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German Pages 114 [150] Year 1986
EDMUND HUSSERL
Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften Herausgegeben und eingeleitet von KARL-HEINZ LEMBECK
Text nach Husserliana, Band V
FE LI X M EI NE R VE R LAG H AMB U RG
P HILOS OP H IS C HE B IB LIO T HE K B AND 393
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar über ‹http://portal.dnb.de›. ISBN: 978-3-7873-0686-2 ISBN eBook: 978-3-7873-3243-4 © für den Text aus Edmund Husserl, Gesammelte Werke: „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaft" by Martinus Nijhoff Publishers B.V., 1952, 1971. © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1986. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. www.meiner.de
INHALT
Einleitung: Husserls wissenschaftstheoretisches Programm. Von Karl-Heinz Lernheck . . . . . . . . .
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Editorische Notiz .......................... XXXIV Bibliographische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXV Edmund Husserl Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften Erstes Kapitel Die verschiedenen Regionen der Realität . . . . . . . . . § 1. Materielles Ding, materielle Wahrnehmung, materielle Naturwissenschaft (Physik) . . . . . . § 2. Leib, Leibesauffassung und Somatologie . . . . a) Die spezifischen Leibesbestimmungen . . . . b) Die Wissenschaft vom Leibe: Somatologie . § 3. Die Abgrenzung von Somatologie und Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4. Die „Gemeinschaften" in naturwissenschaftlicher Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweites Kapitel Die Beziehungen zwischen Psychologie und Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5. Das Verhältnis der Phänomenologie zu den Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 6. Das ontologische Fundament der empirischen Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7. Regionale Begriffe und „Gattungs"-begriffe . . . § 8. Rationale Psychologie und Phänomenologie experimentelle Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . § 9. Die Bedeutung der phänomenologischen Deskription für das Erfahrungsgebiet . . . . . . . . . .
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Inhalt
§ 10. Verhältnis der Phänomenologie zu den Schrif-
ten Bolzanos, Lotzes und Brentanos . . . . . . . . . § 11. Unterschiede der Beziehungen von Physik und Psychologie zu ihren ontologischen Fundamenten. Die Bedeutung der Deskription in beiden Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 12. Weitere Klärung des Verhältnisses von rationaler Psychologie und Phänomenologie . . . . . . Drittes Kapitel Das Verhältnis von Phänomenologie und Ontologie § 13. Das Feld der phänomenologischen Forschung . § 14. Einbezogenheit der Ontologien in die Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 15. Die Bedeutung der ontologischen Feststellungen für die Phänomenologie und die Verschiedenheit der Einstellung in beiden Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 16. Noema und Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 17. Bedeutung der ontologischen Begriffe für die Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Viertes Kapitel Die Methode der Klärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 § 18. Klärungsbedürftigkeit der dogmatischen Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 § 19. Klärung des Begriffsmaterials . . . . . . . . . . . . . . 99 a) Logisch-formale Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . 99 b) Regionale Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 c) Die materialen Besonderungen . . . . . . . . . . . 100 § 20. Verdeutlichung und Klärung .............. 103 Namenregister .............................. 109 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
EINLEITUNG: HUSSERLS WISSENSCHAFTSTHEORETISCHES PROGRAMM
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Philosophische Wissenschaftslehre ist em ursprüngliches Thema der Husserlschen Phänomenologie. Schon in den „Logischen Untersuchungen" aus den Jahren 1900/01 ist es das Hauptmotiv der phänomenologischen Philosophie, „Wissenschaft von der Wissenschaft zu sein" und zu diesem Zweck eine „reine Logik" als „Wissenschaftslehre" zu begründen (vgl. Hua XVIII, bes. §§ 4-16, 62-65, 72). 1 Und diese Intention hält sich durch. So schreibt Husserl noch nahezu dreißig Jahre später in der Einleitung zu seinem Buch „Formale und transzendentale Logik" (1929), daß dessen Absehen „in erster Linie auf den echten Sinn einer Logz"k als Wissenschaftstheorie (gehe), deren Aufgabe selbst es sein müßte, den echten Sinn von Wissenschaft überhaupt klarzulegen und in der Klarheit theoretisch zu explizieren" (Hua XVII, 14 ). Wie ist das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft hier gedacht? Welches Motiv hat die Philosophie, sich mit diesem „Sinn von Wissenschaft überhaupt" auseinanderzusetzen? Die Wissenschaften, so lautet Husserls Ausgangsthese, sind prinzipiell begründungsbedürftig. Sie „unterstehen hinsichtlich ihres Bestandes an Sätzen und Begriffen der selbstverständlichen Forderung der Begründung" (96). Was aber heißt hier „Begründung"? Der Anspruch einer Wissenschaft, daß sie Gegenstände zum Thema habe, über die sie mit einem gewissen methodisch gesicherten Recht Urteile zu fällen im Stande ist, die wahr sind, d.h. den vermeinten Sachverhalt treffen, scheint für sie zunächst von trivialer Selbstverständlichkeit. Philosophisch betrachtet aber bleibt dies ein bloßer Geltungsanspruch, solange sein Recht nicht ausgewieDie Werke Husserls werden im Text nur mit Band- und Seitenzahl der Husserliana-Ausgabe (= Hua), Den Haag 1950ff., zitiert. Einfache Seitenangaben beziehen sich auf die vorliegende Ausgabe. 1
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sen, die Gültigkeit der urteilsmäßigen Aussagen nicht eigens begründet ist. Wie soll das geschehen? Wenn die Wissenschaften sich als Urteilssysteme über ausgesuchte Gegenstandsgebiete entfalten, so sind die Gegenstände dieser Gebiete hierbei als etwas konkret und an sich Seiendes gedacht, über das wahre oder falsche Urteile gefällt werden können. Es muß nun jedoch eigene Gründe dafür geben, daß dieses gegenständlich Seiende überhaupt ist und zum 'Worüber' wissenschaftlicher Urteile werden kann. Das besagt aber, es muß als gegenständlich Seiendes erfahren werden können. Und in dieser Hinsicht ist zunächst danach zu fragen, welchen Bedingungen die Möglichkeit der erfahrungsmäßigen Auffassung eines gegenständlich Seienden unterliegt und schließlich, ob die dem erfahrungswissenschaftlichen Urteil zugrundeliegende Erfahrung diesen Bedingungen Genüge tut, ob es ihren 'Gegenstand' in diesem Sinne überhaupt 'gibt'. Erst im Anschluß an diese Fragen ist es dann sinnvoll, rein formallogische und methodologische Kriterien in Rechnung zu stellen. Dies ist, in kürzesten Zügen, Husserls erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt. Nun gibt es freilich auch schon wissenschaftsimmanente Begründungsverfahren, in denen „mit den einzelnen Erkenntnissen auch die Begründungen selbst und mit diesen auch die höheren Komplexionen von Begründungen, die wir Theorien nennen, eine systematische Einheit erhalten" (Hua XVIII, 30). Solche wissenschaftsimmanenten Begründungsmuster sind in der Regel auf zwei Grundformen reduzierbar: auf eine ontologische und eine formallogische Form. Einerseits kann ein zu beurteilender Sachverhalt als Wirkung eines anderen Sachverhalts bestimmt, d.h. auf diesen als auf seine Ursache zurückgeführt und derart von dem Kausalzusammenhang von Ursache und Wirkung her 'begründet' werden. Andererseits kann ein Urteil oder Urteilssystem auf ein vorangehendes Urteil oder Urteilssystem, von dem es sich logisch herleitet, abgestützt werden. Beide Begründungsformen sind in ihrer Anwendung und hinsichtlich ihrer methodologischen Konsequenzen der philosophischen Reflexion gegenüber autonom. Aber beide implizie-
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ren unbefragte Voraussetzungen. Einerseits liegt der Annahme, daß die Verknüpfung von Ursache und Wirkung nach dem Kausalitätsprinzip überhaupt sinnvoll ist, die ontologische Voraussetzung zugrunde, daß Seiendes stets den zureichenden Grund seines Seins in anderem Seienden haben müsse. Andererseits nimmt die logische Urteilsbegründung den Satz vom Grunde in Anspruch, wonach der Geltungsgrund eines Urteils sich stets in anderen Urteilen finden lassen müsse. 2 Diese beiden Voraussetzungen der wissenschaftsimmanenten Begründungsverfahren, die ontologische und die logische; sind nun jedoch ihrerseits kein möglicher Gegenstand einzelwissenschaftlicher Selbstbestimmung mehr. Eben hier findet das Programm einer reinen Logik als Wissenschaftslehre seinen Ansatzpunkt und seine originäre Aufgabenstellung. Husserl macht der wissenschaftsimmanent angewandten und auf die aristotelische Analytik zurückgehenden formalen Logik ihre in begründungstheoretischer Hinsicht mangelhafte Verfassung zum Vorwurf. Er sucht sie einer prinzipiellen Kritik zu unterwerfen, um sie im Sinne des Begründungsideals der platonischen Dialektik zu restaurieren (vgl. Hua XVII, 6-12, 35lff.; VII, 42). Die Logik der aristotelischen Tradition „nahm die Gestalt einer formalen apophantischen Kritik vorgegebener Wissenschaft an, vorgegebener Wahrheit und Theorie; bzw. die Gestalt einer formalen Ontologie, für die dem allgemeinsten nach seiende Gegenstände, seiende Welt im voraus feststanden". Sie ist daher Logik „foreinevorgegebengedachte reale Welt" (Hua XVII, 231). Sie setzt dabei auf ihre Weise jedoch nicht nur das Ansichsein der objektiven Welt voraus, „sondern auch die 'an sich' bestehende Möglichkeit, Welterkenntnis als echtes Wissen, als echte Wissenschaft zu gewinnen" (ebd. 232). Aber mit diesen Voraussetzungen, so Husserl, hat sie ihr ursprüngliches Thema, das noch ein Anliegen der platonischen Dialektik war, verfehlt. Die prinzipielle Frage nach „der Mög2 Vgl. Manfred Brelage, Ober das Begründungsproblem in Philosophie und Wissenschaft, in: ders., Studien zur Transzendentalphilosophie, Berlin 1965, 45-62.
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lichkeit einer Wissenschaft überhaupt und von Seiendem überhaupt" (ebd. 230), die Frage, wie Wissen und Wissenschaften möglich sind, wird nicht mehr gestellt. Die naive Voraussetzung der Realität der Welt reiht die Logik vielmehr selbst unter die positiven Wissenschaften ein. Dafür opfert sie „ihren historischen Beruf" und die platonische „Idee echter Wissenschaft aus absoluter Begründung" ( ebd. 8, 11). Der Logik mangelt es sonach an philosophischer Radikalität. Hinsichtlich ihres wissenschaftstheoretischen Sinnes bedarf sie nun auch selbst einer fundamentalen philosophischen Grundlegung. Schon in den „Prolegomena zu einer reinen Logik", dem ersten Band der „Logischen Untersuchungen", entwickelt Husserl die Idee einer apriorischen Grundlegung der Logik nach ihrer zweiseitigen Thematik hin: als Logik der „Bedeutungskategorien" sowie als Logik der „formalen gegenständlichen Kategorien" (Hua XVIII, 243-246). Erstere ist die logische Theorie der Begriffs- und Satzsysteme und ihrer elementaren Verknüpfungsformen, auch „apophantische Logik" genannt (z.B. Hua XXIV, 7lff.; III/l, § 134; XVII, 53ff.). Letztere ist die Lehre von den formalen Begriffen, die für Gegenstände überhaupt konstitutiv und auf die Bedeutungskategorien direkt korrelativ sind, „wie Gegenstand, Sachverhalt, Einheit, Vielheit, Anzahl, Beziehung, Verknüpfung usf." (XVIII, 245 ). Jedem Urteil entspricht ein Sachverhalt, ein 'Gegenstand, worüber .. .'. Innerhalb der formalen Logik korreliert dementsprechend der formalen Apophantik die formale Ontologie. Diesem wesensmäßigen Verhältnis zufolge - das eigentlich nur ein exemplarischer Ausdruck der intentionalen Struktur des auffassenden Bewußtseins ist, wonach ein Erlebnis stets „Bewußtsein von etwas" ist (vgl. Hua III/1, 73ff., 187f.), ein Urteilsakt sonach immer ein Urteil über einen Sachverhalt meint ist jedes formallogische Gesetz äquivalent umzuwenden in ein formal-ontologisches. „Statt über Urteile wird jetzt über Sachverhalte, statt über Urteilsglieder (z.B. nominale Bedeutungen) über Gegenstände, statt über Prädikatbedeutungen über Merkmale geurteilt usw. Die Rede ist auch nicht mehr von der Wahrheit, Gültigkeit der Urteilssätze, sondern
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vom Bestande der Sachverhalte, vom Sein der Gegenstände usw." (Ebd. 342) Eine strenge Begründung dieser logischen Strukturen aber kann nur dadurch erfolgen, daß diese Begriffe, die formal-apophantischen wie die formal-.ontologischen, genauestens fixiert und auf ihre konstitutiven Ursprünge hin untersucht werden. Dies geschieht dadurch, daß gezeigt wird, daß das „ 'logische Denken' einem 'entsprechenden Anschauen' anpaßbar ist" bzw. daß „es ein entsprechendes durch Intuition erfaßbares Wesen als entsprechendes Noema gibt, das durch den logischen Begriff seinen getreuen 'Ausdruck' findet" (28; vgl. Hua XVIII, 246). Dieser Absicht folgt Husserl noch in seiner „Formalen und transzendentalen Logik". Wieder ist das Leitthema die „Doppelseitigkeit" der Logik. Allerdings ist mit Doppelseitigkeit jetzt nicht mehr ihre Differenzierung in eine apophantische und eine formal-ontologische Disziplin gemeint, sondern ihre Unterscheidung nach einer objektiven und einer subjektiven Richtung (vgl. Hua XVII,§ 8). Ihre objektive Seite trägt die Logik als die Lehre von den „mannigfaltigen Formen von Urteils- und Erkenntnisgebilden" (ebd. 37), die sie mit Hilfe ihrer beiden Disziplinen analysiert. Ihre subjektive Seite hingegen richtet sich auf die rationalen Verhaltensweisen des auffassenden Subjekts, in denen solche Urteils- und Erkenntnisgebilde sich konstituieren, also auf jene „tief verborgenen subjektiven Formen, in denen die theoretische 'Vernunft' ihre Leistungen zustande bringt" (ebd. 38). „Eine Logik als rationale Wissenschaft von der Objektivität überhaupt", so meint Husserl daher, „hätte als notwendiges Gegenstück eine Logik des Erkennens, eine Wissenschaft, und vielleicht auch eine rationale Wissenschaft von der Erkenntnissubjektivität überhaupt; beide Wissenschaften ... ständen im Verhältnis notwendiger Korrelation. Das Wort 'Logik' würde insofern passen, als Logos nicht nur in der objektiven Hinsicht das Erkannte, die Aussagebedeutung, den wahren Begriff u. dgl. andeutet, sondern auch Vernunft, und so die subjektive, erkenntnismäßige Seite." (Hua VII, 45) Dies eben ist das Thema der transzendentalen Logik: „die in lebendigem Vollzug ver-
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laufende Intentionalität, in der jene objektiven Gebilde ihren 'Ursprung' haben" (Hua XVII, 38). 3 Wie konstituieren sich diese Gebilde, die den Sinn von an sich seienden idealen Objektivitäten tragen, im transzendental fungierenden, sinnstiftenden Bewußtsein? Diese vernunfttheoretische Frage ist die Schlüsselfrage in Husserls Versuch einer Letztbegründung der reinen Logik als allgemeiner Wissenschaftslehre. Sie soll ihre Antwort im Rahmen transzendentalphänomenologischer Konstitutionsforschung finden. So führt das Unternehmen einer Begründung der Logik zu einer „Theorie der logischen oder wissenschaftlichen Vernunft" und damit „in das universale Problem der transzendentalen Phänomenologie" (ebd. 237f.). In dieser Hinsicht kann die „Formale und transzendentale Logik" zu Recht als Husserls wissenschaftstheoretisches Hauptwerk gelten. Vor diesem Hintergrund muß auch der vorliegende Text aus dem Jahre 1912 betrachtet werden. Handel~ es sich bei der Problematik der Grundlegung der Logik als Wissenschaftslehre (die sich wie ein roter Faden von den „Logischen Untersuchungen" über die „Formale und transzendentale Logik" bis hin zum posthum erschienenen Buch über „Erfahrung und Urteil" 4 durch das Werk Husserls zieht) sozusagen um eine wissenschaftstheoretische Hauptsache, so finden wir in dem hier wiedergegebenen sogenannten dritten Buch der „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie" 5 die wissen3Daß die Ursprungsforschung hinsichtlich der logischen Begriffe sich mit deren „phänomenologischem Ursprong" zu beschäftigen hat, steht bereits in der 2. Auflage der „Prolegomena" von 1913, wogegen in der 1. Auflage von 1900 noch von „logischem Urspntng" die Rede war (vgl. Hua XVIII, 246). Der entscheidende Schritt zur transzendentalen Vertiefung des Begründungsgedankens ist hier antizipiert. · 4 Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hrsg. v. Ludwig Landgrebe, Prag 1936. Vierte, mit Nachwort und Register von Lothar Eley ergänzte Auflage, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1972, sechste Auflage 1985 (PhB 280). s Das erste Buch der „Ideen ... "·liegt als Band III, das zweite Buch als Band IV der Husserliana-Ausgabe vor. Im folgenden werden diese drei Bücher stets als „Ideen I", „Ideen II" und „Ideen III" zitiert.
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schaftstheoretischen Fragen unter einem anderen Aspekt behandelt. Es geht hier nicht um eine Begründung der Logik als oberste Prinzipienwissenschaft, sondern um die Probleme der Grundlegungjener weiteren großen Wissenschaftsgruppen, die Husserl unter den Titeln Naturwissenschaft, Psychologie und Geisteswissenschaft zusammenfaßt (vgl. Hua 111/1, 355). Die Erörterung bewegt sich somit auf einer weniger prinzipiellen, wenngleich für Husserl nicht weniger wichtigen Ebene. Die wissenschaftstheoretische Funktion der philosophischen Begründung der Logik ergibt sich aus dem Verhältnis von Logik und Einzelwissenschaft: „Fürs Erste ist es selbstverständlich, daß eine Erfahrungswissenschaft, wo immer sie mittelbare Begründungen von Urteilen vollzieht, den formalen Prinzipien gemäß verfahren muß, die die formale Logik behandelt. überhaupt muß sie, da sie wie jede Wissenschaft auf Gegenstände gerichtet ist, an die Gesetze gebunden sein, die zum Wesen der Gegenständlichkeit überhaupt gehören. Damit tritt sie zu dem Komplex formalontologischer Disziplinen in Beziehung" (ebd. 22f.). Hinzu kommt aber „fürs Zweite, daß jede Tatsache einen materialen Wesensbestand einschließt und jede zu den darin beschlossenen reinen Wesen gehörige eidetische Wahrheit ein Gesetz abgeben muß, an das die gegebene faktische Einzelheit, wie jede mögliche überhaupt, gebunden ist" (ebd. 23). Diese wichtige Erweiterung der wissenschaftstheoretischen Problematik um die Frage nach „wesentlichen Demarkationen" von ontischen Gegenstandsregionen wird von Husserl zum ersten Mal in der Vorlesung „Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie" im Wintersemester 1906/07 vorgenommen. 6 Jede konkrete Gegenständlichkeit, so wird dann ausführlich in den Anfangsparagraphen der „Ideen I" entwickelt, ordnet sich mit ihren materialen Bestimmungen einer wesensmäßig identifizierbaren Gegenstands-Region 6Vgl. Hua XXIV, bes. §§ 23 und 24 sowie eine persönliche Aufzeichnung Husserls vom 6.3.1908, ebd. 448f. Siehe auch die Einleitung des Herausgebers Ulrich Melle zu dieser Vorlesung, bes. S. XXV bis XXIX.
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ein. Deren Analyse ist Aufgabe von regionalen eidetischen Wissenschaften bzw. regionalen Ontologien. „Demnach wird also jede sich dem Umfange einer Region einordnende empirische Wissenschaft, wie auf die formalen, so auf die regionalen ontologischen Disziplinen wesentlich bezogen sein. Wir können das auch so ausdrücken: Jede Tatsachenwissenschaft (Erfahrungswissenschaft) hat wesentliche theoretische Fundamente in eidetischen Ontologien." (Ebd.) Das Verhältnis dieser regionalen Ontologien zur phänomenologischen Philosophie, das Problem ihrer Unterteilung und die Darstellung ihrer wissenschaftstheoretischen Funktion - dies sind die Themen der „Ideen III". Im Rahmen des Programmes der phänomenologischen Wissenschaftslehre liegen sie systematisch damit auf einer sekundären Ebene gegenüber den diversen Ausführungen zur Logik. Denn die philosophischen „Besinnungen, auf möglichen Sinn und mögliche Methode echter Wissenschaft überhaupt gehend, sind natürlich in erster Linie auf das allen möglichen Wissenschaften wesensmäßig Gemeinsame gerichtet". Sie gelten daher zuerst den universal applizierbaren Gesetzen formaler Apophantik und formaler Ontologie. Erst „in zweiter Linie hätten ihnen entsprechende Besinnungen für besondere Wissenschaftsgruppen und Einzelwissenschaften zu folgen" (Hua XVII, 10). An eben dieser zweiten Linie orientieren sich zunächst die Ausführungen der „Ideen 111". II
Der Text der „Ideen III" ist als Band V der Gesammelten Werke Husserls zum ersten Mal 1952 von Marly Biemel ediert worden. Er war ursprünglich von Husserl nicht als ein eigenes Buch der „Ideen" konzipiert. Als Husserl 1913 im 1. Band des von ihm begründeten „Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung" die „Ideen 1" als „Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie" veröffentlichte, schrieb er in der Einleitung von seinem Plan, dem ersten noch ein zweites und drittes Buch folgen zu lassen. Das zweite Buch sollte demnach „einige beson-
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ders bedeutsame Problemgruppen" behandeln, „deren systematische Formulierung und typische Lösung die Vorbedingung ist, um die schwierigen Verhältnisse der_ Phänomenologie zu den physischen Naturwissenschaften, zur Psychologie und den Geisteswissenschaften, andererseits aber auch zu den sämtlichen apriorischen Wissenschaften zu wirklicher Klarheit bringen zu können" (Hua III/1, 7). Das dritte Buch sollte „der Idee der Philosophie gewidmet" sein und zeigen, wie deren „Idee absoluter Erkenntnis" „in der reinen Phänomenologie wurzelt" (ebd. 7f.). Es sollte die Idee der Phänomenologie als der „ersten aller Philosophien" grundlegend entwickeln (ebd. 8). Das zweite Buch sollte also bereits dieser Ankündigung zufolge zwei Teile beinhalten: a) systematische Untersuchungen zu bestimmten „Problemgruppen", deren Lösung die „Vorbedingung" dafür darstellt, daß dann b) das Verhältnis der Phänomenologie zu den Wissenschaften geklärt werden kann. Diese Untersuchungen, die sich an die im ersten Buch entwickelte phänomenologische Methode anschließen und die auch unmittelbar im Anschluß an das erste Buch geschrieben wurden, betreffen im Manuskript zum zweiten Buch die Probleme der Konstitution der Gegenständlichkeiten im Bewußtsein. Husserl brachte dieses Manuskript jedoch, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, nicht zur Veröffentlichung. Dafür arbeitete er es in den Jahren von 1912 bis 1928 immer wieder um. Das Konstitutionsproblem wurde zu einem langjährigen Forschungsthema und kam nie zu einer wirklich befriedigenden Lösung. 7 Die betreffenden Analysen nahmen auf diese Weise einen Alfred Schütz berichtet, hat Husserl 1934 ihm gegenüber geäußert, daß er von einer Veröffentlichung der „Ideen 11" vor allem deswegen abgesehen hätte, weil das Manko einer nur mangelhaft ausgearbeiteten Intersubjektivitätstheorie die Untersuchungen insbesondere hinsichtlich der Analysen zur „Konstitution der geistigen Welt", die den 3. Abschnitt des zweiten Buches ausmachen, an einem wesentlichen Punkte unvollkommen ließ. Vgl. A. Schütz, Edmund Husserls „Ideen", Band II, in: Gesammelte Aufsätze Bd. III, Den Haag 1971, 47-73, bes. 49. Schütz zählt darüber hinaus jedoch noch eine Reihe weiterer Aporien dieses Buches auf. 7 Wie
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weit größeren Umfang an, als zunächst vorgesehen, so daß schließlich die Frage des Verhältnisses von Phänomenologie und Einzelwissenschaften nicht mehr im Rahmen des zweiten Buches unterzubringen war und ihr so schließlich ein eigenes, drittes Buch gewidmet wurde. Die „Idee der Philosophie" bzw. der „Phänomenologie als erste Philosophie"8, das Thema des zunächst geplanten dritten Buches, ist dagegen zu dieser Zeit (um 1912/13) noch gar nicht zur Ausführung gekommen. Das Projekt wurde von Husserl jedoch weiter verfolgt und schließlich in einer Vorlesung vom Wintersemester 1923/24 unter dem Titel „Erste Philosophie" ausgearbeitet. 9 Liest man nun also im Text der „Ideen III" vom Verhältnis der Phänomenologie zu den Wissenschaften und ihren theoretischen Fundamenten, so hat man sich zu vergegenwärtigen, daß es sich hierbei um Untersuchungen handelt, deren notwendige „Vorbedingungen" bereits an anderer Stelle, nämlich in den konstitutionstheoretischen Analysen der „Ideen II", geklärt sein sollen und deren methodischer Ansatz sich von den Ausführungen der „Ideen I" herleitet. Wenn daher schon im ersten Kapitel ohne weiteres von einer „Fundamentalunterscheidung" ( 3) zwischen verschiedenen Realitätsebenen die Rede sein kann, so deshalb, weil die Studien der beiden ersten Bücher hier vorausgesetzt sind. Die Thematik, die hier auftaucht, ist also keine neue. Bereits im ersten Kapitel des ersten Buches der „Ideen", das den Titel „Tatsache und Wesen" trägt, entwickelt Husserl seine Lehre von der formalen und den eidetisch-regionalen Ontologien. Jeder Wissenschaft als Erfahrungswissenschaft „von der Welt", so heißt es hier, „entspricht ein Gegen8Vgl. eine entsprechende Randbemerkung in Husserls Handexemplar der „Ideen I", Hua 111/2, 479. 9Das Manuskript dieser Vorlesung ist von Rudolph Boehm 1956 und 1959 als Haupttext der Husserliana-Bände VII und VIII ediert worden. - Zur Genese des Textes des zweiten Buches der „Ideen", das 1952 als Bd. IV der Husserliana-Ausgabe mit dem Titel „Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution" herausgegeben worden ist, vgl. die Einleitung: Hua IV, S. XIII-XX.
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standsgebiet als Domäne ihrer Forschungen, und allen ihren Erkenntnissen, d.h. hier richtigen Aussagen, entsprechen als Urquellen der rechtausweisenden Begründung gewisse An· schauungen, in denen Gegenstände des Gebietes zur Selbst· gegebenheit und mindestens partiell zu originärer Gegeben· heit kommen" (Hua 111/1, lOf.). Der Typenvielfalt von Erfahrungswirklichkeiten korreliert eine Mannigfaltigkeit be· wußtseinsmäßiger Gegebenheitsformen, Auffassungs· oder Anschauungsweisen. In deren schlechthinniger Unterscheid· barkeit gründet nach Husserl das Recht der Differenzierung wissenschaftlicher Disziplinen überhaupt und ihrer Klassifizierung in exemplarische Wissenschaftsgruppen. Typischen Erfahrungsgegenständen korrelieren typische Erfahrungsformen (vgl. 25). So haben sich die Erfahrungswissenschaften stets „an den eigenen Sinn des Erfahrenen" zu binden (3). Nur von hierher sind sie methodisch disziplinierbar, da die Bindung an die Prinzipien der formalen Logik allein nicht ausreichend ist. Diverse Forschungsklassen sind daher stets umgrenzt durch eine „Grundform der Erfahrung und Erfahrungsgegenständlichkeit" (12). Ihr Sinn „steht in wesentlicher Beziehung zum Sinn der Gegenständlichkeit, auf die Wissenschaft sich bezieht" (Hua VIII, 321). Einen wichtigen Aspekt zur Klärung des Sinnes einer Erfahrungswissenschaft liefern daher theoretische Untersuchungen zum Gegenstandsgebiet, auf das sie thematisch ausgerichtet ist. Die Disziplin, die die ontische Struktur einer solchen Gegenstandsregion, d.h. die kategorialen Grundsätze der Verknüpfungsrelationen ihrer Gegenstände bestimmen kann, ist die eidetisch-regionale Ontologie. Sie hat die Grenzen eines regionalen Gegenstandsbereiches in unbedingter Allgemeinheit (a priori) zu formulieren und damit zugleich die wesentlichen Strukturen eines Gegenstandes, der dieser Region angehört, zu .definieren (vgl.
27-39). Die Ontologien oder „Wesenswissenschaften" sind den entsprechenden Erfahrungswissenschaften (oder „Tatsachenwissenschaften ") theoretisch vorgeschaltet (44f.; vgl. Hua III/l, 20-23), so der physikalischen Naturwissenschaft als Wissenschaft von den materiellen Naturdingen die Geo-
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metrie, insofern es ein Wesensmonent der materiellen Dinglichkeit ist, res extensa zu sein, aber auch die Phoronomie oder Kinematik als reine Bewegungslehre (vgl. 38f., 44; auch Hua 111/1, 24). Wo aber hat hier die Phänomenologie ihren Ort? Ist sie selbst von der Art der rationalen Ontologien, oder liefert sie einen neuen, tiefer gelegenen Aspekt wissenschaftstheoretischer Klärung? Gewiß ist die Phänomenologie der Hauptsache nach keine Ontologie, und sie ist auch keine Konkurrenzdisziplin. Denn ihr Interesse ist nicht ontologisch, sondern geht auf das korrelative Verhältnis von Erfahrungsform und Erfahrungsgegenständlichkeit. Die rechtausweisende Begründung wissenschaftlicher Urteile kann nur aus den „Urquellen" der Erfahrung, des originär gebenden Bewußtseins, wo sich die 'Gegenstände' ursprünglich zeigen, gewonnen werden. Deshalb ist es die Aufgabe der Phänomenologie, die im Wesen der noetisch-noematischen Strukturen des sinngebenden Bewußtseins gründenden kardinalen Scheidungen nach Grundarten ursprünglicher Erfahrung „systematisch aufzusuchen und wissenschaftlich zu beschreiben". „Jeder solchen Grundart entspricht offenbar ein regionaler Begriff, der die Sinnesform der jeweiligen Grundart gebender Anschauung umgrenzt, und entspricht in weiterer Folge eine Gegenstandsregion, alle Gegenstände umspannend, denen dieser Sinn zugeeignet ist." (38) Ein solcher regionaler Begriff, z.B. 'Ding überhaupt', ist als eine Art regionales Apriori anzusehen, dessen phänomenologisch (nach der Grundart der ihm entsprechenden Anschauung) aufklärbarer Sinn die Bedingungen der Konstitution eines zur jeweiligen Region gehörigen Gegenstandes umfaßt. Ein solches konstitutives „Apriori im Sinne der Region ist der Quellpunkt der Ontologien" (ebd.). Die konstitutionstheoretischen Analysen zu den Gegenstandsgebieten der drei Wissenschaftsgruppen Naturwissenschaft, Psychologie und Geisteswissenschaft sind nun, wenn auch fragmentarisch, insbesondere was den an dritter Stelle genannten Wissenschaftstyp betrifft, im zweiten Buch der „Ideen" vorgenommen. Hier findet sich eine entsprechende Einteilung in die Abschnitte 1. Die Konstitution
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der materiellen Natur (Hua IV, 1-90), 2. Die Konstitution der animalischen Natur (90-172) und 3. Die Konstitution der geistigen Welt ( 172-302). Diese UnteJ"suchungen sollen jene „Vorbedingungen" liefern, auf deren Boden dann erst das Verhältnis der Phänomenologie zu den Erfahrungswissenschaften und ihren apriorischen Fundamenten geklärt werden kann, so jedenfalls lautet das Konzept in den „Ideen I" (Hua III/1, 7). Aber vermittelt der Aufbau der „Ideen II" nun nicht den Eindruck, als würden hier die Disziplinenunterteilung der Wissenschaften und die ontologischen Unterscheidungen von entsprechenden Gegenstandsregionen (nach Natur, Seele und Geist) ohne weiteres vorausgesetzt? Auch wenn dieser Eindruck richtig ist, so können doch die „Ideen III" zeigen, inwiefern diese Voraussetzung phänomenologisch dennoch legitim ist, indem sie das Verhältnis von Phänomenologie und Ontologie (und damit das Verhältnis von Phänomenologie und Erfahrungswissenschaft) als ein nachträgliches Verhältnis der Begründung beschreiben, und zwar in zwei Stufen, sowohl für die Phänomenologie als eidetische wie auch als transzendentale Disziplin. Die eidetische Phänomenologie ist zunächst selbst eine rationale Wesenslehre der Erlebnisse und Bewußtseinszustände (73, 47). Als solche ist sie ein Teil der rationalen Psychologie. Als Wesenswissenschaft vom Bewußtsein vermag sie der empirisch-experimentellen Psychologie (als Wissenschaft von den „Tatsachen" der menschlichen Seele) das theoretische Fundament zu schaffen, analog wie Mathematik, Geometrie, Kinematik die theoretische Basis der Naturwissenschaften, z.B. der Physik bilden (vgl. 51). Dennoch ist sie nicht eine apriorische Wissenschaft von der gleichen Art, wie die genannten. Vielmehr hebt sie diese begründungstheoretisch in sich auf. Denn insofern Erlebnis und Erlebnisgegenstand stets in einem Korrelatverhältnis zueinander stehen 10 , impliziert die Wesensforschung der 10 Vgl.
a..zu die Ausführungen zur noetisch-noematischen Struktur des intentionalen Bewußtseins in den „Ideen I", Hua 111/1, §§ 84 bis 86 und bes.§§ 87ff.
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Erlebnisse die Wesensanalysen all ihrer möglichen Gegenständlichkeiten, also auch der apriorischen Gegenstände der übrigen Ontologien. Auf diese Weise „verschlingt" die rationale Phänomenologie als eidetische Disziplin, dies „Stück rationaler Ontologie der Seele", alle anderen Ontologien (73ff„ 77). Das dabei angesprochene Verhältnis von eidetischer Phänomenologie und rationaler Psychologie, das fast bis zur Identifizierbarkeit zu reichen scheint, birgt nun jedoch jene Gefahr in sich, die Husserl seit jeher gefürchtet hatte: das Mißverständnis einer Verwechslung der Phänomenologie mit der Psychologie. „Selbstverständlich genug scheint es ja. Ist denn Bewußtsein etwas anderes als Psychisches, und ist Psychologie etwas anderes als Wissenschaft vom Psychischen?" „Also haben wir den schönsten 'Psychomonismus'. Die Psychologie umfaßt alle Wissenschaften." (75f.) Wo aber die Idee einer radikalen Wissenschaftslehre sich in die „Technologie und Methodologie fertiger Wissenschaft", wie die der Psychologie, aufzulösen droht, wird der Transzendentalismus wieder verabschiedet. Denn keine Form von Wissenschaft darf vorausgesetzt werden, wenn es darum geht, sich philosophisch des möglichen Rechtssinns von Wissenschaft überhaupt erst versichern zu wollen (vgl. Hua IX, 365, 373). Selbst diejenige Form der Psychologie, die Husserl in den „Ideen III" als streng rationale Disziplin anspricht, und die er später, z.B. in seinen Vorlesungen zur „Ersten Philosophie" (1923/24) und zur „Phänomenologischen Psychologie" (1925 ), als intentionale oder „neue" Psychologie ausführlich zu entwickeln sucht, trägt noch keineswegs einen spezifisch philosophischen Charakter, auch wenn sie aufgrund einer ausdrücklich eidetischen und prinzipienwissenschaftlichen Ausrichtung nicht dem Gespenst des Psychologismus verfallen soll, das Husserl seit der Zeit der „Logischen Untersuchungen" zu vertreiben gesucht hatte. Denn nach wie vor eignet ihr, wie auch jeder anderen Ontologie, der Sinn einer „dogmatischen Wissenschaft" (82; vgl. Hua IX, bes. § 4). Aber sie ist immerhin apriorischen Charakters, und in dieser Hinsicht hat sie, ebenfalls wie alle anderen Ontologien, eine Art 'Schamierfunktion'
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für Husserl: Sie kann einen „natürlichen Ausgangspunkt zum Aufstieg in eine transzendentale Phänomenologie und Philosophie überhaupt" bieten (Hua IX, 4 7). Die intentionale Psychologie bietet einen „Weg in die phänomenologische Transzendentalphilosophie" an, den Husserl dann noch einmal ausführlich in seinem letzten Werk, „Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie", beschreibt (Hua VI, 194ff.). Auch der Weg von den Realitätsschichten und den ihnen zugeordneten Wissenschaften und apriorischen Ontologien, über die „Ontologie der Seele" bis hin zur transzendentalen Phänomenologie wird in den „Ideen III" schon angesprochen. Für die Belange der Darstellung kommt es „zunächst", nämlich für die ersten beiden Kapitel, nicht darauf an, „Wesenslehre der Bewußtseinszustände von transzendentaler Phänomenologie" zu trennen (47). Zur Idee der Phänomenologie gelangt man über die Idee der rationalen Psychologie. Aber in dem Augenblick, wo im Begründungsgang jener vermeintliche „Psychomonismus" hervortritt, wird es dann „für die Philosophie von kardinaler Wichtigkeit, sich zur Erkenntnis zu erheben, daß zwischen Eidetik der Bewußtseinszustände ... und Eidetik des transzendental gereinigten Bewußtseins (oder Erlebnis-Seins) geschieden werden muß" (77). Und so hebt denn das 3. Kapitel mit dem Vollzug der transzendentalphänomenologischen Reduktion an. Die eidetische Einstellung der Ontologien führt das Forschungsinteresse über das faktische Dasein der Gegenstände der Erfahrungswissenschaften hinaus auf deren wesensmäßige Strukturen. 11 Aber auch die idealen Gegenstände der Ontologien sind als wahrhaft seiend angenommen, wenngleich „in eidetischer Wahrheit seiend und nicht in der Erfahrungswelt seiend". Auch die eidetischen Wissenschaften gehen auf Seiendes (84f.). Das macht ihren dogmatischen 11 Zur Methode der eidetischen Reduktion oder ideierenden Abstraktion vgl. 30ff. Siehe auch Hua IX, 72ff., sowie „Erfahrung und Urteil", a.a.O., 409ff. Ausdrücklich bedient sich dieser Methode, so Husserl, nur die eidetische Phänomenologie, wogegen die eidetischen Ontologien sich ihres eidetischen Charakters methodisch-reflexiv gar nich_t im klaren sind (62).
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Charakter aus. In ihrer Annahme, daß es ihnen um die Analyse vorgegebener Wahrheiten und Wirklichkeiten geht, unterscheiden sie sich nicht von den Erfahrungswissenschaften. Die eigentliche Frage der phänomenologischen Philosophie, wie solche Urteile über die Welt, wissenschaftliche „Existentialurteile", und seien sie auch eidetischer Art, möglich sind (wie also Wissenschaft möglich ist), ist damit nicht beantwortet. Diese Frage lautet eben nicht, wie mögliche Erfahrungsgegenstände überhaupt sind, sondern wie sie sich als Korrelate bewußtseinsmäßiger Auffassung in ursprünglicher Anschauung bekunden. Denn nur die „originär gebende Anschauung" ist als „Rechtsquelle der Erkenntnis" zuzulassen, nur von hierher kann sich die Gültigkeit der Gegenstandskonstitution ausweisen (Hua IIl/l, § 24: Das Prinzip aller Prinzipien). Die phänomenologische Epoche sieht daher methodisch vom Sein der Auffassungsgegenstände ab und fragt nurmehr nach dem Wie ihres Vermeintseins (86f.). Nur aus diesen Urquellen aller Erfahrung läßt sich ihr Recht, etwas als wahr- oder wirklichseiend zu bestimmen, begründen. Derart steht die transzendentale Phänomenologie also auch zu den apriorischen Ontologien in einem Begründungsverhältnis. Allerdings bilden „die Grundbegriffe und Grundsätze der Ontologien ... die notwendigen 'Leitfäden' für eine universale Phänomenologie in der höheren Stufe einer Phänomenologie der Vernunft bzw. für den systematischen Entwurf der konstitutiven Problematik" (Hua VII, 187 Anm. l; vgl. Hua III/1, §§ 149ff.). Das eigentliche Arbeitsfeld der Phänomenologie liegt zwar tiefer, nämlich auf der Ebene der Konstitutionsproblematik, jedoch sind die ontologischen Grundbegriffe, ja in gewisser Weise sogar die Grundbegriffe der Erfahrungswissenschaften, als „Leitfäden" in Anspruch zu nehmen, die auf diese Ebene zurückführen. So sind z.B. die „Grundbegriffe der empirischen Physik, Grundbegriffe im prägnantesten Sinne von prinzipiellen Begriffen, ... nichts anderes als die Leitbegriffe der Ontologie der Natur oder der rationalen Physik ... Dem Transzendentalphilosophen dienen sie, wenn wir anneh-
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men, daß eine Ontologie naiv-dogmatisch ausgebildet vorliegt, als transzendentale Leitfäden." „So stehen also Phänomenologie und Ontologie in einer Art Bundesgenossenschaft." (Hua XI, 221f.) Dieses Verhältnis erklärt nun auch den Ansatz der „Ideen 11" als durchaus 'kritisch' und daher legitim, obwohl die Untersuchungen zur Konstitution sich offenbar am Schema einer ungeprüft übernommenen Wissenschaftsklassifikation ausrichten. Denn die 'Kritik' hat zur Voraussetzung, daß ein faktischer Sachverhalt vorliegt, an den die philosophische Frage sich wendet, ein Faktum, das seiner Bedeutung und Geltung nach von der Philosophie nicht zu erschaffen ist, sondern vorgefunden werden muß, um sodann auf die 'Bedingungen seiner Möglichkeiten' hin untersucht werden zu können. So kann das genannte Schema in der Tat vorausgesetzt werden, ohne daß deshalb das Verhältnis der Begründung umgekehrt würde, wie Husserl schon am Schluß der „Ideen 1" betont: „Ausdrücklich muß aber bemerkt werden, daß in diesen Zusammenhängen zwischen konstitutiven Phänomenologien und den entsprechenden formalen und materialen Ontologien nichts von einer Begründung der ersteren durch die letzteren liegt. Der Phänomenologe urteilt nicht ontologisch, wenn er einen ontologischen Begriff oder Satz als Index für konstitutive Wesenszusammenhänge erkennt, wenn er in ihm einen Leitfaden sieht für intuitive Aufweisungen, die ihr Recht und ihre Geltung rein in sich selbst tragen." (Hua III/1, 359) Die Ontologien stellen in ihrer wesensanalytischen Art lediglich exemplarisches Material für die Konstitu tionsforschung zur Verfügung. Ihre Ergebnisse sind daher vor allem als „Indices für noematische Zusammenhänge, mit denen sie freilich wesensgesetzlich verknüpft sind", zu verstehen (94, vgl. 79), oder, wie es später in den „Cartesianischen Meditationen" (1931) noch heißt, als „Indices transzendentaler Systeme von Evidenzen", d.h. konstitutionstheoretisch als Titel für Strukturunterschiede „innerhalb der unendlichen Mannigfaltigkeiten von wirklichen und möglichen cogitationes" (Hua 1, 97). Die einschlägigen Untersuchungen hierzu sind nicht ontologischer Art, da es sich nunmehr um den Aufweis der
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transzendentalen Bedingungen der Rechtmäßigkeit solcher Strukturscheidungen handelt. So liefern die Ontologien einerseits „eine unbedingte Norm für alles, was mögliche Erkenntnis der ... Tatsachenwissenschaften je bieten kann" (25), andererseits aber führen sie, sofern sie Konstitutionsverhältnisse (auf ihre Weise noch immer naiv-dogmatisch) in Anspruch nehmen, über sich selbst hinaus und auf den Weg in die transzendentale Phänomenologie. Denn „ vollständig" ausgeführt, müßten sie, wie Husserl schließlich meint, „von selbst und in prinzipieller Notwendigkeit zur Einsicht (kommen), daß Sachenwelt und Subjektivität nicht zufällig zusammenkommen ... , vielmehr daß Welt nur denkbar ist, a priori, als Bestimmung zu der ihr korrelierenden Subjektivität, und zwar eine Bestimmung aus eigener konstitutiver Leistung" (Hua VIII, 215 ). Die Ontologien als Wissenschaften von den regionalen Aprioris erweisen sich zuletzt als Teilaspekte einer universalen Wissenschaft vom Apriori einer möglichen Welt überhaupt, ihre apriorischen Ergebnisse als „Einseitigkeiten" des universalen Apriori der Korrelation (vgl. ebd. 215, 218, 224). Derart universal verstanden wären die Ontologien schließlich „Stücke" (74) der einen Transzendentalphilosophie - diese hebt jene in sich auf. 12 Das aber muß notwendig geschehen, denn erst im Hinblick auf diese wesensmäßigen Korrelationsbestimmungen erhalten die Ontologien überhaupt einen philosophischen Sinn. 13 Diese Feststellungen, die Husserl über Jahre hinaus immer ausführlicher zu formulieren weiß, gehen dann freilich über wissenschaftstheoretische Problemstellungen im engeren Sinne hinaus. Denn wenn es stimmt, daß alle wissenschaftstheoretische Reflexion zuletzt in der konstitutionstheoretischen Reflexion darauf terminieren muß, wie überhaupt et12Vgl. Husserls Abhandlung über die „Idee der vollen Ontologie" (ca. 1924) in Hua VIII, 212-218. Vgl. 224: „Es kann keine selbstän-
digen Wissenschaften geben." 13Vgl. Ludwig Landgrebe, Seinsregionen und regionale Ontologien in Husserls Phänomenologie (1956), in: ders., Der Weg der Phänomenologie. Das Problem einer ursprünglichen Erfahrung, Gütersloh 1963, 143-162, bes. 146f.
