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German Pages 278 Year 2015
Nanette Rißler-Pipka, Michael Lommel, Justyna Cempel (Hrsg.) Der Surrealismus in der Mediengesellschaft – zwischen Kunst und Kommerz
Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Peter Gendolla.
Nanette Rissler-Pipka, Michael Lommel, Justyna Cempel (Hg.)
Der Surrealismus in der Mediengesellschaft – zwischen Kunst und Kommerz
Medienumbrüche | Band 42
Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
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© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Justyna Cempel, Siegen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1238-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Peter Gendolla Grußwort .................................................................................................................... 7 Nanette Rißler-Pipka Einleitung ................................................................................................................11 Michael Lommel Facetten des Surrealismus in der Gegenwartskultur ...................................23 Jürgen Link Zur erotischen Faszination durch die nicht normale passante in und nach dem Surrealismus...........................................................................33 Monika Schmitz-Emans Ror Wolfs Ratgeberbücher, die Collagen Max Ernsts und René Magrittes Verrat der Bilder......................................................................49 Andreas Puff-Trojan Rolle rückwärts (Frühromantik)/Rolle vorwärts (Freischwebendes) Zur Aktualität des Surrealismus..............................................................................81 Michael Wetzel Infra-Realismus Marcel Duchamp und der Surrealismus ................................................................93 Sigrid Schade Die Medien/Spiele der Puppe – Vom Mannequin zum Cyborg Das Interesse aktueller Künstlerinnen und Künstler am Surrealismus ...........113 Susanne Klengel Surrealistische und estridentistische Prä-Texte: Zur poetischen Spurensicherung des mexikanischen Infrarealismus in Roberto Bolaños Los detectives salvajes...................................................127 Volker Roloff Surreale Medienspiele Anmerkungen zu Carlos Fuentes’ Diana o la cazadora solitaria und Los años con Laura Díaz ...................................................................................141
Gerhard Wild Nachrichten vom Rande des Reiches: Surreale Peripherien zwischen Ungleichzeitigkeit und Aktualität........ 155 Eckart Voigts-Virchow Ent-Stellungen – Chris Cunningham Körper als Pop-Surrealismus..... 197 Gregor Schuhen Madonna und Salvador am Kreuze vereint Ein Versuch über Surrealismus & Pop ............................................................... 215 Kirsten von Hagen Vom Schauen, Schwimmen und Schreiben – zur Ästhetik des Intermedialen und Surrealen bei François Ozon und Albert Ostermeier................................................................................................ 235 Nanette Rißler-Pipka Der Traum vom Surrealismus bei Švankmajer und Gondry ................... 255
Zu den Autorinnen und Autoren..................................................................... 267
Bildnachweis ........................................................................................................ 273
Peter Gendolla
Grußwort Diese Zeilen bilden den Versuch, ein Grußwort Bretons Definition des Surrealismus1 gemäß zu schreiben, also automatisch, oder eben Wie von Selbst, wie ein Essay von Isabelle Graw betitelt ist, der Über die Aktualität der „Écriture Automatique“ geht: Breton hat die „écriture automatique“ als einen Vorgang beschrieben, bei dem das Schreiben dem Denken unzensiert folgt, ihm gleichsam hinterherläuft: ein ‚Denkdiktat ohne jede Kontrolle der Vernunft‘. Am ehesten soll dies gelingen, wenn man sich unmittelbar nach dem Aufwachen, quasi noch im Halbschlaf an den Schreibtisch setzt und die im Dämmerzustand formulierten Sätze sogleich aufschreibt.2 Die Zeilen sind dieser Anweisung folgend entstanden, allerdings wurde der Dämmerzustand noch etwas verstärkt oder gewissermaßen digital verschärft, indem „das Internet, diese gigantische Rumpelkammer des Weltwissens und des Ungefähren“3 als Ghostwriter beigezogen wurde. Allerdings nicht Google, obwohl es zum Titel dieses Bandes am 02.11.2007 innerhalb von 0,25 sec 186.000 Einträge auswies, darunter durchaus anregende, Bretons Definition von Enzyklopädie4 entsprechende: „Kunst existiert nur, wenn sie konsumiert wird“, „Digital Islands“, „In ist out. Out ist in. Kein Happy End“. Nein, stattdessen wurde eine sehr viel ältere Quelle befragt, das Orakel zu Delphi, nur in einer modernen Version. Pythia, sprich die Installation Delphi, Version V.2.1, gibt ganz direkt etwa zur ewigen Frage der möglichen Ver1
„Ich definiere es also ein für allemal: SURREALISMUS, Substantiv, m., reiner, psychischer Automatismus, durch welchen man, sei es mündlich, sei es schriftlich, sei es auf jede andere Weise, den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und außerhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen.“ http://www.kunstzitate.de/bildendekunst/ manifeste/surrealismus.htm.
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http://www.textezurkunst.de/48/wie-von-selbst.
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Aus einem Artikel über den Erfolg der Netzenzyklopädie Wikipedia: „Der Wildwuchs bringt seinen eigenen Kanon hervor“, Süddeutsche Zeitung (28.08.2007).
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„ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis heute vernachlässigter Assoziations-Formen, an die Allgewalt des Traums, an das absichtsfreie Spiel des Gedankens. Er zielt darauf hin, die anderen psychischen Mechanismen zu zerstören und ihre Stelle einzunehmen zur Lösung der wichtigsten Lebensprobleme.“ http://www.kunstzitate.de/bildendekunst/manifeste/surrealismus.htm.
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Peter Gendolla | Grußwort
wechslungen von Kunst und Leben folgende, zunächst einmal nicht ganz akzeptierbare Antworten: „Ein Fußballverein scheinbar die, Bildschirm einer Maschine anfangen sind, daß man sieht, es ist die Botschaft ablegt, so recht zu erwartete Konsequent daran gearbeitet werden kann“5 Oder: Für den Kubismus die Vorahnung von Informationen der Ferne auf dem Weg zur Mensch sich zieht, über die erwünschten Optimierungseffekte gesammelten Identifikation in der Physik – einen einzigen Kampf die sich auf eine aufblasbare Puppe kaufen und dem Gegenständlich ist.6 Beim nächsten Abruf werden dann aber die Dinge beim Namen genannt, nämlich behauptet: „die Identität ist das Vorzimmer der Schrift“7. Und schließlich: „Ich schrieb mir: Die alte Welt der Tat wird die Kunst sich der Arbeit selbst zu Wort.“8 Unverhofft begegnet hier die alte Welt der Tat der Kunst, oder sich selbst als Wortarbeit, Arbeit am Wort, wie die berühmten Metaphern Lautréamonts, die angeblich voneinander so weit entfernt sind, und zugleich (nach Harald Weinrich) doch äußerst nah (‚spukhafte Fernwirkung‘ nennt die Quantenpyhsik diesen bis heute nicht ganz erklärbaren Prozess). In der Tat warf die digitale Pythia direkt eine solche Begegnung auf den – nein, nicht Regen-, sondern Bildschirm: „Der Nachteil, das Flugzeug ermöglich geworden war, und anderer Ebene vermehrt sie nur eine Kreissäge wirft, weil er sich selbst immer weniger.“9 Um solchen technisch induzierten Wortzu- oder besser -unfällen nun nicht endgültig das Feld zu überlassen – wie man sehen kann, wird der Leser in diesem Buch noch einigen, allerdings (auch) menschlich induzierten, also hoffentlich etwas besser kontrollierten Begegnungen der 3. Art ausgesetzt werden: „Madonna und Salvador am Kreuze“ etwa löst ja gleich ganze Kaskaden surrealistischer Assoziationen aus – soll hier jetzt aber doch auch noch etwas vom Autor selbst Erdachtes geschrieben werden: Ob der Surrealismus die vorangehenden historischen Avantgarden (vom Expressionismus, Kubismus, Futurismus bis Dadaismus) nun ein für allemal zusammengefasst, ihren Anspruch und ihre Möglichkeiten in jede erdenkliche Richtung praktisch und theoretisch, auch ästhetisch und ethisch durchdekliniert und damit vollendet und abgeschlossen hat – wobei er selbstverständlich dennoch auf ewig wieder5
http://www.likumed.uni-siegen.de.
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Peter Gendolla | Grußwort
holt werden kann, sei es als Geste, als Verfahren, als medientechnisch digitalisierte und vernetzte ars combinatoria surrealer Tableaus, Motive und Narrationen – oder ob er ausgerechnet mit den genannten medientechnischen Möglichkeiten der Gegenwart überhaupt erst ganz zu sich kommt, ob also nach den hundertjährigen surrealistischen Einzelarbeiten sozusagen der globalisierte ‚Surrealismus sans phrase‘ in Erscheinung tritt, etwa als früher und seitdem unermüdlicher Agent der Intermedialität, mit solchen und angrenzenden Fragen setzt sich das Surrealismus-Projekt des Forschungskollegs „Medienumbrüche“, aus dem dieser Band hervorgegangen ist, seit einigen Jahren intensiv auseinander. Es hat bereits nicht wenige Antworten darauf gegeben10, die es selbst aber offensichtlich noch nicht abschließend und zufrieden stellend summiert hat, sodass es alle Interessierten zur Lektüre weiterer möglicher Ideen zur unabschließbaren Produktivität des Surrealismus einladen möchte.
10 http://www.fk615.uni-siegen.de/de/publikationeinzeln.php?band=42.
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Nanette Rißler-Pipka
Einleitung Die Anwesenheit der historischen Avantgarden in unserer Gegenwart ist so widersprüchlich wie diese selbst. Weder läßt sich daher heute unmittelbar an sie anknüpfen, noch lassen sie sich übergehen, als wären sie ein Irrtum, den wir vermeiden könnten. (Peter Bürger, 2001)1 Der Surrealismus soll dahingegangen sein? In Wahrheit ist er nur nicht mehr hier oder dort, er ist allenthalben. Er ist ein Phantom, das auf Schritt und Tritt vor einem aufleuchtet. Verdientermaßen hat er die Verwandlung in sich selbst erlebt, ist selbst surreal geworden. (Maurice Blanchot, 1949)2
Wenn wir heute über die „Aktualität des Surrealismus“ sprechen, konnten dies tschechische Surrealisten wie Švankmajer 1968 mit dem gleichen Recht für ihre Zeit behaupten.3 Ebenso wie Peter Bürger im gleichen Jahr durch den „Pariser Mai“ ein letztes Aufflackern des Surrealismus zu entdecken meinte.4 Dennoch scheint der Surrealismus eine nicht enden wollende Renaissance zu erleben.5 Wirft man heute einen Blick in die Feuilletons, werden vor allem Produktionen aus dem Zwischenbereich von Kunst und Unterhaltung mit dem Eti-
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Bürger: Das Altern der Moderne, S. 190.
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Blanchot: „Überlegungen zum Surrealismus“, S. 37.
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Vgl. dazu auch den Beitrag „Ein Traum von Surrealismus bei Švankmajer und Gondry“ in diesem Band.
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Vgl. Schlegel: „Subversionen des Surrealen in mittel- und osteuropäischen Filmen“, S. 8; Bürger: Der französische Surrealismus, S. 12. Bürger bezeichnet seinen eigenen Blick auf den Surrealismus zu diesem Zeitpunkt später als historischen und damit als Besiegelung des Endes der surrealistischen Bewegung, vgl. ders. „Readings of Surrealism 1968-1998“, S. 31.
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Vom internationalen Forschungsinteresse an diesem Thema zeugt auch die für September 2010 geplante Tagung des EAM (European Network for Avant-Garde and Modernism Studies), die sich mit dem Thema der Aktualität und der Aktualisierung/Kommerzialisierung der europäischen Avantgarden befassen wird („High and Low“-Konferenz: www.eam2010.amu. edu.pl. (23.07.2009)).
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Nanette Rißler-Pipka | Einleitung
kett des „Surrealistischen“ geadelt. Verführerisch ist der Ruf nach Surrealität, sobald etwas aus dem Rahmen unserer gewohnten Realität und Sehgewohnheit fällt.6 Auch im seriösen Bereich der großen europäischen Museen lässt sich seit der Jahrtausendwende eine Häufung an Ausstellungen zum Themenbereich des Surrealismus feststellen.7 Handelt es sich dabei um die Fortführung der von Bürger so beklagten „Musealisierung“ des Surrealismus und damit um die Besiegelung seines Endes? Wo beginnt der Kommerz, das Label, und wo endet die „surrealistische Idee“? Das Problem ist nicht neu und betrifft im Kern jede Bezeichnung einer Epoche, Bewegung oder eines Genres. In nachfolgenden Produktionen – seien sie künstlerischer, literarischer oder alltäglicher Natur – werden Vorgänger zitiert und wiederholt. Die Surrealisten selbst waren Meister in dieser Technik und Breton erhebt sie im ersten Surrealistischen Manifest gar zum Prinzip, indem er in den unterschiedlichen literarischen Vorgängern Surrealisten entdeckt.8 Auch zeitgenössische Künstler wie Pablo Picasso, Frida Kahlo oder Marcel Duchamp wurden von Breton nicht unbedingt mit deren Einverständnis kurzerhand zu Surrealisten erklärt.9 Diese Grenzüberschreitung zwischen den Medien, Epochen und vor allem zwischen Kunst und Alltag ist das intermediale Prinzip des Surrealismus. Die Surrealisten sind also selbst für die Aufweichung ihrer Kunstbewegung und bei erfolgreicher Umsetzung ihrer Ziele letztlich für
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Der Feuilleton reflektiert sich aber bereits selbst in Artikeln wie „Das poetische Bild der Revolte“ (SZ Feuilleton, 09.07.2008) in dem diese Tendenz problematisiert wird. Es finden sich allerdings auch weit her geholte und populär gebrauchte Verwendungen des Surrealismusbegriffs wie Minkmar: „Die Surrealistischste Partei Deutschlands“ (FAZ Feuilleton, 09.09.2008, S. 35).
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Die Ausstellungsserie wurde medienwirksam mit der von Werner Spies kuratierten großen Surrealismus-Ausstellung in Paris und Düsseldorf eröffnet: „Surrealismus 1914-1944. La Révolution surréaliste/Die surrealistische Revolution“ (Paris, Centre Pompidou, 06.03.-24.06.2002/Düsseldorf, K20, 20.07.-24.11.2002); fast zeitgleich wurde in London die Ausstellung „Surrealism Desire Unbound“ in der Tate Gallery gezeigt (20.09.2001-12.05.2002); ein zunächst unbeachteter Vorläufer aus der Provinz war die Ausstellung „Surreale Welten“ im Von-der-Heydt-Museum Wuppertal 2000, die erst jetzt in Berlin präsentiert wurde: seit dem 10.07.2008 als Dauerausstellung im Stülerbau, Schloss Charlottenburg; eine besondere Inszenierung zwischen Kunst und Kommerz waren die zahlreichen Ausstellungen zu Dalís 100. Geburtstag in Barcelona und Figueras 2004; in Paris folgte 05.10.2005-06.01.2006 die Dada-Ausstellung, die zahlreiche Anleihen beim Surrealismus machte; vgl. außerdem jüngst den Versuch, eine Verbindung zur Gegenwartskunst herzustellen: „Surréalités. Traces du surréel dans l’art contemporain“ im Centre PasquArt, Biel 2007.
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Breton: Manifestes du surréalisme, S. 37f.
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Vgl. Breton: Le Surréalisme et la peinture.
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Nanette Rißler-Pipka | Einleitung
die eigene Auflösung verantwortlich – so zumindest eine These von Bürger, anhand der er den „Tod“ und das Dilemma des Surrealismus vor Augen führt.10 Daraus müssen wir allerdings nicht schließen, dass alles surreal sei. Vielmehr wird gerade heute versucht, eine Beschreibung des Problems und zumindest den Vorschlag einer Abgrenzung zu liefern.11 Denn mit der ohne Zweifel zu beobachtenden Wiederaufnahme surrealistischer Ästhetik, Methoden und Motive ergibt sich zwangsläufig die Gefahr eines inflationären Gebrauchs und damit der Auflösung des Begriffs. Diese Debatte kann nicht abschließend geführt werden, sondern zeigt sich zurecht als fortlaufender Prozess seit es die Bezeichnung „Surrealismus“ gibt. Als grobe Orientierung könnte man zwei Versuche einer Einteilung und Definition unterscheiden. Zum einen den historischen Ansatz, der sich vor allem an den politischen Zielen des Surrealismus orientiert. Zum anderen einen ästhetischen Ansatz, der nach den künstlerischen Produktionen des Surrealismus, den Verfahrensweisen und den theoretischen Bedingungen fragt. An den Beiträgen dieses Bandes lässt sich auch ablesen, inwieweit eine solche Einteilung funktioniert und ob sie uns über die Aktualität des Surrealismus aufklären kann. Dabei wird deutlich, dass eine rein historische Perspektive, die von einem Anfang und Ende mit einem personell und thematisch klar umrissenen Korpus ausgeht, den Surrealismus nicht einmal ansatzweise erfasst. Gehört es doch zum avantgardistischen Programm, sich solchen literar- oder kunsthistorischen Einteilungen zu verweigern. Die abschließende Geschichts10 Vgl. Bürger: Theorie der Avantgarde; seine These lautete dazu: „Mit den historischen Avantgarden tritt das Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbstkritik ein.“ (S. 28), d.h. das Ziel ist eine Auflösung der „Institution Kunst“ und damit eine Selbstauflösung. Später sieht Bürger die Lösung vor allem in der Gestalt von Joseph Beuys, da dieser weiterhin am Gedanken festhalte, „daß der Künstler die Grenzen der Kunst überschreiten muß mit dem Ziel der Umgestaltung des Lebens.“ (vgl. ders.: Das Altern der Moderne, S. 189). Dass der Surrealismus bereits zu Lebzeiten Bretons als totgesagt galt, belegt auch die selbstironische Betitelung des „dritten“ surrealistischen Manifests 1935, die von Günter Metken wiederaufgenommen wurde: vgl. seine in den 1970er Jahren herausgegebenen Anthologie surrealistischer Texte mit dem Titel Als die Surrealisten noch Recht hatten und Bretons „Du temps que les surréalistes avaient raison“ (Paris, August 1935). 11 Vgl. dazu die Diskussion seit der großen Surrealisten-Ausstellung in Paris/Düsseldorf (Katalog: Spies (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944) beispielsweise bei Le Brun: „Surrealismus. Die usurpierte Revolution“; im Forschungskolleg Medienumbrüche wurde das Thema vor allem anlässlich des Workshops „Surrealismus und Film“ und der diesem Band vorausgegangen Tagung „Zwischen Kunst und Kommerz. Zur Aktualität des Surrealismus“ diskutiert; vgl. vor allem die Einleitung zu Surrealismus und Film sowie Glaubitz/Schröter: „Surrealistische Elemente in David Lynchs Fernsehserie Twin Peaks“.
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Nanette Rißler-Pipka | Einleitung
schreibung eines Maurice Nadeau und seiner Nachfolger kann lediglich die politische und gesellschaftliche Relevanz der Bewegung zu ihrer Zeit sinnvoll darstellen. Für die Zeitgeschichte ist dies ein unschätzbarer Wert, aber die Frage, was Surrealismus ist und warum heute immer wieder in ganz unterschiedlichen Kontexten darauf zurückgegriffen wird, kann ein solcher Ansatz nicht beantworten. Der ästhetische Ansatz dagegen greift selbstverständlich auf die Daten und Fakten des „historischen“ Surrealismus zurück, definiert ihn aber nicht darüber, sondern anhand der sichtbaren Veränderungen sowohl auf produktions- als auch auf rezeptionsästhetischer Seite. Letztlich wird anhand der Beispiele, die in den Beiträgen des Bandes untersucht werden, auch kritisch diskutiert, ob eine Unterscheidung, wie sie Peter Bürger für die Fortführung der Avantgarden vorschlägt, überhaupt möglich ist: Gibt es Künstler, die, wie Bürger es für Beuys behauptet, die Avantgarde „in ihrer ursprünglichen Intention, wenngleich paradox gebrochen“, fortleben lassen, während andere sie „als bloßes Verfahren“ nutzen? Letzteren wirft er vor, dass sie „ins Arsenal vergangener Gesten greifen, die, ihres Sinnes beraubt, ins Ornamentale umschlagen; schließlich als verkehrte Realisierung der Forderung, Kunst und Leben zu vereinen, in der allgegenwärtigen Ästhetisierung des Alltags“ münden.12 Als Gegenthese wäre zu prüfen, ob die Surrealisten der ersten Stunde nicht auch selbst „ins Ornamentale umschlagen“ und die „Ästhetisierung des Alltags“ betreiben. Doch wie wir es auch drehen und wenden, eine Unterscheidung ist in irgendeiner Form nötig. Sie kann aber nur so individuell getroffen werden, wie die Surrealisten selbst als einzelne Künstler ihre spezielle Umsetzung der „Ästhetik des Surrealen“ betrieben. Nicht zuletzt aus diesem Grund entzweite sich die Gruppe viele Male. Den gemeinsamen Nenner des „historischen“ Surrealismus findet man daher weniger in den künstlerischen Produktionen, die sich auf so verschiedene Medien beziehen wie Literatur, Malerei, Skulptur, Film, Werbung, Fotografie, Mode, Zeitschriften, Performances, Theater, etc. Vielmehr ist der Surrealismus nach wie vor als „Methode“ zu erfassen, wie es schon Hans Holländer vorschlug,13 und offenbart sich in seiner rezeptionsästhetischen Wirkungsweise, indem er uns ein „neues Sehen“ lehrt.
12 Vgl. Bürger: Das Altern der Moderne, S. 189. 13 Holländer: „Ars inveniendi et investigandi: zur surrealistischen Methode“.
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Nanette Rißler-Pipka | Einleitung
Zur Aktualität des Surrealismus14 Die Frage ist: Wo finden wir den Surrealismus heute, wenn wir ihn nicht nur als plakatives Zitat der Werbe- und Filmindustrie wahrnehmen möchten? Ist das ‚Erbe‘ oder der sichtbare Erfolg des Surrealismus nicht vielmehr eine Veränderung unserer Wahrnehmung und damit letztlich doch die geforderte Überschneidung von Kunst und Leben? Was uns heute als Effekt der neuen Medienwelt oder medialisierten Gesellschaft erscheint, lässt sich mit der Idee der Surrealität erfassen. Die Möglichkeit, interaktiv als teilnehmende Figur in den Zwischenbereich des Internets, eines Computerspiels, einer Cave o.ä. einzutauchen, ist für die meisten Alltag und wird daher in ihrer Funktionalität nicht mehr reflektiert. Dennoch bleibt es eine traumanaloge Welt, die jederzeit mit der dahinterstehenden Technik oder einem simplen Stromausfall abstürzen kann. Wir setzen die Existenz einer Surrealität als selbstverständlich voraus, wenn wir beispielsweise im Internet surfen oder uns in eine digitale Spielfigur verwandeln. Denn die Anzahl der möglichen digitalen Orte ist zwar endlich, übersteigt aber dennoch unser Vorstellungsvermögen.15 Wir nehmen nicht nur etwas als Realität an, das wir nicht sehen, fühlen, etc. können, sondern auch etwas, das wir gar nicht in Sprache fassen könnten. Dieses Bewusstsein einer Realität, die unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten übersteigt, erinnert an das Transzendente, das kulturgeschichtlich im europäischen Denken von der Antike bis zum Barock tief verwurzelt ist.16 Während in vormodernen Gesellschaften die Grenzen der Wahrnehmung akzeptiert und einem zumeist religiösen System angebunden wurden, wird heute auch das ‚Unsichtbare‘ dem Phantasma einer logisch-überprüfbaren Realität zugeordnet. Gerade der Glaube oder Wunsch, dass sich hinter den alltäglich benutzten Medien nichts Unerklärliches verbirgt, gebiert gleichzeitig die Phantasien von surreal-unheimlichen Monstern, die ein Eigenleben innerhalb der Großrechner führen. Die berühmtesten Beispiele von Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum (1968) bis Ridley Scotts Alien (1979) verweisen sowohl auf die belebten Automaten des ausgehenden 19.
14 Für den hispanoamerikanischen Raum hat Volker Roloff bereits die Frage nach der „Aktualität des Surrealismus“ aufgeworfen und diskutiert, vgl. ders.: „Metamorphosen des Surrealismus in Spanien und Lateinamerika“, S. 15ff. 15 Die unüberschaubare Menge der Möglichkeiten ist auch ein Grund, warum sich die Surrealisten so sehr für das Spiel begeisterten. Auch hier bleibt es scheinbar unberechenbar, welche Richtung das Spiel mit dem nächsten Zug des Gegners nehmen wird. 16 Vgl. Roloff: „Metamorphosen des Surrealismus“ und Kramer: „Mythische Visualität“.
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Nanette Rißler-Pipka | Einleitung
Jahrhunderts als Vorbilder des Surrealismus17 als auch auf die unzähligen aktuellen Nachfolgeproduktionen. Bereits mit dem Beginn des Filmzeitalters, das die Surrealisten miterlebten und gestalteten, vollzieht sich eine erste Veränderung der Wahrnehmung aufgrund der Technik, wie Merleau-Ponty bemerkt: Erfaßt im Film die Kamera einen Gegenstand und nähert sich ihm, um ihn in Großaufnahme zu zeigen, so können wir uns allerdings erinnern, daß es sich um den zuvor schon vorhandenen Aschbecher [sic!] oder um die Hand des vorher gesehenen Schauspielers handelt, wirkliche Identifikation vollziehen wir nicht; denn die Leinwand hat keinen Horizont. Wenn ich hingegen im Sehen meinen Blick auf eine Einzelheit der Umgebung richte, so belebt und entfaltet sich dieses Detail, und die anderen Dinge rücken an den Rand oder verwischen sich völlig, doch sie bleiben beständig da.18 Auch wenn wir auf einer Fotografie einen Ort durch den gezeigten Ausschnitt wiederzuerkennen glauben, gibt es keine Möglichkeit, dies durch einen Schwenk des Blicks zu überprüfen. Mit dem Beginn der bildlichen Aufzeichnungsmedien, die glaubhaft die Realität repräsentieren wie Fotografie und Film, gewöhnen wir uns daran, ganze Bilderwelten um die gezeigten Bilder herum zu imaginieren, damit sich der gesehene Ausschnitt in unsere Realität einpasst. Über diese Leerstelle zwischen den Bildern wurde medien- und wahrnehmungstheoretisch ausgiebig diskutiert.19 Die Surrealisten greifen die von den meisten kaum registrierte Freiheit und Unsicherheit des Sehens auf, um uns in bisher verborgene Bereiche der Wahrnehmung zu führen. Während die Betrachter instinktiv versuchen, den fehlenden „Horizont“ der Leinwand durch erinnerte und bekannte Bilder anhand logischer Gesetze in die vertraute Realität zu bringen, nutzen die Surrealisten das einzelne Bild, das Objekt oder einen Fetzen Realität als Ausgangpunkt für eine Reise in die Surrealität, wo die absolute Freiheit der Imagination herrscht ohne moralische, logische, ästhetische Konvention. Inwieweit es möglich ist, diese Konventionen durch traumana-
17 Dazu könnte man von Villiers de L’Isle-Adam L’Ève future oder E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“, aber auch die frühen surrealistischen Werke von Alfred Jarry: Le Surmâle (1902) und Marcel Duchamp: La Mariée mise à nu par ses célibataires, même, (1915-23) anführen. 18 Merleau-Ponty: „Die Unhintergehbarkeit der Wahrnehmung“, S. 275. 19 Vgl. neben Merleau-Ponty und Waldenfels speziell zum Kino vor allem Deleuze, aber auch Barthes und jüngst die Studie von Scarlett Winter, die auch eine Brücke zum Surrealismus schlägt (dies.: Robbe-Grillet, Resnais und der neue Blick, S. 47ff.).
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Nanette Rißler-Pipka | Einleitung
loge Verfahren tatsächlich zu überwinden, steht auf einem anderen Blatt und muss als fortlaufende Versuchsanordnung betrachtet werden.
Zu den einzelnen Studien: von Baudelaire bis Gondry Die Möglichkeiten einer Aktualisierung des Surrealismus und einer Abgrenzung des Begriffs werden in den Einzelstudien des Bandes kritisch diskutiert. Michael Lommel versucht aktuelle Erscheinungsformen des Surrealismus in der Gegenwartskultur zu bilanzieren. Er wirft einen Rückblick auf die Documenta 2007 und stellt die Frage nach der Ökonomie der Aufmerksamkeit und dem Ort des Surrealismus zwischen Kunst und Kommerz. Als Beispiel für die ‚innige Affäre‘ zwischen Surrealismus und Comic wählt Lommel die Graphic Novel The Arrival von Shaun Tan. Der schmale Grat zwischen „Nomalität“ und „Surrealität“ ist das Thema von Jürgen Link. Er wirft gleich zu Beginn eine Kernfrage des Surrealismus auf, der das Normale braucht, um daraus hervorzustechen und es gleichzeitig negieren möchte. Historisch zeigt Link eine Verbindung von Baudelaire über die Surrealisten bis heute auf (beispielsweise bei David Lynch). Die Schwierigkeit der Abgrenzung scheint dabei systemisch bedingt. Link unterscheidet dennoch historisch zwischen einer „protonormalistischen“ Situation vor dem Zweiten Weltkrieg und der „flexibel-normalistischen“ danach, die er wie folgt erklärt: „Rein theoretisch läßt das Stetigkeits- und Kontinuitätsprinzip aber von Anfang an auch eine genau entgegengesetzte Strategie zu: Wenn der Übergang zwischen Normalität und Anormalität kontinuierlich, stetig, graduell und fließend ist, dann könnten die Normalitätsgrenzen auch möglichst weit ‚außen‘ von der ‚Mitte‘ gelegt werden, wodurch der normal range maximal verbreitert würde.“ Den Anschein des Normalen und Alltäglichen verbreiten auch die Ratgeberbücher von Ror Wolf alias Raoul Tranchirer. Wie Monika Schmitz-Emans belegt, lassen sie sich unmittelbar zu den Collagearbeiten von Max Ernst und den Wortbildern Magrittes zurückverfolgen. Sie überraschen, amüsieren oder verstören die Leser durch plötzliche Einbrüche des Surrealen in die Normalität. Durch präzise Einzelanalysen kommt Schmitz-Emans jedoch zu dem Schluss: „Verbindend zwischen Ror Wolf und den Surrealisten ist das kritische Interesse an Ordnungsprinzipien der Darstellung – verbunden mit dem Bewusstsein von deren Kontingenz. Das ist allerdings nicht surrealismus-spezifisch“. Im Beitrag von Andreas Puff-Trojan finden wir dagegen das „SurrealismusSpezifische“ sowohl in der Frühromantik bei Novalis als auch in der postmodernen Kunst und stehen damit erneut vor dem Abgrenzungsproblem. PuffTrojan wendet dies jedoch ins Positive, indem er sich auf die Wahrnehmungs-
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Nanette Rißler-Pipka | Einleitung
lehre der Surrealisten konzentriert: „eines Schauens ins Unbekannte“ und „das Schließen von Bekanntem auf Unbekanntes“. Letzteres bezeichnet er in Anlehnung an Dirk Baecker als Prinzip einer Gesellschaft des world wide web, die auf diese Weise mit der Unsicherheit fehlender Information umgehe. Auf eine Kunst aber, die tatsächlich das „Unbekannte“ im Blick habe, statt nur zu zitieren, hofft Puff-Trojan weiterhin: „Diese ‚freischwebende‘ Kunst […] entzöge sich allzu leichtem Kommerz“. Auch Michael Wetzel nimmt eine doppelte Perspektive ein, indem er die nicht ganz unproblematische Beziehung zwischen Duchamp und dem Surrealismus untersucht, die sowohl in die Zeit vor den Surrealisten in den 1910er Jahren als auch nach den Surrealisten bis hin zur Pop-Art reicht: Für beide galt Duchamp als großes Vorbild. Die Aktualität von Duchamp und dem Surrealismus zeigt sich dabei gerade in den Bereichen, in denen Duchamp besonders eng mit den Konzepten der Surrealisten verknüpft ist, z.B. in der zufälligen Auswahl von einzelnen Produkten aus der Massenware in Form des Readymade und in der radikalen Verbindung von Kunst und Leben, die eine Selbstinszenierung des Künstlers als Gesamtkunstwerk zur Folge hat. Beide Entwicklungen haben den Kunstbetrieb bis heute grundlegend verändert und bleiben mit der fortschreitenden Medialisierung von Kunst aktuell. Kritisch wird dazu von Wetzel angemerkt, dass Duchamp sich „letztlich nie einer Kunstströmung zuordnen“ lasse und „erst recht nicht als Gründer dieser Bewegungen gefeiert werden“ kann. Konkrete Beispiele aus der aktuellen Kunstszene versammelt der Beitrag von Sigrid Schade, der sowohl einen historischen wie motivischen Überblick bietet: „In den 1970er Jahren und besonders seit Anfang der 1990er Jahren lässt sich eine verstärkte Auseinandersetzung zeitgenössischer KünstlerInnen mit surrealistischen Bild-Motiven – (Schaufenster-)Puppe, Körperfragment, Automat, Wachsfigur – beobachten, die zugleich eine Wiederkehr des Figürlichen oder der Körper(fragmente) in unterschiedlichen Inszenierungen und Medien künstlerischer Produktionen beinhaltete, welche außer in der Pop Art in der westlichen Kunst nach 1945 kaum eine Rolle gespielt hatten“. Schade bringt dies mit der „Technologieentwicklung der 1990er Jahre als zentrales Moment neuer Produktions- und Gestaltungsbedingungen“ in Zusammenhang und spricht damit direkt den zweiten Medienumbruch an. Dabei geht es immer um die Verbindung zwischen Text und Bild, wie Sigrid Schade anhand eines Vergleichs von Bellmers „Text- und Körperalphabet“ und aktuellen Arbeiten zu Puppenkörpern zeigt. Dass sich die Aktualisierungen des Surrealismus auch auf den Bereich der Ethnologie beziehen, weiß Susanne Klengel in ihrem Beitrag zum mexikanischen Infrarealismus zu belegen. Ausgehend vom benjaminschen Begriff des „Leibraumes“ begibt sich die Autorin auf eine Spurensuche in den Texten Roberto
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Nanette Rißler-Pipka | Einleitung
Bolaños, die von dessen größtem Erfolg, seinem Roman Los detectives salvajes (1998), zurück zu den historischen Avantgarden (Surrealismus und Estridentismus) führt. Dabei verdoppeln sich die Protagonisten der Avantgarde in der Literatur auf unheimliche Weise und verwischen so die Grenze zwischen Kunst und Lebenswelt. Der Surrealismus stellt sich nicht nur von dem entfernten Mexiko aus betrachtet als ein „Phantom“20 dar, sondern ist gerade im Zwischenraum von Leiblichkeit und „jener avantgardistischen Geste der Verweigerung, die auf spektakuläre Weise poetisch gelebt werden kann, die sich aber letztlich der Darstellung entzieht“, selbst dieses Phantom. Auf die mexikanische Aktualisierung des Surrealismus, insbesondere die intermediale Ästhetik surrealistischer Schreibweisen, geht auch Volker Roloff in seinem Beitrag über „surreale Medienspiele“ ein. Am Beispiel von Carlos Fuentes’ Romanen Diana o la cazadora solitaria und Los años con Laura Díaz diskutiert er die weitreichenden Wirkungen des Surrealismus in der lateinamerikanischen Romanliteratur, die Erzählfreude, die Fuentes und andere Autoren publikumswirksam mit surrealistischen Strategien verknüpfen. Die Masken und Metamorphosen, so Roloff, aber auch das Unheimliche und Groteske surrealer Medienspiele, kombiniere Fuentes mit den Erzählformen und -traditionen des lateinamerikanischen Romans. In seinem Diana-Roman beispielsweise entfalte Fuentes ein intermediales Wahrnehmungs-Spiel mit den Filmen von Luis Buñuel: „Wie bei Buñuel ist auch für Fuentes die Frage, wie man das Unsichtbare sichtbar machen kann, der entscheidende Ausgangspunkt. Es geht um eine Veränderung der Wahrnehmung, eine andere Art zu sehen.“ Die Bilder von Frida Kahlo und Diego Rivera wiederum, die im Roman Los años con Laura Díaz eine wichtige Rolle spielen, werden von Fuentes in einen literarischen Erinnerungstext übersetzt. Die doppelte Perspektive mit einem Blick zurück und nach vorn wendet Gerhard Wild in seinem Beitrag zu dem bisher kaum beachteten portugiesischen Surrealismus an. Während Negreiros bereits 1917/1919 surreale Verfahren vorweg nehme, „erweist sich das Surreale des portugiesischen Gegenwartsromans als Umkehrspiel fiktionaler Setzungen, die ursprünglich nationale Identität stifteten“. Am Beispiel Portugals wird hier eine der zentralen Fragen dieses Bandes diskutiert: das Spannungsverhältnis zwischen einem historisch ‚beerdigten‘ Surrealismus und dem immer wiederkehrenden „ästhetischen Merkmalsbündel“, das jederzeit frei zitiert werden kann. Aus dieser scheinbaren Sackgasse findet Wild durch die Konturierung eines „surréel“ heraus, das er als „Bildstrategie“ und „Methode wahrnehmungspraktischer Erneuerung“
20 Vgl. zur Charakterisierung des Surrealismus als Phantom das Motto der Einleitung von Blanchot: „Überlegungen zum Surrealismus“, S. 37.
