Hofkaplan und einem Eichbaum verwechselt (vgl. 1,320). Und nach dem Fest in Augsburg geht Heinrich auf, welcher »sonderbare Zusammenhang« zwischen Mathilde und der blauen Blume seines Traums besteht (1,277). bringt seine Geliebte mit Rosen und einer Lilie in Verbindung (vgl. 1,270) und nennt sie obendrein einen »köstlichen lautern Sapphir« (1,280). Und in den Paralipomena heißt es vom projektierten Schluß des Romans: »Menschen, Thiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Flammen, Töne, Farben müssen hinten zusammen, wie eine Familie [...] handeln und sprechen« (111,677:631). 30

Vgl. IV.697.-57 und IV, 1064. 'Zit. ist nach der 2. Auflage. Erster Theil. Halle 1794, § 21, S. 32. - Vgl. auch den Schluß des 3. >Dialogs< von Novalis (11,667). 32 Johann Christian Reil kleidete diese Ansicht in die Frage: »Sind gleich die einfachen Stoffe zur Hervorbringung gewisser Erscheinungen nicht fähig, warum nicht die Mischung derselben?« (Von der Lebenskraft. Ndr. der Ausgabe Halle 1796. Hrsg. von Karl Sudhoff. Leipzig 1910 [Klassiker der Medizin 2], § 4, S. nf.) 3

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Wie können solche Heterogenitäten als »Familie«, als Verwandtschaft verstanden werden? Es ist hier erforderlich, zunächst einmal den Begriff der Verwandtschaft zu klären. Unser Verständnis des Worts ist weitgehend ein biologisches; wir benützen das Wort, um eine Ähnlichkeit zu bezeichnen, die zwischen verschiedenen Entitäten aufgrund einer gemeinsamen Herkunft besteht. Für Novalis war diese Bedeutung von >Verwandtschaft< jedoch keineswegs die einzige. Mindestens ebenso vertraut mußte er mit dem Bedeutungsinhalt gewesen sein, den der Begriff der chemischen Verwandtschaft Ende des 18. Jahrhunderts besaß. In der 1780 erschienenen Schrift > Revision der Grundlehren von der chemischen Verwandtschaft der Körper< von Johann Christian Wiegleb, dem ersten Chemie-Lehrer Hardenbergs,33 heißt es: Nur Newtons Scharfsinn blieb es vorbehalten, diese wichtige Grundursache der größten Wirkungen der Natur und Kunst [gemeint sind die Gesetze der Gravitation - U. St.] zu finden. Er entdeckte nämlich die Anziehungskraft in der Natur, und daß solche der Grund von allem Zusammenhange der Körper sei [...] seitdem ist nun auch bekanntermaßen die Anziehungskraft von den größten Naturforschern für den wahren Grund von der chemischen Verwandtschaft der Körper anerkannt worden.34

Die chemische Verwandtschaft zwischen zwei Substanzen läßt sich demnach gar nicht an optischen Kriterien, wie dem der Ähnlichkeit, festmachen, sondern wäre — wie bei der Beziehung zwischen zwei Planeten nur eruierbar an der Art und Weise, wie zwei Körper aufeinander wechselseitig reagieren. Sie ist zwar nicht identisch mit Heterogenität, wohl aber ist diese notwendige Voraussetzung von ihr. Nicht die äußere Beschaffenheit, sondern die Begierde der verschiedenen Substanzen, miteinander eine »Mischung« einzugehen, entscheidet über die chemische Verwandtschaft. Gold und Silber wären dann z.B. gar nicht miteinander verwandt, wohl aber Natrium und Salzsäure. (Deren Bereitschaft, miteinander eine chemische Verbindung einzugehen, sollte man freilich besser nicht ausprobieren.) Wenn Hardenberg von >Verwandtschaft< spricht, so meint er fast immer35 die chemische Verwandtschaft. Bezieht man diesen Verwandtschaftsbegriff auf die Verhältnisse im >Heinrich von OfterdingenOfterdingen< (vgl. 1,215). ~ Hardenberg legte allerdings Wert darauf, den biologischen und den chemischen Verwandtschaftsbegriff als miteinander vereinbar erscheinen zu lassen. Ein Hinweis hierauf ist seine Definition der Kontraste als »inverse Aehnlichkeiten« (111,244:32).

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zeigen sich ganz andere Verwandtschaftsbeziehungen als die immer wieder hervorgehobenen. Dann rücken nicht so sehr die Dichterfiguren (Arion, der Jüngling des Atlantismärchens und Heinrich) oder die weisen Alten (der Bergmann, der Graf von Hohenzollern, Sylvester) zusammen, sondern komplementäre Gestalten, die in einem erotischen oder pädagogischen Spannungsverhältnis zueinander stehen, also z.B. Heinrich und Mathilde oder Heinrich und Klingsohr. Heinz Dieter Schmid hat diese Verwandtschaftsverhältnisse in seiner ausgezeichneten, leider ungedruckten Tübinger Dissertation von 19513OfterdingenHeinrich von Ofterdingen< spielt die Idee des >Eins und Alles< eine zentrale Rolle. Heinrich ist in jedem historischen Moment, in jedem erzählten Moment, eine Vereinzelung. Aber zugleich ist er mehr, und dadurch, daß er mehr ist, kann er seine temporelle Individualität auch überschreiten und ist Gott, ist Genius, ist Gattung, ist Alles. Was von ihm getrennt ist, ist er auch zugleich. Die Ein-und-Alles-Vorstellung ist sehr leicht verbindbar mit dem, wenn nicht nur eine andere Formulierung für das, was ich ausgeführt habe. von Engelhardt: Goethe hat ja in den >Wahlverwandtschaften< auch die Attraktionschemie aufgenommen. Er hat aber klar betont, es gebe im menschlichen Bereich in der Freiheit eine Differenz gegenüber den Attraktionsverhältnissen in der Natur. Kommt eine solche Distanz gegenüber den Verhältnissen der Chemie bei Novalis gar nicht vor, oder hat Novalis die Natur ihrerseits im Vorhinein bereits schon wieder so stark moralisiert, daß er diese Differenz nicht mehr machen kann oder nicht mehr machen muß? Stadier: Das Letztere. Es wäre ja auch die entscheidende Distanz, die entscheidende Differenz gegenüber Goethe. Hardenberg hat die Übertragung chemischer Verhältnisse auf den tierischen oder menschlichen Bereich voll akzeptiert. Mahl: Sie sagen »Letzteres ja«. Meinen Sie das bedauernd kritisch, oder meinen Sie das zustimmend? Stadier: Ich hab's nur konstatiert. D. h. ja nicht, den Menschen zu vertieren. Auch in der Konzeption Hardenbergs nicht. Es ist häufig gesagt worden, daß Hardenbergs Denken eine Alternative zu dem Denken in den jeweiligen Teildisziplinen gewesen ist. Das war es großenteils. Großenteils war es aber auch diesen Wissenschaften vorauseilend. In dem, was ich jetzt ausgeführt habe, nimmt er eigentlich ein Konzept vorweg, das die reine Deszendenztheorie ad absurdum führt und eine Sonderstellung des Menschen möglich macht bei gleichzeitiger Anerkennung von Verwandtschaft. Und das würde einem nach-darwinistischen Denken sehr gemäß sein. Damit ist der Mensch nicht seiner Sonderstellung beraubt worden. Sie ist auf eine andere Weise begründet, als es in diesen

Zur Anthropologie Friedrich von Hardenbergs

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räumlich-taxonomischen Modellen der >great chain of being< der Fall gewesen ist, wo das alles sehr schön angeordnet war. Das ist wirklich ein anderes Modell, das wir hier bei Hardenberg haben. Es ist m.E. ein Modell, das mehr mit der Art und Weise zu tun hat, wie wir heute die Arten zueinander ins Verhältnis setzen. Mahoney: Ich frage mich, welche Rolle Sylvester in diesem Roman über die Verzeitlichung spielt. Sylvester, der Heinrichs Vater kannte, und mit ihm und Heinrich gewissermaßen seine Experimente veranstaltet.

Dennis F. Mahoney (Burlington)

Hardenbergs Naturbegriff und -Darstellung im Lichte moderner Chaostheorien

Bei der Betrachtung der in Oberwiederstedt versammelten Literaturwissenschaftler und Philologen denkt man unwillkürlich an die Stelle aus den >Lehrlingen zu SaisSymphilosophierensNovalis und die Wissenschaften< zu beschäftigen. Dafür soll den Veranstaltern und allen an der Planung Beteiligten herzlich gedankt werden. Zu einem guten Gespräch gehören bekanntlich verschiedenartige, sich jedoch ergänzende Stimmen. Die meisten Referate auf dieser Tagung stellen Vergleiche zwischen Friedrich von Hardenberg und seinen Vorgängern und Zeitgenossen auf den Gebieten der Philosophie, der Naturwissenschaften, der Staatstheorie und der Philologie her. Dies ist auch sinnvoll, denn wesentliche Fortschritte der Novalis-Forschung der vergangenen dreißig Jahre sind aus dem Bestreben erfolgt, das theoretische und poetische Werk des Novalis in seinen zeitgenössischen Kontext zu stellen — anstatt dessen angebliche >Modernität< immer wieder zu betonen. Ohne die Vorzüge einer derartigen Methodik bestreiten zu wollen, möchte ich jedoch zunächst den Akzent auf diejenigen Aspekte des Naturbegriffs bei Novalis legen wie >der Zufall< oder >das Flüssige< -, die durch die heutige Chaosforschung eine neue Prägnanz gewonnen haben. So wie neue naturwissenschaftliche Paradigmen eine veränderte Sicht unserer Umwelt erlauben, besteht ebenfalls die Möglichkeit, daß wir mit Hilfe solcher Modelle wie der Chaostheorie ein vertieftes Verständnis für die Weltentwürfe gewinnen, die im theoretischen und dichterischen Werk des Novalis zu finden

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Dennis F. Mahoney

sind, aber lange Zeit unbeachtet waren, weil man im 19. Jahrhundert eine andere Auffassung von Natur und Naturwissenschaft hatte. Erst in diesem Kontext möchte ich zur Diskussion bringen, inwieweit Friedrich von Hardenberg und heutige Wissenschaftler doch Verschiedenes meinen, wenn sie von >Chaos< sprechen. Zuletzt werde ich durch einen gezielten Vergleich zwischen Michael Crichtons >Jurassic Park< und den Romanversuchen von Novalis der Frage nachgehen, welche Implikationen die literarische Darstellung naturwissenschaftlicher Theorien für ein Verständnis der Sehnsüchte, Nöte und Ängste ihrer Verfasser und Leser besitzen. Seit etwa dreißig Jahren widmen sich Klimatologen, Geologen, Biologen, Mathematiker, Physiker und Ökonomen dem Studium langfristig unvorhersagbarer, scheinbar unregelmäßiger Phänomene wie Wettersysteme, Wasserturbulenzen, Körperrhythmen im Herz und Gehirn oder dem Anstieg und Fall von Aktienpreisen. Mit der Hilfe von Computersimulationen und von Computern erstellten Rechnungen sind Forscher wie Mitchell Feigenbaum, Edward Lorenz und Benoit Mandelbrot auf die Spur von verborgenen Mustern gekommen, die im scheinbaren Chaos auftauchen — von Ordnungen, die einer nicht-linearen mathematischen Dynamik folgen. Nicht nur besitzen komplexe Systeme wie das Wetter oder der große rote Fleck auf dem Planeten Jupiter eine zugrundeliegende Ordnung; auch in einfachen Systemen, wie beispielsweise beim Schneeflockenfall, entstehen durch miminale Unterschiede im Wind und Wetter zwar ähnliche, aber nicht-identische Gebilde — man nennt dies sensitive Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen (>sensitivity to initial conditionsHeinrich von Ofterdingen< und den Hauptideen neuerer Chaostheorien: »the fact that so many of the novel's images are analogies of transitions is reminiscent of Feigenbaum's discovery that all phase transitions follow the same rules — that a certain order emerges from chaos«.2 So wie Chaosforscher das Prozeßhafte und Dynamische an der Wirklichkeit betonen, gebe es im >Ofterdingen< eine Metaphorik des Fließens — angefangen bei Hein1

Zur Einführung in die Chaosforschung vgl. Gleick, James: Chaos. Making a New Science. New York 1987. 2 Walker, Joyce S.: Romantic Chaos. The Dynamic Paradigm in Novalis's >Heinrich von Ofterdingen< and Contemporary Science. In: The German Quarterly 66 (1993), 8.4359; hier S. 50.