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was als etwas für das Bewußtsein zur Gegebenheit kommt, so wird damit die Frage nach dem spezifischen Sinn wissenschaftlicher Welterfahrung in die generelle Analyse universeller Welterfahrung schlechthin aufgehoben. Wissenschaft nimmt darin schließlich den nurmehr epistemologisch auszuweisenden Rang einer eigentümlich motivierten menschlichen Orientierungsform neben anderen ein. Entsprechend scheint damit die Frage nach dem ontologischen Fundament der wissenschaftlichen Welterkenntnis als solcher gleichsam en passant erledigt: Es ist dies die immer schon vorliegende und keineswegs erst durch eidetische Abstraktion zu gewinnende, meistenteils passiv konstituierte Welt der natürlich-alltäglichen Erfahrung, die in Busserls Spätwerk als „Lebenswelt" thematisch wird: als „ständiger Geltungsboden" aller Erfahrung - und damit auch der wissenschaftlichen.14 Daß hier ein fundierendes Verhältnis zwischen vorwissenschaftlicher und wissenschaftlicher Erfahrung vorliegt, hat Busserl später im Rahmen seines Programmes einer „Wissenschaft von der Lebenswelt" zu zeigen versucht: „Um nun eine ernstliche Wissenschaftstheorie bzw. Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis .•. zustandezubringen, ist ... vor allem eine neuartige wissenschaftliche Forschung nötig, bezogen auf die pure vorwissenschaftliche ... Lebenswelt: die Erforschung der ihr eigenen Seinsweise und der ihr wesenseigenen Formstruktur, als des in all ihrem Wandel, in all ihrer Relativität und Bezogenheit auf mögliche erkennende Menschheit apodiktisch Invarianten." (Bua VI, 398f., vgl. 126ff.) Als Eidetik der lebensweltlichen „Wesenstypik" handelt es sich dabei zunächst um die Erstellung einer „Ontologie der Lebenswelt" in natürlicher Einstellung, die dann freilich wieder als Ausgang, als transzendentaler Leitfaden für die höherstufige Korrelationsfor14 Hua VI, 124.
Vgl. den Sammelband von Elisabeth Ströker (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Busserls, Frankfurt a.M. 1979. Zum Stand der Husserlschen Forschungen zu diesem Thema Lebenswelt während der Abfassung der „Ideen" vgl. Manfred Sommer, Husserls Göttinger Lebenswelt, Einleitung zu: E. Husserl, Die Konstitution der geistigen Welt, hrsg. v. M. Sommer, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1984 (PhB 369), S. IX-XLIV.
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schung dienen kann (Bua VI, l 76f.). Beide Stufen der Lebensweltwissenschaft sind bei Busserl jedoch weitgehend Programm geblieben. 15 Die Bedeutung der Ideen 111" muß wohl vor allem darin gesehen werden, daß Busserl hier in kürzester Form, jedoch systematisch nicht recht durchgearbeitet, zwei von drei möglichen Wegen zur transzendentalphänomenologischen Reduktion bzw. in die transzendentale Phänomenologie andeutet: den Weg über die intentionale Psychologie und den Weg über die Wissenschaften bzw. über die Ontologien. Zur Zeit der Abfassung der „Ideen" hatte er literarisch frei.. lieh erst einen (dritten) Weg wirklich zu gehen versucht: den sogenannten cartesianischen Weg in den „Ideen 1", wenngleich mit zweifelhaftem Erfolg, wie er später selbst kritisiert (vgl. Bua VI, 157f.). Den Weg über die intentionale Psychologie hat Busserl systematisch dagegen erstmals in den Vorlesungen „Erste Philosophie" (WS 1923/24) und „Phänomenologische Psychologie" (SS 1925 u. 1928) ausgearbeitet und bis hin zum „Krisis"-Buch ( 1936) verfolgt. Den über die Wissenschaften und Ontologien hat er wohl schon seit 1907, in den fünf Vorlesungen zur „Idee der Phänomenologie" im Auge (vgl. Bua II, 1. Vorlesung, 17 ff.), und er entwickelt ihn stetig, in den „Ideen", der „F ormalen und transzendentalen Logik" bis hin zur fundamentalsten Form dieses Weges über eine „Ontologie der Lebenswelt", ebenfalls im „Krisis"-Werk. 16
1s Einen Aspekt der Anwendung dieses Programmes auf die wissenschaftstheoretische Problemstellung der „Formalen und transzendentalen Logik" stellt allerdings der in „Erfahrung und Urteil" posthum veröffentlichte Versuch dar, den Kern der apophantischen Logik, das prädikative Urteil, in der vorprädikativen Urteilssphäre zu fundieren. 16Vgl. Iso Kern, Die drei Wege zur transzendentalphänomenologischen Reduktion in der Philosophie Edmund Husserls, in: Tijdschrift voor Filosofie 24 (1962), 303-349. Vgl. auch Elisabeth Ströker, Husserls letzter Weg zur Transzendentalphilosophie im Krisis-Werk, in: Ztschr. f. philos. Forschung 35 (1981), 165-183.
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Im Hinblick auf diesen letzten Versuch zur „Ontologie der Lebenswelt" klärt sich nun obendrein ein weiteres Problem der „Ideen III", das sich bei ihrer Lektüre zusehends aufdrängt. Analog zur Klassifizierung der Wissenschaftsgruppen in den „Ideen I" (Naturwissenschaft, Psychologie, Geisteswissenschaft) beschäftigt sich das zweite Buch in drei Abschnitten mit den konstitutiven Problemen von Natur, Seele und Geist. Im dritten Buch finden sich dagegen wissenschaftstheoretische Stellungnahmen lediglich zu den ersten beiden Themen. Von den Geisteswissenschaften jedoch ist nirgends die Rede, geschweige denn von einem Begründungsverhältnis der Phänomenologie zu ihnen. (Nur an zwei Stellen werden diesbezüglich Andeutungen gemacht:
26, 75.) Dieser Mangel erklärt sich vornehmlich von der komplizierten Entstehungsgeschichte der „Ideen 11" her. Die jetzt vorliegende Einteilung in drei Abschnitte kam erst l 9~18/19 durch Edith Steins „Ausarbeitung" der Manuskripte zustande. Es sieht aber so aus, als ob das Hauptmanuskript zum dritten Abschnitt zunächst gar nicht für das zweite Buch vorgesehen war, sondern erst nachträglich und unter erheblichen Zuordnungsproblemen in den Gesamtplan eingeordnet wurde. 17 Insbesondere die Schwierigkeiten mit diesem Teil über die „geistige Welt" ließen Husserl dann auch von einer Veröffentlichung absehen. 18 Aber erst nach dieser Einfügung kann man im dritten Buch, dessen Manuskript seit 1912 so gut wie nicht verändert worden ist, eine Thematisierung des Problems der Geisteswissenschaften sozusagen aus architektonischen Gründen vermissen. Und tatsächlich heben die wissenschaftstheoretischen Untersuchungen zum gegenständlichen Thema der Geisteswissenschaften, nämlich zu der in personalistischer Einstellung konstituierten Lebenswelt, in erfolgversorechender Weise erst mit dem Versuch einer „Ontologie der Lebenswelt" an. Wenn 17 Dazu
Manfred Sommer, a.a.O., S. XXIV-XXVII. Vgl. auch die Ausführungen zur Textgestaltung des zweiten Buches von Marly Biemel: Hua IV, 397-401. 18 S.o. Anm. 7.
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man also will, so kann man sich die „Ideen III" um eine Stellungnahme zu einer solchen Ontologie erweitert denken und so wenigstens formal die Korrespondenz der drei Bücher der „Ideen" nachträglich konstruieren. Aber das wäre natürlich ein unzulässiger Gewaltakt, der die Bedeutung der kontinuierlichen Entwicklung des Husserlschen Denkens ignorieren würde. Die Ausbildung des Lebenswelt-Begriffs der späten Jahre (und eines entsprechenden Wissenschaftsprogrammes) war eben erst eine Konsequenz, die u. a. von den Schwierigkeiten mit dem Begriff der „geistigen" oder „personalen Welt" im zweiten Buch herrührte. 19 Und solange der Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften konstitutiv nicht befriedigend geklärt war, war jene „Vorbedingung" eben nicht erfüllt, von der im ersten Buch die Rede ist (Hua 111/1, 7), um das Verhältnis der Phänomenologie zu diesem Wissenschaftstyp analysieren zu können. Man muß sich also im Hinblick auf das Gesamtwerk Husserls vergegenwärtigen, daß die „Ideen III" Ausdruck eines gewiß in vielfacher Hinsicht noch unfertigen Denkens sind. Auch handeln sie nur von einem Teilaspekt der phänomenologischen Wissenschaftstheorie, weil von den formallogischen Problemen ganz abgesehen wird. Aber selbst wenn das Buch von 1912 schließlich auch im Lichte der späten Lebensweltproblematik als weniger bedeutsam und ebenso hinsichtlich seines Bezuges zu den Ausführungen der „Ideen 11" nicht ohne Probleme erscheinen mag (wobei letzteres mehr am patchwork-Charakter des zweiten denn an Versäumnissen des dritten Buches liegt), so ist es für das wissenschaftstheoretische Anliegen, das Husserl von den Anfängen seiner Philosophie bis ins hohe Alter stets begleitet hat, gleichwohl aufschlußreich, 20 insbesondere auch deshalb, weil es zeigt, wie Husserl in den wissenschafts19Vgl. Sommer, a.a.O., S. XXXIV-XLII. 20Husserl hat sich auch m. W. nie von diesem Text distanziert. Davon zeugt allein die Tatsache, daß er noch zwischen 1925 und 1928 das Manuskript studierte (gerade auch im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der „Formalen und transzendentalen Logik"), ohne es dabei wesentlich zu verändern oder auch nur kritisch zu kommentieren.
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theoretischen Problemstellungen vor allem wieder eine Gelegenheit sieht, Sinn und Wesen seiner transzendentalen Absichten zu rechtfertigen und in die transzendentale Phänomenologie „einzuleiten". Die Phänomenologie ist eben nichts weniger als eine „fertige" „Wissenschaft von den Wissenschaften", die nur methodisch zu applizieren ist vielmehr verdeutlicht sich ihre Idee erst an den konkreten Problemen, die sich ihr stellen. III
Die „Bundesgenossenschaft" zwischen dogmatischen Wissenschaften und der kritischen Philosophie trägt daher, wird ihr Sinn richtig verstanden, für beide Seiten Früchte. Die Phänomenologie liefert eine „letztauswertende Kritik" an den positiven Wissenschaften, indem sie „die letzte Sinnesbestimmung des 'Seins' ihrer Gegenstände und die prinzipielle Klärung ihrer Methodik" aus ursprünglichen Quellen der Erfahrung leistet (Hua IIl/l, 133). Sie hat im Einzelfall zu zeigen, daß und wie das thematische Gebiet, das der theoretischen Arbeit der Wissenschaft vorgegeben ist, „nach Sinn und Sein Gebiet für die Forschenden ( ... ) aus Quellen ihrer eigenen Bewußtseinsleistung" ist (Hua XVII, 19). Das Recht der Phänomenologie, als wissenschaftliche Begründungsinstanz aufzutreten, leitet sich für Husserl aus dem apriorischen Zusammenhang von konstituiertem objektiven Sein und konstituierendem Bewußtsein ab: „In der Wesensbeziehung zwischen transzendentalem und transzendentem Sein gründen die .. ~ Beziehungen zwischen der Phänomenologie und allen anderen Wissenschaften, Beziehungen, in deren Sinn es liegt, daß der Herrschaftsbereich der Phänomenologie in gewisser merkwürdiger Weise über alle die anderen Wissenschaften sich erstreckt" (Hua IIl/l, 159). Von hier aus gewinnt auch die Idee phänomenologischer Begründung ihren eigentümlichen Charakter. Es handelt sich um eine nachträgliche Anwendung bewußt~ seinsanalytischer Forschung. Phänomenologische Wissenschaftstheorie ist daher nicht ursprüngliche Phänomenolo-
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gie, sondern Anwendung der Phänomenologie. Denn es muß unterschieden werden, was die Phänomenologie in systematischer Analyse von Bewußtsein und Bewußtseinskorrelaten leistet und was dann Anwendung der gewonnenen Ergebnisse auf die schon vorhandenen dogmatischen Wissenschaften und ihre Grundlagen bedeutet: „nämlich sie 'phänomenologisch' zu interpretieren", was nichts anderes heißen soll, als ihre mittelbaren Einsichten zu ihren objektiven Themen, ihre „Lehrsätze", in den konstituierenden Bewußtseinszusammenhang 'zurückzudeuten' (83). Wissenschaftsbegründung heißt daher nicht, aus einer wie auch immer gearteten „Prämissensphäre" heraus die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaften, d. h. ihren Objektivitätsanspruch deduktiv abzusichern. „Es gilt nicht, Objektivität zu sichern, sondern sie zu verstehen", indem sie „in die absolute Seinssphäre" des sinnstiftenden Bewußtseins sozusagen „zurückverstanden" wird (Hua VI, 193; vgl. Hua XVII, 282). Dieses Verständnis findet sich schon ebenso in den „Logischen Untersuchungen" (vgl. Hua XIX/1, 27), wie noch im „Krisis"-Werk. Dieses Applikationsprogramm eröffnet jedoch noch eine andere Perspektive. Einerseits sind die Wissenschaften und ihre Ontologien mittels dieser Methode des 'Zurückverstehens' transzendental zu fundieren, andererseits läßt sich aber auch die Phänomenologie selbst an diesen Zusammenhängen bewähren. Die Grundbegriffe der rationalen Ontologien und der ihnen zugeordneten Erfahrungswissenschaften dienen der phänomenologischen Analyse als Indices für entsprechende regelmäßige Zusammenhänge des transzendentalen Bewußtseins (79). Sie dienen als Leitfäden zur Auffindung des konstitutiven Apriori der entsprechenden Region (vgl. z.B. Hua VII, 187 Anm. l; XI, 221; XVII, 18). Ein Leitfaden aber zeichnet sich u. a. dadurch aus, daß man ihm in zwei Richtungen folgen kann. Eben dies eröffnet auch die Möglichkeit für eine Kritik der phänomenologischen Erfahrung selbst. Ist nämlich im Rahmen transzendentaler Analysen von solchen konstitutiven Aprioris die Rede, so liefern die ihnen entsprechenden bereits vorhandenen Wissenschaften und ontologischen Disziplinen nun
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auch ihrerseits Kriterien, die das Recht des analytischen Verfahrens belegen können. Methodisch würde dies eine Überprüfung der phänomenologischen Deskriptionen erfordern, mit deren Hilfe das konstitutive Apriori herausgearbeitet wurde. Diese Prüfungen hätten ihren kritischen Maßstab aber an den regional-ontologischen Begriffen, bzw. jeder phänomenologisch beschreibende Begriff, der in der Deskription auftaucht, müßte sich an den entsprechenden regionalen Kategorien ausrichten lassen können. So „ist es klar, daß jeder beschreibende Begriff zu verwerfen ist, der mit dem, was die der Anschauung zugehörigen regionalen Begriffe, also auch die regionalen Axiome ausschließen, behaftet ist" (9 3 ). Ein Beispiel hierfür wäre etwa die Frage nach jenem konstitutiven Apriori, das Husserl in seinen späten Schriften als das „historische" oder als das „Apriori der Geschichte" kennzeichnet, und dessen Wurzeln er in· der genetischen Struktur des transzendentalen Bewußtseins lokalisiert (Hua VI, bes. 380-386). Der kritische Weg, um das Recht der diesbezüglichen transzendentalphänomenologischen Thesen auszuweisen, wäre der, zu zeigen, daß und wie von diesem Begriff des „historischen Apriori" aus über die diversen konstitutiven Schichten zu den Grundbegriffen der regionalen Erfahrungswissenschaften der Geschichte zu gelangen ist. Müssen auf diesem rekonstruierenden Weg Brüche überwunden werden oder sollten sich Grenzen zeigen, so können sich daraus exemplarische Modifikationsforderungen an das transzendentale Programm herleiten lassen. Das gilt hinsichtlich aller konstitutiven Aprioris. Anhand einer derartigen Umkehrung der Husserlschen Leitfaden-Metapher veranschaulicht sich das Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaft als das einer kritischen „Bundesgenossenschaft". Dennoch handelt es sich für Husserl dabei natürlich keineswegs um ein Bündnis zwischen gleichberechtigten Partnern. Denn das kritische Korrektiv, das die Wissenschaften auf dem angegebenen Weg darstellen, kann zwar zu einer Vervolikommnung und Verfeinerung phänomenologischer Forschung und Begrifflichkeit beitragen, aber auf den Sinn und die möglichen Gren-
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zen der Transzendentalphilosophie insgesamt können die positiven Wissenschaften wesensmäßig keinen Einfluß nehmen. Von ganz anderer Art dagegen ist die Funktion der apriorischen Philosophie für die Wissenschaften. Sie „will dem Spezialforscher nicht ins Handwerk pfuschen", aber sie will prinzipiell „über Sinn und Wesen seiner Leistungen in Beziehung auf Methode und Sache zur Einsicht kommen" (Hua XVIII, 255 ), eine Einsicht, die, einmal gewonnen, dann normativen Charakter trägt. Dieser Idee ist Husserl stets treu geblieben. Philosophie als „Theorie apriori" kann und muß für die „Vemunftpraxis" der Wissenschaften „eine begrenzende Form sein, sie kann nur Zäune herstellen, deren Überschreitung Widersinn oder Verirrung besagt" (Hua XVII, 10). Von diesen Zäunen hat Husserl zeitlebens jedoch nur einige logische Eckpfähle errichten können, alles andere blieb Desiderat. Ist das verwunderlich? Keineswegs angesichts der radikalen Ansprüche der Phänomenologie als Wissenschaftslehre. Im Hinblick auf diese Radikalität stellt sich nämlich nun unabweislich die Frage: Sind alle Wissenschaften begründungsbedürftig (96) - wie steht es dann in dieser Hinsicht mit jener „Wissenschaft der Wissenschaften" selbst, der Phänomenologie? Wie läßt sie sich begründen? - Ihre Begründung muß die Phänomenologie selbst leisten, denn es gibt keine andere Wissenschaft, an die diese Aufgabe zu delegieren wäre. Soll die phänomenologische Wissenschaft letztbegründungsfähig sein, so muß sie zuallererst selbstbegründungsfähig sein. Begründung heißt auch hier: anschauliche Rechtfertigung der Begriffe und Urteile nach Inhalt und Form methodischer Begriffs- und Urteilsbildung. Solche Rechtfertigung kann allein geschehen durch eine Rückwendung der phänomenologischen Methode auf sich selbst, d.h. durch den Versuch einer phänomenologischen Aufklärung der phänomenologischen Begriffe selbst (95). So muß der Weg einer Begründung der Phänomenologie ein selbstreflexiver sein, ein mühsamer Weg, der gleichsam „im Zickzack" (Hua XVII, 130) verläuft. Denn die Phänomenologie als eine „anfangende" Philosophie, hat immer bereits Begriffe in Anspruch zu nehmen, die sie ihrem zunächst tasten-
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den, unfertigen Charakter gemäß noch nicht intuitiv ausgewiesen haben kann, so daß ihre Begriffe stets „in gewisser Weise in Fluß bleiben müssen, immerfort auf dem Sprunge, sich gemäß den Fortschritten der Bewußtseinsanalyse und der Erkenntnis neuer phänomenologischer Schichtungen innerhalb des zunächst in ungeschiedener Einheit Erschauten zu differenzieren" (Hua III/l, 190, vgl. 138, 224). Die Grundbegriffe der Phänomenologie sind „deskriptiv" und „wesentlich ... inexakt" (ebd. 154ff.) und nur auf dem Wege ihrer Anwendung approximativ aufzuklären. Man darf sich daher fragen, wie weit dieser Weg zu denken ist, ob je alle phänomenologischen Begriffe aus dem Zwielicht ihres operativen Charakters ins Licht thematischer Klarheit zu heben sind und ob dies überhaupt ein mögliches Ziel einer solch „topischen", je an Ort und Stand der Erfahrung gebundenen Philosophie, wie es Husserls Phänomenologie ist, sein kann. 21 So ist es zeitlebens Husserls erstes Interesse gewesen, „die systematisch strenge Begründung und Ausführung" der Phänomenologie zu leisten, als „unabläßliche Vorbedingung" für jede Philosophie, „ 'die als Wissenschaft wird auftreten können"' (ebd. 8). Die meisten seiner Bücher sollten daher als „Einführungen" oder „Einleitungen" wegweisenden Charakter haben. Und auch die wissenschaftstheoretischen Analysen zum Problem der Erfahrungswissenschaften sind in dieser Hinsicht vor allem Mittel zum Zweck - nämlich auf dem Wege der Anwendung der Phänomenologie diese selbst approximativ zu rechtfertigen. Aber auch dieser Weg in die transzendentale Philosophie war und ist, wie auch die anderen, nichts weniger als ein bequemer, ein „Königs· weg" (ebd. 223) in die Phänomenologie.
21 Vgl. Engen Fink, Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie (1957), in: ders., Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, Freiburg/München 1976, 180-205. Zur Charakterisierung der Phänomenologie als „topische" Philosophie: Gerhard Funke, Phänomenologie - Metaphysik oder Methode?, Bonn 2 1972, 34.
EDITORISCHE NOTIZ
Dem Text der vorliegenden Studienausgabe liegt der Haupttext des von Marly Biemel herausgegebenen V. Bandes der im Verlag Martinus Nijhoff erschienenen „Gesammelten Werke" Husserls (Husserliana) zugrunde: „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften" (Den Haag 1952). Abgesehen von Druckfehlerkorrekturen weicht der Text nicht von der Vorlage ab. Die in den Anmerkungen gelegentlich vorkommenden Verweise auf diverse Beilagen beziehen sich auf den Husserliana-Band, dessen Original-Paginierung in eckigen Klammern am inneren Rand des Kolumnentitels angegeben ist. Eingriffe in den Text, die in spitzen Klammern stehen, stammen von der Herausgeberin des HusserlianaBandes. Das stenographierte Manuskript Husserls entstand in den Monaten November und Dezember 1912 gleich im Anschluß an das Bleistiftmanuskript zum ersten Buch (Archiv-Signatur Leuven: F III 1, Bl. 37-85). Es wurde um 1916 von Edith Stein in Kurrentschrift übertragen. Ludwig Landgrebe machte 1924/25 hiervon eine Maschinenabschrift. Dieses Typoskript diente als Vorlage für den Text der HusserlianaAusgabe. Im Unterschied zu den Manuskript-Ausarbeitungen zum zweiten Buch wurde das Manuskript des dritten Buches im Laufe der Jahre von Husserl so gut wie nicht verändert. Kleinere Korrekturen und Bemerkungen sind in den ,,Textkritischen Anmerkungen" des Husserliana-Bandes aufgeführt. Sie sind so geringfügig, daß sich ihr Abdruck für die Studienausgabe erübrigen ließ. Der Titel „Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften" stammt von Marly Biemel.
BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE
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Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften
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[l] DIE PHÄNOMENOLOGIE UND DIE FUNDAMENTE DER WISSENSCHAFTEN
ERSTES KAPITEL
Die verschiedenen Regionen der Realität (m a t e r i e 11 e s D i n g, L e i b, S e e 1 e ), d i e k o r r e lativen Grundarten der Apperzeption und die daraus entspringenden Wissenschaften•) In unserer phänomenologisch-kinetischen Methode haben wir uns der alle Weltauffassung beherrschenden Fundamentalunterscheidung zwischen bloß materiellem Ding, Leib, Seele, bzw. seelischem Ich versichert und sie zugleich hinsichtlich 5 ihrer phänomenologischen Urquellen studiert. Als eine anschaulich gegebene Gliederung der erfahrenen Realitäten geht sie allem Denken, und speziell allem wissenschaftlich theoretisierenden Denken vorher, und sofern Erfahrungsdenken überhaupt letzten Rechtsgrund aus der Erfahrung nur zu schöpfen vermag, 10 indem es sich nach ihr „richtet", und darin liegt vor allem, indem es sich an den eigenen Sinn des Erfahrenen bindet, so ist es von vornherein sicher, daß solche grundwesentlichen Unterscheidungen von Gegenständlichkeiten, die aus grundwesentlichen in der konstituierenden Auffassung entspringen, für die 15 Sonderung wissenschaftlicher Gebiete und für den Sinn ihrer Problematik entscheidend sein müssen. Dem wollen wir jetzt nachgehen. § 1. M a t e r i e 11 e s D i n g, m a t e r i e 11 e W a h r n e h m u n g, m a t er i e 11 e Naturwissenschaft (Physik).
Fürs erste haben wir die materiellen Dinge. So innig nach unseren Analysen die Konstitution dieser Dinge mit der Konstitution >) Vgl. auch Beilage I, S. 109ff.
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der anderen Realitätskategorien verwoben ist, so ist, was ihnen Einheit gibt, ein durchaus eigener Typus und Zusammenhang von konstitutiven Akten. Der originär gebende Akt ist die m a t e r i e 11 e W a h r n e h m u n g (D i n g w a h r n e h5 m u n g), Körperwahrnehmung. Es ist damit eine Grundart von Wahrnehmung bezeichnet, in ihrem Wesen völlig abgeschlossen gegenüber jeder anderen Wahrnehmungsart. Wir sagen mit Absicht nicht „äußere Wahrnehmung", da so auch die Leibeswahrnehmung heißen könnte und heißen müßte, die eine neue 10 Grundart ausmacht. Im übrigen wird man an unserem Ausdrucke nicht Anstoß nehmen dürfen, weil doch die Wahrnehmung nichts Materielles sei. Die Bezeichnung der Wahrnehmung von Materiellem als materielle Wahrnehmung ist ebenso berechtigt wie die der Wahrnehmung von Äußerem als äußere, die ja auch 15 nichts Äußeres ist, und wie alle ähnlichen und ganz unvermeidlichen Namengebungen durch Übertragung überhaupt. Die materielle Wahrnehmung ist ein spezieller Fall der Wahrnehmung von E x t e n s i v e m, wohin ja auch die W a h r n e h m u ng e n v o n P h a n t o m e n g e h ö r e n. 20 Im Zusammenhang der materiellen Erfahrung wird die in ihr sich konstituierende N a t u r in ihrem einheitlichen räumlichzeitlich-kausalen Zusammenhang erfahren. Wird diese Erfahrung zu theoretischer Erfahrung und begründet sie theoretisches Denken über die Natur, so erwächst materielle Naturwissenschaft. 25 Die Objektivität dieser Natur, die Natur im ersten und grundlegenden Sinn, b e r u h t a u f W e c h s e l v e r s t ä nd i g u n g einer Mehrheit erfahrender Ich, die ihre L e i b er haben, Leiber, die wie ihnen so den mit ihnen sich Verständigenden erscheinen. Diese Verflechtung der materiellen Natur mit 30 Leiblichkeit und Seelischem hindert durchaus nicht ihre Selbständigkeit. Der Modus des theoretischen Erfahrens und der theoretischen Denkintentionen geht ausschließlich durch die materiellen Erfahrungsauffassungen. Der Naturforscher ist in der Naturerkenntnis natürlich mit Leib und Seele dabei, und 35 nicht nur der vereinzelte Naturforscher, sondern auch die Gemeinschaft der Forschenden, auf die sich jeder einzelne bezogen weiß. So wesentlich dies aber für die Konstitution der Naturobjektivität ist, so ist es doch grundwesentlich zweierlei, die Gesamtauffassung von Materiellem mit allen wesentlich zu ihm
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gehörigen konstitutiven Auffassungskomponenten, darunter Auffassungen von Leiblich-Seelischem so erleben, daß der theoretisch erfahrende Blick auf das materielle Sein selbst fixierend und bestimmend gerichtet ist, und andererseits auf die Leiber und 5 Seelen theoretisch gerichtet sein und demgemäß physiologische und psychologische Forschung treiben - wovon wir sogleich zu sprechen haben werden. Wo überhaupt Auffassungen in Auffassungen fundiert und Auffassungen höherer Ordnungen gestaltet sind, da ist auf diese im Wesen komplexer Auffassungen grün10 dende Möglichkeit verschiedener „E i n s t e 11 u n g" des thematischen Blickes zu achten, der als theoretischer das theoretische Thema bestimmt und in dem Sinn bestimmt, den die Auffassung vorzeichnet. Da in dem Auffassungsgeflecht der Konstitution von Realitäten die Erfahrung von Materialität die 15 unterste Stufe darstellt, die überhaupt Realität konstituiert, so trifft der theoretisch erfahrende Blick das Materielle als ein in sich Seiendes, nicht Fundiert~. nicht ein anderes in sich Voraussetzendes und unter sich Habendes. Die materielle Natur steht als etwas völlig Geschlossenes da und bewahrt ihre geschlos20 sene Einheit und das, was ihr wesenhaft in dieser Geschlossenheit eignet, nicht nur im bloßen Zusammenhang des theoretischen Erfahrens, sondern des theoretischen Erfahrungsdenkens, das wir Naturwissenschaft im gewöhnlichen Sinne oder genauer materielle Naturwissenschaft nennen, bzw. zu nennen hätten. 25 Wie durch die stufenweise Konstitution der materiellen Objektivität mit dem ihr darin zuwachsenden eigenen Sinn die verschieden~n Stufen der Naturerkenntnis bestimmt sind, und insbesondere, wie die schwierigen Probleme der A u f k 1 ä r u n g beschreibender im Gegensatz zu erklären30 d e r W i s s e n s c h a f t zu lösen, die grundverschiedene Art der Begriffsbildung und Urteilsbildung beiderseits aufzuklären ist, das ist ein eigenes Gebiet phänomenologisch-wissenschaftstheoretischer Untersuchungen; darauf Bezügliches werden wir an anderer Stelle besprechen. 35 Nur auf eins sei hingewiesen, das bei aller Erkenntnis von Realität, sei es materielle oder welche immer, beständig zu beachten ist. Nach unseren Analysen und in Rücksicht auf das Wesen der Erfahrungen, in denen sich Realität konstituiert, ist Erkenntnis von Realität und Erkenntnis von Kausalität un-
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trennbar eins. A 11 e W i s s e n s c h a f t v o n R e a 1 e m i s t kau s a 1 er k 1 ä r e n de, wenn sie wirklich und im Sinne objektiver Gültigkeit b e s t i m m e n w i 11, w a s d a s R e a 1 e i s t. Die Erkenntnis von kausalen Beziehungen ist 5 nicht etwas der Erkenntnis des Realen Sekundäres, als ob das Reale zunächst einmal an und für sich wäre und dann nur gelegentlich, als etwas seinem Sein Außerwesentliches, zu anderen Realitäten in Beziehung träte, auf sie wirkend und von ihnen leidend (Wirkungen erfahrend), als ob demgemäß die Erkenntnis 10 ein ihm eigenes Wesen herausbestimmen könnte, das unabhängig wäre von der Erkenntnis seiner Kausalitäten. Vielmehr ist es eben das Prinzipielle der Re a 1 i t ä t als solc:her, ein derart eigenes Wesen gar nicht zu haben, sie ist vielmehr, was sie ist, nur in der Kausalität. Sie ist ein p r in z i p i e 11 R e 1 a t i v e s, 15 das seine Gegenglieder fordert, und nur in dieser Verknüpfung von Glied und Gegenglied ist jedes „ Substanz" von realen Eigenschaften. Eine Substanz (in dem Sinne wie jedes objektive Reale Substanz ist), die a 11 ein wäre, ist e i n N o n s e n s. Eine Substanz im Sinne der bekannten Defi20 nitionen Descartes' und Spinozas ist also etwas prinzipiell anderes als eine objektive Realität im Sinne unserer Abgrenzungen. Andererseits ist im Zusammenhang der Erfahrung die Kausalität nicht so ohne weiteres gegeben, wie in anderer Weise auch das Reale selbst, das in Kausalität steht, nicht ohne 25 weiteres gegeben ist. Zwar in gewisser Weise kann man immer sagen: Wo erfahren ist, ist etwas erfahren, ist dabei gegeben und ohne weiteres gegeben, z.B. der Baum, den wir sehen. Und es ist gegeben in seinen Umständen. Aber was die letzteren anlangt, so liegen sie in der gesamten mitangeschauten Umge30 bung, und was in ihr wirklich kausal bestimmender Umstand ist, das bleibt vage. Der theoretisch erfahrende Blick erfaßt leicht im Wahrgenommenen wahrnehmungsmäßig gegebene Merkmale, und sofern Reales bewußt ist, ist auch Kausalität bewußt: aber völlig unklar und erst durch theoretische Erfahrungs35 analyse und Untersuchung herauszupräparieren und begrifflich zu bestimmen. Andererseits ist auch das Reale selbst, das Subjektglied der realen Relation, ein Unbestimmtes, der reale Gegenstand ist nur einseitig gegeben, der reale Zustand, obschon wahrgenommen, wird im Fortgang des Wahrnehmens, wenn er
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unverändert ist, sich immer reicher herausstellen können, im Fortgang seiner Veränderungen unter zugehörigen realen Umständen wird die Eigenschaft, die sich in ihm bekundet, immer vollkommener hervortreten usw. So fordert die wissen5 schaftliche Untersuchung, wie man von vornherein sieht, immer neues Eindringen in die real-kausalen Zusammenhänge. Welche Methoden erforderlich sind, um objektiv gültige Realitätsurteile zu gewinnen (und welche Bedingungen der Möglichkeit solcher Urteile in dem Wesen der Erfahrung selbst vorgezeichnet sein 10 müssen), das zu erörtern ist ein eigenes Thema. Es kam uns nur darauf an, Klarheit darüber zu schaffen, warum kausale Untersuchung in den Realitätswissenschaften eine so beherrschende Rolle spielt, und warum daher auch in unseren weiteren Erörterungen so viel von Kausalität die Rede sein wird. § 2. L e i b, L e i b e s a u ff a s s u n g u n d S o m a t o 1 o g i e.
a) Die spezifischen Leibesbestimmungen. Eine z w e i t e G r u n d a r t d e r A u f f a s s u n g, eine solche, die ihren Gegenstand als Gegenstand zweiter Stufe konstituiert, ist die L e i b e s a u f f a s s u n g. Sie ist eine neue Grundart mit Rücksicht auf die grundverschiedene Art, wie die oberste Schicht der Leibesgegenständlichkeit, die spezi20 fische Leibesschicht sich konstituiert gegenüber allem, was Sache der Leibes m a t e r i e ist. Damit hängen korrelativ (natürlich a priori) die bezeichneten Wesensunterschiede materieller Leibesbestimmungen und der spezifisch leiblichen zusammen. Ihr gehören zu die real einheitlichen S i n n e s f e 1 d e r in ihren 25 nach zugehörigen realen Umständen wechselnden Empfindungszuständen. Zunächst diejenigen Felder, die wirklich die für diese Art der Realisierung konstitutive Form der Lok a 1 i s at i o n unmittelbar anschaulich zeigen, so vor allem das Tastfeld als das Urfeld, sofern es die erste, grundlegende Lokalisation 30 hat, und die darauf geschichteten Felder, wie z.B. das WärmeKälte-Feld (ich sage nicht Temperaturfeld, weil Temperatur ein physikalischer Begriff ist, der hier nichts zu suchen hat). In weiterer Folge gewinnt jedes Sinnesfeld und jede im Wesen geschlossene Empfindungsgruppe eine realisierende An35 knüpfung an den Leib, verschiedene Seiten seiner realen Emp15
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findsamkeit anzeigend und verschiedene Schichten ibm real zugehöriger Empfindungszusammenhänge ausmachend. So kann ich z.B. mein v i s u e 11 e s F e l d als eine kontinuierlich immerfort, wenn auch veränderlich, erfüllte visuelle Ausbreitungs durch Absehen von allen gegenständlichen Auffassungen, die sich darauf bauen, und vermöge deren ich ein dinglich-gegenständliches Feld sehe und in gewisser Erscheinung weiß - und diese fortdauernde Einheit in Erfahrungs- und Denkzusammenhängen als zum Leib gehörig, und näher dieser Netzhaut gehörig, erkennen, 10 in seiner inneren Ordnung als Ausbreitung im ganzen entsprechend der zweidimensionalen Ordnung der Netzhautstellen. Ich kann dann den durch Erfahrung und Denken zur Erkenntnis kommenden Zusammenhängen nachgehen zwischen dem System der Reizbarkeit der Netzhaut, gemäß der koextensiven Ordnung 15 (bei der es wie bei aller Lokalisation auf die wirkliche räumliche Form nicht ankommt, sondern nur auf die zusammenhängende Einordnung in dem Sinne, den die analysis situs beschreibt) und dem System der visuellen Empfindungen als Reizerfolge, gemäß der Ordnung des Feldes selbst. 20 Auf diese durch Denken vermittelte Weise kann ich zwar nicht das visuelle Feld auf der Netzhaut sehen, aber es als analog z u g e h ö r i g zu ihr auffassen, wie ich das Tastfeld als zugehörig zur tastempfindlichen Leibesoberfläche auffasse. So erhält das U n i v e r s u m d e r E m p f i n d u n g e n (der sinn25 liehen Impressionen) eines jeden Ich eine Beziehung auf den Leib und seine eben dadurch als „Sinnesorgane" charakterisierten Teile und wird selbst zu etwas Leiblichem, aber nicht Materiellem. Alle die Erweiterungen, welche mögliche Erfahrung hier in gleicher Hinsicht vornehmen k a n n, sind an den schon 30 durch die Leibesapperzeption vorgegebenen Sinn gebunden, und dieser Sinn ist festgelegt durch w a h r g e n o m m e n e Leiblichkeit mit w a h r g e n o m m e n e r Lokalisation. Und was lokalisierbar ist, das ist nicht alles und jedes, sondern das ist wesensmäßig vorgezeichnet. Sinnlicher Schmerz, sinnliche Lust 35 können sich ausbreiten, also sie sind lokalisierbar, wie sie faktisch in Lokalisation wahrgenommen werden. Visuelle Empfindungen sind ausgebreitet in einem Feld, sie sindp{inzipielllokalisierbar, obschon in dem im menschlichen Leib abzunehmenden Wesenstypus von Leiblichkeit die Möglichkeit der Wahrnehmung von
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lokalisierter visueller Empfindung ausgeschlossen ist oder, empirisch gesprochen, bei uns Menschen fehlt. Menschlicher Leib ist aber wesensmäßig eine Besonderung von Leib überhaupt, und in dieser Allgemeinheit ist es evident, daß in der Ausbreitung 5 die Grundbedingung der Möglichkeit der Lokalisation liegt und daß damit jede Empfindungsgattung, die sich mittelbar oder unmittelbar ausbreitungsmäßig bietet, lokalisiert wahrnehmbar sein könnte. Doch erweitert sich das leiblich Anknüpfbare noch dadurch, daß, was auch diese Bedingung nicht erfüllt, durch feste 10 Zuordnung zu Leibesteilen als real Abhängiges dem Leib zu eigen sein kann, wofern bei Konstanz der sonstigen realen Umstände immerfort mit materiellen Änderungen des betreffenden Leibesteils entsprechende Änderungen auf seiten des Abhängigen, das dadurch eben funktionell Abhängiges ist, erfahrbar sind. Die 15 Auffassung als Lokalisation ist dann zwar nicht möglich, aber sie wird zum Gleichnis. Was das Verhältnis des Leibes zu der materiellen Unterschicht betrifft, so sind verschiedene Variationen möglich. Der Leib kann materielle Teile in sich schließen, die sich ausscheiden lassen, 20 ohne daß er Leib bleibt. Es ist aber auch möglich, daß er bei Ausscheidung von materiellen Teilen Leib bleibt und sogar, daß er seine ganzen Empfindungsfelder nicht einbüßt. Ebenso kann sich der Leib erweitern. Schneide ich einen Fingernagel oder das Haar ab, oder wächst 25 es wieder neu, so verliert der Leib etwas, oder er gewinnt. Er gewinnt auch, wenn ich einen Stab oder ein Werkzeug in die Hand nehme, ebenso durch die Kleider. Ein W e r k z e u g ist eine Erweiterung des Leibes, nämlich, wenn es „im Gebrauch" ist. Es ist sowohl eine Erweiterung des empfindenden Leibes als 30 auch des Leibes als W i 11 e n s o r g a n. In den Empfindungsfeldern, die schon zum Leib gehören, treten Empfindungsänderungen eines Inhalts auf, die ohne die Erweiterung nicht auftreten. Im Willensfeld treten freie Bewegungen und Veränderungen auf, die sonst nicht auftreten. Im Prinzipiellen wird dadurch nichts 35 geändert. b) Die Wissenschaft vom Leibe: Somatologie. Diesem Seinsfeld kann sich nun die theoretische Forschung zuwenden, es kann die Leibeswahrnehmung und -erfahrung -
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die Somatologie, wie wir sagen wollen - diejenige sein, die den Modus theoretischer Erfahrung annimmt und das theoretische Denken bestimmt. Da das spezifisch Somatologische nicht eine getrennte Realität ist, sondern eine auf materielle Realität gebau5 te höhere Seinsschicht, so erfordert die theoretische Erfahrung und Erkenntnis des somatischen Seins auch materielle Erfahrung und entsprechende materielle Erkenntnis. Diese gehört aber, logisch gesprochen, in die materielle Naturwissenschaft hinein. Nennen wir also die Wissenschaft von der Leiblichkeit Somatolo10 gie, so ist diese, soweit sie den materiellen Eigenschaften des Leibes nachgeht, materielle Naturwissenschaft. Soweit sie aber spezifische Somatologie ist, ist sie ein Neues, durch eine neue Grundform der Erfahrung Ausgezeichnetes. Sieht man näher zu, so trifft diese Doppelstellung alle zoologischen Wissenschaften, 15 so z.B. die Physiologie des Menschen und der Tiere. Sie sind Naturwissenschaften im engeren Sinne, hinsichtlich der Materialität der animalischen Wesen; sie sind Somatologie, soweit sie in der Physiologie der Sinnesorgane und des Nervensystemes, die besser Lehre von den Empfindnissen des Leibes ist, 20 eben systematisch Beziehungen auf die Empfindungssphären vollziehen. Evidentermaßen herrscht hier die somatologische Erfahrungsauffassung, und ohne sie ist überhaupt nichts Somatologisches vorfindbar oder indirekt rekonstruierbar. Die Grundlage ist schließlich die direkte s o m a t i s c h e W a h r25 n e h m u n g, die jeder Erfahrungsforscher nur an seinem eigenen Leibe machen kann, und dann die somatische Eindeutung, die er in der interpretatorischen Auffassung wahrgenommener fremder Leiber als solcher vollzieht und in einer Weise vollzieht, die dieser Interpretation den Charakter einer sich eventuell 30 durch weitere ähnliche empirische Auffassungen und Setzungen bekräftigenden, näher bestimmenden und eventuell berichtigenden, kurzum, ausweisenden Erfahrung verleiht. Im weiteren Sinn des Wortes kann man bei diesen Eindeutungen auch geradezu von Wahrnehmungen sprechen, sofern das Bewußtsein 35 von leibhafter Selbstgegenwart die Wahrnehmung charakterisiert, und wir in der Wahrnehmung eines fremden Leibes mit dem Bewußtsein der Selbstgegenwart des fremden Leibkörpers auch ein gewisses sekundäres Leibhaftigkeitsbewußtsein hinsichtlich der eingedeuteten Momente haben, freilich ein solches, das sich,
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näher besehen, doch nicht als echtes ongmares Gegebensein, sondern nur als Gegebensein durch eine Art von Vergegenwärtigung herausstellt. Jedenfalls ist es nicht ganz ohne Grund, wenn wir davon sprechen, daß wir ein Tier, einen Menschen sehen, 5 daß wir ihm dabei den Schmerz beim Stechen, die sinnliche Lust beim Essen und so auch alles spezifisch Psychische „ansehen". Solche Akte gehören in die Sphäre der Erfahrung und nicht der bloßen Reproduktion von Erfahrungen, wie es die Erinnerungen sind. Wir verweisen übrigens auf die ausführlicheren Darle10 gungen über das Wesen der Eindeutung. Nach dieser Darstellung bildet also die ganze von Physiologie und Psychologie behandelte Empfindungslehre mit allen den bekannten Lehren über die verschiedenen Eigentümlichkeiten der Sinnesgebiete in ihrer Abhängigkeit von den Sinnesorganen und Sinneszentren sowie 15 von der Natur der physiologischen Sinnesreize eine Einheit, die mit den entsprechenden Lehren über „Gefühlsempfindungen", über Empfindungen in dem weitesten Sinn in die Somatologie hineingehört. Das Erforschte ist dabei die Leiblichkeit im Sinne der somatologischen Erfahrung, die zum Leib als solchem gehöri20 ge reale Eigenschaftsschicht von Empfindsamkeiten, sich bekundend in den ursprünglichen Empfindnissen und allgemein in den Sinnesfeldem als Zuständlichkeiten des Soma. Erwähnt sei hier zugleich der Grund, warum wir nicht die allgemeine Biologie und speziell nicht auch die Botanik genannt haben. 25 Die offenbare Verwandtschaft, die sich zwischen Tier und Pflanze aufdrängt, und die in der Ausführung der auf das Pflanzen„Leben" und auf die tierische Materialität gerichteten Forschungen so viel parallele und nahe verwandte Probleme mit sich führt, also von dieser Seite Einheit der Naturwissenschaften mit sich 30 bringt (hinsichtlich der Zoologie als der Naturwissenschaft vom animalischen materiellen Körper), geht nicht so weit, daß eine bestimmte Interpretation der Pflanze als eines Leibes (und zuletzt als eines Leibes für ein Seelisches im vollen Sinn) möglich geworden wäre, die ihre bestimmten somatologischen Probleme so hätte stel35 len können, wie es zunächst bei den höheren Tieren und dann, der Stufenfolge des Tierischen nachgehend, auch bei den niederen statthat. Die allgemeine und völlig unbestimmt vollzogene Einfühlung, die die Analogie gestattet, reicht für den Forscher nicht hin; er braucht konkrete Erfahrung konkreter Empfind-
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samkeiten, bezogen auf konkrete Organe, wobei die Analogie der Organe mit tierischen, denen erfahrungsmäßig bekannte Empfindsamkeiten zugehören, groß genug sein muß, um Wahrscheinlichkeit der Interpretation zu begründen. Fehlt diese, so 5 genügt die Behandlung der Botanik als materieller Naturwissenschaft, oder vielmehr eine andere ist dann nicht möglich. Sie würde darum nicht ausschließen, daß doch die Pflanzen Empfindsamkeiten haben, nur daß wir unfähig wären, sie zu erkennen, weil jede Brücke der Einfühlung und der mittelbar bestimmten 10 Analysierung fehlte. Indessen habe ich hier nur die möglichste Akkomodation an die herrschende physiologische Botanik und überhaupt Biologie vollziehen wollen und lasse es offen, ob nicht doch interpretatorische Erfahrung ihre fruchtbare Rolle spielen kann und tatsächlich spielt, wie sie das zweifellos in der Zoolo15 gie tut, obschon das doch auch hier oft verkannt wird. § 3. D i e A b g r e n z u n g v o n S o m a t o l o g i e u n d P s y c h o 1 o g i e.