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Nanette Rißler-Pipka | Einleitung
beschreibt. Damit wird die Ästhetik des Surrealismus von der historischen Enge befreit, ohne in Beliebigkeit abzudriften. Zwei Autoren des Bandes, Eckart Voigts-Virchow und Gregor Schuhen, beschäftigen sich mit der Frage nach der Aktualität des Surrealismus in der Popmusikkultur. Voigts-Virchow analysiert die Musikclips des amerikanischen Videokünstlers Chris Cunningham und zeigt grundsätzliche Affinitäten zwischen dem Musikvideo und dem historischen Surrealismus auf. Zum einen betont er die Rückbezüge auf die surreale Ästhetik, besonders die Körperinszenierungen und psychischen Automatismen der Surrealisten. Augenscheinlich wird dies durch einen Vergleich zwischen Dalís und Buñuels Film Le Chien andalou und Cunninghams Video Rubber Johnny. Andererseits entwickelt VoigtsVirchow die These, der Surrealismus sei im Grunde unvereinbar mit der medienkulturellen Verfasstheit und kommerziellen Einbettung des Musikvideos. Gregor Schuhens Beitrag befasst sich mit der Selbst-Inszenierung der Popdiva Madonna. Diese hatte bei ihrer letzten Welttournee im Jahr 2006 durch eine Kreuzigungs-Performance einen Skandal ausgelöst, den Schuhen zunächst nachzeichnet, ohne selbst eine moralische Bewertung vorzunehmen. Schuhen betont vielmehr, dass Madonnas kalkulierte Provokation unablösbar zur Live-Ästhetik ihrer Bühnenshow gehört. In der aufgeregten und von manchen konservativen Massenmedien aufgeputschten Debatte wurde hingegen durchweg übersehen, so Schuhen, dass Madonna auf die surrealistischen Christusbilder Salvador Dalís rekurriert, die selbst wiederum spielerisch die christliche Ikonographie zitieren und transformieren. Die beiden letzten Beiträge befassen sich mit aktuellen filmischen Beispielen, die nicht nur mit dem Surrealismus in Verbindung stehen, sondern auch dem kommerziellen Druck der Kinokasse ausgesetzt waren. Das von Gilles Deleuze zur Definition des image-temps herangezogene Begriffspaar ,aktuell/virtuell‘ greift Kirsten von Hagen in ihrem Beitrag auf. Sie untersucht die intermedialen Wechselbeziehungen zwischen Lyrik und Film: In seinem Gedichtband Polar (2006) re-inszeniert der Dramatiker und Lyriker Albert Ostermeier mit den Stilmitteln der Poesie das Genre des französischen film noir. Kirsten von Hagen arbeitet vor allem die intermedialen Bezüge der Gedichte Ostermeiers – visuelle Spiegelungen und thematische Assonanzen – zu Jacques Derays Film La Piscine von 1969 und François Ozons Swimming Pool von 2004 heraus. Ostermeier, so lautet von Hagens Fazit, geht es um jene in den Filmen des noir bereits angelegte Auflösung der Grenze von ,aktuell‘ und ,virtuell‘, Wirklichkeit und Phantasie. In der großen Zeitspanne zwischen dem „Prager Frühling“ 1968, an dem auch die tschechischen Surrealisten der zweiten Generation wie Jan Švankmajer beteiligt waren, und dem aktuellen Kino von Michel Gondry untersucht Nanette Rißler-Pipka die Möglichkeiten und Grenzen einer Aktualisierung des
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Surrealismus. Dabei werden zwei Lesarten zur Debatte gestellt: Zum einen könnte man Švankmajer unter einer historischen Perspektive dem Surrealismus zuordnen, weil er in der tschechischen Gruppe mitarbeitete und Filme mit einem klaren politischen Appell drehte. Letzteres würde ihn aber aus ästhetischer Sicht gerade von surrealistischen Werken unterscheiden. Zum anderen zitiert Michel Gondry die Ästhetik des Surrealismus und diejenige Švankmajers, vermeidet es aber seine Zuschauer tatsächlich verstört zurückzulassen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma der Zuordnung könnte, so Rißler-Pipka, mit Breton aufgezeigt werden, der bereits in den 1930er Jahren in Filmen mit großem kommerziellen Erfolg wie King Kong u.a. die Ästhetik des Surrealismus zu erkennen glaubte.
Literaturverzeichnis Blanchot, Maurice: „Überlegungen zum Surrealismus“, in: Bürger, Peter (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 37-50. Breton, André: „Du temps que les surréalistes avaient raison“, in: Œuvres complètes, Bd. 2, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1992, S. 460-471. Breton, André: Manifestes du surréalisme, Paris 1979. Breton, André: Le Surréalisme et la peinture, Paris 1965. Bürger, Peter: Das Altern der Moderne, Frankfurt a.M. 2001. Bürger, Peter: Der französische Surrealismus: Studien zur avantgardistischen Literatur, Frankfurt a.M. 1996. Bürger, Peter: „Readings of Surrealism 1968-1998“, in: L&B Lier and Boog – Series of Philosophy of Art and Art Theory, Bd. 13, 1998, S. 31-34. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974. Glaubitz, Nicola/Schröter, Jens: „Surrealistische Elemente in David Lynchs Fernsehserie Twin Peaks“, in: Lommel, Michael u.a. (Hrsg.): Surrealismus und Film. Von Fellini bis Lynch, Bielefeld 2008, S. 281-300. Holländer, Hans: „Ars inveniendi et investigandi: zur surrealistischen Methode“, in: Bürger, Peter (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 244312. Kramer, Kirsten: „Mythische Visualität. Zum Verhältnis von optischen Medien und Schrift in der petrarkistischen Liebeslyrik Góngoras“, in: Simonis, Annette/Simonis, Linda (Hrsg.): Mythen in Kunst und Literatur, Köln 2004, S. 419-453.
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Le Brun, Anne: „Surrealismus. Die usurpierte Revolution“, http://forum. psrabel.com/dokumente/le_brun.html, 10.06.2009; zuerst erschienen in: Beaux-Arts (Paris), Nr. 214, März 2002. Lommel, Michael u.a. (Hrsg.): Surrealismus und Film. Von Fellini bis Lynch, Bielefeld 2008. Merleau-Ponty, Maurice: „Die Unhintergehbarkeit der Wahrnehmung“, in: Wiesing, Lambert (Hrsg.): Philosophie der Wahrnehmung, Frankfurt a.M. 2002, S. 248-292. Metken, Günter (Hrsg.): Als die Surrealisten noch Recht hatten, Stuttgart 1976. Roloff, Volker: „Metamorphosen des Surrealismus in Spanien und Lateinamerika. Medienästhetische Aspekte“, in: Felten, Uta/Roloff, Volker (Hrsg.): Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus, Bielefeld 2004, S. 13-33. Schlegel, Hans-Joachim: „Subversionen des Surrealen in mittel- und osteuropäischen Filmen“, in: Schlegel, Hans-Joachim (Hrsg.): Subversionen des Surrealen in mittel- und osteuropäischen Filmen, Frankfurt a.M. 2002, S. 7-27. Spies, Werner (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944. Die surrealistische Revolution, Ausstellungskatalog, Paris Centre Pompidou, Düsseldorf K20, OstfildernRuit 2002. Winter, Scarlett: Robbe-Grillet, Resnais und der neue Blick, Heidelberg 2007.
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Facetten des Surrealismus in der Gegenwartskultur Realismus, Surrealismus In Jorge Luis Borges’ Erzählung Der Kongress sagt der Ich-Erzähler Alejandro Ferri: „Ich glaube nicht an die Methoden des Realismus, der eins der künstlichsten Genres ist, die es gibt.“1 Führt man diesen Gedanken aus Borges’ Erzählung weiter, dann erscheint die Trennung zwischen Realismus und Surrealismus fragwürdig. Der Terminus Realismus, ob er nun für die Malerei oder Literatur gebraucht wird, ist unzureichend, weil er suggeriert, Wirklichkeit könne künstlerisch wiedergegeben werden. Hegel verglich den Abbildrealismus mit einem Wurm, der versucht, einem Elefanten hinterherzukriechen. Wäre dann nicht, im Umkehrschluss, der Surrealismus, mit den Worten von Borges, eines der am wenigsten künstlichen „Genres“? Der Surrealismus wäre realistischer als der Realismus – und der Realismus, als falsch verstandene Mimesis, in seinen ästhetischen Grundlagen ein höchst surreales Unterfangen. So sind gerade die surrealen und phantastischen Welten, die Fiktionen des Jorge Luis Borges mit einer rationalen, ja rationalistischen Präzision und Luzidität entworfen. Als Gedankenexperimente sind sie nicht weniger phantastisch als die beiden laut Borges erfindungsreichsten Zweige der phantastischen Literatur: Religion und Philosophie. Verlöre der Surrealismus seinen Gegenbegriff ganz und gar, bestünde allerdings die Gefahr, einem Pansurrealismus das Wort zu reden: Von was unterschiede sich der Surrealismus dann überhaupt noch?
Documenta 2007 Auf der XXII. Documenta 2007 war der Surrealismus allerorten präsent – im Spannungsfeld von Kunst und Kommerz, das der vorliegende Band abschreitet. Genauer gesagt, die Kommerzialisierung des Surrealismus wurde in vielen Werken schon mitthematisiert. Etwa wenn Louise Lawler das Foto eines Bildes von Juan Miró endlos spiegelte und so Strukturen der Kunst von Strukturen des Alltags ununterscheidbar wurden. Diese Omnipräsenz des Surrealismus hinterließ einen zwiespältigen Eindruck. So entfaltete Gerhard Richters frühes ,realistisches‘ Portrait seiner Tochter Betty von 1977 (Öl auf Holz), das
1
Borges: „Der Kongreß“, S. 114.
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in die Waagerechte gekippt ist und eine Dialog mit der Fotografie aufnimmt (Abb. 1), mehr surreale Kraft als viele Kunstwerke, die den surrealen Effekt, mit Adorno gesprochen, nur herbeizitierten. Interessant wurde es meist dann, wenn die Wahrnehmungssicherheit der Besucher irritiert wurde. Maurice Blanchot hat einmal gesagt, der Surrealismus sei ein „Phantom, das auf Schritt und Tritt vor einem aufleuchtet“.2 Der Spanier Iñigo Manglano-Ovalle hat mit seiner Installation Phantom Truck/The Radio dafür ein ganz einfaches Mittel gefunden (Abb. 2). Der Ausstellungsbesucher trat in einen Raum ein, dessen wandhohe Fenster fugenlos mit einer transparenten farbigen Folie beklebt waren. Dadurch wurde das Licht, das in den Raum fiel, in rot getaucht. Der Besucher konnte die Ursache der Lichtwirkung natürlich vermuten, aber nicht sehen. Blickte er aus den Fenstern auf den Park vor der Documenta-Halle, schien es so, als sei nicht nur der Raum selbst, sondern auch die äußere Landschaft rot gefärbt. Aus einem Transistorradio ertönt dazu eine Art atmosphärisches Rauschen. Die Grenze zwischen künstlicher und realer Realität war nicht mehr verlässlich. Es kam einem Kleists berühmter Brief an Wilhelmine vom 22.03.1801 in den Sinn, in dem Kleist Kants Trennung zwischen Subjekt und Objekt erläutert (und stark vereinfacht): „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün […].“3 Doch Manglano-Ovalles Kunstwerk bestand nicht nur aus diesem einen Licht-Raum. Der Besucher betrat nun einen zweiten, stockdunklen Raum, in dem sich ein riesiger Gegenstand befand, dessen Umrisse sich erst ganz allmählich aus der Schwärze abhoben. Ging man um dieses Objekt herum, das fast den gesamten Raum ausfüllte, wurde allmählich sichtbar, dass es sich um einen mit seltsamen Gerätschaften vollgestellten Truck handelte: den Nachbau eines mobilen Labors zur Herstellung biologischer Waffen. Entsprechende Bilder hatten die Amerikaner 2003 den Vereinten Nationen vorgelegt, um ihren Krieg gegen den Irak als Präventivkrieg zu rechtfertigen. Das surreal anmutende Gefährt ist nicht nur deshalb ein Phantom Truck, weil Manglano-Ovalle das lange Gewöhnungsintervall für extreme Lichtveränderungen ausnutzt. Es ist ebenso ein politisches Phantom: Die Informationen über biologische und chemische Waffen Saddam Husseins waren bekanntlich vom CIA gefälscht. Wir dürfen unserer Wahrnehmung nicht trauen: Die Sinne sind anfällig für Trug und Fälschung. „Ja, wenn wir den ganzen Zusammenhang der Dinge einsehen könnten“, schreibt Kleist im Juni 1801.4 2
Vgl. Blanchot: „Überlegungen zum Surrealismus“; vgl. auch das Motto der Einleitung dieses Bandes.
3
Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 634.
4
Ebd., S. 679.
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Abbildung 1: Gerhard Richter: Betty, 1977, Öl auf Holz, 30 x 40 cm, Privatsammlung
Abbildung 2, oben: Iñigo Manglano-Ovalle: Phantom Truck, 2007, Aluminium, Epoxidharz-Lackfarbe, 396,2 x 998,2 x 248,9 cm, Max Protech Gallery, New York; unten: The Radio, 2007, eloxidiertes Aluminium, rote Folie, Ton
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Ökonomie der Aufmerksamkeit Das gesteigerte Nervenleben in der Großstadt haben im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Georg Simmel und Walter Benjamin beschrieben. Die Metropole erscheint wie ein verwirrendes Kaleidoskop heterogener Räume und Zeiten. Basilika und Einkaufspassage, Altstadt und Lichtspieltheater koexistieren wie in einer Collage surrealistischer oder futuristischer Avantgardekünste, einem aus Fragmenten, Traumbildern und Wirklichkeitssplittern zusammengesetzten Stadtbild: „als im Jahr 1926 Aragons Le Paysan de Paris erscheint“, schreibt Heinz Brüggemann, „zeigt sich, daß es für die so in der halluzinativen Wahrnehmungsform vermischten Sinne ausgezeichnete Orte, Heterotopien, gibt: abgeschiedene urbane Räume für die Fauna der Phantasie und das Leben der Bilder […].“5 Doch die Bilder und Texte der Surrealisten und Futuristen, die Schriften von Musil und Benjamin deuten „schon darauf hin, dass die Leiblichkeit, die Präsenz der Orte, ihre Fähigkeit zur Berührung […], im Schwinden begriffen ist.“6 Die virtuelle Stadt der Kommunikationsströme, die Pantopie der virtuellen Orte, an denen jeder Punkt mit allen anderen vernetzt ist, wurde hier vorausgeahnt. Vom Surrealismus über die 68er bis zum Punk et aliter gilt: Bisher hat noch keine Gegenkultur verhindern können, von der Leitkultur absorbiert zu werden. Noch der Manager der Sex Pistols hatte die Vermarktbarkeit der Punkmode im Visier. Luhmann hat das in seiner unnachahmlichen Lakonik formuliert. Die Negation der Gesellschaft werde in der Gesellschaft in Operationen umgesetzt. „Man denkt im genauen Sinne in der Gesellschaft für die Gesellschaft gegen die Gesellschaft.“7 Der Pop ist längst entzaubert, Adornos und Horkheimers Kulturindustrie ist durch die Kreativindustrie ersetzt worden: Nie war so offensichtlich, in welchem Maß die Revolten im Namen eines besseren, wahreren, intensiveren Lebens einem idealistischen Erbe geschuldet sind. In Wahrheit, das ist die Lehre der Kreativindustrie, war auch der Avantgardist immer schon ein Agent des Fortschritts. Der Surrealismus feiert heute seine Triumphe in der Webung,
5
Brüggemann: „Diskurs des Urbanismus und literarische Figuration der Sinne in der Moderne“, S. 389.
6
Ebd., S. 396.
7
Luhmann: Protest, S. 10.
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und keine kapitalismuskritische Bewegung hat die Gesellschaft so gründlich modernisiert wie der Protest der Sechziger.8 Kunst und Kultur seien heute, so Heinz Schlaffer, „weit über alle Hoffnungen der Romantiker und der Kommunisten hinaus, zum Volksvermögen geworden.“9 Die Ökonomie der Aufmerksamkeit braucht selbst die Normverletzung und Überschreitung, um sich zu reproduzieren.10 Ein kritischer Blick auf den (historischen und Neo-) Surrealismus kann die Augen vor dieser Kommerzialisierung surrealistischer Ikonen nicht verschließen. Die Verkitschung der Bilder Dalís, Chagalls und Magrittes schlägt auf die Vorbilder selbst zurück. Und Magrittes malerische Fähigkeiten lassen Zweifel aufkommen, ob man die Originale im Museum bewundern muss, wenn man die Motive schon auf Postkartenformaten gesehen hat. Das heißt allerdings noch nicht, dass man Peter Bürgers Verdikt vom Scheitern der Avantgarden unterschreibt. Eher lässt sich mit Heinz Schlaffer sagen, am Ende des 20. Jahrhunderts habe die Figur des Avantgardephilisters diejenige des Bildungsphilisters abgelöst.11 Habe dieser noch die vermeintliche Hochkultur humanistischen Bildungsguts gegen die Populär- und Unterhaltungskultur in Stellung gebracht, halte jener das Neue schon deshalb, weil es neu ist, für ein Qualitätsmerkmal: il faut être absolument moderne. Eine doppelte Optik auf den Surrealismus scheint ratsam. Was bleibt, was verschwindet? Welchen Ort hat der Surrealismus heute zwischen Kunst und Kommerz?
8
Gross: „Der entzauberte Pop“.
9
Schlaffer: Das entfesselte Wort – Nietzsches Stil und seine Folgen, S. 178.
10 „Heute sind Intensitäten der Überschreitung, des Anstößigen und anderer Normverletzungen entscheidende Faktoren einer kapitalistischen Ökonomie der Affekte und Aufmerksamkeiten“, Tom Holert: „,Dispell them‘. Anti-Pop und Pop-Philosophie: Ist eine andere Politik des Populären möglich?“, S. 169; vgl. auch Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. 11 Schlaffer: „Absolut modern“, S. 21. Den Avantgardephilister „treibt die Furcht, als Spießer und Hinterwäldler angesehen zu werden, zum besinnungslosen Einverständnis mit jeder ästhetischen Zumutung auf der Bühne und in den Galerien. […] Was wären die modernen Ikonen der modernen Kunst, Malewitschs Schwarzes Quadrat, Duchamps Urinoir, Newmans farbige Streifen, ohne die Diskurse, die darüber, schwankend zwischen Ästhetik und Esoterik, geführt wurden und werden? Sie wären ein schwarzes Quadrat, ein Urinoir und farbige Streifen.“ Unter dem Stichwort „Kunstkritik“ schreibt Dieter E. Zimmer: „Der Hauptteil der Intelligenz fließt nicht in den Gedankeninhalt, sondern in die Simulation von Tiefsinn […]. Einschüchterung und ‚Beschämung des Philisters‘ […] – das ist geradezu der Hauptzweck dieser Redeweise.“, Zimmer: Die Wortlupe, S. 121ff.
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Shaun Tan, The Arrival Comic und Surrealismus – das ist eine komplizierte, aber innige Affäre. Kompliziert deshalb, weil schon Jahre vor der eigentlichen Formierung der avantgardistischen Bewegung 1921 in Paris zwei der Gründungsväter des Comics, Winsor McCay und George Herriman, Surrealismus avant la lettre betrieben […]. George Herrimans „Krazy Kat und Ignaz“ von 1913 schließlich wirkt heute so, als habe Miró einen Comic gezeichnet.12 Obwohl der spanische Comiczeichner MAX (der sein Pseudonym von Max Ernst ableitet) mit seinen Bardín-Comics – einer Hommage an den Surrealismus – noch einmal auf diese „innige Affäre“ aufmerksam macht13, ist der Comic nach wie vor ein Desiderat der Surrealismusforschung. Als Subgenre des Comics könnte man die Graphic Novel bezeichnen, die näher an der Graphik und Radierung ist als der Comic und eine wesentlich längere Herstellungszeit erfordert. Shaun Tans Graphic Novel The Arrival von 2006, an der der Zeichner vier Jahre gearbeitet hat, ist ein Meisterwerk ihrer Art.14 Mit ihren Bildern in Schwarzweiß und Sepia und dem Verzicht auf Worte ist sie ebenso dem Stummfilm verwandt. Tan erzählt die Geschichte einer Auswanderung. Und er lässt im Ungewissen, wo die Geschichte spielt. Auch der Grund, weshalb ein Mann seine Frau und Tochter verlässt, um in der Ferne Arbeit zu suchen, wird nicht näher bestimmt. Hier kommt bereits das Surreale ins Spiel: Man sieht in den Straßen der unwirtlich gewordenen Heimat riesige geschuppte Drachenschwänze, die zwischen den Häusern entlangschlängeln, eine diffuse Bedrohung, denn die Ungeheuer selbst sind nie zu sehen. Vielleicht symbolisieren sie schlicht Arbeitslosigkeit und Armut und ein Leben ohne Perspektive. Mit Eisenbahn und Ozeandampfer gelangt der Mann in das neue Land. Aus dem Bullauge des Dampfschiffs sieht er Wolkenformationen, unscharfe Bilder ohne identifizierbare Formen, figurale Muster wie Traumgewölk, in die das Auge wie beim Rohrschachtest vertraute Figuren hineinliest. Inmitten zahlreicher Emigranten kommt er am Hafen an, blickt auf die Skyline, die entfernt an Manhattan erinnert. Monumentale Statuen, Menschenwesen und Totemtiere, vielleicht die Gottheiten der Bevölkerung, die dort lebt, größer noch als Wolkenkratzer, treten aus der Landschaft und dem Stadtbild hervor. Die Emigranten werden
12 von Steinaecker: „Andalusische Hunde beißen nicht“. 13 MAX: Bardín: der Superrealist. 14 Tan: Ein neues Land (2008 auf Deutsch erschienen, Graphitstift auf Papier, digital koloriert).
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registriert, bekommen einen Pass. Alles in diesem Land ist neu, anders, surreal – und doch auch ähnlich wie in unserer, Shaun Tans Lesern vertrauten Welt.
Abbildung 3: Shaun Tan: Ein neues Land, Hamburg: Carlsen Verlag, 2008
Die Straßen und Gebäude haben zwar andere Architekturen, sind aber nicht ganz und gar phantastisch (Abb. 3); als Transportmittel dienen Heißluftballons und Luftschiffe; die Schrift erinnert an eine frühantike Keilschrift; jeder Einwohner besitzt ein Haustier, lauter surreale Wesen, die wie mutierte Katzen, Hunde, Vögel oder Schnecken aussehen15; die Nahrung besteht aus skurril geformten Früchten und meerestierähnlichen Gebilden. Für den Einwanderer ist das alles seltsam, ungewohnt, er ist orientierungslos, muss sich – wie der Leser 15 Ein neues Computerspiel namens Spore von Will Wright stellt eine Art Baukasten für solche surrrealen Phantasieschöpfungen zur Verfügung: Der Kern des Spiels besteht darin, virtuelle Wesen zu generieren; der Spieler animiert eine neue biologische Art und lässt sie evoluieren. Die Spielidee beruht auf dem Experimentalfilm Powers of Ten, den IBM 1977 in Auftrag gegeben hatte.
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– ohne Worte zurechtfinden, als tauche er in eine Traumwelt ein. Doch allmählich gewöhnt er sich an sein Gastland. Er wird von einer anderen Emigrantenfamilie eingeladen und überwindet sich, die ungewöhnliche Nahrung zu essen, entwickelt sogar Zuneigung zu dem Kopffüßler, dem Haustier, das ihm zugeordnet ist und von dessen Hässlichkeit er im ersten Moment abgestoßen war (Abb. 4). Schließlich findet er Arbeit in einer Fabrik und nach einiger Zeit, er hat sich längst eingelebt, können Frau und Tochter nachziehen. Auf den letzten Bildern, den letzten Seiten der Graphic Novel, sieht man eine glückliche Familie, die in dem neuen Land nun heimisch geworden ist.
Abbildungen 4: Shaun Tan: Ein neues Land, Hamburg: Carlsen Verlag, 2008
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Eine humane Botschaft ist es, die der Australier Tan vermittelt. Doch die Verfremdung ins Surreale nimmt ihr jede Belehrungsgeste. The Arrival ist eine große Metapher für die Auswanderung. Um 1900 von Europa nach Amerika, 1933ff. vom nationalsozialistischen Deutschland nach England, Skandinavien und Amerika und heute vom armen Süden in den reichen Westen. In der Nachbemerkung schreibt Tan: Große Teile dieses Buches wurden von Anekdoten und Geschichten inspiriert, die Migranten aus verschiedenen Ländern und Zeiten erzählt haben, darunter auch mein Vater, der 1960 von Malaysia nach Australien gekommen ist.16 Das Fremde ist nur am Anfang fremd. Wer sich unvoreingenommen darauf einlässt, wer unverzagt und offenen Herzens, mit Neugierde und Geduld ihm begegnet, wird schließlich entdecken, dass es von der gewohnten Kultur, der eigenen Heimat, gar nicht so verschieden ist. Ein Traum, was sonst? Das Surreale wird zur Normalität. Am Ende erscheint uns das neue Land so, als hätten wir selbst immer darin gelebt – nur glücklicher als im alten Leben.
Literaturverzeichnis Augé, Marc: Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris 1992. Blanchot, Maurice: „Überlegungen zum Surrealismus“, in: Bürger, Peter (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 37-50. Borges, Jorge Luis: „Der Kongreß“, in: Spiegel und Maske. Erzählungen, München/Wien 32000, S. 109-128. Brüggemann, Heinz: „Diskurs des Urbanismus und literarische Figuration der Sinne in der Moderne“, in: Jacob, Wenzel (Hrsg.): Der Sinn der Sinne, Göttingen 1998, S. 362-400. Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hrsg.): Documenta Kassel 16/06 – 23/09 2007 (Katalog), Köln 2007. Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper – Zwei Radiovorträge, Frankfurt a.M. 2005. Gross, Thomas: „Der entzauberte Pop“, in: Die ZEIT, 20.09.2007.
16 Tan: Ein neues Land, o.S.
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Holert, Tom: „,Dispell them‘. Anti-Pop und Pop-Philosophie: Ist eine andere Politik des Populären möglich?“, in: Gente, Peter/Weibel, Peter (Hrsg.): Deleuze und die Künste, Frankfurt a.M. 2007, S. 168-189. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Helmut Semdner, Bd. 2, München 91993. Luhmann, Niklas: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hrsg. und eingel. v. K.-U. Hellmann, Frankfurt a.M. 1996. MAX: Bardín, der Superrealist, Berlin 2007. Schlaffer, Heinz: Das entfesselte Wort – Nietzsches Stil und seine Folgen, München 2007. Schlaffer, Heinz: „Absolut modern“, in: Frankfurter Rundschau, 07.12.2005, S. 21. Serres, Michel: Atlas, Berlin 2005. Steinaecker, Thomas von: „Andalusische Hunde beißen nicht“, in: Süddeutsche Zeitung, 03.01.2008, S. 14. Tan, Shaun: Ein neues Land, Hamburg 2008. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M. 2004. Wiesing, Lambert: „Virtuelle Realität: die Angleichung des Bildes an die Imagination“, in: Autor: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005, S. 107-124. Zimmer, Dieter E.: Die Wortlupe. Beobachtungen am Deutsch der Gegenwart, Hamburg 2006.
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Jürgen Link
Zur erotischen Faszination durch die nicht normale passante in und nach dem Surrealismus Ich möchte die reichhaltige Literatur zum Motiv der „passante“, insbesondere bei Baudelaire, an dieser Stelle nicht referieren, sondern a limine ergänzen durch einen zusätzlichen Aspekt, und zwar den des Normalismus. Wie ich in meinem Versuch über den Normalismus sowohl systematisch wie historisch entwickelt habe1, muss die Kategorie des Normalen bzw. der Normalität (einschließlich ihrer Gegenbegriffe des Abnormen und der Anormalität) als eine Emergenz moderner Gesellschaften okzidentalen Typs seit etwa 1800 begriffen werden, wodurch trans-normative Diskurskomplexe und Dispositive neben und gegen die normativen getreten sind. Wenn die für alle menschlichen Gesellschaften konstitutive und fundamentale Ebene der Normativität, insbesondere im ethischen und juristischen Bereich, ob religiös oder profan, gekennzeichnet ist durch scharf definierte, binäre Verhaltensregeln positiven oder negativen Typs (Ge- und Verbote) mit daran gekoppelten Sanktionsdrohungen und entsprechenden Institutionen, so muss der Bereich der Normalität davon kategorial unterschieden werden. Während die Norm einzelfallbezogen ist und jeder einzelne Fall je einzeln und binär an der Norm gemessen wird (wurde die Norm gebrochen: ja oder nein?), ist das Normale im Gegensatz dazu wesentlich massenfeldbezogen und massenrelativ. Kein Einzelfall zählt im Normalismus für sich – jeder Einzelfall ist bloß, und zwar ein als solches bedeutungsloses, Konstituens einer es inkommensurabel überschreitenden Menge. Ebenso steht gegen den qualitativen Binarismus der Norm der rein quantitative Gradualismus der Normalität. Gegen quasi-juristische Hermeneutik steht demnach also statistische Berechnung. Dementsprechend muss als das historische Apriori (im Sinne Foucaults) des Normalismus die Emergenz verdateter Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert in Europa und Nordamerika verstanden werden. Verdatete Gesellschaften sind solche, die sich in diachronischer wie synchronischer Dimension kontinuierlich, routinemäßig, engmaschig und flächendeckend statistisch transparent machen. Das geschieht mittels eines umfangreichen Kombinats von Institutionen und Dispositiven wie statistischen Ämtern, Erhebungen, Befragungen, medizinischen und psychiatrischen Massenuntersuchungen, flächendeckenden schulischen Zensurengebungen (in den USA IQ-Tests) und anderen Verpunktungen. Dabei richtet sich der verdatende Blick insbesondere auf die Strukturen von Massenvertei1
Link: Versuch über den Normalismus.