Hardenbergs Naturbegriff und -Darstellung im Lichte moderner Chaostheorien 109

richs Träumen bis hin zu seiner Definition von der Liebe als »ein geheimnißvolles Zusammenfließen unsers geheimsten und eigenthümlichsten Daseyns« (1,289).3 Ebenfalls frappierend sei die Ähnlichkeit zwischen den wiederholten Spiegelungen in den Figuren- und Erzählreihen des Romans und den >fraktalen< Wiederholungen nicht-linearer Gleichungen, die Benoit Mandelbrot, Heinz-Otto Peitgen und Peter H. Richter produziert haben, bei denen Selbstähnlichkeit im System auf allen Größenrelationen festzustellen ist.4 Zugegeben, weder ein amimetischer Roman wie >Heinrich von Ofterdingen< noch die Photographien von Peitgen und Richter sind Abbilder der Wirklichkeit, sondern Modelle - wohl aber Modelle, die als Orientierung dienen können, wenn man sich mit konkreten Gegenständen in den einzelnen Disziplinen auseinandersetzt. Zum Beispiel behauptet Benoit Mandelbrot, die fraktale Geometrie sei — im Gegensatz zur Euklidischen — charakteristisch für die Abzweigungen und Verästelungen der Natur, wie man sie etwa an der Meeresküste oder auch an den menschlichen Blut- und Lungengefäßen wahrnehmen kann.5 Walker zitiert in diesem Zusammenhang die Worte Sylvesters in seinem Gespräch mit Heinrich: »Das Weltall zerfällt in unendliche, immer von größern Welten wieder befaßte Welten« (I,33i).6 Man erinnert sich ebenfalls an den Anfang der >Lehrlinge zu Sais< - dasjenige Werk Hardenbergs, wo seine an der Bergakademie zu Freiberg entstandenen naturphilosophischen Spekulationen am unmittelbarsten Eingang in seine Dichtung finden. Da heißt es: Mannichfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Krystallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Thiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Conjuncturen des Zufalls, erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben. (1,79)

Diese Textstelle verdeutlicht Friedrich von Hardenbergs Glauben an die Einheit von Menschheit und Natur sowie seine Überzeugung, der Mensch 3

Ebd., S. 53 und 56, Anm. 13. Am Ende ihres Artikels (S. ^jf.) fügt Walker zur Veranschaulichung etliche Abbildungen an aus Peitgen, Heinz-Otto und Richter, Peter H.: The Beauty of Fractals. Images of Complex Dynamical Systems. Bonn 1986, S. 8of. 5 Gleick (s. Anm. i), S. 94 — 96 und 108—110. 6 Walker (s. Anm. 2), S. 52.

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sei dazu berufen, die sich durch die ganze Schöpfung hindurchziehenden Muster verständlich zu machen. Eine derartige Annahme bildet die Voraussetzung sowohl für sein dichterisches Schaffen als auch den Versuch, durch die romantische »Bibellehre« (111,365:571) seines Allgemeinen Brouillons< die einzelnen Wissenschaften in Beziehung zueinander zu bringen. Vom alten Topos von der Welt als Buch ausgehend, beabsichtigt Novalis, daß seine Leser zunächst die Bücherwelt dechiffrieren lernen und dadurch zu einer Fähigkeit in der Kunst gelangen, verborgene Muster auch im Leben zu erkennen. In meiner Studie zur >Poetisierung der Natur< bei Novalis vertrete ich die These, daß Friedrich von Hardenberg seine Romanversuche als wissenschaftliche Experimente geschaffen habe, deren Sinn es sei, die Chiffernschrift der Natur zu enträtseln und mit der Hilfe solcher neugewonnenen Kenntnisse die Erde in ein Paradies zu verwandeln.7 Im Gespräch mit Klingsohr nennt der junge Heinrich von Ofterdingen nicht von ungefähr die Sprache »eine kleine Welt in Zeichen und Tönen. Wie der Mensch sie beherrscht, so möchte er gern die große Welt beherrschen, und sich frey darinn ausdrücken können« (1,287). James Gleick weist darauf hin, daß die Vorstellung von Selbstähnlichkeit in der Natur — von Dichtern und Denkern wie Blake und Leibniz evoziert, aber danach als unwissenschaftliche Phantasterei verschrieen — in unserer Gegenwart erneute Resonanz gewonnen habe, sobald es mit der Hilfe moderner Supermikroskope und Teleskope möglich wurde, bisher unvorstellbare Größenordnungen in der Natur miteinander zu vergleichen und sie einer breiten Öffentlichkeit in bildlicher Form vertraut zu machen.8 Wenn man den eminent visuellen Charakter vor allem der Träume und Märchen im >Ofterdingen< bedenkt, könnte man sie in der Tat nicht nur als Vorwegnahme der Romanhandlung, sondern auch als eine Art Präfiguration der Computergraphik moderner Chaostheoretiker auffassen, wie Joyce Walker es tut. Allerdings soll man den »Zauberstab der Analogie« (III,518) nicht allzu unbekümmert gebrauchen. Seit dem Beginn der Astronomie im alten Ägypten und Babylonien haben die Menschen immer wieder versucht, Sinn und Ordnung in den zunächst wirren und undurchschaubaren Phänomenen um sie herum zu finden; dieses Bestreben verbindet Naturforscher zu allen Zeiten und in allen Ländern. Bezeichnende Unterschiede tauchen 7

Verf.: Die Poetisierung der Natur bei Novalis. Beweggründe, Gestaltung, Folgen. Bonn 1980, S. I2f. 8 Gleick (s. Anm. i), S.

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III

aber auf, wenn man danach fragt, welche Ordnungsprinzipien gesucht und welche Modelle angewendet werden. Joyce Walker erklärt die Affinitäten zwischen der Ästhetik von >Heinrich von Ofterdingen< und den Naturauffassungen heutiger Chaosforscher dadurch, daß sie bei Novalis einen Bruch mit derjenigen mechanistischen, Newtonschen Aufklärungswissenschaft erblickt, wovon sich das Weltbild der heutigen Chaosforschung auch abwende; während Newton und seine Nachfolger vor allem auf Regelmäßigkeit und Kontrolle bedacht seien — wie der Schreiber in dem KlingsohrMärchen dies tut — , hätten sowohl Novalis als auch heutige Chaosforscher einen Sinn für das Offene und Unabgeschlossene in der Natur, was in der Chaostheorie >sensitivity to initial conditions< genannt werde und bei Novalis >Zufall< heiße.9 Allerdings unterschätzt Walker die Tendenz zur gedanklichen Durchdringung, zur »schaffenden Betrachtung« ( , ) bei Friedrich von Hardenberg, wenn sie das folgende >BlüthenstaubBrouillonBrouillonAllgemeinen Brouillon< und seinen Freiberger Notizheften auch wissenschaftsgeschichtlich einzuordnen, wie er dies in einer frühen >BrouillonLehrlingen zu Sais< nur ein Seitenhieb bleibt, wird zum Hauptthema von Michael Crichtons Roman >Jurassic ParkZauberlehrlings< bezeichnen: Menschen bringen einen Prozeß in Gang, den sie nicht mehr kontrollieren können. Die fleischfressenden Saurier brechen trotz aller computergesteuerten Sicherheitsmaßnahmen aus ihren Enklaven aus und greifen sowohl einander als auch die Menschen auf der Insel an, die sehr schnell aus Herren der Schöpfung zur Jagdbeute werden. Am Ende holen zwar Soldaten aus Costa Rica die paar Überlebenden aufs Festland, aber in Crichtons Roman gibt es im Unterschied zu Goethes Gedicht keinen »Herr[n] und Meister«, der alles rückgängig macht; im Gegenteil, es bestehen allzu deutliche Hinweise, daß inzwischen Reptilien den Weg in den Festlanddschungel gesucht und auch gefunden haben. In Crichtons Bestseller gelingt es dem Verfasser, in die eminent spannende Handlung auch sehr viel Information über die neusten Ergebnisse der Dinosaurierforschung, der Gentechnik und — nicht zuletzt — der Chaostheorie zu integrieren. Hauptlieferant der letztgenannten Information ist der Mathematiker Ian Malcolm, der schon vor dem Besuch auf der Insel, und zwar aufgrund chaos-theoretischer Erwägungen, das Scheitern des Dino-Parks voraussagt: Es werde einfach nicht möglich sein, die Ausbreitung von Lebensformen unter Kontrolle zu halten; früher oder später werde alles anders laufen, als man es sich vorstellt, und auch das am sorgfältigsten geschaffene System über den Haufen werfen. Wie ein Wettersystem würden die Saurier derart schnell auf nicht vorhersehbare Bedingungen reagieren, daß innerhalb kürzester Zeit die Menschen nicht würTheme, or Theory? In: Thematics Reconsidered. Essays in Honor of Horst S. Daemmrich. Hrsg. von Frank Trommler. Amsterdam 1995, S. 133-143.

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den bestimmen können, was im Park passiere.19 Zwei Tage später, selber an den Folgen eines Tyrannosaurierangriffs sterbend, sagt er John Hammond, dem Inhaber der Gen-Techfirma, ins Gesicht: Sie aber haben beschlossen, der Natur nicht mehr ausgeliefert zu sein. Sie haben beschlossen, die Natur zu kontrollieren, und von diesem Augenblick an waren Sie in Schwierigkeiten, weil Sie es nämlich nicht können. Sie haben Systeme geschaffen, die von Ihnen verlangen, daß Sie es tun. Aber Sie können es nicht, Sie haben es nie gekonnt, und Sie werden es nicht können. Sie dürfen die Dinge nicht durcheinanderbringen. Sie können ein Schiff bauen, aber Sie können das Meer nicht erschaffen. Sie können ein Flugzeug bauen, aber Sie können die Luft nicht erschaffen. Ihre Macht ist viel kleiner, als Ihr Traum von der Vernunft Sie glauben macht.20

In solchen Szenen prangert Crichton den Eigendünkel der in der westlichen Kultur entwickelten instrumentalen Vernunft an, die nur danach fragt, ob etwas machbar sei, aber über die möglichen Folgen nicht nachdenken will. Das Ergebnis, so schildert es Crichton, ist ein Chaos, das seine Urheber möglicherweise von der Erde vertilgt. »Über eins müssen wir uns klar sein«, läßt er Ian Malcolm sagen: »Der Planet ist nicht in Gefahr. Wir sind in Gefahr. Wir haben nicht die Macht, den Planeten zu zerstören — oder ihn zu retten. Aber vielleicht haben wir die Macht, uns zu retten«. 21 An diesen Worten spürt man die historische Distanz zu Hardenbergs Vorstellung von dem Menschen als »Messias der Natur« (111,248:52). Der Einsiedler im 5. Kapitel des >Ofterdingen< kommt sich wie »ein Traum der Zukunft, wie ein Kind des ewigen Friedens« vor (1,261), wenn er sich mit den alten, ungeheuren Tierknochen in der Höhle vergleicht; im Anschluß an diesen Gedanken freut sich der Bergmann über »jene allmählige Beruhigung der Natur«: Es wäre vielleicht möglich, daß hin und wieder noch alter Sauerteig gährte, und noch einige heftige Erschütterungen erfolgten; indeß sieht man doch das allmächtige Streben nach freyer, einträchtiger Verfassung, und in diesem Geiste wird jede Erschütterung vorübergehen und dem großen Ziele näher führen.

Daher ist es folgerichtig, daß der Schreiber im Klingsohr-Märchen durch den Verbrennungstod der Mutter den Untergang der Sonne - die »FeinI9

Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf die deutsche Übersetzung des 1990 erschienenen Romans: Crichton, Michael: Dino Park. München 1993, S. 22yf. 20 Ebd., 8.468. 21 Ebd., S. 492.

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dinn« des Königs Arktur (1,308) — herbeiführt und damit ungewollt das Eis zum Zerschmelzen bringt, das in der langen Winternacht die »versteinerte Zauberstadt« (111,564:65) der Natur in Erstarrung hielt. Wenn man das Klingsohr-Märchen als prophetisches Dokument interpretiert - wie Hardenbergs Märchentheorie es uns nahelegt — , wird hier das Ende einer falsch verstandenen Aufklärung verkündet und damit die Wiederkehr einer neuen Goldenen Zeit auf Erden. Aus dem Chaos entsteht der Kosmos. Eine derartige Zuversicht sucht man in Crichtons Roman vergebens. Es ist zwar poetische Gerechtigkeit, daß John Hammond, der starrsinnig nur andere, nie sich selber für die Katastrophen auf der Insel verantwortlich macht, zuletzt von denjenigen kleinen Sauriern aufgefressen wird, die am Anfang des Romans bereits begonnen haben, Kinder und Säuglinge auf dem Festland zu überfallen. Man darf nach Herzenslust darüber spekulieren, was Ian Malcolm unmittelbar vor seinem Tod im Morphium-Delirium »auf der anderen Seite« erblickt.22 Wie im Falle des Klingsohr-Märchens beginnt und endet die Handlung von >Jurassic Park< am selben Ort. Aber im Unterschied zur Reise von Eros und Fabel zu Freya wartet kein >ParadiesParadigmenwechsel· auf die sich noch im >Phasenraum< des Romans Bewegenden: anstatt »Immer nach Hause« (1,325), heißt es auf der letzten Seite in Crichtons Roman: »Keiner von uns geht irgendwohin«. 23 Während bei Novalis galvanistische Vorgänge in ein geschichtsphilosophisches Schema einmontiert werden, gebraucht Crichton die heutige Chaostheorie, um vor dem Trugbild einer imaginierten Kontrolle über die Natur zu warnen, die in der Naturphilosophie des Novalis durchaus vorhanden ist, wenn auch in >sanfter< Form: Die Menschen verursachen auch mit den besten Absichten Katastrophen, wenn sie ihre Möglichkeiten übersteigern. Zum Schluß läßt sich sagen, daß die Bedeutung des Naturbegriffs und der Naturdarstellung Friedrich von Hardenbergs nicht darin liegt, daß sie heutige Chaostheorien vorwegnehmen - so interessant die Korrespondenzen auch sein mögen —, sondern in deren Modellcharakter überhaupt. Den fast grenzenlosen Optimismus der Novalisschen Geschichts- und Naturphilosophie werden nur wenige von unseren Zeitgenossen teilen, aber wir können in dichterischen Gebilden wie dem Gespräch der Reisenden in den >Lehrlingen zu Sais< noch Anregungen zu einem Gedankenaustausch fin-

22

Ebd., S. 511. "Ebd., S. 533.

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den, der sich prinzipiell ins Unendliche fortsetzen läßt und bei unserer Fachtagung bereits zu manchem fruchtbaren Ergebnis gekommen ist.