Die Absonderung, die wir hier unter dem Titel Somatologie vollzogen haben, ist eine durchaus natürliche, sie umgrenzt eine Klasse von Forschungen so radikal, als es bei einer Wissenschaft nur irgend denkbar ist, nämlich durch eine Grundform 20 der Erfahrung und Erfahrungsgegenständlichkeit. Gleichwohl ist es begreiflich, daß eine selbständige eigene Somatologie nie ausgebildet worden ist, wie es auch begreiflich ist, daß die Idee einer solchen Wissenschaft (so wichtig sie schon aus wissenschaftstheoretischen Gründen ist), nie konzipiert worden ist. 25 Ihre Konzeption setzt die reine Aussonderung der Empfindung aus dem Auffassungsgeflecht voraus, in das sie verwoben ist, also ungewohnte phänomenologische Analysen, und eine Abwendung des Blickes von dem in den vollen Auffassungen Gegebenen und unsere natürlichen Blickrichtungen Bestimmenden. 30 Den Leib nehmen wir wahr, aber in eins damit auch die Dinge, die „mittels" des Leibes wahrgenommen sind in ihren jeweiligen Erscheinungsweisen, und in eins damit sind wir unserer selbst auch bewußt als Menschen und als Ich, die da mittels des Leibes solche Dinge wahrnehmen. Der Leib, als Leib aufgefaßt, 35 hat seine Lokalisationsschicht von Tastempfindnissen, aber wir tasten dieses Ding da, wir „empfinden" die Berührung der Klei-
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der usw. Daher die Zweideutigkeit von „Empfinden". Der Leib empfindet, das betrifft das Lokalisierte; durch ihn „empfinden" wir Dinge - da ist „Empfinden" das Wahrnehmen von Raumdingen, und wir sind es, die den geistigen Blick im Wahrnehmen 5 auf das Ding gerichtet haben, und dieser Leib ist unser Leib. t) Analysieren wir aber phänomenologisch die Auffassungszusammenhänge, so tritt die Auffassungsschichtung in Evidenz, die wir ausführlich beschrieben haben. Und ob sie reflektiv richtig erkannt wird oder nicht, sie beherrscht die theoretische 10 Erfahrung und die auf Grund derselben zu stellenden Probleme, soweit sie richtig gestellte und erfolgreich durchgeführte Probleme sind wie in allen echten Theorien, echten Wissenschaften. Und dazu gehören selbstverständlich die Zoologie und speziell die Physiologie und andererseits Psychologie, all das in rechter 15 Begrenzung verstanden. Denn beiderseits fehlt es, und gerade in der hier fraglichen Sphäre des spezifisch Somatologischen, nicht an großen Massen von schief gestellten Problemen und ihnen zugeordneten Theorien entsprechenden Wertes (wie z.B. der ganze Komplex der unter dem Titel „psychologischer Ur20 sprung der Raumvorstellung, Zeitvorstellung, Dingvorstellung" gestellten Probleme und Theorien voll Widersinn ist und insbesondere nach demjenigen ist, was davon in die somatologische Sphäre gerechnet werden müßte). Die Auffassungsschicht, in der sich die Empfindsamkeiten des Leibes und somit dieser 25 selbst konstituieren, zeigte sich uns andererseits innig verschmolzen mit denjenigen, die für die Seele und das seelische Ich konstitutiv sind, und zwar so innig, daß die Seelenauffassung notwendig die Empfindungszustände des Leibes in sich hineinnehmen muß. Empfindungen sind ja vom Standpunkt des reinen 30 Bewußtseins die unentbehrlichen stofflichen Unterlagen für alle Grundarten von Noesen, und wenn das Bewußtsein, das wir Dingerfahrung oder auch Leibeserfahrung nennen, in seiner konkreten Einheit wesentlich Empfindungen als Stoffe der Auffassung (in den „Logischen Untersuchungen" sagte ich mit einem. 35 mißverständlichen Ausdruck: „repräsentierende Inhalte") enthält, wie jedes Bewußtsein in die Seelenapperzeption eintritt und zum realen Zustand der Seele und des seelischen Ich wird •) Vgl. Beilage II, S. 130.
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und mit Beziehung auf reale Umstände, so ist es evident, daß dieselben Empfindungen, die in der realisierenden Auffassung der materiellen Wahrnehmung als darstellende Inhalte für materielle Merkmale fungieren, in der neuen realisierenden Auffas5 sung, die wir Leibeserfahrung nennen, als Empfindungszustände Lokalisation erhalten und nun spezifische Leiblichkeit erscheinen lassen, und endlich drittens unter dem Titel Wahrnehmungszustände des Ich (materielles Wahrnehmen und ebenso Leibeserfahren) Komponenten von Seelischem sind und somit in die 10 Seele (nämlich Seelenzuständlichkeit) hineingehören und entsprechend in das Ichleben. Das alles kann man s e h e n, es sich durch reine Wesensanalysen zu klarer Gegebenheit bringen, und wer unseren Aufweisungen gefolgt ist, hat es mit uns gesehen. Somit ist es nicht zufällig, sondern aus Wesensgründen 15 zu verstehen, wenn die Psychologie, verstanden als 'Vissenschaft von der Seele, es auch mit allen Empfindungen zu tun hat. Die Frage, wie sie es zu tun hat, zu tun haben muß, das kann nur aus dem der „psychologischen Erfahrung" innewohnenden Sinn, aus dem in dieser neuen Grundform der Erfahrung sich konsti20 tuierenden Seelenrealen entnommen werden. Wir haben diese Erfahrung zu befragen, zuzusehen, als was Seelisches, wenn die Intention dieser Erfahrungsart sich auswirkt, einstimmig Erfüllung findend, gegeben ist, und das nicht faktisch sondern wesensmäßig. Und dasselbe gilt hinsichtlich der allgemeinen 25 Frage, womit sie es überhaupt zu tun hat, was und in welchem Sinn es zu ihr gehört, und welche Prinzipien der Methode ihr der Sinn dieses ,yYas" vorschreibt. Andere mögen anders darüber denken und meinen, in die psychologischen Institute müsse man gehen und die Fachmänner 30 befragen, um sich über das Wesen der Psychologie und ihre Methode zu belehren. Ebenso wie man ja sehr allgemein bei den „Fachmännern" die entsprechenden Überzeugungen verbreitet findet: bei den Mathematikern, es könne nur der Mathematiker von Fach, bei den Naturforschern, es könne nur der Naturfor35 scher über Wesen, Ziele, Methoden der Mathematik, bzw. Naturwissenschaft Auskunft geben und so überall. Mit dem so Urteilenden kann ich nicht streiten, da er noch nicht so weit ist verstanden zu haben, was Philosophie gegenüber nicht philosophischen Wissenschaften eigentlich will und wollen muß.
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Wer das aber verstanden hat, w e i ß, daß methodische Technik nicht Interesse und Sache des Philosophen sondern des dogmatischen Forschers, dogmatischer Wissenschaft ist, daß dagegen das prinzipielle Wesen, die Idee jeder Wissenschaft von einem 5 kategorialen Typus und die Idee ihrer Methode als „Sinn" jeder Wissenschaft ihr selbst vorhergeht und aus dem eigenen Wesen der Idee ihrer Gegenständlichkeit, die ihr Dogma bestimmt, also a priori, ergründet werden kann und muß. Um das „Wesen" der Zahl zu erfassen, um den Grundbegriff 10 der Arithmetik zu klären und von da aus die prinzipiellen Quellen ihrer Methodik zu verstehen, kann uns keine Theorie der IntegralGleichungen und keine Reflexion über solche Theorien lehren, dazu brauchen wir nicht einmal die Beherrschung des Einmaleins. Das Wesen der Seele und damit die möglichen Ziele und Metho15 den (in p r i n z i p i e l l e r Allgemeinheit) zu klären, bzw. wissenschaftlich zu bestimmen, ist nicht Sache des psychologischen Technikers, d.i. des Psychologen, sondern des Philosophen. Das gilt für alle Seinskategorien, die korrelativ auf kategoriale Grundformen gebenden Bewußtseins zurückführen. Sätze wie 20 die, daß alle wissenschaftliche Methode einerlei ist, daß also die Philosophie nach dem Vorbild exakter Wissenschaft, etwa Mathematik und besonders Naturwissenschaft methodisch vorzugehen, daß Philosophie sich selbstverständlich auf Spezialwissenschaften zu stützen, ihre Ergebnisse weiter zu verarbeiten 25 habe, sind so oft wiederholt worden, daß sie mit allen begleitenden Erläuterungen vollkommen trivial geworden sind. Das Körnchen Wahrheit, das in ihnen liegt, ist durch die Wiederholungen nicht größer geworden, dagegen ist der Schaden, den der so viel größere Teil Unwahrheit dieser schiefen Sätze gestiftet hat, 30 zu einer Unsumme geworden. Er droht, die deutsche Philosophie zu verzehren. Daß die Dogmatiker den Philosophen nicht zuhören, finde ich berechtigt, wenn sie, zweifellos trotzdem ihrer dogmatischen Fortschritte völlig sicher, eben nur Fachmänner und keine Philo35 sophen sein wollen. Wollen sie es aber und halten sie Philosophie für eine Art Fortsetzung dogmatischer Wissenschaft, dann gleichen sie Leuten, die sich einbilden, bei hinreichenden Fortschritten der Physik und Chemie werde die Menschheit so weit kom-
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men, durch Mittel a la Ehrlich-Hata nicht bloß die physische, sondern auch die moralische Syphilis zu heilen. Was die Empfindungen anlangt, so lautet offenbar die Antwort: Während dieselben in der Somatologie gemäß ihrer Erfah5 rungsart Bekundungen von Empfindsamkeiten des Leibes sind, also die Aufgabe des theoretischen Denkens in dieser Wissenschaft es ist, den kausalen Zusammenhängen nachzugehen, die zu diesen Empfindsamkeiten gehören, hat die Psychologie, dem Sinn ihrer Erfahrung folgend, eben den Kausalzusammenhän10 gen nachzugehen, die zu ihrer Erfahrungseinheit, der Seele, gehören, und den Empfindungen dasjenige real-kausale Interesse zuzuwenden, das deren Stellung im seelischen Zusammenhange entspricht. Wir gewinnen alle erwünschte Klarheit, wenn wir gleich in die allgemeine Erörterung eintreten. Ist die Seele die 15 Realität, die ihre Zuständlichkeiten unter dem Titel Bewußtsein hat, so ist dies Bewußtsein nach dem früher Ausgeführten, sei es durch Selbstwahrnehmung, sei es durch interpretierende Wahrnehmung, gegeben als einem Leib Zugehöriges. Also die Leibesobjektivation liegt zugrunde und in einer Weise, durch 20 die der Leib die Stellung einer die Seele fundierenden Realität erhält. Alles in allem ist ein Mensch gegeben, gegeben als eine Realität, die das materielle Leibding in sich schließt, die durch die Schicht der Empfindnis zum Leib und durch die mit der Empfindnisschicht verwobene Seelenschicht zum vollen Men25 sehen wird. Wir haben ein Ineinander dreier Realitäten, jede in der Reihe spätere die frühere in sich schließend, dadurch daß sie bloß eine neue Schicht hereinbringt. Die Empfindung steht als Gemeinsames an der Grenze sozusagen der zweiten und dritten Stufe. Auf der zweite Stufe ist sie Bekundung der Emp30 findsamkeit des Leibes. Andererseits ist sie auf der dritten Stufe stoffliche Unterlage für perzeptive Auffassungen, z.B. für die materielle Wahrnehmung, hierbei in den doppelten oben besprochenen Auffassungsfunktionen stehend: als kinaesthetische in der Funktion des Motivierenden, als darstellende Empfindung 35 in der Funktion des Motivierten, unter den Umständen etwas von dem zuständlichen Inhalt des materiellen Objekts darstellend (z.B. Farbe, Glätte usw.). All diese Auffassungen verflechten sich nun mit höherem spezifisch ichlichem Bewußtsein. Mag aber von dieser Schicht her durch sie ein lchblick hindurchgehen,
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mag in ihnen das Ich mit seinen spontanen lchakten walten oder nicht, sie sind jedenfalls (ebenso wie dann auch die spontanen Akte) nicht bloß Vorkommnisse eines reinen Bewußtseins. Sie erfahren vielmehr selbst ihre Auffassung, eben die als seeli5 sehe Zustände. Ein Mensch oder Tier ist nicht ein bloßer Leib, mit dessen Empfindungszuständen sich Bewußtsein irgendwie verbindet, sondern der Mensch hat eine seelische Eigenart, vermöge deren er die Empfindungen, die er durch seine Leiblichkeit empfindet, gerade so in sein Bewußtsein aufnimmt, sie ge10 rade so auffaßt, sich zu dem dadurch Erscheinenden gerade so verhält, theoretisch erfahrend, denkend, wertend, handelnd, daß das Spiel seiner Reproduktionen gerade in solchen Konstellationen verläuft, mit ihm den Gang der originären Impressionen (der sinnlichen und unsinnlichen) sich so verbindet usw. 15 Werfen wir nun einen Blick der Vergleichung auf die Art, wie die Empfindung in der somatischen Erfahrung einerseits und der psychologischen andererseits fungiert, bzw. was mit ihr zur Gegebenheit kommt, so tritt uns ein scharfer Unterschied entgegen. Beiderseits wird die Empfindung in grundverschiede20 ner Weise aufgefaßt, und so kommt auch Verschiedenes beiderseits zur Gegebenheit: auf einer Seite eine Empfindsamkeit des Leibes, bzw. ein Empfindnis als ein Verhalten des5elben. Auf der anderen Seite, in derErfahrungeinesseelischenZustandes, hat das Empfindnis als das ein Leibliches Bekundende nichts zu 25 suchen, diese somatische Auffassung ist nicht etwa Bestandstück der Auffassung des Seelenzustandes, näher des Zustandes der Dingwahrnehmung, in der die Empfindung als darstellend fungiert oder der rezeptiven Auffassung eines Bildfiktums (des gemalten „Bildes") u.dgl. Daran ändert gar nichts der Umstand, 30 daß die Seelenauffassung überhaupt in der Leibesauffassung fundiert ist. Beide Auffassungen verflechten sich durch die doppelte Funktion der Empfindung, die nicht nur eine faktisch doppelte, sondern eine in der Grundnatur doppelte ist, und beide sind zwar verflochten, aber keine in die andere eintretend. 35 Das gilt für alle Empfindungen. Es gilt auch für die in den primären Empfindungen fundierten sinnlichen Gefühle, die einerseits somatologisch Gefühlsempfindsamkeit des Leibes bekunden, während sie andererseits in Gemütsfunktionen eintreten und in diese nichts von somatischen Auffassungen hineintragen.
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Damit hängt nun zusammen, daß die Frage nach dem Wie der Empfindungsforschung und insbesondere der Kausalforschung der Empfindung sich für die Somatologie und Psychologie sehr verschieden beantwortet. Die Empfindung ist, seelisch betrachtet, 5 bloß Stoff für Auffassungen (Vorstellungen in einem gewissen fest zu begrenzenden Sinn), wobei wir die Hintergrundauffassungen, vermöge deren die sich abhebende Vordergrundauffassung (ev. durch ein primäres Aufmerken oder sekundäres Bemerken hindurchgehend) notwendig etwas bewußt macht, was eine 10 Umgebung hat, aus seiner Umgebung „heraustritt", nicht vergessen. Psychologische Kausalität ist Kausalität, die sich auf die spezifisch psychischen Zustände bezieht. Vom psychologischen Standpunkt ist der Stoff einfach da, er steht in Funktion: das ist das spezifisch Seelische. Eine besondere kausale Beschäftigung mit 15 ihm fällt aus der psychologischen Stufe heraus. So wie wir nach der Kausalität des Stoffes fragen, haben wir die Einstellung gewechselt und treiben Somatologie. Es gibt keine anderen Kausalfragen, die an die Empfindung zu richten wären als die somatologischen. Betrachten wir nun die Sphäre der spezifisch 20 seelischen Kausalität, so ist zunächst zu sagen: Im Sinne der Seelenauffassung, bzw. Menschenauffassung liegt es, daß ·der Mensch hinsichtlich seiner somatischen und seelischen Zustände von dem materiel.len Leibesding nicht nur dadurch abhängig ist, daß seine Empfindungen es sind, sondern 25 auch hinsichtlich des spezifisch Seelischen. Wie weit, das bestimmt sich wie bei jeder Erfahrungsauffassung durch den Fortgang aktueller Erfahrung, die das näher bestimmt, was die Form des Auffassungssinnes offen läßt, was er in sich als Bestimmbarkeit impliziert. So zeigt sich der Verlauf der sinnlichen Repro30 duktionen und in weiterer Folge der Verlauf der Reproduktionen überhaupt und der ganze Modus und Rhythmus des Auffassungslebens, weiter des davon abhängigen intellektuellen und emotionalen Lebens abhängig von der physischen Organisation des Leibes. 35 Zunächst scheint nun die Realität des Seelischen sich in Hinsicht auf die Art kausaler Abhängigkeit ganz analog zu verhalten wie die Realität des Leiblichen. Doch sehr bald sieht man die wesentlichen Unterschiede. Wir haben als Fundament des Baues der fundierten Realität, die wir ein animalisches Wesen nennen,
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die Leibesmaterie, und zu ihr gehört ein für sich abgeschlossener Kausalzusammenhang, der sich einordnet dem der materiellen Natur. Mit der materiellen Kausalität des physischen Leibes, in der er sich als materielle Substanz bewährt, hat es aber nicht 5 sein Bewenden. Vielmehr, wenn der physische Leib in einer bestimmten Verflechtung kausaler Umstände einen bestimmt zugehörigen materiellen Zustand annimmt, so tritt in der somatischen Empfindungsschicht, die ihm als Leib zu eigen ist, eine bestimmt zugehörige Empfindnisänderung ein. Diese ihrerseits 10 übt keine Rückwirkung in die Naturschicht zurück. Die Empfindungen scheinen wie eine Art Schatten (als Epiphänomene) gewissen materiellen Leibeszuständen zu folgen. Die Sachlage wäre für die Seelenschicht dieselbe, wenn auch sie, wie die somatische Schicht der Empfindnisse, als eine eindeutige funktionelle 15 Folge von leiblichen Zuständen angesehen werden könnte. Die Psychologie, bzw. die Anthropologie und Zoologie wären dann im Grunde somatologische Wissenschaften höherer Stufe. Natürlich wäre dann alle Spontaneität, so die im freien Bewegen des Leibes sich bekundende seelische Spontaneität ein bloßes „Epi20 phänomen", und was wir im freien Bewegen als Wollen, hinsichtlich des seelischen Ich den Ichakt nennen, das wäre reine Folge gewisser leiblicher Abläufe, und die Bewegung selbst ein rein in der Sphäre der materiellen Kausalität kausierter Vorgang. Genauer besehen fanden wir aber in der psychischen Realität 25 hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von Leib und Materie grundwesentlich Verschiedenes gegenüber jeder anderen Abhängigkeit, auch gegenüber der, die dem Leib eignet: nämlich die prinzipielle Unmöglichkeit des unveränderten Verharrens der Seele und damit in eins die prinzipielle Unmöglichkeit der Rückkehr in denselben 30 Zustand. 1) Schon darin zeigt sich ein W i de r s in n des p s y c h o p h y s i s c h e n P a r a 11 e l i s m u s. Wäre die Seele in derselben Weise wie die Sinnlichkeit abhängig von dem physischen Leib, so müßte es prinzipiell möglich sein, daß die Psyche des Greises sich zurückentwickelte zur Psyche des Kindes: 35 desselben Kindes mit identischen Zuständen, das zum Greise geworden ist. Das ist aber durch die Eigenart der Seele, ihren notwendigen Entwicklungscharakter, prinzipiell ausgeschlossen. •) Vgl. Beilage III, S. J30f.
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Bei all dem ist auch Folgendes zu beachten. Die einseitige und einförmige Abhängigkeit, welche die Vorkommnisse der Sinnesfelder von der Materialität des Leibes haben (seiner jeweiligen bestimmten materiellen Konstitution), ändert nichts daran, daß 5 sich durch die somatische Apperzeption, bzw. Erfahrung eine neuartige Gegenständlichkeit mit einer neuartigen Schicht konstituiert. Ausgeschaltet ist die neuartige Schicht nicht, sondern in der Erforschung der physiosomatischen Kausalbeziehungen vorausgesetzt. Und in kausalen Beziehungen stehen 10 dabei Leibesphysis und Leib, zwei Realitäten, von denen die eine in der anderen fundiert ist: und wie bei Kausalbeziehungen von Realitäten überhaupt, so ist auch hier das Auftreten von Zuständen der einen Realität das kausal Abhängige (Wirkung) des Auftretens der zugehörigen Zustände der anderen Realität 15 unter den entsprechenden Umständen. Die Beziehung auf Umstände besagt hier aber nur materielle Umstände; nämlich die Einseitigkeit besteht eben darin, daß die fundierte Realität keine eigenen Umstände mit sich führt, also keine eigenen Kausalitäten hat neben denen, die zur Fundierung gehören. Ebenso 20 würde es sich verhalten mit der Seelen-Apperzeption, selbst wenn die Seele in dieser Weise bloß höherer Annex des Leibes wäre. Sicher ist es, daß Abhängigkeiten vom Seelischen in das Physisch-Leibliche hinüberlaufen. Wie weit sie wirk 1 ich reichen, das zu entscheiden ist Sache psychophysiologischer Erfahrungs25 forschung. Wie weit sie reichen k ö n n e n, wie weit also Fragen nach „physiologischen Korrelaten" und entsprechende hypothetische Konstruktionen sinnvoll und für den Gang aktueller Forschung leitend sein können, ist andererseits Sache der phänomenologischen Wesensforschung. Sie schreibt genau so absolut 30 feste Grenzen vor für psychophysische Untersuchungen wie die Geometrie für geodätische Untersuchungen. Doch darüber wird noch bei der Erwägung der Idee einer rationalen Psychologie zu sprechen sein. So weit unsere Untersuchung bis jetzt gediehen ist, ergibt sich 35 die I d e e e i n e r P s y c h o l o g i e als einer auf die ysychische Realität gerichteten Wissenschaft, die von der Somatologie, und zwar sowohl von der physischen Somatologie (die sich in die allgemeine Wissenschaft von der materiellen Natur einordnet) als auch von der aesthesiologischen zu unterscheiden ist und
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andererseits mit ihr verflochten ist, genau der Fundierung der Realitäten entsprechend. Ist die Psyche keine eigene Realität sondern nur eine Realitätsschicht über dem Soma, so kann sie keine selbständige Wissenschaft begründen. Eine selbständige 5 Wissenschaft ist die physische Naturwissenschaft und relativ selbständig in ihr Disziplinen wie die physische Somatologie; eine selbständige Wissenschaft ist die Somatologie, 'unselbständig aber die somatologische Aesthesiologie, und wieder selbständig die Anthropologie (bzw. die voll verstandene Zoologie). Das 10 hindert aber nicht, daß ein vorzügliches Forschungsinteresse eben der Seele und den zu ihr gehörigen Realitätsfragen, also auch Kausalitätsfragen, zugewendet sein kann. Dabei ist aber wie bei allen Realitätswissenschaften das eigentümliche Objekt eben die betreffende Art R e a 1 i t ä t, also die S e e 1 e oder 15 der Mensch hinsichtlich seiner Seele, und die Seele ist nicht ein „Bündel" von Bewußtseinserlebnissen sondern die reale Einheit, die sich in ihnen bekundet. Man kann die Seele totschweigen, man kann sie verächtlich als eine fafon de parler bezeichnen, sie ist darum doch das Herrschende in der Auffassung 20 und mit den korrelativ zugehörigen Ideen das Bestimmende in der Untersuchung. Es ist aber besser, wenn man korrekt redet und nicht wegdeutet, was, soweit korrekt gedacht werden soll, immer lebendig bleiben muß. Unsere bisherige Betrachtung erscheint unvollkommen in25 soweit, als sie das reine und seelische Ich nicht besonders in Rechnung gezogen hat, also die Art nicht näher überlegt hat, wie es die Aufgabe der Psychologie und den Zusammenhang der Kausalforschung bestimmt. In dieser Hinsicht ist aber sogleich zu sehen, daß die Erforschung des seelischen Apperzeptions30 Ich nur eine Stufe der Seelenforschung überhaupt ist. Wie das Ich als reines Ich auftritt, das fällt in die psychologische Sphäre, sofern sie das Aufkommen von Akten im Naturzusammenhang erforscht. Wie das Ich als empirisches Ich sich darin entwickelt, umbildet, immer neue Dispositionen gewinnt, das ist nur eine 35 Besonderung der Frage, wie Seele überhaupt sich entwickelt, umbildet usw. Nicht alles Seelische ist ein spezifisch Ichliches. Assoziationen bilden sich, ob das Ich dabei beteiligt ist oder nicht. Ob und inwiefern zum Ich und seinen Akten eigene idiopsychische Regelungen gehören, das ist Sache der speziellen psy-
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chologischen Forschung; jedenfalls ist das seelische Ich durch den ganzen Seelenzusammenhang mit bestimmt, auch unter den Regeln stehend, die, über seine engere Sphäre hinausreichend, allgemein seelisch gültig sind. Wir brauchen hier nicht länger zu 5 verweilen. § 4. D i e „G e m e i n s c h a f t e n" i n n a t u r w i s s e n s c h a f t 1 i c h e r B e t r a c h t u n g.
Fuß fassend zunächst in der materiellen Welt, in die sich der Leib einordnet, haben wir, der Stufenfolge fundierter Erfahrungen folgend, für eine Reihe entsprechender Erfahrungsstufen die ursprünglichen Domänen bestimmt. Die phänomenologische 10 Klärung der Auffassungen und der in ihnen sich konstituierenden Grundarten von Gegenständlichkeiten gibt die radikale Einsicht in den eigentümlichen Sinn entsprechender Wissenschaften. Wir könnten die Stufenfolge noch erweitern, ohne aber etwas für uns noch besonders Lehrreiches zu gewinnen. Wenn psychische 15 Objekte sich miteinander verbinden, sich zu Vereinen, Gesellschaften verschiedener Stufe zusammenschließen, so ergibt das unter dem Gesichtspunkt der Fundierung durch die ursprüngliche Natur keine neuen Objektitäten. Denn keine neue Seele erwächst hierbei als eine auf dem Inbegriff der Leiber und ihrer 20 Seelen gebaute Seele höherer Stufe, kein einheitlicher Bewußtseinszusammenhang, auf Grund dessen sich eine neue Realität, die einer Gemeinschaftsseele, konstituierte. Was naturwissenschaftlich vorliegt, ist eine Anzahl von Einzelmenschen, zu jedem ein besonderes Bewußtsein, eine besondere Seele mit einem 25 besonderen Ich gehörig. Im psychophysischen Wechselzusammenhang, der durch die materiellen Wechselbeziehungen der Leiber ermöglicht ist, erwachsen in den Einzelseelen Akte, die intentional auf Psychisch-Äußeres gerichtet sind. Aber was hier auftritt, sind immer nur neue Zustände der Einzelseelen. Es ist nicht anders, 30 als wenn eine Mehrheit von materiellen Dingen einen relativ geschlossenen Wirkungszusammenhang hat und dadurch materielle Systeme erzeugt, die ev. wie materielle Einheiten betrachtet werden müssen. Eine prinzipiell neuartige Wissenschaft erwächst dabei nicht. Eine andere Frage ist, ob wir dergleichen auch sagen würden 35 und dürften, wenn als die Elemente dieser Einheitsbildungen nicht die Seelen sondern die g e i s t i g e n P e r s ö n 1 i c h -
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k e i t e n genommen würde. Aber jetzt gibt es für uns eben keine Geister. Wir stehen in der Naturwissenschaft, definiert durch das All der Realitäten, die entweder selbst materielle Natur oder in materieller Natur fundiert sind. Zweites Kapitel
D i e B e z i e h u n g e n z w i s c h en P s y c h o 1 o g i e und Phänomenologie § 5. D a s V e r h ä 1 t n i s d e r P h ä n o m e n o 1 o g i e z u d e n W i s s e n s c h a f t e n.
Unser besonderes Interesse wollen wir jetzt den Beziehungen zwischen Psychologie und Phänomenologie zuwenden. Die gesamten Analysen dieses Abschnitts waren selbst phänomenologische und konnten, selbst wo sie an aktuelle Erfahrung anknüpften, nicht als erfahrungswissenschaftliche mißdeutet werden. 10 überall galt das singuläre Erfahrungsdatum, z.B. irgendwelcher „Auffassung", „Wahrnehmung" u.dgl. nur als Exempel, wir gingen immer sogleich über in die Wesenseinstellung und erforschten eidetisch das zum Wesen Gehörige, die im Wesen gewisser Auffassungen beschlossenen Möglichkeiten, in Anschauungsrei15 hen, Erfahrungsreihen überzugehen, sich dabei einstimmig zu erfüllen, ihren Sinn, d.i. den Sinn des darin Vermeinten, des Erfahrenen als solchen, und damit den Sinn der betreffenden Gegenständlichkeiten auseinanderzulegen. Die phänomenologischen Analysen exemplifizierten einerseits an Stücken intuiti20 ver Wesensanalyse Methode und Art der gesuchten Ergebnisse; sie dienten aber zugleich dazu, das Wesen der ineinander fundierten Realitätskategorien Materie, Leib, Seele und seelisches Ich aus den Urquellen zu schöpfen und damit den dadurch bestimmten originären Sinn der entsprechenden Wissenschafts25 gebiete zu erfassen. Zugleich sind durch diese, wenn nötig noch nach verschiedenen Richtungen in gleichem Sinne weiter fortzuführenden Analysen alle Vorbedingungen erfüllt (bzw. ergänzend zu erfüllen), um die prinzipiellen Eigentümlichkeiten der Methode dieser Wissenschaften zu bestimmen und es zu einsich30 tigern Verständnis zu bringen, inwieweit z.B. physisch-naturwissenschaftliche Methode und psychologische gleichlaufen kann, und inwiefern sie grundverschieden sein muß. Normen, die sich 5
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hier originär ergeben, können nicht mißachtet werden, ohne den Gang der Wissenschaft zu verwirren und sie zu verfehlten Problemstellungen und Erfahrungsweisen zu verleiten. Nicht, was sich „moderne Wissenschaft" nennt, und nicht, die sich 5 „Fachmänner" nennen, machen die Methode, sondern das \Vesen der Gegenstände und das zugehörige Wesen möglicher Erfahrung von Gegenständen der betreffenden Kategorie (das ist das Apriori der phänomenologischen Konstitution) schreibt alles Prinzipielle der Methode vor, und es charakterisiert den 10 genialen Fachmann, dieses intuitiv zu erfassen (wenn auch nicht philosophisch auf strenge Begriffe und formulierte Normen zu bringen) und danach die besonderen Probleme und die besonderen Methoden zu orientieren. Alle Entdeckungen und Erfindungen der Fachmänner bewegen sich im Rahmen eines absolut 15 unüberschreitbaren Apriori, das man nicht von ihren Lehren, sondern nur aus der phänomenologischen Intuition schöpfen kann. Es wissenschaftlich zu erfassen, ist aber eine besondere Aufgabe der Philosophie und nicht die der dogmatischen Wissenschaften selbst. Freilich, was Methode überhaupt normativ 20 bestimmt, das ist Thema der a 11 g e m e in e n über alle Kategorien von Gegenständlichkeiten und konstitutiven Intuitionen hinausgreifenden N o e t i k. Diese besitzen wir aber noch nicht. Sie wird erst möglich sein nach einer hinreichend weit durchgeführten allgemeinen phänomenologischen Wesenslehre 25 der Erkenntnis nach Seiten der Intuition wie nach Seiten des spezifischen Denkens. Aber so viel ist auch ohne ausgeführte Noetik klar, daß die Methode aller Wissenschaft bestimmt sein muß durch die zu der Gegenstandskategorie, auf die sie (ev. neben anderen Wissenschaften) bezogen ist, wesentlich gehö30 rige Art originär gebender Anschauung, bzw. die Grundart von originärer Auffassung t). Daß alle Naturerkenntnis ihre letzte Quelle in der Erfahrung hat, konkret gesprochen: daß alle wissenschaftliche Begründung zuletzt auf Akten der Erfahrung (des Naturgegenständlichkeit originär gebenden Aktes) beruht, 35 ist ein Gemeinplatz. Und nehmen wir ihn, wie wir müssen, als gültig an, so ist klar, daß methodische Normen, die Erfahrung von sich herausstellt und die in ihrem Wesen offenbar gründen, ') Zu bloßer Auffassung gehört nach unserer lerminologie nicht die theoretische tiinstellung, überhaupt kein „Blick auf".
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für naturwissenschaftliche Methode bestimmend sein müssen. Dasselbe muß natürlich für alle Wissenschaften überhaupt gelten, in allen führt notwendig Begründung zuletzt über die Sphäre des Denkens hinaus auf Anschauung und zuletzt auf 5 originär gebende Anschauung, die nur keine Erfahrung sein kann, wenn es anderen Gegenständlichkeiten als Erfahrungsgegenständlichkeiten (Realitäten der Natursphäre) gilt. Das haben wir ja schon festgestellt, daß den verschiedenen Gegenstandskategorien wesentlich verschiedene konstitutive Auffas10 sungen, also auch Grundformen von originär gebenden Akten entsprechen müssen. § 6. D a s o n t o l o g i s c h e F u n d a m e n t d e r e m p i r i s c h e n W i s s e n s c h a f t e n.
Die Methode in allen Wissenschaften ist auch bestimmt durch das a 11 gemeine Wesen der Gegenständlichkeit, das sich in vollkommener Vergegenwärtigung einer solchen, also in voll15 kommener Entfaltung der in ihrer Auffassung liegenden Intentionen intuitiv herausstellt und natürlich in der Wesenseinstellung und in der Richtung nicht auf die Auffassung sondern auf das sich konstituierende Gegenständliche. Das allgemeine Wesen aber läßt sich denkend entfalten, und seine Entfaltung führt 20 notwendig zu einer 0 n t o log i e. Vollkommene Methode setzt die systematische Ausbildung der Ontologie, d.i. die Wesenslehre, die zu dieser betreffenden Gegenstandskategorie gehört, voraus. Der Gesamtbestand von Erkenntnissen, die sie bietet, ist eine unbedingte Norm für alles, was mögliche empiri25 sehe Erkenntnis der auf die Kategorien bezogenen Tatsachenwissenschaften je bieten kann und geht zugleich in die Tatsachenerkenntnis mit ein. Jeder Fortschritt in ontologischer Hinsicht, und insbesondere in Hinsicht auf Formulierung ontologischer Grunderkenntnisse oder ontologischer Disziplinen, die eine noch 30 nicht ontologisch gefaßte Seite der betreffenden gegenständlichen Kategorie zu ontologischer Fassung bringen, müssen der empirischen Wissenschaft zugute kommen. Darüber haben wir schon gesprochen und ziehen es hier nur herein zur Begründung des Rechtes, ja der unbedingten Notwendigkeit einer ratio n a35 l e n P s y c h o l o g i e. Daß es eine solche Disziplin, und zwar von ungeheurem Umfang geben muß, eine nicht von oben aus
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leeren „Begriffen" (vagen Wortbedeutungen) heraus konstruierte wie die alte metaphysische Psychologie, sondern eine aus reiner Intuition geschöpfte Wesenslehre, das kam erst in den Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis (in den „Logischen 5 Untersuchungen") zum Bewußtsein. Allen früheren Erkenntnisforschern und Erforschern des Bewußtseins überhaupt scheint dies völlig entgangen zu sein trotz alles uralten Redens von einem Apriori des Denkens und Wollens unter dem Titel Logik und Ethik. Denn, was man unter diesen Titeln gab und geben 10 wollte, war alles nur nicht psychologische Wesenslehre in dem hier fraglichen Sinn. In dem genannten Werk gab sich die Phänomenologie als eine rein immanente Beschreibung des in innerer Anschauung (in lässiger Weise heißt es dort mitunter „innere Erfahrung") Gegebenen, eine Beschreibung, die aber nicht em15 pirische Fakta feststellt, sondern in der Einstellung der „Ideation" durchaus Wesenszusammenhänge. Eben darauf beruhte die in der VI. Untersuchung versuchte endgültige Widerlegung des Psychologismus der Erkenntnistheorie. Danach fiel in den „Logischen Untersuchungen" phänomenologische Wesenslehre und 20 rationale Psychologie zusammen. Daß dies in verschiedener Hinsicht unrichtig ist, daß eine rationale Psychologie als Ontologie eines sich im Erlebniszusammenhang konstituierenden Realen gefaßt werden muß und dann nicht mit dem Wesen eines Erlebniszusammenhangs selbst zusammenfallen kann, 25 werden wir leicht einsehen können, nachdem wir wie die Idee der Realität überhaupt, so die der Seelenrealität geklärt und das alte (auch noch den Verfasser der „Logischen Untersuchungen" beherrschende) Mißtrauen gegen Seelen- und Ichrealität aufgegeben haben. Das merkwürdige Verhältnis zwischen Phä30 nomenologie und psychologischer Ontologie, das die erstere in die letztere einzuordnen gestattet, in gewisser Weise auch wieder die letztere wie alle ontologischen Disziplinen in die erstere, wird uns ausführlich beschäftigen, und parallele Verhältnisse werden wir für die 0 n t o 1 o g i e d e s G e i s t e s 35 einsehen lehren.
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§7. Regionale Begriffe und „Gattungs"-begriffe•).
Zunächst ist es für den Philosophen und Phänomenologen von größter Wichtigkeit, es sich intuitiv und vollkommen zur Klarheit gebracht zu haben, was die von mir so genannten gegenständlichen regionalen Begriffe auszeichnet, welches die 5 Methode ist, der gemäß sie a priori abgeleitet werden können. Gemeint ist diese Ableitung aber nicht in dem Sinne einer „transzendentalen Deduktion" aus irgend einem Postulat, aus irgend einem nicht selbst durch Intuition gegebenen Denksystem (wie es das System der Urteilsformen in der kantischen Deduk10 tion der von ihm so genannten Kategorien ist) und doch nach einem apodiktisch einleuchtenden „transzendentalen Leitfaden", dem folgend wir sie nicht d e d u z i e r e n, sondern selbst f i n d e n und Schritt für Schritt selbst schauend erfassen können. Es gilt sich klar zu machen, was diesen Begriffen ihre einzig15 artige Bedeutung gibt und sie zu Gebietsbegriffen von Ontologien prädestiniert derart, daß es a priori soviel Ontologien geben muß als regionale Begriffe: mögen diese Ontologien dann inhaltsreich oder inhaltsarm sein, in große Wissenschaften auseinandergehen oder in kleinen Satzgruppen sich erschöpfen. 20 Es gilt dann weiter einzusehen, daß alle radikale Klassifikation der Wissenschaften und zunächst der Erfahrungswissenschaften von dieser Begriffsbildung „Region" abhängig sein muß, daß es insbesondere soviel prinzipiell geschiedene empirische Wissenschaften geben muß (bzw. Disziplingruppen) als Ontologien. 25 Ohne die Sache hier zu erschöpfen, wollen wir nur soviel sagen, als nötig ist, um mißverständliche empiristische Einwände auszuschließen. Warum soll, wird der Empirist fragen, der Begriff „materiellesDing'' (den wir als einen regionalen aufführen) etwas wesentlich 30 anderes sein, eine grundwesentlich andere Rolle spielen alsder Begriff „Himmelskörper"? Natürlich, es ist ein sehr allgemeiner, wenn man will, in gewisserArt allgemeinsterBegriff,ganze Gruppen von Disziplinen umspannend. Aber Begriffe erwachsen aus der Erfahrung durch Verallgemeinerung; es muß offen bleiben, 35 daß wir in der Verallgemeinerung noch weiter fortzuschreiten Erfahrungsgründe finden, und dann würde der allgemeinere •) Vgl. Beilage IV, S. 13lff.