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Jürgen Link | Zur erotischen Faszination durch die nicht normale passante
lungen und den Grad ihrer Normalität im technischen Sinne, d.h. ihrer Nähe oder Ferne zum Idealtyp der gaußschen Normalverteilung. Jede mit der Normalverteilung mehr oder weniger verwandte Massenverteilung ist durch eine mittlere Tendenz mit statistisch stärkster Besetzung, d.h. eine Zone der verschiedenen Durchschnitte, durch einen sich um die Mitte erstreckenden „Normalbereich“ (normal range) mit statistisch relativ starker, schrittweise abnehmender statistischer Besetzung sowie durch zwei tendenziell symmetrische Extremzonen mit statistisch schwacher Besetzung charakterisiert. Zwischen dem normal range und den Extremen befinden sich die kulturell entscheidend wichtigen symbolischen Normalitätsgrenzen, die also das Normale vom Anormalen trennen. Selbst diese extrem verkürzten Andeutungen dürften bereits ein großes Gewicht des Normalismus in modernen okzidentalen Kulturen nahelegen. Ebenso wenig dürfte es überraschen, dass der Normalismus auch für die Literatur eine nicht unbedeutende Rolle spielt.2 Konkret haben wir es mit Interferenzen zwischen der schon seit dem 18. Jahrhundert wachsenden Bedeutung sog. „mittlerer Charaktere“ bzw. everybodies oder auch nobodies als literarischen Helden und der normalistischen Kategorie eines „homme moyen“ seit Quételet zu tun. Diese Interferenz artikuliert sich insbesondere mittels des kollektivsymbolischen Komplexes des Massen-„Kügelchens“, wie es bereits seit dem 17. Jahrhundert zur Simulation statistisch-wahrscheinlichkeitstheoretischer Probleme eingesetzt wurde. Bei diesem „Kügelchen“, das in Krügen massenweise durchgeschüttelt wurde, lag es nahe, sich ein menschliches Massenindividuum vorzustellen – und tatsächlich begann nun die große Angst davor, auf eine bloße „Nummer“, auf ein bloßes „Atom“ bzw. eben auf ein bloßes „Kügelchen“ in einem Haufen unabsehbarer Massen reduziert zu werden und dabei jede „Eigentümlichkeit“, jeden persönlichen „Charakter“, einzubüßen. In einem spontanen elementar-literarischen Prozess wurde das Kügelchen-Symbol im Laufe des 19. Jahrhunderts konnotativ mit weiteren Symbolen wie insbesondere dem Roulette-Kügelchen aufgeladen, wobei die mathematisch-physikalische Kategorie der Wahrscheinlichkeit mit der alten literarischen Kategorie der Fortuna interferierte und so neuartige Symboliken des Zufalls und der Kontingenz generiert wurden. Dieser gesamte symbolische Komplex hat sich auf ingeniöse Weise im Galton-Brett (Quincunx) – bzw., wie ich vorgeschlagen habe, es zu generalisieren, im ‚Galton-Sieb‘ – kristallisiert. Darwins Vetter Francis Galton, einer der wirkungsmächtigsten Theoretiker des Normalismus, hat in Gestalt des GaltonBretts einen Simulationsapparat konstruiert, in dem einzelne Kügelchen stochastisch durch eine Reihe von Nagelreihen wie durch Siebe geschleust 2
Dazu der Überblick bei Link: „Normal/Normalität/Normalismus“.
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werden, wobei sie jeweils mit gleicher Wahrscheinlichkeit nach links oder nach rechts geleitet werden und dementsprechend schließlich annähernd normalverteilt (binomial) ‚landen‘. Natürlich tendiert auch die symbolische Verwendung des Galton-Bretts bzw. des Galton-Siebs wiederum besonders dazu, sich unter den Kügelchen einzelne menschliche Individuen vorzustellen. Im Galton-Sieb werden sehr viele Pfade von Kügelchen, sogenannte random walks, sowie ihre jeweilige Wahrscheinlichkeit simuliert. Im statistischen Gebrauch ist dabei der einzelne konkrete random walk, d.h. der konkrete Weg eines einzelnen Kügelchens ganz uninteressant – es interessiert bloß der Zusammenhang zwischen der Disposition der Nagelreihen bzw. Siebe, der Masse der Kügelchen, der verschiedenen Wahrscheinlichkeit der Pfade und der schließlich produzierten Verteilung. Auf der elementar-kulturellen Ebene, wo es um die Subjekteffekte des Modells geht, lässt sich aber durchaus die verfremdende Frage nach dem konkreten Weg eines individuellen Kügelchens, nach einem individuellen random walk stellen: Auf dieser Ebene erscheint dann jede kontingente Richtungsentscheidung an der Weggabelung als so etwas wie das „Schicksal“ eines Subjekts. Nimmt man noch den Gegensatz zwischen dem normal range in der Mitte (also dem Durchschnitt) und um die Mitte herum einerseits und den extremen Randpositionen mit ihren Konnotationen von Anormalität anderseits hinzu, so kann der Weg eines Kügelchens als Abenteuer der Annäherung eines Subjekts an oder seiner Entfernung von der Normalitätsgrenze, im Einzelfall sogar ihrer Überschreitung imaginiert werden. Statistisch entspricht der Randlage und dem random walk in dieser Randlage eine geringe Wahrscheinlichkeit – aus der Subjektperspektive handelt es sich um das Resultat eines fatalen Prozesses der Denormalisierung. Das Galton-Sieb stellt also ein Modell für literarische Simulationen normalistischer Problematiken dar: konkret für alle „(nicht) normalen Fahrten“, bei denen idealtypisch ein unfallträchtiges normalistisches Verkehrsnetz (also ein Dispositiv des Massenverkehrs als Verkehrs von massenhaften Normalmonaden und dem Risiko der Kollision) mit typischen Prozessen der Denormalisierung, also eines dropping-out aus psychischer, sexueller, kognitiver, sozialer Normalität usw., kombiniert wird. Im idealtypischen Fall verknoten sich dabei also reale Unfälle mit symbolischen. Insbesondere eignet sich das Galton-Sieb aber auch zur Simulation kontingenter erotischer „conjonctions“, wie es bei Proust heißt, d.h. von Kopulationen und Kollisionen – üblicherweise heterosexuellen, gerade in normalistischen Zeiten aber auch zunehmend homosexuellen Typs. Zu diesen kontingenten, stochastischen Pfaden und Konjunktionen gehört als ein idealtypischer Fall die „chockartige“, um mit Walter Benjamin zu sprechen, Begegnung zwischen dem Poeten und der mysteriösen passante, wie sie durch Baudelaire mythischen Rang gewonnen hat. Das normalistische Mo-
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dell erlaubt dabei, einige kulturell konnotierte symbolische Dimensionen zu erschließen, die von aufdringlicheren Motiven verdeckt werden: Zunächst kann der massenhafte Verkehr gerade auch der Fußgänger auf dem Boulevard der modernen Metropolen als ein elementar-kulturelles, symbolisches Gestöber im Galton-Sieb aufgefasst werden. Als Beispiel diene folgender Ausschnitt aus einem Reisebericht von Georg Weerth aus London im Jahre 1843: […] wie nie ein Rad über das Trottoir rasselt, wo die Fußgänger ebenfalls in zwei Strömen aneinander vorbeisausen, um einem jeden Raum zu lassen, seinem Vordermanne zu folgen, und wo nur der über den Haufen gerannt wird, der sich dem Normalschritt widersetzt, der ein anderes Tempo in seinen Beinen entwickelt und sich dagegen sträubt, daß die Bewegung der ganzen Masse über einen Kamm geschoren wird.3 Um Baudelaires ideale Kollision etwas genauer einzugrenzen, müssten wir uns das Poeten-Ich allerdings als Flaneur vorstellen, der vom Normalschritt abweicht, wobei das Pariser Durchschnittstempo aber sowieso unter dem Londoner gelegen haben dürfte. Immerhin erkennen wir das Flanieren im normalistischen Kontext bereits als potentiell unfallträchtig. Das Anrennen gehört zu den ganz und gar normalistischen Mikro-Chocks, die Walter Benjamin nicht genügend deutlich von den Makro-Chocks unterschieden hat. Zwei scheinbar völlig beliebige und austauschbare random walks kreuzen sich für einen Augenblick im Gestöber der Masse. Jedenfalls ist Baudelaires Begegnung mit der passante ganz normalistisch in ihrer Kontingenz, in ihrem Atomismus und in ihrer Instantaneität (Bohrers Plötzlichkeit4). Aus der normalistischen Kontingenz folgt zwingend eine konstitutive Eigenschaft der passante: Sie ist dem begegnenden männlichen Subjekt gänzlich unbekannt – die auf dem Boulevard zufällig wiedergesehene Jugendfreundin ist keine passante. Die normalistische Folie erlaubt dabei, die baudelairesche Konstellation als Extremfall der berühmten systemtheoretischen „doppelter Kontingenz“ aus ihrer scheinbaren anthropologischen Ubiquität zu lösen und entschieden zu historisieren und zu soziologisieren: Es ist der Normalismus, der allererst eine erotische Begegnung als etwas schlechthin Unwahrscheinliches und tief Aporetisches konstituiert. Die Pointe bei Baudelaire ist allerdings bewusst anti-normalistisch: Die passante ist keine Durchschnittsbegegnung, sie ist überdurchschnittlich, ja singulär
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Zit. in: Versuch über den Normalismus, S. 216.
4
Bohrer: Plötzlichkeit; vgl. auch ders.: Die gefährdete Phantasie oder Surrealismus und Terror.
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erotisch-attraktiv nicht auf einem normalistischen Kontinuum ‚Schönheit‘ (situiert im oberen Bereich auf der Rankingleiter ‚Schönheit‘, also supernormal schön), sondern dadurch, dass sie sozusagen aus dieser – statistisch stets eindimensionalen – Rankingleiter herausfällt: nicht in eine Anormalität, sondern in eine Transnormalität jenseits des Normalismus. Dennoch profiliert sich diese Konstellation zum vollen Umfang der Kategorie Chock allererst gegen ihre normalistische Folie. Denn wie sich die passante zur supernormalen Schönheit verhält, so das Poeten-Ich zur Supernormalität des „Genies“. Nicht zufällig war Francis Galton – wie nach ihm Nietzsche, Lange-Eichbaum, Benn und Thomas Mann (sowie noch Ungezählte mehr) – von der Geniefrage fasziniert, d.h. von der kognitiven Supernormalität. So wie zum Genie die schönste und sexuell attraktivste Frau gehört (Genialität war der Frau als solcher im Normalismus lange Zeit versagt), so begegnen sich, abweichend davon und doch bezogen darauf, in Baudelaires großem Chock das transnormale Genie und die transnormale Schönheit – zwei scheinbar belanglose random walks erweisen sich in ihrer instantanen Kreuzung als so etwas wie der absolut schicksalhafte Moment zweier Biografien – was die normalistischen Psychiater nicht daran gehindert hat, Baudelaire in ihre Mustersammlung anormaler Genies einzureihen. Wenn bereits Baudelaires Poetisierung der passante nicht ohne ihre normalistische Folie zu verstehen ist, so gilt das in noch viel höherem Maße für die Poetisierung der passante bei den Surrealisten. Denn in dem halben Jahrhundert der Zwischenzeit war der Normalismus quantitativ und qualitativ weiter expandiert bis zu einem der kulturell dominanten Diskurs- und Dispositivnetze überhaupt. Insbesondere hatte die Verdatung und Kartierung der psychisch und dabei wieder in erster Linie sexuell Anormalen enorme Ausmaße angenommen. Längst blickten die Gesellschaften ohne Unterbrechung auf die Daten und ihre Verteilungskurven, um dort den Grad ihrer demographischen, ökonomischen, sozialen, psychischen und kognitiven Normalität abzulesen und bei Symptomen von Denormalisierung Alarm zu schlagen und normalisierende Maßnahmen zu ergreifen. Längst war der Begriff des Normalen zur Allerweltsfloskel geworden und fragten sich die Massen selber bereits tagtäglich, ob ihre jeweiligen Nachbarn oder Verwandten noch normal wären. Wenn Baudelaires Auseinandersetzung mit dem Normalismus eher fragmentarisch und spontan anmutet, so besitzen die Surrealisten ein klares Konzept vom Normalismus als herrschendem kulturellem Regime und insbesondere von den normalistischen Subjektivitäts-Dispositiven. Da sie mit ihrer radikal antireligiösen Position den Surrealismus durchaus szientifisch begreifen, versuchen sie sogar, typisch normalistische Verfahren wie Umfragen und Wahrscheinlichkeitskalküle für ihre Zwecke einzusetzen und den Normalismus sozusagen auf seinem eigenen Terrain gegen den Strich zu bürsten. Dementsprechend spielen auch Begriff und semantisches Feld des Normalen selbst eine wichtige Rolle in
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ihrem Diskurs. So heißt es exemplarisch etwa in Bretons (erstem) Manifest des Surrealismus über Traum und Wachsein: C’est que l’homme, quand il cesse de dormir, est avant tout le sujet de sa mémoire, et qu’à l’état normal celle-ci se plaît à lui retracer faiblement les circonstances du rêve, à priver ce dernier de toute conséquence actuelle […]5 Der état normal (normal state, Normalzustand) ist eine Grundkategorie des Normalismus, die hier polemisch als ein Zustand geringer kognitiver Intensität, mithin als unpoetischer Zustand par excellence charakterisiert wird. Obwohl er den Beweis nie angetreten ist, hat Breton zudem mehrfach behauptet, er könne surrealistische Ereignisse sogar wahrscheinlichkeitstheoretisch plausibel machen. Auf der Basis dieses recht klaren Konzepts von Normalismus hat sich der Surrealismus als grundsätzliche Kriegserklärung an und Kampf gegen ihn in allen seinen Dimensionen, insbesondere aber in den intimen Dimensionen der Subjektivität, z.B. der Erotik, begriffen. Wie Baudelaire erstreben die Surrealisten transnormalistische Intensitäten, aber eben im Rahmen eines Konzepts und mit einer gewissen Systematik. Zu diesem Konzept und zu dieser Systematik gehörten eben als erstes der bewusste Bezug auf die Folie des Normalismus und der Versuch, normalistische Strukturen bewusst für Zwecke einer strategischen Denormalisierung einzusetzen. Dazu gehören insbesondere alle generativ-poetischen Verfahren auf der Basis von Kontingenzen und Unwahrscheinlichkeiten wie hasards objectifs, objets trouvés, écriture automatique, actes gratuits. Man könnte diesen bewussten Bezug auf den Normalismus exemplarisch auch am Verhältnis des Surrealismus zur Psychoanalyse zeigen: Wenn der Bezug auf Freud und dessen Kategorie des Unbewussten auch zum Kanon der Paradigmen gehörte, so ist der Surrealismus bekanntlich alles andere als eine künstlerische Version der Psychoanalyse. Insbesondere war der Surrealismus nicht im Mindesten an der therapeutischen Intention Freuds interessiert, die ja tatsächlich auf eine Art Normalisierung zielte. Stattdessen erstrebten die Surrealisten Denormalisierung. Wenn sie sich also für die Anormalen des Normalismus interessierten, dann als Pioniere einer ersehnten umfassenden Denormalisierung. Exemplarisch dafür ist der Komplex der passante im Surrealismus. Wenn für den Surrealismus eine Art Dialektik zwischen Normalismus und Transnormalismus und damit zwischen zwei Ebenen (Wachsein und Traum, Alltagsgeschäft und Poesie) konstitutiv ist, dann ist der entscheidende Fall des objet trouvé 5
Breton: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 317.
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eben das sujet trouvé oder die passante. Auf der normalistischen Ebene kreuzen sich dabei zwei scheinbar normale random walks mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit – transnormalistisch soll es sich aber um ein Megaereignis handeln. Als Anschauungsmaterial soll mir – in exemplarischer Absicht – zunächst die zentrale Episode aus André Bretons Les Vases communcants dienen. Es handelt sich bei dieser Publikation um eine Art Text-Collage aus dem Tagebuch des Autors, ein theoretisches Traktat über das Verhältnis von Traum und Realität, über den Unterschied zwischen „idealistischen“ Phantasmen und poetischen Visionen sowie über den Surrealismus, ferner geht es dabei um einmontierte eigene Träume und ihre Interpretation, Beispiele aus bildender und poetischer Kunst, Reflexionen über den Kommunismus und sein Verhältnis zum Surrealismus sowie schließlich um das übergreifende Modell-Symbol der kommunizierenden Röhren. Die zentrale narrative Episode schildert eine Art experimenteller ‚drague‘ auf Passantinnen, die autobiographisch motiviert wird als eine Art Verzweiflungsakt, um einen Ausweg aus einer tiefen Depression nach dem Verlust einer mit besonderer Intensität geliebten Frau zu finden. Im Rückblick wird die Episode dann aber auf das Konzept eines „rêve éveillé“6 bzw. eines „moment particulièrement irrationnel“ des Lebens (ebd.) mit allen Charakteristika einer „Gedankenflucht“ gebracht. Das Kollektiv der Passantinnen erscheint dabei als das Lacan zufolge ja nicht existierende „Wesen“ der Frau, als „la femme“, wobei zwischen dieser Kollektiv-passante und der zu suchenden individuellen Geliebten eine „Dialektik“ statuiert wird: Une chose me paraît pourtant – que ceci soit ou non de nature à révolter divers apôtres – moins capable qu’une autre de rompre le charme sous lequel a pu vous laisser une femme aimée, qui est partie, tout le charme, qui est celui de la vie même, et cette chose est la personne collective de la femme, telle qu’elle se forme, par exemple, au cours d’une promenade solitaire un peu prolongée, dans une grande ville. Le blond fait étrangement valoir le brun, et inversement. Les très belles fourrures s’exaltent et exaltent avec elles les misérables fichus. Il y a, dans le mystère toujours assiégeant des variétés de corps qui se laissent deviner, de quoi partiellement soutenir l’idée que tout n’est pas perdu, puisque la séduction y met encore, de tous côtés, tant du sien. Cette femme qui passe, où va-t-elle? A quoi rêve-t-elle? De quoi pourrait-elle être si fière, si coquette, si humble? Les mêmes questions se reposent pour une autre, avant même que celle-ci soit passée. Un grand bruit se fait, bruit vivant, bruit clair, bruit de construction et non d’effondrement, qui est celui de l’effort humain 6
Breton: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 180.
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cherchant unanimement une justification non pas hors de l’être humain mais à la fois en lui-même et en un autre.7 Zwischen diesem pathetischen Aufschwung und der banalen autobiographischen Situierung bleibt das eigentliche surrealistische Verfahren unformuliert im Konnotativ-Vagen, so dass es aus dem Verfahren selbst rekonstruiert werden muss. Dazu kann die Folie des Normalismus einen Schlüssel liefern: Was die ‚normale‘ männliche Sicht auf die Masse der weiblichen passantes produzieren würde, wäre eine Art gaußoider Verteilung von auffallenden Schönheiten, überwiegender durchschnittlicher Normalität und subnormalen Extremen. Gerade diese Normalität aber ist es, die den surrealistischen Blick in die Depression stürzt. Was er daher aktiv im Gestöber der normalen Masse sucht – und zwar sucht im Sinne eines das Resultat provozierenden Experiments – ist eine Gestalt, ist ein Gesicht und sind vor allem zwei Augen, die die normale Masse sozusagen chockartig zu suspendieren vermögen und die das Subjekt wie im Traum in die Wunschwelt der künftigen Surrealität versetzen können. Dieses experimentelle Verhältnis zur passante ist paradox, insofern es (anders als die Romantik) auf der Realität des Surrealen besteht, wobei die Realität entsprechend ihrer historischen Struktur an die Normalität gebunden bleibt, so dass die Normalität sozusagen an einer – normalistisch gesehen, völlig kontingenten und banalen – Stelle eine Pforte in die Ebene der transnormalen poetischen Traumwelt hinein öffnen soll. Auch hier muss die passante (worin sich ihre normalistische Kontingenz äußert) unbedingt eine gänzlich unbekannte Frau sein. (In anderer Hinsicht muss selbstverständlich betont werden, dass der surrealistische Blick ein exklusiv modern-männlicher Blick ist, und dass dieser Maskulinismus ebenso für alle surrealistischen Dispositive und Experimente gilt – einschließlich aller ihrer Produkte und Resultate wie im vorliegenden Fall der passante.) Dieses Bestehen auf Realität, das den Surrealismus grundsätzlich von der Romantik unterscheidet, verzweigt sich allerdings bei Breton und im Surrealismus in zwei deutlich verschiedene diskursive Strategien, für die Nadja und Les Vases communicants exemplarisch sind. Auch Nadja ist und bleibt passante, wie es wörtlich bei den ersten Begegnungen heißt: Je venais de traverser ce carrefour dont j’oublie ou ignore le nom, là, devant une église. Tout à coup, alors qu’elle est peut-être encore à dix pas de moi, venant en sens inverse, je vois une jeune femme, très
7
Ebd., S. 152.
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pauvrement vêtue, qui, elle aussi, me voit ou m’a vu. Elle va la tête haute, contrairement à tous les autres passants.8 Contrairement à l’ordinaire, je choisis de suivre le trottoir droit de la rue de la Chaussée-d’Antin. Une des premières passantes que je m’apprête à croiser est Nadja, sous son aspect du premier jour. Elle s’avance comme si elle ne voulait pas me voir. Comme le premier jour, je reviens sur mes pas avec elle. Elle se montre assez incapable d’expliquer sa présence dans cette rue […].9 Soudain, alors que je ne porte aucune attention aux passants, je ne sais quelle rapide tache, là, sur le troittoir de gauche, à l’entrée de la rue Saint-Georges, me fait presque mécaniquement frapper au carreau. C’est comme si Nadja venait de passer. Je cours, au hasard, dans une des trois directions qu’elle a pu prendre. C’est elle, en effet, que voici arrêtée, s’entretenant avec un homme qui, me semble-t-il, toute à l’heure l’accompagnait.10 Deutlich suggeriert die Narration, dass diese zufälligen Begegnungen im Großstadtverkehr keine banalen Zufälle sein können, dass sich darin Nadjas mediumistische und „multiple“ Dimensionen erweisen – in normalistischer Sicht also ihre anormalen Dimensionen, die sich dann bis zur Pathologie und zum Wahnsinn steigern. Dabei erweisen sich die Züge multipler Persönlichkeit11 in ganz spezifischem Sinne als transnormal: Normalistisch gesehen, muss jedes Kügelchen mit sich identisch und je an nur einem Ort der Massenverteilung sein – Nadja dagegen scheint simultan an verschiedenen Orten im wörtlichen und übertragenen Sinne aufzutauchen: Wer ist Nadja? Ist sie eine Prostituierte oder ein weiblicher Sonderling oder eine Mystikerin? Was macht sie in den Zeiten der Abwesenheit? Ist sie krank oder lebt sie ein experimentelles Leben? Ihr Leben erscheint als diskontinuierlich, ihre Identität als gesprengt. In normalistischer Sicht sind all das lediglich pathologische Symptome ihrer Anormalität – in surrealistischer Sicht erweisen sich darin ihre transnormal-poetischen, ja „genialen“ Dimensionen, die der Berichterstatter als „Vorschein“, wie Bloch sagen würde, eines gänzlich poetisierten Lebens feiert. Sämtliche Ereignisse sind also doppelt kodiert: Auf der normalistischen Ebene kreuzen sich kontin8
Breton: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 683.
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Ebd., S. 691.
10 Ebd., S. 701. 11 Vgl. dazu Link-Heer: „Pastiches und multiple Persönlichkeiten.“; dies.: „ ‚Multiple Persönlichkeit‘ als psychotherapeutischer Biographiegenerator“; dies.: „‚Alterationen der Persönlichkeit‘ und die Frage nach dem ‚Normalzustand‘“.
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gente random walks – auf der transnormalistischen entfaltet sich eine „wunschökonomische“ Traumlogik, wie es später bei Deleuze und Guattari heißen wird; auf der normalen Oberfläche erscheint eine Unbekannte mit gespaltener Identität, die aus der Normalität fällt – auf der traumhaft-poetischen Tiefenebene muss diese Unbekannte die schicksalhaft-prädestinierte femme fatale inkarnieren. Sehr verkürzt gesagt sucht demnach die Nadja-Strategie in der anormalen passante den Schlüssel zur Surrealität als Aufhebung der Spaltung zwischen Traumleben und Wachleben, während in Les Vases communicants insofern eine Evolution und Umakzentuierung vorliegt, als der Schlüssel nun innerhalb des normal range gesucht wird. In dieser letztlich aporetischen Wendung erweist sich die Einsicht in die normalistische Struktur der sozialen Realität von 1930, die Breton jedoch marxistisch als proletarisch und damit als qualitativ zu hypostasieren sich anstrengt – ziemlich erfolglos, wie sich am Ende zeigen wird. A quelque temps de là, je m’étais pris, un dimanche, sur les bords de la Marne, à envier ces gens qui travaillent une semaine pour aller s’ébattre un jour sur un angle de verdure, à supposer qu’il fasse beau. Je me représentais sans la moindre ironie tout ce qui peut exister d’indissoluble, de facile entre eux. Deux par deux, ils s’étaient choisis un jour, à la diable et il n’avait plus été question qu’ils pussent se quitter. Nulle arrière-pensée, pour finir, de part et d’autre. Les événements du jour étaient une histoire d’atelier, de bureau, une jolie étoffe, un projet de promenade, un film. On habillait ou on déshabillait les enfants charmants, affreux. Sans doute il y avait bien quelque anicroche à déplorer ça et là, mais la vie s’y retrouvait en moyenne. Elle s’étalait massive, petitement productive, mais au moins indiscutée.12 Diese „vie moyenne“, also die Normalität und die normalen sexuellen Konjunktionen, die an Thomas Manns „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ erinnern, bleiben für den surrealistischen Intellektuellen aber natürlich unerreichbar. Rationalisierend hält er sich für zu alt, um sich daran zu gewöhnen. Tatsächlich aber hat er bereits ein neues passante-Experiment begonnen, und zwar die Suche nach einer Frau, die – normalistisch gesehen – mitten im normal range situiert, also nicht anormal im psychiatrischen Sinne wie Nadja ist, dennoch aber die geheime Traumqualität besitzen soll, um der „invitation à passer le pont“13 zum poetischen Zustand zu folgen.
12 Breton: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 161f. 13 Ebd., S. 132.
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Le 12 avril, vers six heures du soir, je me promenais avec mon chien Melmoth sur les boulevards extérieurs quand, à la hauteur de la GaîtéRochechouart devant laquelle m’avait immobilisé l’affiche de Péché de Juive, je découvris près de moi une jeune fille dont l’attention semblait non moins vivement éveillée par cette affiche. Trop occupée pour prendre garde à moi, elle me laissait tout loisir de la contempler. Rien de plus charmant, de moins agrégeable au monde que cette contemplation. Très apparemment pauvre, comme il le fallait sans doute à cette époque de ma vie, je l’ai dit, pour que toute l’émotion dont je suis capable à la vue d’une femme entrât en jeu, elle pouvait faire évoquer à la première seconde celle pour qui Charles Cros, à la fin de son plus beau poème: Liberté, n’a pu trouver que ces mots insuffisants et merveilleux: Amie éclatante et brune ou encore celle dont elle avait les beaux yeux mais oui, les yeux qui depuis quinze ans n’ont pas cessé d’exercer sur moi leur fascination, la Dalila de la petite aquarelle de Gustave Moreau que je suis allé si souvent revoir au Luxembourg.14 Breton, der im gleichen Text die freudsche These der „Verdichtung“ von Traumgestalten referiert und sie in eigenen Traumdeutungen verwendet, praktiziert hier ganz bewusst die Verdichtung von Kunstgestalten mit der realen passante. Als die schöne Unbekannte ihn später ohne weiteres bis zu ihrem Haus begleitet und sich auch mit ihm trifft, erweist sie sich als derartig normal, dass sie ihr „prestige“ verliert. Erst in diesem Moment will der Berichterstatter auch begriffen haben, dass sie erst sechzehn Jahre alt ist und nicht zwanzig, wie er zuvor angenommen habe. Ihre Augen aber dienen als Knoten einer weiteren Kette von surrealistischen Kontingenzen: Passend zu Dalila taucht auch der Name Samson auf, mit diesem ähnlich dann ein Jeanson. (Eigenartigerweise fällt Breton bei Samson nicht die Namensgleichheit mit dem Meister der Guillotine unter der Terreur auf, obwohl er sich nach dem Ausweis des Textes zur gleichen Zeit viel mit dem Thermidor beschäftigte, von dem der bewunderte Trotzki ja damals behauptet hatte, dass er sich in der stalinschen Sowjetunion wiederholt habe.) Kurz und gut: Das Experiment mit einer normalen passante bewies schließlich nur, dass der Surrealismus sie nicht brauchen konnte bzw. dass er sie für seine Zwecke denormalisieren musste. Dazu passt dann mit zwingender Logik der Schluss des Textes, der am Kommunismus und an der Sowjetunion gerade ihre Blindheit für die Abenteuer der Subjektivität kriti-
14 Ebd., S. 155f.
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siert, wie der Surrealismus sie erstrebte und für eine conditio sine qua non der Revolution hielt. Die surrealistische Revolution zielte auf Einbeziehung der Subjektivität, der Leidenschaften und insbesondere des Eros: Dem entsprach die Sehnsucht nach einer transnormalen, kollektiven passante in einer revolutionär befreiten Gesellschaft, die aber mit einer ersehnten realen individuellen proletarischen passante hätte „dialektisch“ kompatibel sein sollen: Die surrealistisch-kommunistische transnormale kollektive passante hätte sozusagen je zufällig beliebig viele transnormale individuelle passantes generieren sollen. Erst vor der Folie dieser in den Vases communicants teils explizit, teils eher implizit entworfenen sowohl paradoxen wie aporetischen Utopie wird die sozusagen ultimative Erscheinung der passante in L’amour fou historisch lesbar. Die endlich glücklich gefundene passante, der in der Lebensrealität Jacqueline Lauba entsprach, die Breton bald darauf heiratete, wird wie eine hegelsche Synthese als Negation der anormalen Nadja und Negation der Negation des normalen Mädchens aus den Vases Communicants inszeniert: Sie ist psychisch nicht-anormal, ohne normal zu sein, und sie ist statistisch nicht-durchschnittlich, ohne exzentrisch zu sein – sie ist demnach genuin transnormal. Diese ihre Transnormalität wird aus einer dreifachen Antizipation gefolgert, wodurch die normalistische Kontingenz einer passante aufgehoben erscheint: Diese passante ist im Traum antizipiert, sie ist in der Poesie antizipiert, und sie ist theoretisch im Axiom der Einzig-Geliebten antizipiert. Obwohl die neue Geliebte dem Dichter nicht zuerst auf der Straße begegnet (wenn er sie dann auch endgültig zufällig auf der Straße wiedertrifft), heißt sie programmatisch die passante: „La voyageuse marchant sur la pointe des pieds“: il est impossible de ne pas reconnaître en elle la passante à ce moment très silencieuse du 29 mai 1934. […] Les deux hypothèses sur la nature de la passante, le sens de son intervention, c’était bien ainsi que je me les formulais […].15 Um Breton zu verfremden: il est impossible de ne pas reconnaître en cette unique passante la femme. Die sozusagen bis ins Unendliche poetisch überdeterminierte passante soll nicht nur die Kontingenz (also die Austauschbarkeit) aufheben – sie soll auch die kollektive passante (die schöne Hälfte des proletarischen Himmels) gültig inkarnieren. Dass es sich hier um eine aporetische Mythisierung handelt, ist offensichtlich – zu dieser Aporie gehört insbesondere auch die implizierte Engführung von Determination und Freiheit: Auf der normalistischen Ebene geht es um 15 Ebd., S. 726f. [Hervorhebungen J.L.].