Aus der Diskussion Mahl: Bei aktualisierenden Deutungen von Novalis muß stets der Kontext seiner Äußerungen mitbedacht werden. Novalis' Überlegungen zu Chaos, Zufall und Ordnung haben zu einer Theorie des Märchens geführt. Seine Chaostheorie ist also, wie Sie gezeigt haben, für die Dichtung, nicht für die Wissenschaft relevant geworden. Es gibt eine narzißtische Neigung, historische Texte nur zur Bestätigung eigener Denkmodelle zu studieren. Das verstellt den Blick für die geschichtliche Eigenart romantischer Werke. Neubauer: Herr Mahoney, Sie haben zitiert »Göthische Behandlung der Wissenschaften — mein Project« (111,452:967). Diese Äußerung kann man auch als Widerspruch lesen: Einerseits Goethes Naturanschauung — andererseits Novalis' eigenes Projekt. Der Gedankenstrich ist wichtig. Mahl: Ich deute diesen Gedankenstrich als Identifikation. Novalis hat Goethes Ansatz in seinem Enzyklopädieprojekt verwirklichen wollen. Martin: Inwieweit kann man wirklich den >Ofterdingen< und >Jurassic Park< vergleichen? Im >Ofterdingen< geht es nicht um die vermeintliche Übermacht einer vorhandenen Technik und ihr Scheitern. Mahoney: Ich habe mich nicht auf den gesamten Roman, sondern auf das Klingsohr-Märchen bezogen, und dort gibt es durchaus eine mit Jurassic Park< vergleichbare Infragestellung der einseitigen Verstandesherrschaft, die durch den Schreiber verkörpert wird. Martin: Aber mit solchen Vergleichen läuft man Gefahr, die eigentliche Thematik des >Ofterdingen< zu übersehen. Sein Thema ist die >Bildung der ErdeOfterdingen< ist an der Schwelle zwischen Aufklärungsoptimismus und Skepsis gegenüber der Hybris des Menschen entstanden. Im >Ofterdingen< spielt das Chaos noch eine vergleichsweise >unschuldige< Rolle. Schon eine Generation später, z.B. bei E. T. A. Hoffmann oder Mary Shelley, werden der

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Glaube an die Moralität des Menschen und die Zuversicht, daß für den >homo faber< alles erreichbar ist, brüchig. Zur Frage der Aktualisierung^ Natürlich muß man bei der Interpretation die historischen Kontexte berücksichtigen. Aber ich möchte auch die Frage nach der Relevanz von Novalis für die heutige Zeit nicht aufgeben. Wenn wir geschichtliche Texte nicht auf aktuelle Probleme beziehen, verkommt die Literaturwissenschaft zu einem musealen Bewahrungsort vergangener Zeiten. Mahl: Man sollte dann über die Aktualisierung hinaus auch umgekehrt nach dem spezifisch Romantischen bei Novalis fragen. Neubauer: Vielleicht hängt es damit zusammen, daß für die Positionsbestimmung der Chaos-Theorie zwar Goethe als >Vorläufer< wichtig geworden ist, nicht aber Novalis?

Fergus Henderson (London/München)

Romantische Naturphilosophie. Zum Begriff des >Experiments< bei Novalis, Ritter und Schelling I Daß Schelling und Novalis auf einem allgemeinen ontologischen Niveau übereinstimmen, hat Manfred Frank gezeigt: für beide ist das Absolute transzendent, nicht immanent im menschlichen Bereich.1 Das Erreichen des Absoluten ist in einem zeitlich-endlichen Prozeß nicht möglich. Franks Analyse der Zeitlichkeit kann verwendet werden als ein Ausgangspunkt für eine weitere Diskussion der Ideen von Novalis und Schelling zum Prozeß der Gewinnung von Erkenntnis. Die Begriffe von >PraxisErfahrungswissen< und >Produktion< des Wissens, sei es auf ästhetische oder naturwissenschaftliche Art, sind Schlüsselthemen in ihren Schriften. Ihre Begriffe der >Produktion< wirken notwendigerweise auf ihre Ontotogien. In Anbetracht ihrer Begriffe von >Erfahrungswissen< und >Experiment< darf ihre Vorstellung von a priori-Wissen nicht gänzlich als erfahrungsfreies Wissen verstanden werden.2 Man kann Franks Auslegung der Zeitlichkeit ihrer Philosophien und des Begriffs des >transzendenten Absolutem erweitern und davon sprechen, daß ihre Philosophien als ein höherer Empirismus zu verstehen sind und daß ihre Philosophien sich mit den grundlegenden Prämissen und Grenzen eines Erfahrungsganzen beschäftigen. Novalis und Schelling stimmen explizit und implizit in Fragen der >Produktivität< und, auf einem höheren Niveau, der >naturphilosophischen Produktiv!tät< überein. Es wurden oft die Unterschiede zwischen Novalis, Schelling und Ritter unberechtigterweise betont, meistens in dem Sinne, daß der >empirische< Ritter nichts gemeinsam habe mit den philosophischen Unternehmungen des deutschen 1

Vgl. Frank, Manfred: Die Philosophie des sogenannten »magischen Idealismus«. In: Euphorion 63 (1969), S. 93f.; ders.: Eine Einführung in Schellings Philosophie. Frankfurt am Main 1985, S. 88. 2 Dies gilt auch hinsichtlich der Philosophie Kants bzw. Fichtes, jedoch ist der Begriff eines a priori-Erfahrungswissens bei Schelling und Novalis wesentlich weiter ausgearbeitet.

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Idealismus. Im Kontext des höheren Empirismus wird gezeigt, daß es große Affinitäten zwischen diesen Denkern gibt, die zu einem einheitlicheren Bild der frühromantischen Naturphilosophie fuhren können. Es lohnt sich, kurz die Begriffe von >Experiment und >naturphilosophischer Produktivität< zu betrachten, besonders im Hinblick auf neuere Strömungen in der Geistesgeschichte und der Novalis-Forschung. Obwohl von Molnär den üblichen ontologischen Relativismus der Soziologen vermeidet und wichtigerweise auch die Praxisorientierung der Gedanken von Novalis betont, hat sein Begriff eines kommunikativen sozialen Konstrukts auf der anderen Seite, worauf Neubauer aufmerksam machte, absolut-idealistische Aspekte.3 Neubauers Meinung über Novalis' Pluralismus kommt, wenn dieser als eine Art progressiver Pluralismus gedeutet wird, der Idee kognitiver Erkenntnisgewinnung durch das >Experiment< sehr nahe, wie sie im vorliegenden Artikel dargestellt wird.4 Dies gilt auch für Uerlings' Idee der >Darstellung< in seinem Begriff von >narrativer Konstruktion, welche weitgehend mit den hier dargelegten Ideen von einem symbolischen, repräsentativen Gebrauch der Sprache übereinstimmt, der sich dem Absoluten auf einer symbolischen und zeitlichen Ebene annähert.5 Um Schellings und Novalis' Begriffe von >naturphilosophischer Produktivität zu beurteilen, muß man ihre Begriffe von ästhetischer und wissenschaftlicher >Produktiv!tät< untersuchen. Novalis' Begriff des >Experiments< zeigt, daß seiner Meinung nach Wissenschaft und Ästhetik gleiche Unternehmungen sind. Sein Begriff des >Experiments< tritt für den grundlegenden Erfahrungswert des Wissens ein. Aus Herders Schrift >Plastik< übernimmt Novalis die Idee, daß man fähig ist, Ideen zu empfinden, d. h. daß Ideen erfahren werden können.6 Herder spielt auf die zwei Bedeutungen von Gefühl an, nämlich die von den Sinnen im wörtlichen Verständnis und die von einem inneren Sinn.7 Novalis' Begegnung mit Herders >Pla3

Vgl. Molnär, Geza von: Romantic Vision, Ethical Context: Novalis and Artistic Autonomy. Minneapolis 1987, S. 201; ders.: »What Ever Happened to Ethics?« In: Literature and Science as Modes of Expression. Hrsg. von Frederick Amrine. Dordrecht 1989, S. I24f.; Neubauer, John: Nature as Construct. In: Ebd., S. i$6f. 4 Vgl. Neubauer (s. Anm. 3), S. 131 und i^6ff. 5 Vgl. Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991, S. 230. 6 Herder hatte gesagt, daß es ein »Metaphysisch- und Physisch erwiesener Satz [ist], daß nur körperliches, Gefühl um formen gebe«. (Herder, Johann Gottfried: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume. In: Herder: Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. 8. Berlin 1877, S. 71). 7 Wie Wilkinson und Willoughby feststellten, verbindet Herder Sinneswahrnehmung unmittelbar mit »the mental activities of knowing, feeling and willing« (Wilkinson, Eliza-

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stik< führte zu seiner Formulierung des Begriffs der »Plastisirungsmethode« oder - synonym dazu - der »Experimentalmethode«, die beide auf eine konkrete Art des Wissens und eine taktile Empfindung für Ideen hinweisen (111,123). Diese Begriffe sind auch relevant für das Verständnis eines weiteren Erfahrungsbegriffs von Novalis, nämlich den des »wircksamen Begriff [s]«, den er als Schlüssel seiner Naturphilosophie benutzen wollte (111,600:291). Im Sinne dieses Gedankens über das >Experiment< lobt Novalis die naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes als »activen Empirismus« und nennt Plotin den Stifter der »Wissenschaft des thätigen Empirismus«, da beide konkret-repräsentative Symbole und Begriffe benutzen, um zwischen Theorie und Phänomenen zu vermitteln (11,641:445; 111,445:924). Im Kontext seines Begriffs des >Experiments< und des Begriffs von >Erfahrungswissen< will Novalis nicht nur die Phänomene der naturwissenschaftlichen Forschung prüfen, sondern auch die Art und Weise, wie man theoretisiert, d. h. er will den eigentlichen Prozeß des Wissenszugriffs prüfen. In dieser Hinsicht sucht Novalis nicht nur die gewöhnliche naturwissenschaftliche Objektivierung der Phänomene, sondern auch die Objektivierung unserer Gedanken. So prüft Novalis das Subjekt, und dieser Prozeß stützt sich stark auf den Gebrauch von Repräsentation und auf den ästhetischen Charakter von Repräsentation. Novalis' Begriff von naturwissenschaftlicher >Produktivität< und sogar sein allgemeiner Begriff von >Produktivität< gründen sich in seiner Idee eines >phänomenalen CalcülsExperimentAbsoluten< spricht, nimmt er Bezug auf das Wissensganze und das Ganze der Zweckmäßigkeit, das in allen Tätigkeiten der Natur zum Ausdruck kommt. Hierbei ist festzuhalten, daß Schelling - obwohl er sich auf absolute Prinzipien des Wissens bezieht - dabei ständig die Grenzen und Möglichkeiten solcher Prinzipien

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Induktion nicht genügt, den Bedürfnissen der Naturforschung gerecht zu werden. Der Experimentator muß vielmehr die Fähigkeiten des Subjekts zur Hilfe rufen, ansonsten würde er nie den Weg über die Phänomene hinaus finden, die er gerade untersucht. Demgemäß meinte Schelling, daß ein Experiment auf diese Art und Weise nie dem Regreß unreflektierter empirischer Untersuchung entgehen wird (»daß es [das Experiment — F. H.] nie über die Naturkräfte, deren es sich selbst als Mittel bedient, hinauskommen kann«). 13 Folglich ist das Subjekt in der »speculativen Physik« Schellings ein Vermittler zwischen einfacher Induktion und naturwissenschaftlicher Theorie. Erst durch diese Vermittlung ist nach Schellings Meinung der wahre Begriff von Experimentieren möglich: »Es ist daher begreiflich, daß s p e c u l a t i v e Physik (die Seele des wahren Experiments) von jeher die Mutter aller großen Entdeckungen in der Natur gewesen ist«. 14

II Vor einer Darstellung der naturphilosophischen Prinzipien Schellings, die zwischen Theorie und Phänomenen vermitteln, ist es notwendig, einen Blick auf jene Aspekte von Schellings Philosophie zu werfen, die offensichtlicher mit Novalis' Begriff von naturwissenschaftlicher Produktivität übereinstimmen. Den Gebrauch eines >idealen Calcüls< für die Naturforschung schlägt Schelling nicht explizit vor, aber er äußert sich über das Verhältnis zwischen der Methode des >mathematischen Calcüls< und der Methode seiner eigenen Naturphilosophie. Wenn er von der Aufgabe aller Wissenschaft spricht, bemerkt er: »Möglichkeit der Darstellung des Unendlichen im Endlichen — ist höchstes Problem aller Wissenschaften«.15 Der Naturphilosoph beschäftigt sich mit der Formulierung der großen unendlichen Reihen der Natur, aber im Gegensatz zum >mathematischen CalcülSerie< oder einer >Reihe< von Phänomenen beim Experimentieren ist natürlich auch Teil des >Calcülbegriffs< von Novalis. Die bestimmte Art von Begriffen (»Begriffe von Thätigkeit«), die Schelling für die Aufstellung der Naturreihe notwendig findet, sind auf ontologischem und epistemologischem Niveau eng mit Novalis' »wircksamen Begriffen« verwandt. Natürlich spricht Schelling hier vom Aufstellen seiner Naturphilosophie, und seine Meinungen beziehen sich nicht direkt auf Novalis' Interesse für eine Methode der naturwissenschaftlichen Entdeckung. Andererseits könnte man aber behaupten, daß Schellings Naturphilosophie sich mit der Entdeckung der Natur selbst beschäftigt, aber der Unterschied, der hier zwischen Novalis und Schelling besteht, ist gerechtfertigt. In seinem Begriff von Methode weist Novalis nicht allein auf die Entdeckung der ersten Prinzipien der Natur hin, sondern auch auf Entdeckungsprozesse im Labor, wie seine Ansichten über Ritters Arbeiten zeigen werden. Mit seinem Begriff der >Zwischenglieder< oder >Mittelglieder< kommt Schelling jedoch näher an Novalis' Interesse an naturwissenschaftlicher Entdeckung heran. Die >Zwischenglieder< sind Bezeichnungen, die sich Schelling aus den empirischen Naturwissenschaften holt und die zwischen den Tätigkeiten des streng empirischen Forschers und den Prinzipien des Naturphilosophen vermitteln. Ein Beispiel für Schellings Gebrauch von >Zwischenglieder< findet sich in seiner >Allgemeinen DeduktionZwischenglieder< ist von Poser erläutert worden (Poser, Hans: Spekulative Physik und Erfahrung. Zum Verhältnis von Experiment und Theorie in Schellings Naturphilosophie. In: Schelling: Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte. Hrsg. von Ludwig Hasler. Stuttgart/ Bad Cannstatt 1981, S. 134). Vgl. auch Schelling (s. Anm. 10), I. Abtheilung. Bd. 4, S. 9f.