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Begriff dieselbe Rolle spielen wie der Dingbegriff. Und nun erst recht der Begriff des Tieres (ein anderes Beispiel eines regionalen Begrüfs). Er entsteht nicht anders als der Begriff des Frosches oder Reptils, nur ist er allgemeiner. Und eine weitere Verall5 gemeinerung führt ja von ihm zum Lebewesen, und vielleicht geht es auch dann noch einmal weiter. Alle Begriffe stammen aus Erfahrung, die allgemeinen wie die besonderen, und ihre Brauchbarkeit muß sich im Fortgang weiterer Erfahrung bewähren. Wir müssen immer bereit sein, ihr gemäß sie zu ändern. 10 Demgegenüber gilt es, sich Folgendes einsichtig zu machen: möge das viel beredete, auch vieldeutige „Stammen aus Erfahrung" bedeuten, was es will - mögen wir die Disposition, allgemeine Worte in identischer Bedeutung zu gebrauchen, im Schlaf oder durch Wunder gewonnen haben, oder wie immer - g e 1 t e n 15 können die Wortbedeutungen als logische Wesen nur dann, wenn nach idealer Möglichkeit das sie in sich aktualisierende „logische Denken" einem „entsprechenden Anschauen" anpaßbar ist; bzw. wenn es ein entsprechendes durch Intuition erfaßbares Wesen als entsprechendes Noema gibt, das durch den logischen 20 Begrüf seinen getreuen „Ausdruck" findet. Das im reinen Denken sich konstituierende logische Wesen und das intuitive Noema stehen da in dem bestimmten Wesensverhältnis des „angemessenen Ausdrucks". Ist dies der Fall, so ist der Begriff gültig in dem Sinne der „Möglichkeit" eines entsprechenden Gegenstan25 des. Die Wesensintuition kann sich dabei auf dem Grund einer singulären Einbildung vollziehen. Sie genügt mir, das allgemeine Wesen zu erfassen, vorausgesetzt, daß sie eine so weitreichende ist, daß sie das e n t s p r e c h e n d e intuitive noematische Wesen wirklich zur Gegebenheit bringt, d.h. keine Komponente '30 des Denkbegriffes übrig läßt, die nicht als reiner Ausdruck einer Komponente des anschaulich gegebenen Noema sich anpaßte. Andererseits S e i n s g ü 1 t i g k e i t hat der Begriff erst, wenn nicht Einbildung sondern aktuelle „Erfahrung", d.i. originär gebende und unbestreitbar gebende Anschauung indi35 viduelle Wirklichkeit setzt, als Wirklichkeit, die in dem noematischen Wesen vermeinte ist; oder wenn (durch „mittelbare Begründung") auf Grund anderweitiger Erfahrungen die Setzung solcher Wirklichkeit vernünftig motiviert ist. Wo Begriffe sich auf Reales beziehen, läßt die ausweisende Anschauung und
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Erfahrung prinzipiell vielerlei offen, sie läßt ihrem Sinn nach Raum für Näherbestimmungen und Andersbestimmungen; die intuitiven noematischen Wesen sind entsprechend mit Unbestimmtheiten behaftet und parallel damit in der Sphäre des 5 Ausdrucks die logischen Wesen, die Denkbegriffe selbst. Es gilt dann, den endlosen Möglichkeiten entsprechend, den realen Gegenstand immer besser kennenzulernen, im Fortgang der Erfahrung, was offen bleibt, näher zu bestimmen (oder in der fingierenden Anschauung ihn immer bestimmter zu imaginieren), 10 immer neue Begriffe hereinzuziehen, die mit den zunächst ausdrückenden zu vollkommeneren denkmäßigen Ausdrücken zusammengeordnet werden. Da aber die reale Wirklichkeit kein Chaos sondern ein regional geordnetes Ganzes ist, so braucht es, um das Ding kennen zu lernen, nicht wirklicher Unendlichkeiten 15 von Begriffen; es stellt sich heraus, daß sich an manche reale Bestimmungen unendlich viele andere nach erkennbaren Regeln als Konsequenz knüpfen, daß es so etwas wie Klassifikation gibt, wonach Gattungs- und Artbegriffe gebildet werden können, die beschränkte Gruppen charakteristischer begrifflicher Merk20 male zusammenordnen, an die erfahrungsmäßig unzählige andere sich so anknüpfen und von denen unzählige andere so ausgeschlossen sind, daß mit einer Systematik von Gegenständen unter diesen Gattungen und Arten eine wirkliche Einteilung aller Individuen eines allgemeinsten, durch oberste Klassenmerkmale zureichend 25 abgesonderten Seinskreises vollzogen ist. Begriffe von solcher Leistung sind offenbar nicht bloß noematischer Intuition zu entnehmen. Es ist ja klar, daß sie alle neben ihrer Wesensbedeutung noch eine existentiale Bedeutung haben. Korrekter gesprochen: sie führen neben ihrer reinen Bedeutung (ihrem von aller 30 behauptenden Setzung freien Sinn) noch ein W i s s e n mit sich, eine Thesis, die Beziehung hat auf Komplexe wissenschaftlich schon fixierter Behauptungen über die reale Wirklichkeit, einen Niederschlag von schon gewonnenen Erkenntnisergebnissen für das wirkliche Dasein. überhaupt gilt für alle Wissenschaften 35 (auch für ideale Wissenschaften), daß ihnen die Bildung von Begriffen, und zwar schon von „möglichen", aus Klarheit geschöpften, durch Anpassung an die Anschauung konkret fixierten, zur Gewinnung wahrer Urteile dient; daß sie auch damit enden, die Begriffe mit Urteilswerten zu behaften, wodurch sie
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selbst judizierende werden für die Gegenstandssphäre der Wissenschaft. Mit solchen Urteilswerten treten hernach die Begriffe in alle weiteren Verbindungen ein. Dadurch erhält der Begriff des Begriffs eine gefährliche Doppeldeutigkeit. Wir müssen 5 scharf unterscheiden: den p u r e n, von aller Setzung freien Sinn und den mit Urteilsthesen behafteten Sinn der betreffenden Ausdrücke. Es ist klar, daß wertvolle judikative Begriffe, wie sie jeder Realitätsforscher sucht, nur aus der aktuellen Erfahrung geschöpft sein können. Wenn er daher sagt: alle 1o Begriffe stammen aus Erfahrung, so hat er offenbar von vornherein die ihn beständig beschäftigenden, das beständige Ziel seiner Arbeit ausmachenden judikativen Begriffe im Auge. Begreiflicherweise neigt er dazu, Begriffsbildungen, die sich auf dem Grunde bloßer Imagination bewegen, als ein „Ausspinnen 15 leerer Möglichkeiten", als „Scholastik" zu bewerten. Indessen ist es klar, daß, so sehr er recht hat, wo es sich um Gewinnung wertvoller judikativer Begriffe handelt, er doch nicht in jeder Weise recht haben kann. Und nicht einmal hinsichtlich dieser Begriffe selbst. Sie besitzen doch ein vor allem judikativen 20 Bestand fixierbares reines Wesen, das sich in Wesenszusammenhänge einreihen mag, die wertvolle Erkenntnis hinsichtlich der Möglichkeit entsprechender Gegenstände in sich bergen mögen. Und das ist ja selbstverständlich, daß diese noematischen Wesen den Sinn ausmachen, welcher der Gegenständlichkeit, die da 25 angeschaute oder gedachte ist, zu eigen ist, und daß jede in diesen Wesen gründende reine Wesenswahrheit möglichen Gegenständlichkeiten solchen Sinnes überhaupt eine unbedingt gültige Norm vorschreibt. Gehen wir also auf diese noematischen Wesen zurück (deren 30 bloßen Denk a u s d r u c k die einstimmigen Begriffe bilden), so besitzen sie, rein als Wesen, ihre Sonderungen und Verbindungen, insbesondere ihre Unterordnung unter allgemeinere Wesen und zuletzt unter oberste Gattungen, die in sich absolut geschlossen, absolut scharf begrenzt sind. Alle hier in reiner 35 Intuition zu vollziehende Unterscheidung von Gattung und Art liefert etwas grundwesentlich anderes als die Gattungen und Arten der empirischen Realitätswissenschaften, die ihren Sinn nicht durch bloße Wesen, sondern durch einen judiziösen Erkenntnisbestand der Erfahrung gewinnen.
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Was uns hier nun besonders interessiert, sind gewisse oberste Wesensallgemeinheiten der Art wie Ding, animalisches Wesen, bzw. Grundbegriffe, nach denen sich die Grundarten von Realitäten sondern. Und schließlich auch eine solche noch höhere 5 Wesensallgemeinheit, wie sie der von uns durch Wesensdefinition fixierte (nämlich rein aus der Intuition geschöpfte) Begriff der Realität selbst darstellt. Gehen wir von irgend einer bestimmten Realität aus, die uns in einer aktuellen Erfahrung vorliegt. Es sei ein materielles Ding, 10 näher: ein Stück Gold. Es ist von uns in dieser aktuellen Erfahrung in einem bestimmten Sinn aufgefaßt, und nach einem Teil dieses Sinnes beurkundet es sich als wirklich gegeben. Wir gehen nun, eidetische Einstellung vollziehend, zum reinen Sinn über, wir abstrahieren von der Existentialsetzung der aktuellen 15 Erfahrung. Der Sinn ist ein nur partiell bestimmter, er ist notwendig unbestimmt, insofern als er eben Sinn eines Realen ist, das als solches in unendlichen und vielfältigen Erfahrungsreihen immer neue Seiten und Eigenschaften ausweisen würde, die durch den von der Ausgangserfahrung fixierten Sinn· nicht in 20 einem festen Inhalt vorgezeichnet, sondern nur als unbestimmte, aber bestimmbare Möglichkeiten offen gehalten sind. Durch Ausschaltung der Erfahrungssetzung ihrer Forderungen sind wir nun aber frei von allen Fesseln, die uns Physik und Chemie auflegen könnten. Wir bewegen uns in freier Willkür im Reiche 25 „leerer Möglichkeiten". Die Identität des Sinnes halten wir, von dieser Freiheit unbeschränkten Gebrauch machend, insoweit fest, als die mit ihm vorstellige Gegenständlichkeit in jeder Variationsreihe, die wir vollziehen, als identisch, in sich einstimmig soll erscheinen können. Also frei phantasierend lassen wir 30 das Ding sich bewegen, seine Gestalt in beliebiger Weise sich deformieren, seine qualitativen Bestimmungen, seine realen Eigenschaften sich beliebig verändern, wir spielen mit den bekannten physikalischen Eigenschaften und Eigenschaftsgesetzen Ball, lassen die Eigenschaftsänderungen so verlaufen, daß sich 35 die Gesetze umgestalten, in ganz andere übergehen müssen, wir fingieren uns sogar neue Sinne zu oder zu den alten Sinnen neue . Quantitäten (wenn auch in einem indirekt supponierenden Fingieren), lassen sie sich an Stelle der alten in der Raumgestalt extendieren und in ihnen sich reale Eigenschaften oder unerhörte
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Umbildungen der alten beurkunden. In dieser Weise frei verfahrend erzeugt die Phantasie die unglaublichsten Mißgeburten von Dingen, den tollsten dinglichen Spuk, aller Physik und Chemie Hohn sprechend. 5 Es ist klar, daß die Gesamtheit willkürlicher Erzeugungen, die wir von e i n e m Ding aus gewinnen, identisch auch von jedem anderen zu gewinnen sind; in der Tat, alles ist in alles kontinuierlich überzuführen, die Gesamtheit der Gestaltungen ist die selbe und eine feste. Und dabei sehen wir doch, daß selbst t o in dieser Phantasie und aller naturgesetzlichen Bindung abholden Variation das System der Ausgeburten unserer Phantasie noch seine Regeln behält, die es berechtigen, von einem geschlossenen System zu sprechen: es sind Ausgeburten einer d i n ggestaltenden und umgestaltenden, d i n g konstituierenden und 15 wieder D i n g konstitution zerstöre~den, reelle D i n g eigenschaften durchführenden und wieder als Scheineigenschaften preisgebenden Phantasie. Das Ding, das uns als Ausgang diente, wandelt sich, verbleibt ein Weilchen Dingerscheinendes; und gehen wir gar zu frei um, respektieren wir nicht die wesentliche 20 Beziehung realer Eigenschaften auf reale Umstände, sorgen wir nicht dafür, daß unsere Phantasie die Gestaltungen so ordnet, daß sie diese Beziehung durchzuhalten erlaubt, so zerfällt das Ding in Mannigfaltigkeiten von Phantomen (sinnlichen Schemata), so verlaufend, wie Mannigfaltigkeiten, die reale Dinge konsti25 tuieren, eben nicht verlaufen können und dürfen. Ding ist eben nicht Seiendes überhaupt, sondern Identisches im Verband kausaler Abhängigkeiten. Es ist etwas, das nur in der Atmosphäre kausaler Gesetzlichkeit leben kann. Das aber fordert für die konstituierenden sinnlichen Schemata bestimmt geregelte Ordnungen. 30 Durchbricht frei schaltende Phantasie diese Ordnungen in zügelloser Weise, so wird nicht nur ein einzelnes Schema in ein „bloßes Phantom" verwandelt, sondern die ganze Welt wird zum Ablauf bloßer Phantome, sie ist also keine Natur mehr. Aber völlig gesetzlos ist sie darum noch nicht. In seiner einzigartigen Genialität hat 35 das Kant vorausgesehen, und es drückt sich bei ihm in der Scheidung zwischen transzendentaler Aesthetik und Analytik aus. Für die bloße Phantomwelt gilt noch immer die reine Zeitlehre und die reine Geometrie; sie ist aber eine Welt ohne jede Physik. Auch hinsichtlich der sinnlichen Fülle der Phan-
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tomextension bestehen Regelungen, aber die sinnliche Fülle beurkundet keine materiellen Eigenschaften. Verlassen wir nun diese Phantomwelt. Halten wir unsere Phantasie jetzt im Zügel. Beginnen wir wieder mit einer Dinger5 fahrung, etwa der Wahrnehmung eines Baumes, dieses Baumes da. Wir nehmen das Ding genau als das in dieser Wahrnehmung Erscheinende, alles indirekte Wissen, etwa gar von Physik und Chemie schalten wir aus. Es ist damit ein bestimmter gegenständlicher Sinn festgelegt, der sich beschreiben läßt. Es erscheint 10 ein Baum, eine Tanne usw. Das Erscheinende, genau im gegebenen Sinn, erscheint wirklich nur nach gewissen Seiten und ist doch als ein Mehr gegenüber dem „wirklich" Erscheinenden vermeint, aber unbestimmt. Diese Unbestimmtheit weist uns in die aktuelle Wahrnehmung und weitere mögliche Wahrnehmun15 gen hinein; auf Grund dieser zum Wahrnehmungssinn gehörigen Unbestimmtheit können wir ja fragen, und diese Frage leitet uns beständig in der Erfahrung: wie dieser Gegenstand nach seinen anderen Seiten aussieht, wie er sich durch neue und neue Wahrnehmungen bestimmt und ihnen gemäß zu beschreiben und 20 denkend zu bestimmen ist. Jede neue Erfahrung stellt dabei neue Fragen. Wie unbekannt nun auch das Ding ist, wie wenig wir daher auch wissen mögen, was künftige Erfahrung uns etwa lehren mag: eins ist a priori klar, daß dem Gang möglicher Erfahrung im voraus ein absolut fester Rahmen vorgezeichnet 25 ist, und zwar im voraus durch den Sinn der Ausgangswahrnehmung. Ges.etzt ist mit ihr nicht nur überhaupt ein Gegenstand sondern ein Dingreales, ein Substrat, wenn auch unbekannter realer Eigenschaften, bezogen auf, wenn auch noch so unbestimmte reale Umstände. Soll die Ausgangswahrnehmung überhaupt ein 30 Recht behalten, das in ihrem Sinn gesetzte Gegenständliche wirklich sein können, dann ist der Gang möglicher, auf diesen selben Gegenstand bezogener, ihn einstimmig näher bestimmender Erfahrungen gebunden. Versuchen wir, in freier Willkür zu fingieren, bloß diese Aus35 gangswahrnehmung und ihr Recht festhaltend; nichts binde uns von sonstigem Erfahrungswissen, keine Physik, keinerlei Naturwissenschaft. Willkürlich fingieren wir uns einen Fortgang der Erfahrungen, der einstimmig das Wahrgenommene allseitig und vollkommen beurkunden würde; der festgelegte Wahrneh-
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mungssinn zwingt uns dann, reale Umstände mitzufingieren, die als kausale Korrelate der sich beurkundenden Eigenschaften passen und die Einstimmigkeit erhalten würden. Gehen wir diesen Umgebungsrealitäten nach und gestalten wir auch sie, 5 den einmal vollzogenen Ansätzen treu bleibend, also die zugehörigen realen Einheiten einstimmig durchhaltend, näher aus, in der Phantasie die für sie konstitutiven Erfahrungsreihen konstruierend, so konstruiert sich uns schließlich eine ganze Welt, eine Welt, die ihre physikalischen Gesetze hat und die doch 10 keineswegs dieselbe Welt sein müßte, die wir statt aus Fiktion vielmehr durchaus aus Erfahrung und E;rfahrungswissenschaft zur Erkenntnis gebracht hätten. Denn in unserem Phantasievorgehen können wir, obzwar durch den ersten Ansatz gebunden, unzählige Wege einschlagen, jeder Weg bindet uns von neuem, 15 läßt uns aber im weiteren Vorgehen doch wieder unendlich viele Möglichkeiten für Erfahrungsfortschritte offen, und so ist es mit jeder neuen Erfahrungsfiktion, die eben nur dadurch gebunden ist, daß das schon Gesetzte und in immer neuen Erfahrungsansätzen als bestimmt Fingierte in seinen Bestimmungen 20 einstimmig festgehalten werden soll. Je nach der Weise unseres fingierenden Bestimmens können wir ganz verschiedene Welten konstruieren, die sämtlich Welten für das Ausgangsding wären, jede dieser Welten hätte ihre eigene und verschiedene Gesetzesverfassung, ihre verschiedene Naturwissenschaft, und in jeder 25 wäre daher das Ausgangsding (seinem Sinn und Sein nach eben gemäß dem Sinn der verschiedenen Welten verschieden ausgestattet) ein anderes, in anderer Natur - von anderer Natur. Die Phantasie kann also noch immer frei genug schalten, sie kann sich nicht mehr als Weltvernichterin gebärden sondern nur als 30 Welterbauerin, aber darin bleiben ihr unendlich viele Möglichkeiten. So gebunden ist sie aber durch die bloße Voraussetzung, daß die Ausgangswahrnehmung gelten, daß sie einstimmig durchgehalten werden soll als W a h r n e h m u n g ihres Gegenstandes, so wie sie ihn bei aller offen bleibenden Unbestimmt35 heit setzt als extensives Reales. Sowie wir diese Voraussetzung fallen lassen und bloß überhaupt eine sich durchhaltende Einheit (die schon das Phantom bietet) fordern, zerfällt die Realität, und alles löst sich in ein Chaos von Phantomen auf, das, wenn wir alle Möglichkeiten erschöpfen, unter anderem auch die
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geregelten Phantomzusarnmenhänge bergen würde, in denen sich alle möglichen Welten, Realitäten konstituieren. Aber schließlich lag auch in der Idee des Phantoms eine Regel, die den Kreis der Möglichkeiten umspannt, ein nach gewissen Richtungen 5 selbst ordnendes Gesetz. Demnach ist wirklich im Gange aller möglichen Erfahrung ein Apriori vorgezeichnet und offenbar vorgezeichnet durch das Wesen der dinglichen \Vahrnehmung als einer Grundart der Wahrnehmung, bzw. Erfahrung. Eben damit hat die Idee des Dinges eine einzigartige Auszeichnung, sie 10 bezeichnet einen kategorialen (oder, wie wir besser sagen, r e g i o n a 1e n) R a h m e n für jeden zu einer Erfahrung solcher Grundart gehörigen und möglichen Sinn, einen Rahmen, an den als an eine notwendige Form alle Näherbestimmung eines in irgend welcher Erfahrung unbestimmt gesetzten Gegen15 stands a priori gebunden ist. Ist überhaupt etwas e r fahren (innerhalb dieses Erfahrungssystems), so ist damit eo ipso nicht nur überhaupt ein Gegenstand, sondern eine res extensa, ein m a t er i e 11 e s D in g gesetzt, und dieser Ausdruck bestimmt nicht einen Inhalt, sondern eine Form für 20alle möglichen Gegenstände möglicher E r f a h r u n g d i e s e r A r t u n g ü b e r h a u p t. Mag die Erfahrung dann laufen wie immer, mag der Gegenstand anders sein als er zuerst gesetzt war, mag die Anders- und Umbestimmung noch so weit gehen, solange er überhaupt als seiend 25 festzuhalten ist, ist alle Erfahrung, als ihn nach seinem „wie beschaffen sein" bestimmend, eine geregelte, alles ihm Zukommende ist korrelativ geregelt durch einen formalen Sinnesbestand, den die Idee des Dinges in sich schließt. Die Idee des Dinges steht danach ganz anders da als die Idee eines sonstigen Allge30 meinen auf Grund der Erfahrung. Freilich schreibt auch die Idee des Minerals, die Idee der Pflanze u.dgl. dem Gang der Erfahrung eine Regel vor. Aber in ganz anderem Sinn als die Idee des Dinges. Man darf nicht verwechseln das, was ein Allgemeinbegriff vorschreibt und was das Wesen der allgemeinen Wahrneh35 mung als einer Grundart der Erfahrung vorschreibt. Der Begriff, genauer: die begriffliche Auffassung als Mineral, schreibt in der \Veise des Denkens vor. Soll die Auffassung gelten, so muß sie sich ausweisen, und als begriffliche Auffassung, zu deren Sinn es gehört, begriffliche Auffassung von einem Ding zu sein, sich
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in der E r f a h r u n g ausweisen: an dem in ihr zur Gegebenheit kommenden Gegenstand müssen sich die gegenständlichen Momente herausstellen, die begrifflich gemeinte waren. Aber dem begrifflichen Denken und seinen Forderungen geht die 5 Erfahrung mit ihren Forderungen vorher. Ist es überhaupt Erfahrbares, so hat es seine Form, es ist ein Ding. Sie kommt natürlich im Begriff Mineral mit seinem besonderen Gehalt in eins zur Ausprägung, er „enthält", sagen wir, den Begriff des Dinges. Aber das ist eben das eigene, daß die Erfüllungsforderung, 10 die dieser begriffliche Bestand stellt, eine grundwesentlich andere ist als diejenige, die alle anderen Komponenten eines solches Begriffs wie Mineral stellen: sie drückt bloß die regionale Form, das Korrelat der Grundart der Erfahrung aus, die anderen aber besondere Bestimmungen. Eine begriffliche Auffassung 15 und Wirklichkeitssetzung als Mineral kann falsch sein, die Erfahrung kann diese oder jene dem Begriff Stein zugehörigen Momente als ungültig ausweisen, nur eins kann sie nie als ungültig ausweisen, solange überhaupt ein erfahrbarer Gegenstand sich gültig durchhält: eben das, was zum Gegenstand als Gegen20 stand solcher regionalen Erfahrungsart gehört: das Dingliche. Wir verstehen also, warum ein· Begriff der Art wie „extensives Ding" eine ganz ausgezeichnete Stellung beanspruchen muß gegenüber beliebigen anderen Begriffen. Und wir verstehen es, wenn wir die phänomenologischen Zu25 sammenhänge von Ding und Dingkonstitution studieren. Ding ist nicht ein Gattungsbegriff derselben Art wie Mineral, mit ihm und ähnlichen Gattungsbegriffen gleich rangierend, nur allenfalls allgemeiner. Solange wir in der Art- und Gattungsbildung emporsteigen und echte Gattungen bilden, steigen Wir 30 vom vollen sachhaltigen Wesen des Gegenstands zu allgemeinen Wesenszügen empor, die mehreren, unbegrenzt vielen Gegenständen gemein sein könnten; von den herausgehobenen sachhaltigen Artwesen läßt sich dann wieder ein „gemeinsames" Sachhaltiges herausheben usw. In dieser Art gewinnen wir aus 35 dem Wesen eines bestimmten Tons, es in eine Reihe stellend mit dem Wesen anderer Töne, das Wesen Ton überhaupt, Akustisches überhaupt, sinnliche Qualität überhaupt u.dgl. All ihr sachlicher Inhalt ist aber in unserer Sphäre der Realitäten ein „Zufälliges", das gebunden ist an ein „N otwendiges", eine
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notwendige Form, eben die der Begriff Ding ausdrückt. Aller sachliche Inhalt kann wechseln und wechselt in der dinglichen V e r ä n d e r u n g, nur eins kann nicht wechseln: die allgemeine Dingform.. Ein Himmelskörper kann sich verändern, der 5 Bestand von sachhaltigen Eigenschaften, die ihn charakterisieren, kann veränderlich wechseln, er hört schließlich auf, der Idee Himmelskörper zu entsprechen, es treten dann andere Gattungsbegriffe dafür ein; aber wie immer er sich verändern mag, und mag er sich in Gas auflösen und im Weltraum verteilen: Ding 10 bleibt Ding, und auch die Verteilung oder Zerstückung ändert daran nichts, denn deren Möglichkeit ist selbst in der allgemeinen Form „Ding" vorgezeichnet. Alles Sachhaltige ist zufällig, es ist das durch Erfahrung Gegebene und durch Erfahrung in seinen Veränderungen oder Unveränderungen zu Bestimmende. Wie 15 es sich ändert, das ist Faktum. Aber wie immer es sich ändern mag, solange überhaupt erfahren ist, solange überhaupt die Wahrnehmung, die den Gegenstand setzt, ein Recht behält, ist Ding Ding. Das W a s des Dinges, sein sachlicher Inhalt, mag sich wie immer, voraussehbar oder nicht voraussehbar, 20 ändern, das Allgemeine aber, das das Wort Ding da besagt (und es besagt sehr viel), kann sich nicht ändern, es ist der Rahmen, in dem alle Veränderung statthat. Ebenso natürlich in der freien Phantasie. Ich mag in der Phantasie das Ding, das mir vorschwebt, ganz willkürlich ändern, phantasiere ich es als ein 25 Ding, d.i. phantasiere ich mich in ein Erfahren hinein und halte „in der Phantasie" die Erfahrungssetzung aufrecht, dann bin ich gebunden. Und in Wesenseinstellung kann ich daher das Wesensmäßige dieser Bindung, bzw. das Wesen Ding herausstellen. So ist in der Welt der Wesen selbst und der Wesensbegriffe ein 30 Unterschied zwischen P r i o r i t ä t u n d P o s t e r i o r i t ä t vorgebildet, der es wohl berechtigt, in einem bestimmten Sinne von apriorischen und aposteriorischen Beg r i f f e n zu sprechen. Dieser Sinn von Apriori gehört zu den Begriffen von Realitäten und ist ein „transzendentaler" Unter35 schied, sofern er und sein Unterschied vom Aposteriori seine Quelle in der Grundeigenschaft der Realitäten hat, sich als Einheiten von Mannigfaltigkeiten zu „konstituieren". Die ganze Betrachtung, die wir hier durchgeführt haben, kann offenbar exemplarisch verstanden werden. Was wir uns an der
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Idee des Dinges als res extensa zu vollster Einsicht gebracht haben, kommt uns in allen ähnlichen Fällen zu gleicher Einsicht. Im Wesen des originär gebenden Bewußtseins überhaupt gründen kardinale Scheidungen nach Grundarten, die systematisch 5 aufzusuchen und wissenschaftlich zu beschreiben eine der vornehmsten Aufgaben der Phänomenologie ist. Jeder solchen Grundart entspricht offenbar ein regionaler Begriff, der die Sinnesform der jeweiligen Grundart gebender Anschauung umgrenzt, und entspricht in weiterer Folge eine Gegenstands10 region, alle Gegenstände umspannend, denen dieser Sinn zugeeignet ist. Mit Rücksicht darauf, daß im Wesen dieser originär gebenden Akte auch Grundarten von Fundierungen angelegt sind und daß mit denselben neue Grundarten gebender Anschauung erwachsen, die in den alten eben fundiert sind, ergeben sich 15 (wie wir das ausführlich in einem Fall, dem der Fundierung der psychologischen Wahrnehmung, studiert haben) Ordnungen von untersten regionalen Begriffen und in ihnen fundierten Begriffen und entsprechende Fundierungen von Gegenstandsregionen (z.B. materielles Ding, aesthesiologisches Ding, Mensch, 20 bzw. Seele). Das Apriori im Sinne der Region ist der Q u e 11 p u n k t der 0nto1 o g i e n, deren Notwendigkeit und ausgezeichnete Stellung im System aller Wissenschaften und deren einzigartige methodische Funktion für die Ausführung von Tatsachenwissen25 schaften für die entsprechenden regionalen Sphären nun wirklich aus den tiefsten, eben den Urgründen der Phänomenologie verständlich wird. Es ist ja völlig klar, daß eine zum regionalen Apriori, z.B. Ding überhaupt, Seele überhaupt gehörige Wesenswissenschaft eine regional andere Stellung und Bedeutung haben 30 muß als alle anderen Wesenserkenntnisse, die sich etwa an „zufällige" Besonderungen der Idee der Dinglichkeit, Seele usw., also an sachhaltige, sei es auch noch so allgemeine Begriffe anschließen. Der Reihe der Erfahrungswissenschaften von der realen Wirklichkeit (als Tatsachenwissenschaften) tritt somit 35 in besonderer Weise gegenüber die Ontologie der physischen Natur, als Wesenslehre der natura formaliter spectata, ebenso die Ontologie der animalischen, bzw. seelischen Natur.•) ') Freilich der Grund, warum für die physischen Wissenschaften, wofern sie sich auf der Stufe der „Physik" oder, wie wir sagen können, der Stufe der endgültigen und
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Daß es solche Ontologien geben muß, ist selbstverständlich. Kein Wesen ohne Wesenswahrheiten, und daß gar reale Wesen, zu deren Form als Realität schon vielfältige und je nach der Artung der Realität sehr verschiedene Verflechtung gehört, 5 nicht ohne reichen Bestand an Wesenserkenntnissen sein können, ist selbstverständlich. Hinsichtlich der Ontologie der Natur haben wir hier Wissenschaften, die sich ihr unter den Titeln Geometrie und Phoronomie einordnen, ebenso gehören hierher die apriorischen Wahrheiten der reinen Zeitlehre, die freilich 10 Allgemeingut sind für alle Realitätswissenschaften überhaupt. Was bisher noch fehlt, was in keiner irgend zureichend systematisch-wissenschaftlichen Form zum Aufbau gekommen ist, das ist die ontologische Sphäre der spezifischen Materialität, gerade das Kernstück jeder „reinen" regionalen Naturwissen15 schaft. § 8. R a t i o n a 1 e P s y c h o 1 o g i e u n d P h ä n o m e n o 1 o g i e e x p e r i m e n t e 1 1 e P s y c h o 1 o g i e.
Betrachten wir nun die psychologische Sphäre. Daß es eine rationale Psychologie geben muß, ob wir sie haben oder nicht, das ist evident. Rationale Existenz der Wissenschaft als Idee geht ihrem Besitz vorher. Die Notwendigkeit einer rationalen 20 Geometrie war ebenso einsehbar vor ihrer Ausbildung wie jetzt für uns, die wir rationale Psychologie nicht besitzen, die Notwendigkeit dieser selbst. Indessen so ganz richtig ist das nicht mehr. Fehlt es auch an einer systematischen Entfaltung der Idee der Seelenrealität, so besitzen wir doch schon - in Form 25 der Phänomenologie - ein erhebliches Stück einer rationalen Psychologie. Und hier kommen wir wieder zurück auf das Hauptinteresse, das unsere Untersuchung leitet, so sehr diese auch mit Rücksicht auf unseren weiteren Interessenzusammenhang noch andere notwendige Funktionen zu erfüllen hat. 30 Sehen wir in Erwägung der Idee einer rationalen Psychologie vollen Objektivität bewegen wollen und bewegen, im Gegensatz zu den deskriptiven Naturwissenschaften, die volle Objektivität nicht erreichen, die Ontologie der Natur alles besondere Apriori in sich aufsaugt, warum uns alles sachhaltige Apriori verloren geht, warum die Idee des bestimmten physikalischen Dinges eine mathematisch formulierbare Idee ist, die keinen Raum offen läßt für andere Begriffe als mathematische Besonderungen mathematischer Allgehleinhcit, das kann hier nicht sichtlich werden.
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von allen den Wesenswahrheiten ab, die z u r a 11 g e m e i n e n I d e e d e r R e a 1 i t ä t ü b e r h a u p t gehören. Sie machen einen geschlossenen Bestand aus, zu dem nach dem vorher schon Berührten die rationalen chronologischen Wahrheiten 5 gehören, und sind nicht Eigengut der rationalen Psychologie, sondern Gemeingut der sämtlichen rationalen Wissenschaften, die überhaupt zur Realitätsregion gehören. Es ist dann im voraus völlig gewiß, daß, was an rationalen Wahrheiten sonst in die rationale Psychologie sich einordnen mag, jedenfalls dazu auch 10 alle phänomenologischen Wahrheiten gehören. Zunächst und in erster Linie alle diejenigen, welche sich auf die r e e 11 e n Wesensmomente möglicher Erlebnisse beziehen, in weiterer Folge auch alle unmittelbar einsichtigen Erkenntnisse, die den verschiedenen Stufen intentionaler Korrelate zugehören. 15 Überlegen wir die Sachlage näher. Es ist das um so nötiger, als zur Zeit der bei den Psychologen wie bei allen Naturforschern so sehr vorherrschende Naturalismus ein nahezu allgemeines Mißverstehen des Sinnes der Phänomenologie und ihrer möglichen Leistungen für die psychologische Erfahrungswissen20 schaft zur Folge hat. Damit hängt die grundverkehrte Ansicht zusammen, als ob es sich bei der Phänomenologie um eine Restitution der Methode innerer Beobachtung handle oder direkter innerer Erfahrung überhaupt. Nur so erklären sich auch jene oberflächlichen (ja nicht einmal oberflächlichen, weil 25 den Sinn der Sachen gar nicht verstehenden) literarischen Abweisungen des Anspruchs, den die Phänomenologie durch ihre Eigenart erhebt und erheben muß, eine im. wörtlichen Sinn fundamentale und prinzipiell neuartige Reform der Psychologie (wie andererseits der Philosophie) anzubahnen. 30 Eine Ontologie der seelischen, bzw. beseelten Realitäten (wenn wir vor traditionellen Antipathien keine Angst haben, sagen wir ruhig: ratio n a 1 e Zoo 1 o g i e und Anthropologie) hat es sicher in erster Linie mit dem Apriori der besonderen realen Einheitsart realer Eigenschaften zu tun, die zur Idee des 35 a n i m a l i s c h e n R e a l e n überhaupt gehören und darin beschlossen auch zur Idee der S e e 1 e. Die. Rede von realen Eigenschaften führt uns auf reale Zustände. Es handelt sich mit ihnen um dispositionelle Beschaffenheiten, um Vermögen. Vermögen sind Vermögen zu etwas, Dispositionen Dispositionen
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für etwas. Und wofür, das ist klar. Wir kommen auf entsprechende Gruppen von „Erlebnissen" im Zusammenhang des „Seelen"lebens, und wir wissen, daß keine Erlebnisgruppe hier ausfällt. Jedes Erlebnis ist seelischer Zustand, wie denn die Psychologie 5 allgemein von psychischen Zuständen in Beziehung auf die gesamte Erlebnissphäre spricht. Nun wissen wir schon, daß es im Rahmen der phänomenologischen Reduktion eine von aller Mitsetzung von realem Dasein, von aller Setzung von Tatsächlichkeit freie Erforschung dessen gibt, was zu jederlei „Bewußt10 sein", zu allem, was da „psychisches Erlebnis" heißt, gehört, nach reellen Momenten, nach Bewußtseinskorrelaten, nach allen im Erlebniszusammenhang möglichen Zusammenhängen: eine apriorische oder Wesensforschung. Wir haben es mit Zuständen zu tun. Fassen wir die Seele nicht als Faktum sondern alseideti15 sches Wesen, so sind auch die Zustände als eidetische Wesen genommen und haben die eidetische Form der Zuständlichkeit. Wir können ein Interesse haben, dies abzustreiten, und die Möglichkeit einsehen, dies zu tun. Wir können unsere Wesensanalyse auf die E r 1 e b n i s s e a n s i c h s e 1 b s t beschrän20 ken, abgesehen von dem, was sie als Zuständlichkeiten, als Beurkundungen einer realen Seeleneinheit mit Seeleneigenschaften kennzeichnet. Aber alles, was wir im Rahmen eines solchen Erlebens erforschen, würde natürlich auch mit hineingehören in den Rahmen der rational-psychoiogischen Forschung. Denn 25 evident ist, daß das eigene Wesen jedes Erlebnisses (als Idee und nicht als Faktum) sich durch die realisierende Apperzeption nicht ändert und nicht verändern darf. Rekapitulieren wir, um den naturwissenschaftlich eingestellten Psychologen das Verständnis zu erleichtern, was hier zu leisten 30 ist, an Beispielen: es sind etwa in faktischer Erfahrung Wahrnehmungen gegeben, sagen wir: Dingwahrnehmungen. In innerer Wahrnehmung, in Reflexion im Sinne Lackes, sind sie originär gegeben; in „Einfühlungen" in der Weise des „Ansehens" solcher Erlebnisse an dem äußeren Habitus eines Anderen, oder auch 35 in Erinnerungen an früher vollzogene Reflexionen oder Einfühlungen sind sie nicht in originärer Weise gegeben, sondern in der Weise von Vergegenwärtigungen. Jedenfalls: sie sind da gegeben als unsere Erlebnisse oder als Erlebnisse anderer Menschen oder Tiere, leiblich-geistiger Realitäten, die ihre reale
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Umgebung haben, die der einen raumzeitlichen Welt zugehören. Die Erforschung von solchen psychischen Zuständen, genannt Wahrnehmungen, als Zuständen wirklicher realer Individuen der wirklichen Welt ist Sache der Psychologie, der induktiven 5 Erfahrungswissenschaft. Wie dergleichen Erlebnisse bei Menschen und Tieren auftreten, unter welchen realen Bedingungen und mit welchen Folgen, nach welchen allgemeinen oder speziellen Naturgesetzen, das kann und muß nach den Methoden der Erfahrungswissenschaften, durch Beobachtung und Expe10 riment, festgestellt werden. Wahrnehmungen können aber nicht nur als tatsächlich existierende Zustände im Zusammenhang faktischer Bewußtseinseinheiten, zugehörig zu faktischen psychophysischen Individuen in der faktischen Welt erforscht werden, gleichgültig ob im singulären Einzelfall oder in erfahrungs15 wissenschaftlicher Allgemeinheit, vielmehr können wir eine „eidetische Reduktion" vornehmen, alle Fragen nach realem Dasein, nach Urteilssetzung von solchem ausscheiden und die Einstellung rein eidetischer Forschung vollziehen. Wir beschäftigen uns dann mit dem Eidos, dem Wesen Wahrnehmung, und 20 mit dem, was zu einer „Wahrnehmung als solcher" gehört, gewissermaßen zum ewig gleichen Sinn von möglicher Wahrnehmung überhaupt. Und ebenso für jede wesentliche Artung von Wahrnehmungen, z.B. Dingwahrnehmungen, Wahrnehmung von sinnlichen Erscheinungen (die nicht als Dinge bewußt sind), 25 Wahrnehmungen von Bewußtseinserlebnissen u.dgl. W"ir unterscheiden also die „möglichen" Wahrnehmungen überhaupt nach Grundartungen, wir fragen für jede, was zu ihr wesentlich gehört, und was sie ihrem Wesen gemäß als notwendig zu ihr gehörig fordert, welche Wandlungen, Umbildungen, Verknüp30 fungen sie rein durch ihr Wesen möglich macht, sei es mit Phänomenen derselben Artung oder mit denen anderer Artung usw. Eben dieselben Probleme ergeben sich für Erinnerungen, Phantasien, Erwartungen, dunkle Vorstellungen, Denkerlebnisse jeder Art, Gefühls-, Willenserlebnisse. Sie wie alles nicht nur 35 erfahrene oder faktisch erfahrbare, sondern überhaupt erfahrbare Sein (also, wie wir auch sagen können, jede Objektivität prinzipiell möglicher Erfahrung) bieten uns ihr Wesen dar, die individuelle Anschauung wendet sich, was selbst eine Wesensmöglichkeit ist, um in Wesensanschauung, bzw. in die Einstel-
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lung des auf Grund der Intuition Wesensverhalte in reine Wesensbegriffe fassenden und ausdrückenden Denkens. Die Wesenslehre der Erlebnisse hat die Erlebnisse zu nehmen mit dem ganzen Inhalt, mit dem sie sich in der eidetischen Intuition darbieten, und als eidetische beruht sie (auf Wesen psychischer Zus t ä nd e gerichtet, wie sie ist) auf psychologischer Anschauung, sei es auf psychologischer Erfahrung, sei es auf psychologischer Fiktion. Der ganze Inhalt eines im Blick der reflektiven inneren Erfahrung stehenden Erlebnisses, soviel dieser Blick irgend zu erfassen vermag, bzw. der ganze Inhalt des im Blick der Reflexion der inneren Phantasie Gegebenen geht in der Wesenseinstellung in das Wesen über. Er verliert nur die Beziehung auf das Faktum der erfahrenen Naturwirklichkeit, das Daseiende verwandelt sich in ein Wesenseiendes, das individuell Einmalige in ein „Allgemeines"; ebenso verschwindet das fingierte Dasein mit der fingierten Naturwirklichkeit, der fingierten Individualität. Von den niedersten Wesen, die als bloßes Dies-da im eidetischen Blick stehen und in der ganzen Fülle des Inhalts nicht in strengen Begriffen faßbar sind, geht die Betrachtung über zu höheren Allgemeinheiten, zu den scharfen artmäßigen Sonderungen wie Wahrnehmung und Erinnerung, Wahrnehmung und Phantasie, Denken und Wollen usw. Sonderungen sind zu vollziehen an konkreten Erlebnissen durch Analyse, es sind artmäßige Komponenten herauszuheben, Grundarten von unselbständigen Momenten zu unterscheiden, und jedes vernünftige Ziel einer systematischen Erlebnisanalyse mit einer sich alsbald darbietenden Unzahl von besonderen und vollkommen bestimmten und offenbar lösbaren Aufgaben anzustreben. Da zum Wesen der Erlebnisse, die da intentionale heißen und in einer sondernden Mannigfaltigkeit von Gestaltungen das vorwiegende Interesse beherrschen werden, unabtrennbar die „Beziehung auf etwas" und vielerlei Korrelate gehören, so können auch diese nicht verschwiegen und unerforscht bleiben. Die gewaltigen Themen Noesis und Noema sind notwendig aus psychologischem Interesse und in der psychologisch-eidetischen Apperzeption zusammen zu behandeln. Ich sage, in der psychologischen Apperzeption, denn was sich dem Psychologen darbietet in seiner psychologischen Anschauung, das ist eben Psychisches, Seelenreales, also die jeweiligen Erlebnisse als seelische Zustände. Und in diese
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realisierende Apperzeption gehen sie mit all dem, was sie fordert, also mit der Beziehung auf Raum und Zeit in das Eidos ein. Alle Erfahrungsthesis fällt heraus, auch die Wirklichkeitsthesis der gesamten Natur mit dem ihr zugehörigen Raum, der 5 ihr zugehörigen Zeit, wie bei aller Wesensschauung. Das reine Wesen enthält keine andere Thesis als eine Wesensthesis. Das Erfahrene ist also genau dasselbe wie das des Geometers, der gewöhnliche empirische Anschauung von Raumdingen ins Eidetische wendet, seien es Figuren an der Tafel oder auch Modelle, 10 die er aus dem Modellschrank holt. Sein Interesse gilt der Raumgestalt, aber nicht der erfahrenen oder in seiner Phantasie quasierfahrenen, sondern der „reinen" Raumgestalt, d.i. dem in der Wesenseinstellung auf Grund der empirischen Auffassungen zu erfassenden Gestalt-Wesen. Sofern Gestalt ein grundwesent15 liebes Moment des materiellen Dinges als der res extensa ist, ist der Geometer, der Wesenserforscher möglicher Dinggestalten, eo ipso zugleich rationaler Physiker. Genau so im Fall der Psychologie. Und genau so überall, wo eine Region von Realitäten sich ursprünglich absondert und notwendig das Fundament abgibt 20 für zweierlei Wissenschaften, für Erfahrungswissenschaften und eidetische Wissenschaften. Die Erfahrungswissenschaft geht dem Dasein nach, die eidetische dem Wesen, und demselben Wesen, das den „Inhalt" des Daseienden und möglichen Daseienden überhaupt ausmacht. überall geht die eidetische Wissenschaft 25 der Erfahrungswissenschaft vorher. Was die Region und was der Wesensgehalt der in der Intuition faßbaren Realitätsgestalten und somit auch Gestalten von möglichen Zuständen und Umständen a priori vorschreibt, das kann die Erfahrungswissenschaft in keiner Weise entbehren. Die Wesenswahrheiten 30 gelten und gelten in unbedingter Allgemeinheit und Notwendigkeit wie für alles Mögliche, so für alles in der aktuellen Erfahrung sich als wirklich Ausweisende. Theoretische Erfahrungsforschung setzt nicht die eidetische voraus, das theoretische Interesse kann sich auf das Erfahrene richten, kann im Erfahren 35 allgemeine Regelmäßigkeiten beobachten, sie feststellen, ordnen usw. Es gab eine Feldmeßkunst vor der Geometrie, es gab eine Astronomie vor der mathematischen Mechanik. Es gab auch eine entwickelte Psychologie vor der eidetischen Psychologie; es gab sie, und es gibt sie noch in Form der modernen experimen-
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tellen Psychologie. Andererseits ist es klar, daß, wenn überhaupt der Inbegriff der eidetischen Wahrheiten, die zu einer regionalen Realitätssphäre gehören, so groß ist, daß er das Feld einer eigenen großen Wissenschaft ausmacht, die Konstitution dieser Wissen5 schaft einen entscheidenden Fortschritt der entsprechenden Erfahrungswissenschaft bedeuten muß. Eine Wissenschaft, das besagt eine Unendlichkeit systematisch zusammenhängender, in systematischer Einheit erforschbarer Wahrheiten und natürlich von Wahrheiten, die nicht auf der Hand liegen, sondern 10 nur als Früchte mühseliger Forschung entdeckt werden. Eine rationaleDisziplin als möglich erkennen und in methodischen Gang bringen, die für eine der großen Regionen der Erfahrung eine Unendlichkeit von Wahrheiten feststellt oder in sichere Aussicht stellt, die in unbedingter Notwendigkeit für alles Erfahrbare 15 dieser Region gelten, das heißt, die zugehörige regionale Erfahrungswissenschaft auf eine neue Stufe erheben. In dieser Art ist die physische Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert auf eine neue Stufe erhoben worden durch die Erkenntnis, daß die freilich schon längst etablierte Geometrie Grundstück sei einer nicht 20 bloß die Dinggestalt, sondern das ganze materielle Ding umspannenden Mathesis der Natur, und daß ihr Aufbau methodisch grundlegend sein müsse für eine neue, unvergleichlich leistungsfähigere, weil vom Licht der rationalen Mathematik durchleuchtete Naturwissenschaft. Der Glaube, Erfahrung und 25 Induktion (die man doch längst vor Galilei und Kepler gebraucht hat) hätten die neuzeitliche exakte Wissenschaft gemacht, das heißt, den Sinn und die Geschichte dieser Wissenschaft nicht verstehen. Was andererseits die Psychologie anlangt, so muß einem jeden, der nur ein Stück wirklicher Phänomenologie in 30 ihrem Sinn sich zugeeignet und aus der Fülle von best i m m t e n Problemen einige zusammenhängende Gruppen (etwa die in der vorliegenden Abhandlung berührten) mit Verständnis erfaßt hat, klar sein, daß die Phänomenologie, bzw. die der Idee einer rationalen Psychologie sich einbeziehende Wesenslehre der 35 Erlebnisse ein unendliches Feld von Wahrheiten eröffnet, die, als auf psychische Zustände a priori bezüglich, die psychologische Erkenntnis unendlich bereichern: und in einem ähnlichen Sinne bereichern wie mechanische oder phoronomische und überhaupt mathematische Erkenntnis a priori die empirische Naturwissen-
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schaft. Wer da glaubt, was in der Phänomenologie geleistet wird, das leiste die Psychologie durch innere Erfahrung ohnehin, spricht genau so weise wie derjenige, der meint, was die Geometrie dem Physiker leiste, das leiste ohnehin die physikalische Beobach5 tung und das Experiment. Freilich ist die Sachlage unbeschadet einer allgemeinen Analogie nicht die gleiche, und so darf das Gleichnis nicht übertrieben werden. Die rationale Psychologie ist keine Mathematik, und speziell die Phänomenologie der Erlebnisse ist keine Mathematik der Erlebnisse. Beiderseits 10 gemeinsam ist, daß es Wesenslehren und an das regionale Apriori angeschlossene Wesenslehren sind. Aber nicht jede Wesenslehre hat den Typus einer Mathematik. Das ist vielmehr ein ganz bestimmter wissenschaftstheoretischer Typus, dessen Form systematisch herauszustellen eine Aufgabe einer anderen Ontolo15 gie ist, der formalen (mit der formalen Logik einigen) mathesis universalis. Welche wissenschaftstheoretische Gestaltung (Theorienform, wie ich in den „Logischen Untersuchungen" sagte) eine regionale Eidetik hat, das hängt vom regionalen Apriori ab. Gehört zu einem solchen die Idee Raum, ein gewisses dreidimen20 sionales „Euklidisches Mannigfaltiges", so bestimmt diese Theorienform eine Mathematik; der Erlebnisstrom aber bietet in seinem Wesen nichts dergleichen wie einen Raum, kein irgendwie dem Raum analoges Ordnungssystem der Koexistenz, er ist kein Feld einer Mathematik. Mit dem grundverschiedenen wis25 senschaftstheoretischen Typus hängt viel zusammen. Zunächst ins Auge springend dies, daß die Zahl der u n m i t t e 1 b a r einsichtigen Wesenswahrheiten der Geometrie und aller naturontologischen Disziplinen eine sehr geringe ist (wofern wir ein Recht haben, uns nach der Physik und nicht nach den sogenann30 ten deskriptiven Naturwissenschaften zu orientieren: worüber in der Fortsetzung dieser Arbeit Untersuchungen angestellt und zugehörige Aufklärungen mitgeteilt werden sollen). Die großen mathematischen Wissenschaften, die der Naturwissenschaft das Apriori ihrer Seinssphäre beistellen, erwachsen in reiner 35 Deduktion aus den wenigen axiomatischen Grundlagen. Ganz anders in der rationalen Phänomenologie. Das Feld unmittelbarer Einsichten ist ein endloses, und die mittelbare Ableitung spielt im wesentlichen nur auf dem Umweg über andere
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Wissenschaften und ihre psychologische Bedeutung eine Rollet). Mit der Art der hier geforderten Wesenseinsichten hängt es aber zusammen, daß der Anfänger zunächst geneigt ist, deskriptive Psychologie und Phänomenologie ungeschieden ineinander 5 übergehen zu lassen. Bleiben wir, da es für das weitere nicht darauf ankommt, zunächst dabei, Wesenslehre der Bewußtseinszustände von transzendentaler Phänomenologie nicht zu trennen (wie ich es selbst in den „Logischen Untersuchungen" noch nicht getrennt habe). Die Phänomenologie würde als eine 10 wesentlich neue Disziplin sofort anerkannt werden und jedenfalls respektvolle Aufmerksamkeit erregen, wenn sie Türme von Formeln aufeinander baute und nach mathematischer Art deduzierte, mit dem Beiwerk indirekter Methoden, mit Tabellen, Zeichnungen, mit Instrumenten und experimentellen Veranstal15 tungen imponierte. Da sie rein aus der Anschauung schöpft, was soll sie Neues, was besonders Wissenschaftliches sein? Anschauung, ist es nicht etwas Mystisches, so ist es Erfahrung, und die üben wir, sagen die Psychologen, ohnehin. Wenn der Phänomenologe, statt in die höheren Problemlagen experimen20 teller Psychologie überzugehen, sich in die innere Erfahrungsanalyse vertieft, nun, dann leistet er ganz nützliche Vorarbeit, die sich aufs Beste der modernen „Psychologie" einordnet. - Indessen, die so sprechen, haben sich eben noch nicht die Mühe gegeben, aufmerksam zu studieren, was vorliegt, und haben nicht 25 das berühmte Chwolsonsche XI. Gebot beachtet, das man auch so formulieren kann: schreibe nie eine Kritik, bevor du das Kritisierte seinem schlichten Sinne nach verstanden hast. Es ist kein erfreulicher Eindruck zu beobachten, wie der Kritiker bestreitet, wo der Autor nichts behauptet hat, und ein noch 30 weniger erfreulicher, wenn er daneben freundlich zustimmt, wo der Autor ebenfalls nichts behauptet hat. Zur Sache habe ich nichts anderes zu sagen, als was der Logos-Artikel vielleicht etwas zu bedingt gesagt hat. In jeder Realitätssphäre gibt es Beschreibung, und Beschreibung stellt Dasein, r e a l e s 35 Dasein fest. Das ist: alle Beschreibung drückt in Worten und Wortbedeutungen aus, was erfahre n ist, sei es im singulären Fall, sei es als Allgemeinheit der Erfahrung, womit die ') Zum Unteuchied mathematischer und phänomenologisch-deskriptiver Methode vgl. auch Buch I der „Ideen", § 72.