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eine Kontingenz, die auf der transnormalistischen als mehrfach prädestiniert erscheint. Es soll sich dabei aber keineswegs um einen quasi physikalischen Determinismus handeln, sondern um die wunderbare Kontingenz zweier Pfade des désir, sozusagen um die freie Begegnung zweier freier random walks der poetischen Sehnsucht zweier konkreter Personen, die von ihren Träumen zusammengeführt werden. Das bleibt irrational, solange es das Problem der kollektiven passante aus den Vases communicants nicht weiterdenkt und durch die traditional-mythische Figur einer totalen Geliebten ersetzt, in der alle früheren Geliebten erst ihre Wahrheit gefunden hätten. Bevor ich abschließend einen sicherlich höchst ungenügend informierten und daher höchst partiellen Blick auf das Schicksal der passante in neo-surrealistischen Produkten gegen und um 2000 werfen möchte, erweist sich ein Blick auf die Evolution des Normalismus in der Zwischenzeit als notwendig. Aufgrund des Kontinuitätsprinzips von Broussais und Comte, das einen stetigen und graduellen Übergang zwischen normalen und anormalen Sektoren in einem bestimmten Normalfeld postuliert16, lassen sich rein theoretisch zwei idealtypische, polar entgegengesetzte Strategien zur Festlegung der Normalitätsgrenze vorstellen: Die erste Möglichkeit besteht darin, dass der normal range möglichst eng kontrahiert und durch symbolisch wie auch pragmatisch robuste Normalitätsgrenzen geschützt wird. Da diese Strategie faktisch die ersten eineinhalb Jahrhunderte des Normalismus dominiert hat, sei sie als „protonormalistisch“ bezeichnet (was ihre Fortdauer oder auch Wiederkehr keineswegs ausschließt). Die symbolische Beschwerung der Normalitätsgrenzen erfolgt dabei im Allgemeinen durch Kopplung mit vornormalistischen Ideologien wie etwa solchen der „Naturgesetzlichkeit“. Die pragmatische Beschwerung der Normalitätsgrenzen geschieht vor allem mittels der Kopplung mit dem juristischen Normativismus (Exklusion bestimmter Spielarten von „Anormalität“ als „kriminell“ und Internierung hinter Gefängnismauern als real existierenden Normalitätsgrenzen) oder mittels im weitesten Sinne medizinischer Indikationen (Exklusion anderer Spielarten von „Anormalität“ als „geistig oder seelisch abweichend“ hinter Anstaltsmauern). Je enger dabei der normal range kontrahiert wird, um so „breiter“ muss der Bereich der „Anormalitäten“ erscheinen. Rein theoretisch lässt das Stetigkeits- und Kontinuitätsprinzip aber von Anfang an auch eine genau entgegengesetzte Strategie zu: Wenn der Übergang zwischen Normalität und Anormalität kontinuierlich, stetig, graduell und fließend ist, dann könnten die Normalitätsgrenzen auch möglichst weit ‚außen‘ von der ‚Mitte‘ gelegt werden, wodurch der normal range maximal verbreitert würde. Große Teile der protonormalistischen „Anormalitäten“ lassen sich auf 16 Dazu klassisch Canguilhem: Le normal et le pathologique.
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diese Weise voll in die Normalität integrieren, und weitere Teile können in breiten Übergangszonen ebenfalls symbolisch inkludiert werden. Diese zweite mögliche normalistische Strategie sei flexibel-normalistisch genannt. Sie hat in den meisten okzidentalen Gesellschaften seit dem Zweiten Weltkrieg schrittweise und bis auf weiteres die kulturelle Hegemonie errungen. Es handelt sich bei den beiden normalistischen Strategien um idealtypische und heuristische Kategorien, die der konkreten historischen Analyse dienen. In einer konkreten soziohistorischen Synchronie koexistieren in der Regel in verschiedenen Sektoren und oft auch im gleichen Sektor sowohl protonormalistische wie flexibel-normalistische Konzepte und Modelle in stetigem Konflikt. Eine harmonische Synthese beider Strategien erscheint dagegen nicht möglich. Es dürfte nun unmittelbar einleuchten, dass der Surrealismus nicht bloß historisch mit einer protonormalistischen Situation konfrontiert war, sondern seine polemischen Spitzen insbesondere gegen ausgesprochen protonormalistische Tabus wie die Exklusion sexueller Abweichungen, die Psychiatrisierung psychischer Abweichungen und die Kriminalisierung vieler sozialer Abweichungen richtete. Für all das ist Nadja exemplarisch. Allerdings geht gerade die passante, wie sich in der Entwicklung des Motivs bei Breton zeigte, nicht in der protonormalistischen Anormalen auf. Vielmehr impliziert die passante die allgemein normalistische, also auch im flexiblen Normalismus nicht nur gültige, sondern sogar gesteigerte Problematik der Kontingenz, der Massenhaftigkeit, der Austauschbarkeit und der prekären Identität. Diese Aspekte gehören zu den dominanten Themen zumindest eines wichtigen Sektors der postmodernen Literatur und des postmodernen Films. Dabei geht es aber in der Regel um im weitesten Sinne realistische stilistische Töne. Werfen wir nun einen Blick auf neo-surrealistische Ausdrucksweisen wie etwa die Filme von David Lynch17, so scheint dort zwar der surrealistische Chock der erotischen Begegnung eine große Rolle zu spielen, aber die passante zu fehlen. Die transnormalistische femme fatale erscheint nicht im Fußgängergewimmel des Großstadtboulevards, sondern in suburbanen oder abgelegenen ländlichen Umgebungen – und sie erscheint an Autostraßen und in oder in der Umgebung von Autos. Tatsächlich kann das Auto als eines der dominanten Kollektivsymbole des flexiblen Normalismus gelten, in dem das normalistische Kügelchen zu einer rollenden Blechmonade geworden ist, die sich mit hoher Geschwindigkeit in
17 Über die „neosurrealistische“ Dimension der Filme von Lynch herrscht weitestgehend Konsens – vgl. dazu Lommel u.a. (Hrsg.): Surrealismus und Film. Zum Folgenden besonders die dortigen Beiträge von Nicola Glaubitz/Jens Schröter über Twin Peaks und von Vera Schröder über Lost Highway.
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einem verzweigten Straßennetz bewegt, wo sie real und symbolisch ständig von Kollisionen bedroht ist. Betrachtet man unter diesem Aspekt David Lynchs Film Lost Highway, so weist schon die Eingangssequenz der nächtlichen, von den Scheinwerfern eines unsichtbaren und unbekannten Autos herangeholten einsamen Straße in die Richtung einer Surrealisierung der banalsten flexibel-normalistischen Kügelchen-Monade. Dieses Motiv wird dann im Motiv der Autowerkstatt und eines Automechanikers als jungen männlichen Helden wieder aufgenommen und ins Zentrum der zweiten Filmhälfte gerückt. Diesem als ganz normal exponierten Helden erscheint die transnormale Schönheit Alice als Auto-passante wie eine aphrodisische Vision im offenen Kabriolett. Für die Zuschauer ist diese apparition ein noch erheblich verstärkter Chock, weil die blonde Alice die gleiche Frau wie die ermordete dunkelhaarige Renee aus der ersten Filmhälfte zu sein scheint. Dieses Motiv der Identitätssprengung der Person erinnert an Nadja und erweist sich demnach als genuin surrealistisch. Der Film vermag mit seiner Möglichkeit, zwei distinkte Figuren von einer identischen Schauspielerin spielen zu lassen, den transnormalistischen Chock sehr viel intensiver zu suggerieren als die rein sprachliche Narration. Nadjas Unentscheidbarkeit zwischen Hure und poetischem Genie-Weib findet sich ähnlich bei Alice-Renee wieder, die auf einmontierten Videos als Pornodarstellerin und im Film selbst eben als erotische Vision erscheint. Dabei dient das Auto als symbolisches Vehikel der Verbindung zwischen normalen und nicht-normalen Welten – sowohl in der flexibel-normalistischen Realdimension wie in der surreal-poetischen Dimension. Für die erste Dimension steht das Liebespaar im Auto, wenn Alice (und vorher schon Sheila) sich an den steuernden Pete anschmiegt – was aber nicht bloß unter banal realistischen Aspekten riskant ist: Vielmehr verträgt das Auto als Symbol der flexiblen Normalmonade nicht mehr als einen Insassen – das Paar sprengt die Monade, weshalb solche Autofahrten immer wieder mit Blut enden: in Unfällen (wie am Beginn und am Ende von Mulholland Drive), Kollisionen und Schießereien wie in Lost Highway. AliceRenee im offenen Cadillac ist die neo-surrealistische Auto-passante par excellence: Sie sprengt zugleich mit ihrer normalistischen Identität das symbolische Vehikel des flexiblen Normalismus.
Literaturverzeichnis Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981. Bohrer, Karl Heinz: Die gefährdete Phantasie oder Surrealismus und Terror, München 1970.
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Breton, André: Œuvres Complètes, Édition de la Pléiade, hrsg. v. Marguerite Bonnet, Bd. 1, Paris 1988. Breton, André: Œuvres Complètes, Édition de la Pléiade, hrsg. v. Marguerite Bonnet, Bd. 2, Paris 1992. Canguilhem, Georges: Le normal et le pathologique, Paris 1966. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Aufl., Göttingen 2006. Link, Jürgen: „Normal/Normalität/Normalismus“, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 538562. Link-Heer, Ursula: „ ‚Alterationen der Persönlichkeit‘ und die Frage nach dem ‚Normalzustand‘. Fallgeschichten aus Psychiatrie und Experimenteller Psychologie 1875-1900“, in: Sohn, Werner/Mehrtens, Herbert (Hrsg.): Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 161-182. Link-Heer, Ursula: „‚Multiple Persönlichkeit‘ als psychotherapeutischer Biographiegenerator“, in: Willems, Herbert/Hahn, Alois (Hrsg.): Identität und Moderne, Frankfurt a. M. 1999, S. 180-210. Link-Heer, Ursula: „Pastiches und multiple Persönlichkeiten. Proust: Eine Vater-Sohn-Geschichte“, in: Schuller, Marianne u.a. (Hrsg.): BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, Hamburg 1998, S. 167-183. Lommel, Michael u.a. (Hrsg.): Surrealismus und Film. Von Fellini bis Lynch, Bielefeld 2008.
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Ror Wolfs Ratgeberbücher, die Collagen Max Ernsts und René Magrittes Verrat der Bilder 1.
Ror Wolfs Ratgeberbücher und Collagen
Unter dem Pseudonym Raoul Tranchirer hat Ror Wolf seit 1983 eine ganze Serie von lexikographischen Büchern verfasst, die aus alphabetisch geordneten Einzelartikeln bestehen.1 Parodistisch imitieren diese das Genre des Konversationslexikons und das des Handbuchs mit populärem, praktischem Wissen. Die Artikel gelten verschiedensten Dingen und Tätigkeiten, Begriffen und Verhaltensweisen, angeblichen Erfahrungen und Forschungen. Damit verbinden sie (so scheint es zumindest) Anleitungen zu angemessenem oder zweckmäßigem Verhalten. In den Vorworten der Ratgeberbücher empfiehlt der Wissenskompilator Tranchirer die Nutzung seiner Kompendien dem Publikum sehr nachdrücklich.2 1
Die Serie wurde mit einem Band eröffnet, der Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt heißt (Gießen, 1983), 1990 folgte Raoul Tranchirers Weltund Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle (Gießen), 1994 Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens (Gießen), 1997 Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose (Frankfurt a.M.), 1999 eine neue Version des ersten Kompendiums Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt (Frankfurt a.M.), 2005 dann Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille (Frankfurt a.M.), Eine Zusammenstellung ausgewählter Artikel aus den früheren Büchern bietet Raoul Tranchirers Taschenkosmos (Berlin 2005).
2
Wortreich verspricht der Ratschläger alles mögliche: „Beratungen, Hinweise, gesammelte Erkenntnisse und Ansichten für unterschiedliche Gelegenheiten, Früchte der Beobachtung und des Nachdenkens mit brauchbaren Auskünften aus dem Erfahrungsschatz des Verfassers, notwendige Hilfsmittel zur Ausübung des geselligen Verkehrs, Mitteilungen über Personen, Dinge und ihre Umgebung, Anmerkungen zum Weltverkehr mit einer Beschreibung der Eisenbahn unter Berücksichtigung der Krümmungsverhältnisse, Anweisungen für Dienstboten und Hausfrauen, unvergessliche Aussprüche und Anregungen, niedergeschrieben für die heutigen harten Zeiten zur Aufklärung von Mißverständnissen und zur Verdeckung des schlechten Geschmacks, Gedanken zur Hut- und Hosenfrage mit mehr als dreizehn Bemerkungen über die Luft und einer Beurteilung der unhaltbaren Zustände in O, Einführungen in die Verbesserung der Menschenkenntnisse und der geschlechtlichen Übungen zur Förderung der Zufriedenheit aller Beteiligten, samt einer Anleitung zur Ausführung des Bergführerberufs, nebst einleuchtenden Vorstellungen einer auf Tatsachen gegründeten freimütigen Erörterung der allgemein
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Dass der Leser Tranchirers Angaben mit Vorsicht begegnen sollte, machen bereits die verwirrenden paratextuellen Angaben deutlich. Da ist von Ausgaben der Ratgeberbücher die Rede, die es nie gab, und Tranchirer bezieht sich auf (auch in den Artikeln selbst erwähnte) Gegner, die so fiktiv sind wie er selbst. Zwischenzeitlich scheint der Lexikograph gestorben und sein Nachlass von einem Herausgeber gesichtet worden zu sein – doch spätere Bände erweisen ihn als unermüdlichen Fortsetzer seines Geschäfts. Die Vertracktheit von Tranchirers Lexikographik kompliziert sich durch die Neuausgabe eines früheren Bandes noch einmal: Das Impressum gibt die neue Version von 1999 als „Erste Auflage“ aus. Hingegen hatte die Version von 1983 Vorworte zu fünf verschiedenen (fingierten) Auflagen enthalten.3 Die Vorbemerkungen und Vorworte sind 1999 textidentisch mit denen der 1983er Ausgabe, die Artikel wurden jedoch vermehrt. Und dies ist nicht die einzige Änderung; dazu später mehr. Tranchirer schreibt in den Spuren der Verfasser populärwissenschaftlicher Handbücher und Periodika des 19. Jahrhunderts, und er zitiert parodistisch deren Wissensgläubigkeit und didaktischen Eifer. Beide werden allerdings konterkariert durch skeptische Töne; so gibt es Artikel, in denen sich der Lexikograph fragt, ob er das Richtige gesagt hat und ob es überhaupt der Mühe wert ist, über dieses und jenes etwas zu sagen. Seine insgesamt aber durchaus selbstbewussten Einschätzungen der eigenen Bücher gemahnen inhaltlich wie stilisherrschenden Lage und einigen gründlichen Andeutungen über die Macht der Wahrheit und ihrer Benutzung im täglichen Leben, Aufklärungen über die Behandlung des Fleisches, Abhandlungen über das Verhalten zur Vermeidung von Übertreibungen und Betrachtungen zur Auffindung verschwundener Gegenstände, sowie Anhaltspunkte zur Bekämpfung der Erfolglosigkeit mit einer zuverlässigen Darstellung des Wetters und seiner Folgen, Empfehlungen zur Dämpfung der Unlust, Erläuterungen zur Lebensverlängerung, Nachrichten über die Umwälzungen im Weltall, Erörterungen der Straßenzustände zum Gebrauch für Spaziergänger und deren Begleitung, Überblicke über den heutigen Stand der Dinge, Naturwunder und Ländermerkwürdigkeiten, Handbuch für bessere Tage mit Anhaltspunkten für das persönliche Wohlergehen und Beispielen zur Unglücksverhütung, Enttäuschungsvermeidung, Entscheidungsverhinderung, mit einem Verzeichnis verblüffender Schicksalstips, Gesundheitsversuche, Vergnügungsübungen, Zerstreuungsangebote, Zimmerkunststücke, größerer Solo-Scherze und einer Anleitung zum Handeln in alphabetischer Reihenfolge.“ (Wolf: Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt, (1983), S. 3). 3
In seiner 1. Auflage (Gießen 1983) enthält Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt nach einer Selbstcharakteristik ohne Titel (S. 3) sowie einem Absatz unter dem Titel „Allgemeine Vorausbemerkungen & Winke zum Gebrauch des vorliegenden Werkes“ (S. 5) je ein „Vorwort zur zweiten“, „zur dritten“, zur „vierten veränderten (!)“ und „zur fünften Auflage“ (S. 6-9). Die Vorbemerkung zur „vierten veränderten Auflage“ bricht einfach ab.
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tisch an die Überzeugung einer positivistischen Wissenskultur, maßgeblich zum Gedeihen der Gesellschaft beizutragen.4 Der redaktionelle Leiter des Magasin Pittoresque etwa, Edouard Charron, hatte seine Zielsetzungen so erläutert: Unser vornehmstes Ziel ist, durch reine und bildende Unterhaltung das innere Leben des Menschen in seiner freien Zeit zu bereichern und den häuslichen Herd von Reich und Arm schön zu machen.5 Bei Tranchirer klingt das so: Ein einziger Blick in das reich illustrierte Buch wird erkennen lassen, daß es kaum eine Frage, ein Bedürfnis, eine Lebensverlegenheit gibt, auf die ich nicht eine erschöpfende Antwort gefunden habe. Jedermann, der sich Zeit nimmt, in den Geist meines Werkes einzudringen, wird verblüfft sein über die Geschwindigkeit, mit der sich sein Leben ändert.6 In den Vorworten wie in den Artikeln selbst porträtiert der Lexikograph Tranchirer sich selbst als einen verantwortungsbewussten Spezialisten für verschiedenste Sachgebiete und als unermüdlichen Wahrheitssucher, der sich teil4
1843 heißt es in einer Absichtserklärung von L’illustration: journal universel, über die Bedeutung der die Artikel begleitenden Bilder: „Gibt es denn wirklich kein Mittel, das die Presse – die den Wunsch des Publikums, rasch informiert zu werden, so ernst nimmt – anwenden könnte, um dieses Ziel zu erreichen? Ja, es gibt eins, es ist ein altes Mittel, lange unbeachtet gelassen, aber wirksam; dieses Mittel ist es, das wir anwenden wollen: Lieber Leser, die Holzgravur ist ihnen schon gut bekannt. Wir werden unsere Texte mit Karten – einer unentbehrlichen Beigabe bereichern, wo diese immer für den Text von Nutzen sind. Aber das genügt nicht. Auf dem Weg der Korrespondenz und wenn nötig durch Reisen werden wir sie ergänzen mit Stadtansichten, militärischen Aufmärschen, Flottenansichten, Feldschlachten... In einem Wort: Das tägliche Leben wimmelt von Geschehnissen, die uns interessieren; wir sprechen nicht vom Ungewöhnlichen; der Alltag bietet gerade genug... Was wäre da alles aufzuzählen! Entdeckungsreisen, Szenerien ferner Länder, Ansichten aus den Kolonien, ungewohnte Industrieanlagen – sogar den Eisenbahnbau werden wir verfolgen, wenn dabei irgend etwas Besonderes oder Bedeutendes zu sehen ist.“ (Spies: Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch, S. 102). Spies selbst zitiert die Passage aus Blanchard: „Die Typographie des französischen Buches 1800-1914“ (ebd. S. 227f.).
5
Vgl. ebd., S. 101: „In den populären Publikationen des 19. Jahrhunderts wird versucht, ein noch einigermaßen homogenes, mitteilbares, sichtbares Weltbild lückenlos-verständlich zu vermitteln. Es sind enzyklopädische Sammlungen, die Auguste Comtes ,Discours sur l’Esprit Positif‘ nahestehen.“
6
Wolf: Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose, S. 5.
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weise gegen Meinungen böswilliger oder beschränkter Gegner behaupten muss. Seine Artikel gelten Lemmata aus heterogenen Wissensbereichen, aus denen des sozialen Lebens und der kulturellen Praktiken, der Biologie, Artenkunde, Geographie, Psychologie, Medizin, Körperpflege, Technik; hinzu kommen viele Erläuterungen zu Tätigkeiten, (angeblichen) Alltagsdingen und -erfahrungen sowie zu Abstrakta. Ausnahmslos enthalten die Artikel irritierende Auskünfte, sei es, dass der Bezug dieser Auskünfte zu den Lemmata kurios erscheint, weil nur ein einzelner und dabei abwegiger Aspekt des Themas berührt wird, sei es, dass die Auskünfte selbst befremdlich klingen. Manchmal repräsentieren die beschrieben Dinge, Tätigkeiten und Zustände eine sinistre, stets aber eine befremdliche imaginäre Welt. Ein Beispiel mag illustrieren, was den Leser des Lexikographen Wolf bzw. Tranchirer erwartet: Tiere, verborgene. Ein Tier taucht aus der Dunkelheit auf. Von seinem Kopf sieht man wenig, weil selbst der größte Teil der kurzbehaarten Schnauze von den auffallend langen Haaren des Scheitels verdeckt wird. Der Haarpelz verhüllt auch den Körper. Man sieht eigentlich gar nichts von diesem Tier, nur große wehende Büsche.7 Tranchirer hat seinen Ratgeberbüchern eine Vielzahl von Illustrationen beigegeben, wiederum in Anlehnung an die Präsentationsweise populärwissenschaftlichen Wissens in Handbüchern des 19. Jahrhunderts. Entsprechend klingen seine Empfehlungen der Bilder: […] Die zahlreichen dem Text beigegebenen Abbildungen dienen nicht nur zur Befriedigung der gewiss vorhandenen Augenlust, sondern sollen vor allem den Sinn für das Selbstverständliche wecken, von dem wir umgeben sind.8 Bei den Bildern handelt es sich um Collagen, die im Buch teilweise neben bzw. zwischen den Artikeln stehen wie Illustrationen in einem Handbuch oder Lexikon, teilweise dem Artikel-Korpus auch als separate Einzelseiten oder Faltblätter beigefügt sind wie Schautafeln in Lehr- und Nachschlagewerken. Das Bildmaterial besteht aus Collagen, die Ror Wolf selbst geschaffen hat und für die er Bildmaterial aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert verwendete – hauptsächlich Stahlstiche aus populären oder fachspezifischen Wissenskompendien (Hygienehandbüchern, medizinischen Fachbüchern, Atlanten, Reisebeschreibungen, Tierkundebüchern, Benimmbüchern etc.) sowie aus Zeitschriften; aus 7
Ebd., S. 102f.
8
Wolf: Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt, (1983) S. 6.
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letzteren bezog er vor allem Illustrationen zu unterhaltender Literatur (dem Bildmaterial nach zu urteilen vor allem zu Kriminalerzählungen, Liebes- und Familiengeschichten). Ferner wurden Kochbücher ausgewertet; viele Illustrationen beziehen sich auf den Bereich der Zubereitung und des Verzehrs von Mahlzeiten. Wie die Artikel der Ratgeberbücher, so stellen die Bilder Kompilationen von Heterogenstem dar – zusammengestellt aus den Elementen fragmentierter Kontexte bzw. Bildarrangements. Der Name ,Tranchirer‘ drückt ein Programm aus, das den Bildern wie den Texten zugrunde liegt (das des Zerschneidens) – wobei den Bildern anzusehen ist, dass sie aus Einzelelementen komponiert wurden, während bei den Texten kaum unterscheidbar ist, welche Anteile davon Zitate und welche hingegen Formulierungen Ror Wolfs sind. Dem Duktus nach sind sie allerdings insgesamt Zitate, Zitate des ,Ratgeberstilsȧ. Und der Name des Lexikographen spielt natürlich auch auf die Welt der Lebensmittel und der Gastronomie an. Er signalisiert: Es ist angerichtet.
2.
Die Spur zu Max Ernst
Dass die Collagen Ror Wolfs an die Max Ernsts erinnern, haben – angeregt durch Wolf selbst – verschiedene Interpreten betont.9 Tatsächlich legen die von beiden Collagisten verwendeten Bildmaterialien einen solchen Vergleich auch nahe, sowohl mit Blick auf ihre Provenienz als auch auf vorzugsweise verwendete Bildmotive.10 Unübersehbar ist die Ähnlichkeit mit Ernsts Collageromanen La femme 100 têtes, Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au Carmel und Une semaine de bonté, zum anderen aber auch mit den vielen collagierten Einzelblättern des Surrealisten, die von Werner Spies einer panoramatischen Sichtung, Kommentierung und kunsthistorischen Einordnung unterzogen worden
9
Vgl. dazu Kilcher: mathesis und poiesis, S. 321: „Die ‚Abbildungen‘ in Ror Wolfs Enzyklopädie […] spielen mit dieser lexikographischen Ikonographie der bürgerlichen Konversationslexika. Dabei handelt es sich um Collagen, die Ror Wolf selbst mit denjenigen von Max Ernst verglichen hat. Die Bausteine dieser Collagen entnimmt Wolf dem ikonographischen Arsenal der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts. Durch die Montage verschiedener Bildelemente werden die Ikonen der bürgerlichen Kultur verfremdet und dämonisiert, aber auch parodiert und ironisiert. Collage und Montage verwandeln die heile in eine apokalyptische Welt.“
10 Vgl. den Band: Wolf: Anfang & vorläufiges Ende, S. 221-224; Maar: „Lemm, Wobser, vor allem Klomm“, Hinweis auf Ernst: S. 221. Vgl. auch die Rezension der Welt-und Wirklichkeitslehre durch Klaus Nüchtern im Falter, Wien, 15.3.1991; „Weitere Ansichten“, in: Wolf: Anfang & vorläufiges Ende, S. 225f., hier: S. 225.
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sind; Spies hat dabei insbesondere eingehende Recherchen zu den von Ernst verwendeten Materialien angestellt.11
Abbildung 1: Max Ernst: Une semaine de bonté, 1963
Die in Ror Wolfs Collagen dargestellten Szenerien ähneln vielfach ernstschen Blättern nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich. So versetzen beide wiederholt nackte Frauengestalten in dubiose Umgebungen, schicken menschliche Figuren auf den Weg durch rätselhafte kosmische Räume oder lassen sie mit bedrohlich wirkenden Tierwesen zusammentreffen. Für beide stellen naturund artenkundliche Bildkompendien eine wichtige Basis zur Komposition eigentümlicher Zwischenwesen dar. Wir begegnen Boten einer halb vertrauten, halb tief irritierenden Welt. Neben sachkundlichen illustrierten Schriften wertete Ernst gerne die Illustrationen zu unterhaltungsliterarischen Texten aus; Wolf teilt seine Vorliebe für die hier anzutreffende Sorte von Szenen. Bestimmte Bildmotive trifft man bei Ernst wie bei Wolf besonders häufig, darunter Eisenbahnwaggons, Raubvögel und nackte Damen (vgl. Abb. 2-5).
11 Über die Hälfte der Blätter von La femme 100 têtes beruhen auf illustrierten RomanFeuilletons (dazu Spies: Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch, S. 127); Ähnliches gilt für Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au Carmel. Max Ernst hat teilweise Bände, aus denen er Material für seine Collagen entnahm, nur sehr selektiv genutzt, manchmal hat er sie nach längerer Zeit wieder vorgenommen und weiter ausgewertet (vgl. ebd., S. 21).
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Abbildung 2: Max Ernst: die große Ruhe nach den künftigen Morden, [Tafel 91] des Collageromans La femme 100 têtes, 192912
Abbildung 3: Ror Wolf: Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose
Abbildung 4: Max Ernst: …Hoppla! Hoppla! …, [Tafel 32] des Collageromans Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au Carmel, 193013
Abbildung 5: Ror Wolf: Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt, 1999, S. 39
Max Ernst hat den Reiz der zunächst zu rein praktisch-didaktischen Zwecken geschaffenen Bilder für die Kunst entdeckt. Als Collagist habe sich Ernst, so Spies, mit solchen Bildmaterialien auseinandergesetzt, deren Banalität und Alltäglichkeit ihn herausforderte. Seine Vorlagen wählte er daher gerade nicht aus dem Bereich der künstlerischen Graphik – wohl allerdings vielfach aus dem der illustrierenden Graphik, die sich differente künstlerische Stile angeeignet 12 Abbildung Nr. 262 in: Werner Spies: Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch. 13 Abbildung Nr. 308 in: Werner Spies: Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch.
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hatte. Er zitierte also Bilder, die ihrerseits zitierten14 – und wenn denn Ror Wolf Ernst zitiert, so setzt er damit eine bereits mehrgliedrige Kette fort. Mit Gustav René Hocke vermutet Spies zudem Ernsts Vorläufer eher in der Literatur des 19. Jahrhunderts, in der Romantik, bei Lautréamont, Baudelaire, Poe, Rimbaud, Jarry, Apollinaire – kurz: bei den Vertretern einer „Poetisierung des Inkongruenten“15 –, und wiederum könnte Ror Wolf hier als Fortsetzer gedeutet werden – als jemand, der die ernstsche Kunst des ‚Inkongruenten‘ durch die Konzeption seiner literarischen Lexika re-literarisiert. Ernst, so der von Spies durch viele Beispiele plausibilisierte Befund, hat sich bei seiner Verwendung von Bildmaterialien keineswegs auf Zufälle, momentane Faszinationen und Intuitionen verlassen; er ist vielmehr in hohem Maße materialbewusst und reflektiert verfahren und stand seinen Bildmaterialien distanziert und kalkulierend gegenüber.16 Nicht um die dargestellten Gegenstände ging es ihm primär17, sondern um das Darstellungsverfahren als solches, das sich als Kopplung von Heterogenem zu erkennen gibt.18 Ror Wolf bevorzugt erkennbar dieselbe Sorte graphisches Material wie Ernst, und wie dort, so spielt auch bei ihm die historische Distanz zu diesem Material eine wichtige Rolle. Trotz dieser Analogie ist jedoch eine differenzierende Betrachtung sinnvoll: Bevorzugte Ernst unkünstlerisches, auf alltägliche und banale Kontexte verweisendes Bildmaterial, so ist eben dieser Bilderfundus nach seinem Gebrauch durch Ernst nicht mehr derselbe.19 14 Vgl. Spies: Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch, S. 178: „Das Bildmaterial, das Max Ernst benützt – zu den szenischen Collagen benützt –, entstammt ausnahmslos dem illustrierten, populären Roman des 19. Jahrhunderts […]. Es handelt sich um illustrierte französische Roman-Feuilletons. Stilistisch arbeiten diese alles ein, was die damalige realistische Salonmalerei nobilitierte.“ 15 Ebd., S. 12. 16 Ebd., S. 13f. 17 Keine Äußerung Max Ernst lasse darauf schließen, „daß die durch die Collage zerstörten oder verdrängten Ausgangsbilder als komplementärer zweiter Inhalt der Collagen bestehen bleiben. […] Das neue Unbekannte (die Collage) negiert das rekonstruierbar Bekannte […].“ Ernsts Werk ,rehabilitiere‘ keineswegs die „Bildwelt, auf der es sich gründet.“ (vgl. Spies: Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch, S. 26). 18 Vgl. ebd., S. 16: „Bei den Collagen Max Ernsts kommt dem ins Werk geholten Realitätszitat ein neuer Sinn zu. Es transportiert eine Bedeutung A, die ins Bild eingebracht wird. Dort trifft sie auf eine vorgängige Bedeutung B. Verschiedene, außerhalb des Bildes unverbundene Inhalte treffen aufeinander. Es werden […] disparate Sinn-Informationen gekoppelt. Die Reaktion […] verändert die zusammengebrachten, ursprünglich und für sich klaren Inhalte […].“ 19 Ebd., S. 87, Spies stellt einen instruktiven Vergleich mit Lautréamont an, der sein Material ebenfalls aus dem Magasin Pittoresque bezog: „Ganz anders als Lautréa-
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Stahlstiche und Holzschnitte des 19. Jahrhunderts sind seitdem ästhetisch semantisiert. Wer sie verwendet, zitiert ein Stück Kunstgeschichte.20 Anders gesagt: Hat schon Ernst sein Bildmaterial zitiert und dadurch re-semantisiert, so gilt dies für Wolf noch einmal, der auch, wenn er von außerkünstlerischem Material ausgeht, damit eine Verfahrensweise zitiert. Das an Ernst erinnernde graphische Material ist über seinen Darstellungswert hinaus durch seine künstlerische Vorgeschichte transformiert worden; Wolf parodiert nicht nur den Fachjargon und die Illustrationspraxis der Zeitschriften und Ratgeberbücher, sondern bezieht sich implizit auch auf eine Kunstform – eine Kunst des Zitierens. Seine Collagen sind Meta-Zitate. Die lexikographische Form, in die Wolfs Collagen eingebettet sind, gibt diesen einen (pseudo-)illustrativen Charakter, den sie bei Ernst nicht besitzen. Suggeriert bei Ernst der Begriff des Collageromans einen narrativen Zusammenhang der Einzelcollagen, so scheint bei Wolf die alphabetische Ordnung die Sequenz der Bilder zu regieren (das scheint aber nur so; dazu später). Immerhin hatte auch Ernst eine Affinität zum Alphabetischen als ein einerseits rigides, andererseits beliebiges Ordnungsprinzip, und er nutzte alphabetische Wörterlisten ebenso wie naturwissenschaftlich-technische Texte für poetische Experimente.21 In Spies’ Katalog findet sich zudem eine Fülle von Collagen, in deren Mittelpunkt die Buchstaben des Alphabets stehen – eine Version der InitialenKunst, eine Hommage an die Buchstaben, wie man sie gelegentlich auch in Tranchirers Artikeln antrifft. E. Bei gewissen Buchstaben atmen wir besser. Das E erzeugt Druck unter den Achselhöhlen und stärkt unsere Atemmuskulatur. – Stehen mont, der auf absolut zeitgenössisches Material reagiert […], wurde Max Ernst von einem Material angesprochen, das für ihn in seinem semantischen und vor allem semiotischen Gehalt (Darstellungsstil) nicht mehr aktuell sein konnte. Der Darstellungsstil […] wurde […] für Max Ernst, als ein obsolet gewordener, zu einem kaum zu überschätzenden Stimulans. […] Max Ernst reagiert vorrangig mehr auf semiotische als auf semantische Gegebenheiten.“ 20 Vgl. dazu auch ebd., S. 211. 21 Vgl. ebd., S. 63: „Das erste französisch geschriebene Gedicht [Ernsts], ‚La chanson des vieux mutin‘, erscheint 1921. Bildeten für die Collage-Unterschriften die schriftlichen Bezeichnungen in Illustrationsvorlagen eine Art Rohmaterial, so scheint Max Ernst hier weitgehend vom Wörterbuch ausgegangen zu sein. Sieben Wörter in dem kurzen Gedicht beginnen mit ‚c‘: coqueluches, coq-à-l’âne, coréligionnaîres, cohésion, chimique und conque, das in Analogie zu den vorhergehenden ‚mirlitons‘ und ‚tontetons‘ (wohl eine Erweiterung von ‚tontons‘) zu ‚conquelons‘ wird. Auch ‚baquets‘ und ‚baguettes‘ folgen sich. In ‚Arp‘ [einem weiteren Gedicht Ernsts] tauchen wieder zahlreicher biologische, zoologische und technische Begriffe auf.“
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Sie auf, stellen Sie sich aufrecht hin und öffnen Sie Ihren Mund. Wer atmet ist glücklich.22 Wie Ernst schafft Wolf mit seinen Collagen eine ‚verkehrte Welt‘ und setzt damit eine alte literarische Tradition fort.23 Wie Ernsts Collagen, so erinnern auch diejenigen Wolfs an Träume, insbesondere an Alpträume – die Arrangements ähneln sich vielfach –, aber in beiden Fällen sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um arrangierte Träume handelt.24 Ernsts Szenarien sind komponiert; sie verwenden Elemente traumhaft-halluzinatorischer Phantasien, beruhen selbst aber nicht auf unkontrollierten Phantasien, sondern auf reflektierter Materialauswertung. Ror Wolfs Collagen in den Ratgeberbüchern werden schon durch ihre Einbettung in den lexikographisch-parodistischen Kontext auf gebrochene Weise reflektiert. Und wiederum kommt ein kunsthistorischer Zitateffekt hinzu, die (zweifellos gewollte) Erinnerung an eine ästhetische Verfahrensweise. Explizit hat sich Ror Wolf als einen Autor beschrieben, der sein Material komponiert, als Zitierkünstler, der sein Material kontrolliert: Ein Buch wäre nun denkbar, in dem alles Material dem Zufall ausgehändigt wird; in dem alle Partikel frei wuchern oder im Rohzustand aneinander geklebt sind. Darum geht es mir nicht. Je deutlicher das zentrale Thema sichtbar wird, umso mehr drängt es darauf, ganz bestimmten Stoff zu finden und zu erfinden. Ein Kompositionsprinzip
22 Wolf: Roul Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens, S 30. 23 Spies: Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch, S. 84, verweist auf Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 105. Unter den Topoi, die Curtius anführt, rangiert an oberer Stelle der der ,verkehrten Welt‘. 24 Spies erhebt Einspruch gegen die einfache Analogisierung der ernstschen Bildwelt mit der des Traums. „Die Gleichsetzung Max Ernstscher Collagen mit Träumen, die auf ihre Deutung warten, bleibt, so unnuanciert vorgebracht, nicht mehr als eine irrige, wenn auch geistesgeschichtlich naheliegende Parallele. Man kann die Inhaltlichkeit der Collagen nicht dem Traummaterial gleichsetzen; man kann Collagen höchstens in ihrer onirischen, allenfalls traumanalogen Wirkung, die sie auf uns ausüben, als Erscheinungen von Realem bezeichnen, deren Kausalität, die Kenntnis Freuds voraussetzend, jetzt bewußt ästhetisch gestört wurden. Es gibt in den Schriften und Äußerungen Max Ernsts zahlreiche Hinweise dafür, daß er diesen Effekt des Unbewußten überwachte.“ (Spies: Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch, S. 181).