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mens. Hier kann man sagen, daß Schelling direkt mit Phänomenen theoretisiert. In seinem Schema eines Magneten zeigt Schelling, wie der Theorie eine bestimmte Form gegeben werden kann, bzw. umgekehrt, wie Phänomene als Theorie repräsentiert werden können. Dies erlaubt dem Naturforscher oder dem Naturphilosophen ein konkretes Verständnis der theoretischen Fragen. Schellings Gebrauch der Bezeichnung >Zwischenglieder< stimmt mit Novalis' Begriff von Repräsentation in der naturwissenschaftlichen Forschung und dessen Fähigkeit überein, wesentliche empirische Begriffe darzustellen. Wie Novalis ist Schelling hier nah am Schauplatz der Entdeckung. Der Unterschied zwischen beiden Denkern ist hier minimal und besteht darin, daß Novalis seine Idee von Repräsentation explizit zu dem abstrakteren Begriff eines >idealen Calcüls< erweitert. Schellings Bezeichnung >Zwischenglieder< zeigt, daß es ästhetische Elemente in seinen Andeutungen über naturwissenschaftliche und naturphilosophische Produktivität gibt. In seinem >System des transcendentalen Idealismus< finden sich weitere Hinweise, die auf Verbindungen zwischen seinen Ideen von Ästhetik, Philosophie und letztlich auch seiner Naturphilosophie hinweisen. Erstens sollte die Ästhetik Schellings, wie sein ganzes Wissen, im Sinne des transzendenten Absoluten betrachtet werden. Die Kunst ist ein zeitlich-endliches Produkt: sie ist »ein Unendliches endlich dargestellt«.18 Zweitens ist Schellings Ästhetik die Kulmination der philosophischen Anschauung; seine Ästhetik ist das letzte Stadium eines Prozesses in der Entwicklung der Anschauung: beide, Philosophie und Kunst, sind daher Teil des gleichen Prozesses.19 Der Unterschied zwischen der »productiven Anschauung«, zu der der Philosoph zuletzt gelangt, und der »ästhetischen Anschauung« des Künstlers ist der, daß der Künstler ein Produkt schafft, während der Philosoph kein objektives Produkt schafft, sondern zu einem höheren Niveau des Wissens als seinem vorherigen gelangt.20 Schelling nennt philosophisches Wissen »künstlich« bzw. das der Kunst »ursprünglich und natürlich«. 21 Doch muß man fragen: Wird das l8

Schelling (s. Anm. 10), I. Abtheilung. Bd. 3, S. 620. Schelling stellt fest: »Daß ferner der ganze Zusammenhang der Transcendental-Philosophic nur auf einem fortwährenden Potenziren der Selbstanschauung beruhe, von der ersten, einfachsten im Schuldbewußtseyn, bis zur höchsten, der ästhetischen« (ebd.,'S. 631). 20 In dem Versuch, das >Absolute< zu begreifen, verbindet Philosophie die unendlich entgegengesetzten Tätigkeiten (wie Anziehung und Abstoßung, Subjekt und Objekt) in ständig höheren Formen des Wissens. Philosophie kann die unendliche Dichotomic nicht vollständig lösen, wohl aber die Kunst: »Jenes produktive Vermögen ist dasselbe, durch welches auch der Kunst das Unmögliche gelingt, nämlich einen unendlichen Gegensatz in einem endlichen Produkt aufzuheben« (ebd., S. 626). 21 Ebd., 8.628. 19

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eigentlich seiner eigenen Naturphilosophie gerecht? In seinen >ZwischengliedernPolaritätProdukte der Einbildungskraft sind. Darüber hinaus können die naturphilosophischen Begriffe Schellings wie die von Novalis als ein Versuch interpretiert werden, die Formen der Sprache der Natur zu lesen.23 Naturphilosophisches Wissen, wie z. B. ein Begriff wie >Polarität< oder eine Visualisierung wie Schellings idealer Magnet, ist mit den Formen der Natur verbunden, da es konkretes Wissen ist und zwischen formaler Theorie und Phänomenen durch das Vermögen der >Plastisirung< vermittelt. Naturphilosophische Begriffe sind zweckmäßige, erfahrungsmäßige Produkte: Sie stellen die Beziehung zwischen der zweckmäßigen Struktur in der Natur und der Zweckmäßigkeit des menschlichen Bewußtseins und der Gedanken dar. Der Künstler schafft tatsächlich natürliche Produkte, aber der Naturphilosoph, auf einem niederen ästhetischen Niveau, verfolgt die Phänomene der Natur mit Hilfe erfahrungsmäßiger Formen des Wissens zurück. Sollte der Naturphilosoph seine Aufgabe erfüllen, wäre sein endgültiges Produkt logischerweise die Natur selbst, aber dies ist das absolute Ziel. Jedoch befaßt sich die Naturphilosophie Schellings, wie die des Novalis, mit den Mitteln, mit denen man das Ziel erlangen kann, und mit der Bildung philosophischer Produkte, die den Weg zu diesem Ziel eröffnen. In diesem Licht haben die naturphilosophischen Prinzipien Schellings eine gewisse ästhetische Qualität. Schelling ist kein Künstler im wörtlichen Sinn, aber er ist sicherlich ein künstlerischer Philosoph. Schelling scheint dies anzudeuten, wenn er bemerkt: Nehmt, kann man sagen, der Kunst die Objektivität, so hört sie auf zu seyn, was sie ist, und wird Philosophie; gebt der Philosophie die Objektivität, so hört sie auf Philosophie zu seyn, und wird Kunst.24 "Ebd., S. 626. 2J Vgl. ebd., S. 628f. 24 Ebd., S. 630.

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Es gibt also doch nicht unwesentliche Verbindungen zwischen Ästhetik und Naturphilosophie innerhalb der Gedanken Schellings.

III Wie Novalis' Begriff von >Produktivität Experiment< und seine Idee eines >phänomenalen Calcüls< in der Praxis zeitgenössischer Naturwissenschaft aussahen, zeigt deutlich Ritters Arbeit über Galvanismus. In seinem Werk von 1798 mit dem Titel: >Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebenprozeß in dem Thierreich begleite< wollte Ritter zeigen, daß Galvanismus eine Kraft war, die sowohl im anorganischen als auch im organischen Bereich vorhanden war. In der zeitgenössischen Debatte über Galvanismus wurde diskutiert, ob der Galvanismus ein elektrisches, chemisches oder elektrochemisches Phänomen sei und ob es so etwas wie eine spezifisch tierische Elektrizität gebe. Ritter wollte eine Theorie des Galvanismus demonstrieren, die nicht — wie Voltas Idee der Kontaktelektrizität —25 materialistisch war. Ritter wollte auch demonstrieren, daß Galvanismus nicht auf die hypothetische Idee einer spezifisch tierischen Elektrizität oder einer tierischen Lebenskraft, wie von Alexander von Humboldt angenommen,20 begründet werden konnte. Der Schlüssel zu Ritters Idee der universalen Kraft des Galvanismus in den anorganischen und organischen Bereichen beruht im wesentlichen auf seiner Interpretation der Rolle des Nervs in galvanischen Prozessen. Andere Forscher haben dem Nerv keine zentrale Bedeutung zugeordnet. Wichtig ist, daß Ritter die Tätigkeit des Nervs nicht nur im Sinne von Organisation (d. h. der physiologischen Aspekte), sondern auch im Sinne von Elektrochemie erklärt. Im Hinblick darauf lobt Schelling Ritter 1799 und macht die Notwendigkeit für weitere Forschung über die Beziehungen zwischen dem Galvanismus und der organischen »Reproduktionskraft« deutlich.27 Schelling, wie Ritter und Novalis, schlägt Ideen vor, die denen der Bioelektrochemie ähnlich sind. 25

Vgl. Volta, Alessandro: Zweytes Schreiben des Herrn Alexander Volta an den Herausgeber, über die sogenannte thierische Electrizitaet. In: Neues Journal der Physik 4 (1797), S. 107-135. 26 Vgl. Humboldt, Friedrich Alexander von: Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Proceß des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt. 2 Bde. Posen/Berlin 1797. 27 Vgl. Schelling (s. Anm. 10), S. 323, 325 (Anm.) und 178 (Anm.).

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Vor einer Darstellung von Ritters Entdeckungen ist es erforderlich, eine der üblichen galvanischen Ketten zu skizzieren. Eine galvanische Kette bestand aus Leitern, welche in der Regel der Muskel und der Nerv eines Froschschenkels waren, und z.B. aus Materialien wie Metallen. In einer typischen Abbildung Ritters werden Nerv und Muskel durch einen Pfeil symbolisiert: >a< ist der Muskel des Froschschenkels; >c< ist der Ischiasnerv; >b< und >d< sind Metalle; >1< ist der Kontaktpunkt (siehe Abbildung i). Der Froschschenkel wurde als ein Elektroskop benutzt, um die galvanische Wirkung zu >messenCalcül< wird nicht rein im Sinne von a priori vorhersagbaren Formeln benutzt; statt dessen spricht Novalis hier von einer Art von Formelzeichen, die den Weg zur Vorhersagbarkeit bahnt. Die Einbildungskraft des Subjekts und dessen Fähigkeit zu »plastisiren« sind es, welche die Entdeckung des Naturforschers ermöglichen. Hier zeigt sich, wie Novalis' Begriff vom »thätigen Empirismus« die aktive Beherrschung von Erfahrung durch Symbole bedeutet. Dieses Gedankenexperiment, welches den Nerv in den Abbildungen objektiviert, verbindet Phänomen und Theorie. In einem weiteren Kontext kann dieser Begriff von Experiment bzw. die Vermittlung von Theorie und Phänomen in Ritters Diagrammen auch im Sinne des normalen Verständnisses eines Laborexperiments gesehen werden. Dieses bezeichnet letztlich ebenfalls eine Vereinigung von Theorie und Phänomen, insofern es gewissermaßen die >Erfahrbarmachung< der Theorie in den untersuchten Phänomenen darstellt. Dieses an sich also durchaus nicht ungewöhnliche Verständnis von >Laborerfahrung< wird von Novalis in seiner Idee eines symbolischen Calcüls< entwickelt und in seinem Forschungsprogramm verwendet.

IV Es muß jetzt gefragt werden, wie Ritters und Novalis' oben angeführter Begriff von naturwissenschaftlicher und -philosophischer >Produktivität< mit ihren naturphilosophischen Ansichten und ihrem Gesamtbild von Naturphilosophie verbunden ist. Sowohl Novalis als auch Ritter behaupten, daß die Natur eine endlose kreative Organisation ist.30 Es ist Ritters Glaube an eine zweckmäßige Kraft in der organischen und der anorganischen Natur, die ihn dazu führte, den Nerv nicht allein unter dem Blickwinkel organischer Kräfte zu studieren, sondern auch in Form von Elektrochemie; und dies ist das Wesentliche in seiner experimentalen Strategie.3' 3

°Novalis sagt z.B.: »In der Materie selbst liegt der Grund des Lebens [...]« (111,659:596). Für Novalis ist die organisierende Kraft sowohl Ursache als auch Produkt des Lebens, was seiner Meinung nach für alle Kräfte gilt: »Alle Kräfte erzeugen sich selbst fortwährend« (111,662:598); »Alle Kraft ist Produkt« (111,663:602). 31 Vgl. hierzu auch Berg, Hermann/Richter, Klaus: Entdeckungen zur Elektrochemie, Bioelektrochemie und Photochemie. Von Johann Wilhelm Ritter. Leipzig 1986 (Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften. Bd. 271), S. 35f.

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In den wichtigsten Experimenten seines Werkes von 1798, die in den Figuren 67 — 71 abgebildet sind, unternimmt Ritter präzise Modifikationen an den organischen Teilen der Ketten (d. h. am Muskel und am Nerv des Froschschenkels), um zu demonstrieren, daß die gleiche fortdauernde Kraft (d. h. Wirkung) sowohl in den organischen als auch in den anorganischen Teilen der Ketten tätig ist. Genauer gesagt, modifiziert Ritter den Nerv in diesen Experimenten, um zu zeigen, daß die Ursache der Nervtätigkeit in der gleichen internen fortdauernden Wirkung liegt, die in der elektrochemischen Wirkung der anorganischen Teile der Ketten tätig ist. Um die Anwesenheit einer fortdauernden internen Wirkung in galvanischen Ketten zu demonstrieren, baut Ritter Experimente auf, wo keine neuen Leiter zu den Ketten hinzugefügt werden. Hätte er einen neuen Leiter hinzugefügt, hätte dies impliziert, daß galvanische Wirkungen durch das Addieren eines neuen Leiters und nicht durch die interne Wirkung in den Ketten allein entstehen. Statt dessen wird in diesen Experimenten der Nerv auf sich selbst zurückgebogen, um einen neuen Kontaktpunkt in der Kette herzustellen und damit eine galvanische Wirkung zu verursachen. In der 68. Figur z.B. schließt die Schlinge des Nervs >ß< die Kette am Punkt >dProduktiv!tat< und seiner Theorie des Galvanismus besteht daher darin, daß seine Idee der Form galvanischer Ketten mit der Verwendung der Formen (d.h. der Abbildungen) in seinem Entdeckungsprozeß analog ist. Diese Idee von Formen wird auch in Novalis' Bemerkungen über Ritter begründet. Ritters Begriff von Stoff und Form — wie es in seiner Vorstellung der riesigen galvanischen Kette der Natur dargestellt wird - stimmt mit Novalis' Ansicht überein, daß Substanzen, wenn sie miteinander reagieren, ihre Formen aneinander weitergeben. Wenn Novalis von Ritters Experimenten spricht, betont er,

•'2Vgl. z.B. Ritter, Johann Wilhelm: Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite. Weimar 1798, S. 171.