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Vermutung verknüpft ist, daß künftige Erfahrung Ähnliches auch wieder als wirklich in der Welt vorkommend konstatieren würde. „Die Erfahrung lehrt" - das besagt also: derartiges ist durch Wahrnehmung als daseiend in der Naturwirklichkeit 5 festgestellt worden, so pflegt es, gesammelten Erfahrungen gemäß, in der Wirklichkeit zu sein. Jede Naturbeschreibung, wie sie in den deskriptiven Naturwissenschaften vollzogen wird, ist von dieser Art. Es wird beschrieben: der Löwe ist gelb. Phantasieren wir uns blaugrüne Löwen, Löwen aller Farben: die Erfah1o rung zeigt aber keine solchen Löwen, sie kommen daher in keiner Naturgeschichte vor. Selbstverständlich beschreibt auch die Erfahrungswissenschaft.die wir Psychologie nennen, Gegenstände, die in ihre Sphäre fallen, sie beschreibt Typen von Charakteren, Dispositionen usw. Nicht fingierte, sondern erfahrene. Das sagt: 15 sie kommen vor. So ist der wirkliche Mensch der wirklichen Welt, bzw. das wirkliche Tier. Fingierte Charaktertypen, Dispositionen u.dgl. sind eben fingierte. Neugeborene mit einer fertigen Sprache, mit einem vollendeten mathematischen Wissen, sind fingierbar, keine Psychologie wird aber nach ihnen fragen. Be20 schreibt sie ferner verschiedene Arten von Erlebnissen, Empfindungen, Vorstellungen, Gefühlen, so sind es natürlich wieder Erlebnisse, die in der Wirklichkeit bei Tieren und Menschen vorkommen. Wenn wir nicht selten hören, daß Psychologen die Werke der großen Dichter hoch preisen als Quellen psychologi25 scher Belehrung, so hat dies bei ihnen zwei Gründe. Bald ist die Meinung die, es sei ein Charakteristikum des dichterischen Ingeniums, daß seine Erfahrungsanschauung, Naturbeobachtung die allerlebendigste, reichste, mit größter Hingabe des anschauenden Interesses vollzogene sei. Ihm präge sich daher das Typische 30 des wirk 1 ich e n Daseins am tiefsten ein, und in seinen künstlerischen Gestalten gebe er diesem Typischen den vollendeten Ausdruck. Oder die Meinung ist die: lebendige Phantasieanschauung sei für den Psychologen ebenso gut wie aktuelle, von ev. äußeren Reizen ins Spiel gesetzte Erfahrung, da „psycho35 logisch" das „Phantasiebild" im wesentlichen dasselbe seelische Dasein habe wie das entsprechende (nur stärkere, lebendigere) Erfahrungsbild, wenn auch nicht dieselbe „objektive Bedeutung". Freilich ist das eine jener grundverkehrten Behauptungen, wie sie nur vor der Phänomenologie möglich sind: in Wahrheit
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weist sie nach, daß Phantasie und Wahrnehmung radikal getrennte Erlebnisarten sind. Wie immer, auch bei solchen Interpretationen der Phantasie und imaginativen Leistungen des Künstlers gilt, daß, was da Anschauung bietet und wissenschaft5 liehe Beschreibung ihr entnimmt, ausschließlich Fakta der objektiven Wirklichkeit sind, Erlebnisse oder Erlebnistypen, ebenso wie Charaktertypen, Dispositionstypen, die in der menschlichen Wirklichkeit f a k t i s c h e s Dasein haben. Demgegenüber gibt es in der eidetischen Phänomenologie eine 10 Beschreibung in diesem Sinne überhau:pt nicht. In ihrer Domäne ist prinzipiell jedes reale Dasein, die gi!J1Ze räumlich-zeitliche Wirklichkeit ausgeschaltet. Ihre Feststellungen betreffen nicht Realitäten sondern Wesen, ihre Wahrheiten sagen aus, was für solche Wesen, bzw. für alles unter solche Wesen Fallende a 1 s 15so1 c h es in unbedingter Notwendigkeit und Allgemeinheit gültig ist. Sie sprechen also von Erlebnissen genau so wie die geometrischen Wahrheiten von Körpern, die arithmetischen von Zahlen, die phoronomischen von Bewegungen: so wenig diese von der Erde oder selbst vom faktischen Weltall und den in 20 ihm vorkommenden Körpern, Bewegungen, Zahlen sprechen, so wenig die Phänomenologie von psychischen Wesen und psychischen Zuständen in diesem Weltall, in irgend einer Sphäre wirklichen Daseins. Wenn der Phänomenologe also sagt, es gibt Erlebnisse, es gibt seelische Zustände wie Wahrnehmungen, 25 Erinnerungen u.dgl., so sagt sein „es gibt" genau so viel wie das mathematische „es gibt", z.B. eine Reihe von Anzahlen, es gibt relative Primzahlen, es gibt keinen regelmäßigen Zehnflächner. Begründet ist dieses „es gibt" beiderseits nicht durch Erfahrung sondern durch Wesensschauung. Erfahrung ist ein Titel 30 für Dasein aufweisende, als Wahrnehmung originär erfassende Akte. Was aber die Wesensschauung zur originären Erfassung bringt, das sind nicht Einzelheiten des Daseins, sondern Wesen von niederster Allgemeinheit oder als Arten und Gattungen von höherer Allgemeinheit,ihnen entsprechendesEinzelnes braucht 35 es nicht zu geben, und soll es so etwas geben, so kann nur aktuelle Erfahrung es aufweisen. Wesenswahrheiten sind absolut bindende, sind unüberschreitbare, durch keine Erfahrung zu bestätigen oder zu widerlegen. Erfahrungswahrheiten, Aussagen, die ihrem Sinn nach Dasein setzen, also in der B e g r ü n d u n g Daseins-
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erfahrung fordern, sind zufällige Wahrheiten, die wie durch Erfahrung begründet, so durch Erfahrung modifiziert und aufgehoben werden: sie gelten nur präsumptiv, vorbehalten weiterer Erfahrungsbestätigung. Selbst wenn die sich an das 5 Faktum bindende, sich durch E r f a h r u n g begrenzende Beschreibung der eigenen und fremden seelischen Zustände und Zustandsverläufe dem Psychologen in einem noch so eng begrenzten Gebiete genügen könnte derart, daß in diesem Wesensdeskriptionen und auf Wesenszusammenhänge bezogene Ein10 sichten entbehrlich wären, bestände darin eine gewaltige Erweiterung der Erkenntnis, daß das Faktische in seinem deskriptiven Bestand nicht nur faktisch, sondern wesensnotwendig Geltung hat. Und so bedeutet es überhaupt sehr viel, daß wir einsehen, es sei nicht nur die physische Natur, sondern auch in 15 noch viel größerem Umfang die psychische Natur, und es sei insbesondere der Strom seelischer Zustände animalischer Subjekte an apriorische Gesetze gebunden, alle Tatsachenerkenntnis, alle Tatsachengesetze seien Regelungen, die sich von einem mächtigen Hintergrund von apriorischen und absolut notwendi20 gen Wesensgesetzen abheben und die nur im individuell-realen Dasein binden, was der Bestand an Wesensgesetzen offen gelassen hat: genau so wie physikalische Gesetze unter den Bewegungsformen, die in absolut fester und wissenschaftlich erkennbarer Gesetzlichkeit die Phoronomie fixiert, ihre Auswahl 25 treffen als erfahrungsmäßig mögliche, als mögliche unter den gegebenen realen Umständen in der realen Wirklichkeit. Daß es sich aber so verhält, ist zweifellose Wahrheit für den, der sich wirklich dem Sinne der vorliegenden Stücke wirklicher phänomenologischer Forschung hingibt. Sich in die völlig unge30 wohnte Art eidetischen Schauens und Forschens hineinzufinden, ist freilich nicht leicht, und wer zudem von der Art und Methode cler gegenwärtigen experimentellen Psychologie so vollkommen befriedigt ist, wie es die meisten Vertreter dieser Disziplin zu sein scheinen, dem liegt es menschlich nahe, zu tun wie der 35 Abbe Galiani, der bekanntlich sich weigerte, durch ein Fernrohr zu sehen: auch er war seiner Astronomie völlig gewiß und mit ihrer Art völlig zufrieden. Die Zukunft wird wohl auch hier lehren, daß evidente Gegebenheiten nicht fortzuschaffen sind dadurch, daß man nicht auf sie hinsieht, und dereinst werden die Psycho-
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logen das „Instrument" der phänomenologischen Wesenslehre für nicht minder wichtig, ja zunächst wohl für sehr viel wichtiger halten als die mechanischen Instrumente. Das Gleichnis vom Instrument darf man natürlich nicht pressen. Die phänomenologi5 sehe Methode tritt ja so wenig in Konkurrenz mit der experimentell-psychologischen als es die mathematischen Methoden in der Physik mit den experimentell-physikalischen tun. Die experimentelle Psychologie soll nicht preisgegeben, sondern durch die phänomenologische Fundamentierung unvergleichlich er10 tragreicher gemacht, durch sie im echten Sinne zu einer exakten, rational erklärenden Wissenschaft gestaltet werden. Aber freilich wird die Erkenntnis der Phänomenologie auch dazu beitragen, die Überschätzung der möglichen Leistungen des Experiments zu beseitigen und zur Einsicht zu bringen, daß die Sachlage für 15 die Psychologie aus wesentlichen Gründen keine völlig analoge ist wie in der physischen Naturwissenschaft, und daß hiermit eine unvergleichlich größere Bedeutung der intuitiven Wesenserkenntnis auf Seiten der ersteren zusammenhängt. Und ganz besonders wird das auch gelten für jene ganz andersartige 20 Psychologie, die wit noch nicht gewürdigt haben, und deren ganz anders fundierte Art nur einzelnen Forschem zur Abhebung gekommen ist: die P s y c h o 1 o g i e a 1 s G e i s t e s w i s s e ns c h a f t. Freilich, wer solche Dinge sagt, wird heutzutage sehr ungern gehört und setzt sich heftigen Abweisungen aus. Man 25 spricht von „Angriff" gegen die experimentelle Psychologie, man tut so, als würde durch solche Außerungen (und andere habe ich in der Logos-Arbeit nicht gemacht) diese Wissenschaft und ihre Forscher herabgesetzt, ein unwürdiger Ton gegen sie angeschlagen usw. Darf ich zur Abwehr ein Wort hier einfügen, 30 so möchte ich doch darauf hinweisen, daß ich kein Wort je geäußert habe, was der selbstverständlichen Achtung zuwiderliefe, auf welche die neue experimentelle Psychologie durch die ernste und in gewisser Begrenzung auch sehr fruchtbare Arbeit und durch die Bedeutung ihrer Vertreter allen Anspruch hat so 35 gut wie irgend eine andere Wissenschaft. Dem steht doch keine prinzipielle, an die Wurzeln psychologischer Methode greifende Kritik entgegen. Sind die großen Chirurgen wie Volkmann oder Billroth darum weniger große Chirurgen, weil die Chirurgie und so die ganze medizinische Therapeutik nur in geringem Umfange
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durch naturwissenschaftliche Theorie so fundiert ist,wie es gefordert werden muß, und wie sie selbst freilich es gefordert haben? Wäre ihrer Größe jemand nahe getreten, der dafür, falls sie es selbst nicht empfunden hätten, durch radikale Kritik 5 den Nachweis geliefert hätte? Freilich habe ich auch gesagt und treffe damit Empfindlichkeiten, die ich um der Notlage der heutigen akademischen Philosophie treffen mußte, daß die Verquickung von naturwissenschaftlicher Psychologie und Philosophie einer 10 nicht nur falschen sondern auch seichten Philosophie Vorschub geleistet hat, die sich für Philosophie hält und doch kein prinzipielles philosophisches Problem überhaupt sieht. Jeder wirkliche Philosoph in unserer Zeit kennt diese Sachlage, es ist darüber nur eine Stimme, und jeder bewertet einen breiten 15 Strom unserer philosophischen Literatur, der unter der Flagge psychologischer und naturwissenschaftlicher Philosophie geht, in gleicher Weise. Die älteren Vertreter der Psychologie, die infolge ihrer Erziehung noch eine innere Fühlung zu philosophischen Problemen hatten und sich an wirklicher philosophischer 20 Arbeit auch beteiligt haben, unterschätzen die Gefahr unserer Situation. Die jüngere Psychologengeneration, erdrückt durch die ungeheuer angeschwollene experimental-psychologische Literatur und die Schwierigkeiten der Konstruktion und Beherrschung der technischen Hilfsmittel, entbehrt notwendig dieser 25 Fühlung, die eben nicht durch eifrige philosophische Lektüre so nebenbei zu erwerben ist. Sie verfällt einem unklaren und oberflächlichen, dem Naturforscher so bequem eingehenden Naturalismus und erweist ihre Eignung für philosophische Katheder durch literarische Produktionen, die sich an der Idee einer wis30 senschaftlichen Philosophie versündigen. An diesem Urteil nehme ich kein Wort je zurück, aber es trifft doch nicht die Psychologie und auch nicht die Psychologen als solche und überhaupt, sondern eben die Psychologen, die es mit der Philosophie zu leicht nehmen. Ein vorzügliches Beispiel ist dafür G. Anschütz 35 in seinen Abhandlungen über die psychologische Methode: Abhandlungen, die über das Prinzipielle der Methode handeln, also philosophisch sein wollen. Jedes Wort, das er da über Phänomenologie sagt, ist nicht nur schief, sondern den bloßen Sinn völlig verfehlend - abgesehen von allem Tadel, der ihn
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treffen muß wegen einer unglaublich leichtfertigen Berichterstattung. Der Verfasser scheint es sich gar nicht zu Bewußtsein gebracht zu haben, daß öffentlich erstattete Berichte über literarische Außerungen eines anderen aus einem aufmerksamen 5 Studium der Schriften desselben geschöpft sein müssen, daß aus Leichtfertigkeit entsprungene Verfälschungen fremder Ansichten geeignet sind, deren Autor in den Augen der nicht orientierten Leser herabzusetzen, kurzum, daß es Regeln des literarischen Anstandes und so etwas wie literarische Verantwortlichkeiten 10 gibt. Es sei hier noch ausdrücklich beigefügt, daß die kritische Widerlegung der nur aus Mißverständnis der Phänomenologie als einer empirischen Analyse der eigenen Seelenzuständlichkeiten (oder, wenn man will, der eigenen in innerer Wahrnehmung oder Erinne15 rung erfaßten Erlebnisse) entsprungenen Meinung, man könne aus der naturwissenschaftlich-experimentellen Psychologie phänomenologische Resultate gewinnen, keineswegs besagt, daß experimentelle Veranstaltungen nicht in einem guten Sinne phänomenologische Funktion gewinnen können. Sprach ich in 20 meinen Kritiken von experimenteller Psychologie, so betonte ich scharf genug ihr Wesen als Erfahrungswissenschaft. Das drückt ja das Wort Experiment aus, es soll ja doch denselben Sinn haben wie in der Rede von Experimentalphysik. Andererseits besagt der Ausschluß der E r f a h r u n g für die Erkenntnisbegrün25 dung nicht den Ausschluß der Erfahrung als Unterlage für die intuitive Konzeption des Wesens. Der Naturforscher braucht Erfahrung, weil er Tatsachenwahrheiten sucht, der Wesensforscher braucht keine Erfahrung, weil er Wesenswahrheiten sucht: sie begründet ihm keine seiner Wahrheiten. Was er aber 30 braucht, ist Anschauung, er braucht klare Auffassungen von Einzelmomenten des zu erschauenden Wesens, er operiert mit exemplarischen Anschauungen. Prinzipiell können ihm nun freilich anschauliche Phantasien ebenso gut dienen wie Wahrnehmungen, und es liegt in der Natur der Sachen, daß in unvergleich35 lieh weitestem Ausmaß sein Wesensdenken von Phantasie geleitet ist. Nur sie gibt ihm wie jedem Wesensforscher bei ihrer Freiheit der Gestaltung die Fähigkeit, die unendlichen Mannigfaltigkeiten von Möglichkeiten, hier von Erlebnismöglichkeiten, eben frei und allseitig zu durchlaufen (wesensgesetzliche Allge-
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meinheiten einzusehen, Probleme wie die der Konstitution von Realem überhaupt in Angriff zu nehmen). Andererseits hat aber die Phantasie die bekannten Nachteile. Sie hält, selbst wenn sie klar war, nicht stand, sie verliert schnell ihre Fülle, sie sinkt ins 5 Halbklare und Dunkle. Natürlich wird der Phänomenologe also, wo immer er kann, aus der Urquelle der Klarheit, aus der voll lebendigen „Impression" schöpfen, mag er für Dasein noch so wenig interessiert sein. Und warum sollten dann nicht auch instrumentelle Hilfsmittel und experimentelle Veranstaltungen 10 derselben Art, die sonst eben der experientia dienen, auch dazu helfen können, Anschauungsmaterial bester Art zu gewinnen? Ist das auch nicht überall und in freiestem Ausmaß möglich, so doch in großem Umfang insbesondere im Feld der Sinnlichkeit, nicht bloß der Empfindungssinnlichkeit, sondern auch der sinn15 liehen Anschauungen und \Vertungen und Wollungen. Aber natürlich auch darüber hinaus. In diesem Sinn macht jeder Phänomenologe beständig Experimente; natürlich ohne nutzloses Protokoll, mit Fixierung aller Versuchsbedingungen, Beschreibung aller Veranstaltungen usw. Denn das Experiment 20 soll ja keine Erfahrung von Realem (das in seinen „Umständen" vermöge der Richtung auf seine Kausalitäten Forschungsobjekt ist) liefern, sondern eine bloße exemplarische Anschauung als Unterlage einer Wesensschauung. Auch die ausgezeichneten instrumentellen Mittel des psychologischen Experimentes können 25 in dieser Hinsicht nützlich fungieren, wieder in völlig geänderter Methode, entsprechend der geänderten Absicht. In dieser Hinsicht liegen, aber nicht aus der Psychologie selbst, sondern aus den Anregungen der Phänomenologie entsprungen, kleine Anfänge schon vor, die ihre Fortführung sicher finden werden. 30 Man beachte wohl, daß das kein Rückzug ist, sondern genau bekräftigt, was im Logos und hier gesagt worden ist. (Über diese Möglichkeit künstlicher Veranstaltungen zur Beschaffung der exemplarischen Anschauungen habe ich als akademischer Lehrer seit einer Reihe von Jahren oft genug gesprochen und schon die 35 ersten Arbeiten der Würzburger Schule über experimentelle Psychologie des Denkens seinerzeit in philosophischen Seminarübungen als Anlaß genommen, um die methodischen Unterschiede des psychologischen und phänomenologischen Experiments genau in der hier beschriebenen Weise zu erörtern.) Die
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Art, wie hier die äußeren Veranstaltungen fungieren, ist prinzipiell ganz gleichartig mit denen, deren sich die Geometer bedienen. Die schönen Modellsammlungen, die unsere mathematischen Institute bergen, dienen fruchtbarer Forschung und Lehre 5 ebenso gut wie die Zeichnungen auf der Tafel und auf dem Papier. Prinzipiell leisten sie nicht mehr als die geometrische Phantasie, in die überzuleiten sie offenbar zugleich berufen sind; sie dienen ja der Wesenserfassung, aber sie erregen exemplarischeAnschauungen, und das hat den besprochenen Vorteil. Will die Phantasie 10 uns nicht den Gefallen tun, klare Anschauungen zu liefern, so erzwingen wir die Anschauung eben durch Wahrnehmung 1) und ermöglichen dadurch zugleich eine Lebendigkeit an sie anknüpfender, frei umbildender Phantasie. § 9. D i e Be d e u t u n g d e r p h ä n o m e n o 1 o g i s c h e n Deskription für das Erfahrungsgebiet.
Die Behauptung, die Psychologie müsse durch phänomenologi15 sehe Erforschung des Bewußtseins und der Gesamtsphäre der Erlebnisse mit ihren Wesenskorrelaten eine neue Rangstufe erreichen, ist aber nicht etwa a priori konstruiert, sondern aus der Erkenntnis der ungeheuren Schwierigkeiten phänomenologischer Analyse der Erlebnisse nach ihren Erlebnismomenten 20 und -schichten, nach der Verflechtung ihrer Zusammenhänge, ihrer Ablaufsmodi, nach ihren Ichbeziehungen und noematischen Beziehungen entsprungen, und das natürlich in Verbindung mit der selbstverständlichen Einsicht, daß all das in die empirische Apperzeption als psychologische Zustände eingeht und bekannt 25 sein muß, wenn die Psychologie überhaupt die Fähigkeit haben soll, in strengen Begriffen auszusagen, was der Erlebnisstrom als kontinuierlich sich ändernder Gesamtzustand der Seele und was das psychische Faktum innerhalb eines solchen eigentlich ist, dessen kausal-realen Zusammenhang sie zur Erkenntnis 30 bringen will. Wer der Phänomenologie fremd ist, hat von den Schwierigkeiten, Verwicklungen und den vielfältigen Wesensnotwendigkeiten, die hier walten, nicht die entfernteste Vorstellung, und mag er auch sein Leben lang im Stil der neuen Psychologie geforscht haben. Denn auf ihren Wegen liegt das ') Vgl. die Abhandlung von Geiger ,der sich genau in demselben Sinn äußert.
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eben nicht, wie jeder Blick in die psychologischen Lehrbücher und Abhandlungen ohne weiteres zeigt. Darum ist es ja so verkehrt, wenn man durch Umfragen bei Versuchspersonen, und zwar wohlgeübten Psychologen, und durch Studium ihrer 5 Protokolle p h ä n o m e n o 1 o g i s c h relevante Ergebnisse gewinnen will. Gewiß, jede in wirklicher Erfahrung vollzogene Analyse kann phänomenologisch nutzbar sein, aber einerseits würde die Beschränkung auf Erfahrungsanalyse keine irgend zureichende Phänomenologie möglich machen, andererseits ist 10 es keine kleine Sache, das rein Gegebene wirklich zu Wort kommen zu lassen gegenüber allen zur Intentionalität der Erfahrungseinstellung sich eindrängenden Transzendenzen. Die naturwissenschaftliche Einstellung ist ihrem Wesen nach gerichtet auf das RealKausale im Zusammenhang des wirklichen Daseins. Man muß 15 diese Einstellung radikal ändern, um überhaupt eine ernste Deskription des Zuständlichen, wie es Erlebnis ist, gewinnen zu können. Durch die prinzipielle Ausschaltung der Erfahrungseinstellung und aller auf Erkenntnis der realen Wirklichkeit gerichteten Interessen, die die Phänomenologie als Wesenslehre 20 vollzieht, ist also schon viel gewonnen. Wer im erfahrungswissenschaftlichen Interesse lebt, sieht von vornherein nicht das Erlebnis, auch wenn er es sehen, seinen Blick darauf richten will; erst wenn dieses Interesse aufhört, die Triebkraft zu sein, wenn die Transzendenzen, die es in den Blick zwingt, ihre Kraft 25 verlieren, hält das Erlebnis stand, dann kann bei geduldiger Forschung die Annäherung an das Gegebene fortschreiten. Erst dann kann auch die Notwendigkeit der weiteren Reduktio-nen zum Bewußtsein kommen, die mit der erwachsenden Einsicht verflochten sind, daß auch bei dem in Wesenseinstellung 30 Erfaßten zwischen Immanentem und Transzendentem zu scheiden und in dieser Hinsicht Verschiedenes zu trennen sei, was doch wesensmäßig zum Erlebnis gehöre. Wer phänomenologisch geübt ist, sieht ohne weiteres, daß all die wohlgemeinten Deskriptionen der Psychologie kaum die Oberfläche streifen und selbst 35 für die Oberfläche wesentlich verkehrte sind. Man braucht nur hinzublicken auf die naive Art, in der gegenwärtig mit den Schlagworten Akt, Inhalt, Gegenstand der Vorstellungen operiert wird, und wie unter jedem dieser Titel sozusagen alles Mögliche durcheinandergeht; oder hinzublicken auf die Unfähigkeit der
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gewöhnlichen Deskriptionen, so kardinale Unterschiede wie die zwischen Gegenwärtigung und den verschiedenen Modi der Vergegenwärtigung, z.B. zwischen materieller Wahrnehmung, entsprechender Phantasie, Erinnerung, Erwartung, Bildan5 schauung zu verstehen und in strengen Begriffen zu beschreiben, sowie dabei einzusehen, daß in jeder Vergegenwärtigung, in der schlichtesten Phantasie, schon eine höhere Stufe der Intentionalität und eine radikal neuartige vorliege. Und so könnte man an beliebigen Stellen anfassen; es wäre lehrreich, all die durchaus 10 verkehrten Problemformulierungen (z.B. in den so viel verhandelten Fragen nach dem „Ursprung" der Raum-, Zeit-, Dingvorstellung) zu beleuchten, die nur aus dem Mangel reiner phänomenologischer Analysen erwachsen. Aber wir können uns hier nicht darauf einlassen, und es ist 15 auch gar nicht nötig. Jedermann sieht es ohne weiteres und mit aller erwünschten Klarheit, der sich in die phänomenologische Methodik eingearbeitet und das reine Schauen gelernt hat. In der Tat, nur darauf kommt es an, während, solange es daran fehlt, der Eindruck herrschend und ganz begreiflich ist, es handle sich 20 bei der Phänomenologie um ein paar dürftige Scheidungen, um so etwas wie eine analytische Kleinarbeit, die man zwischen den Mühen der experimentellen Arbeit so nebenbei schon erledigen würde, wo es gerade nötig sei. Man kann eben vorher nicht sehen, was für eine Fülle von schwierigen und durchaus grundlegenden 25 Untersuchungen hier nötig sind, und wie armselig das ist, was wir bisher vom Bewußtsein und seinem Wesensbau wissen. Erst wenn wir etwas davon wissen und soweit wir davon wissen, und zwar durch reine Intuition, haben wir den Fond der beschreibenden Begriffe, der wissenschaftlich strengen und wertvollen 30 psychologischen Begriffe. Was sie zu wertvollen macht, ist nicht verbale Eindeutigkeit, durch Scheidung der schon vorhandenen leeren Wortbedeutungen gewonnen, sondern die Anpassung an die in der Intuition durch analytisches Studium ausgeschiedenen, von allem Mit35 verflochtenen unterschiedenen Wesen. Eine Unzahl neuer Begriffe wird gewonnen, und die Anknüpfung an Worte der Sprache hat nur die Funktion, die ungefähre Richtung zu bezeichnen, in der sie liegen, oder durch bildliche Ausdrücke das Festhalten (und für den Lernenden das Erfassen) der gesehenen
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Wesensmomente zu erleichtern. t) Hat man den dornigen \Veg durch das Eingangstor der Phänomenologie überwunden, hat sich der unendliche Horizont der neuen Wissenschaft, die hier als Grundstück der rationalen Psychologie erscheint, aufgetan, dann 5 lernt man auch verstehen, wieviel der Phantasie-Intuition (und natürlich auch der künstlerischen Imagination) für phänomenologische Zwecke zu danken ist, und wie ohne die Freiheit ihrer Bewegung gar kein Gedanke daran wäre, die Zusammenhänge möglicher Bewußtseinsgestaltung (noematisch und noe10 tisch) systematisch und wesensmäßig zu verfolgen und über die zufälligen Vereinzelungen von Wesensfassungen hinaus zur überwältigenden Einsicht in den Gesamtbau des Bewußtseins, in die Grundverfassungen, die es mit allen seinen noematischen Möglichkeiten und somit für alle möglichen Welten beherrschen, 15 einzudringen. Wer durch unsere Ausführungen über das Problem der Konstitution von Realitäten (ich sage besser: durch unsere Andeutungen - denn wirkliche Ausführungen können nur große systematische Darstellungen geben) auch nur eine Ahnung des hier wirklich zu Leistenden gewonnen hat, der wird, auch 20 wenn er philosophisch gar nicht interessiert ist, verstehen, welche Summe von möglichen Erkenntnissen die freie Phantasie, wenn sie Untergrund phänomenologischer Wesensforschung ist, einer wissenschaftlichen Psychologie zu bieten hätte. Es ist wirklich so, wie die alten Rationalisten es meinten: eine Unend25 lichkeit von Möglichkeiten geht der Wirklichkeit vorher. So die systematische Unendlichkeit der geometrischen Möglichkeiten der physischen Wirklichkeit; so die durch Wesensnotwendigkeit und durchgängige Wesensnotwendigkeit geregelte Unendlichkeit möglicher Bewußtseinsgestaltungen und 30 noematischer Gestaltungen der psychologischen Wirklichkeit und Psychologie. Es hilft nichts, die Augen hier zu verschließen: rationale Psychologie ist eine große Wissenschaft, und sie umgrenzt die apodiktischen gesetzlichen Möglichkeiten, an deren absolut festen Rahmen die psychologischen Wirklichkeiten 35 gebunden sind.
t) Vgl. über die Verwendung bildlicher Ausdrücke die treffenden Ausführungen von Pfänder: „Zur Psychologie der Gesinnungen", Jahrbuch, Bd 1, S. 330.
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§ 10. Ver h ä 1 t n i s der Phänomen o 1 o g i e zu den S c h r i f t e n B o 1 z a n o s , L o t z e s u n d B r e n t a n o s.
Es wird für die Sache, für die ich hier eintrete, auch noch folgende Anmerkung nützlich sein: Mit dem Mißverstehen des \Vesens der Phänomenologie hängt es zusammen, daß man neuerdings und wohl mit Rücksicht auf die Anstöße, die ich 5 von Lotze und Bolzano empfangen habe, und deren ich mir nach wie vor in größter Dankbarkeit bewußt bin, diese großen Forscher als Begründer der Phänomenologie bezeichnet und in einer Weise, daß es geradezu scheinen muß, der beste Weg in die Phänomenologie sei Rückgang auf ihre Schriften als die 10 Urquellen der neuen Wissenschaft. Indessen die große Logik Bolzanos kommt hier so wenig in Frage, daß er auch nicht die leiseste Ahnung von Phänomenologie hatte: von Phänomenologie in dem Sinn, den meine Schriften vertreten 1). Von dem Gedanken einer Wesensforschung in der Intuition, dem eines Apriori, 15 das sich hier ergibt, einer Fundamentierung der Philosophie und Psychologie auf Wesenserkenntnis ist Bolzano so weit entfernt wie Mill, wie sich denn bei ihm extreme empiristische Äußerungen finden, die denen Mills gar nichts nachgeben. 1\Iein Weg zur Phänomenologie war durch die mathesis universalis 20 wesentlich bestimmt (auch von dieser hat Bolzano nichts gesehen), und für die Konzeption der Idee einer solchen Mathesis, zu der ich durch meine Studien über formale Mathematik gedrängt wurde, war mir der Entwurf eines begrenzten Stückes dieser Idee durch Bolzano, des Stückes der Lehre von den Sätzen 25 an sich und den Wahrheiten an sich, von unschätzbarem \Vert. Hätte ich die reine Idee in mathematischer Sphäre nicht schon gehabt und auch schon für die Sphäre der logischen Mathematik gehabt, welche die neueste Zeit (unabhängig von Leibniz) ausgeführt hat, so hätte ich den Sinn der Bolzanoschen Theo30 rie ebensowenig gesehen, wie ihn alle diejenigen gesehen haben, welche die Wissenschaftslehre benutzten und zitierten. Die breite Ausführung einer reinen Logik der Vorstellungen und Sätze an sich, die keineswegs von Bolzano als ideale Wesenheiten der Wesensintuition in meinem platonisierenden Sinn anerkannt 1) Ich muß da beifügen, daß das Wort zum Modewort geworden ist, und es nun so ziemlich jedem Autor, der die Welt mit einer philosophischen Reform zu beschenken unternimmt, beliebt, seine Ideen unter dem Titel Phänomenologie in Kurs zu bringen,
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, gab mir ein festes Substrat für das Nachdenken, es knüpften sich daran wie an die ganze formale Mathesis die P r o ·b l e m e, die mich zwangen, von der Psychologie .zur Phänomenologie fortzuschreiten. Aber schon die P r o b l e m e 5 waren Bolzano völlig fremd. Man kann von ihm viel formale Logik lernen, denn darin war er ein großer Forscher und nicht, wie Windelband sagt, ein unbedeutender Grübler; aber Phänomenologie ist aus ihm so wenig zu lernen als Vernunftkritik. Was andererseits Lotze anlangt, so fehlt es ihm bei allen genia10 len Bemerkungen im einzelnen an dem Sinn für radikale Prinzipienforschung. Es war nirgends seine Art, zu den letzten Wurzeln zurückzugehen und unter Zurückstellung aller theoretischen Vormeinungen sich mühselig an den Verzweigungen der Probleme emporzutasten bis zur klaren radikal begründeten 15 Wahrheit. Er hatte immerfort, in jedem Schritt, sein System vor Augen, immerfort lebte er in den Interessen der Versöhnung von Verstand und Gemüt. Radikale Forschung aber ist interesselose Forschung. Seine geniale Interpretation der platonischen Ideenlehre wird sein größtes, unvergeßliches Verdienst sein. 20 Die Konsequenz hat er so wenig gezogen, daß ich seine Erkenntnistheorie auch heute noch als einen widerspruchsvollen Zwitter bezeichnen muß, ein Produkt der Halbheit, die letzte Konsequenzen scheute. Seine „Phänomenologie" reduziert sich auf den Hinweis auf einige apriorische Verhältnisse in der Sphäre der 25 sinnlichen Inhalte; dabei fehlt ihm, wenn man genauer zusieht und seinen schönen Sätzen nicht einen ihnen selbst fremden Sinn unterschiebt, der echte Begriff des durch Wesensintuition zu erfassenden W e s e n s , das ein a b s o 1 u t e s Maß der Wahrheit darstellen könnte. Er rührt gelegentlich an diesen 30 Sinn, aber nur, um ihn zu Gunsten ganz wertloser Begriffe von Apriori wieder fallen zu lassen. Vollends, daß es so etwas wie eine Wesenslehre des Bewußtseins überhaupt geben könne, weiter eine Wesenslehre der Verhältnisse von Bewußtsein und Bewußtseinsnoema, eine Konstitution der Gegenständlichkeiten usw., 35 davon ist ihm nie eine Ahnung gekommen und somit keine Ahnung von dem, was wir hier Phänomenologie nennen. Wir tun seiner Größe, der Bedeutung seiner Impulse und der Dankbarkeit, die wir ihm schulden, keinen Abbruch, wenn wir dieses Fakt um feststellen.
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Endlich fassen manche die Phänomenologie als eine Art Fortsetzung der Psychologie Brentanos. Wie hoch ich dieses geniale Werk schätze, und wie stark es (und auch die anderen Schriften Brentanos) in jüngeren Jahren auf mich gewirkt hat, 5 es muß doch auch hier gesagt werden, daß Brentano von einer Phänomenologie in unserem Sinne ferngeblieben ist, und das bis zum heutigen Tage. Dies aber so sehr, daß er es durchaus ablehnt, die neue Bewegung als einen Fortschritt anzuerkennen. Gleichwohl hat er sich epochemachende Verdienste gerade um 10 die Ermöglichung der Phänomenologie erworben. Er bot der Neuzeit die aus dem Bewußtsein selbst in immanenter Deskription geschöpfte Idee der I n t e n t i o n a l i t ä t dar; obschon er die Linien reiner Deskription vielfach überschreitet (wie ich meinen möchte), so haben mindestens viele seiner Be15 griffsbildungen ihre Quelle in wirklicher Intuition. So konnten und mußten sie für Intuition überhaupt erziehend wirken und somit auch nach der vollzogenen Wendung in Wesensintuition; aber das Wesen intentionaler Analyse hat er nicht gesehen. t) §11. Unterschiede der Beziehungen von Physik u n d P s y c h o 1 o g i e z u i h r e n o n t o 1 o g i s c h e n F u nd a m e n t c n. D i e B e d e u t u n g d e r D e s k r i p t i o n i n b e i d e n W i s s c n s c h a f t e n.
Was den Psychologen nicht zum mindesten beirrt,ist, daß er 20 im Bewußtsein, daß seine Wissenschaft Naturwissenschaft sei, so sehr geneigt ist, sich vom Vorbild der physischen Naturwissenschaft und begreiflicherweise dann der Physik leiten zu lassen. Die Physik ruht zwar auf rationalen Disziplinen, aber von ganz anderem Grundcharakter als von dem der Phänomenologie. 25 Die Phänomenologie ist ein unendliches Feld von Wesensanalysen und Wesensbeschreibungen, aber kein Feld von Deduktionen; die 1 ) Nicht in der Sphäre der sinnlichen Stoffe, dem von Lotze bemerkten Apriori der Farben- und Tonordnungen, sondern in dem vollen und ganzen Erlebnisstrom und vor allem im Bewußtsein mit seiner Intentionalität und seinen intentionalen Vermeintheiten liegen die großen Probleme und Forschun~n der Phänomenologie. Es sind diejenigen, die speziell für Psychologie und andererseits für Vernunftkritik grundlegend sind. \Ver da meint, daß es sich bei der PhänQmenologie, bezogen auf den konkret-vollständigen Strom der reinen Icherlebnisse mit dein reinen Ich selbst, um etwas mit Farben· und Tonordnungen Analoges handelt, der findet freilich don Weg zur Phänomenologie nicht und begreift verständlicherweise nicht, wie solche Sachen psychologisch und philosophisch so viel bedeuten sollten.