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erscheint, dem sich alle Details unterzuordnen beginnen… Die Komposition tritt an die Stelle der Handlung.25 Spies’ Untersuchungen zu Ernst verdeutlichen, dass dessen Klebebilder aus einer analogen Haltung heraus entstanden sind. Wie bei Ernst, so suggerieren auch bei Wolf vor allem die Szenen mit menschlichen Figuren, dass hinter dem dargestellten Einzelmoment eine rätselhafte (wahrscheinlich skandalöse) Geschichte stecken könnte. Aber gerade diese Suggestionen sind Zitate, wie der Ratgeberton in den Artikeln und in den Vorworten, wie das dort ausgebreitete (vorgebliche) Wissen – und die empirisch fundierte Ordnung des Wissens, die sich in den Kompendien Tranchirers bespiegelt. Zitathaft wirkt auch die offenkundige Faszination des Ratgebers durch das, was aus dem Reich bürgerlicher Wohlanständigkeit verbannt zu werden pflegt, durch Schmutz, Ungeziefer, Unappetitliches, wie überhaupt durch Körperlichkeit in ihren als degoutant wirkenden Erscheinungsformen.26
3.
Reflexionen über Ordnung und Unordnung. Das Konzept einer „Logik des Traums“
Tranchirers Ratgeberbücher, als alphabetische Kompendien fingierten Wissens, eine Spielform literarischer Lexikographik, schließen an die Geschichte der Enzyklopädistik an, spielen mit der Form populärer Vermittlung von Sachwissen sowie mit wissenschaftlichen Diskursen insgesamt. Ihre Funktion erschöpft sich allerdings nicht im Parodistischen, auch nicht angesichts eines so kuriosen Ratgebers wie Tranchirer, dessen Erfindung durch den Autor Wolf unverkennbar dem Genre der Gelehrtensatire verpflichtet ist. Exemplarisch bespiegelt sich in Ror Wolfs Nachschlagewerken vielmehr die Literatur als eine Instanz, die mit Modalitäten der Wahrnehmung und Darstellung von Welt experimentiert. Alphabetisch strukturierte literarische ‚Lexika‘ reflektieren die Kontingenz aller Ordnungen des Wissens und der Begriffe und setzen sich insofern mit wissenschaftlichen Diskursen reflexiv auseinander. Dabei wird wissenschaftliches Wissen einerseits kritisch in seinem Konstruktcharakter beleuchtet und spielerisch dekonstruiert. Andererseits rückt es implizit in die Nähe phantasti25 Wolf: Anfang & vorläufiges Ende, S. 63. 26 Dieser Zug steht im Mittelpunkt der Analysen Kilchers; er spricht von „Tranchirers Transgression des Diskurses des Wahren, Schönen und Guten in die verbotenen Bereiche des Körpers und der Gefühle, des Kranken, Häßlichen und Unnützen“ (Kilcher: mathesis und poiesis, S. 317). Die Parallele zu den Arbeiten Ernsts ist evident.
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scher Weltentwürfe. Jorge Luis Borges’ Erzählung über Tlön, Uqbar, Orbis tertius erzählt von einer entsprechenden Grenzüberschreitung zwischen einer Lexikographik des Imaginären als einem quasi literarischen Kollektivprojekt auf der einen und wissenschaftlich-theoretischen Weltmodellierungen auf der anderen Seite. Borges hat mit seiner ‚chinesischen Enzyklopädie‘ das wohl berühmteste Beispiel imaginärer Lexikographik erdacht (erdacht – nicht durchgeführt), ein Beispiel, auf das Foucault in seiner wissensarchäologischen Arbeit hingewiesen hat.27 Tranchirers Kosmologien für unerschrockene Leser schließen auch an die borgesianische und nachborgesianische Erfindung von Wissenschaft an.
Abbildung 6: Ror Wolf: Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle, S. 113
Das kritische Interesse an Systemen des Wissens verbindet den literarischen Lexikographen Ror Wolf und die Vertreter des Surrealismus. So charakterisiert André Breton einmal den Surrealismus als subversive Auseinandersetzung mit der Suggestion möglicher Ordnung: Der Surrealismus ist die Systematisierung der Konfusion. Der Surrealismus schafft scheinbar eine Ordnung, aber nur so, daß die Idee eines Systems selbst verdächtig wird in der Assoziation. Der Surrealismus
27 Vgl. Foucault: Les mots et les choses, S. 7, sowie Borges: „Die analytische Sprache von John Wilkins“, S. 212.
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ist destruktiv, aber er zerstört nur, was er als Ketten betrachtet, die unsere Vision einschränken.28 So unmissverständlich sich die surrealistische Bewegung auch aus ihrer Opposition zum Dominanzanspruch rationaler Begrifflichkeiten und Wissensordnungen versteht, so schwer zu beantworten ist doch die Frage, ob die Surrealisten an eine verborgene ‚alternative‘ Ordnung der Wirklichkeit geglaubt haben. Eine vielzitierte Bestimmung Bretons könnte in diesem Sinne verstanden werden: Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.29 Sind die Surrealisten noch dem metaphysischen Diskurs zuzuordnen, der von der Existenz letzter, und sei es auch verborgener Gründe ausgeht, glauben sie noch an absolute, wenngleich verschlüsselte Sinnmuster – oder ist ihre Grundhaltung postmetaphysisch?30 Letztlich ist die Frage nach der surrealistischen Unterstellung einer Sphäre absoluter Sinnbezüge und verborgener Ordnungsmuster deckungsgleich mit der Frage, ob aus surrealistischer Perspektive das Unbewusste durch solche vorgängige Basisstrukturen geprägt ist. Immerhin definiert sich der Surrealismus bei Breton maßgeblich als Hinwendung zum Unbewussten und als Exploration der diesem inhärenten Strukturen. SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung. /[…] Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Es zielt auf die endgültige Zerstörung aller
28 Breton, zit. in Hans Richter: DADA – Kunst und Antikunst, S. 200. 29 Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 18 [Unterstreichung M. S.-E.]. 30 Die „post-metaphysische“ Moderne verabschiedet sich, ihrem eigenen Selbstverständnis gemäß, vom Projekt der Begründung ebenso wie von der Idee des „Grundes“ als solcher, welche konstitutiv für die Ära der „Metaphysik“ gewesen war. Vgl. Welsch: Zur Aktualität des Ästhetischen, S. 7, S. 155.
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anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen.31 Der Traum wird schon im Ersten Manifest in seiner Bedeutung anerkannt – für Breton ein Zustand der Entfernung von der Zweckrationalität des Alltags – und Hinwendung zu einer ,anderen Logik‘. Bretons Absicht sei es gewesen, so Peter Bürger, „dem auf die Spur zu kommen, was man die Logik des Traums nennen könnte […] Er weigert sich, diesen als weniger real anzusehen als die Wahrnehmung im Zustand des Wachseins.“32 Dass der Unterstellung einer ,Logik des Traums‘ noch metaphysische Denkmuster zugrunde liegen, ist unbestreitbar; soll doch diese Logik eine in dem Sinn ‚absolute‘ sein, dass sie von Setzungen unabhängig und universal ist. Suggestiv gegeneinander ausgespielt werden die rationale Logik und die ,andere‘ Logik insbesondere in Metaphern der Oberfläche und der Tiefe.33 Bretons Proklamationen zufolge muss man sich der Imagination anvertrauen, um diese andere Logik jenseits der Oberflächen zu entdecken und in die Region seelischer Tiefenstrukturen vorzudringen.34 Unter dieser Prämisse würdigt das Erste Manifest des Surrealismus von 1924 jene Zustände, die der Kontrolle durch das Bewusstsein und seine konventionelle Logik entzogen sind: Neben dem Traum gilt das auch für den Rausch und den Wahnsinn (der Breton in erster Linie als Zustand intensivierter Imaginationsfähigkeit gilt)35 sowie für den Zustand einer ‚automatischen‘ Produktivität. Jean Starobinski hat den metaphysischen Hintergrund des Kon31 Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 26f. – „Es ist [so schreibt Breton] […] unsere Aufgabe […] zu versuchen, immer klarer zu sehen, was sich gegen den Willen des Menschen in den Tiefen seines Geistes tut, wenn er uns auch zuerst seine eigenen Verwirrungen übelnimmt.“ (ebd., S. 79). 32 Bürger: Der französische Surrealismus, S. 88. 33 „Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten. Wenn die Tiefen unseres Geistes seltsame Kräfte bergen, die imstande sind, die der Oberfläche zu mehren oder gar zu besiegen, so haben wir allen Grund, sie einzufangen […].“ (Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 15f.). 34 „Zuzulassen, daß die Imagination versklavt wird, auch wenn es um das ginge, was man so leichthin das Glück nennt – das hieße, sich allem entziehen, was man in der Tiefe seiner selbst an höchster Gerechtigkeit findet.“ (Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 12). 35 Breton selbst allerdings spricht nicht als Wahnsinniger, sondern über Wahnsinnige; diese könnten im ästhetischen Experiment des Surrealismus mitspielen – aber Breton wäre dabei zuständig für die Versuchsanordnung. „[…] tatsächlich sind Halluzinationen, Illusionen usw. keine geringzuachtende Quelle des Genusses […]. Ich könnte mein Leben damit verbringen, die Wahnsinnigen zu ihren Bekenntnissen zu provozieren. […] Kolumbus mußte mit Verrückten ausfahren, um Amerika zu entdecken.“ (Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 12).
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zepts automatischer Schöpfung unterstrichen.36 Diese mit dem Begriff surrealistischer Kunstpraxis eng assoziierte Produktionsweise sollte – so das Konzept – aus dem Unbewussten zu Tage fördern, was diesem an latenten Botschaften vorgängig eingeschrieben war. Allerdings sind die Produkte dieser Experimente niemals im Rohzustand belassen worden.37 Freuds Konzeptualisierung des Unbewussten kam Bretons Faszination durch die Vorstellung einer ,anderenȧ, anti-rationalen ‚Logikȧ evidenterweise sehr entgegen. Die Ordnung des Traums erscheint ihm als Inbegriff einer anderen Ordnung der Dinge. Innerhalb der Grenzen, in denen er sich vollzieht (zu vollziehen scheint), besitzt der Traum allem Anschein nach eine Kontinuität und Anzeichen von Ordnung. Einzig das Gedächtnis maßt sich das Recht an, Kürzungen darin vorzunehmen, Übergänge nicht zu beachten und uns eher eine Reihe von Träumen darzubieten als den Traum. Ebenso haben wir nur für den Augenblick eine deutliche Vorstellung von den Realitäten, und ihre Koordination ist Sache des Willens.38 Dennoch ist zu fragen, wie nahe Breton Freuds Denken wirklich stand. Denn er ist, anders als dieser, an einer Überführung ,traumlogischerȧ Texte in begrifflich-rationale Texte gerade nicht interessiert.39 Zudem stellt sich die Frage, ob er an das freudsche Unbewusste als die Sphäre einer anderen Ordnung, an die Existenz einer Logik des Traums glaubte – oder ob er sie nur proklamierte, um eine Basis ästhetischer Kreativität zu konstruieren, die den Namen ‚künstlichȧ verdient. Der Duktus seiner Manifeste lässt beide Hypothesen zu. Dass das Stichwort „SURREALISMUS“ durch die Angabe „Subst., m.“ ergänzt wird, deutet dabei zumindest auf eine zitathafte Verwendung lexikographischer Textformen hin, und schon darin liegt ein Moment der spielerischen Distanzierung – wie in jedem ostentativen Gebrauch kodifizierter Darstellungsmodi (und insbesondere in allen Verwendungen lexikographischer Darstellungsformen außerhalb eigentlicher Lexikographik). Wie buchstäblich sind die surrealistischen (Selbst-)Definitionen zu nehmen? Ernsts an Traumszenen erinnernde Bilder sind – unbeschadet ihrer ‚traumhaft‘ anmutenden Bildersprache – jedenfalls nicht als Darstellungen aus der Sphäre des Unbewussten zu betrachten, sondern als bewusste und kalkulierte ästhetische Konstruktionen einer Gegenwelt in Anlehnung an Theorien über das Unbewußte. Der Collagist hat sein Material in hellwachem 36 Starobinski: „Freud, Breton, Myers“, S. 153. 37 Vgl. dazu: Metken: „Surrealismus“, S. 240. 38 Breton: Die Manifeste des Surrealismus, S. 16. 39 Vgl. dazu Bürger: Der französische Surrealismus, S. 240.
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Zustand gesammelt, ausgewählt, arrangiert und re-arrangiert; mit der Mehrfachverwendung bestimmter Materialien zitiert er sich zudem manchmal selbst. Auch Tranchirers Bilderwelten sind solche Konstrukte, wie denn sein so ungewöhnlicher Kosmos insgesamt ein Konstrukt ist, das seinen Entwurfscharakter nicht verleugnet. Die Frage nach einer verborgenen Ordnung der Dinge, einer geheimen ‚Logikȧ erscheint da als von vornherein falsch gestellt. Als Arrangeur und Re-Arrangeur spielt der Künstler eine ganz andere Rolle als die eines Mediums inkalkulabler Produktionsimpulse. Entsprechend wird im Artikel „Einfall“ aus Letzte Gedanken mit der Idee der Zufallskunst und des produktiven psychischen Automatismus offenkundig sein selbstbezüglichparodistisches Spiel getrieben: Einfall. Wir warten ab, was uns einfällt. Dabei kommt es auf die Stimmung an, in der wir uns befinden. Ist sie gut, dann werden dem Maler Formen und Farben, dem Musiker Töne und mir die richtigen Worte einfallen, um den Begriff Einfall zu erklären. Die nicht geeigneten lasse ich in der Tiefe verschwinden, aus der sie gekommen sind; ich denke nicht mehr an sie oder bediene mich ihrer erst wieder bei einer späteren Gelegenheit.40 Es folgt eine pseudophilosophische Meditation über den Begriff Tisch, die an sich wenig Mitteilenswertes enthält, deren gleichsam ‚wahrer Kernȧ aber die Hochachtung vor dem Wort ist, in das sich so vieles hineinlegen lässt und das so viel bewirkt. In Bemerkungen über die Stille treibt Tranchirer ein analoges Spiel mit der Differenzierung zwischen Oberfläche und Tiefe. Auf der 18. Seite des Buches heißt es unter dem Stichwort „Einzelheiten“: Einzelheiten. Meine Leser wissen, daß ich in der Welt herumgekommen bin und viel gesehen habe. In dieser jetzt, hier, auf Seite 18 erscheinenden Gegend war ich freilich noch nie. Wir dürfen uns der Einfachheit halber die Gegend flach denken und wässrig, und das Wasser ist dick und warm wie eine Nudelsuppe. Man sieht tatsächlich nichts als Wasser; aber die wirklichen Dinge spielen sich ohnehin unter Wasser ab, die schlüpfrigen, die schmierigen, die grausamen Einzelheiten. Allerdings, bevor ich auf die Einzelheiten eingehe, möchte ich diesen Artikel beenden. Weitere Überlegungen schließe ich nicht aus.41
40 Wolf: Roul Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens, S. 30. 41 Wolf: Roul Tranchirers Bermekungen über die Stille, S. 18.
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Ostentativ bleibt der Ratgeber hier an der Oberfläche – es ist die der Buchseite, die der Leser betrachtet. Die Tiefe samt ihren „Einzelheiten“ ist ein reines imaginäres Konstrukt. Was Tranchirer und die Surrealisten verbindet, ist ihre subversive Einstellung gegenüber starren Codes und symbolischen Ordnungen. Die Vorstellung einer gleichsam subkutanen ‚anderen‘, traumhaften Ordnung der Dinge hat in Tranchirers Kuriositätenkabinett aber keinen Platz. Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre berücksichtigt übrigens sowohl das Lemma Ordnung wie auch das Lemma Unordnung. Der Artikel über Ordnung besteht ausschließlich aus einem Hinweis auf den Artikel Unordnung42 – und dort wird auf den Artikel „Ordnung“43 zurückverwiesen. Ebenso hält es der „Taschenkosmos“.44
4.
Tranchirers Spiel mit Bildern
Tranchirers Lexika subvertieren die Idee der Abbildlichkeit gründlich, insbesondere durch die Art, wie in ihnen Texte und Bilder miteinander kombiniert werden. Vordergründig imitiert der Lexikograph eine gängige Praxis der Zuordnung von Bildern zu Texten; die Bilder in seinen Lexika scheinen die Funktion von Illustrationen zu haben, welche das in den Artikeln Ausgeführte sinnfällig machen, verdeutlichen oder exemplifizieren. Doch gerade dieses lexikographisch-enzyklopädische Anordnungsprinzip wird gründlich demontiert, und zwar gleich durch mehrere Strategien: (a)
Erstens handeln viele Artikel von Dingen, die sich nicht visualisieren lassen. In vielen Fällen umkreisen sie ihre Gegenstände sogar in einer Weise, die auf deren schließlich erfolgende Auflösung hinausläuft. Kulturzustand. Über den Kulturzustand könnte ich ausführlich berichten. Von langen Schilderungen, die früher üblich waren, bin ich aber abgekommen. Ich berichte ganz kurz über den Kulturzustand oder
42
Vgl. Wolf: Welt- und Wirklichkeitslehre, S. 114.
43 Ebd., S. 159. 44 Wolf: Roul Tranchirers Taschenkosmos, S. 68, S. 91; Vgl. auch den Artikel „Ordnung im Zimmer rasch herzustellen“ in der 1983er Ausgabe Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt, wo Ordnung explizit als etwas Herzustellendes beschrieben wird: „Dazu dient das Spiel ,Die Flut kommt‘. Jeder Gegenstand, jedes Buch muß rasch an Ort und Stelle gebracht werden, damit die hereinbrechenden Wassermassen nicht alles hinwegspülen. Wie erfreulich, daß die Flut dann schließlich, wenn alles in Ordnung ist, doch nicht kommt.“ S. 164.
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am besten gar nicht, denn alles, was über den Kulturzustand zu sagen wäre, habe ich schon gesagt.45 Andere Artikel erklären sich selbst mit paradoxal-selbstreflexivem Gestus für unsachgemäß, unangebracht irrelevant oder schlecht fundiert; auch dies bietet wenig Anlass zu Illustrationen. Madenhacker. Der Madenhacker läuft sehr schnell von einem Gebüsch zum anderen. Zuweilen fällt er vor Hunger vom Himmel. Er stürzt ohne weiteres von oben zur Erde herab. Das alles zieht schmerzliche und bedenkliche Folgen nach sich, geschieht aber so selten, daß es im Grunde gar nicht erwähnt werden muss.46 (b)
Zweitens führt der Versuch, die den Artikeln benachbarten Bilder als Illustrationen zu deren Inhalt zu deuten, unablässig in Sackgassen. In einem ganz konkreten Sinn stehen die Texte ‚neben‘ den Bildern, aber weder Layout noch Bildinhalte gestatten es, aus diesem Nebeneinander ein Miteinander herauszulesen. Denn die Bilder selbst zeigen so vieldeutige Objekte und Szenen, dass sie vielfach zu gleich mehreren Artikeln in assoziative Beziehungen gesetzt werden können, ohne dass die Zuordnung zu einem bestimmten Artikel dabei privilegiert werden könnte. (Man könnte sagen, dass die Bilder sich selbst behaupten, indem sie sich der Illustrationsfunktion verweigern. Vielleicht sprechen sie ja von ganz anderem als die Artikel.) Zum Stichwort Tiere, eßbare zeigt Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens eine Szene mit einem Mann, zwei Riesenvögeln (Kiwis) und Wildschweinen. Denkt der die Vögel betrachtende Mann über deren Essbarkeit nach? Aus dem Artikel beziehen wir keine hilfreiche Information. Tiere, eßbare. Es wäre eine sehr einfache und womöglich verdienstvolle Aufgabe, ein Verzeichnis sämtlicher essbarer Tiere anzufertigen; ich fürchte nur, es ist keinem damit gedient.“47
(c)
Die ganzseitigen, teilweise großformatigen (und gefalteten) Collagen, die einzelnen der Ratgeber-Bücher eingefügt sind, stehen in keinem erkennbaren Bezug zum Textanteil der Bände. Sie ‚informieren‘ nicht, obwohl
45 Wolf: Roul Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens, S. 74. 46 Wolf: Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille, S. 62. 47 Wolf: Roul Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens, S. 137.
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sie einen aus Lexika, Enzyklopädien und anderen Wissensträgern geläufigen Bildtypus imitieren. (d)
Ror Wolf hat manche Elemente seiner Collagen mehrfach verwendet. Indem diese in verschiedene Kontexte versetzt werden, wird ihr Status als vermeintlich ,illustrierendesȧ Material fragwürdig; das Arrangement der Bilder erweist sich ostentativ als konstruiert und kontingent. Ein und derselbe Raubvogel beispielsweise taucht zweimal in verschiedenen Bildern auf: 1990, auf einer Bildtafel in der Welt- und Wirklichkeitslehre, sitzt er auf einem Männerleichnam (unpag., hinten eingeklebt). Der Ratschläger von 1999 dann enthält eine Bildtafel mit einer mysteriösen Szene: Eine Frau liegt vor einem schmiedeeisernen Gartenzaun im Schnee, unbeachtet von einem Passanten und einem Schneeschaufler, aber offenbar das Interesse eines Waschbären und eines Raubvogels auf sich ziehend; letzterer hat sich auf ihr niedergelassen (vgl. Abb. 7 und 8). Auch Bildelemente aus der Welt- und Wirklichkeitslehre werden in der 1999er Ausgabe des Ratschlägers recycelt, so das Bild eines Radfahrers in einer Mondlandschaft vor einem planetenartigen Gebilde (vgl. Abb. 9).48 In den Bemerkungen über die Stille (2005) kommt es ebenfalls zur Neuverwendung von Bildelementen, die bereits aus früheren Ratgeber-Bänden bekannt sind. So trifft der Leser neuerlich auf einen Fischschwarm, der in der Welt- und Wirklichkeitslehre bereits an einer knienden Frauenfigur vorbei durch eine Kirche schwebte49, und der nun gemeinsam mit Möwen den Strand vor einer exotischen Stadt überfliegt (vgl. Abb. 10 und 11).50 Max Ernst hat in ähnlicher Weise durch die Mehrfachverwendung von Bildmotiven ein Netz von Verweisungen innerhalb seines Collagenwerks geschaffen.
48 Wolf: Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Bereich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle, S. 34f. 49 Vgl. ebd., S. 153. 50 Wolf: Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille, S. 87.
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Abbildung 7: Ror Wolf: Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle, (Anhang, unpag.)
Abbildung 8: Ror Wolf: Raoul Tranchirers Ratschläger für alle Fälle der Welt, Tafel III, (unpag.), 1999
Abbildung 9: Ror Wolf: Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle, S. 34-35
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Abbildung 10: Ror Wolf: Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle, S. 153
(e)
Abbildung 11: Ror Wolf: Bemerkungen über die Stille, S. 87
Vergleicht man die beiden verschiedenen Versionen des Ratschlägers (1983 und 1999) miteinander, so stellt sich heraus, dass über die Vermehrung der Artikel hinaus auch die Disposition des Bildmaterials einer Veränderung unterworfen wurde. Die Bilder sind teilweise ausgetauscht, teilweise an anderer Stelle platziert worden. Auch dadurch wird die Beliebigkeit der Text-Bild-Kombination, die Dysfunktionalität der vermeintlichen ‚Abbildungen‘, ihr ‚Eigensinn‘ unterstrichen. Dies gilt bereits für die erste Abbildung, die – ausnahmsweise ein Photo – einen Mann neben einem gigantischen Brot zeigt (vgl. Abb. 12); ob es sich um eine Photomontage handelt, ist unentscheidbar. Im 1983er Ratschläger auf der ersten Seite platziert, wenn auch ohne klare Zugehörigkeit zu einem Artikel (auf assoziativer Basis wäre hier an den Artikel „Abbeißen“ zu denken), findet das Bild sich im 1999er Ratschläger erst auf einer späteren Seite, im Bereich der B-Artikel.51
51 Hier stehen die Artikel Brot, Brot, gutes, Brotfrage, Brotwasser, vgl. Wolf: Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt, (1999), S. 70f.
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Abbildung 12: Ror Wolf: Raoul Tranchirers vielseitiger Ratschläger für alle Fälle der Welt, 1999, S. 71
(f)
Gelegentlich verweisen Artikel auf Illustrationen, aber diese Verweise gehen ins Leere, weil entweder gar kein Bild an der angegebenen Stelle zu sehen ist oder eines, das zum Inhalt des Artikels überhaupt nicht passt. Zu dieser ,gestörtenȧ Beziehung zwischen Texten und Bildern passt der Artikel des Ratschlägers (1999) zum Lemma „Gegenüber“: Kein Gegenüber. Erwähnt sei noch, daß kein Gegenüber zu haben zu den besonderen Annehmlichkeiten gerechnet werden (166) kann. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf das Bild der gegenüberliegenden Seite hinweisen.52
Zwar zeigt die gegenüberliegende Seite (167) ein Bild, dieses steht dem Text aber als etwas Fremdes gegenüber: ein Sakralgebäude ohne erkennbare illustrative Funktion. (Immerhin spricht der Text aber ja auch davon, es könne angenehm sein, kein Gegenüber zu haben; damit passt die abstruse Bild-Text-Konstellation auf höherer Ebene dann auch wieder zum Artikelinhalt.) In Letzte Gedanken verweist ein Artikel „Lederknarren“ sogar auf ein „nebenstehende[s] Bild, das wir aus guten Gründen nicht abdrucken“53.
5.
Die Spur zu Magritte
Ror Wolfs Spiel mit wiederkehrenden Bildelementen sowie insbesondere seine Strategien der Subvertierung konventioneller Zuordnungsverhältnisse von Texten zu Bildern bringt den Betrachter und Leser auf eine weitere Spur, die in die Sphäre der surrealistischen Kunst führt – auf die Spur René Magrittes. Das 52 Wolf: Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt, (1999), S. 165f. 53 Wolf: Roul Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens, S. 79f.
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Nichtselbstverständlich-Werden des scheinbar Selbstverständlichen ist dessen großes Thema; entsprechend angelegt sind auch seine malerischen Reflexionen über die Beziehung zwischen Wort, Bild und Wirklichkeit – wie sie sich etwa in den berühmten Etüden über das Pfeifenmotiv konkretisieren (La trahison des images, 1929). Ist schon die Spannung zwischen Bildmotiv und hinzugefügtem Text ein Anlass, die Relation zwischen bildlicher und sprachlicher Darstellung zu hinterfragen – ohne dass sich dazu dann eine eindeutige Antwort finden ließe –, so wird das reflektorische Arrangement nochmals dadurch potenziert, dass das Pfeifenbild in mehreren Versionen entsteht (vgl. die drei Gemälde von 1929, 1948 und 1966). Diese stehen ihrerseits in mehrdeutigen Spannungsbezügen untereinander; die späteren Versionen scheinen die frühere zu zitieren oder auch reflektorisch zu überbieten. Ror Wolfs Neukonzeption des Ratschlägers setzt auf einen analogen Effekt. Magritte verdeutlicht die Beliebigkeit und Instabilität vertrauter Ordnungsmuster innerhalb der Welt der Dinge, der Wörter und der Bilder, indem er konventionelle Zusammenhänge suspendiert, Sprach- und Bild-Elemente aus vertrauten Kontexten löst – auch er ist ein ‚Tranchirer‘. Die (Pseudo-)Präzision seines Malstils ist mit der Genauigkeit wissenschaftlicher Darstellungen verglichen worden, wobei seine Darstellungen eine ,andere Welt‘ zu zeigen scheinen. Wiederum ergeben sich Parallelen zu Tranchirers parawissenschaftlich-präziser Darstellung einer Gegenwelt. Vor allem konvergieren Magrittes Malerei und das Treiben des Ratgebers darin, dass sie den Suggestionscharakter ihrer Arrangements als solchen bewusst machen. Wenn Tranchirer seine Bilder und seine Texte im Raum des Buchs zusammenbringt, um sie nur umso effektvoller voneinander lösen zu können, so erinnert dies vor allem an Magritte-Bilder wie Der Schlüssel der Träume (1930). Die – insgesamt wiederum in mehreren Versionen durchgespielte – Bildidee beruht hier auf dem Zitieren einer didaktischen Form. Wie in einem illustrierten Vokabularium oder auf einer Schultafel werden diverse einfache Gegenstände gezeigt und mit Namen versehen. Es handelt sich nur um scheinbar unpassende Vokabeln: Unter dem Bild eines Eies steht „l’Acacia“, unter dem eines Schuhs „la Lune“ und so fort.54 Wort und Bild werden also in ihrer spannungsvollen Beziehung auf ähnliche, aber leicht verschobene Weise thematisiert wie im „Verrat der Bilder“. Und wiederum geht es statt um eine „Aussage“ um die Reflexion über eine Aussage, um die Thematisierung von Wahrnehmungs- und Decodierungsgewohnheiten. Zwischen Gegenstand, Bild und Wort klafft ein 54 War es im Pfeifenbild so, dass der nach naivem Verständnis „richtige“ Name zur bildlichen Darstellung hinzugefügt, dabei aber in seiner Richtigkeit bestritten wurde, so werden hier „falsche“ anstelle der „richtigen“ Namen zu den Bildern gesetzt.
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Abgrund; das Wort im Bild reißt diesen sogar noch weiter auf. Indem vordergründig das gemalte Wort nicht zum Bildelement passt, wird dem Betrachter die Kontingenz geläufiger Zuordnungen evident gemacht. Der Titel „Der Schlüssel der Träume“ scheint andeuten zu wollen, dass es in der Traumwelt eine ,andere‘ Grammatik, eine andere sprachliche ,Logik‘ gibt. Aber auch er ist nur Zitat, insofern er auf die Idee einer fundamentalen, tiefgründigen TraumLogik anspielt; er spielt eben an, er behauptet nicht. Der Vergleich zwischen verschiedenen Fassungen dieses Bildes zeigt, dass Magritte es keineswegs darauf anlegte, einen bestimmten anderen Code gegenüber dem geläufigen Sprachcode zu privilegieren.55 Mit dem Buchumschlag des Vielseitigen großen Ratschlägers zitiert Tranchirer übrigens die Struktur von Magrittes ,Vokabel‘-Bildern: Die Bildfläche ist strukturanalog in sechs quadratische Felder unterteilt.