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daß allein durch die Veränderung der Form einer Kette (und nicht durch Addieren eines neuen Leiters) galvanische Tätigkeit erfolgt: Man kann Reitz oder Thätigkeit durch bloße Veränderung der Kettenglieder hervorbringen. Alles ist Glied einer Kette. Jedes neue Glied veranlaßt Repraesentationen in den ändern Gliedern - dadurch Thätigkeit [...]. (111,612:350)

In dieser Feststellung über Materietheorie nennt Novalis die Formen der Substanzen ihre »Repräsentationen«, und diese Ansicht über die Materie stimmt mit Novalis' Gesamtansicht zur Erkenntnis überein. Anderswo nennt Novalis die Form eines Phänomens seine »Figur«, und in einer größeren Perspektive sieht Novalis Formen und »Figuren« in allen zweckmäßigen Tätigkeiten der Natur: die Figuren bilden die große Varietät der Sprachen der Natur (1,79; vgl. III,i23f.). Novalis' Begriffe von >Erkenntnis< und >Organisation< drehen sich um die Idee der Repräsentation in den Sprachen der Natur und des Menschen: alle diese Sprachen werden von Novalis als zweckmäßige Tätigkeit verstanden. Was Ritter nach Meinung von Novalis geleistet hat, ist, die Figuren der Natur in die schöpferischen Figuren seiner Abbildungen zu übersetzen, und auf diese Weise erschließe sich ihm die galvanische Sprache der Natur. In Ritters Arbeit wird auch deutlich, was Novalis meint, wenn er sagt, daß der Naturforscher »ein Gefühl« für die Natur haben muß (vgl. 111,179 unPlastik< kann man sagen, daß Ritter sowohl ein Gefühl als auch einen inneren Sinn für galvanische Phänomene erreichte.

Es bleibt noch zu fragen, wie Novalis' und Ritters Idee der Wissenschaft mit Novalis' Literatur verbunden ist und in welcher Form Novalis darin auf Ritters Idee des Galvanismus Bezug nimmt. Offensichtliche Anklänge an diesen werden in dem >Märchen< in >Heinrich von Ofterdingen< gefunden.33 Das Märchen erzählt von einer Suche. Eros soll die Prinzessin Freya finden, sie küssen und die Welt dadurch zu ihrer ursprünglichen Harmonie 33

Vgl. auch Wetzels, Walter D.: Klingsohrs Märchen als Science Fiction. In: Monatshefte 65 (1973), S. 167-175; Burwick, Frederick: The Damnation of Newton: Goethe's Color Theory and Romantic Perception. Berlin/New York 1986, S. 109-117.

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zurückkehren lassen. Es ist bedeutsam, daß die beiden Persönlichkeiten, die Eros auf seiner Suche helfen, symbolisch für eine erfahrungsmäßige und konkrete Art des Denkens sind. Eros' Helfer sind Ginnistan, die für die Einbildungskraft steht, und Fabel, die offensichtlich für die stark schöpferische literarische Form ihres Namens steht.54 Tatsächlich spielt sie bei der Suche die größte Rolle. Es ist Fabel, die die Welt von den bösen Parzen und den erbarmungslosen rationalistischen Schreibern befreit (vgl. I,3O7ff.). Sie ist es auch, die Atlas und den Vater wiederbelebt (vgl. 1,31 of.). Und es ist Fabel, die Eros zur Prinzessin Freya begleitet und die Eros anleitet, wie er die Prinzessin erwecken soll (vgl. 1,313). Alle diese Wiederbelebungen werden mit Hilfe des Galvanismus ausgeführt. Für die Wiederbelebung von Atlas und dem Vater benutzt Fabel ihre zwei Begleiter Gold und Zink sowie die Flüssigkeit in dem Gefäß der Sophie. In diesen Wiederbelebungen werden galvanische Ketten aus den Metallen, der Flüssigkeit und den Menschen konstruiert. Dies ist jedoch nicht der einzige Aspekt des Anklangs von Ritters Begriff des Galvanismus in diesem Märchen. Genauso bedeutsam für die Ereignisse im Märchen sind die Begriffe >Stromrichtung< und fortdauernde galvanische WirkungStromrichtung< nehmen. Diese Episoden können als ein >Experimentencalcul< oder als eine >Instrumentalsprache< verstanden werden. Sie sind Bilder, die den Begriff von >Richtung< zunehmend näher definieren, ein Prozeß, analog dem in Ritters galvanischer Arbeit, wo die Abbildungen immer näher an eine Formulierung seiner Theorie kommen. Novalis behandelt die Sprache nicht im Sinne von diskreten Wörtern, sondern er verwendet diese in den Mustern und den Wortgruppen seiner 34

Zur Bedeutung Ginnistans vgl. die Anmerkungen in der historisch-kritischen Ausgabe (1,639).

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Bilder, um Bedeutung zu vermitteln. Hinweise auf >Stromrichtung< sind deutlich in den Szenen der Wiederbelebungen. Ebenfalls aufschlußreich sind die Szenen, die auf magnetischen Strom verweisen. Magnetische Stromrichtung ist symbolisch für die Richtung, in der die Helden, Eros und Fabel, reisen müssen. Um Prinzessin Freya zu finden, müssen sie nördlich zu Arkturs Reich wandern. Ein Stück Eisen als Kompaß hilft ihnen, und sie segeln mit einem Schiff aus Stahl, das sich magnetisch nach Arkturs Reich richtet (vgl. 1,313). Der Begriff der >galvanischen Stromrichtung< ist jedoch noch bedeutsamer als der der > magnetischen Stromrichtung Märchen< sind auch auf eine weitere Weise verwandt. Die Schlüsselexperimente, die in den Figuren 67 — 71 abgebildet sind und die die Wirkungen der Veränderungen des Nervs in der Kette zeigen, entsprechen einem Schlüsselteil des Märchens. Der Nerv ist ein Zeichen der Selbsttätigkeit eines Phänomens, da er auf sich selbst zurückgebogen wird. Auf eine analoge Weise ist Fabel der

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selbsttätige, selbstreflektierende Teil der Einbildungskraft. In dem >Märchen< übernimmt Fabel die Aufgabe Ginnistans (der Einbildungskraft), auf Eros aufzupassen. Genauso wie die Selbsttätigkeit des Nervs zu Ritters Idee der galvanischen Tätigkeit steht, so ist Fabels Rolle im Märchen eine selbstreflektierende Erweiterung der Einbildungskraft: Fabel übernimmt Ginnistans Aufgabe, definiert sie neu und unternimmt auch wesentlich mehr. Auf diese Weise beziehen sich eine wesentliche Grundlage eines Entdeckungsprozesses in den Naturwissenschaften und ein wesentliches strukturelles Element in einem literarischen Text aufeinander.

VI

Das Zeichnen einer Figur hängt eng mit Novalis' Begriff von >Experiment< zusammen. In allen Figuren wird das Wissen erfahren und auf eine repräsentative Weise fühlbar gemacht. Der Begriff der >Plastisirung< erklärt, wie in der Figur das Wissen taktil durch konkrete Symbole erfahren werden kann. Durch >Plastisirung< wird ein Gefühl und ein innerer Sinn für Ideen ermöglicht. Auf diese Weise wird der innere Sinn der Einbildungskraft betätigt. Die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Literatur scheint einerseits in der Idee des >Plastisirens< zu liegen. Andererseits kann man sagen, daß es die Themen bzw. die grundlegenden Ansichten der Naturphilosophie sind, die die Naturwissenschaften und die Literatur verbinden. Da >Plastisirung< und Naturphilosophie beiden eigen sind, scheint es die spezifische Rolle der Literatur zu sein, den Naturwissenschaften moralische, symbolische und >wircksame Begriffe< zu liefern. Was wir jedoch primär in der Naturwissenschaft Ritters, der Naturphilosophie Schellings und Novalis' Literatur gesehen haben, ist Produktivität in verschiedenen Bereichen des Wissens: dies deutet auf das allgemeine Interesse an >Produktivität< der Romantiker hin und auf die zentrale Bedeutung des >Experiments< in Novalis' Werk. Experimentieren heißt, Wissen als eine vermittelnde Handlung zu betrachten. In allen Bereichen des Wissens geht es um >Produktivität und Erkenntnisgewinn, und dazu muß man experimentieren und das Wissen selbst als etwas Phänomenales behandeln. Nur wenn man das Wissen als etwas Phänomenales und Erfahrungmäßiges betrachtet, durch experimentales symbolisches Wissen zwischen Theorie und Praxis vermittelt und das Subjekt in den Prozeß des Erkenntnisgewinns einbringt, ist ein Wissensfortschritt möglich. Die Art,

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wie Novalis naturwissenschaftliche Entdeckungprozesse oder Produktivität betrachtet, zeigt, wie das Subjekt verwendet werden kann, um den Regreß des Experimentators zu vermeiden. Novalis' Gebrauch der Sprache scheint sich auch dafür zu eignen, den Sprachregreß des Dekonstruktivismus zu überwinden, da er das Subjekt einholt. Novalis zeigt, wie das Subjekt Symbole, Wortmuster und Wortgruppen verwendet, um zwischen dem Sprachzeichen und den Phänomenen selbst zu vermitteln und Bedeutung zu erreichen. Überhaupt können das Wissen und das >Absolute< nur transzendent durch Praxis und das Subjekt angenähert werden.

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Abb. i: Ritters galvanische Abbildungen, Figuren 67 — 71 (>BeweisBeweisVersuche über die gereizte Muskel- und NervenfaserNeues Journal der PhysikDer Versuch als Vermittler^ wird der Versuch als Wiederholen bereits gemachter Experimente bestimmt. Was mir nicht deutlich ist, ist, in welcher Weise das nun bei Novalis so ist. Sie haben ja gemeint, das Experiment bei Novalis habe auch diese rhetorisch-mnemotechnische Bedeutung. Ich würde gern einen Unterschied sehen zwischen Goethe und Novalis. Gibt es diese Bedeutung von >Experiment< bei Novalis wirklich und wenn ja, in welcher Weise? Henderson: Ich denke, daß im Falle Ritters sehr klar ist, daß die Experimente Wiederholungen einer Form sind. Auch von der Erfahrungsseite her geht es um Wiederholungen, und bei Novalis ist die Plastisierung eine Wiederholung der Erfahrung des Ich. Neubauer: Wenn ich mir die Abbildungen anschaue, dann sehe ich eine Modifizierung. Die Experimente wiederholen sich, aber in einer modifizierten Weise. Es ist nicht ganz genau eine Prüfung dessen, was man früher gemacht hat, sondern mehr eine Weiterentwicklung einer Technik oder einer Form. Goethe hat sich das Prisma geholt, hindurchgeschaut und gesagt: Ich sehe etwas anderes als Newton. Also wiederholt er das Experiment, erhält aber andere Resultate. Und das sehe ich hier bei Ritter nicht so. Es ist eine Reihe von Experimenten, aber doch in einer anderen Weise. Henderson: Ich beziehe mich auf die Bedeutung des Begriffs des Experiments < in der Antike, wo in der mnemotechnischen Tradition ein Experiment als ein >Wiedererfahren< einer vergangenen Erfahrung gedeutet wird: Es war eine Tätigkeit, die das ganze Erkenntnisvermögen des Menschen in Anspruch nimmt. Ein wesentlicher Teil davon war die Fähigkeit, sich eine Begebenheit oder einen Prozeß im Kopf plastisch vorstellen zu können. Herb: Hat Ritter versucht, seine Experimente zu mathematisieren? Henderson: Ritter hat seine Froschschenkel-Experimente als Mittel benutzt, um eine mathematische Methode zu entwickeln, aber er hat letztlich keine mathematischen Modelle ausgearbeitet. Piper: Habe ich Sie recht verstanden, daß sie einen Gegensatz sehen zwischen der Naturphilosophie von Novalis und dem deutschen Idealismus?

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Fergus Henderson

Henderson: Nein, keinen Gegensatz. Ich habe mich darauf beschränkt, die Ähnlichkeiten zwischen Schelling und Novalis hervorzuheben, nicht die Unterschiede. Die Ähnlichkeiten sehe ich im Blick auf Produktivität, im Blick auf Umgang mit Erfahrungswissen. Die Unterschiede zwischen Schelling und Novalis sind schon häufiger herausgestellt worden. Faber: Eine Frage zu Naturphilosophie, Naturwissenschaft und Dichtung. Was ergibt sich dafür aus Ihrem Vortrag Herr Henderson? Henderson: Ich habe es am Ende gesagt: Die Naturphilosophie ist das Verbindungsglied zwischen der Literatur und der Naturwissenschaft. Die Naturphilosophie befaßt sich über Schelling mit der Frage der Zweckmäßigkeit der Natur, sie erschließt die transzendentalen Voraussetzungen der Erkenntnis und befaßt sich mit der poetischen Produktivität. Die Naturphilosophie befaßt sich mit der Frage, wie die Menschen die Natur eigentlich verstehen können, so daß sie einen höheren Stellenwert hat als die Dichtung. Schulz: Es kommt noch etwas hinzu: Die romantische Dichtung löst sich von den klassischen Mustern und damit von Regelpoetiken. In einer solchen Dichtung wie dem Klingsohr-Märchen haben Sie experimentelle Dichtung, die dort, wo Regelpoetiken gelten, natürlich nicht mehr möglich ist. Bei Novalis bedeutet das die Aufnahme der aktuellsten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zum Magnetismus und Galvanismus. Hier vollzieht sich ein Paradigmenwechsel.