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rationale Naturwissenschaft, z.B. die reine Geometrie oder Phoronomie, ist ein unendliches Feld von Deduktionen, aber kein Feld von Wesensanalysen und Deskriptionen. Die Geometrie beginnt mit der Fixierung weniger, der Intuition entnomme5 ner Begriffe. Offenbar sind die begrifflichen Wesen der Anschauung räumlicher Gebilde in einer Weise entnommen, die keine großen Umständlichkeiten („Reduktionen", „Analysen") erfordert. Es ergeben sich unmittelbare Wesenseinsichten, die als Axiome im begrifflichen Denken ausgedrückt werden: ein 10 paar Axiome, und alles andere ist formale Deduktion, nach den Prinzipien der formalen Mathesis (für die übrigens mutatis mutandis, d.i. im Rahmen formaler Wesensintuition, genau das Gleiche gilt). In der empirischen Naturwissenschaft finden wir dann zwar 15 sehr viel Beschreibung, ganze „beschreibende Naturwissenschaften", und für die beschreibenden Begriffe sieht man sich, wenn man von der Phänomenologie herkommt, sogleich nach den Wesensgebieten um, aus denen die beschreibenden Begriffe durch Intuition ihre normierenden Wesen zu entnehmen hätten. 20 Es muß dann doch eine rationale Disziplin geben, die ein Grundfeld für Wesensbeschreibungen sein müßte und als Unterlage der Naturwissenschaft zu gelten hätte. Aber da finden wir die erstaunliche Situation, daß die Deskription in der Natursphäre gar keine objektive Gültigkeit im vollen Sinne beansprucht, 25 daß sie nichts weniger als jene begriffliche Strenge beansprucht und anstrebt, welche wir in der Psychologie, wenn sie eine strenge Wissenschaft sein soll, als Lebensfrage hinstellen, daß die Beschreibung zum Teil überhaupt eine total andere Rolle spielt in der äußeren als in der seelischen Natur. Wie sich darin 30 auch zeigt, daß die äußere Beschreibung der deskriptiven Wissenschaften kein theoretisches Fundament ist für die Erklärung der „abstrakten", der nomologisch erklärenden Wissenschaften. Die Mineralogie, Geologie und alle sogenannten deskriptiven Wissenschaften sind nichts weniger als Fundamente der Physik. 35 Die Physik „erklärt", was sie „beschreiben", aber sie selbst baut sich nicht auf den Beschreibungen auf. Das Verfahren der Physik, der Wissenschaft von der objektiven Natur in ihrer reinen Objektivität, ist hinsichtlich der konkreten Anschauungsunterlage, deren sie doch wie jede Wissenschaft bedarf, ein
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merkwürdiges. Sie operiert, hantiert mit den anschaulich gegebenen Dingen, sie nennt sie, sie verwendet also auch beschreibende Begriffe. Aber von einer mühseligen Herausarbeitung der Begriffe aus der sinnlichen Anschauung, von einer umständlichen wissen5 schaftlichen Arbeit der Klärung der vorgegebenen empirischen Begriffe, die das Alltagsleben an den Anschauungen gebildet hat, einer durch Wesensanalyse zu vollziehenden Wesenserfassung und Wesensbegrenzung ist nichts zu bemerken. Es muß doch, da es sich um eine so hoch entwickelte Wissenschaft lO handelt, gar kein Bedürfnis dafür vorliegen. Der Psychologe, bald bewußt, bald unbewußt das physikalische Verfahren nachahmend, geht nun ebenfalls frisch darauf los, er nimmt den Menschen und sein Seelenleben im Naturzusammenhang, so wie der Physiker die materiellen Dinge nimmt: er geht, ohne sich in Wesensanalysen 15 und Wesensbeschreibungen einzulassen, gleich in die Kausalitäten hinein; er experimentiert, variiert die Umstände und geht den realen Abhängigkeiten nach, sich zunächst schlecht und recht mit den Begriffen begnügend, die er vorweg hat und die er nur nach den Motiven, die ihm die Kausaluntersuchung bietet, 20 umbildet und mit anderen, schon nach solchen Motiven umgebildeten verknüpft. Andererseits fühlte man von jeher innerhalb der Psychologie selbst, daß etwas fehle, daß die Sachlage doch nicht genau dieselbe sei. Daher die mindestens theoretische Schätzung der „deskriptiv"-psychologischen Forschung und die 25 wiederholt und lebhaft betonte Notwendigkeit einer solchen, ja man ging nach dem Vorgang Brentanos soweit, eine eigene p s y c h o l o g i s c h e D i s z i p l i n unter dem Titel „deskriptive Psychologie" zu fordern als Unterstufe der „genetischen", der real-kausal erklärenden Psychologie. Dabei ist bedeutsam, 30 daß unter diesem Titel „deskriptive Psychologie" gerade nicht vermißt, gesucht, gebraucht wird eine Deskription der Art, die wirklich das Analogon der deskriptiv-naturwissenschaftlichen bildet, also nicht so etwas wie Deskription der verschiedenen Typen habitueller Dispositionen, Charakter-, Rassentypen 35 u.dgl., sondern die deskriptive Analyse der „Gegebenheiten der inneren Erfahrung". Und dabei merkte man gar nicht, daß in ihr, soweit sie wirklich Gutes brachte, die Erfahrung als solche die Bindung an die durch die aktuellen doxischen Thesen festgelegte Wirklichkeit der immanenten „psychischen Phänomene" -
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völlig irrelevant und alle Untersuchung ohne weiteres in \V e s e n sein s t e 11 u n g zu vollziehen, wo nicht schon unvermerkt vollzogen war. Die volle Klärung der Sachlage auf Seiten der physischen Naturwissenschaften, ein aus dem W e5 s e n geschöpftes Verständnis des Sinnes naturwissenschaftlicher Beschreibung und Erklärung - die Beantwortung der oben berührten Frage nach dem Apriori der Beschreibung: das sind Aufgaben, deren Lösungen an sich von großer Wichtigkeit sind und insbesondere bedeutsam in dem Zusammenhang des 10 Problemkreises der phänomenologischen Konstitution der Naturgegenständlichkeit, somit auch für eine Phänomenologie und Theorie der Naturerkenntnis. Wir werden die darauf bezüglichen Untersuchungen weiter unten folgen lassen. \Vas wir hier gesagt haben, wird aber wohl genügen, das Bewußtsein der 15 Verschiedenheiten der Sachlagen auf naturwissenschaftlicher und psychologischer Seite zu wecken. Wir gestalten es noch inhaltsreicher durch den Hinweis darauf, daß der hauptsächliche Wesensbestand der Beschreibungsb e g r i f f e d e s k r i p t i v e r N a t u r w i s s e n s c h a f20 t e n zu den Gegenständen der physischen Natur in einem grundwesentlich anderen Verhältnis steht als der ganze Wesensgehalt der b e s c h r e i b e n d e n B e g r i ff e d e r „d e s k r i pt i v e n P s y c h o 1 o g i e " zu den Gegenständen der psychischen Natur. 25 Betrachten wir die Situation auf Seiten der deskriptiven Naturwissenschaft. Man bemerkt hier, daß ihre Deskriptionsbegriffe der Hauptsache nach aus derjenigen Stufe der Gegenstandskonstitution stammen, auf der Realitäten für die Anschauung schon fertig konstituiert sind, aber Realitäten, welche vom 30 Standpunkte der endgültigen Idee der Naturobjektivität bloße „Erscheinungen" sind. Alle Eigenschaften dieser Erscheinungen (also schon reale Eigenschaften), die noch nicht die Relation zu dem zufälligen Subjekt, bzw. zur zufälligen Sinnlichkeit abgestreift haben, gehören in die Klasse der „s e k. u n d ä r e n 35 Q u a 1 i t ä t e n", während die „p r i m ä r e n " sich entsprechend als „objektive" Eigenschaften definieren. Eben auf diesen Unterschied kommt es an. Dem Realen als Erscheinung steht gegenüber das Reale als Ding selbst, als Ding der Physik. Das erste ist das vom individuellen Subjekt von normaler
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Sinnlichkeit einstimmig erfahrene Ding, farbig, glänzend, tönend usw., so von ihm vorgefunden und sich als wahrhaft seiend ausweisend. Jedem Subjekt der gleichen normalen Sinnlichkeit konstituiert sich ein entsprechendes Erscheinungsding, welches 5 in der Wechselverständigung wechselweise identifiziert wird: die in der einstimmigen Erfahrung des 11 sich konstituierende Einheit sei dieselbe wie die in der Erfahrung des 12 konstituierte. Aber selbst wenn alle Erfahrenden wirklich von derselben „normalen Sinnesorganisation" wären und alle unter entsprechen10 den „normalen" Umständen erfahrend, sodaß die Erscheinungen der verschiedenen Subjekte, die in der Identifikation auf dasselbe objektive Ding bezogen werden, genau übereinstimmten, so wäre diese Übereinstimmung doch eine zufällige; Die Physik e l i m i n i e r t die Beziehung auf die „n o r m a l e 0 r g a n i15 s a t i o n". Sie sagt: die Normalität ist etwas Zufälliges, gänzlich Relatives, und demnach ist nicht minder diejenige Objektivität, die sich aus solcher Übereinstimmung konstituiert, eine relative und zufällige. Was einmal normal heißt, kann ein anderes Mal abnorm heißen und umgekehrt. Diese und jedwede Norma20 lität, nämlich auch die Beziehung auf „normale Umstände" wie helles Tageslicht u.dgl., die für die Konstitution des wahren Dinges in der Anschauungssphäre, bzw. in der Sphäre der zufälligen Subjektbeziehung eine durchgängige Rolle spielt, verwirft also die Physik als Maß objektiven Seins. Vielmehr faßt sie das vom 25 Subjekt eigentlich (anschaulich) erfahrene Ding als Erscheinung, und wenn das Subjekt, mit anderen Subjekten irt Verkehr tretend und sich mit ihnen verständigend, sein Erscheinungsding mit dem der anderen identifiziert und erfährt, daß sie desgleichen tun, so faßt sie darum nicht dieses Ding nach dem 30 Bestand identifizierter Prädikate intersubjektiver Anschauung als das objektive, sondern selbst nur als i n t e r s u b j e k t i v e „E r s c h e i n u n g" des wahren. Ganz besonders zu betonen ist, weil es gar so leicht übersehen wird, für das Verständnis dieser Sachlage, daß durch das physiktreibende Subjekt und seine anschauliche Umgebungswelt ein 35 fester Kreis mit ihm verkehrender anderer Subjekte mit ihren anschaulichen Umgebungen gesetzt ist, und zwar nicht bloß hinsichtlich der zufälligen f a k t i s c h erfahrenden Subjekte, sondern der m ö g 1 ich e n Subjekte überhaupt. Das Subjekt,
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können wir auch sagen, hat seine Umgebungswelt, die durch den Bestand seiner konstitutiven Erfahrungsanschauungen als eine unendliche gesetzt ist, eine Welt der Grenzenlosigkeit im Fortgang möglicher Erfahrungen. Damit sind endlos viele Leiber 5 für andere Subjekte als Erfahrbarkeiten eingeschlossen, und dadurch wieder ein bestimmter Rahmen für unendlich viele sich mit dem Subjekt und untereinander verständigende Subjekte vorgezeichnet, der, obschon unendlich viele Möglichkeiten umspannend, doch ein Rahmen für gebundene Möglich10 keiten ist. Zum Wesen dieser ideellen unendlichen Gruppe der Kommunikation gehört, daß jedes Subjekt in ihr jedes andere vertreten, daß jedes ausscheiden und immer neue eintreten können, daß andererseits aber doch der Gesamtrahmen fixiert ist durch i r g e n d e i n e individuelle und f a k t i s c h e 15 Subjektivität und ihre Anschauungssphäre, die zu diesem Rahmen gehört, sofern sie sich, wenn sie der Ausgangspunkt der Kons.titution dieser Mannigfaltigkeit ist, nicht nur notwendig ihr zurechnet, sondern auch jedes durch Eindeutung gesetzte andere Subjekt sich gleich rechnet. Auf diese ideale, unendliche und 20 doch durch in div i du e 11 es Dasein mit Faktizität behaftete Subjektvielheit ist die 0 b j e kt i v i t ä t der N a tu r wes e n t 1 ich bezog e n. Das Subjekt der Physik, also der jeweilig physikalisch Denkende, nimmt seine anschaulichen Dinge, genau so die jedes andern Subjekts seiner sozialen Umge25 bungswelt, ganz und gar als Erscheinung. Viele Subjekte können „zufällig", aber nicht notwendig dieselbe Erscheinung haben, d.h. es kann zufällig sein, daß sie sich verständigend finden, daß sie das selbe wahrnehmen und das selbe in ihrem-ein jeder in seinem eigenen - Erfahrungskreis einstimmig erfahren und 30 daß jeder sein Erfahrenes, das für alle das selbe ist, mit ähnlichen Erfahrungsbegriffen beschreiben muß. Das so beschriebene Intersubjektive ist vermöge seiner Zufälligkeit bloß „Erscheinungsding". Festgehalten wird aber, daß Erfahrungsdasein, und zwar ein reales Dasein, motiviert ist, und daß die Verständi35 gung das Dasein desselben Realen als von verschiedenen Subjekten erfahren motiviert. Dieses Selbe aber hat sein wahrhaftes Sein nicht im Relativen und Zufälligen, sondern in Notwendigem, in etwas, das j e d e s mögliche Subjekt der vorgezeichneten ideellen Gemeinschaft in vernünftigem Erfahrungsdenken auf
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Grund seiner „Erscheinungen" und der Mitteilungen Anderer über ihre „Erscheinungen" (d.i. über ihr Erfahrungsding mit bloß „sekundären" Prädikaten) herausbestimmen kann und ein jedes als identisches Substrat durchgängig identischer Eigens schaften herausbestimmen kann und, wenn es eben vernünftig (in naturwissenschaftlicher Methode) verfährt, in völliger Übereinstimmung mit jedem andern herausbestimmen muß. Die Methode dieser Bestimmung ist die Leistung der Physik. Das objektiv wahre Ding erhält ausschließlich physikalische („pri10 märe") Eigenschaften, die sich in den „Erscheinungen" mit ihren „Erscheinungseigenschaften", den „sekundären", dokumentieren, aber nicht selbst in ihnen erscheinen, nicht selbst Erscheinungseigenschaften höherer Ordnung sind. Mit andern Worten: die Menschheit hat mit der Begründung der Naturwissenschaft die 15 Entdeckung gemacht, daß die Welt der aktuellen Erfahrung, die wirkliche subjektiv und intersubjektiv anschauliche Welt, eine „wahre" „Natur" hat, eine Natur in einem neuen Sinn, wonach diese ganze Erfahrungswelt bloße Erscheinung ist einer objektiven, ausschließlich durch „exakte" mathematisch-physi20 kalische Prädikate bestimmten, durchaus unanschaulichen, unerfahrbaren Natur, und zwar einer durch die Methoden der Naturforschung auf Grund der Erfahrungen im erfahrungslogi-,, sehen Denken erkennbaren Natur. In diese objektive Natur tritt aber das S u b j e k t s e 1 b s t a 1 s o b j e k t i v e r 25 Faktor ein in folgender Form: Es gibt eine einzige ( z u „ u n s e r e r " i d e e 11 e n S oz i a 1 i t ä t im oben beschriebenen Sinn gehörige) physische Natur mit dem einen objektiven Raum und der einen objektiven Zeit, bestehend aus lauter physischen Dingen, die rein durch 30 physikalisch-exakte Begriffe gekennzeichnet sind. Zu den physischen Dingen gehören unter anderem Leiber, ihrer physischen „Natur" nach also ebenfalls bloße Träger für abstraktphysikalische Denksymbole, aber eigentümlich ausgezeichnet durch eine neue Schicht realer Eigenschaften, die „aesthesiolo35 gische". Diese Eigenschaften sind also nicht Denkeinheiten, bezogen auf Einheiten von „Erscheinungen", vielmehr s e 1 b s t gegeben oder zu geben, nach ihrem selbst eigenen Sein erfahrbar, ihrem Wesen nach so etwas wie Bekundung durch Erscheinung ausschließend. Jeder Leib hat unbeschadet des Typus der
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aesthesiologischen Realität seine wechselnde „sinnliche Organisation", funktionell abhängig von der wechselnden physischen Natur des Leibes. Zu den Leibern gehören Seelen mit realen seelischen Eigenschaften, wiederum neue reale Eigenschaften, 5 wiederum selbst gegebene und in der Anschauung selbst und ohne Erscheinung sich bekundende. Jede Seele hat unbeschadet ihrer allgemeinen Seelenart ihre besondere und wechselnde seelische Organisation. All diese realen Einheiten und ihre realen Eigenschaften sind in ihrem Fundierungszusammenhang, also auf 10 Grund der zusammenhängenden Erfahrung, in ihrer Weise dem Besonderen und Allgemeinen nach bestimmbar. Durch Rekurs auf diese Zusammenhänge und die zugehörigen objektiv-gültigen Wahrheiten erklärt es eine physiologische (aesthesiologische) Psychologie, daß jeder Seele, bzw. jedem seelischen Subjekt 15 dasselbe Naturding ander5 erscheinen kann und jeweils unter den gegebenen realen Umständen erscheinen muß; und auch ein und derselben Seele anders, wenn die sinnliche Organisation ihres Leibes und ev. ihre seelischen Auffassungsdispositionen Veränderungen unterliegen, die selbst unter ihren realen Um20 ständen begreifliche sind. In gleicher Weise müssen sich wie die Erscheinungsänderungen so die Änderungen objektiv ungültiger, obschon ev. subjektiv nützlicher Beurteilungsweisen und des weiteren alle Unterschiede von Subjektivität und Objektivität erklären lassen. 25 Haben wir den wesentlichen Sinn der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und Erkenntnisobjektivität richtig gezeichnet, und richtig auch in dem für uns wichtigen Zusammenhang mit der aesthesiologischen und psychologischen Erkenntnis, so können wir nun die Konsequenz ziehen. 30 Demnach stellt vom Standpunkt der objektiven Naturwissenschaft die deskriptive nur eine Unterstufe der Erkenntnis dar, die der noch nicht vollzogenen endgültigen Objektivierung, ästhetischen und praktischen und welchen Interessen sonst. genügend, so doch nicht dem theoretischen Interesse an der 35 Natur, wie sie „objektiv" „an sich" ist. Ein näheres Eingehen in die Methode der Physik läßt es verstehen, warum diese zwar selbstverständlich von „Erscheinungen" ausgeht, da nur derartige Erscheinungen es sind, aus denen das Objektive herausbestimmt werden kann, daß sie daher nicht minder selbstverständ-
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lieh von denselben redet und sie beschreibt, daß sie aber gar kein Interesse daran hat, die Erscheinungen im Stil der deskriptiven Naturwissenschaften s y s t e m a t i s c h in Beziehung auf eine menschliche Normalität zu fixieren, sondern sie nur zurei5 chend für die Zwecke objektiv-kausaler Analyse nach den in Frage kommenden allgemeinen Erscheinungseigenschaften zu benennen. Auf feine Differenzierungen kommt es dem Physiker nicht an, da alle exakte Bestimmung der objektiven Sphäre gilt, und die Erscheinung nicht in sich selbst Objekt des Interesses 10 ist, sondern nur als Bekundung objektiver Eigenschaften: nicht die wirklich erfahrenen Farbenmannigfaltigkeiten als solche, sondern die erfahrene Farbe als Bekundung der im Erfahrungsdenken herausgedachten, denkmäßig bestimmten objektiven optischen Vorkommnisse, von denen die mathematische Optik 15 die Theorien entwirft; und so überall. Ganz anders ist die Sachlage in der Sphäre der psychologischen und aesthesiologischen Deskription. Die Seele ist keine Substanz von Erscheinungen, die Parallele der Erscheinung in dem oben bezeichneten Sinne fehlt, wie ja überhaupt das ganze überaus 20 komplizierte System konstitutiver Einheiten, deren jede „Erscheinung" ist in Beziehung auf die Einheit der höheren Stufe und ihrerseits Einheit ist, die in Erscheinungen niederer Stufe erscheint (sinnliche Schemata, Sehdinge verschiedener Stufe und Schicht, Abschattungen), hier fehlt. Die seelische Einheit konsti25 tuiert sich direkt in ihren Zuständen, und die Seelenzustände, das sind die in der Ebene der immanenten Zeitlichkeit (in der sich alle unsere Analysen halten) selbst und ohne erscheinungsmäßige Mittelbarkeiten adäquat gegebenen „Bewußtseinserlebnisse". (Fortfall der „Relativität" auf die auffassenden Subjekte. 30 Es besteht die Möglichkeit der „Täuschung", aber nicht der „Betrachtung von verschiedenen Standpunkten".) Diese Erlebnisse als zum wahren Sein der Seele selbst gehörig sind also T h e m a der Psychologie selbst und nicht etwa bloß Medien, durch die erst das Thema zu gewinnen ist. Es ist 35 hier also ein kardinaler Unterschied in der Weise der Seelenkonstitution gegenüber der Dingkonstitution, der die Methode bestimmt. Das a n s c h a u l i c h e Ding, das Ding meiner direkten Erfahrung, beurkundet sich im sinnlichen Schema ähnlich wie die Seele in ihren Bewußtseinszustä.nden. Wäre das anschau-
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liehe Ding das objektiv wirkliche, das der Physik, dann müßte auch der Physiker das jeweilige sinnliche Schema als den momentanen und wechselnden Zustand der dinglichen Eigenschaft beschreiben, und die dinglichen Eigenschaften selbst 5 enthielten die sekundären Qualitäten vereinheitlicht, die nun in den beschreibenden Begriffen ihren Ausdruck fänden. Dadurch, daß das anschauliche Ding bloße „Erscheinung" des Dinges der Physik ist, das selbst anschaulich gar nicht zu haben, also e i g e n t1 ich nie erfahren ist, ist auch das Erfahrene und seine Erfah10 rungseigenschaften nicht das physikalische Thema sondern nur ein Mittel, zum Thema zu kommen. In der Psychologie aber gibt es keine „Erscheinungen" der Seele, sondern Erfahrung von ihr selbst; Erfahrung, wie es von einem Realen überhaupt Erfahrung geben kann dadurch, daß die Zustände erfahren wer15 den, die nun als Zustände des Realen selbst zum wissenschaftlichen Thema gehören und wissenschaftlicher Beschreibung bedürfen. Wir können auch sagen: verstehen wir unter Beschreibung den begrifflichen Ausdruck des Wahrgenommenen selbst, des im eigentlichen Sinne Erfahrenen, so bestimmt die p s y20 c h o 1 o g i s c h e B e s c h r e i b u n g das Seelische selbst, und es bestimmt die psychologische Beschreibung der Erlebnisse das Seelische selbst hinsichtlich seiner Zustände, auf die wir bei allen anderen psychologischen Beschreibungen offenbar zurückgeführt werden. Die n a t u r w i s s e n s c h a f t 1 i c h e B e25 s c h r e i b u n g bestimmt nur eine Erscheinung, n i c h t aber das s e 1b s t, das bestimmt werden soll. So wird nun das unendliche Feld der Erlebnisse für die Psychologie zu einem unendlichen der bestimmenden Beschreibung, ohne deren strenge wissenschaftliche Gestaltung sie den Anspruch, strenge Wissenschaft 30 zu sein, nicht stellen kann. Die strenge Gestaltung der Beschreibung fordert aber phänomenologische Analyse, die Begriffe sind nur wissenschaftlich, wenn ihre reinen Wesen erfaßt und in ihrem Wesenszusammen}\ang streng ausgeschieden und unterschieden sind. Überlegt man nun die ungeheure Schwierigkeit (und das 35 ist keine Übertreibung}, auch nur reelle und ideelle Komponenten des Erlebnisses auseinanderzuhalten und jedwede Einmengungen aus der aktuellen Intentionalität der Erfahrungseinstellung und aller aktuell vollzogenen Akte zu vermeiden, die in dem zu Beschreibenden fundiert und mit ihm verflochten sind; erwägt man,
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daß alle solche Unterscheidungen erst gelingen können, wenn das zu betrachtende Erlebnis Wesensmodifikationen unterworfen wird, die dessen verschiedene Seiten und Komponenten in Bewegung setzen, oder, wenn es mit vielerlei anderen möglichen 5 Erlebnissen verglichen wird, die ähnliche Seiten oder Komponenten in anderer Funktion enthalten; erkennt man die Notwendigkeit, unzählige Variationen in der Bekundung der Intentionalität und Reflexionen auf die Art der Bekundung zu vollziehen, so ist es klar, daß jede sich an die einzelnen, in der aktuellen 10 Erfahrung gegebenen Erlebnisse bindende Deskription irgend wertvolle und bindende Resultate nicht liefern kann. Das gilt für die ganze Sphäre der Seele, nicht ganz so sehr von der aesthesiologischen Sphäre, obwohl auch hier die zielbewußte phänomenologische Untersuchung eine ungleich tiefere Einsicht gewährt. 15 Die wahre Methode ist also die, daß nicht in der Erfahrung sondern im reinen Wesenszusammenhang, daß nicht in der empirischen Psychologie sondern in der rationalen Phänomenologie die ganze Arbeit der Wesensunterscheidung und begrifflichen Wesensfassung vollzogen wird, und daß dann in der Erfahrungs20 wissenschaft die bloße Anwendung der phänomenologischen Ergebnisse erfolgt. Dabei verbindet sich selbstverständlich mit der Wesensbeschreibung zugleich die Erkenntnis der rationalen Wesenszusammenhänge, die nicht minder ihre beständige und notwendige Anwendung in der erfahrungswissenschaftlichen 25 Sphäre, in derjenigen der Psychologie im gewöhnlichen Sinne, finden müssen. Die Phänomenologie ist also nichts weniger als bloße deskriptive Psychologie, und sie ist nicht einmal empirisch-deskriptive Wesens 1 ehre, d.i. Erforschung der Ei:Iebnis-Wesen im 30 Zusammenhang nicht der erfahrungsgegebenen Erlebniswirklichkeiten, sondern Erforschung idealer Erlebnismöglichkeiten: wie sehr schon das etwas total anderes ist als man unter deskriptiver Psychologie allzeit verstanden hat. Wesensbeschreibung gibt an sich noch kein Wesensgesetz. Andererseits 35 aber fügt sich der Wesensbeschreibung (nämlich Erfassung von Wesen in der Intuition und begriffliche Fixierung derselben) sofort die Erkenntnis von Wesenszusammenhängen an, und in jedem liegt an sich schon eine Gesetzlichkeit apriorischer Art verborgen. Daß das aber so ist, und daß der Erlebnisstrom über-
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haupt kein bloßes Faktum ist, sondern eine Vereinzelung einer Idee, zu der eine Unzahl von apriorischen Zusammenhängen gehören, die den festen Rahmen aller empirischen Möglichkeiten ausmachen, das muß man sich als Psychologe klar machen. 5 (Wie denn ganz allgemein die Idee eines bloßen Faktums, daß nicht unter Wesensgesetzen stände, eine widersinnige ist, aus einer verkehrten Interpretation naturwissenschaftlicher Erkenntnis entsprungen!) Es darf dann aber nicht eine leere allgemeine Wahrheit sein, 10 sondern die Erkenntnis ist notwendig, daß der Gesamtbereich des phänomenologischen Apriori, die gesamte Mannigfaltigkeit von Wesen und Wesensgesetzen systematisch herausgearbeitet sein muß, und zwar im Interesse der Erfahrungspsychologie selbst. In d i e s e r Hinsicht können wir wieder auf das Gleich15 nis mit der physischen Naturwissenschaft zurückgreifen, da hier wieder die Analogie stimmt: man studiert nicht die Figuren der materiellen Körper durch Beschreibung in der Erfahrung, sondern zunächst a priori als geometrische. Alles Studium der Figuren der faktischen Körper ist Anwendung geometrischer Erkennt20 nis und muß es sein. Das ist die einzig r i c h t i g e Methode. Und das Studium der reinen Körpergestalten ergibt das System von geometrischen Wesensgesetzen, die den absolut festen Rahmen ausmachen, an den alle empirischen Bewegungen und Gestaltungen gebunden sind, und den man kennen muß, um 25 diese empirischen in der Mechanik wissenschaftlich behandeln zu können. Und genau so ist eben das Verhältnis zwischen Phänomenologie und naturwissenschaftlicher Psychologie, unbeschadet der ausführlich dargestellten, in der Hauptsache wohl klargelegten Differenzen. § 12. Weitere Klärung des Verhältnisses von r a t i o n a 1 e r P s y c h o 1 o g i e u n d P h ä n o m e n o 1 o g i e.
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Wir leben in einer Zeit großer Umwendungen. Rationale Ontologie und rationale Psychologie - wie lange dauert es noch und auch rationale Kosmologie und Theologie - die vielgeschmähten und scheinbar für immer abgetanen Disziplinen vergangener Epochen, scheinen wieder zum Leben zu erwachen. 35 Doch es wäre schlimm, wenn die Toten wieder erweckt werden sollten, sie, die nur als sachlich unzureichende Überzeugungen
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lebendig waren und dahingehen mußten, weil, was sie als Wahrheit hinstellten, im Reich der Wahrheit, des ewigen Lebens, keinen Platz hatte. Nur die allgemeine Idee solcher rationaler Disziplinen lebt, aber mit völlig neuem Gehalt, in unseren 5 Analysen wieder auf, und beruhigt dürfen wir darauf vertrauen, daß eine rationale Psychologie, wie sie hier gefordert wird, sub specie aeterni standhalten wird. Zu solcher rationalen Psychologie gehört neben der Wesenslehre der Erlebnisse natürlich noch vieles andere. Es sei nur hingewiesen auf den apriorischen Be10 stand des seelischen Ich, auf die Lehre vom reinen Ich usw. Ich kann hier nicht auf Näheres eingehen, der Leser wird darauf umso leichter verzichten, als sich ihm in dieser Oberlegung schon sicherlich der Gedanke aufgedrängt hat, daß die Phänomenologie eigentlich die ganze rationale Psychologie in sich schließt, 15 daß also der Teil hier merkwürdigerweise das Ganze verschlingt. Gehen wir von der empirischen Welt, dem empirischen Menschen, der empirischen Seele über zur Seelenidee, erfassen wir die Idee der gesamten Seelenzuständlichkeiten, isolieren wir sie abstraktiv, wie wir Raum und Raumgestalt isolieren, wenn wir Geometrie 20 treiben, und etablieren wir eine reine Wesenslehre der Erlebnisse. Wo das Wesen regiert, da dürfen wir nicht Halt machen, solange Wesensnotwendigkeiten walten; allen notwendigen Zusammengehörigkeiten, allen idealen und somit untrennbaren Zusammengehörigkeiten müssen wir nachgehen, bis der Kreis geschlossen 25 ist. Aber welches Wunder! Der Erlebnisstrom birgt nach idealer Möglichkeit (das ist also notwendige und apodiktisch notwendige Möglichkeit) das cogito mit Ich und cogitatum; und er birgt in sich alle Quellen für mögliche Weltkonstitutionen und Seelenkonstitutionen. Dem Apriori nachgehend stoßen wir auf die 30 Wesenslehre möglicher Naturerkenntnis überhaupt und damit hinsichtlich der Korrelate auf all die Transzendenzen, die wir als verschiedene Stufen der Dingkonstitution, als Sehdinge usw. kennen gelernt haben. Und wir stoßen auf empirische Ich, auf Leiber. Die Wesensanalysen, die auf sie bezogen sind, ordnen 35 sich den Erlebnisanalysen notwendig ein, die Wesensforschung der Erlebnisse fordert diejenige der Noemata, diejenige der gesetzlichen Regelungen, die als ideale Möglichkeiten in ihnen angelegt sind, diejenige der vielfältigen „Einheiten" von „Mannigfaltigkeiten", deren jede eine wesensgesetzliche Regelung
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des Bewußtseins überhaupt indiziert. Aber Bewußtsein überhaupt ist nichts anderes als Erlebnis überhaupt und Erlebniszusammenhang, oder ist darin beschlossen. Also wirklich, der Teil verschlingt das Ganze, und die rationale Phänomenologie 5 umschlingt schließlich nicht nur die übrige rationale Psychologie sondern alle rationalen Ontologien - mindestens nach ihren Axiomen, sofern diese unmittelbare Wesenszusammenhänge möglichen Bewußtseins ausdrücken. Drücken denn aber nicht auch die deduktiv ableitbaren Sätze der Ontologie - die Auf10 klärung des Sinnes deduktiver Leistung macht das evident wieder mögliche Bewußtseinszusammenhänge aus? Ist also nicht die gesamte Geometrie, rationale Phoronomie, rationale Naturwissenschaft überhaupt und so j e de rationale Disziplin ein Stück Phänomenologie? Im Ausgang von der empirischen 15 Psychologie erwächst uns beim Fortgang zur Idee der rationalen Psychologie die Phänomenologie als bloße Wesenslehre der Erlebnisse als Zustände einer in regionaler Allgemeinheit gedachten Seele. Rationaler Erwägung unterliegt die Seele selbst mit all dem, was ihr als Realität zukommt nach realen Eigen20 schaften, realen Umständen und realen Verhaltungsweisen. Jene Wesenslehre ist also ein bloßer Teil. Die rationale Psychologie selbst gibt sich als eine neben anderen rationalen Disziplinen und mit ihnen zusammenhängend, wie die Idee ihrer Realitätsart es fordert als einer Art in der physischen Natur, dann weiter in 25 den aesthesiologischen Einheiten fundierte Realitäten. Dazu sind Realitäten Gegenstände und wie Gegenstände überhaupt unter den Gesetzen der formalen Mathesis stehend, die also auch sozusagen als die Mutter aller Ontologien in ihrer Reihe steht. So wie wir aber den notwendigen Inhalt der Phänomenologie 30 erwägen, sehen wir uns gedrängt, diesem angeblichen Teil der rationalen Psychologie die ganze einzuordnen, und nun verschlingt sie schrittweise alle Ontologien. Es ist von allergrößter Wichtigkeit, sich über die wahre Sachlage die vollste Klarheit zu verschaffen. Für den Psychologen, 35 der die Phänomenologie nur als eine Hilfsdisziplin behandelt und an ihr so wenig ein reines und selbständiges Interesse hat wie der Physiker an der Geometrie, kommt es auf solche Fragen wenig an. Für den Erfahrungsforscher kommt es eigentlich nur darauf an, hier wie dort, daß er die zu seiner Sphäre gehörige
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rationale Disziplin hat und, wo er si~ unvollkommen hat, sie sich zueignet durch wirklichen Vollzug der eidetischen Einstellung und der innerhalb ihres Rahmens frei zu gestaltenden Forschungen. Dabei kommt es rein auf sein Tun an und nicht 5 auf seine reflektiven „philosophischen" Ideen darüber: wie es ja gar nichts schadet, wenn die Naturforscher, nachdem sie in der eidetischen Einstellung Geometrie getrieben haben, gar nicht selten hinterher erklären, das sei nichts anderes als empirische Wissenschaft. Ganz anders, wenn die herrschenden Inter10 essen eben nicht erfahrungswissenschaftliche sind, vielmehr wissenschaftstheoretische, metaphysische, philosophische in irgend einem guten Sinn, und wenn insbesondere der Psychologe selbst zugleich Philosoph sein will. Vermag er seine mit der naiven und erfahrungswissenschaftlichen Einstellung so leicht 15 sich verflechtenden Vorurteile nicht los zu werden, dann kann er eben nicht wirklicher Philosoph sein, er treibt dann eine verflachte Philosophie, eine Mißgeburt von Naturwissenschaft und Philosophie. Will er das nicht, so muß er sich also reine Klarheit verschaffen wie wir anderen, die wir von vornherein Philosophen 20 und nichts anderes sein wollen. Wir werden sehen, daß die analogen Fragen sich einstellen werden hinsichtlich der Geisteswissenschaften und der zu ihnen gehörigen Ontologie. Wo immer man anfaßt, alle Wesenswahrheiten, unmittelbar oder mittelbar, somit alle rationalen Diszi25 plinen, die wir schon kennen oder noch nicht kennen, werden, scheint es, von der Phänomenologie verschlungen, und da wir so sehr geneigt sind, wo das Wort „Bewußtsein" oder „Erlebnis" auftritt, sogleich Psychologie zu supponieren, und sei es auch rationale Psychologie, so scheint die Psychologie alles zu ver30 schlingen. Selbstverständlich genug scheint es ja. Ist denn Bewußtsein etwas anderes als Psychiches, und ist Psychologie etwas anderes als Wissenschaft vom Psychischen? Kann es sich um anderes als um scholastische Subtilität handeln, wenn man zwischen Wissenschaft vom Bewußtsein und Psychologie noch 35 unterscheiden wollte? Man übersieht auch, daß die Gedanken sofort weiterdrängen. Wie die rationale Psychologie alle rationalen Disziplinen zu verschlingen scheint, so in Zusammenhang damit die empirische Psychologie alle empirischen. Löst nicht die Phänomenologie in
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ihrer idealen Betrachtung das Wesen aller Gegenständlichkeiten in Einheiten von Bewußtseinsmannigfaltigkeiten auf, besagt also nicht die Anwendung auf das empirisch Gegebene, daß alles faktische Dasein jeder Art sich reduziert auf Bewußt5 seinszusammenhänge, faktische Zusammenhänge und durch Anknüpfung an das Faktum nach wesensgesetzlichen und empirischen Regeln geordnete Möglichkeiten von Bewußtseinszusammenhängen nach Koexistenz und Sukzession? Bewußtsein, Erlebnis ist doch wohl Psychisches. Also haben wir den schön10 sten „Psychomonismus". Die Psychologie umfaßt alle Wissenschaften. Diese letzte psychomonistische Frage späteren Ausführungen vorbehaltend wollen wir, in unserem eigenen Zusammenhang bleibend, die übrigen einer Lösung zuführen. Zunächst ist es von 15 größter Wichtigkeit, sich von dem Vorurteil zu befreien, Erlebnis, Bewußtsein sei an sich etwa Psychisches, eo ipso Sache der Psychologie, sei es der empirischen oder (wenn man dergleichen zugesteht) der rationalen, eidetischen. Natürlich darf man nicht um Worte streiten, und da jeder in seine Terminologie verliebt 20 zu sein pflegt, auch wenn er vom historischen Sprachgebrauch weit abweicht, so kann die Antipathie gegen einen anderen Wortgebrauch gar leicht hinderlich sein, die Unterschiede der Sachen selbst zu sehen. Wir werden, in der Überzeugung, den wirklich herrschenden Sinn von Psychologie und Psychischem 25 zu treffen, darin fortfahren, unter Psychischem das Seelische in dem von uns geklärten Sinne zu verstehen, was streng zu beachten ist. Dann ist ein Erlebnis Psychisches als Z u s t a n d einer Seele, bzw. eines menschlichen oder animalischen Ich, dieser in der physischen Natur fundierten Realität. Wer sich von dieser 30 besonderen Apperzeption nicht befreien, wer nicht die phänomenologischen Reduktionen vollziehen und das reine, absolut gesetzte Erlebnis, das reine Bewußtsein als Idee erfassen kann, dem ist wie das Eindringen in die Transzendentalphänomenologie so dasjenige in die Philosophie überhaupt versagt. Das mate35 rielle Ding, der Leib, die Seele, das sind ganz bestimmte und besondere Transzendenzen, in ihrer Art und voll verständlich sich konstituierend im reinen Bewußtsein für das reine Ich, und erst durch Reduktion darauf ist das „Absolute" zu gewinnen, das das absolute Beziehungsglied für alle Realitäten, deren
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Sein durchaus relatives Sein ist, darstellt. Das reine Bewußtsein hat die absolute Priorität, in Beziehung auf welche alles Sein das Aposteriori ist, und diese Beziehung zwischen Apriori und Aposteriori gehört schon in die Wesenssphäre hinein. Demnach 5 ist es eine Grundnotwendigkeit, für die Philosophie von kardinaler Wichtigkeit, sich zur Erkenntnis zu erheben, daß zwischen Eidetik der Bewußtseins zu s t ä n d e, die ein Stück rationaler Ontologie der Seele ist, und Eidetik des tr a n s z e n d e n t a 1 g er einigten Bewußtseins (oder Erlebnis-Seins) geschieden 10 werden muß, daß die letztere, die echte und reine Phänomenologie, ebensowenig rationale Psychologie ist wie rationale Naturlehre. Nur eins rechtfertigt es, daß man, wie wir es oben auch taten, die Eidetik der seelischen Bewußtseins z u s t ä n d e als Phänomenologie bezeichnet: nämlich der schon berührte Um15 stand, daß das reine Erlebnis mit seinem ganzen Wesen in den seelischen Zustand eingeht und nur eine es selbst nicht ändernde, sondern eigentümlich fassende Apperzeption erfährt. Sie macht aus dem Apriori ein Aposteriori und setzt selbst wieder das Apriori voraus. Denn sie selbst gehört zu einem reinen Ich als 20 sein reines Erlebnis, zu dem wie zu jedem die Wesensmöglichkeit gehört, empirisch apperzipiert zu werden und so in infinitum. Das sind Zusammenhänge, die, wenn man sie einmal verstanden hat, nichts Wunderbares haben. Das Wunder aller Wunder ist reines Ich und reines Bewußtsein: und eben dieses Wunder 25 verschwindet, sowie das Licht der Phänomenologie darauf fällt und es der Wesensanalyse unterwirft. Das Wunder verschwindet, indem es sich verwandelt in eine ganze Wissenschaft mit einer Fülle von schwierigen wissenschaftlichen Problemen. Das Wunder ist ein Unbegreifliches, das Problematische in der Gestalt 30 wissenschaftlicher Probleme ist ein Begreifliches, es ist das Unbegriffene, das sich für die Vernunft in der Problemlösung als begreiflich und begriffen herausstellt.
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§ 13
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Drittes Kapitel
Das Verhältnis von Phänomenologie und 0 n t o 1 o g i e. ') § 13. Das Fe 1 d der p h ä n o m e n o 1 o g i s c h e n Forschung.
Wenden wir uns jetzt der allgemeinen Untersuchung des Verhältnisses von Phänomenologie und Ontologie zu. Wir stellen uns auf den Boden der transzendentalen Phänomenologie. Im transzendentalen Erfahren ist a 11 es „transzendente Sein", 5 verstanden im normalen Sinne als wahrhaftes Sein, ausgeschaltet, „eingeklammert". Was einzig und allein übrig bleiben soll, ist das „Bewußtsein selbst" in seinem eigenen Wesen, und an Stelle des transzendenten Seins das „Vermeintsein" von Transzendentem und somit alle Arten von Korrelaten, die Vermeint10 heiten, die Noemata. Das bezog sich insbesondere auf die uns auch jetzt wieder in vorzüglicher Weise interessierende Sphäre der intentionalen Erlebnisse. Wir behalten also zurück Wahrnehmung und Wahrgenommenes als solches (sofern wir nämlich n ach Ausschaltung des wirklichen Seins des Wahrgenommenen 15 evident aussagen können, ihrem Wesen nach sei die Wahrnehmung eben Wahrnehmung von dem und jenem Gegenständlichen, sie vermeine es, sei Bewußtsein von ihm), wir behalten zurück Erinnerung und Erinnertes als solches, Denken und Gedachtes als solches, kurzum Noesis und Noema und auf letzterer 20 Seite mancherlei grundwesentliche Unterschiede. Wir erinnern uns auch, daß die ausschaltende hi:ox.~ zwei Richtungen haben kann: es kann ein Transzendentes (also alles, was nicht selbst Erlebnis oder Erlebniskorrelat ist) gesetzt und dann die Setzung jederlei Stellungnahme eingeklammert sein; es kann aber auch 25 die Reflexion sich auf das Erlebnis selbst und das erlebende Ich richten, in dieser Hinsicht psychische Zustände und psychisches Subjekt und Seele finden: natürlich wird auch da die Reduktion vollzogen. Das alles auch in eidetischer Einstellung. Dann verfallen der Reduktion, wie wir es ausdrücklich forderten, 30 alle Ontologien.
•) Vgl. auch § 6 der Beilage
r,
S. 12811.
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§ 14. Einbezogenheit der Ontologien in die P h ä n o m e n o 1 o g i e.