Abbildung 13: Ror Wolf: Raoul Tranchirers vielseitiger Ratschläger für alle Fälle der Welt, 1999, Titelblatt
Unkonventionell und irritierend wie bei Magritte (und Ror Wolf) sind die Text-Bild-Bezüge übrigens bei Ernst; dessen Collagetitel stehen in vieldeutigen
55 Ein späteres Bild des gleichen Titels entsteht 1932. Die Idee ist analog: Tafelartig arrangiert, werden die Darstellungen verschiedener Gegenstände mit Vokabeln kombiniert: das Bild eines Pferdekopfes mit der Vokabel „the door“, die einer Uhr mit „the wind“, die einer Milchkanne mit „the bird“ und die eines Koffers mit „the valise“. Eine Pointe liegt gegenüber dem älteren Bild darin, dass im letzten Fall die Benennung „stimmt“; das Wort „valise“ zum Koffer passt, auch wenn es, bezogen auf das englische Sprachsystem, ein Lehnwort aus dem Französischen ist.
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Beziehungen zu den Bildinhalten; sie sind wie die Bilder selbst vielfach collagiert, nämlich aus vorgefundenen Formulierungen zusammengesetzt – und sie beruhen weitgehend auf Darstellungen in fachsprachlicher Form – ein weiteres Indiz für die reflektorische Haltung gegenüber Formen konventioneller Wissensdarbietung.56 Bei Magritte (und bei Ernst) wie auch bei Wolf dient das Ensemble von Texten und Bildern der Destabilisierung geläufiger Codes – sowohl sprachlicher und bilddarstellerischer Codes als auch solcher, die das Miteinander beider Darstellungsformen zu regeln pflegen. Und wie Magritte setzt Wolf auf den verstärkenden und potenzierenden Effekt, der in der variierenden Wiederholung solcher Arrangements liegt. Gerade im variierenden Wiederholen demonstriert der ,Tranchirer‘, also der Künstler, seine Dispositionsfreiheit über sein Material. Die Bild- wie die Text-Bestandteile besitzen den Status von Vokabeln, über die er frei verfügt, um aus ihnen – bewusst und reflektiert – seine Arrangements zu machen. Auch Magrittes Bilder-Welt ist eine konstruierte Welt, keine Visualisierung eines der Kunst externen, sie fundierenden TraumReichs. Auch Magritte ist Konstruktivist – und kein Surrealist in dem metaphysischen Sinn, den Bretons manifestartige Texte gelegentlich suggerieren. Aber auch Bretons Manifeste sind ja Kunst, Kunst aus Worten – und deren Status als Repräsentanten bestimmter Inhalte stellen Künstler wie Magritte und Ror Wolf ja gerade (mit ähnlichen, aber auch jeweils eigenen Mitteln) in Frage. Den Konstruktcharakter der dargestellten Dinge und Schauplätze verweist modellhaft auf den Konstruktcharakter aller, auch der wissenschaftlich kartierten, enzyklopädisch dargestellten und von Wissensdiskursen beschriebenen Welten. Besonders unterstrichen wird das konstruktive Moment der Zusammenfügung von Elementen zu wechselnden kontingenten Ordnungen durch den Gestus des ‚Tranchierens‘, durch die Behandlung der Bausteine als separierbare und beliebig komponierbare Materialien. In der Bildform der Collage wird dieser Gestus visualisiert – aber auch in der Textgattung des Lexikons aus (beliebig arrangierten, vertauschbaren, keiner sachlichen, sondern allein der alphabetischen Folge unterliegenden) Einzelartikeln. Dass ‚tranchiert‘ wurde und weiter tranchiert werden kann, machen vor allem die Grenzlinien zwischen den Bild- und den Text-Bausteinen sinnfällig. Magritte setzt in seinen Pfeifenbildern das Motiv des Rahmens entsprechend ein; in den Bildern vom Typus Schlüssel der Träume (Le clef des songes) sind die einzelnen Bildfelder ebenfalls durch klare Linien gegeneinander abgegrenzt.
56 Vgl. Spies: Max Ernst – Collagen, S. 63, über die Collagentitel: „Den Realien im Bild entsprechen konkrete Begriffe im Text, dies freilich nicht in einem kausalen Sinn. Der Inhalt der Texte läßt sich kaum im Bild verifizieren.“
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Auch Raoul Tranchirer bietet seine Informationen kästchenweise, in einer sachlich nicht gegründeten Folge. Die jeweiligen Stichworte sowie gelegentliche abschließende Hinweise auf andere Artikel (die es dann geben kann oder nicht) fungieren als Grenzmarkierungen. Und dem Strukturelement des Zwischenraums bzw. der Grenzlinie gilt das besondere Interesse des Lexikographen. Wie ein Kommentar zu Magrittes Vokabel-Bildern liest sich ein Artikel aus den „Mitteilungen an Ratlose“: Zusammenquetschen. Wir dürfen die Worte im Mund nicht zusammenquetschen, sagt Lemm; wir müssen sie vielmehr sorgfältig hintereinander verwenden. Für den, der nur wenige Worte hat, löst sich dieses Problem fast von selbst. Stellen wir also die Worte im richtigen Abstand auf, nicht zu weit auseinander, so daß sie nicht umfallen. Lassen wir aber zwischen den Worten immer ein wenig Raum, eine Lücke für spätere Worte. Worte dürfen sich gegenseitig nicht behindern, sagt Lemm und Collunder sagt: Wo kein Platz ist für Worte, sollte man schweigen.57 Gemeinsam ist Ror Wolf und Magritte insbesondere ihre Affinität zum darstellungsreflexiven Prinzip der Mise-en-abyme. Wie sich bei Magritte das Pfeifenbild durch Selbstdarstellung potenziert, wie er sich selbst als malenden Maler malt, so bespiegeln sich die Ratgeber Tranchirers immer wieder in ihren Selbstthematisierungen. Vertrackt wie die mehrdeutigen Bild-im-Bild-Konstruktionen bei Magritte ist eine Selbstbeschreibung Tranchirers unter dem Titel „Beschreibungen“: Beschreibungen. Eines der wichtigsten Anwendungsgebiete für Worte ist die Beschreibung. Man beschreibt einen Gegenstand, man versucht ihn mit Worten gewissermaßen hinzuzeichnen. Wer einen Gegenstand beschreiben will, muß hinreichende Kenntnis von ihm und den Ausdrücken besitzen, die zu seiner Darstellung nötig sind. Die erste erlangt man durch eigene Beobachtung, durch Hören und Lesen, verbunden mit dem gewöhnlichen Nachdenken. Die Wortkenntnis
57 Wolf: Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose, S. 127. Vgl. auch S. 127f. den Artikel: „Zwischenräume. Alles um uns her, unsere Kleider, unsere Schuhe, unser Papier, unsere Worte und die aus Worten bestehende und mit den Bewegungen der Worte sich bewegende Welt, das Holz, der Erdboden, die Pflanzenleiber, selbst unser eigener Körper, ist voll von Zwischenräumen, in die das Wasser und jede andere Flüssigkeit eindringen kann. Wir können uns nun selbst eine Erklärung geben für die Durchfeuchtung unserer Kleider und Schuhe vom Regen und wissen von nun an, warum wir die Schuhe mit Schuhcrème überzogen haben, die Worte aber nicht.“
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kommt zugleich mit der genaueren Kenntnis des Gegenstandes. Sie wird vermehrt durch das Nachschlagen in Wörterbüchern. Die Beschreibung ist schon schön, aber noch schöner als die Beschreibung ist die Schönbeschreibung. Sie hat den Zweck, den Leser zu unterhalten, zu ergötzen, zu rühren, zu erschrecken. Der Gegenstand wird oft schöner dargestellt, als er in Wirklichkeit ist, oft wird sogar ein Gegenstand beschrieben, der nirgends vorhanden ist.58 Auch der Artikel über das „Erzählen“ (nach dem 16 Seiten umfassenden Tafelteil des 1999er Ratschlägers) scheint (ähnlich manchen Bildern Magrittes) zugleich auf sich selbst zu verweisen und zu sich selbst in Widerspruch zu stehen: Erzählen. Ein Erlebnis, eine Geschichte kann gut und schlecht, amüsant und langweilig erzählt werden. Die Kunst, etwas fesselnd zu erzählen, ist nicht jedermanns Sache, und wer derselben nicht mächtig ist, der unterlasse lieber das Erzählen. Lästig sind vor allem Erzählungen, welche sich zu sehr in die Länge ziehen. Man begreift endlich, daß das stundenlange stille Dasitzen nicht mehr dem Geschmack unserer Welt entspricht. Es gibt sogar Leute, die bei längerem Dasitzen in der Gesellschaft sich des Einschlafens nicht erwehren können, zumal wenn die Temperatur durch die Ofenhitze und infolge der Anwesenheit vieler Menschen sehr hoch ist. Also fasse man sich beim Erzählen so kurz wie möglich.59 Wie Ernst, so ist auch Magritte ein Konstrukteur, und wie dieser durch die Collagierung heterogener Bildelemente den Entwurfscharakter der eigenen Arbeiten sinnfällig macht, so unterstreicht Magritte diesen Entwurf durch seine Rahmenkonstruktionen sowie seine Spiele mit den Zuordnungsbeziehungen zwischen Verbalem und Visuellem. Ror Wolf folgt den Spuren dieser hochgradig autoreflexiven Kunst, die er seinerseits aber neuerlich ‚tranchiert‘ und neu zusammenfügt – in diesem Fall mit der Form des Lexikons.
58 Wolf: Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle, S. 24. 59 Wolf: Raoul Tranchirers vielseitiger Ratschläger für alle Fälle der Welt, (1999) S. 105.
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6.
Versuch einer Bilanz
(a)
Ror Wolfs Ratgeberbücher erinnern in mehrerlei Hinsicht (auf inhaltlicher und strukturell-kompositorischer Ebene) an Ernst und Magritte als wichtige Repräsentanten des Surrealismus.
(b)
Die Frage nach Wolfs Beziehung zum Surrealismus als solchem führt jedoch zu der unausräumbaren Schwierigkeit, dass sich der Surrealismus selbst nicht im Sinne eines eindeutigen Begriffs charakterisieren lässt.
(c)
Hält man sich an zentrale Aussagen Bretons, welche das Unbewusste als Produktivkraft betreffen, den Surrealismus als eine Nutzung dieser Produktivkräfte verstanden wissen wollen und den Traum wie den Zufall zu einem gegenüber dem rationalen Kalkül alternativen „Grund“ ästhetischer Schöpfung deklarieren, so steht Ror Wolf dem Surrealismus offenkundig fern. Er zitiert zwar dessen Topoi und Bildsprache(n), stellt insbesondere traumartige Szenen dar und kombiniert Heterogenes, so als sei es zufällig nebeneinander geraten – aber all dies erfolgt planvoll und reflektiert.
(d)
Ror Wolf zitiert als Tranchirer (zuerst muss tranchiert, dann erst kann ‚collagiert‘ werden) surrealistische Künstler, Kunstpraktiken und Motive, bettet jedoch diese Zitate in ein nicht-surrealistisches Großprojekt ein: das der Reflexion über Prinzipien der Konstitution und Darstellung von Wissen, genauer: der Reflexion über die Kontingenz von Wissensordnungen und Darstellungsformen. Von Fundstücken ausgehend, versteht er sich als planvoll vorgehender Arrangeur seines Materials. Ein Verweis auf das Arrangement als solches liegt vor allem in der Lexikon-Form.
(e)
Interpretiert man Max Ernsts Collagewerk mit Spies, so ist diese darstellungsreflexive Grundhaltung Ror Wolfs aber auch für Ernst schon prägend.60 Bezogen auf Ernst könnte man – unter Anführung mehrerer
60 Spies kommentiert Ernst in einer Weise, die diesen an Ror Wolf heranrücken lässt: „Hier liegt ein Ertrag der Welt der Collagen: Fragen und Probleme der Darstellung in der Kunst durch eine Infragestellung von Darstellungsevidenz selbst zu ersetzen. […] so besehen wird Max Ernsts Beitrag aktuell. Er läßt sich im Grunde erst auf dem Hintergrund aktueller Wissenschaftsproblematik richtig erkennen. Besser als der stereotype Hinweis auf Freud, der doch nur zu banaler ikonographischer Fixierung von Elementen alles über spärliche Leisten spannt, wäre einer, der von Charles S. Peirce, Wittgenstein bis zu Jürgen Habermas das anklingen läßt, was an die Stelle des fixierten Erkenntnisgegenstandes Modalität von Erkenntnis dynamisch einsetzt.“ (Spies, Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch, S. 183).
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Gründe – sagen, dass Ror Wolf Affinitäten zu Ernst unterhält, welche aber gerade solche Züge des ernstschen Werkes betreffen, die dieses dem bretonschen Surrealismus-Konzept fern stehen lassen. (f)
Analoges gilt für Magritte. Wiederum bestehen Analogien und Affinitäten zwischen Ror Wolf und dem Maler Magritte. Aber auch sie lassen nicht etwa Wolf als einen Nachfolger oder Sympathisanten der Surrealisten erscheinen, sondern lenken stattdessen die Aufmerksamkeit auf die evident konstruktivistischen und darstellungsreflexiven Züge im Œuvre Magrittes: dessen ostentativ kombinatorische Verfahrensweise, dessen Reflexionen über Zeichen und Medien sowie über die Kontingenz von semiotischen Ordnungen und schließlich dessen ausgeprägte Selbstbezüglichkeit.61
Die Idee einer ‚Traumlogik‘, eines ‚sur-realen‘ Zusammenhangs der Dinge könnte – wenn man die Befunde zu Ernst und Magritte in Betracht zieht – schon bei den Vertretern des Surrealismus eher den Status eines Gedankenspiels gehabt haben als den einer These. Unter Verwendung von Ideenmaterial aus der Psychoanalyse hätten Künstler wie Ernst und Magritte dann dem eigenen künstlerischen Schaffen Collagen aus Theoremen und Gedankenmotiven unterlegt. Sollte die Konstellation Ror Wolf, Max Ernst und René Magritte den Gedanken provozieren, letztere seien womöglich gar keine ‚Surrealisten‘ im bretonschen Sinn gewesen und der genuine Ort des Surrealismus seien vor allem Bretons Manifeste? Das wäre eine Kühnheit im Sinne Tranchirers. Dessen Bücher zerlegen schließlich unser vermeintlich gesichertes Wissen in tranchierte Fragmente und stellen damit auch dessen Gegenstände in Frage. Was dann bleibt, ist schwer zu sagen. Der Artikel zum Stichwort „Nichts“ in Welt- und Wirklichkeitslehre lautet: Nichts. Nichts ist das Gegenteil von etwas. So wie das Loch das Gegenteil von etwas anderem ist, das wir jetzt nicht beschreiben müssen. Nichts ist das Loch in den Worten. Öffnen sie den Mund so weit wie möglich, vergessen Sie nicht, sich Mühe zu geben, ihn ganz aufzumachen, und sagen Sie NICHTS.62
61 Anders gesagt: Verbindend zwischen Ror Wolf und den Surrealisten ist das kritische Interesse an Ordnungsprinzipien der Darstellung – verbunden mit dem Bewusstsein von deren Kontingenz. Das ist allerdings nicht surrealismus-spezifisch. 62 Wolf: Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle, S. 112.
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Auf der gegenüberliegenden Seite sehen wir einen Mann, der ein rätselhaftes Experiment mit Schachteln anstellt. Wie eine Reihe anderer Collagen legt auch diese die Hypothese nahe, hier sei der Lexikograph selbst porträtiert – oder aber der geneigte Leser.
Literaturverzeichnis Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, dt. v. Ruth Henry, Reinbek bei Hamburg 1968. Borges, Jorge Luis: „Die analytische Sprache von John Wilkins’“, in: Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München 1966, S. 209-214. Bürger, Peter: Der französische Surrealismus, Frankfurt a.M. 1996. Foucault, Michel: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966. Kilcher, Andreas: mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003. Maar, Michael: „Lemm, Wobser, vor allem Klomm“, in: Anfang und vorläufiges Ende. 91 Ansichten über den Schriftsteller Ror Wolf, Frankfurt a.M. 1992, S. 221-224. Metken, Günter: „Surrealismus“, in: Argan, Giulio Carlo (Hrsg): Die Kunst des 20. Jahrhunderts 1880-1940. Sonderausgabe der Propyläen Kunstgeschichte, 1-12 Bde. , Berlin 1990, S. 239-255. Nüchtern, Klaus: „Weitere Ansichten“, in: Anfang und vorläufiges Ende. 91 Ansichten über den Schriftsteller Ror Wolf, Frankfurt a.M. 1992, S. 225226. Richter, Hans: DADA – Kunst und Antikunst. Der Beitrag Dadas zur Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 1978 (zuerst 1964). Spies, Werner: Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch, Köln 42003. Starobinski, Jean: „Freud, Breton, Myers“, in: Bürger, Peter (Hrsg.): Wege der Forschung: Surrealismus, Darmstadt 1982. Welsch, Wolfgang: Zur Aktualität des Ästhetischen, München 1993. Wolf, Ror: Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille, Frankfurt a.M. 2005. Wolf, Ror: Raoul Tranchirers Taschenkosmos, Berlin 2005. Wolf, Ror: Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt, Frankfurt a.M. 1999.
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Wolf, Ror: Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose, Frankfurt a.M. 1997. Wolf, Ror: Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens, Gießen 1994. Wolf, Ror: Anfang & vorläufiges Ende. 91 Ansichten über den Schriftsteller Ror Wolf, Frankfurt a.M. 1992. Wolf, Ror: Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle, Gießen 1990. Wolf, Ror: Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt, Gießen 1983.
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Andreas Puff-Trojan
Rolle rückwärts (Frühromantik)/Rolle vorwärts (Freischwebendes) Zur Aktualität des Surrealismus Genüsslich berichtet der Biograph Mark Polizzotti, wie der Surrealistenführer André Breton – ein großer Sammler von Kultgegenständen sogenannter „primitiver Kunst“ – die Schuld für die Schreibhemmung beim Verfassen von L’art magique dem negativen Zauber einer seiner Voodoo-Puppen zuschrieb.1 Das ist ohne Ironie gesagt, ebenso wie Bretons Interesse für urzeitliche Höhlenmalerei und seine späte Hinwendung zur keltischen Kunst und Riten eine ernste Sache waren. Schließlich sind Bretons surrealistische Forschungen hinsichtlich Magie, Alchimie, ekstatischer Wahnsinn und Okkultismus nicht zu leugnen – auch wenn sie mit unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichem Erkenntnisgewinn von statten gingen. André Breton, dem einstigen Medizinstudenten, der im Weltkrieg auch mit psychischen Krankheitsbildern von Soldaten konfrontiert wurde, wird daher die Vorstellung, dass Kunst auch mit dem Blick auf das Fremde, im Sinne eines Schauens ins Unbekannte und (noch) Unbenannte zu tun habe, nicht fremd gewesen sein. Gleich zu Beginn des Ersten Surrealistischen Manifestes geht es um das Unglück des sogenannten realen Lebens in der Lebenswelt, in der auch Breton zu existieren hat. Breton zieht in der Folge explizit gegen Rationalismus und Positivismus, gegen die Herrschaft der Logik zu Felde. Und er beruft sich dabei auf Sigmund Freud und auf die literarischen Bildkonzeptionen derjenigen Autoren, die im Umfeld oder in der Tradition der Romantik agieren. Breton konfrontiert den „type humain formé“ seiner Epoche, den geformten Menschen, der bloß eine Bauernfigur auf dem großen Schachbrett des Positivismus abgibt, mit dem „grand Mystère“, der Vereinigung von Traum und Wirklichkeit in der Surrealität. Und er definiert den Surrealismus als enzyklopädischen Eintrag folgendermaßen: Le surréalisme repose sur la croyance à la réalité supérieure de certaines formes d’associations négligées jusqu’à lui, à la toutepuissance du rêve, au jeu désinteressé de la pensée. Il tend à ruiner
1
Polizzotti: Revolution des Geistes, S. 847, 862.
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définitivement tous les autres mécanismes psychiques et à substituer à eux dans la résolution des principaux problèmes de la vie.2 Hier, an dieser Stelle des Manifests, wird die Kunstkonzeption des Surrealismus als etwas beschrieben, das eben Kunst und Leben nicht als getrennte Bereiche akzeptiert. Und wenn Breton im Umfeld jener Definition des Surrealismus vom „grand Mystère“ des Wunderbaren und des Phantastischen spricht, so deutet er zugleich eine Aura an, die den surrealistischen Kunstgegenstand umgeben soll – gleich, ob es sich dabei um eine Zeichnung, ein Tafelbild, ein Gedicht oder einen Prosatext handelt. Was Breton sucht, das ist eigentlich der auratisch unverbrauchte Gegenstand. Und er findet ihn unmittelbar in seiner eigenen alltäglichen Umgebung, das heißt außerhalb der Kirchen und außerhalb der Museen. Diese trouvaille, diese Findung, die eben keine Er-Findung ist, beschreibt Breton ausführlich in seinem Prosatext L’amour fou. In dieser essayistischen Prosa wird über viele Dinge gesprochen, über Bildende Kunst, über Literatur, über die Romantiker, über die Liebe und über die Schönheit. Als Breton im Text zum ersten Mal von der „konvulsivischen Schönheit“ spricht, sagt er, man müsse sich einen Gegenstand in seinem wechselseitigen Verhältnis von Ruhe und Bewegung vorstellen. Breton bietet seinen Lesern folgendes Beispiel: Je regrette de n’avoir pu fournir, comme complément à l’illustration de ce texte, la photographie d’une locomotive de grande allure qui eût été abandonné durant des années au délire de la forêt vierge.3 Und Breton gesteht, dass ihn dieses Bild mit seinem „aspect sûrement magique“ in eine eigenartige Erregung versetze, welche genau in die Richtung zeige, wo es die „konvulsivische Schönheit“ zu entdecken gilt. Nimmt man die zwei Bildelemente „Lokomotive“ und „Urwald“ und das Aufeinandertreffen der beiden im gemeinsamen Bild, dann ist man nicht weit entfernt von der Beschreibung der surrealistischen Metapher, wie sie Breton im Ersten Surrealistischen Manifest geliefert hat: Erst die große Entfernung der beiden Bildbereiche voneinander erzeugt das assoziative Licht des Gesamtbildes, jene „beauté de l’étincelle obtenue“.4 Doch in L’amour fou handelt es sich nicht primär um ein sprachliches Bild oder um eine Fotografie, die mehrere Bildelemente festsetzt. Es geht Breton tatsächlich um die Bewegung des Aufeinandertreffens zweier Objekte. Stellen wir uns einmal vor, Breton hätte seine Idee realisieren können. 2
Breton: Manifestes du surréalisme, S. 36.
3
Breton: L’amour fou, S. 15.
4
Bréton: Manifestes du surréalisme, S. 48f.
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Eine ausgediente Lokomotive wird in die Umgebung eines Urwaldes gestellt. Breton mit einem Fotoapparat oder mit einer Videokamera bewaffnet beobachtet den Vorgang mehrere Wochen oder gar Monate lang. Was er mit seiner Dokumentation schließlich künstlerisch beschreiben könnte, wäre die Umkehrung der für unser Alltagsbewusstsein gewohnten Vorstellung: Die Lokomotive, die man eindeutig mit Bewegung assoziiert, steht still, die Natur, deren Fortschreiten, deren Wachstum wir selten in allen minuziösen Details wahrnehmen, beginnt die Lokomotive langsam, aber sicher zu umschlingen, macht sie schließlich zu einem Teil ihrer selbst. Man muss hier eines sagen: Das Kunstkonzept, das Breton hier als Idee vorführt, hat es in den 1930er Jahren gar nicht gegeben. Ein Objekt- und Konzeptkünstler wie Wolf Vostell, der viel mit Autos und Autowracks gearbeitet hat, hätte an Bretons Idee sicher seine Freude gehabt. Aber erst 1997 auf der Documenta X realisierte der Künstler Lois Weinberger ein Breton sehr ähnliches Konzept: Er pflanzte auf der Gleisanlage neben dem Bahnhofsgebäude sich schnell und großflächig verbreiternde Gewächse, die für den DocumentaBesucher sichtbar die Bahngleise zu überwuchern drohten.5 Somit kann man André Breton als eine Art Ahnherrn der Concept Art ansehen. Die Dramaturgie dieses „Concepts“ führt aber eben zu einem anderen Ergebnis, wie es sich normalerweise für den Betrachter darstellt. Die Natur, die kaum sichtbar wächst und an sich still zu stehen scheint, überwuchert das, was an sich Bild für die Bewegung in der Moderne ist, Lokomotive und Gleisanlage. So lernt der Betrachter, unter geänderten Bedingungen andere, aber durchaus „richtige“ Schlüsse zu ziehen. Man könnte auch sagen: Er schließt vom Bekannten aufs Unbekannte. Die wohl berühmteste Szene in L’amour fou ist folgende: In Begleitung des Malers und Bildhauers Alberto Giacometti unternimmt André Breton einen Ausflug auf den Pariser Flohmarkt. Beide sind sie offen für die trouvaille, ja geradezu begierig, auf ein objet trouvé zu treffen. Das hat seine Gründe. Giacometti arbeitet gerade an einer weiblichen Skulptur und kommt bei der Gesichtspartie nicht weiter. Breton geht das aus dem Traumbereich stammende Satzfragment „le cendrier Cendrillon“/„der Aschenbecher Aschenputtel“ nicht aus dem Kopf. Und so hat er den befreundeten Bildhauer gebeten, ihm einen kleinen Pantoffel zu modellieren, um ihn – einmal in Glas gegossen – als Aschenbecher zu verwenden. Giacometti kommt allerdings der Bitte nicht nach. So tragen beide einen Wunsch mit sich herum, der sich momentan nicht realisieren lässt und den sie voll Begierde auf andere Gegenstände kanalisieren. Mit Sigmund Freud im Handgepäck betreten die beiden den marché aux puces. Für den Leser nicht wirklich erstaunlich kommt es nach längerem Hin und 5
Vgl.: Die documenta X, S. 108f.
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Her tatsächlich zur Findung zweier Gegenstände: Der eine ist eine Maske, die der Maler ersteigert. Und Breton wird sich in seinem Text sehr beeilen, die hilfreiche, fast heilende Funktion dieses Gegenstands anzuführen: Gleichsam wie durch Traumeshand gelingt es Giacometti, in der Anwesenheit und durch den An-Blick der Maske hindurch das Gesicht jener weiblichen Skulptur zu realisieren. Bretons gefundener Gegenstand wiederum ist ein größerer Holzlöffel bäuerlicher Fertigung. Wieder allein fällt es Breton bei der Betrachtung dieses Objekts wie Schuppen von den Augen: Der Löffel hat die Struktur eines Schuhs – eines Pantoffels, wie ihn Aschenputtel trug. Bretons Wunsch ist also in Erfüllung gegangen! Aber das ist beileibe nicht alles. Mit der Zeit erfährt der Löffel eine immer intensiver werdende assoziative Bewegung, die ins Unbekannte führt. Da ist einmal die Assoziation zu Aschenputtels Pantoffel. Der lange Stiel von Bretons erstandenem Löffel läuft in einem kleinen Damenhalbstiefel aus. Das ist das sichtbar Besondere an ihm. Der Löffel lässt auch an die vielen Küchengeräte denken, die Aschenputtel bei ihren häuslichen Tätigkeiten verwendet. Außerdem spaltet sich der Holzlöffel für den Kenner des Märchens in die Holzpantoffel auf, die Aschenputtel während ihrer Dienste als Hausmagd anhat, und die aus Seide und mit Silber bestickten Pantoffeln, die Aschenputtel auf dem Fest für den zu vermählenden Prinzen trägt. Die Assoziationen verdichten sich dadurch, dass Bretons gefundener Gegenstand, der Holzlöffel, als Festpantoffel Aschenputtels, die Form des objet perdu annimmt, da ja Aschenputtel ihren Schuh durch die List des Prinzen verliert. Aber durch den verlorenen Schuh findet der Prinz im Märchen die Trägerin wieder. Es geht also um eine Pendelbewegung von objet perdu und objet trouvé, wobei Breton die Szene, als der Prinz Aschenputtel den Pantoffel anprobieren lässt und er ihr als einziger passt, als sexuelles Hintergrundmotiv des Märchens deutet. Aber genau durch diese Deutung wird (fast) die ganze Assoziationsdichte und das Analogieverhältnis, also die Magie der Umstände der konvulsivischen Schönheit offenbar. Bretons gesamtes Analogiefeld lautet: „le cendrier Cendrillon“/„der Aschenbecher Aschenputtel“ – Pantoffel – Penis. Da Bretons am Flohmarkt erstandener Gegenstand – so wie er in L’amour fou abgebildet ist – auch die Form eines archaischen Kultgegenstandes in sich trägt, der auf sexuelle Riten verweisen könnte, und da die Analogie von Löffel und Pantoffel in eine fast schon klassisch zu nennenden psychoanalytischen Märcheninterpretation mündet, verwandelt sich der an sich konnotative Inhalt von Bretons Sprach-Bildern mehr und mehr in eine denotative Information. Was Breton hier schildert, ist ein persönliches „Erlebnis“, aber es zielt völlig zu Recht auf etwas Allgemeines, Generelles – allerdings auf etwas Allgemeines und Generelles, mit dem niemand gerechnet hat!
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Man muss hier eines festhalten. Was Breton anhand seines Fundgegenstands „Löffel“ beschreibt, ist nicht mit dem auf Saussure zurückgehenden Zeichenmodell von signifié und signifiant ausreichend beschreibbar. Es ist vielmehr eine permanente Verschiebung von sprachlichen Zeichen, also von signifié und signifiant – und Gegenständen. Breton macht hier Ernst mit der Ansicht, dass die konvulsivische Schönheit und ihr (Kunst-)Objekt stets in Bewegung sind, wie es bei dem Bild der vom Urwald umgebenen Lokomotive schon sichtbar wurde. Was Breton hier in L’amour fou beschreibt und erzählt, ist das persönliches „Erlebnis“, gesehen als Fallstudie für ein Konzept hinsichtlich der Wahrnehmung der Dinge – hin in Richtung der Erforschung des Unbekannten. André Bretons „konvulsivische Schönheit“ ist eine Kunst in steter Bewegung, ihr Kunst-Objekt ergibt ein vielschichtiges Netz von Assoziationen und Analogien, von dem man nicht weiß, wann und vom wem es zu Ende gewoben wird – und ob es überhaupt zu Ende zu weben ist! Kehren wir nochmals zu Bretons Erstem Surrealistischen Manifest zurück und auch zu seiner Definition des Surrealismus. Den zweiten Teil haben wir schon zitiert, somit folgt hier der erste Teil: Automatisme psychique pur par lequel on se propose d’exprimer, soit verbalement, soit par écrit, soit de toute autre marnière, le fonctionnement réel de la pensée. Dictée de la pensée, en absence de tout contrôle excercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale.6 Was an dieser Definition erstaunt – denn Breton will definieren („Je le définis donc une fois pour toutes“) – , ist der Umstand, dass in den seltensten Fällen jemand erstaunt ist, dass Breton eine Definition der surrealistischen Bewegung liefert. In den verschiedenen Avantgardebewegungen um den Ersten Weltkrieg gibt es eine Vielzahl von Manifesten und Proklamationen, aber keine Definitionen. Eine Definition ist per se dem Ordo-Gedanken der Wissenschaftspraxis unterworfen, sei es der der Natur- oder der der Geisteswissenschaften. Meint es Breton ironisch? Nun, der Text der Definition lädt nicht gerade zu einer solchen Vermutung ein. Weswegen also der Kunstgriff zur Definition? Vertagen wir erst einmal eine Antwort und tun so, als ob wir sehr genaue Leser von Bretons Manifesten seien. Dann würde uns vielleicht nicht entgehen, dass Breton von Zeit zu Zeit den Namen Novalis fallen lässt – und zwar meist in der Form, dass Breton einen Gedanken des Romantikers zitiert. In den Entretiens taucht Novalis ebenfalls mehrfach auf, an einer Stelle meint Breton, dass die poetisch-philosophischen Überlegungen Novalis’ ihre Erfül6
Breton: Manifestes du surréalisme, S. 36.