Manfred Engel (Erlangen)

»Träumen und Nichtträumen zugleich«. Novalis' Theorie und Poetik des Traumes zwischen Aufklärung und Hochromantik Kein Zweifel: Unter den romantischen Traumdichtern gehört Novalis zu den anerkannten Großmeistern: sein Traum von der »blauen Blume« hat in diesem Genre Epoche gemacht. Wer allerdings erwartet, in Novalis nun auch einen der führenden Traumtheoretiker der Romantik zu finden, wird enttäuscht werden. Zwar weist das Register der Werkausgabe mehr als 120 Einträge zum Wortfeld »Traum« nach;1 an theoretischen Passagen gibt es jedoch nur 24 Aufzeichnungen und einige kürzere Abschnitte in den Dichtungen und Briefen. Von einer Traumtheorie des Novalis kann so, im strengen Sinne, nicht gesprochen werden. Es finden sich allenfalls Ansätze dazu, die überdies, mindestens auf den ersten Blick, in recht verschiedene Richtungen weisen. Jeder Rekonstruktionsversuch bedarf deswegen der extensiven Kontextualisierung; erst von der zeitgenössischen Debatte über den Traum aus lassen sich die Problemstellungen und -lösungen in Novalis' theoretischen Schriften in ihrem systematischen Zusammenhang begreifen. Ich werde daher in vier Schritten vorgehen: Ich stelle zuerst die Traumtheorie der Aufklärung (mit deutlichem Akzent auf der Spätaufklärung) und dann die der Hochromantik zumindest in groben Zügen dar. Vor der Folie dieser beiden Nachbarepochen rekonstruiere ich dann in einem dritten Schritt Novalis' frühromantische Position und schließe mit einigen Thesen zu seiner Traumpoetik.

I In der Diskussion der Früh- und Hochaufklärung spielt die direkte Thematisierung des Traums2 eine geringere Rolle als seine Funktionalisie1 2

Ergänzend heranzuziehen wären die Einträge zu den Wortfeldern »Schlaf« und »Wachen«. Neben der immer noch fortwirkenden Diskussion über »übernatürliche« - gottgesandte

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rung - als Argument und Exemplum - im Rahmen zweier zentraler Fragestellungen: im Versuch der Rationalisten, eine eigenständige Ontologie zu begründen, und im Kampf der Aufklärer - vor allem der Popularaufklärer - 3 gegen die Offenbarungsreligion und gegen den Aberglauben überhaupt. Zunächst zum ontologischen Traumargument:4 Zu den wesentlichen Gründungsakten der rationalistischen Philosophie gehört die Formulierung eines eigenständigen Wirklichkeitsbegriffs, der sich gleichermaßen von dem der christlichen Metaphysik wie von dem des Empirismus unterscheidet. Es ist Rene Descartes (1596—1650), der in diesem Zusammenhang erstmals auf das Traumargument zurückgreift. In seinen >Meditationes de prima philosophia< von 1641 steht es gleichermaßen am Anfang des methodologischen Zweifeins wie an seinem Ende: Die Ununterscheidbarkeit von Traum und Wachen stellt zunächst die Gültigkeit jeder sinnlichen Erfahrung in Frage; am Schluß des Textes rundet dann eine gesicherte Unterscheidung die neu gewonnene Sicherheit des denkenden Subjekts ab. Allerdings hat Descartes in den >Meditationes< die selbst heraufbeschworenen Gespenster des Skeptizismus nur unzureichend wieder bannen können. oder allgemein prophetische - Träume versucht man sich hier vor allem an einer physiologischen Erklärung des Traums. Vgl. dazu und zur Traumtheorie des 18. Jahrhunderts überhaupt: Crocker, Lester G.: L'analyse des reves au i8e siede. In: Studies on Voltaire and the i8th Century 23 (1963), 8.271-310, und Aikins, Janet E.: Accounting for Dreams in >ClarissaPopularphilosophie:6 Dieser mißt den Traum nicht an seiner Übereinstimmung mit einer wie auch immer gearteten Erfahrung, sondern an den unveräußerlichen Wahrheiten und Gewißheiten der Vernunft. Dabei zeigt sich, daß dem Traum die »Ordnung« (»ordo«) fehlt — Wolffs höchste ontologische Kategorie, die vor allem bestimmt ist durch den Satz vom zureichenden Grund und den Satz vom Widerspruch: »In der Wahrheit ist alles in einander gegründet, im Traume nicht«. 7 Wolff erläutert dies 1751 in seinen >Vernünfftigen Gedancken< am folgenden ausführlichen Beispiel: Bei einem nur geträumten geselligen Beisammensein [...] kan ich nicht sagen, warum jede Person zugegen ist, und wie sie dahin hat kommen können; denn wenn ich Wirth bin, werde ich ungeladene, auch öfters fremde Gäste sehen, ja unter ihnen einige erblicken, die ich zu anderer Zeit an weit entlegenen Orten gesehen, oder die auch wohl schon längst gestorben und unter der Erden verfaulet sind. Niemand wird sagen können, warum sie zugegen sind. Eine Person wird sich im Augenblicke in die andere verändern können, ohne daß man sagen kan, wie es zugegangen. Es werden Personen weg seyn, ohne daß sie fortgegangen; andere hingegen da stehen, ohne daß sie hergekommen sind. Die ganze Gesellschaft wird in einem ändern Orte seyn, ohne daß sie aufgestanden und fortgegangen ist.8 5

»Jetzt [...] merke ich, daß zwischen [Traum und Wachen] der sehr große Unterschied ist, daß meine Träume sich niemals mit allen übrigen Erlebnissen durch das Gedächtnis so verbinden, wie das, was mir im Wachen begegnet« (Descartes, Rene: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Auf Grund der Ausgaben von Artur Buchenau neu hrsg. von Lüder Gäbe, durchgesehen von Hans Günter Zekl. Hamburg 1976 [Meiners Phil. Bibl. 271], S. 80); vgl. dazu Carboncini (s. Anm. 4), S. 38-59. 6 Wolffs Traumlehre wird in der europäischen Aufklärung populär, weil der 1765 in der >Encyclopedie< erschienene Artikel >songe< fast wörtlich auf einem Aufsatz des Wolffianers Johann Heinrich Samuel Formey (1711-1797) basiert; vgl. Carboncini (s. Anm. 4), S. 184-189. Vor dem von Carboncini erwähnten Druck des >Essai sur les songes< in Formeys >Melange philosophique< (Bd. i. Leiden 1754, S. 159-184) war der Aufsatz bereits 1746 in dem >Memoires de l'Academie de Berlin< erschienen. Auf dieser Fassung beruht der >Versuch von den Träumen« in der »von einem Forscher im Gebiete der Metaphysik« zusammengestellten >Sammlung der merkwürdigsten TräumeLa vida es suerkx —, die den Diskurs über den Traum seit jeher begleitet und immer wieder mit ihm interferiert.10 Die zweite Funktionalisierung des Traumthemas findet sich im aufklärerischen Kampf gegen Offenbarungsreligion und Aberglauben. Einen guten Eindruck davon verschafft der 1745 erschienene Artikel >Traum< in Johann Heinrich Zedlers einflußreichem >UniversallexikonZedler< unterscheidet zwischen übernatürlichen und natürlichen Träumen. Erstere unterteilen sich in Träume göttlichen und satanischen Ursprungs, letztere in Träume, die »in der Natur unsers Cörpers« - hervorgerufen durch schwache Außen- oder Körperwahrnehmungen des Schlafenden — und in solche, die »in der Natur der Seele« gründen — I 2 hervorgerufen durch die assoziativ-kombinatorische Tätigkeit der Einbildungskraft. Diese Einteilung ist nicht ungewöhnlich; neu sind jedoch die dabei gesetzten Wertakzente. Der voraufklärerische Traumdiskurs konzentrierte sich auf den übernatürlichen Traum, der natürliche war allenfalls von physiologischem und medizinischem Interesse. Jetzt dagegen verlieren gerade die übernatürlichen Träume an Bedeutung: Im >Zedler< wird zunächst entschieden bestritten, daß es vom Teufel eingegebene Träume gibt. Bei göttlich inspirierten Träumen — die ja in der Bibel vielfach bezeugt sind — würde eine ähnlich entschiedene Absage zum direkten Konflikt mit der religiösen Orthodoxie 9

Diese Abwertung des Traums ist im Rahmen der rationalistischen Episteme keineswegs zwingend. Die Traumarbeit der Seele könnte ja — gemäß der rationalistischen ZweiSubstanzen-Lehre — auch als vom Körper befreite reine Seelentätigkeit gedeutet werden. Dies geschieht allerdings nur sehr selten; wichtigstes Beispiel ist die einflußreiche Abhandlung von Joseph Addison (1672-1719) im Spectator Nr. 487 vom 18.9.1712: Hier gelten Träume nicht nur als »Relaxations and Amusements of the Soul, when she is disencumbered of her Machine«, sondern sogar als Indiz (»strong Intimations«) für die Unabhängigkeit der Seele vom Körper (Addison/Steele: The Spectator. 4 Bde. Hrsg. von Gregory Smith. Bd. 4. London 1958, S. 42-45, Zitate: S. 42 und 45). IO An diese metaphorische Verwendung des Traumbegriffs anknüpfend, wird etwa Kant in den >Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik< (1766) von »Träumern der Vernunft« (Vertretern der dogmatisch-rationalistischen Metaphysik) und von »Träumern der Empfindung« (Schwärmern wie Swedenborg) sprechen. 11 Großes Vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 45. Leipzig 1745. Reprint: Graz 1962, Sp. 173-209. -Ebd., Sp. 177.

»Träumen und Nichtträumen zugleich«

^47

fuhren. Vermutlich deshalb greift der Artikel auf die schwache Variante der deistischen Wunderkritik zurück: Zumindest heute sind von Gott geschickte Träume ausgeschlossen, da dieser nicht mehr direkt in den natürlichen Gang der Dinge eingreift. 13 Der Kampf gegen übernatürliche Träume und alle mit ihnen verbundene Formen des Aberglaubens begleitet den aufklärerischen Traumdiskurs als basso continue. "4 Erst die Radikalempiristen der Spätaufklärung - etwa Moritz als Herausgeber des >Magazins zur Erfahrungsseelenkunde< - I 5 werden in ihrer vorbehaltlosen Offenheit für alle bezeugten Fakta auch die Möglichkeit prophetischer Träume wieder ernsthaft diskutieren. Ansonsten aber dominiert im popularaufklärerisehen Schrifttum eindeutig der Versuch, alle Träume — auch die erschreckendsten und die scheinbar prophetischen — natürlich zu erklären. So erzählt etwa Georg Hermann Richerz, Universitätsprediger in Göttingen, ausführlich einen eigenen Alptraum, in dem er öffentlich hingerichtet wird, nur um ihn dann bis ins kleinste Detail aus Tagesresten, Körperempfindungen und charakterlichen Eigenheiten zu erklären.10 Er wendet sich dabei ausdrücklich an die Leser, ''Die schönste Begründung dafür hat Lessing in seiner »Erziehung des Menschengeschlechts< gegeben: Ein direktes Eingreifen Gottes war nur dem unmündigen Menschen der Vorzeit gegenüber nötig, ist in den heutigen aufgeklärten Zeiten aber überflüssig geworden. I4 Ich gebe nur einige Beispiele: Anonymus: Versuch über den Traum (aus dem Engl.; vgl. London Chronicle Nr. 3613 [1780]). In: Hannoverisches Magazin 18 (1780), 21. Stück [13. März], S. 322 — 337 (eine Kurzfassung von Beattie, James: Of Dreaming. In: Beattie: Dissertations Moral and Critical. London 1783. Facsimile-Reprint of the First Edition. The Philosophical Works. Hrsg. von Friedrich O. Wolf. Bd. 3. Stuttgart 1970, S. 207230); Meisel, Josef: Natürlich- göttlich- und teuflische Träume. Bewiesen einem guten Freund in Wien. Sieghartstein [Wien] 1783; Henning, Justus Christian: Von den Ahndungen und Visionen. Leipzig 1777; ders.: Von den Träumen und Nachtwandlern. Weimar 1784; Fischer, Heinrich Ludwig: Das Buch vom Aberglauben, Mißbrauch und falschem Wahn. Ein nöthiger Beitrag zum Unterricht: Noth- und Hülfsbüchlein. Oberdeutschland [Hannover?] 1790, bes. S. 52 — 61; ders.: Das Buch vom Aberglauben. 2. Theil. Hannover 1793, bes. S. 57-63; Schaumann, Johann Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Für Leser und Leserinnen. Halle 1791, bes. S. 63-118. 15 »Es ist hier nicht die Frage, ob es den Menschen nützlicher sei, wenn sie an Ahndungen glauben, oder nicht daran glauben, sondern ob und in wie fern diese Erscheinung in der Natur unsers Wesens würklich gegründet oder nicht darin gegründet sei? Ein Magazin zur Erfahrungsseelenkunde soll ja nicht unmittelbar Moral lehren, und eben so wenig unmittelbar dem Aberglauben entgegen arbeiten. [...] Ein solches Werk muß ja schlechterdings gegen nichts geschrieben seyn« - so weist Moritz energisch den Mitherausgeber Pockels zurecht, der während Moritz' Abwesenheit in orthodox aufklärerischen »Revisionen« energisch gegen den Glauben an prophetische Träume polemisiert hatte (Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 7 [1789], H. 3; nach: Schriften [s. Anm. 4], Bd. 7, S. 194 und 196). l6 Muratori, Ludwig Anton: Über die Einbildungskraft des Menschen. Mit vielen Zusätzen hrsg. von Georg Hermann Richerz. Leipzig 1785; Muratori zum Traum: S. 211-230,