Gleichwohl schien die reine Phänomenologie alle Ontologien in sich zu bergen, die reine genau so wie die psychologisch gewendete; bestimmter ausgeführt in folgender Weise: die Wurzeln aller Ontologien sind die Grundbegriffe und Axiome der5 selben. Dieselben scheinen in die Phänomenologie hineinzugehören, sie lassen sich in gewisse Wesenszusammenhänge reiner Erlebnisse umdeuten. Ist dem aber so, dann scheint die Konsequenz unabweislich, daß dasselbe auch für die Folgesätze, also für die ganzen Disziplinen gelten muß, da dieselben ja nur in 10 mittelbarem Erkenntniszusammenhang zu Axiomen feststellen, was ein und demselben Wesensgebiet angehört, demselben, das sich durch Grundbegriffe und Axiome definiert. Haben wir der schwierigen Sachlage hinsichtlich der Axiome der apriorischen Disziplinen unsere besondere Aufmerksamkeit zugewendet, 15 so können wir Folgendes antworten: es ist unabweisbar, die Scheidung durchzuführen zwischen W i s s e n s c h a f t von transzendentalem Bewußtsein ü b e r h a u p t und der i n t u it i v e n W e s e n s l e h r e dieses Bewußtseins. Hinsichtlich der ersteren spannt sich der Rahmen sehr weit. Zunächst kann 20 gemeint sein der Gesamtbestand von Wesenserkenntnissen, die sich, sei es auch noch so mittelbar und nimmer durch direkte Intuition faßbar, für Erlebnisse überhaupt, aber in transzendentaler Reinheit gefaßte, ergeben. Dahin würden auch die transzendentalen Interpretationen aller Ontologien gehören, 25 die durch phänomenologische Methode zu vollziehende Auffassung jedes ontologischen Lehrsatzes als Index für ganz bestimmte, ihm durch die Methode wissenschaftlicher Einsicht zuzuordnende Zusammenhänge des transzendentalen Bewußtseins. Andererseits zeigt sich (und der nachdenkliche Leser hat sich das sicher 30 schon selbst gesagt), daß auch jede empirische Wahrheit, jeder Satz der Erfahrungswissenschaften jeder Art, vermöge der Lehre von der Konstitution erfahrbarer Realitäten im Zusammenhang möglichen Erfahrens und Denkens, sowie jedes real Seiende selbst, das der „Gegenstand worüber" in erfahrungs35 wissenschaftlichen Erkenntnissen ist, zum Index wird für transzendentale Zusammenhänge, daß also eine Forschungsweise möglich sein muß, welche das Gesamtreich faktischen
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Bewußtseins, den Gesamtbestand absoluter Monaden mit ihrem faktischen Erlebnisbestand zum Gegenstand der wissenschaftlichen Überlegung macht, sei es auch zunächst nur durch rückdeutende Interpretation der Tatsachenwissenschaften in kon5 stituierende Bewußtseinszusammenhänge der Monaden. Alles, was uns die Wissenschaften von den Onta, die rationalen und empirischen Wissenschaften (im erweiterten Sinn können sie alle „Ontologien" heißen, sofern es sich zeigt, daß sie auf Einheiten der „Konstitution" gehen) darbieten, „löst sich in Phäno10 menologisches auf" - eine bildliche Rede, die nicht mißverstanden werden darf, deren genauer Sinn noch festzustellen wäre. Was hier zu leisten ist (und nichts, was je in den ontologischen Wissenschaften, z.B. in irgend welchen Naturwissenschaften zu leisten ist, kann an überwältigender Bedeutung für die mensch15 liehe Erkenntnis dem verglichen werden, was wir hier unter dem Titel „Rückgang auf das konstituierende absolute Bewußtsein" im Auge haben), setzt voraus eine transzendentale Phänomenologie in einem bestimmten und von uns schon begrenzten Sinn, eine Wissenschaft, die sich durch die von uns beschriebenen 20 „Reduktionen" das Feld des transzendentalen Bewußtseins zueignet, was von ihm in unmittelbarer Intuition gegeben ist, faßt, reine Wesensbeschreibung und reine Deskription übt, analysierend und in Freiheit immer neue Gestaltungen erzeugend, neue Wesensfassungen und -bestimmungen übend, immer aber 25 im Rahmen direkter Intuition verbleibend. Mit der Deskription verbinden sich die auf mögliche, unmögliche, notwendige Zusammenhänge bezüglichen apodiktischen und immer unmittelbar einsichtigen Erkenntnisse. Die Phänomenologie in dieser Fassung als Wissenschaft vom transzendentalen Bewußtsein im Rahmen 30 unmittelbarer Wesensintuition ist das große Organon transzendentaler Erkenntnis überhaupt, ich meine, jeder Erkenntnis überhaupt, welche über unmittelbar Erschaubares hinaus für das transzendentale Bewußtsein Wahrheiten ausspricht oder dogmatische Wissenschaftsbestände oder ganze Wissenschaften, 35 wie physische Naturwissenschaften und Psychologie, in faktische und wesensmäßige Regelungen des transzendentalen Bewußtseins „auflöst", wie weit dergleichen immer reichen und was es seinem letzten Sinne nach besagen mag.
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§ 15. D i e B e d e u t u n g d e r o n t o 1 o g i s c h e n Feststellungen für die Phänomenologie und die Verschiedenheit der Einstellung in beiden W i s s e n s c h a f t e n.
Nun bleibt aber das eigentliche Thema des Kapitels. Es betrifft die in den Ontologien durch die Grundbegriffe und Grundsätze ausgedrückten Setzungen von Wesen und Wesenszusammenhängen. Nach unseren Feststellungen entsprechen. den 5 Grundformen (materialer und formaler) Konstitution von Gegenständlichkeiten im Bewußtsein ontische Grundbegriffe, welche als Grundbegriffe in den Ontologien fungieren. Sie seheinen also von vornherein auch in die Phänomenologie hineinzugehören. 10 In der Tat, haben wir es nicht als eine Grundaufgabe der Phänomenologie angesehen und ist es nicht evidenterweise eine solche: die dem Grundtypus der Erfahrung, den wir als materielle Erfahrung bezeichneten, entsprechende Realität „materielles Ding" nach ihren Gegebenheitsweisen zu durchforschen und 15 klarzumachen, in welchen phänomenologischen Zusammenhängen sich diese Realitätsart als Einheit konstituiert? Dasselbe gilt offenbar für die Idee der geometrischen Körper, die sich schon durch Phantome oder sinnliche Schemata konstituiert, es gilt für die Idee des Leibes, die Idee der seelischen Einheit, 20 die Idee des animalischen Wesens, kurzum für alle regionalen Kategorien möglicher Realitäten. Und wenn auch nicht in derselben Weise, so gilt es doch auch mutatis mutandis für die anderen erdenklichen Ontologien, insbesondere aber für die formale Logik als Wissenschaft von den Denkbedeutungen in formaler 25 Allgemeinheit und von den ihnen entsprechenden in formaler Allgemeinheit bedeuteten Gegenständen überhaupt. Im Grunde bilden alle solche Begriffe von vornherein Leitbegriffe für ganze phänomenologische Untersuchungsgebiete. Hierher gehören aber auch die primitivsten Axiome. Das tritt ja in unseren Unter30 suchungen deutlich hervor, wie wenig es ausdrücklich gesagt wurde. Man hat schon die Idee des Dinges als einer möglichen Realität genau so wie der Ontologe. Wie dieser expliziert man sich das zu dieser Idee Gehörige: was ist wesentlich, sagt man, für ein extensives Ding? Es hat Ausdehnung und Stellung im 35 Raum, ist in ihm frei beweglich, ist nach idealer Möglichkeit
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deformierbar in dem Sinne, wie ein geometrisches Gebilde es ist, es hat materielle Eigenschaften, die in ihrer Weise Extension haben usw. Man bringt sich das zu voller Intuition und geht den Wesenszusammenhängen in der Gegebenheit nach, den konstitu5 tiven Schemata, den Sehdingen der oder jener Stufe usw. Natürlich sind alle primitiven Axiome, sind die Uraxiome im prägnantesten Sinn diejenigen, die eben das Wesen des regionalen Begriffs „explizieren". Also dieselben Sätze, die als Axiome der Ontologie fungieren, ordnen sich in die Phänomenologie selbst ein 10 mit allen Grundbegriffen, bzw. deren intuitiv faßbaren sachlichen Wesen. Es gilt nun zu verstehen, wie „dasselbe" nach Begriffen und Sätzen in der ontologischen und phänomenologischen Forschung fungiert, ob es, abgesehen von dem weiteren Zusammenhang, 15 in den es in der phänomenologischen Sphäre eintritt, wirklich dasselbe ist, ob also die beiderseitig gleichlautenden Aussagen denselben Sinn haben, beiderseits in gleicher Weise und Einstellung geurteilt wird. In dieser Hinsicht ist nun Folgendes festzustellen: 20 In der Eidetik des Raumes, der materiellen Natur, des Geistes usw. treiben wir unter dem Titel „Ontologie" d o g m a t i s c h e Wissenschaft. Wir urteilen über Raumgebilde als solche, Seelen und seelische Eigenschaften als solche, über Menschen als solche. Wir urteilen darüber, was dergleichen Gegenständlichkeiten 25 „als solchen" in Wahrheit, und das besagt hier, in unbedingter Notwendigkeit und Allgemeinheit zukommt. Die Phänomenologie in unserem Sinne ist die Wissenschaft der „Ursprünge", der „Mütter" aller Erkenntnis, und sie ist der Mutterboden aller philosophischen Methode: zu ihm und zur Arbeit in ihm führt 30 alle zurück. Wenn die Philosophen immer wieder sagten oder unausgesprochen davon geleitet waren, daß die natürliche Erkenntnis des praktischen Lebens und der dogmatischen Wissenschaften nicht ausreiche, daß sie mit Unklarheiten behaftet sei, daß die Grundbegriffe aller Wissenschaften (sc. der dogmatischen) 35 einer „Klärung" bedürften, einer Zurückführung auf ihre Ursprünge, so findet überall, was hier als Mangel empfunden wii:d, seine letzte Erfüllung in der Phänomenologie, und die fragliche Begriffsklärung ist nur ein Schritt zur phänomenologischen Klärung und phänomenologisch fortführenden Wesensuntersu-
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chung im Rahmen der Probleme phänomenologischer Konstitution. Der Ausdruck „phänomenologisch" nimmt dadurch von selbst eine sehr extendierte Bedeutung an, .die unschädlich ist, wenn man die ganze Situation durchschaut hat, wie aber aus5 drücklich betont werden muß. Phänomenologisch kann heißen jede Untersuchung und jeder Erkenntnisbestand, jedes Erkenntnisergebnis, das zur Phänomenologie in unserem spezifischen Sinne gehört. In diesem Sinne wäre also eine Klärung der geometrischen Grundbegriffe nur dann phänomenologisch, wenn sie 10 im Rahmen der phänomenologischen Problematik aufträte. Schon da kann man unterscheiden, was die Phänomenologie von sich aus, in ihrem Forschungszusammenhang, in systematischer Analyse von Bewußtsein und Bewußtseinskorrelaten feststellt, und was Sache der Anwendung der gewonnenen Ergebnisse auf 15 die vorhandene Geometrie als dogmatische Wissenschaft und speziell auf ihre Grundlagen ist: nämlich sie „phänomenoiogisch" zu interpretieren und „aufzuklären". Erst recht, wenn man die mittelbaren geometrischen Sachverhalte, wie sie in den Lehrsätzen ausgesprochen werden, auf Grund der Phänomenologie 20 in den konstituierenden Bewußtseinszusammenhang „zurückdeutet" und so ihre Seinsart nun im tiefsten Grunde durch Einordnung in den Wesenszusammenhang, in den sie notwendig verflochten ist, zum Verständnis bringt. Das ist Anwendung der Phänomenologie, nicht Phänomenologie selbst. Das Prädikat 25 „phänomenologisch" überträgt sich natürlich auf die Anwendungen. Da ferner die Phänomenologie eine Wesenslehre des transzendental gereinigten Bewußtseins ist, so heißen auch ihre Forschungsobjekte, die gereinigten Erlebnisse und alle wesentlich zu ihnen gehörigen Vorkommnisse, phänomenologisch, und 30 dann kommt es von selbst, daß nicht nur die in unmittelbarer Erschauung, sondern in mittelbarer Interpretation dogmatischer Erkenntnis feststellbaren Zusammenhänge tatsächlicher oder eidetischer Vorkommnisse der absoluten Bewußtseinssphäre als phänomenologische bezeichnet werden. Diese Übertragungen 35 sind also zu beachten, andererseits ist die Notwendigkeit festzuhalten, _daß vor aller anderen transzendentalen und, wie wir sagen können, philosophischen Arbeit die Arbeit in der puren Erschauung steht, und daß in dieser Sphäre, wie aus allen unseren Darstellungen evident hervorgegangen ist, nicht zusammenhangs-
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lose und zufällig zusammengeratene Gegebenheiten stehen,sondem daß vermöge der Freiheit im Walten der Phantasie - bei ihrer Freiheit kombinatorischer Erzeugung von möglichen Bewußtseinskomplexionen und einzelnen Bewußtseinsakten, von Vergleichun5 gen, analysierenden Unterscheidungen, denkmäßigen Fassungen, bei ihrer Freiheit, insbesondere den in den vollzogenen Auffassungen liegenden „Intentionen" nachzugehen, erfüllende oder widerstreitende Anschauungsreihen herzustellen und in allen Richtungen Wesenserschauung und wesensgesetzliche Einsicht 10 zu üben - die Möglichkeit besteht, die im Bewußtsein überhaupt liegende Grundverfassung s y s t e m a t i s c h zu enthüllen. Die Phänomenologie in unserem Sinne ist also trotz der Beschränkung auf die Sphäre bloßer Anschauung und eidetischer Einsicht eine systematische Wissenschaft und muß in dieser Begrenzung 15 nun auch durchgeführt werden. Dabei ist zu beachten: in der Geometrie s e t z e n wir als wahrhaft seiend, aber in eidetischer Wahrheit seiend und nicht in der Erfahrungswelt seiend, Raumgestalten überhaupt, ur.d das sagt Setzung von Raumgestalten als solchen. Ein geometrisches 20 Urteil g i 1 t nur, wenn die Idee, das Wesen Raum und Raumgestalt ist, oder, dem Umfang nach gesprochen, wenn eine Raumgestalt m ö g l i c h i s t. Die allgemeinste Möglichkeit, Dasein von Raum und Raumgestalt als Idee, verbürgt die direkte Wesensintuition, sie bringt an dem Exempel irgend einer Ge25 stalt die allgemeine Idee Gestalt zur Gegebenheit, und nun wird die Setzung, die der Geometer beständig braucht und übt, die einer Gestalt (eines Einzelnen des Wesens in unbedingter Allgemeinheit) möglich. Für jede besondere Gestalt, sofern sie nicht wie die Grundgestalten Gerade, Winkel u.dgl. der direkten 30 Intuition entnommen, sondern erst durch Verknüpfung schon gebildeter und gültiger Gestaltbegriffe erzeugt wird, wird der „Existenzbeweis" auf Grund der Axiome geführt, d.h. es wird mittelbar erwiesen, daß es im Raum seinem Wesen nach ein diesem Gestalt-begriff (einer frei gebildeten logischen 35 Bedeutung) entsprechendes geometrisches Wesen wahrhaft gibt. Solange der Existenzbeweis nicht geführt ist, kann kein geometrisches Beschaffenheitsurteil (z.B. über die Beschaffenheit regelmäßiger Körper von 10 Flächen) gefällt werden. Jedes gültige geometrische Urteil setzt eidetische Einzelheiten (was
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äquivalent ist mit einer Setzung entsprechender Wesen als Gegenstände),.die insgesamt das durch die gültig gesetzte regionale Idee umgrenzte Gebiet der Ontologie ausmachen. Es kann thetisch, dann aber auch hypothetisch gesetzt werden, auf die 5 Hypothesis hin anderes in notwendiger Folge gesetzt werden usw. So ist es überhaupt. In der Arithmetik fragen wir: Was gilt für Zahlen als solche, natürlich für „mögliche" Zahlen als solche, in der rationalen Ontologie der physischen Dinglichkeit, was gilt für mögliche Dinge überhaupt u.s.f. Die Möglichkeit 10 ist überall eidetische Möglichkeit, und diese muß sich zuletzt ausweisen in der unmittelbaren Intuition, nämlich bei den Grundbegriffen und Axiomen. Aus dieser Urquelle eidetischer Geltung schöpfen alle abgeleiteten Begriffe und Sätze ihre Geltung; alle Begriffe, die in Lehrsätzen auftreten, nur die negativen 15 Existentialsätze ausgenommen, führen eine Setzung mit sich, nämlich als geltend, als solche, für die der Existenzbeweis schon geführt sein muß. Negative Existentialsätze haben die Funktion, die ungültigen Begriffe, die wesenlosen Ausdrücke auszuscheiden. Die so gewonnenen Sätze von eidetischer Allgemeinheit finden 20 dann in den empirischen Erkenntnissphären Anwendung, wir wissen dann im voraus („a priori"), daß in der Daseinssphäre nichts vorkommen kann, was durch die sich in ihr vereinzelnden Wesen wesensmäßig ausgeschlossen ist, und daß andererseits alles, was vorkommt, so vorkommen muß, wie sie es als notwen25 dig in ihnen beschlossene Folge fordern. Wir haben damit volle Klarheit darüber, welche Ziele sich die Ontologien hinsichtlich Wesen und Wesensverhältnisse stecken, in welcher Weise sie über dieselben urteilen. Sie fällen über sie und die ihnen entsprechenden eidetischen Einzelheiten Seins30 urteile (e i de t i s c h e Existentialurteile), positiv und negativ, thetisch und hypothetisch usw. Mit anderen Worten: die durch die Regionen bezeichneten Sphären von Wesen und Wesenseinzelheiten sind ihr Gebiet: alle Wissenschaft geht auf Seiendes, es zu erkennen und darüber wahre Aussagen zu machen. Nur 35 d a s Seiende, auf das sie in diesem Sinne, es setzend und bestimmend, gerichtet ist, ist eben ihr Gebiet. Damit versteht sich auch, inwieweit sie über Begriffe und über Noemata überhaupt urteilt: gelegentlich darauf reflektierend hat sie das noematische Inter-
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esse festzustellen: die und die Begriffe, Urteile, Lehrsätze sind ungültig, jene sind gültig. Betrachten wir nun die Phänomenologie auf der anderen Seite und sehen wir zu, was sie mit „denselben" Wesen und Wesens5 verhältnissen (sc. den axiomatischen der Ontologien) zu tun hat. Ihr Gebiet sind nicht die Raumgestalten, die Dinge, die Seelen und so weiter als solche in eidetischer Allgemeinheit, sondern das transzendentale Bewußtsein mit allen seinen transzendentalen, in unmittelbarer Intuition und in eidetischer Allgemeinheit 10 zu erforschenden Vorkommnissen. Also in ihr Gebiet fällt unter anderem auch die Anschauung von Raumgestalten, das Denken und denkende Erkennen von Raumgestalten, das Erfahren von Dingen, das erfahrungswissenschaftliche Bewußtsein usw. Da kommt also auch vor „Raumgestalt", „Ding", und was der15 gleichen ontologische Begriffe und Wesen mehr sind. Aber wir sehen schon, es kommt da in ganz anderer Weise vor, wie sich schon in gewisser Weise darin ausdrückt, daß es nicht das Geb i e t bezeichnet. In der Phänomenologie des Dingbewußtseins ist die Frage nicht, wie Dinge überhaupt sind, was ihnen als 20 solchen in Wahrheit zukommt; sondern wie beschaffen das Bewußtsein von Dingen ist, welche Arten von Dingbewußtsein zu unterscheiden sind, in welcher Art und mit welchen Korrelaten sich ein Ding als solches bewußtseinsmäßig darstellt und bekundet. Aber auch, wie Bewußtsein von sich ausErkenntnis von Dasein und 25 Nichtsein, Möglichkeit und Unmöglichkeit eines Dinges sein kann, was das seinem Wesen nach ist: sich „Ausweisen" eines dinglichen Daseins, Begründung eines naturwissenschaftlichen Satzes usw. Beständig kommt, wie wir wissen, bei der phänomenologischen Erforschung der Akte beiderlei in Betracht: Bewußtsein 30 selbst und Bewußtseinskorrelat, Noesis und Noema. Das Phänomen Dinganschauung, vage Dingvorstellung, Dingerinnerung u.dgl. beschreiben und wesensmäßig bestimmen, d.h. zugleich auch beachten, daß der Akt in sich selbst „ Vermeinen" von etwas und daß das Vermeinte als solches „Ding" ist. Dieses aber 35 konstatieren, ja das Dingvermeinte als solches, nämlich als Korrelat (Wahrgenommenes als solches hinsichtlich der Wahrnehmung, Genanntes als solches hinsichtlich der Nennung) zum Gegenstand der Forschung machen, Aussagen darüber machen, was eidetisch derartigenDingvermeintheiten als solchen zukommt,
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das heißt nicht Dinge erforschen, Dinge als solche. Ein „Ding" als Korrelat ist kein Ding, darum die Anführungszeichen. Das Thema ist also ein total anderes, mögen auch Wesensbeziehungen herüber- und hinüberlaufen. § 16. Noema und Wesen.
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Man darf nicht verwechseln Noema (Korrelat) und Wesen. Selbst das Noema einer klaren Dinganschauung oder eines fortlaufenden einstimmigen Anschauungszusammenhangs, der auf ein und dasselbe Ding gerichtet ist, ist nicht und enthält auch nicht das Wesen des Dinges. Die Erfassung des einen ist 10 nicht die des anderen, obschon hier wesensmäßig eine Änderung der Einstellung und der Erfassungsrichtung möglich ist, durch welche die Erfassung des Noema jeweils in die des entsprechenden ontischen Wesens übergehen kann. Im letzteren Fall haben wir aber eine andersartige Anschauung als im ersteren. Sprechen 15 wir von Erschauung nur bei anschaulicher Erfassung von \Vesen, dann brauchen wir eben für die Anschauung des Noema einen anderen Terminus. Es ist gut, sich hier zunächst klarzumachen, daß ein Noema als seiend setzen nicht besagt, die dem Noema „entsprechende" 20 Gegenständlichkeit setzen, obschon sie im Noema bedeutete Gegenständlichkeit ist. Das ist leicht klarzumachen an den Denkbedeutungen, den spezifisch logischen. Es ist dabei zu beachten, daß diese Gegenständlichkeit im Noema auftritt als ein Einheitsmoment, das v e r s c h i e den e Noemata als „identisches" 25 haben können, aber freilich so, daß die Einheit oder Gegenständlichkeit in Anführungszeichen ist, ebensogut wie das Identische von uns soeben mit Grund in Anführungszeichen gesetzt wurde. Bei logischen Bedeutungen sehen wir nun, daß das Gedachte als solches (logische Bedeutung im noematischen Sinn) „widersinnig" 30 sein kann, es, das doch innerhalb der Seinskategorie „logische Bedeutung" und, allgemeiner, „Noema" „existiert", sein wirkliches Sein hat wie z.B. die Denkbedeutung „rundes Viereck". Es ist auch selbstverständlich, daß, wie das Bedeutete schlechthin (das nur ist, wenn die Bedeutung eine gültige ist) 35 etwas anderes ist als die Bedeutung, so auch das W e s e n des Bedeuteten etwas anderes ist als die Bedeutung. Das Wesen „rundes Viereck" gibt es nicht; aber um das urteilen zu können,
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ist vorausgesetzt, daß „rundes Viereck" eine in dieser Einheitlichkeit seiende Bedeutung ist. Es ist nun in weiterer Folge klar, daß es sich in der Anschauungssphäre gar nicht anders verhalten kann als in der Denksphäre, nur daß hier ein wichtiges Wesens5 verhältnis zwischen Anschauungsnoema und Wesen des Angeschauten besteht, daß wo das erstere erfaßt werden kann, auch das letztere und umgekehrt. Das gilt allgemein, auch wenn die Anschauung eine unvollkommene, nämlich bloß einseitige, mit unbestimmten Bestimmbarkeiten behaftete ist, wie notwendig 10 im Falle der Dinganschauung. Dann ist eben auch die Anschauung des Wesens eine genau entsprechend inadäquate; man darf nie übersehen, daß Wesensanschauung keineswegs ohne weiteres besagt adäquate Anschauung. (Wie darum doch in Axiomen vollgültige Wesenserkenntnis möglich ist und in gewisser Weise, 15 wenn auch nicht auf Grund vereinzelter Dinganschauung, eine völlig zureichende Wesenserfassung, das werden wir in der „Ideenlehre" näher ausführen.) . Sind wir über diese Verhältnisse im klaren, so leuchtet es ein, daß es, trotz jener phänomenologisch feststellbaren Wesensver20 hältnisse zwischen intuitiver Erfassung von Noema und intuitiver Erfassung von ontischen Wesen im Falle jeder Anschauung der Onta doch eine wesentliche Änderung der Urteilsstellung ist, wenn wir, statt phänomenologisch über das Noema, ontologisch über die Wesen und Wesenseinzelheiten als solche urteilen. 25 Andererseits versteht es sich, daß im Stadium der phänomenologischen Konstitution, z.B. des physischen Dinges, nicht über Dinge als solche geurteilt wird, aber die Vorbedingungen erfüllt sind, um das Wesen Ding einstimmig in denkbar größter Vollkommenheit erfassen und widerstimmige Wesensansätze ver30 werfen zu können und damit eo ipso auch die vollkommenste Evidenz der Axiome nach ihrem reinen und allein gültigen Sinn gewinnen und falsche axiomatische Ansätze als widersinnig abweisen zu können. Sowie wir die zu dieser Leistung erforderte Änderung der Urteilsrichtung vollziehen, haben wir das Gebiet 35 der Phärtomenologie überschritten und das der Ontologie betreten. Damit löst sich auch folgendes Bedenken: Wenn wir in der Deskription irgend eines Aktes aussagen, er sei Bewußtsein von einem Haus, einem Menschen, einem Kunstwerk usw., so muß doch die Geltung der Beschreibung davon abhängig sein, ob der
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Begriff Haus etc. wirklich auf das im Akt Vermeinte paßt. Aber wie kann man das wissen, wenn man gar nicht weiß, was diese Worte „eigentlich besagen", und das ist doch wohl, was sie im W e s e n besagen. Nur in der klärenden Anschauung kann es sich uns, 5 durch rein ausdrückende Anmessung der Wortbedeutung, der logischen, an das in der Anschauung gegebene Wesen zeigen, ob auf das unklar Vermeinte der Ausdruck mit seinem Sinn wirklich paßt. Man wird dagegen zwar einwenden, daß doch z.B. widersinnige Urteile wie ein Beweis für die Quadratur des Zirkels 10 vollzogen werden und hierbei ein entsprechendes Wesen gar nicht bestehen kann. Aber darauf könnte noch die Antwort versucht werden, daß, was uns oben deckte, uns hier nicht decken kann. Wie könnten wir wissen, was Quadratur des Zirkels eigentlich besagt, wenn wir es uns nicht klarmachen könnten? Freilich, 15 ein einstimmiges Wesen gibt es hier nicht. Aber die unstimmige Einheit der im widersinnigen Urteil vermeinten Wesen, die Unverträglichkeit, sehen wir doch ein, in dieser eingesehenen Unverträglichkeit erfassen wir statt des Wesens schlechthin (des einstimmigen) sozusagen das U n w e s e n . Mag an dieser 20 versuchten Gleichstellung von Wesen und Unwesen was immer Wahres sein, kon:ekt wäre darum die Ausführung noch lange nicht. Vielmehr ist zu sagen:freilich überzeugt nur die „Anschauung", ob die Anwendung der Worte mit ihren Wortbegriffen (den bloßen Denkbedeutungen) des auf Grund bloßer dunkler 25 Akte (dunkler Vorstellungen, dunkler Gefühlsregungen usw.) Vermeinten paßt; die dunklen Akte müssen in Deckungseinheit gebracht werden mit entsprechenden klaren, in denen das Vermeinte genau als dasselbe, aber „klar" bewußt ist. Indessen, die Erschauung, die solches leistet, muß doch wohl etwas wesentlich 30 anderes sein als die Einsicht, die das entsprechende Wesen als wahrhaft seiend setzt, oder die Einsicht in die Unverträglichkeit, die das Wesen als nicht seiend verwirft. Derartige Einsichten sind ontologisch. Sie sind nötig, nicht um bloß die ontologischen Begriffe zu klären, sondern um die G e 1 t u n g dieser Begriffe, 35 das Sein der Wesen und die Geltung der Wesensurteile (das Wahrhaftsein der Wesensverhalte) zu begründen. Daß eins und das andere sich scheiden muß, geht schon daraus hervor, daß die Klärung eines Begriffs von geometrischem Sinn, wie Quadratur des Zirkels, und, was hier gleichwertig ist, der Nachweis,
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daß der in diesen Worten liegende Denkbegriff als beschreibender für das Gemeinte eines dunklen Aktes dienen könnte, doch nicht erfordert, daß wir den geometrischen Beweis der Unmöglichkeit eines solchen Begriffsgegenstandes führten: wozu wir 5 vielleicht gar nicht fähig wären. Man würde hier sicherlich nicht mit Recht antworten, daß wirkliche Klarheit und vollkommene Einsicht mit dem Beweis parallel gehe, daß volle Klarheit gleichbedeutend sei mit Einsicht. Aber ohne hier auf nähere Erörterung einzugehen, können wir vorweg sagen: das Parallel10 gehen und Gleichwertigsein wäre schon ein genügendes Zugeständnis, es wäre schon Ausdruck eines Unterschiedes, den wir nicht übersehen dürften. Und wo der Parallelismus wirklich statthat, in der Klärung, im Zusehen, ob der be5chreibende Begriff wirklich passe, haben wir eine ganz andere Einstellung 15 als in der Einsicht, in der wir die Geltung der Wesen oder die Nichtgeltung setzen. Im einen Fall mißt sich die Denkbedeutung an das Noema des unterliegenden Aktes und bei Vollzug des Aktes der Klärung an das sich mit ihm identifizierende Noema der klärenden Anschau20 ung an. In der Reflexion die Frage nach dem Passen beantwortend, setzen wir lauter Noemata und sagen ihr Stimmen (oder Nichtstimmen) aus. Dagegen in der ontologischen Einstellung decken sich zwar auch die Noemata, aber gerichtet sind wir erfassend auf das Wesen. Wir haben es im ontologischen Urteil von vorn25 herein gesetzt, die Denkbedeutung ist Inhalt eines aktuellen Glaubens. Ebenso haben wir im Übergang zur gebenden Anschauung nicht nur das Angeschaute als Noema, sondern ein Er fassen des Wesens findet statt, d.h. die Anschauung ist anschauliche Setzung, und zwar aktuelle Wesenssetzung. Als 30 Phänomenologen vollziehen wir auch Setzungen, aktuelle theoretische Stellungnahmen, aber sie sind ausschließlich auf Erlebnisse und Erlebniskorrelate gerichtet. In der Ontologie vollziehen wir dagegen aktuelle Setzungen, die statt auf die Korrelate und Gegenstände in Anführungszeichen auf die Gegenstände schlecht35 hin gerichtet sind. Kurzum, es handelt sich um den oben betonten Unterschied: Dinge aktuell setzen ist nicht Dingvermeintes setzen, ist nicht Dinggesetztes als solches setzen. Ebenso: Wesen aktuell setzen ist nicht Wesenvermeintes als solches setzen usw. Das sind kardinale Unterschiede, die nur Verallgemeinerungen
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des einfachen Unterschiedes sind, daß Bedeutungen setzen und Gegenstände setzen zweierlei ist: das Noema überhaupt ist aber nichts weiter als die Verallgemeinerung der Idee der Bedeutung auf das Gesamtgebiet der Akte. 5 Bei all dem ist es nicht ausgeschlossen, daß ontologische Axiome als Kriterien dafür dienen können, ob eine phänomenologische Beschreibung die beschreibenden Begriffe rechtmäßig anwende 1). Die Betrachtungsweise ist dann freilich nicht mehr eine rein phänomenologische sondern eine gemischte phänome10 nologisch-ontologische, aber gültige Resultate ergibt sie doch. Da aber ein so großes Interesse damit verknüpft ist, die Reduktionen reinlich zu vollziehen und in der Forschung innezuhalten, wollen wir die Sachlage nicht im Rahmen der Phänomenologie, sondern der Psychologie besprechen und bemerken nur, daß, 15 sobald volle Sicherheit in der Beherrschung phänomenologischer Methode erzielt und der Sinn jedes Hinausgehens über die eigentlich phänomenologische Sphäre und des Zurückgehens in sie klargelegt ist, sich auch methodologisch erlaubte Überschreitungen herausstellen, die ihrerseits natürlich von einer höheren 20 Warte aus sich innerhalb einer passend erweiterten phänomenologischen Immanenz rechtfertigen. Wie die · Phänomenologie alles Nichtphänomenologische in Form der „Einklammerung" umspannt, so auch das, was gegebenenfalls Überschreitung einer phänomenologischen Betrachtung heißt: alle Rechtfertigungen 25 aber gehören nach Sinn und möglicher Geltung in die Phänomenologie, also auch die der betreffenden Arten von Oberschreitungen. § 17. Be de u tu n g der o n t o 1 o g i s c h e n Begriffe für
die Psychologie.
Doch gehen wir in die Psychologie über. Es ist an sich von großem Interesse anzumerken, daß, was wir hier in der Gegenüber30 stellung von Phänomenologie und Ontologie ausgeführt haben, sich selbstverständlich übertragen muß auf das Verhältnis von Psychologie und Ontologie. Jede phänomenologische Deskription geht ja durch psychologische Apperzeption in eine psychologische hinsichtlich der Erlebnisse einer erlebenden Seele über •) Vgl. S. 92.
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wie umgekehrt jede Beschreibung seelischer Erlebnisse durch die ideal mögliche Reduktion (eidetische und von der Realisierung reinigende) in eine rein phänomenologische übergeht. Wenn es also innerhalb der psychologischen Forschung den nicht seltenen 5 Streit zu entscheiden gilt, ob prätendierte Beschreibungen über Wahrnehmungen von Dingen, von Raum und Raumgestalten, von Bewegung u. dgl. korrekt sind, und zwar ob es korrekt gesagt werden könne, ob die Bezeichnung derselben als Wahrnehmungen gerade von D i n g e n, von R a u m, von B e10 weg u n g gültig sei (was doch für das Wesen der psychischen Erlebnisse etwas besagt), so ist das Interesse offenbar nicht ein ontologisches, nicht gerichtet auf das Wesen von Ding, Raum usw. Es ist hier in der Psychologie nicht so wie in der physischen Naturwissenschaft, wo physische Dinge die Urteilsthemata sind, 15 und Wesenseinsichten über Dinge überhaupt selbstverständlich hereinzuziehen sind bei der Beurteilung der jeweilig erfahrenen besonderen Dinge. Diese Wesenseinsichten gehören selbst zum Thema. Die Psychologie ist aber nicht für Dinge, sondern für Wahrnehmung von Dingen interessiert. Und sofern die Wahrneh20 mung Dingliches meint, gehört das Vermeinte als solches, das Noema, in ihre Sphäre der Beschreibung. Wir sagten nun oben 1), gleichwohl könnten ontologische Axiome als Kriterien für die Korrektheit der noematischen Beschreibungen dienen. Ziehen wir Bekanntes heran. Es handle sich (wie bei den fraglichen 25 Strukturen überhaupt) um schlichte Anschauungen transzendenter Gegenständlichkeiten. Solche enthalten notwendig leere, aber erfüllbare Intentionen, zu ihnen gehört die Wesensmöglichkeit, in Anschauungsreihen übergehen zu können, in denen sich ihre leeren Intentionen erfüllen und sich das Angeschaute 30 als solches einstimmig durchhält. Unstimmigkeiten sind nur möglich bei begrifflichen Fassungen dadurch, daß unstimmige Begriffe Anwendung finden, oder durch synthetische Ansätze, wie wenn ein als rot Aufgefaßtes durch synthetischen Ansatz zugleich als grün angesetzt würde. Schließen wir dergleichen also 35 aus, verbleiben wir bei wirklich schlichten Anschauungen, so ist aus ihnen jeweils durch passende Blickrichtung und intuitiv ein Wesen zu entnehmen, nämlich vom Angeschauten, so wie es da •) Vgl. S. 91.
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anschaulich gemeint ist. So wie die Anschauung prinzipiell zu vervollkommnen ist innerhalb ihres kategorialen Typus, so das Wesen in seinem kategorialen Typus, und schließlich verbürgt jede Anschauung prinzipiell von sich aus die Möglichkeit, durch 5 ihre Ausgestaltung in einstimmigem Sinn soweit zu kommen, daß das kategoriale Wesen, z.B. „Ding" (sei es auch als „Idee"} in Vollkommenheit erfaßt und somit auch die es auseinanderlegenden Axiome in allerEvidenz vollzogen werden.Danach können wir auch den a priori gültigen Satz aussprechen: jede schlichte 10 Anschauung „birgt in sich" das Wesen der ihr entsprechenden Region und der ihr zugehörigen regionalen Kategorien, die ihre eidetische Setzung in der entsprechenden Ontologie erfahren, und birgt weiter in sich alle Axiome der betreffenden Ontologie. Umgekehrt ist es evident, daß der Begriff der Region und daß 15 jeder Begriff, der selbst bestimmender der Region als solcher ist, und schließlich jeder Begriff, der als Besonderung den regionalen einschließt und soweit er dies tut, gültig anwendbar ist als phänomenologisch beschreibender Begriff für die betreffende Anschauung hinsichtlich des Angeschauten als solchen. Desglei20 eben ist es klar, daß jeder beschreibende Begriff zu verwerfen ist, der mit dem, was die der Anschauung zugehörigen regionalen Begriffe, also auch die regionalen Axiome ausschließen, behaftet ist. Sowie wir demnach durch Überlegung dessen, was im -beschreibenden Begriff lieg{ (durch Rückgang etwa auf die An25 schauung, die seine mögliche gegenständliche Anwendung fordert}, erkennen, daß diesem Begriffe als solchem etwas zugehört, was jenen ontologischen Axiomen widerstreitet, wissen wir, daß der Begriff in der Beschreibung falsch angewendet ist, daß er nicht als beschreibender fungieren darf. In dieser Weise können 30 also ontologische Wahrheiten (ev. auch mittelbar} dazu dienen, an beschreibenden Begriffen Norm zu üben. Daß eine naturwissenschaftliche Beschreibung nur gültig sein kann, wenn sie mit den naturontologischen Gesetzen stimmt, ist selbstverständlich und bedarf keiner besonderen Erörterung, weil das Beschrie35 bene eben selbst unter den gültigen ontologischen Begriffen steht. Selbstverständlich kann daher z.B. kein unstimmiger geometrischer Begriff als beschreibender fungieren. Hier aber zeigt es sich, daß auch eine p s y c h o 1 o g i s c h e Beschreibung von Dinganschauungen (und so von Anschauungen ir-
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gend welcher Realität) nur gelten kann, wenn die beschreibenden Begriffe die bezeichnete Beziehung zu der Ontologie der Realitätsregion haben, in die das Angeschaute als solches hineingehören würde. Scheinbar ist auch das eine Trivialität. Indessen 5 eine der Trivialitäten, die dem inneren Verständnis so große Schwierigkeiten bieten. Die Psychologie hat zwar ihre vorgegebene Welt, in der sich ihre Erklärungen bewegen. Aber als vorgegeben darf sie nicht die Gegenstände behandeln, auf die sich ihre Prädikate beziehen, und wenn sie Anschauungen psychologisch 10 beschreibt, so beschreibt sie mit das Angeschaute „als solches", das Noema, aber nicht mehr. Hierin also liegt die besondere Funktion der beschreibenden Begriffe, die in ihr Umwendungen der ontologischen sind, nicht diese selbst, und ganz andere Funktion üben als in der Ontologie. Die Regeln ihrer Gültigkeit 15 sind ein wichtiges psychologisch-methodologisches Problem, und dieses findet in unseren Ausführungen seine Lösung. (Auf naheliegende Verallgemeinerungen braucht wohl nicht eingegangen zu werden.) Eins muß aber noch mit einem Wort beigefügt werden. Da 20 ontologische Sätze zwar mit dem Anspruch auf absolute Gültigkeit auftreten, bzw. mit dem Anspruch darauf, aus vollzureichender Intuition geschöpft zu sein, während es mit diesem Anspruch bekanntlich oft recht übel bestellt ist, ist auch der methodologische Rückgang auf ontologische Sätze in der Regel keine 25 zuverlässige Methode. Sie ist darum nicht ganz zu verwerfen. Der Appell an ontologische Selbstverständlichkeiten gibt den Wegen der intuitiven Forschung eine bestimmte Richtung, aber nur die Intuition ist die Instanz, die wirklich entscheidet. Man sieht dann aber auch, daß im Sinne der vorangestellten allge30 meinen Ausführungen für Psychologie wie für Phänomenologie nicht die ontologische Intuition diejenige ist, die hier das Letzte zu leisten hat, sondern die phänomenologische. Die Ontologie selbst mit all ihren ontischen Setzungen ist für eben solche Leistungen eigentlich etwas Irrelevantes, sie stehen nur als 35 Indices für noematische Zusammenhänge, mit denen sie freilich wesensgesetzlich verknüpft sind.
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[Vorbemerkung zum vierten Kapitel)
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Viertes Kapitel
Die Methode der Klärung Die eben durchgeführte Untersuchung diente der Klärung des Verhältn!sses zwischen Phänomenologie und Ontologie; wir erkennen aber auch ihre Bedeutung für die Klärung der phänomenologischen (und desgleichen psychologischen) Methode 5 in einer bestimmten Richtung. Mit ihr klären sich nämlich schwierige und wichtige Probleme des Sinnes und der damit zusammenhängenden Normierungen der phänomenologischen (bzw. psychologischen) Beschreibungen. Es liegt in der Natur der Phänomenologie und der einzigartigen Leistungen, die ihr für 10 unsere gesamte Erkenntnis zufallen, daß sie beständig reflektiv auf sich selbst bezogen sein, daß sie die Methode, die sie übt, selbst wieder aus phänomenologischen Quellen zu vollster Klarheit bringen muß. Es gibt keine Wissenschaft hinter ihr, auf die sie irgend welche Arbeit abschieben könnte, jede Unklarheit, 15 die ihr übrig bleibt, gibt einen günstigen Nährboden für allerlei Verwechslungen und Erschleichungen, für Verderbnis phänomenologischer Resultate, auch für Mißdeutungen der ganzen phänomenologischen Methode, mit denen dann falsche Handhabung derselben verbunden ist. Die radikale Wissenschaft fordert radikal20 ste Strenge, die ihrerseits vollkommenste Durchleuchtung in der Methode der K 1 ä r u n g fordert. Hiermit ist das Wort gefallen, das das Thema der folgenden Untersuchungen bilden soll. Denn durch das soeben Ausgeführte sind wir für dasselbe am besten vorbereitet. Wir haben in der Lehre von den Reduk25 tionen auch die Reduktion auf die größtmögliche Klarheit erwähnt, die als Sonderfall einer allgemeinen in jeder wissenschaftlichen Sphäre wichtigen Methode der Klärung angesprochen wurde. Es liegt aber an der eigentümlichen Stellung der Phänomenologie zu allen anderen Wissenschaften, daß Klärung 30 überhaupt, worauf immer sie gerichtet ist, und phänomenologi~ sehe Klärung in nahem Verhältnis stehen. Daran liegt es aber, daß der Begriff der Phänomenologie und phänomenologischen Methode auch von Seiten desjenigen, der schon wirkliche Phänomenologie kennengelernt hat, nur sich reflektiv über ihr reines 35 Wesen und ihre sinngemäßen Grenzen nicht genug Rechenschaft gegeben hat, leicht eine Verschiebung und Ausdehnung gewinnt,
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die, so natürlich sie sich auch darbietet, doch Verwirrung stiften kann. § 18. K 1 ä r u n g s bedürftig k e i t der d o g m a t i s c h e n W i s s e n s c h a f t e n.
Alle Wissenschaften unterstehen hinsichtlich ihres Bestandes an Sätzen und Begriffen der selbstverständlichen Forderung der 5 Begründung. Die Aussagen sollen gelten, und sie können nur gelten, wenn in ihrer Weise die Begriffe gelten. Man kann sagen, daß es ein Ideal der Wissenschaft ist, hinsichtlich ihres jeweiligen Gebiets ein gültiges System von Sätzen (und somit auch von Begriffen) zu gewinnen, die im Material des Denkens, nämlich 10 der Wortbedeutungen, alle Vorkommnisse des Gebiets, alles, was da ist, nach Beschaffenheiten, Verhältnissen, Zusammenhängen eindeutig bestimmen. Die Forderung geht dahin, daß diese Leistung, soweit sie in noch so engem Umkreis als vollzogen gilt, sich durch Begründung ausweisen und jederzeit ausweisen kön15 ne. Die Überzeugung von der Wahrheit einer Theorie und ihrer praktisch nutzbaren Anwendung setzt keineswegs die Fähigkeit der Begründung oder, was dasselbe ist, die Fähigkeit, sie von Grund aus einzusehen, voraus. Merkwürdigerweise setzt aber auch nicht die E n t s t e h u n g von Theorien sowie von Wissen20 schaften als methodischen Veranstaltungen, richtige Theorien zu gewinnen, Einsicht und Einsehbarkeit voraus. Es waltet eine merkwürdige Teleologie in der Entwicklung der menschlichen Kultur überhaupt und so auch der wissenschaftlichen Kultur, daß wertvolle Produkte ohne Einsicht oder durch ein Gemisch 25 von Einsicht und Instinkt im Walten psychischer Kräfte entstehen können. Daß sie wertvoll sind, erweist natürlich eine nachkommende, die Geltungsprätentionen ausweisende Begründung im Rahmen vollkommener Einsicht. Alle Wissenschaft, auch die am höchsten entwickelten exakten Wissenschaften, 30 sind Kulturwerte dieser Art. Wie lächerlich es auch wäre zu behaupten, daß einsichtige Begründung an ihrer Entstehung und Entwicklung nicht oder nicht in großem Ausmaß beteiligt sei - von einer ausreichenden, vollkommen einsichtigen Begründung sind alle Wissenschaften weit entfernt. Und das schon 35 hinsichtlich der Konzeption der ihre Prädikationen aufbauenden Begriffe.