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lung im Surrealismus gefunden hätten. Und im Artikel „Sur l’art magique“ wird Novalis für Breton zum ausgezeichneten Gewährsmann, dem es gelungen sei, Philosophie, Poesie und Magie miteinander zu vereinen. Für Bretons Biographen Mark Polizzotti liegen die Dinge noch eindeutiger: Da Breton bereits in der Schule mit den Schriften der Romantiker, vor allem mit denen des Novalis in Berührung gekommen ist, sei damit der Weg des Surrealismus schon vorgezeichnet.7 Wie immer es um die Deutschkenntnisse Bretons bestellt gewesen sein mag, ein Blick auf einige Begriffe seines Ersten Surrealistischen Manifests im Vergleich zu den Gedanken des Novalis macht so manches deutlich. Zum Begriffs(um)feld „l’art magique“ notiert Novalis: „Alle Romane, wo wahre Liebe vorkommt, sind Märchen – magische Begebenheiten.“8 Zu Märchen, bzw. „contes encore presque bleus“, heißt es bei Novalis: Das ächte Märchen muß zugleich Prophetische Darstellung – idealische Darstellung – absolut nothwendige Darstellung seyn. Der ächte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft.9 Zum bretonschen Prinzip der Ideenassoziation („principe d’associations des idées“) ist folgender Eintrag zu finden: Der Poët braucht Dinge und Worte, wie Tasten und die ganze Poësie beruht auf thätiger Idéenassociation – auf selbstthätiger, absichtlicher, idealischer Zufallproduktion – (zufällige – freye Catenation.) (Casuïstik – Fatum. Casuation.) (Spiel.)10 Und für den Bereich „Traum“ seien bloß zwei Überlegungen des Novalis genannt: Denken – empfinden – Schließen – urtheilen – Fantasiren, sehn etc. sind Eine Operation – nur nach den Gegenständen oder der Direction verschieden. […] Unser Leben ist ein Traum heißt soviel, als unser Leben ist ein Gedanke. […] Unser Leben ist kein Traum – aber es soll und wird vielleicht einer werden.11
7
Breton: Entretiens, S. 282 sowie ders.: „Sur l’art magique“, S.143; Polizzotti: Revolution des Geistes, S. 21.
8
Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe, S. 487.
9
Ebd., S. 514.
10 Ebd., S. 692. 11 Ebd., S. 448, 515.
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Und als Conclusio des Gesagten lässt sich vielleicht angeben: „Unser Geist ist ein Verbindungsglied des völlig Ungleichen.“12 Die Frühromantiker, allen voran die Brüder Schlegel und Novalis, waren Kinder der französischen Revolution, der aufkommenden Naturwissenschaften und der in Deutschland langsam voranschreitenden Industrialisierung (und Nationalisierung). Novalis studierte Jura, Mathematik und Philosophie. 1796 wurde er ordentlicher kursächsischer Salinenbeamter und studierte ab 1779 an der Bergakademie Freiberg zusätzlich Bergwerkskunde, Chemie, Physik. Novalis war einerseits naturwissenschaftlich orientiert, andererseits versuchte er, dem Wunderbaren und Traumhaften Bedeutung zu geben, dabei auch die Natur als natura naturans einzubeziehen. Novalis und die anderen Frühromantiker lebten in einer Zeit, die sehr viel Unbekanntes in politischer, gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und daher auch in künstlerischer Hinsicht mit sich brachte. Dies vor Augen ist die Definition, die Novalis von der Romantik gibt, einsehbar: Romantisieren ist nichts, als qualitative Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es.13 Umgekehrt soll das „Unbekannte“, das „Mystische“ einen geläufigen Anschein erhalten. Es geht also um „Wechselerhöhung und Erniedrigung“.14 Das ist eine ähnliche Definition, wie sie Breton für den Surrealismus gegeben hat, weniger dem Inhalt nach, sondern der Form: Wissenschaftlichkeit wird evoziert, wo es darum geht, ein neues und (noch) unbestimmtes Terrain auszumachen. Novalis nennt seine poetisch-philosophisch-wissenschaftlichen Untersuchungen „Encyklopaedistik“ und „Analogistik“. Durch Ideenassoziationen stehen die verschiedensten Gebiete untereinander in Verbindung. Es ist das menschliche Subjekt, das diese Verbindungen herstellt, es selbst ist aber nicht Mittelpunkt der Verknüpfungen, sondern taucht in diesen unendlichen Verknüpfungen immer wieder auf und siedelt sich an der Peripherie des Denkens an. Die „Encyclopaedistik“ des Novalis ist eine „analogische Analysis“, das
12 Ebd., S. 705. 13 Ebd., S. 334. 14 Ebd., S. 334.
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heißt, es die „Kunst aus bekannten das Unbekannte zu finden“15. Doch genau diese Stoßrichtung – um nicht Forschungsrichtung zu sagen – hat André Breton selbst vorgeschlagen, oder doch vor Augen gehabt, wenn er vom „grand Mystère“, von der „croyance à la réalité supérieure“, wenn er von „trouvaille“ und „objet trouvé“, von „béauté convulsive“ spricht. Er schließt, ja wartet auf das Unbekannte während der Exerzitien der „écriture automatique“. Und er lässt den Assoziationen und Analogien freien Lauf, wenn es darum geht, das Unbekannte an der Begrifflichkeit von „le cendrier Cendrillon“ offenbar zu machen. Aus dem Bekannten auf das Unbekannte zu schließen, ist ein zentraler Punkt surrealistischer „Kunst-Wissenschaft“. Nun mag man meinen, dass in einer Informationsgesellschaft mit Datenhighways das Schließen von Bekanntem auf Unbekanntes eine fruchtlose Sache sei. Wer aber so denkt, der denkt, dass wir noch in einer Informationsgesellschaft leben. Für den Soziologen und Philosophen Dirk Baecker ist die Gesellschaft des Buchdrucks, des gedruckten Wortes, Informationsgesellschaft – die heute auch das world wide web dominiert. Es ist die Kommunikation mit dem Abwesenden – sei es ein Buchautor oder jemand, der gerade einen Wikipedia-Eintrag verbessert hat. In Baeckers Studien zur nächsten Gesellschaft ist eben diese nächste Gesellschaft damit beschäftigt, die unzähligen Informationen, die eben nicht mehr einem bestimmbaren Gesellschaftstyp angehören und daher nicht einem bestimmbaren „Unbekannten“ zugeordnet werden können, zu kontrollieren. Und zwar so: Handelt es sich um eine Information oder um gar eine Falschinformation? – Wenn ja, für wen oder für welches Umfeld ist sie richtig oder auch falsch? Kann ich mit der Information auf das schließen, wo ich hin will? Die wichtigste Frage lautet: Wohin will ich? Genau dasselbe Szenario ergibt sich, wenn transnationale Organisationen, etwa ein weltweit agierendes Unternehmen für Milchprodukte, das Rote Kreuz und eine Unterorganisation der UNO für Flüchtlingskinder in Zentralafrika, die auch die Koordination mit den nationalen und örtlichen Stellen übernimmt, miteinander zu kommunizieren, sprich, effizient zu agieren haben. Die Informationsgesellschaft tut so, als ob sie genügend sichere Informationen bereitstellen könnte, die das effiziente Handeln aller Teilnehmer garantiert. Die nächste Gesellschaft rechnet nicht mehr mit solch glücklichen Tagen. Wenn das jetzige Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Benedikt XVI., auf den Dialog aller Weltreligionen drängt und ihm womöglich eine Art „Weltreligion“ (natürlich unter katholischem Zepter) vorschwebt, dann ist er gedanklich weiter als so mancher Unternehmensführer. Denn zu glauben, das Eindringen der chinesischen und indischen Kultur in unseren Wirtschafts- und Kulturkreis bliebe folgenlos, ist absurd. Noch absurder wäre es aber zu behaupten, man 15 Ebd., S. 491.
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könne die Auswirkungen dieses Phänomens irgendwie berechnen. Allerdings, es kommt noch besser. Anders als die Informationsgesellschaft, die die Annehmlichkeiten des PC’s feiert, erkennt die neue Gesellschaft den damit verbundenen Paradigmenwechsel. Bei computergesteuerter Kommunikation und Informationsgewinnung kommuniziert der Rechner mit, und zwar folgendermaßen: Er liefert durch gespeicherte Informationen und durch halbwegs intelligente Befehle von Seiten der Menschen Ergebnisse, sprich neue Informationen. Nur, auf welchen algorithmischen Wegen, in welchen Schritten, er dies gewonnen hat, kann niemand mehr nachvollziehen. Somit müssen wir in computergesteuerter Kommunikation immer einen unbekannten Faktor, das Unbekannte mit einrechnen, das die Kommunikation mitbestimmt. Für Dirk Baecker bedarf es daher einer neuen „Ordnungsfigur“, und die sei am besten durch den britischen Mathematiker George Spencer-Brown und seine Idee der Form repräsentiert, so wie dieser sie in seinem Buch Laws of Form (erstmals 1969) niedergelegt hat. – Dirk Baecker erläutert: Er stellt sich die Form als eine Unterscheidung mit zwei Seiten vor, deren eine etwas Bestimmtes markiert und deren andere das Unbestimmte mitführt. Nur so kann man sich Rechenvorgänge, Algorithmen, Kalküle vorstellen, die zu Ergebnissen kommen, dabei jedoch den Gedanken mitlaufen lassen, dass die Herkunft des Ergebnisses unbekannt und der Rechenvorgang freischwebend ist.16 Dieses Unbekannte und Unbestimmte muss so in jedem Rechenprozess, aber auch in jedem zukünftigen Arbeitsschritt in einem Unternehmen oder einer Organisation als Stelle der Operation markiert sein. Und nach Dirk Baecker schließt man bei solchen Operationen eher assoziativ vom Bekannten auf das Unbekannte als im Glauben, ich könnte dieses Unbekannte etwa durch Faktoren der Wahrscheinlichkeitsrechnung berechenbarer machen. Was bedeutet das alles für die Kunst, für das Leben, für die Aktualität des Surrealismus (und der frühen Romantik)? Nun, wenn Gregor Schuhen in seinem Beitrag auf die Ähnlichkeit der Kreuzesmotivik bei Popstar Madonna und Salvador Dalí verweist, so ist das doppelt bedeutsam. Erstens zeigt es, dass surrealistische Bildmotive eine hohe Relevanz für die Popkultur haben können. Damit wird einer völligen Musealisierung der surrealistischen Kunst ein Riegel vorgeschoben. Zweitens zeigt das Beispiel, dass wir uns in der Postmoderne und noch nicht in Dirk Baeckers „nächster Gesellschaft“ befinden. Denn Madonna zitiert in ihrer Popshow das Bildmotiv des Kreuzes in Rekurs auf Salvador Dalí. Ein gewichtiges Kennzeichen postmoderner Kunst- und
16 Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft, S. 18.
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Weltanschauung ist die Re- und Neukombination vorhandener und überlieferter Ideen, von Bildelementen, Stilen und erzählten Inhalten zu neuen Gebilden. Zitat, Montage und Collage sind zwar auch bekannte Strategien der Moderne (und des Surrealismus, wenn man etwa an Raymond Queneaus Roman Les fleurs bleues denkt oder an Max Ernsts Collagearbeiten wie Une semaine de bonté), aber durch neue Kommunikationswege und Medien wird die Welt zu einem Datenhighway, zu einem erträumten multimedialen Archiv (so wie die Moderne zu Zeiten von einer immensen Bibliothek träumte). Und der Vorwurf des Eklektizismus, dem man postmodernen Denkern gerne macht, trifft nicht wirklich die Sachlage. Denn jenes Archiv, das sämtliche tradierte Ideen, Bilder, Stile und Erzählungen speichert und abbrufbar hält und durch den Einfluss aufstrebender Kulturen wie China und Indien enorm erweitert wird, strebt in seiner Kombinationsvielfalt und -möglichkeit gegen unendlich. Dennoch verschweigen postmoderne Denker gerne zwei Sachlagen. Zum einen befinden wir uns in der Postmoderne in einem geschlossenen Raum, agieren also nicht in einem offenen System. Das Archiv ist zwar in seiner Kombinationsvielfalt unabschließbar, zugleich ist es ein Raum, innerhalb dessen Grenzen jede Bewegung in der Kombinatorik stattfindet. Mengentheoretisch würde man dieses Archiv als eine unabzählbar abzählbare Menge von Symbolen bezeichnen. Man könnte sagen, dieses Archiv ähnelt strukturell der Menge „n + 1“, wobei „n“ die Menge der natürlichen Zahlen darstellt und „n“ größer gleich Null ist. Schlicht gesagt, dem Archiv geht eines ab: Es ist das Neue, das Freischwebende, das Unbestimmte und Unbekannte, ja, das Utopische. Nun zieht gerade die Postmoderne gegen die „große Erzählung“ zu Felde, die Aufklärung, Idealismus und Historizismus auszeichnen soll. Es bleibt aber die Frage, ob nun die Postmoderne, die einzig auf das Archiv und die Kombinatorik vorhandener und tradierter Elemente setzt, selbst jener „großen Erzählung“ entkommt, in dem Sinne, dass sie ein einziges (allerdings nicht abzuschließendes) Bild- und Textgewebe weiter und weiter spinnt. Zum anderen schweigt sich die Postmoderne zu einem Thema gerne aus. Die Sektoren in der industrialisierten Welt, die sich weiterhin in der Moderne befinden und aggressiver als je zuvor das Neue, Unbekannte, ja, teilweise das Utopische im Blick haben, sind Technik und Medizin (Biogenetik). Ob nun intelligente Waffensysteme im All stationiert werden, ob in Japan bereits Robotor Kinder im Kindergarten beaufsichtigen oder ob die Medizin das Altern des Menschen tatsächlich so radikal verändern kann, dass dabei eine durchschnittliche Lebensdauer von 120 Jahren herausspringt, all das mag so nicht eintreffen, aber die Utopie, die hier anvisiert ist, hat ihre Bezugsgröße in der Realität. Dem gegenüber steht die postmoderne Kunst sprichwörtlich wie das Kaninchen vor der Schlange – sie ängstigt sich und schweigt. Es handelt sich dabei um ein sehr beredtes Schweigen, denn es wird wie am Fließband produziert. Die Krise
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der Popkultur und der Musikindustrie beruht nicht allein darauf, dass viele Menschen Songs umsonst downloaden, sondern dass das Musikgeschäft zu einer riesigen Reproduktionsmaschinerie geworden ist, innerhalb derer ein Techno-Stück mit Schönberg-Variationen gespickt oder ganz einfach wieder im Stil der Beatles oder alter Hardrock-Haudegen komponiert werden kann. Und genau deswegen, falls die Prognosen von Dirk Baecker zutreffen, hat Kunst, die sich innerhalb der Mauern der Postmoderne wohl fühlt, für die nächste Gesellschaft nur noch wenig Relevanz – es sei denn als schöner Schein, der das Eintreffen des Unbestimmten und Unbekannten scheinbar endlos hinauszögert. Man muss natürlich sagen, dass Jean-François Lyotard in seiner Schrift La condition postmoderne äußerst vorsichtig Trennungen vollzieht und keineswegs die Verbindungen zur Moderne durchtrennt. Auch haben sich Denker wie Michel Foucault und Jacques Derrida nicht wirklich von der Moderne gelöst – und sind zum Teil ins Unbekannte aufgebrochen (man denke etwa an Derridas kleine Schrift De l’esprit). Umgekehrt kann man nicht sagen, dass AvantgardeGruppierungen wie expressionistische Wortkunst, Dada oder Futuristen per se das Unbestimmte und Unbekannte fest im Blick hatten. Die Dadaisten haben es vielleicht an der Peripherie ihrer Aktionen wahrgenommen und die Futuristen wussten schon immer, wo das Neue in der Moderne zu finden sei (und gingen so in die faschistische Irre). Es ist das Verdienst der Surrealisten, diese Blickrichtung ins Zentrum des künstlerischen Geschehens gerückt zu haben. Und deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass ihnen die Frühromantik nahe stand. Wer allerdings vom Bekannten auf das Unbekannte schließt, wer in jeder Gleichung das Bestimmte (also das Bestimmbare!) markiert und zugleich das Unbestimmte mitführt, wer also ohne „Analogistik“ nicht auskommt, der befindet sich auch immer an der Grenze des Verschwindens. Jean Baudrillard hat in seiner letzten Schrift Pourquoi tout n’a-t-il pas déjà disparu? das Verschwinden nochmals beschworen – und das Verschwinden des Menschen an die Herrschaft der Technik, der Maschine und des digitalen Bildes geknüpft. Und doch lässt sich dem gegenüber mit Hegels Begriff des „Aufhebens“ (noch) argumentieren. Eine Kunst, die das Unbestimmte und Unbekannte im Blick hat, wäre eine „freischwebende“. Etwas über dem Boden der Tatsachen und der Reproduktionsmechanismen schwebend würde eine solche Kunst etwa einen Videoclip von Madonna oder ein Tafelbild von Neo Rauch aufheben – es zum Verschwinden bringen, aber so, dass in dieser Bewegung etwas von ihnen aufgehoben bleibt, etwas, das nun selbst als das Bestimmte-Unbestimmte sich dem Unbekannten nicht mehr widersetzt. Diese „freischwebende Kunst“ (sollte man es wagen, von einer „freischwebenden Moderne“ zu sprechen?) entzöge sich allzu leichtem Kommerz, weil sie die höchste Weihe
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der Banalität frei ausspricht: Noch ist nicht alles verschwunden, noch ist vieles bestimmt-unbestimmt.
Literaturverzeichnis Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007. Breton, André: L’amour fou, Paris 2003. Breton, André: Manifestes du surréalisme, Paris 1985. Breton, André: Entretiens, Paris 1973. Breton, André: „Sur l’art magique“, in: Perspective cavalière, Paris 1970. Die documenta X, Kunstforum International, Bd. 138, Ruppichteroth, 1997. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe, hrsg. v. Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel, Bd. 2, München/Wien 1978. Polizzotti, Mark: Revolution des Geistes. Das Leben André Bretons, München/Wien 1996.
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Michael Wetzel
Infra-Realismus Marcel Duchamp und der Surrealismus The ready-made a metaphor No concept just a metaphor Marcel Duchamp’s birth Given his name Saw a fountain in the urinoir The source of this inspiration a woman Figure of speech Lips of almond Lips of cherries Lips on cherries Now that’s surrealist (Bethan Huws)
An einem schönen Sommertag des Juni 1912 sitzt ein trauriger junger Mann im Schnellzug von Paris nach München. Es ist das erste Mal, dass er die Grenzen seines Vaterlandes überschreitet, aber es wird nicht das letzte Mal bleiben. Nach München zieht ihn die Kunst, die in der damaligen Hauptstadt der deutschen Bohème blühte, wobei es weniger der Expressionismus des Blauen Reiters ist, der ihn anzieht, als vielmehr der historische Schatz der Alten Pinakothek, vor allem die Bilder von Lucas Cranach und Albrecht Dürer. Auf Wunsch des Dichters Apollinaire lässt sich unser trauriger junger Mann von einem Photographen in Schwabing porträtieren, wo er ein möbliertes Zimmer gefunden hat. Es ist niemand anderes als Heinrich Hoffmann, der später berühmt werden soll als PR-Manager eines anderen damals in München Zuflucht suchenden Künstlers, nämlich Adolf Hitlers. Unheimlich die Vorstellung, dass unser trauriger junger Mann bei seinen Experimenten mit deutschem Bier im Hofbräukeller auf diesen gestoßen wäre. Aber es waren auch nur wenige Wochen, die er in München verbrachte, und selbst die waren von intensiven Arbeiten an den Zeichnungen von Jungfrauen und Bräuten erfüllt, zu denen ihn die Marien-Bilder der Alten Meister inspirierten. Sein eigenes Ölgemälde, das einen Akt beim Herabsteigen einer Treppe darstellte, war kurz zuvor bei der Ausstellung der unabhängigen Kubisten in Paris abgelehnt worden. Aber nur ein Jahr später sollte dieses Bild in New York einen Skandal auslösen und sei-
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nen Maler zu einer Berühmtheit machen. Kein Wunder also, dass der traurige junge Mann nur drei Jahre später Frankreich verließ und sich am 6. Juni 1915 nach New York einschiffte. Nur ein Jahr später kommt auch der Kunstagent Henri-Pierre Roché dorthin, der in seinen Erinnerungen schreibt: Als ich Marcel Duchamp 1916 in New York im Alter von 29 Jahren getroffen habe, ist er mir wie mit einer Aureole umgeben erschienen – die er für mich fortan bewahrt hat. […] Marcel Duchamp war zu jener Zeit in New York zusammen mit Napoleon und Sarah Bernard der bekannteste Franzose. Er hätte die Wahl gehabt zwischen den Töchtern der reichsten Männer, aber nein, er zog es vor, Schach zu spielen und für seinen Lebensunterhalt Französischunterricht für zwei Dollar die Stunde zu geben. Er war ein Rätsel, verstieß gegen alle Gewohnheiten und zog doch alle Herzen an.1 Marcel Duchamp, der am 28. Juli 1887 in Blainville nahe Rouen geborene Sohn eines angesehenen normannischen Notars war das enfant terrible der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Kunst spielte in seiner Familie eine große Rolle und seine beiden Brüder – Jacques Villon und Raymond Duchamp-Villon – fanden schon früh Anerkennung in den Kreisen der Kubisten.
Abbildung 1: Marcel Duchamp: Akt eine Treppe herabsteigend Nr. 2, 1912, Öl auf Leinwand, 147 × 89,2 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
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Roché: Souvenirs sur Marcel Duchamp, S. 211f. (eig. Übers.; in der Folge werden alle französischen Zitatstellen in eig. Übers. wiedergegeben).
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Auch Marcel versuchte sich die ersten Jahre in dieser stilistischen Richtung, doch – wie gesagt: Sein erstes Meisterwerk, der Akt eine Treppe herabsteigend (vgl. Abb. 1), fiel bei den Gralshütern der neuen Stilrichtung in Ungnade. Dabei hatte er sogar eine innovative Technik entwickelt, die auf den Experimenten der Chronographie basierte. Im 19. Jahrhundert hatte Jules Etienne Marey eine Art von fotografischer Flinte erfunden, die ähnlich wie ein Trommelrevolver funktionierte und es erlaubte, eine große Menge von Aufnahmen hintereinander zu schießen. So konnten Experimente mit schnellen Bewegungsabläufen von Menschen und Tieren gemacht werden, welche die in Bruchteilen von Sekunden wechselnden Stellungen der Glieder nebeneinander festhielten. Duchamp machte sich diese Erfahrung zunutze und versuchte die Bewegung seines die Treppen herabsteigenden Aktes wie bei einer Mehrfachbelichtung in rund zwanzig verschiedenen sich überlagernden Stellungen des gesamten Zeitablaufes festzuhalten. Damit hatte er seine Leidenschaft entdeckt: die Bewegung. Er wollte sie aber nicht wie die Futuristen durch kinetische oder dynamische Momente zum Ausdruck bringen, sondern durch Zeitschnitte, die wie Spuren von der Idee der Bewegung zeugen. Jahre später erklärte er in einem Interview: Mein Ziel war eine statische Darstellung von Bewegung, eine statische Komposition von Anzeichen für verschiedene Stellungen, die eine in Bewegung befindliche Form einnimmt – ohne etwa mittels Malerei Kinoeffekte erzielen zu wollen. Die Reduzierung eines Kopfes, der sich bewegt, auf eine bloße Linie schien mir gerechtfertigt. Eine Form, die sich durch den Raum bewegt, kreuzt beispielsweise eine Linie; und in der weiteren Bewegung tritt dann an die Stelle der gekreuzten Linie eine andere Linie und wieder eine andere und so weiter. Deshalb empfand ich es als gerechtfertigt, eine in Bewegung befindliche Figur auf eine Linie zu reduzieren statt auf ein Skelett. Reduzieren, reduzieren, reduzieren, war mein Gedanke – doch zugleich wandte ich mich nach Innen statt Äußerlichkeiten zu. Und indem ich diese Ansicht weiterverfolgte, kam ich später zu der Ansicht, dass ein Künstler alles verwenden kann – einen Punkt, eine Linie, das konventionellste oder unkonventionellste Symbol –, um zu sagen, was er sagen will.2 Die hier formulierte Einsicht macht deutlich, warum Duchamp zum Vorreiter der modernen Kunst wurde, und zwar einer Moderne, die anders als die klassische Moderne, etwa Picassos, sich nicht mehr über ein Werk definiert, sondern über eine Idee und deren Inszenierung. Duchamp selbst nannte es später ein-
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Duchamp: „Interview mit Sweeny“, S. 37.
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mal „pikturalen Nominalismus“3, das heißt eine künstlerische Praxis, beherrscht von Konzepten und Konzeptionen, wie sie sich später in der so genannten Concept Art etablierte. Damit wurde er aber auch zum wichtigsten Wegbereiter des Surrealismus, dem es im Wesentlichen um eine Grenzüberschreitung der Normen von Logik, Einbildungskraft und Physik ging. Wie den Vorgängern Lewis Carroll mit seinem Nonsens-Wonderland hinter den Spiegeln oder Alfred Jarry mit seiner Pata-Physik war auch Duchamp wenig daran gelegen, eine andere, wirklichere oder gar idealere Wirklichkeit künstlerisch zu eröffnen. Er wollte vielmehr in der bestehenden Welt des Alltäglichen und Banalen Verwirrung stiften, indem er die Nischen und Fugen des Ungewöhnlichen und Unerwarteten auslotete: den verborgenen Hintersinn der Verkehrungen oder des Un-Fugs. Auf diesem Wege entstand auch das lange verborgen gebliebene Konzept des Infra-mince, das als Analysemodell für all die hauchdünnen, paradoxen, unterschwelligen Differenzen, Grenzen, Umstülpungen diente und das seit der erstmaligen öffentlichen Benutzung im Zusammenhang der Umschlaggestaltung der Zeitschrift VieW 1945 (Abb. 2) an die Bildlichkeit des aus einem Hohlraum (einem Mund, einer Flasche) ausströmenden (oder auch wieder, wie bei einem rückwärts laufenden Film, inhalierten) Rauches als Visualisierung künstlerischer Inspiration gebunden wurde.4
Abbildung 2: Marcel Duchamp: Cover der Zeitschrift View. The Modern Magazine. Marcel Duchamp Number, Series V, Nr. 1, New York 1945 3
Duchamp: Du Signe, Écrits, S. 111.
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Vgl. Abb. 2; vgl. dazu das „Interview mit Rougemont“, S. 33.
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Es signalisierte all die unterschiedlichen Formen einer nicht-logischen Differenz, die sich in Reversibilitäten (wie beim Spiegelbild), in ambivalenten Sensibilitäten (von Berühren und Spüren), transparenten Trennungen (wie Glasscheiben), Verdoppelungen (konkaver und konvexer Gussformen oder Abdrucke) wie überhaupt in der Infinitesimalität von Schnitten, Intervallen und Metamorphosen als Möglichkeits-/Virtualitäts-Dimension zum Ausdruck bringt.5 Für die Surrealisten, allen voran André Breton, war dieses Inframince-Konzept und vor allem der Rahmen seiner Präsentation in der Zeitschrift VieW Anlass zu einer Vereinnahmung Duchamps durch die surrealistische Bewegung.6 Insbesondere faszinierte der Clou einer Verbindung all der paradoxen Gegensätze, nämlich durch eine unentscheidbare künstlerische Praxis, eine künstlerische Agency, die sich in neuartiger Weise von der künstlerischen Souveränität des Schöpfens oder einfach nur Machens abwendet und im Wandel ihrer Strategien das Auffächern der Mehrdeutigkeiten und Möglichkeiten von Wirklichkeiten zur Vielschichtigkeit einer Infra-Realität unterhalb der Oberfläche des Sichtbaren bewirkt. Umgekehrt hat sich Duchamp sicherlich bei den Inszenierungsfiguren seiner ‚Künstlerschaft‘ an der Entfesselung der Imaginationskraft durch Dadaismus und Surrealismus orientiert und wahrscheinlich das Inframince-Rauchbild in Anlehnung an den nach Breton „surrealistischsten“ Maler Miró geprägt, für den „der Mund des Rauchers nur ein Teil des Rauches war“7. Und Paul Virilio hat bereits auf die Verwandtschaft dieses Infra-Realismus der unheimlichen Kippfiguren mit dem „Infra-Gewöhnlichen“ auf den Bildern Magrittes hingewiesen, der ebenfalls das Vertraute in neuen Konstellationen zu Nicht-Vetrautem werden lässt.8 Entscheidend ist für Duchamp aber der experimentelle Charakter, der Kunstwerke eigentlich nur noch als Spuren oder Dokumentationen von Versuchsanordnungen versteht, wie sie auch von der Gruppe um Breton in literarischen Versuchen wie der écriture automatique erprobt wurden. Duchamp hat dieses Prinzip in einem anderen Objekt noch deutlicher zum Ausdruck gebracht, den „Drei Normalstopfmaßen“ (vgl. Abb. 3).
5
Vgl. Duchamp: Notes, S. 21-35.
6
Vgl. vor allem Bretons Aufsatz von 1934: „Phare de ‚La Mariée‘“, S. 115-135, der auf Englisch (Lighthouse of the Bride) in der Nr. V von View, S. 6-11, erschien.
7 8
Breton: Le surréalisme et la peinture, S. 63. Vgl. Virilio: Ästhetik des Verschwindens, S. 41.
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Abbildung 3: Marcel Duchamp: Drei Normalstopfmaße, (3 Standard Stoppages), 1913-14, MOMA, New York
Das wahrhaft surreale Experiment bestand darin, drei Fäden von jeweils einem Meter Länge aus einer Höhe von einem Meter auf drei verschiedene Leinwände fallen zu lassen, um darauf die zufälligen, von Fall zu Fall ganz unterschiedlichen Formen zu fixieren. Das Ganze war natürlich nicht ernst gemeint und Duchamp sprach ironisch mit Seitenblick auf Mallarmés „Un coup de dés jamais n’abolira le hasard“ vom „Zufall in der Konserve“9. Das Lächerliche potenzierte sich noch im Ernst, mit dem der Künstler seine Zufallsformen zu Standardmaßen wie das Urmeter in Paris erklärte. Aber worauf es ankommt, ist gerade dieses Hinterfragen der Standardisierung, die Duchamp nicht zuletzt als Errungenschaft der industriellen und informationstheoretischen Revolution des 19. Jahrhunderts mit seiner künstlerischen Inszenierung karikiert. Kunst hält hier der exakten Wissenschaft den Eulenspiegel vor, in dem sie die Willkürlichkeit ihrer angeblich objektiven Entscheidungen erkennen soll. Letztlich wandten sich aber diese ganzen künstlerischen Strategien gegen die Tradition der Malerei oder – wie Duchamp es auch nannte – gegen die retinalen Effekte einer Bildersprache für die Augen.10 Symptomatisch ist der Bericht des Malerkollegen Fernand Léger von einem gemeinsamen Besuch mit Constantin Brancusi der Pariser Luftfahrtsausstellung 1912:
9
Duchamp: Du Signe, Écrits, S. 50.
10 Vgl. das Gespräch mit Sweeny in: Duchamp: Du Signe, Écrits, S. 183: „la peinture ne doit pas être exclusivement visuelle ou rétienne. Elle doit intéresser aussi la matière grise, notre appétit de compréhension.“
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Marcel, der ein trockener, recht undurchdringlicher Typ war, ging um die Motoren und die Propeller herum, ohne ein Wort zu sagen. Plötzlich wandte er sich an Brancusi: ‚Die Malerei ist am Ende. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller? Können Sie es?‘11 Man spürt förmlich, wie Duchamp der Rahmen von Leinwand und Farbe zu eng wird und sein Wille zur Darstellung von Bewegung andere Materialien und Medien sucht. Jahre später hat er Versuche mit den so genannten Rotoreliefs angestellt, Scheiben, auf denen spiralförmig angeordnete Figuren sich dreidimensional ausstülpten, wenn man sie auf Schallplattenspielern in Rotation versetzte. Aber erst mit der Materialität des Glases und dessen Transparenz sollte er seinen Bildträger par excellence finden. Dabei finden sich Experimente mit Glasscheiben schon sehr früh im Schaffen Duchamps: Sein Opus Magnum „Das große Glas“ konnte jedoch als Gesamtkunstwerk erst realisiert werden, nachdem verschiedene über die Malerei hinausgehende Praktiken gefunden wurden wie zum Beispiel die Technik, Linien nicht mehr nur durch Fäden, sondern auch durch Draht zu ersetzen. Doch bevor es zu diesem neuen Kapitel in der Werkgeschichte des Marcel Duchamp kam, bedurfte es erst einmal des einschneidenden Ortswechsels in die Neue Welt. Das einschneidende Ereignis war die legendäre Armory Show 1913 in New York, für die man eine sorgfältige Auswahl europäischer Künstler getroffen und auch Duchamps frühe Werke mit großem Interesse aufgenommen hatte. Wer beschreibt aber die sensationelle Reaktion auf jenen Akt eine Treppe herabsteigend, der einen regelrechten Skandal auslöste. Für die meisten der amerikanischen Besucher war es der Inbegriff europäischer Kunst-Decadence: Die Besucherschlangen stauten sich vor gerade diesem Bild und die Presse überschlug sich in Polemiken. Die Rede war von satirischen Titeln wie: „Explosion in einer Schindelfabrik“ oder „Rushhour in der U-Bahn“, aber alle Schock-Bekundungen konnten nicht verhindern, dass das Bild seinen Käufer fand, der es übrigens später auch nicht an Duchamps Hauptsammler, Walter Arensberg, weiterverkaufen wollte. Duchamp fand hier eine für ihn typische Lösung, indem er eine in Originalgröße angefertigte Schwarzweiß-Photographie des Bildes kolorierte und so ein veritables Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schuf. In Amerika war er auf einen Schlag ein Star. Er kam also als kein Unbekannter dort an, sondern als der Künstler des Aktes eine Treppe herabsteigend als Inbegriff einer avantgardistischen Moderne, die ähnlich misstrauisch beargwöhnt wurde wie in Europa der Dadaismus. Darüber hinaus war Duchamp so11 Zit. in: Tomkins: Marcel Duchamp, S. 164; vgl. Duchamp: Du Signe, Écrits, S. 242.