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»die sich noch durch Träume befremden und beunruhigen lassen«.17 Seine eigentliche Botschaft ist so ein gut aufklärerisches »Fürchtet euch nicht!«: Mag der manifeste Trauminhalt auch unvernünftig sein - als psychologisches Phänomen ist jeder Traum eindeutig rational zu erklären und untersteht so letztlich doch der Herrschaft des Satzes vom zureichenden Grund.18 Es gibt kein Anderes der Vernunft, sondern nur ihr psychologisch erklärbares Versagen; das Unvernünftige ist nur das Noch-NichtVernünftige, der Traum nichts anderes als eine verworrene und undeutliche »Copie des Wachens«.19 Bei seiner Traumerklärung kann Richerz - wie auch all die anderen den Aberglauben an »übernatürliche« Träume bekämpfenden Popularaufklärer — zurückgreifen auf die Ergebnisse der neuen Modedisziplin der zweiten Jahrhunderthälfte: der >Anthropologie< als empirisch orientierter, medizinisch fundierter, aber auch philosophisch ambitionierter Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Körper und Seele.20 Im Paradigmenwechsel vom Rationalismus zum Empirismus rückt die von Wolff ursprünglich als bloße Hilfswissenschaft der »psychologia rationalis« vorgesehene »psychologia empirica« 21 als »Erfahrungsseelenkunde« ins ZenZusätze von Richerz: S. 231—300, Erzählung und Deutung seines Traums: S. 293 — 300. Ahnlich wie Richerz verfährt Schaumann mit einem eigenen Traum: Psyche (s. Anm. 14), S. 92-98. I7 Muratori/Richerz (s. Anm. 16), S. 293. l8 So schon bei Wolff in den Passagen der >Vernünfftigen Gedancken< (s. Anm. 7), die den Traum als empirisch-psychologisches Phänomen behandeln (vgl. etwa § 239^ und 799805). I9 Pockels, Carl Friedrich: Psychologische Bemerkungen über Träume und Nachtwandler. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 6 (1788); nach: Schriften (s. Anm. 4), Bd. 6, S. 239. 20 Ernst Platner, der wichtigste Pionier der neuen Disziplin, bestimmt Anthropologie als die Betrachtung von »Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zu einander« (Anthropologie für Ärzte und Weltweise, i. Teil. Leipzig 1772, S. XVII). Im Gefolge von Hans-Jürgen Schings' bahnbrechender Studie (Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977) hat die Germanistik in den letzten Jahren die eminente Bedeutung der Anthropologie für Denk- wie Literaturgeschichte der Aufklärung herausgearbeitet; vgl. dazu den eben erschienenen Forschungsbericht von Riedel, Wolfgang: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 6. Sonderheft: Forschungsreferate, 3. Folge (1994), S. 93— 158, und den Sammelband: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart 1994 (Germanistische Symposien, Berichtsbde. XV). 2 'Die »psychologia rationalis« handelt »von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt«, die »psychologia empirica« »von der Seele überhaupt, was wir nehmlich von ihr wahrnehmen« (Wolff: Vernünfftige Gedancken [s. Anm. 7], Überschriften von Kap. 5 und 3).

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trum des anthropologischen Interesses. Ihr fällt die Analyse des Traums als eine ihrer wichtigsten Aufgaben zu. 22 Etwa von der Jahrhundertmitte an 23 geht der aufklärerische Traumdiskurs so über in die Verantwortung der »philosophischen Ärzte«. 24 Ergebnis dieser anthropologischen Studien ist eine wohldurchdachte Defizittheorie des Traums.25 Der Traum erscheint als defizitär, weil in ihm wesentliche Vermögen des wachenden Menschen gar nicht oder nur in abgeschwächter Form wirksam sind. Carl Friedrich Pockels, der Mitherausgeber von Moritz' >MagazinSpectator< formuliert hatte.34

II Der Wechsel von der Aufklärung zur Frühromantik ist zunächst einmal ein Wechsel der Episteme im Sinne Foucaults, also eine Veränderung der das Wissen der Zeit strukturierenden kognitiven Schemata. Für unser Thema sind in diesem Übergang von Rationalismus/Empirismus zum Deutschen Idealismus vor allem die drei folgenden Neuerungen wichtig: i. Das für alle Idealisten zentrale dialektische Grundprinzip einer produktiven Interaktion polarer Prinzipien, das im Bereich der Geschichtsphilosophie zum triadischen Geschichtsmodell führt; 2. Die Aufwertung der Einbildungskraft, die nicht mehr im Übergangsbereich zwischen unteren und oberen Seelenvermögen angesiedelt wird, sondern zur produktiven Grundkraft aller Erkenntnisse avanciert - Novalis etwa nennt sie »das würkkende Princip« schlechthin (III,298:327).35 3. In engem Zusammenhang damit entsteht ein neuer Begriff des >UnbewußtenUnbewußte< - man verwendete noch nicht die substantivierte Form, sprach allenfalls vom »Unbewußtsein« (Platner) — bestand nur aus den »petites perceptions« von Leibniz bzw. den »dunklen und verworrenen Vorstellungen« Wolffs, also aus dem Teil der Vorstellungsaktivität der Seele, der nicht vom Scheinwerfer der Aufmerksamkeit erfaßt und erhellt wird. Die Frühromantik und der »objektive Idealismus« dageSeele vom Körper zeige, und an die ebenfalls topische Analogie zwischen Erwachen und Tod an. Wieland führt die Entstehung der gesamten Religion auf Traumerfahrungen (Aufhebung von Raum und Zeit, Begegnung mit Verstorbenen) der frühen Völker zurück (Sämmtliche Werke. Hamburger Reprint-Ausgabe. Bd. 32. Hamburg 1984, S. 190- 198). M S. Anm. 9. 35 Vgl. etwa Küster, Bernd: Transzendentale Einbildungskraft und ästhetische Phantasie. Zum Verhältnis von philosophischem Idealismus und Romantik. Hansetin 1979 (Monographien zurphil. Forschung 185), und Engeil, James: The Creative Imagination. Enlightenment to Romanticism. Cambridge 1981. 3System des transzendentalen Idealismus< — bestimmen das Unbewußte als »Vorgeschichte des Bewußtseins« (eine Formulierung Odo Marquards),37 deren es sich in einem quasi anamnetischen Akt vergewissern kann: Unbewußt ist die Aktivität der Einbildungskraft, die die Vorstellungswelt hervorbringt; für das zum Selbstbewußtsein gekommene Ich scheint diese zunächst einfach vorhanden zu sein. Um sie als sein Werk zu erkennen, muß es in philosophischer Reflexion hinter den Punkt seiner Selbstbewußtwerdung zurückgehen. In der naturphilosophischen Erweiterung der Transzendentalphilosophie wird diese bewußtlose Tätigkeit der Einbildungskraft mit der Produktivität identifiziert, die allen anorganischen und organischen Prozessen zugrunde liegt: Was im Selbstentfaltungsprozeß des Absoluten auf der Stufe des Menschen zum Wechselspiel von bewußtloser und bewußter Tätigkeit wurde, ist nur die höchste Stufe einer Urpolarität von Expansion und Konzentration, von Zentrifugal- und Zentripetalkraft, die alle physikalischen und chemischen Prozesse der anorganischen Welt ebenso fundiert wie alle Lebensprozesse der organischen Welt. Damit aber wird das Unbewußte zunehmend naturalisiert, es bekommt einen Ort auch außerhalb des Bewußtseins — und für den Menschen ist dieser Ort zunächst einmal der eigene Leib. Dies ist — sehr grob skizziert — der denkgeschichtliche Hintergrund, vor dem die Traumtheorie der Romantik entsteht. Wollen wir sie auf eine möglichst allgemeine Formel bringen, so ließe sich sagen: Während die Aufklärer im Traum das zwecklose Spiel der Einbildungskraft sehen, identifizieren ihn die Romantiker mit unbewußter Produktivität schlechthin. Bevor ich vor diesem Hintergrund die Traumtheorie von Novalis zu rekonstruieren suche, gehe ich - sozusagen als zweiten Teil einer historischen Umrahmung — auf das Traumkonzept der Hochromantik ein, da dies die eigentliche Blütezeit der romantischen Traumtheorie ist.38 Formuliert 37

Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. Köln 1987 (Schriftenreihe zur Philosophischen Praxis 3), S. 96. Marquards Monographie - als Habilschrift bereits 1963 abgeschlossen, aber erst jetzt veröffentlicht — rekonstruiert in überzeugender Weise eine Entwicklungslinie, die von der Transzendental- über die Naturphilosophie bis hin zur Psychoanalyse reicht. Er kann so zeigen, daß die Psychoanalyse nichts anderes als die »depotenzierte« Form der Transzendentalphilosophie ist — Depotenzierung meint hier: »jene Bewegung, in der die Transzendentalphilosophie auf die Ohnmacht des >Ich< und das ihm gegenüber >Andere< als Grund kommt« (ebd., S. 121). ' 8 Zur romantischen Traumtheorie vgl. die verdienstvoll materialreiche, aber nicht sonderlich begriffsscharfe Monographie von Beguin, Albert: Traumwelt und Romantik. Versuch über die romantische Seele in Deutschland und in der Dichtung Frankreichs [zuerst als: L'äme romantique et le reve. Marseille 1937]. Aus dem Frz. von Jürg Peter Waiser. Hrsg.

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wird sie von den romantischen Anthropologen — die, anders als die aufklärerischen, von der Forschung erst noch wiederzuentdecken wären.39 Es handelt sich wiederum meist um Ärzte, die jetzt aber alle von Schellings Naturphilosophie geprägt sind. Der Einfluß dieser Anthropologen reicht bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, ja es ließe sich über Hartmann, Schopenhauer und Nietzsche durchaus eine Entwicklungslinie bis zu Freud ziehen. Der Übergang von der Früh- zur Hochromantik scheint mir weniger auf einer Veränderung der Episteme als vielmehr auf einer Veränderung der Mentalität zu beruhen. Epistemologisch gesehen, ist allenfalls eine immer stärkere Abschwächung des transzendentalen Vorbehalts zu beobachten, der freilich schon im Nach-Kantischen Idealismus in eine zunehmend prekäre Position geraten war. In der Hochromantik werden die naturphilosophischen Aussagen zunehmend zu direkten ontologischen Sätzen, die bei vielen Autoren irgendwann wieder in eine mehr oder minder orthodoxe christliche Metaphysik einmünden. Wichtiger noch sind die Veränderungen im Bereich der Mentalität: Zentral ist hier der Verlust der frühromantischen Zukunftshoffnung. Mit ihm verlagert sich das Interesse vom nur noch vage konturierten utopischen Ende der Geschichte auf den uranfänglichen Verlust, den Sündenfall des Bewußtseins und der schuldhaften Ablösung aus dem großen Ganzen. Damit verwandelt sich die progredierende Dialektik zunehmend in den unaufhebbaren Dualismus einer »Duplizität des Seins« (E. T. A. Hoffmann). Parallel dazu gerät die Entfaltung der Individualität - einer der höchsten Werte der Frühromantik — in Mißkredit; das Individuum soll sich nun mit Demut ins Ganze einfügen. All dies sind keine abrupten Wandlungen, sondern graduelle Verschiebungen, die entsprechende Verschiebungen in der Konzeptualisierung des Traumes mit sich bringen. Ein unübersehbares äußeres Zeichen dieser Veränderungen ist, daß in der Hochromantik die meisten Schriften über den Traum auch den magnetischen Somnambulismus40 thematisieren, also den und mit einem Nachwort versehen von Peter Grotzer. Bern 1972. Es gibt eine Reihe älterer Untersuchungen, die aber schon allein wegen ihres unzureichenden RomantikBegriffs als überholt gelten müssen. Wenig ergiebig ist Wiesmann, Louis: Die Wiederentdeckung des Traums in der Romantik. In: Traum und Träumen. Traumanalysen in Wissenschaft, Religion und Kunst. Hrsg. von Therese Wagner-Simon und Gaetano Benedetti. Götdngen 1984, S. 102-112. w Eine umfassende Bibliographie ihrer Schriften bei Marquard (s. Anm. 37), S. 397ff. 40 Der Mesmerismus ist zwar eine Erfindung der Spätaufklärung, die der österreichische Arzt Franz Anton Mesmer (1734-1815) in den 7oer Jahren des 18. Jahrhunderts entwickelt und nach Frankreich exportiert hatte; seine für die Romantik wichtige Spielart - der Kranke wird in eine Art von hypnotischen Zustand versetzt und gibt dann selbst Auskunft