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Von den ersten Schöpfern der Wissenschaften teils der sehr unvollkommenen naiven Empirie des Alltagsmenschen entnommen, teils bei der Neubildung nur einseitig und unvollständig geklärt, gehen sie in die Arbeit der Wissenschaft mit einem 5 Bestand an Verworrenheit ein, ohne im allgemeinen im Fortgang dieser Arbeit an Tiefe der Klarheit zu gewinnen. Ja, hier vollzieht sich der umgekehrte Prozess, an dem gelegentliches Zurückgehen origineller Denker an die Grundbegriffe, um empfindlich gewordene Verwirrungen und Verwechslungen zu beseitigen, und 10 damit gelegentliche Vertiefungen der Klarheit nichts ändern. Je höher die Wissenschaft emporwächst, je reicher ihre „Methodik" wird, umso mehr verlegt sich die Hauptarbeit in die symbolische Denksphäre, die ursprünglich nach der Intuition orientierten Begriffe werden bloß symbolisch gebraucht, als Rechensteine, 15 mit denen man, ohne wieder auf die Anschauung zurückzugehen, im Stil der ausgebildeten, im wesentlichen symbolischen Methode operiert. Die Kunst der Erfindung immer neuer symbolischer Verfahrungsweisen, deren Rationalität im wesentlichen eine bloß am Symbolischen hängende ist und den Erkenntniswert der 20 Symbole schon voraussetzt, aber ihn nicht einsichtig hat, wird immer vollkommener geübt; was relativ einsichtig auf niederer Stufe war, wird auf höherer Stufe wieder symbolisiert und der Einsichtigkeit (als einer überflüssigen Denkbelastung) beraubt, und so werden die Wissenschaften zu dem, als was wir sie kennen, 25 zu Fabriken sehr wertvoller und praktisch nützlicher Sätze, in denen man als Arbeiter und erfindender Techniker arbeiten, aus denen man als Praktiker schöpfen kann ohne inneres Verständnis, bestenfalls die technische Rationalität erfassend. Die „Fachmänner", d.i. die Ingenieure der Wissenschaftskunst, mögen von 30 dieser Sachlage höchst befriedigt sein im Bewußtsein ihrer Größe und in der organisierten Zusammenarbeit des wissenschaftlichen Großbetriebs unendlich fruchtbarer Leistungen. Und ebenso mögen die Techniker im gewöhnlichen Sinn befriedigt sein, deren Ziel die praktische Beherrschung der Wirklichkeit 35 ist. Erkenntnis gilt ihnen von vornherein als nichts anderes denn als kunstmäßige Erfindung des Denkens zu Zwecken kunstmäßiger Leistungen in derPraxis der Natur-und Menschenbeherrschung. So sehr nun diese Auffassung der Erkenntnis im „Jahrhundert der Technik" sich durchzusetzen schien, es fehlte nicht an
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Reaktionen, die im letzten Jahrzehnt an Kraft mächtig zugenommen und eine große Umwendung inauguriert haben. Die Fortschritte der Wissenschaft haben uns an Schätzen der Einsicht nicht bereichert. Die Welt ist durch sie nicht im mindesten 5 verständlicher, sie ist für uns nur nützlicher geworden. In den Wissenschaften mögen Schätze der Erkenntnis stecken, ja sie müssen in ihnen stecken, da wir nicht daran zweifeln können, daß der Geltungsanspruch ihrer Sätze ein guter, wenn auch noch zu begrenzender sei. Aber diese Erkenntnisschätze haben wir 10 nicht, wir müssen sie erst gewinnen. Denn Erkenntnis ist Einsicht, ist aus der Intuition geschöpfte und dadurch voll verstandene Wahrheit. Nur durch eine neu an den gegebenen Wissenschaften vollzogene Arbeit der Aufklärung und Einsichtigmachung heben wir die Selbstwerte, die in ihnen verborgen sind. 15 Wahre Aussagen sind nicht ohne weiteres Selbstwerte und ebensowenig also Methoden zur Herstellung solcher Aussagen. Nur mittelbar, zunächst als Mittel der Einsicht haben sie Wert, denn „Einsichten" sind Selbstwerte t); und dann weiter als Mittel für fundierte Werte, z.B. für Betätigungen wertender und prak20 tischer Vernunft. Gegen die einseitige Hingabe der Menschheit an die Ausbildung der Wissenschaften als Denktechniken reagiert der 1 n tu i t i o n i s m u s also mit vollem Recht. Es gilt, dem unerträglich gewordenen Notstand der Vernunft ein Ende zu machen, die inmitten aller Reichtümer theoretischen Besitzes 25 ihr eigentliches Ziel, das Weltverständnis, die Einsicht in die Wahrheit, immer ferner rücken sieht. Aber freilich darf der Intuitionismus nicht in Mystizismus ausschlagen, statt an die nüchternen Aufgaben heranzutreten, die sich aus der beschriebenen Situation ergeben. Es gilt, die Wissenschaften auf ihren 30 Einsicht und strenge Geltung verlangenden Ursprung zurück•) „Einsicht" heißt dabei mehr als der flüchtige Akt des Einsehens. Nur aus einsichtiger Urstiftung erworbene und von nun ab mit dem Bewußtsein dieses Erwerbes fortgeltende, jederzeit in den Urstand der aktuellen Einsicht zu restituierende Wahr· heiten haben Weisbeitswert, das ist echten personalen Wert. Und nur sie haben da· durch objektiven Erweis ihrer Wahrheit und können als Wahrheiten wirklich in Anspruch genommen werden. Durch einsichtige Begründung kann es kommen, daß wir nachträglich erkennen, daß Überzeugungen, die wir vorher als blinde hatten, Wahrheiten waren. Auch können uneinsichtige Urteile (uneinsichtige, sofern sie nicht explizite eingesehen werden) doch in der \Veise einer Vorahnung, einer in ihrer Art vorgreifenden Evidenz empfohlen und betätigt sein, wie auch in der weiteren Praxis ihre Bekräftigung gewinnen, ohne daß die echte und logisch zwingende Einsicht er· wachsen wire etc.
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zuführen und sie in Systeme einsichtiger Erkenntnis zu verwandeln durch klärende, verdeutlichende, letzt-begründende Arbeit, die Begriffe und Sätze auf in der Intuition faßbare begriffliche Wesen selbst und die sachlichen Gegebenheiten selbst zurück5 zuführen, denen sie angemessenen Ausdruck geben, soweit sie wirklich wahr sind. Es muß sich dann auch herausstellen, ob und inwiefern die Wissenschaften einseitig sind, nur gewisse Seiten der wirklichen Wirklichkeit zu theoretischer Fassung bringen, und wie von dem Urboden der intuitiven Gegebenheit aus das 10 Ziel allseitiger und vollkommener, alle vernünftig zu stellenden Probleme lösender Erkenntnis erreicht werden könnte. § 19. K 1 ä r u n g d e s B e g r i f f s m a t e r i a 1 s.
Die erste Arbeit, die in Angriff zu nehmen ist, geht offenbar auf das Begriffsmaterial, mit dem die Wissenschaft operiert, und zunächst auf die primitiven Begriffe. Mit Begriffen bezieht 15 sich die Wissenschaft auf die Gegenstände ihres Gebiets. Ihr Verfahren, trotz der beklagten Mängel, ist natürlich nicht überhaupt anschauungsfremd. Die Begriffe werden immer wieder auf Angeschautes, in den Erfahrungswissenschaften auf Erfahrenes bezogen, und umgekehrt unter Leitung der Anschauung und 20 ihrer Gegebenheiten werden Begriffe immer wieder gebildet (Zeichnungen, Modelle, Beobachtungen, Versuche). Trotzdem fehlt den Begriffen diejenige Klarheit, die für die Erkenntnisgeltung derselben notwendig ist. Das Gegebene, wonach sie sich orientieren, z.B. das jeweilig erfahrene Ding, ist zwar gegeben, 25 aber unvollkommen gegeben; so sind selbst die unmittelbar nach dem Gegebenen sich orientierenden, es unmittelbar beschreibenden Begriffe unvollkommen. Es fragt sich, wie da vorzugehen ist, und welchen näheren Sinn die gewunschte Vollkommenheit hat. Zunächst ist soviel klar, daß die Begriffe einer 30 beliebigen Wissenschaft, die auf individuelles Sein geht, von dreierlei Art sein müssen: a) Logisch-formale Begriffe, die Allgemeingut aller Wissenschaften überhaupt sind, Begriffe wie Gegenstand, Beschaffenheit, Sachverhalt, Relation, Anzahl etc. und die Begriffe, die Bedeutungsformen, Bedeutungskate-
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gorien ausdrücken wie „Begriff", „Satz überhaupt". Sie „liegen" in gewisser Weise als „Formen" in allen besonderen Begriffen wie „kategorischer Satz", „partikulärer Satz" usw. b) Regionale Begriffe, Begriffe, die die Region selbst ausdrücken, z.B. „Ding'~ und die 5 logischen Abwandlungen der Region wie „Dingeigenschaft", „dingliche Relation" etc. Auch diese Begriffe haben in gewisser Art formalen Charakter, sie gehen durch alle Wissenschaften einer Region hindurch und liegen allen besonderen Begriffen zugrunde (so liegt z.B. in allen naturwissenschaftlichen Begriffen 10 die formale Komponente der Dinglichkeit, in den psychologischen die der psychischen Realität usw.). c) Die materialen Besonderungen der regionalen Begriffe selbst, mit denen alle sachhaltig bestimmten Aussagen eben ihre Beziehungen auf die Sachen nach ihrem sachlichen Bestand bestreiten. Bloße Modi der Zahl gehören in 15 die Arithmetik, bloße Modi der Idee Bedeutung in die Logik der Bedeutungen, bloße Modi der Räumlichkeit in die Geometrie; das alles sind formale Modi. Ganz anderen Charakters sind Begriffe wie Farbe, Ton, wie die Artungen sinnlicher Gefühle und Triebe u.dgl. Sie bringen den Sachgehalt in alle Bestimmungen. 20 Es ist von vornherein einleuchtend, daß für die Aufklärung jeder Wissenschaft diejenige der Begriffe aller dieser Gruppen notwendig ist und daß die Reihenfolge der Gruppen eine Rangordnung vorzeichnet. An sich müßte erst die Aufklärung der logisch-formalen Begriffe statthaben, sie ist eine gemeinsame 25 Angelegenheit aller Wissenschaften. Dann müßten die regionalformalen Begriffe einer Aufklärung unterzogen werden, und endlich die besonderen Begriffe, die Eigengut besonderer Wissenschaften sind. Wären alle möglichen Wesenslehren, alle eidetischen Diszi30 plinen historisch zur Ausbildung gekommen wie die Naturwissenschaften, aber auch mit ähnlichen Mängeln wie sie behaftet, dann würden wir offenbar sagen müssen, daß die Aufklärung der Ontologie derjenigen der empirischen Wissenschaften vorhergehen muß. In Hinsicht auf die Begriffsklärung ist es sogar zu
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sehen, daß die gesamte Arbeit, die für a 11 e Wissenschaften gefordert ist, schon durch die Begriffsklärung der ontologischen Disziplinen geleistet wäre. Denn jeder beliebige Begriff hat sein begriffliches Wesen, das sich ideell in eine Wesensgattung 5 einordnet, die als Gebiet für eine Wesenslehre fungieren könnte. In der Allheit der Ontologien im weitesten Sinne (nicht bloß der formalen) wären also alle Wesen beschlossen; die Aufklärung der primitiven Begriffe durch Rückgang auf die primitiven Wesen wäre also schon geleistet. In Wahrheit sind aber nur sehr wenige 10 Ontologien konstituiert und, wie man wohl sagen kann, darum, weil ihre .leistungsfähige Ausbildung als Wissenschaften von vornherein eine Vollkommenheit der Intuition fordert, die nur ausnahmsweise, nur bei Wesen gewisser Klassen relativ leicht zu leisten ist. In der Tat hängt es damit zusammen, daß schon 15 sehr früh eine Geometrie und ein Stück formaler Logik und Mathematik zur Entwicklung kam, daß es aber bis heute an einer Ontologie der materiellen Natur und an einer rationalen Psychologie fehlt (bis auf die eben erst im Entstehen begriffene p s y c h o 1 o g i s c h e Phänomen o 1 o g i e). In diesen 20 regionalen Sphären ist die Gewinnung ausreichender, hinreichend tief dringender und unverwirrter Intuitionen mit solchen Schwierigkeiten verknüpft, Schwierigkeiten, die aber, nachdem der Boden der Phänomenologie gewonnen ist, durchaus überwindbar sind. Man kann sagen, daß die I d e e e i n e s v o 1125 s t ä n d i g e n 1 d e e n r e i c h e s, eines vollständigen Systems aller intuitiv faßbaren Wesen, bzw. eines vollständigen Systems aller eidetischen Disziplinen (oder Wesenslehren) in sich befaßt die Idee eines allumspannenden Systems aller möglichen aus reiner Klarheit geschöpften, nach ihr adäquat orien30 tierten Begriffe. Ja, man könnte geradezu sagen, daß beide äquivalent sind, da mit den klaren Begriffen auch die klaren Axiome gegeben sind und alle weiteren Folgen. Demnach führt die Forderung, in allen gegebenen Wissenschaften hinsichtlich ihrer Begriffe die Aufgabe der Klärung zu lösen, wenn wir uns 35 diesem Ideal ergeben und die Aufgabe sogleich für alle künftigen und möglichen Wissenschaften stellen, zur idealen Forderung der Begründung eines allumfassenden Systems der Ontologien aus rein intuitiven Quellen. Dürfen wir sagen, daß der Bestand an primitiven Begriffen, mit dem wir nicht nur wissenschaftliche
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Arbeit bisher geleistet haben, sondern auch künftig und je leisten werden, wenn auch ein begrenzter, so doch fester ist, so kommen wir zu einer empirisch begrenzten Idee eines Systems von eidetischen Disziplinen, in das sich alle uns erreichbaren eidetischen 5 \Vesen einordnen. Das aber ist nicht mehr ein weltfremdes. sondern ein (auch aus anderen Gründen höchst wichtiges) praktisches Ideal: die Phänomenologie umspannend, die ihrerseits in gewisser Weise alle anderen eidetischen Disziplinen umspannt. 10 Um uns nun das \.Vesen dieser der noetischen Vervollkommnung aller Wissenschaften dienenden Klärung selbst zur Klarheit zu bringen, überlegen wir den Sinn der zu fordernden Leistungen an einem Beispiel: Es handle sich z.B. darum, den Begriff des materiellen Körpers zur Klarheit zu bringen, was das „eigentlich 15 bedeute": „Ding", wie das aussehe. Wir gehen dann von Beispielen aus, die unzweifelhafte Anwendungen des Wortes Ding darstellen, z.B. Steine, Häuser u. dgl., begnügen uns aber nicht damit, diese bloß durch Namen sozusagen aufzuraffen, also durch bloße Wortbedeutungen zu „denken", wir gehen vielmehr 20 zur Anschauung über, zur Wahrnehmung solcher Einzelheiten oder zur lebendigen Phantasie, die hier die Rolle spielt eines „sich in die wahrnehmende Gegebenheit solcher Sachen hineinphantasieren". Würden wir Vergleichungen anstellen zwischen den verschiedenen sich in der Gegebenheit oder Quasi-Gegeben25 heit exemplarisch darbietenden Gegenständen, so fänden wir Differenzen und Gemeinsames. Es handelt sich aber nicht darum, induktiv vorgehend das überall Gemeinsame zu finden, wir sehen vielmehr zu, was an dem anschaulich Gegebenen von dem Wortbegriff sozusagen herausgehoben, gedeckt, begrifflich 30 gemeint wird und was nicht, was daran das „so heißende" eigentlich ist, bzw. welche Wesensmomente des anschaulich Gegebenen es sind, um derentwillen die Sache gerade so „heiße". Immerhin, der Hauptsache nach das Sokratische Verfahren. Natürlich handelt es sich nicht darum, einen Sprachgebrauch zu fixieren, 35 sondern in solcher Deckung im anschaulich Gegebenen ein noematisches Wesen zur Abhebung zu bringen und es als das zu fixieren, welches das durch die bloße Wortbedeutung Gemeinte ist. Eben damit erweist sich die Wortbedeutung, der Begriff, als gültig; denn dem Begriff entspricht nun ein Wesen.
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§ 20
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§ 20. V e r d e u t l i c h u n g u n d K l ä r u n g.
Dabei ist noch Folgendes zu unterscheiden: ist der Begriff ein komplexer, so sind V e r d e u t l i c h u n g und K l ä r u n g auseinanderzuhalten. Die Verdeutlichung des Begriffs, des mit dem Wort Gemeinten als solchen, ist eine Prozedur, die sich 5 innerhalb der bloßen Denksphäre abspielt. Ehe der mindeste Schritt zur Klärung vollzogen "ird, während keine oder eine ganz unpassende und indirekte Anschauung mit dem Worte eins ist, kann überlegt werden, was in der Meinung liegt, z.B. in „Dekaeder": ein Körper, ein Polyeder, regelmäßig, mit zehn 10 kongruenten Seitenflächen. Desgleichen kann sukzessiv herausgeholt und in den zur Denksphäre gehörigen Formen verknüpft werden: „ein geometrischer Körper, welcher von zehn kongruenten ebenen Flächen vollständig begrenzt ist". Dabei kann die logische Form, kann die „Synthesis", in der der Denkstoff 15 geformt ist, eine verschiedene sein, es gibt viele „äquivalente" Ausdrücke für dieselbe Sachlage. Wir haben also zu unterscheiden den unverdeutlichten, unanalysierten und den analytisch verdeutlichten Begriff und die „analytischen Urteile" in dem Sinne, den Kant wohl zunächst im Auge hatte, die identifizierend den 20 noematischen Gegenstand des einen und des anderen als denselben hinstellen. Genauer gesagt hieße es aber, es sei gegenüberzustellen der unanalysierte Begriff und ein anderer Begriff, der in Bezug auf ihn als seine Verdeutlichung, als Auseinanderlegung des in ihm Enthaltenen fungiert. Denn der „verdeutlichte" 25 Begriff ist als Begriff, als Bedeutung ein anderer. Bei der Klärung überschreiten wir die Sphäre der bloßen Wortbedeutungen und des Bedeutungsdenkens, wir bringen die Bedeutungen zur Deckung mit dem Noematischen der Anschauung, den noematischen Gegenstand der ersteren mit dem der letzteren; die 30 Deckung muß so vollkommen sein, daß jedem durch Verdeutlichung entnommenen Partialbegriff ein expliziertes Moment des anschaulichen Noema entspricht. Offenbar ist die Explikation des Anschauungsvermeinten ein anderes als die Explikation des Denkvermeinten, der Denkbedeutung. Sehr oft kommt es vor, 35 daß die Anmessung an eine entsprechende Anschauung, die als entsprechende dadurch charakterisiert ist, daß mindestens eine Teilbedeutung zur Deckung mit einem anschaulichen Momente kommt, in ihm seine Fülle findend, zu einem Widerstreit führt:
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verschiedene Bedeutungsexplikate fordern Anschauungskorrelate, die sich in der Einheit einer Anschauung „nicht vertragen", d.h. die nicht zur Einheit im normalen Sinn, einer Einheit einstimmiger Anschauung kommen, sondern zu einer Verknüpfung zweier 5 Anschauungen in der Form des Widerstreits hinsichtlich der betreffenden Momente. Es ist ferner zu bemerken, daß nicht bloß auf das Verhältnis zwischen Bedeutung und Angeschautem als solchem (Denknoema und Anschauungsnoema) zu achten ist, sondern auch auf das Verhältnis des Wortes selbst mit 10 seinem Wortlaut und der ihm anhaftenden Worttendenz und den Noemata. Das Wort „meint" etwas, das kann sagen, seine Bedeutung fordert ein passendes, sie erfüllendes Wesen. Es kann aber auch gesagt sein, das Wort mit der seinem Wortlaut anhaftenden Tendenz fordert eine Bedeutung und ist eins mit 15 ihr als Wort. Das Wort kann aber äquivok sein und als Wort verschiedene Bedeutungen fordern, und es kann bald zusammenhangslose, bald nahe verwandte, bald weitere, bald engere, bald allgemeinere, bald minder allgemeine Bedeutungen fordern. Dadurch kommt bekanntlich viel Verwechslung und Irrtum in 20 die Wissenschaft hinein. Die Klärung hat nun auch die Funktion, den alten Worten einen neu konstituierten Sinn zu geben. Von den ihm anhaftenden Worttendenzen werden gewisse sozusagen durchgestrichen und eine einzige an dem Angeschauten geklärte Tendenz als die gültige ein für allemal unterstrichen und dem 25 Gedächtnis eingeprägt. Wir betrachteten bisher·die Verhältnisse, die zwischen Wort, Wortbedeutung und Anschauung spielen. Aber die Hauptarbeit der Klärung, die auf Seiten der Anschauung liegt, haben wir noch nicht besprochen. Die Wortverdeutlichung (die verbale 30 Sinnesanalyse) hat eine propädeutische Funktion für die eigentlich zu vollziehende intuitive Verdeutlichung. Das Ziel der Klärung kann man im Sinn des schon Ausgeführten auch dahin fassen, daß sie den vorgegebenen Begriff gewissermaßen von neuem schaffen, ihn aus der Urquelle der begrifflichen 35 Geltung, der Anschauung, speisen und ihm innerhalb der Anschauung die Teilbegriffe geben will, die zu seinem originären Wesen gehören. Ist also zu dem vorgegebenen, aber allererst zu bewährenden, neu zu begründenden Begriff eine „passende" Anschauung, ein entsprechendes Anschauungsnoema gefunden,
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so ist an diesem zu fixieren (durch Abgrenzung eines Begriffsinhalts, also durch Analyse des gesamten Noema}, was exakt und fest das zu dem Begriff gehörige Wesen sein soll: für das erschaute Wesen wird der „Ausdruck" geschaffen und die be5 zügliche Worttendenz unterstrichen. Dieses ausgezeichnete \:Vesen wird analysiert, den analytischen Momenten werden entsprechende Bedeutungen als Ausdruck zugewiesen bis zu den primitiven hin oder soweit es das Interesse erfordert. Das Ziel ist aber vollkommene Klarheit, und das erfordert 10 insbesondere bei allen aus der Sphäre der Realität stammenden Begriffen sehr umständliche Prozesse, die wir schon kennen, und die wir auf Grund unserer Analysen charakteristisch bezeichnen können. D i e K l ä r u n g m u ß g e n a u d e n S t u f e n d e r K o n s t i t u t i o n d e s b e t r e f f e n d e n e x e m15 p l a r i s c h e n An s c h au u n g so b j e k t s n a c h g e h e n. Ein Ding ist nicht gegeben, ein Dingbegriff ist nicht zu wirklicher Klarheit gebracht, wenn ein Ding einfach gesehen ist. Gesehen ist auch ein Phantom, ein schlichtes Sehen ergibt auch nicht mehr als das, was dem Phantom entspricht, nämlich als 20 das sinnliche Schema. Gilt es aber klarzumachen, was das heißt: „Ding", oder was das heißt : „reale Dingeigenschaft" mit seiner wesentlichen Beziehung auf reale Umstände, so muß die klärende Anschauung den Mannigfaltigkeiten sinnlicher Schemata nachgehen in Beziehung auf die Mannigfaltigkeiten der schematisier25 ten Umstände und muß die Anschauungskomponenten, die den sinnlichen Schemata sozusagen den Wert von Dinganschauungen geben, zur Erfüllung bringen. Der Prozeß der Klärung besagt also Doppeltes: Klarmachung des Begriffs durch Rekurs auf erfüllende Anschauung, fürs zweite aber einen in der Anschau30 ungssphäre selbst sich vollziehenden Prozeß der Klärung: der vermeinte Gegenstand (auch die Anschauung „vermeint" eben, auch sie hat ein Noema, das ev. Glied ist noematischer Mannigfaltigkeiten, in denen sich der noematische Gegenstand immer vollkommener herausstellt) muß zu immer größerer Klarheit, 35 muß immer näher, muß im Prozeß der Klärung zur vollkommenen Selbstgegebenheit gebracht werden. Nun gibt es zwar nicht für jederlei Gegt:nstände {und somit auch für jederlei Begriffe) so etwas wie Konstitution als Einheit von Mannigfaltigkeiten, so z.B. nicht für sinnliche Inhalte oder auch für Akte, die ja selbst in
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der Reflexion zu Gegenständen werden. Andererseits gibt es aber doch für alle Gegenstände eine Anschauungsnähe und eine Anschauungsfeme, ein Emportauchen in das helle Licht, das einen inneren Reichtum an bestimmten Momenten herauszuana5 lysieren gestattet, ein Zurücksinken ins Dunkel, in dem alles verschwimmt. Das sind freilich Bilder und doppelsinnige Bilder. Denn das Näherbringen, in dem Leerstellen der Auffassung sich füllen, in dem Anschauungen, „klare Anschauungen", in Anschauungsreihen übergehen müssen, um den einseitig und 10 unvollständig, unbestimmt sich in ihnen darstellenden Gegenstand (den sie „meinen") zur fortschreitenden „Selbstgegebenheit" zu bringen, ist von einer total anderen Richtung als dasjenige, das z.B. jede solche Anschauung insofern zuläßt, als sie nicht genug helle, nicht genug satte Anschauung ist (z.B. eine 15 unvollkommen „lebendige" Phantasie). Also die Begriffe „ K 1 a r h e i t " u n d „ K 1 ä r u n g " s i n d v i e l d e ut i g. Aber jeder Sinn kommt hier in Frage: größtmögliche „Lebendigkeit", „Sättigung" auf einer Seite und größtmögliche Erfüllung der zum Bestand der Anschauung gehörigen apperzep20 tiven Intentionen, der darstellenden, der bekundenden. Wieder sieht man von hier aus in vollkommener Klarheit die allgemeine Aufgabe und das umfassendste, obschon im Unendlichen liegende Ideal : in systematischer Vollständigkeit die Ideenwelt, die Welt möglicher Wesensartungen möglicher Gegenständlichkeiten 25 überhaupt in der Anschauung und in vollendeter Klarheit zu umfassen und auf Grund der in der Anschauung liegenden Noemata die überhaupt möglichen begrifflichen Wesen überhaupt zu gewinnen und ihnen die rein sie ausdrückenden Wortbedeutungen und Worte selbst zuzuordnen, die eine Gesamtheit vollkom30 men geklärter Begriffe, bzw. Termini ausmachen würde. Und von da aus kommt man wieder zum unendlichen I d e a l e i n e s S y s t e m s a 11 e r 0 n t o l o g i e n und eidetischen Disziplinen überhaupt. Mit der Explikation der Wesen in der Selbstgegebenheit und mit der Betrachtung der Wesenszusam35 menhänge regeln sich Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Verknüpfung, der mannigfaltigen wesensmäßig angelegten Verhältnisse, welche, in treuen Begriffen ausgedrückt, zu Grundwahrheiten der Ontologie werden. Alle solche Forschung hat nun aber, im Sinne des schon Ausgeführten, nahe
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Beziehung zur Phänomenologie. Sie selbst ist eine Eidetik. Ein allumfassendes System eidetischer Disziplinen umfaßt also auch sie. Aber alle klärende und im Rahmen der axiomatischen Klarheit vollzogene ontologische Einsicht, die nicht direkt phäno5 menologisch ist, wird dazu durch eine bloße B l i c k w e n d u n g, wie umgekehrt im All der phänomenologischen Einsichten solche auftreten müssen, die durch bloße Blickwendung zu ontologischen werden 1). Man kann sagen, daß alle eidetischen Axiome im Zusammen! o hang der Phänomenologie durch bloßen Vollzug der Blickänderung und entsprechenden Setzung sich finden, daß sie also, was sicher sehr bedeutsam ist, den M u t t erb o den, a u s de m a 11 e o n t o 1 o g i s c h e n E ins i c h t e n e n ts t a m m e n , in sich befaßt. Aber prinzipiell ist es bedeutsam, 15 daß sie den sonstigen Ontologien nichts verdankt und nichts verdanken kann so wenig wie allen anderen dogmatischen Wissenschaften, und daß sie nichts weniger als eine Art Fortsetzung der Ontologien ist, als ein einheitlicher Boden, auf dem nebeneinander ontologische Axiome und sonstige Wesensein20 sichten wachsen. Das aber kann und muß man sagen, daß erst durch die durchaus reflektive Arbeit der Phänomenologie, welche das, was auf der anderen Seite notwendig vollzogen wird, selbst systematisch analysiert, welche alle Motive, die in den Phänomenen liegen, fixiert und nach ihren Motivaten fragt, daß erst 25 dadurch die ontologisch fundierte Forschung ihre volle Kraft entfalten kann und ihre volle Sicherheit erhält. Nur der Phänomenologe wird befähigt sein, die tiefsten Klärungen hinsichtlich der in systematisch konstitutiven Schichten sich aufbauenden Wesenheiten zu vollziehen und so der Begründung der Ontologien 30 vorzuarbeiten, die uns so sehr fehlen.
1) Wenn ich einen Begriff, z.B. ,,Seele'~ kläre, so mache ich mir die Wortbedeutung klar und suche die „eigentliche" Bedeutung, d.i. ich suche wieder eine Bedeutung, aber die „erfüllende" Bedeutung, das Noema, das der erfüllenden Anschauung zugehört. Hier habe ich keine ontische Einstellung, ich will nicht den noematischen Gegenstand verwandeln in den Gegenstand selbst, den ich setze, was eine Änderung der Urteilseinstellung ist. Sofern Noemata und ihre noematischen Einheiten („Gegenstände" in Anführungszeichen) in die Phänomenologie hineingehören, gehört alle Klärung in die Phänomenologie hinein, wie auch die Axiome der Bedeutungslehre hineingehören als Formenlehre der Bedeutungen.
NAMENREGISTER
Anschütz, G. 52 Billroth, T. 51 Bolzano, B. 59 f. Brentano, F. 59, 61, 63 Chwolson, D. 4 7 Descartes, R. 6 Ehrlich, P. 16
Galiani, F. 50 Galilei, G. 45 Geiger, M. 55 Hata, S. 16 Kant, I. 32, 103 Kepler,J. 45 Leibniz, G. W. 59 Locke,J. 41
Lotze, H. 59-61 Mill,J.St. 59 Pfänder, A. 58 Sokrates 102 Spinoza, B. 6 V olkmann, R. 51 Windelband, W. 60
SACHREGISTER
Akt 4, 11, 17, 21f., 56, 88-91, 105 -, originär gebender 4, 25, 38,49 Analytik, transzendentale 32 Anschauung 28f., 47, 49, 53, 84, 87-90, 92f., 99, 102-107 -, empirische 44, 63 -, originäre 24f., 38 -, psychologische 43, 94 Anthropologie 19, 21 -, rationale 40 Aposteriori 3 7, 77 Apperzeption s. Auffassung Apriori 24, 26, 35, 37, 59, 64 -, phänomenologisches 72, 77 -, regionales 38-40, 46 s. auch Konstitution
Arithmetik 85, 100 Ästhetik, transzendentale 32 Astronomie 44, 50 Auffassung (Apperzepti~n) 3, 5, 7f., 16-18, 21, 23 -, begriffliche 35 -, originäre 24 -, psychologische 43, 77, 91 -, realisierende 14, 41, 44 Auffassungsschichten 13 Auffassungssinn 5, 8, 18, 23, 31 Ausdruck 28f., 89, 99, 105 Axiom, ontologisches 62, 74, 79, 81-85,88-93, 101,107 Bedeutung 28f., 91, 107 -, logische 8 7, 100 -, objektive 48
103f.,
110
Sachregister
Begriff -, aposteriorischer 3 7 -, apriorischer 37 -, beschreibender 91-94, 99 -, judikativer 30 -, leerer 26 -, logischer 28, 99f. -(e), phänomenologische Klärung wissenschaftlicher 82, 89f., 99-106 -, regionaler 27, 38, 82, 93, 100 Begriffsbildung, wissenschaftliche 5, 27-30, 99 Begründung - der Wissenschaften 96, 107 -, wissenschaftliche (durch Erfahrung) 24f., 28, 49 f. Beschreibung s. Deskription Bewußtsein 10, 13, 16, 22, 26, 41, 74-76,83 -, gebendes 15, 38 -, ichliches 16 -, reines 13, 17, 76 f. -, transzendentales 79f., 83; 86 -, Wesen des 38, 58, 78 Bewußtseinskorrelat 41, 83, 86 s. auch Korrelat Chemie 15, 31-33 cogito-cogitatum 73 Dasein -, reales 41 f., 49, 66, 86 -, seelisches 48 -, wirkliches (faktisches) 48f., 76 Deduktion 61 f. Denken 8, 24, 78 -, begriffliches 36 -, theoretisierendes 3 f., 10, 16
Deskription (Beschreibung) 47 -, naturwissenschaftliche 61 bis 63, 93 -, phänomenologische 55, 80, 88, 91f., 95 -, psychologische 56f., 63, 69-71, 92f. Ding, materielles 3 f., 22, 27, 29, 31-36, 38, 44f., 64, 76, 81, 86f., 100, 105 - als Substrat von Eigenschaften 33, 6 7 -, anschauliches vs. objektiv wirkliches 7 0 -, Begriff des 36f., 102 -, Eigenschaften des 31 f., 34 -, Erscheinung des 65-67 -, Idee des 35, 38f., 81, 85 -, Konstitution des 36 s. auch res extensa Dingwahrnehmung (Dingerfahrung) 4, 12f., 17, 33, 41, 92 -, Wesen der 4, 35, 42 Eidos s. Wesen Einfühlung (Eindeutung) 10-12, 41,66 Einstellung 5 -, eidetische (ontologische) 31, 37, 78, 90, s. auch Wesenseinstellung -, naturwissenschaftliche 56 -, theoretische 24 Empfindung (Empfindsamkeit) 7 bis 14, 16-19 -, Lokalisation der 7-9, 14 epoche s. Reduktion Erfahrung 3f., lOf., 18, 23-25, 28-31, 33[, 36[,48,53,63 -, Grundformen der 12, 14, 35f.,81 -, theoretische 4f., 10, 13 -, Wesen der 5, 7, 24
Sachregister Erfahrungsanalyse 6, 47, 56 Erfahrungsfortschritt 33 f. Erfahrungswissenschaft 27, 34, 38, 44f., 79, 99 -, psychologische 40, 42, 71 Erfüllung, intentionale 14 Erinnerung 11, 41, 43, 49 -, Wesen der 42, 78 Erkenntnis 5 f., 8, 10, 68, 97 Erkenntnistheorie 26 Erlebnis -, intentionales 43, 74, 78, 83,90 -, psychisches 41, 48, 69 bis 71, 75, 92 -, reelle Momente des 40 -, Wesen des 41, 43, 56, 77 Erlebnisgruppen 41 Erlebnisstrom 46, 55, 72f. Erscheinurtg 64- 70 Erscheinungswelt vs. „wahre" Welt 67 Ethik 26 Evidenz 93, 98 Experiment 42, 46, 51, 54 Faktum (Faktizität) 37, 41, 43, 49 f., 55, 66, 72 Fiktion, fingieren 31, 33f., 43 Gattungsbegriff 27, 29, 36 Gegenstand (Gegenständlichkeit) 3, 7, 20, 23, 25, 30f., 33, 87, -, Grundarten von 20 [90f. -, noematischer 105, 107 -, realer 6, 29 -, Wesen des 24f., 36, 76 G~st 23 Geisteswissenschaft 51, 7 5 Gemeinschaft 22, 66 Geologie 62 Geometrie 20, 32, 39, 44-46, 62, 73-75,84, lOOf.
111
Gesetz, physikalisches 31, 34, 5 0 Gültigkeit, objektive 6, 62 Ich 4, 8, 12, 14, 17, 22, 78 -, empirisches (animalisches) 21, 73, 76 -, reines 21, 73, 77 -, seelisches 3, 13, 19, 2 lf., 23, 73 Ichleben 14 Ichrealität 26 Ideation 26 Induktion 45 Intention 14, 25, 84, 92 Intentionalität 56f., 61, 70f. s. auch Erfüllung, Erlebnis Intuition, unmittelbare 24, 26, 57, 59, 6lf., 80, 82, 84-86, 98 -, eidetische 43, 71, 79, 94, 99, 101 -, noematische 28-30 s. auch Wesensanalyse, Wesenseinstellung Kategorien 27 - der Realität 4, 81 - des Seins 15 -, gegenständliche 24f. -, regionale 93 Kausalität 5 f. -, Gesetz der 32 -, materielle 19 -, psychologische 18, 21, 63 Konstitution 3, 5, 20, 58, 79f., 83,88, 105 -, Apriori der 24, 73, 79 Korrelat, intentionales 36, 40, 43, 73, 78, 86f. Kosmologie, rationale 72 Leib (-lichkeit) 3-5, 7-14, 16f., 19f., 22f., 66-68, 73, 76, 81
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Sachregister
Leibesmaterie 7, 9f., 16, 18-20 Leibeswahrnehmung 4, 8f„ 12 Leitfaden, transzendentaler 27 Logik 26 -, formale 46, 60, 81, lOOf. -, reine 59 Materie (Materialitä.t) 5, 19, 23 Mathematik 14f„ 45f„ 59, 101 Mathesis - der Natur 45 -, reine (formale) 62, 74 - universalis 46, 5 9 Mensch 9-12, 16-18, 21, 38, 41 f„ 48, 73 Methode 7, 14f„ 23-25,27,69, 72,97 -, naturwissenschaftliche 6 7f. -, phänomenologische 3, 4 7, 51, 57, 71, 79f„ 82, 91, 95 Mineralogie 62 Monade 80 Natur 32, 34, 50, 67f. -, Konstitution der 4, 64 -, materielle (physische) 5, 19, 23,64, 74 -, seelische (psychische) 62, 64 Naturalismus 40, 52 Naturerkenntnis 4f„ 64 -, Quelle der 24 Naturforscher 4, 14, 40, 75 Naturgesetz 42 Naturwissenschaft 3-5, 10-12, 14f„ 21, 23, 33 f„ 39, 45 f„ 48, 51, 64, 67 f„ 72, 74f„ 80, 92, 100 -, deskriptive 62, 69 Noema 28, 43, 73, 78, 85-88, 90-92,94, 105-107 Noese (Noesis) 13, 43, 78, 86 Noetik 24
Norm 23-25, 30 Normalität 65, 69 Objektivität - der Natur 4f„ 39, 64-66 -, Unterschied von Subjektivität und 68 Ontologie(n) als dogmatische Wissenschaften 82 als Wesenswissenschaften 38 des Geistes 26, 75, 82 der Natur 38f„ 82, 101 -, formale 101 -, Grundbegriffe der 79, 81f„ 85,91 -, - als Indices noematischer Zusammenhänge 79, 94 -, psychologische (-der Seele) 26, 40, 77 -, Quellpunkt der 38 -, regionale 25, 27, 72, 74, 78f„ 85, 88, 90, 93f„ lOOf„ 107 -, System der lOlf„ 106 s. auch Axiom, Region, Wesenslehre Persönlichkeit, geistige 22 f. Phänomenologie 23, 39, 95 -, Anwendung der 83 -, Aufgabe der 38, 81, 86 -, eidetische 26, 15-47, 49f„ 71f. -, psychologische 101 -, Sinn der 40, 59, 107 -, transzendentale 47, 76, 78 bis 80 Phantasie, phantasieren 31-34, 37, 43f„ 48f„ 53-55, 57f„ 84, 102, 106 -, Wesen der 42
Sachregister Phantom (sinnliches Schema) 4, 32-35, 81, 105 Philosophie 14f. -, Aufgabe der 24 -, Notlage der 52, 75 Phoronomie 39, 50, 62, 74 Physik 3, 15, 31-33, 38, 46, 51, 6lf., 64-68, 70 Physiologie 10 f., 13 Psychologie 11-14, 16, 18f., 21, 23, 80, 9lf., 94 als Geisteswissenschaft 51 als Naturwissenschaft 61, 72, 75 f. des Denkens 54 -, deskriptive 47, 63f., 69 bis 71 -, experimentelle 39, 44f., 47, 50-53 -, metaphysische 26 -, rationale (eidetische) 20, 25 f., 39-41, 44-46, 58, 72-77, 101 -, Thema der 69, 92 Psychologismus 26 Psychomonismus 76 Raum -, Idee des 46, 73, 92 - und Zeit 44, 67 Realität 3, 5 f., 28, 35 -, Fundierung der 16, 18, 20f., 23 -, Grundarten von 31 -, Idee der 26, 40 -, materielle 5, 10 -, objektive 6 -, seelische (psychische) 16, 18-20,26,39, 74, 76 -, somatische (leibliche) 16, 20 -, Wesen der 6, 39 Realitätskategorien s. Kategorien
113
Reali tä tsschich ten 16 Realitätswissenschaften 7, 21, 30, 39 Reduktion 56, 62, 91f., 95 - , eidetische 4 2 -, transzendentalphänomenologische (epoche) 41, 76, 78 Reflexion 41,43, 71, 78,90, 105 Region 3,27,38,44,85,93, 100 res extensa 35, 37, 44 Seele (Seelisches) 3-5, 11, 13f., 16, 18-23, 38, 55, 68-71, 73, 76, 78, 81, 86, 91, 107 -, Wesen der 15, 19, 40f., 73f. Seelenapperzeption 13, 18, 20 Selbstgegebenheit 106 Sinn 3, 30 -, gegenständlicher 33 -, Identität des 31 -, reiner 31 Sinnesfeld(er) 7, 11, 20 Sinnesorgan(e) 8, lüf. Soma 11, 21 Somatologie 7, 9-12, 16, 18, 20f. Subjekt 50, 64-66, 68f., 78 Substanz 6 Tatsachenerkenntnis 25, 50 Tatsachenwissenschaft 25, 38, 80 Teleologie der Kultur 86 Theologie, rationale 72 Theorie 13, 96 -, naturwissenschaftliche 52 Transzendenz 56, 73, 78 Urquelle, phänomenologische 3, 23,38 Urteilsbildung, wissenschaftliche 5,29,84,89
114
Sachregister
Variation 3lf., 71 Vergegenwärtigung 11, 25, 41, Vernunft 77, 98 [57 -, praktische 98 Wahrheit 97-99 -, apriorische 39 -, eidetische 84 -, phänomenologische 40 -, rationale 40 Wahrnehmung, wahrnehmen 6, 8, 10, 13, 16, 23, 34, 38, 42f., 48f., 53 -, innere 41 -, materielle 3f., 14, 16, 33, 37,57 -, somatische 10 -, Wesen der 42, 78 Wahrnehmungssinn 33 f. Welt 32, 48 -, materielle 22, 34 -, raum-zeitliche 42 Wesen 23, 25, 7lf., 87-90, 92f., 102, 105 -, logisches 28f. -, noematisches 28-30 -, reales 39 Wesensanalyse (Wesensforschung) 14, 20, 23, 41, 58, 63, 77 Wesenseinstellung 23, 25, 43f., 64
Wesensgesetz 50, 71 f. Wesenslehre - der Erlebnisse 43, 45, 73f. -, phänomenologische 24, 26, 51, 56, 60f., 71, 79, 82f. -, psychologische 26 -, regional-ontologische 25, 46, lOOf. Wesenswahrheit 44, 49, 53 Wirklichkeit 28f., 48 Wissenschaft(en) 13, 38, 45 als Idee 39 als Kulturwert 96 als Technik 9 7 f. -, beschreibende 5, 62 -, dogmatische 15, 24, 82, 96, 107 -, eidetische 44 -, erklärende 5 f., 62 -, Klassifikation der 27 -, selbständige und unselbständige 21 -, Wesen der 15 Wort und Wortbedeutung 47, 103-105, 107 Zeitlehre, reine 32, 39 Zeitlichkeit, immanente 69 Zoologie 11-13, 19, 21 -, rationale 40