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traumähnlichen Zustand des in Trance versetzten Kranken, der nicht nur zu diagnostischen und therapeutischen Aussagen über die eigene Krankheit fähig ist, sondern oft auch über die Fähigkeit zur »clairvoyance« verfügt, also von fernen, von weit vergangenen und von zukünftigen Dingen künden kann.41 Soweit der Hintergrund, vor dem ich zwei Schriften näher betrachten will: Gotthilf Heinrich Schuberts (1780-1860) >Symbolik des Traums< von i8i4 42 und das Traumkapitel in Ignaz Paul Vital Troxlers (1780 — über sein Leiden - entsteht jedoch erst in Frankreich (vor allem durch den in Straßburg tätigen Marquis de Puysegur, 1751 — 1825) und wird von da um 1786 nach Deutschland re-importiert, wo sie ab etwa 1810 eine zweite Modewelle des »animalischen Magnetismus« auslöst. In ihrer Folge wird dann auch der vergessen am Bodensee lebende Mesmer wiederentdeckt, und der Berliner Arzt Carl Christian Wolfart publiziert aus französischen Manuskripten Mesmers 1814 eine deutsche Gesamtdarstellung von dessen System. Zur Rezeption der ersten Phase des Magnetismus vgl. Ego, Anneliese: Animalischer Magnetismus oder Aufklärung. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zum Konflikt um ein Heilkonzept. Würzburg 1991 (Epistemata 68), zur Gesamtwirkung: Benz, Ernst: Franz Anton Mesmer und seine Ausstrahlung in Europa und Amerika. München 1976 (Abhandlungen der Marburger Gelehrten Gesellschaft 2, 1975). Ein von den Zeitgenossen viel gelesenes Kompendium des nach Deutschland re-importierten Magnetismus ist: Kluge, Karl Ferdinand: Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel. Berlin 1811. 2. Aufl. 1815. 3. Aufl. 1819; vgl. auch Nees von Esenbeck, C. S.: Entwicklungsgeschichte des menschlichen Schlafes und Traums; in Vorlesungen [gehalten in Erlangen, Sommer 1818]. In: Archiv für den Thierischen Magnetismus [hg. von Eschenmayer, Kieser, Esenbeck; 1817-1824] 7 (1820), i. Stück, S. 1-88, 2. Stück, S. 1-70. Zur Rezeption des Magnetismus im romantisch-naturphilosophischen Kontext vgl. Engelhardt, Dietrich von: Mesmer in der Naturforschung und Medizin der Romantik. In: Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus. Hrsg. von Heinz Schott. Stuttgart 1985, S. 88-107. Für die Verbindung von Traumtheorie und animalischem Magnetismus gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder gilt der magnetische Schlaf als Indiz für die Potenzen, die auch dem natürlichen Schlaf (und besonders dem Traum) innewohnen, oder man sieht — an das triadische Modell anknüpfend — im magnetischen Schlaf die höhere Potenz des natürlichen, die Verbindung von »natürlichem« Traumgeschehen mit Geistesfreiheit und Bewußtheit. Ein Vertreter der ersten Ansicht ist etwa Schubert in seiner >Symbolik des Traums< (Bamberg 1814), die zweite Position vertreten Eschenmayer, Adolf Karl August: Psychologie in 3 Teilen als empirische, reine und angewandte. Stuttgart 1817, und Nees von Esenbeck. 4 'Zur ausführlichen Beschreibung der gesteigerten Wahrnehmungs- und Divinationsfähigkeit vgl. Nees von Esenbeck, Kluge (s. Anm. 40) und Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden 1808. Reprint: Darmstadt 1967, S. 326-360. 42 S. Anm. 40. Hier nach dem von Gerhard Sauder besorgten Reprint: Heidelberg 1968 (Deutsche Neudrucke, Reihe Goethezeit). Vgl. dazu Tilliette, Xavier: Schubert und Schelling. Schuberts Symbolik des Traumes. In: Gotthilf Heinrich Schubert. Gedenkschrift zum 200. Geburtstag des romantischen Naturforschers. Erlangen 1980 (Erlanger Forschungen A, 25), S. 5 1 — 7 1 , und Beguin (s. Anm. 38), S. 129—154.

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1866) >Naturlehre des menschlichen Erkennens, oder Metaphysik^43 von 1828. Wie der Titel von Schuberts Text deutlich macht, geht es ihm primär um die Symbolsprache, die sich an besonders bedeutungsvollen -44 Jung wird sagen: »großen« — Träumen beobachten läßt; damit knüpft Schubert natürlich an die uralte, bis heute fortwirkende Tradition der Traumbücher an.45 Die Bildersprache dieser Träume ist für ihn Teil einer universellen, für alle Zeiten und Kulturen gültigen Symbolik, die sich auch in den ägyptischen Hieroglyphen, in Mythen, Orakeln und Religionen, in den Werken der großen Dichter, vor allem aber in den Bildungen der Natur selbst findet.40 Diese Überlegungen gehören offensichtlich zum bekannten romantischen Diskurs über die Sprache der Natur als Sprache einer Uroffenbarung. Daneben entwickelt Schubert jedoch auch eine eigene Theorie des Traums. Am wichtigsten ist hier dessen physiologische Verortung: Schubert unterscheidet im Menschen zwei völlig getrennt voneinander funktionierende Nervensysteme, das Cerebral- und das Gangliensystem. Das Cerebralsystem umfaßt die Erkenntnisfunktionen der Seele,47 das Ganglien- oder »sympathische System« umfaßt die Nerven der inneren Organe und der Blutgefäße. Es regelt alle dem Willen entzogenen Körperfunktionen, die »zur Bildung, Erhaltung und zum Wachsthum des materiellen Organismus« dienen;48 zugleich ist es jedoch Organ eines Gefühls 43

Zuerst: Aarau 1828. Hier nach dem von Hans Rudolf Schweizer hrsg. Neudruck: Hamburg 1985 (Meiners Phil. Bibl. 382). Vgl. dazu Heuser, Peter: Der Schweizer Arzt und Philosoph Ignaz Paul Vital Troxler. Seine Philosophie, Anthropologie und Medizintheorie. Basel 1984 (Basler Veröffentlichungen zur Geschichte der Medizin und Biologie 34), Spiess, Emil: Ignaz Paul Vital Troxler. Der Philosoph und Vorkämpfer des Schweizerischen Bundesstaates dargestellt nach seinen Schriften und den Zeugnissen der Zeitgenossen. Bern 1967, und Beguin (s. Anm. 38), S. 113—128. 44 Schubert spekuliert allerdings, daß es wahrscheinlich »noch einen tieferen Grad des Traumzustandes gebe, von welchem uns beym Erwachen nur höchst selten eine dunkle Rückerinnerung zurückbleibt, weil er von der Region des Wachens durch dieselbe Kluft geschieden ist, als der Zustand der magnetischen Clairvoyance« (s. Anm. 42, S. 12). 45 Vgl. Fuchs, Felizitas: Von der Zukunftsschau zum Seelenspiegel. Eine Studie zur Traumaurfassung und Traumdeutung am Beispiel der deutschsprachigen Traumbücher. Aachen 1987 (Acta culturologica 6). 46 Grundthema all dieser Symbole ist »die Geschichte einer Wiederherstellung und Wiederbringung des Menschen zu seiner ursprünglichen Bestimmung, die Geschichte eines großen Kampfes des Lichts mit der Finsterniß« (s. Anm. 42, S. 36) - also nichts anderes als das Transparentwerden des verborgenen Gesetzes aller Entwicklung, der triadischen Selbstentfaltung des Absoluten: »Der Inhalt jenes großen Hieroglyphen-Buches ist mithin derselbe, als der der geschriebenen Offenbarung« (ebd., S. 38). 47 Und zwar ohne jede emotionale Beimischung - Sitz der Leidenschaften ist nach Schubert die Leber (vgl. ebd., S. 113). 48 Ebd., S. .

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für den höheren, transempirischen Zusammenhang der Dinge (»Gemeingefühl«). Im Wachzustand gibt es so gut wie keinen Kontakt zwischen den zwei Systemen, wohl aber im Somnambulismus, beim Nachtwandeln, im Wahnsinn — und eben im Traum.49 Dieser ist nichts anderes als »ein vermittelndes Glied«50 zwischen den beiden Seiten der menschlichen Natur und damit eine Wiederherstellung ihrer verlorenen Einheit. Denn einst bildeten die beiden Nervensysteme ein Ganzes — vor der Katastrophe des Sündenfalls, in der sich der Mensch durch »Hochmuth« und »Selbstsucht« 5 ' vom Naturganzen löste, wodurch sich ihm die Wirklichkeit zur bloßen Empirie, zum bloßen Mittel zu selbstsüchtigen Zwecken entzauberte.52 Diese Entartung des Menschengeschlechts macht den Traum für Schubert zum höchst ambivalenten Phänomen. Denn entartet ist primär die sinnliche Seite der menschlichen Natur,53 damit eben auch das Gangliensystem. Daher muß der Traum heute als »partie honteuse«54 der menschlichen Natur gelten; wurde er zunächst als »der versteckte Poet in uns« 55 und als Quell aller trans-empirischen Erkenntnis 50 gerühmt, so erscheint er jetzt als erschreckende Offenbarung der »Schattenseite« unseres gefallenen Selbst.57 49

Vermittlungsorgan ist, nach Schuberts eigenwilliger Anatomie, der Stimmnerv (vgl. ebd., S. 112). 5 °Ebd., S. i n . 51 Ebd., S. 189. 52 Das Kind kann heute diese Einheit noch erfahren (vgl. ebd., S. 143), und auch in gesteigerten Momenten des Daseins - wozu auch die künstlerische Inspiration gehört - gibt es noch einen Kontakt beider Systeme (vgl. ebd., S. I5of. und 157). 53 Das Cerebralsystem dagegen hat, obwohl es doch für das Heraustreten aus der Allverbundenheit in Liebe verantwortlich war, »bey der alten, traurigen Katastrophe am wenigsten gelitten« und ist — wohl weil es »weder zu lieben noch zu hassen vermag« — »der ursprünglichen geistigen Bestimmung auch noch im jetzigen Zustande getreu« (ebd., S. 158). Daher ist eine zukünftige Synthese nur durch Weiterentwicklung des cerebralen Teils zu erreichen (vgl. ebd., S. 163); dieser bedarf dazu freilich eines Anstoßes, welcher in einem Zustand >romantischer LiebeFreiberger naturwissenschaftlichen Studien< (Sommer '98-Mai '99) und zum Allgemeinen Brouillon< (September '98-Anfang März '99).05> Ich behandle sie nach thematischen Schwerpunkten und versuche, sie in den skizzierten historischen Rahmen einzufügen. Daß Novalis mit der Traumtheorie der Aufklärer vertraut war, zeigt vor allem seine späteste Äußerung zum Traum: das Traumgespräch aus dem i. Kapitel des >OfterdingenTeplitzer Fragmente* (vgl. 11,622:442, entstanden: 15. Juli-Mitte August 1798), eines aus den >Fragmenten und Studien< (vgl. 111,572:113, aus einer zwischen Juli und Mitte August 1799 entstandenen Gruppe), ein nicht datierbares Fragment (vgl. 111,692:699) und der Brief vom 27.2.1799 (vgl. bes. IV,28o). Wohl in den Anfang dieser traumtheoretisch ergiebigsten Periode fällt der erste gedichtete Traum aus der Märcheneinlage der >Lehrlinge zu Sais< (entstanden nicht vor Spätsommer 1798, u. U. erst gegen Ende dieses Jahres, aber bereits vorentworfen in einem der letzten >Teplitzer Fragmente* Nr. 431, also wohl Mitte August 1798; dort ist allerdings noch die ganze Reise des Helden als Traum gedacht, im ausgeführten Text dagegen nur der Eintritt ins Heiligtum der Göttin). Die früheren Äußerungen sind meist peripherer Art: zwei Stellen in den >Fichte-Studien< (vgl. 11,234:398, 281:623), deren zweite das Wort Traum nur metaphorisch verwendet (»Träume der Zukunft«); ein Exzerpt in den >Hemsterhuis-Studien< (vgl. 11,365:28), die Hemsterhuis' traumtheoretische Bemerkungen im >Essai sur l'homme* völlig ignorieren; zwei in den >Vermischten Bemerkungen*: im ersten wird erstmals potenziertes Träumen erwogen (vgl. 11,416:16 - von F. Schlegel als Nr. 288 in die >Athenaeumsfragmente< aufgenommen), das zweite (vgl. 11,424:27) weist auf eine häufig beobachtete Eigenheit der Traumsymbolik, die Gegenläufigkeit von Signifikant und Signifikat, hin; eines in den >Vorarbeiten< (vgl. 11,587:238), das sich auf durch Körperempfindungen hervorgerufene Träume bezieht (»Größtentheils unangenehme, peinliche Situationen«). 70 Dieses Kapitel war spätestens vor Ende Februar 1800 abgeschlossen; der Beginn der Arbeit am Roman fällt in die letzten Wochen des Jahres 1799.

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verpflichtet: Wenn Heinrich den Traum als »freye Erholung der gebundenen Fantasie« erklärt, »wo sie alle Bilder des Lebens durcheinanderwirft« (ebd.), so ist das ein fast wörtlicher Anklang an Addisons Traumaufsatz aus dem >SpectatorOfterdingen< zwei in der aufklärerischen Traumtheorie selbstverständlich verbundene Elemente in Opposition zueinander treten: Der durch empirische Umstände — Körperempfindungen, Tagesreste und konstitutionelle Eigenheit — bedingte Traum, von dem die Eltern reden, steht gegen das von Heinrich konstatierte freie und eigengesetzliche Spiel der Einbildungskraft. Das erklärt sich sicherlich aus dem epistemologischen Paradigmenwechsel zum Idealismus, der zur neuen Opposition zwischen Empirie der »Regelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit des Lebens« (ebd.) - einerseits und der Autonomie des Subjekts andererseits führt, vermutlich wohl auch aus der enormen Aufwertung des >SpielÄsthetischen Briefen