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gleich darum bemüht, sein Image als skandalumwitterter Bohémien zu pflegen. Ein nicht unbedeutender Schritt in diese Richtung war die Entwicklung einer weiteren neuen künstlerischen Praktik, die er stilgerecht auch durch eine Übersetzung aus dem Französischen ins Amerikanische etablierte: die Erfindung des Ready-made-Kunstwerkes. Das französische Wort für „ready-made“, nämlich der Ausdruck tout-fait, war schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich, um massenhaft gefertigte Konfektionsware oder standardisierte Fertigprodukte gegenüber individuell gearbeiteten Maßanfertigungen (fait sur mésure) abzusetzen. In der französischen Philosophie und Literatur der Jahrhundertwende war der Begriff sogar zum Symbol für schablonenhafte Klischees eines Denkens geworden, das für Individualität, Singularität und damit auch für den Zufall keinen Sinn hat.12 Duchamp führte diesen Begriff nun auch in die Kunst ein, indem er industriell und das heißt seriell gefertigte Waren einfach im Laden kaufte und durch diese zufällige Auswahl, verbunden mit dem Akt des Signierens, zum Kunstwerk erklärte. André Breton definiert im Lexikon des Surrealismus das Ready-made wie folgt: „ein gewöhnliches Objekt, das durch die bloße Auswahl des Künstlers in den Rang eines Kunstwerkes befördert wird“ und Duchamp selbst betont in verschiedenen Interviews immer wieder den nicht-intentionalen und unpersönlichen Charakter dieser Objekte, die auch als Kunstwerke nichts mit einem ästhetischen Geschmacksurteil zu tun haben: Das Merkwürdige beim Ready-made ist, dass ich nie fähig war, zu einer Definition oder Erklärung zu gelangen, die mich voll befriedigt. […] Meine Ready-Mades haben nichts zu tun mit dem objet trouvé, weil das sogenannte ‚gefundene Objekt‘ vollständig vom persönlichen Geschmack gelenkt wird. Der persönliche Geschmack entscheidet, ob dies ein schönes Objekt und einmalig ist. Dass die meisten meiner Ready-mades Massenprodukte waren und dupliziert werden konnten, ist ein weiterer wichtiger Unterschied. In manchen Fällen wurden sie dupliziert, um dadurch den Kult der Einmaligkeit, der großgeschriebenen Kunst, zu vermeiden. Ich erachte den Geschmack – den schlechten und den guten – als den größten Feind der Kunst. Im Falle der Ready-mades versuche ich, mich vom persönlichen Geschmack freizuhalten und mir dieses Problems voll bewusst zu sein. Einen Punkt möchte ich ganz besonders hervorheben, nämlich den, dass die Wahl dieser ‚Ready-mades‘ nie von einer ästhetischen Lust diktiert wurde. Diese Wahl beruhte auf einer Reaktion visueller Indiffe12 Vgl. u.a. Bergson: „Introduction à la métaphysique“, S. 196ff. u. 213ff. sowie Gide: L’immoraliste, S. 124.
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renz, bei einer gleichzeitigen totalen Abwesenheit von gutem oder schlechtem Geschmack. […] Ein weiterer Aspekt des ‚Ready-mades‘ ist sein Mangel an Einmaligkeit […], weil die Replik eines ‚Readymades‘ die gleiche Botschaft übermittelt; in der Tat ist fast keines der heute noch existierenden ‚Ready-mades‘ im herkömmlichen Sinne ein Original.13 Die ersten Ready-mades entstanden noch in der Pariser Zeit, so wie etwa die umgekehrt auf einen Schemel geschraubte Fahrrad-Felge, die allerdings noch nicht als Ready-made bezeichnet wurde, sondern mehr als unterhaltsames Spiel mit den Rotationsbewegungen gedient haben soll. Kurz darauf kaufte Duchamp dann in einem Warenhaus den berühmten Flaschentrockner, ein damals durchaus üblicher gusseiserner Haushaltsgegenstand zum Trocknen ausgewaschener Weinflaschen. Duchamp versah diesen Gebrauchsgegenstand mit einer Inschrift samt Signatur und erklärte ihn zur „schon vorgefertigten Skulptur“. Allerdings ist es ein später erst propagierter Mythos, dass diese Readymades – zu denen sich noch unter anderen eine Schneeschaufel, ein Hutständer oder ein Kleiderhaken gesellten – auch den Weg in Ausstellungen oder ins Museum gefunden hätten. Sie landeten alle irgendwann auf dem Müll und überlebten nur auf Photographien des Ateliers des Künstlers, wo sie allerdings eine wichtige Quelle der Inspiration waren. Erst später, nachdem sich der Ruhm Duchamps als führender Künstler der Avantgarde in der ganzen Welt verbreitet hatte, bat man ihn, Repliken nach den alten Modellen herzustellen, die heute stolze Objekte einer jeden Sammlung moderner Kunst sind. Genauso wenig hatte die autorisierende Signatur etwas mit der Individualität Duchamps zu tun, wie gerade das vielleicht Berüchtigtste zeigt, mit dem Duchamp an der Inszenierung seines Künstlermythos weiterarbeitete: das Urinoir, auch Fontaine genannt (vgl. Abb. 4).
Abbildung 4: Marcel Duchamp: Fountain, Fotografie von Alfred Stieglitz, 1917
13 Duchamp: „Gespräch mit Katharine Kuh“, S. 120, u.: „À propos des „Readymades‘“, S. 191f.
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Nachdem Duchamp in New York das für sein weiteres Leben entscheidende Sammlerehepaar Louise und Walter Arensberg kennen gelernt hatte, beteiligte er sich auch an der von ihnen initiierten Gründung einer Society of Independent Artists, die gerade modernen Künstlern ein demokratisches und vorurteilsfreies Forum für die Präsentation ihrer Arbeiten bieten wollte. Duchamp wurde zum Leiter des für die Hängung zuständigen Komitees ernannt. Sein eigener Beitrag zur ersten Ausstellung bestand darin, dass er bei der Firma Mott Iron Works, einem Hersteller von Klempnerbedarf, ein Porzellan-Urinoir Marke „Bedfordshire“ erstand, das er auf den Rücken legte und am Rand mit schwarzer Farbe als „R. Mutt“ neben der Jahreszahl „1917“ signierte. Entsprechend der Vereinsregel zahlte er für den fiktiven Mr. Mutt aus Philadelphia die sechs Dollar Mitgliedsbeitrag und ließ das Ready-made-Kunstwerk für die Ausstellung anliefern. Der Vorstand war empört und lehnte es ab, dieses glänzende weiße Objekt als Kunstwerk anzuerkennen und auszustellen. Arensberg und Duchamp, der seine Autorschaft an diesem Coup weiterhin geheim hielt, traten daraufhin aus dem Vorstand zurück, das obskure Objekt aber verschwand und es blieb als Spur nur eine Photographie von Alfred Stieglitz. Duchamp aber hatte seinen Skandal und seine diebische Freude. In der mit Freunden zusammen herausgegebenen Zeitschrift The Blind Man publizierte er neben dem Photo von Stieglitz einen Artikel mit dem Titel „Der Fall Richard Mutt“, in dem er sich zum Verteidiger des armen Künstlers aufschwang, um gleichzeitig seine Konzeption des Ready-made als surrealistisches Programm eines nicht-originären, reproduktiven, zölibatär-sterilen künstlerischen Automatismus zu propagieren: Sie sagen, jeder Künstler, der sechs Dollar zahlt, darf ausstellen. Mr. Richard Mutt reichte einen Trinkbrunnen ein. Ohne Diskussion verschwand dieser Gegenstand und wurde überhaupt nicht ausgestellt. Was waren die Gründe für die Ablehnung von Mr. Mutts Trinkbrunnen: – Manche behaupteten, das Stück sei unsittlich, vulgär. Andere, es sei ein Plagiat, ein schlichtes Stück Klempnerbedarf. Nun ist Mr. Mutts Trinkbrunnen nicht unsittlich, das ist absurd, jedenfalls nicht mehr als eine Badewanne unsittlich ist. Es ist ein Zubehör, das man jeden Tag im Schaufenster des Ladens für Klempnerbedarf sieht. Ob Mr. Mutt die Fontaine mit seinen eigenen Händen gemacht hat oder nicht, hat keinerlei Bedeutung. Er hat sie ausgewählt. Er nahm einen gewöhnlichen Gegenstand des alltäglichen Lebens, platzierte ihn so, dass seine nützliche Signifikanz unter dem neuen Titel und Blickwinkel verschwand – schuf einen neuen Gedanken für das Objekt.
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Was die Klempnerei angeht, so ist das absurd. Die einzigen Kunstwerke, die Amerika hervorgebracht hat, sind seine Klempnerei und seine Brücken.14 Mit diesem ironischen Schachzug, einen fiktiven Ready-made-Künstler ins Feld zu führen, um ihn exemplarisch an der doch wieder konservativen Kleingeistigkeit der selbsternannten Vertreter einer unabhängigen und nicht akademischen Kunst scheitern zu lassen, ist es Duchamp gelungen, sein ästhetisches Programm mit einem Schlag publik zu machen. Mit diesem setzte sich ein neues Künstler-Konzept der Moderne im 20. Jahrhundert durch: des Künstlers nicht nur als Experimentator, sondern auch als Inszenator neuer Seh- und Denkweisen im Umgang mit den auch nicht-mehr-schönen GebrauchsDingen dieser Welt, die industriell und seriell als Massenware hergestellt werden. Er ist nicht mehr das Genie, das neue Formen erfindet und schöne Werke schafft, Duchamp will ihn, wie er sagt, „entgöttlichen“, sein Tun banalisieren, indem er ihn wieder auf den vor der Renaissance üblichen Status des „Handwerkers“, des Verfertigers von Bildern herunterholt.15 Aber das ist natürlich auch wieder eine Finte: Denn die Ready-mades sind ja gerade von jeder Dienlichkeit oder Nützlichkeit handwerklicher Erzeugnisse weit entfernt, sie wirken eher, indem sie stören oder verstören. Der neue Künstlertyp ähnelt mehr einem Intellektuellen, dessen Kreativität in Richtung eines geistigen, übersinnlichen Mehrwertes und nicht eines visuellen Genusses geht. Daher auch die vielen humoristischen Anspielungen und Wortwitze in den Titeln der Arbeiten wie etwa bei „Fresh Widow“ (vgl. Abb. 5), ein nach Pariser Vorbild gebautes französisches Fenster, dessen Scheiben Duchamp mit schwarzem Leder abdichtete. Der Titel „Fresh Widow“ lässt sich im Deutschen als „frisch verwitwet“ im Sinne von „Lustiger Witwe“ übersetzen, was den Traueraspekt der verdunkelnden Schwärze mit der Doppeldeutigkeit sexueller Freizügigkeit paart. Aber „Fresh Widow“ ist auch ganz einfach aus der Bezeichnung des französischen Fensters durch Wegstreichen der beiden Buchstaben „n“ in „French Window“ abgeleitet. Zugleich spielt dieses Objekt auch mit der langen malerischen Tradition einer Fensterschau, die hier durch die Abdeckung der Öffnung bewusst negiert wird.
14 Zit. in: Tomkins: Marcel Duchamp, S. 219. 15 Vgl. Duchamp: Gespräch mit Francis Roberts, S. 155 sowie: Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 10f.
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Abbildung 5: Marcel Duchamp: Fresh Widow, 1920, Tate Collection, London
In der folgenden Zeit seines Aufenthalts in Amerika arbeitete Duchamp beharrlich an seinem Mythos oder besser an seiner Mystifikation weiter. Vor allem war ihm daran gelegen, sich als Müßiggänger zu inszenieren und zu betonen, dass er mit dem Malen aufgehört habe und allenfalls noch mit Schachspielen sein Leben friste. Auf die Frage nach seinem Beruf pflegte er sich gern als „Atmer“ zu bezeichnen. Denn das Leben selbst, das in dieser fundamentalen Aktivität des Ein- und Ausatmens zum Ausdruck kommt, war ihm Kunst genug: Ich hätte schon ganz gerne etwas getan, aber ich war im Grund genommen unsagbar faul. Ich lebe lieber, atme lieber, als dass ich arbeite. Und da ich nicht glaube, dass die von mir geleistete Arbeit in Zukunft für die Gesellschaft irgendwie von Bedeutung sein wird, habe ich, wenn Sie so wollen, beschlossen, mein Leben zu meiner Kunst zu machen – die Kunst zu leben zu praktizieren. Jede gelebte Sekunde, jeder Atemzug ist ein Kunstwerk, ein Kunstwerk, das nirgendwo seinen Ausdruck findet, das weder visuell noch zerebral erkennbar ist, das vielmehr eine Art unausgesetzten Hochgefühls darstellt.16 Diese Haltung stimmt auch überein mit der Logik der Ready-mades, die alle Dinge als Fertigprodukte erscheinen ließ. Duchamp praktizierte diese Skepsis gegenüber origineller Neuschöpfung auch in seinem privaten Leben. Er wollte für andere Menschen genauso wenig Verantwortung übernehmen wie für seine ausgewählten Objekte. Das schloss natürlich auch den Gedanken an Ehe oder Familie aus, und nach einer dadaistisch überstürzten Heirat 1927 mit der 16 Cabanne: „Gespräche“, S. 108f.
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Tochter eines Pariser Automobilfabrikanten, die nach wenigen Monaten in eine Scheidung mündete17, heiratete er erst mit 66 eine veritable Ready-madeFamilie in Gestalt von Teeny Matisse, die aus der Ehe mit Pierre Matisse, dem Sohn des berühmten Malers Henri Matisse, drei ‚bereits fertig produzierte‘ Kinder mitbrachte. Anders wäre auch eine Bindung des notorischen und bekennenden Junggesellen Duchamp nicht denkbar gewesen. Der zölibatäre Status war für ihn nämlich auch künstlerisches Programm – ohne dass er ein reges erotisches Leben ausgeschlossen hätte. Aber Frauen waren für ihn nur Selbstbefriedigungsmaschinen, eine Obsession, die immer wieder in seinen Werken auftaucht, vor allem in seinem Hauptwerk, dem Großen Glas mit dem Titel: Die Braut von ihren Junggesellen entblößt, selbst (vgl. Abb. 6).
Abbildung 6: Marcel Duchamp: Die Braut von ihren Junggesellen entblößt, selbst oder Das Große Glas/La mariée mise à nu par ses célibataires, même ou Le Grand Verre, 1915-1923, Öl, Firnis, Bleifolie, Bleidraht, und Staub auf zwei Glasplatten; 277,5 x 175,9 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
17 Vgl. die Erinnerungen der Ex-Braut Lydie Fischer Sarazin-Levassor: Un échec matrimonial.
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Was unter diesem enigmatischen Titel über Jahre hinweg in mühsamer Feinarbeit entstand, ist nicht nur die Summe aller Versuche und Funde Duchamps, sondern zugleich durch die Wahl des Glases als Materialität des Bildträgers das erste Beispiel in der Kunstgeschichte für ein Kunstwerk, das auch den Raum seiner Ausstellung miteinschließt, indem man durch die transparente Oberfläche hindurch zum Beispiel auf seine dahinter stehenden Betrachter blickt. Und bei der Aufstellung im Philadelphia Museum of Art integrierte Duchamp sogar ein veritables Bewegungsmoment ins Bild, indem er es in der Blickachse eines Fensters arrangierte, durch das man auf den Vorplatz des Museums mit einem Springbrunnen, einer Fontaine in der Mitte, schaut. Motivisch kommen in dieser monumentalen Skulptur alle Themen seit der Münchner Zeit zusammen. Schon in der Zweiteilung der Bildfläche in den oberen Bereich der Braut und den unteren der Junggesellen spiegelt sich eine ikonographische Tradition, wie sie Duchamp in der Alten Pinakothek gründlich an Beispielen der Anbetung von Maria, der Mutter Gottes, durch Aposteloder Heiligenfiguren studieren konnte. Die Idee der Braut, die übrigens im Französischen „mariée“ heißt und so schon an den Namen Marias erinnert, ist also schon alt. Zahlreiche Skizzen und auch Ölbilder des frühen Duchamp umkreisen das Faszinosum des Übergangs, der Passage von der Jungfrau zur Ehefrau. Der Brautzustand ist sozusagen der Schwebezustand dazwischen, im Augenblick der Entblößung oder Entpuppung, wenn man die entomologische, das heißt in der Insektenkunde übliche Bedeutung von Braut oder Nymphe als verpuppter Schmetterling noch hinzunimmt. Kein Wunder, dass die in der oberen Hälfte dargestellte Szene oft mit einer Peep-Show verglichen wurde, obwohl die mit Draht und Lack gebildete Figur keinerlei Ähnlichkeit mit weiblichen Konturen aufweist, sondern eher an Maschinenteile oder die Gliedmaßen von Insekten erinnert. Auch die im unteren Teil angeordneten Junggesellen, die mit Hilfe von archaisch mechanischen Maschinen wie einem Wasserrad oder einer Schokoladenreibe ihre in dieser Distanz eindeutig masturbatorischen Liebesbekundungen an die Braut ankurbeln, gleichen Maschinenelementen, beziehungsweise hat Duchamp sie durch Uniformröcke dargestellt, die er einem entsprechenden Warenhauskatalog entnahm. Das ganze Ensemble symbolisiert also eine so genannte Junggesellenmaschine, die das Ritual des erotischen Verlangens zwischen der oben sich entblößenden Braut als Motor und den unten sich im Getriebe abstrampelnden Junggesellen energetisch antreibt und die auch kein fertiges Bild ausmacht, sondern ihre einzelnen Module im freien Zusammenspiel nicht zuletzt in der Imagination des Betrachters ständig in Bewegung halten soll. Im Bereich der surrealistischen Sexualitätskonzeptionen waren die „machines célibataires“ von obsessiver Dominanz, die in der Erstarrung der verpuppten Braut auch ein von Duchamp mit vielen anderen surrealistischen Künstlern wie vor allem Max Ernst geteiltes
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Wunschbild von der sterilen, anti-konjugalen Umwandlung des Liebes- in einen Todesmechanismus propagierte.18 Und diesem Zwecke dient ein weiterer Einfall Duchamps, der nämlich von Anfang an Notizen und Baupläne des Ganzen anfertigte, die in den so genannten „Schachteln“ selbst Teil des Gesamtkunstwerkes sein sollten, indem sie zwischen Text und Bild einen Spannungsbogen aufbauen. In einer dieser Notizen heißt es in der typischen rätselhaften Sprache: Im Allgemeinen, wenn diese Motor-Braut als eine Apotheose der Jungfräulichkeit erscheinen soll, das heißt der unwissende Wunsch, der blanke Wunsch (mit einer Prise Bosheit) und wenn er (graphisch) den Gesetzen des schwerfälligen Gleichgewichts nicht zu gehorchen braucht; so wird, dessen ungeachtet ein Galgen aus glänzendem Metall die Verbundenheit der Unberührten mit ihren Freundinnen und Verwandten vorgeben können (wobei diese und jene graphisch übereinstimmen mit einer soliden Basis, auf festem Grund, wie die Basis aus Mauerwerk der Junggesellenmaschine selber auf festem Grund ruht). Die Braut ist in ihrer Grundlage ein Motor. Aber bevor sie noch ein Motor ist, der seine Schüchternheits-Kraft überträgt, ist sie diese Schüchternheits-Kraft selber. Diese Schüchternheits-Kraft ist eine Art Automobilin, Liebesbenzin, das – verteilt auf die wohl schwachen Zylinder und in der Reichweite der Funken ihres konstanten Lebens, der Entfaltung dieser am Endpunkt ihres Verlangens angekommenen Jungfrau dient.19 Mit dieser Kombination von Mechanik, Dynamik und Geschlechtlichkeit, die an das surrealistische Vorbild Lautréamonts erinnert mit seiner unerwarteten Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch, mit dieser Fusion von Elektrik und Erotik steht Duchamp zwar in der großen Tradition der Männerphantasie von der Automatenfrau, die seit Pygmalion das Abendland heimsucht und gerade zu Duchamps Zeiten durch Filme wie Metropolis (1927) Auftrieb erhielt. Neu ist jedoch die Verknüpfung von künstlerischer Inszenierung und intellektueller Reflexion, die Erweiterung des intuitiven Schauplatzes des Sichtbaren um das diskursive Feld sprachlicher Assoziationen. Und diese Sprengungen der Geschlossenheit des Kunstwerkes auf dem Wege buchstäblicher anagrammatischer Wortspiele gehen noch weiter und eröffnet ein weiteres, genuin surrealistisch zu nennendes Feld: nämlich das einer 18 Vgl. Clair/Szeemann (Hrsg.): Junggesellenmaschinen/Les machines célibataires, sowie Hopkins: Marcel Duchamp and Max Ernst. 19 Duchamp: Du Signe, Écrits, S. 62.
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Indifferenz oder Inversibilität der Geschlechter, wie sie bereits von Freuds These einer konstitutiven Bisexualität des Menschen nahe gelegt wurde. Ab 1920 erfindet Duchamp einen weiblichen Doppelgänger unter dem Namen Rrose Sélavy, was laut gelesen als Eros c’est la vie im Französischen soviel bedeutet wie: Eros ist das Leben. Man Ray photographierte ihn geschminkt mit Pelzkragen und Frauenhut (vgl. Abb. 7), um die fiktive Künstlerin zu dokumentieren, als die Duchamp fortan auch Ready-mades zu signieren pflegte. Ähnliche Transvestiten-Spiele treibt er mit Leonardos Mona Lisa, der er einen Schnurrbart nach der Art Dalís (vgl. Abb. 8) anmalt. Zugleich wendet sich Duchamp der neuen Technik seiner „Kofferschachteln“ zu, in denen er verkleinerte Repliken seiner Hauptwerke zusammen mit ausgewählten Notizen versammelte und so ein tragbares Miniaturmuseum kreierte.
Abbildung 7: Man Ray: Rrose Sélavy, 1920
Abbildung 8: Marcel Duchamp: L.H.O.O.Q., Mona Lisa, 1919, Paris Privatsammlung
Diese offensive und affirmative Umgangsweise mit den technischen Reproduktionsmöglichkeiten der modernen Medienwelt war es auch, die zu seiner begeisterten Aufnahme durch die amerikanischen Pop-Art-Künstler wie Andy Warhol, Jasper Johns oder den Briten Richard Hamilton führte. Obwohl er von den geistigen Führern des Dadaismus und Surrealismus immer wieder umworben wurde, hat sich Duchamp aber letztlich doch nie einer Kunstströmung zuordnen lassen und kann erst recht nicht als Gründer dieser Bewegungen gefeiert werden. In seinen späten Jahren konzentrierte er sich neben dem obligatorischen Schachspielen ganz auf sein letztes Geheimnis, das er bis nach
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seinem Tod wahren sollte: Sein letztes Werk Etant donnés …: Gegeben sei: 1. Der Wasserfall 2. Das Beleuchtungsgaz (1946-1966), das seltsamste Kunstwerk, das sich bis dahin in einem Museum befunden hatte und an dem er in aller Heimlichkeit gearbeitet hatte, um noch seinen posthumen Skandal zu haben. Es handelt sich um eine Installation im Philadelphia Art Museum (vgl. Abb. 9), die man nur sehen kann, wenn man vor eine schäbige Holztür in einer Wand tritt und durch zwei Gucklöcher schaut. Dem Betrachter bietet sich dann der Blick durch einen Durchbruch in einer Ziegelwand auf einen halbverdeckten nackten Frauentorso, der mit weit gespreizten Schenkeln auf dem Boden liegt und im Zentrum seine entblößte und rasierte Scham exponiert. Die linke Hand hält eine Gaslaterne steil nach oben vor einer nahezu arkadischen Landschaft mit einem durch Lichteffekte animierten Wasserfall. Ist die Braut nun endlich entblößt und Opfer eines Lustmordes geworden, oder handelt es sich um das Grabmal von Rrose Sélavy?20
Abbildung 9: Marcel Duchamp: Étant donnés: 1. La chute d’eau, 2. Le gaz d’éclairage, 194666, 242,6 x 177,8 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
Duchamp hat sich dazu ebenso wenig geäußert wie zu den meisten seiner Werke. Sein Prinzip war die Indifferenz, das Dazwischen, das in seiner Unentscheidbarkeit einen Effekt des inframedialen Unheimlichen erzeugte, der mit Recht als surreal bezeichnet werden kann. In der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober 20
Vgl. dazu Rabaté: Given: 10 Art 20 Crime, S. 33-77.
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1968 verstarb er nach einem gemütlichen Gastmahl mit seiner Frau Teeny und den Freunden Lébel und Man Ray an einem Lachanfall. Auf seinen Grabstein ließ er die Inschrift meißeln: „Übrigens, es sind immer die anderen, die sterben!“
Literaturverzeichnis Bergson, Henri: „Introduction à la métaphysique“, in: La pensée et le mouvement, Paris 1987, S. 177-142. Breton, André: „Phare de ‚La Mariée‘“, in: Le surréalisme et la peinture, Paris 1965, S. 115-135. Breton, André: Le surréalisme et la peinture, Paris 1965. Cabanne, Pierre: Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln 1972. Clair, Jean/Szeemann, Harald (Hrsg.): Junggesellenmaschinen/Les machines célibataires, Venedig 1975. Duchamp, Marcel: Notes, hrsg. v. Paul Matisse, Paris 1999. Duchamp, Marcel: „Gespräch mit Francis Roberts“, in: Stauffer, Serge (Hrsg.): Marcel Duchamp: Interviews und Statements, Ostfildern-Ruit 1992, S. 153-158. Duchamp, Marcel: „Gespräch mit Katharine Kuh“, in: Stauffer, Serge (Hrsg.): Marcel Duchamp: Interviews und Statements, Ostfildern-Ruit 1992, S. 117-121. Duchamp, Marcel: „Interview mit Rougemont“, in: Stauffer, Serge (Hrsg.): Marcel Duchamp: Interviews und Statements, Ostfildern-Ruit 1992, S. 3036. Duchamp, Marcel: „Interview mit Sweeny“, in: Stauffer, Serge (Hrsg.): Marcel Duchamp: Interviews und Statements, Ostfildern-Ruit 1992, S. 36-39. Duchamp, Marcel: Du Signe, Écrits, hrsg. v. Michel Sanouillet, Paris (1975) 1990. Duchamp, Marcel: „À propos des ‚Ready-mades‘“, in: Du Signe, Écrits, hrsg. v. Michel Sanouillet, Paris (1975) 1990, S. 191-192. Fischer Sarazin-Levassor, Lydie: Un échec matrimonial. Le cœur de la mariée mis à nu par son célibataire, même, Dijon 2004. Gide, André: L’immoraliste, Paris 1976. Hopkins, David: Marcel Duchamp and Max Ernst. The Bride Shared, Oxford 1998.
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Rabaté, Jean-Michel: Given: 10 Art 20 Crime. Modernity, Murder and Mass Culture, Eastbourne 2007, S. 33-77. Roché, Henri-Pierre: „Souvenirs sur Marcel Duchamp“, in: Écrits sur l’art, hrsg. v. Serge Fauchereau, Marseille 1998, S. 211-229. Tomkins, Calvin: Marcel Duchamp. Eine Biographie, München 1999. View. The Modern Magazine. Marcel Duchamp Number, Series V, Nr. 1, New York 1945. Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986.
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Sigrid Schade
Die Medien/Spiele der Puppe1 – Vom Mannequin zum Cyborg Das Interesse aktueller Künstlerinnen und Künstler am Surrealismus2 Die Wiederkehr der Puppe In den 1970er Jahren und besonders seit Anfang der 1990er Jahre lässt sich eine verstärkte Auseinandersetzung zeitgenössischer KünstlerInnen mit surrealistischen Bild-Motiven – (Schaufenster)Puppe, Körperfragment, Automat, Wachsfigur – beobachten, die zugleich eine Wiederkehr des Figürlichen oder der Körper(fragmente) in unterschiedlichen Inszenierungen und Medien künstlerischer Produktionen beinhaltete, welche außer in der Pop Art in der westlichen Kunst nach 1945 kaum eine Rolle gespielt hatten.3 Die Puppe – als ganzer Körper und Körperfragment – ist bereits in den 1920er, 1930er Jahren eine Projektionsfigur, ein objet trouvé, an dem surrealistische Künstler und Künstlerinnen vor allem über die Medien Fotografie und Film das Verhältnis von Repräsentation, Medialität, Wahrnehmung und Glaubwürdigkeit thematisierten. Die Technologieentwicklung der 1990er Jahre als zentrales Moment neuer Produktions- und Gestaltungsbedingungen, auch in der künstlerischen Arbeit, hat zu einer intensiven Auseinandersetzung mit neuen digitalen Bildbearbeitungen geführt, die nicht nur von künstlerischer Seite zu einer Wiederaufnahme der Diskussion um Ähnlichkeit und Simulation menschlicher Körper
1
Ein Spiel mit dem Titel des Textes „Die Spiele der Puppe“ von Hans Bellmer
2
Der vorliegende Text erschien erstmals im Internet unter Medienkunstnetz: http://www.medienkunstnetz.de/themen/cyborg_bodies/puppen_koerper/ (seit Februar 2005 im Netz, letzte Überprüfung am 02.06.2009).
3
Für die 1990er Jahre zeugen Ausstellungen wie Posthuman, hrsg. von Jeffrey Deitch, Deichtorhallen Hamburg 1992; Corporal Politics, 1992; Abject Art. Repulsion and Desire in American Art, Whitney Museum of American Art, 1993; Rites of Passage, Tate Gallery London, 1995; Phantasma und Phantome. Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse, hrsg. von G. C. Tholen, Offenes Kulturhaus Linz, 1995; Der Anagrammatische Körper und seine mediale Konstruktion, hrsg. von Peter Weibel, ZKM Museum für neue Kunst, Karlsruhe, 2000; Wächserne Identitäten. Figürliche Wachsplastik am Ende des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Jessica Ullrich, Georg Kolbe Museum, Berlin, 2002.
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Sigrid Schade | Die Medien/Spiele der Puppe
geführt hat. Die Verknüpfung des traditionellen Motivs der Puppe mit dem Automaten und der verlebendigten (oder auch tötenden und getöteten) Androide (und den Drohungen, die jeweils von ihr ausgehen) stellt eine der Vorgeschichten von Cyborg-Fantasien in der zeitgenössischen Medienkunst dar.4
Die Tradition der Puppen und der Begriff des Unheimlichen Die Schaufenster-Puppe5, die für lebend gehalten, oder die Puppe, die zum Leben erweckt wird6, stellt eine von mehreren Figurationen der historischen Tradition des Maschinenmenschen oder des Automaten dar.7 Ähnlich wie die Skulptur Pygmalions, eine Frau als Kunstwerk, das seinen Künstler in mythischen Erzählungen zum Schöpfer avancieren lässt8, ist die Puppe eine Androide, die durch Liebe/Projektion zum Leben erweckt werden kann. Sie steht somit in der Tradition der künstlichen Frau, die letztlich eine Geschichte der Frage der Täuschung ist, eine Geschichte, die sich in mythischen Erzählungen über Wahrnehmung, Malerei, Skulptur, Medialität und deren illusionistische Effekte manifestierte.9 Für die Männer, die in einer Automate eine lebende Frau sehen und sich in diese verlieben, kann dies sowohl als Flucht vor der ,wirklichen Frau‘ als Anderer, als auch als Liebe zum Selben (Selbstliebe) gedeutet werden. Dies legt z.B. die Geschichte Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann (1816/17) nahe, in der die Hauptfigur Nathanael an der Entdeckung seiner Täuschung über die Puppe Olimpia, die ein narzisstisches Liebesideal verkörpert, zugrunde geht.10 Am Beispiel dieser Geschichte entwickelte Sigmund Freud seine Untersuchung über das „Unheimliche“, in der er das Doppelgänger-Fantasma in der Puppenfigur aufgreift. Zugleich entfaltet er an E.T.A. Hoffmanns Geschichte, in der das Gefühl des „Unheimlichen“ mit der 4
Zur Verwandtschaft vom künstlichem Geschöpf und Cyborgs vgl. auch die beiden Texte von Verena Kuni „Mythische Körper I + II“.
5
Vgl. Sandberg: Living Pictures. Missing Persons. Mannequins, Museums and Modernity.
6
Vgl. Gendolla: Anatomien der Puppe.
7
Vgl. MaschinenMenschen, (Ausstellungskatalog Staatliche Kunsthalle Berlin); eine ausführliche Bibliografie zum Gesamtkomplex: Dotzler u.a. (Hrsg.): MaschinenMenschen. Eine Bibliografie.
8
Zu den Facetten des Pygmalion–Mythos nach 1945 vgl. Wenk: „Pygmalions Wahlverwandtschaften. Die Rekonstruktion des Schöpfermythos im nachfaschistischen Deutschland“.
9
Schade: „Zur verdrängten Medialität der modernen und zeitgenössischen Kunst“, S. 270.
10 Hoffmann: Der Sandmann 1816/17.
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Figur der Puppe verknüpft ist, die These, dass dieses Unheimliche nicht einfach darin besteht, ein Wunsch- oder Ebenbild auf die Puppe zu projizieren oder über die ,Beseeltheit‘ der Puppe in Zweifel zu sein.11 Die projektive Fantasie von Kindern etwa, die mit Puppen spielen, setzt nicht einmal den Glauben an die Täuschung voraus. Und auch das Im-Zweifel-gelassen-Sein über die Lebendigkeit einer Puppe selbst ist nicht ,automatisch‘ bedrohlich oder unheimlich. In Freuds Interpretation wird die Puppe Olimpia zu einer Funktion der Kastrations-Angst vor dem übermächtigen Vater. Diese wird metonymisch als Angst vor dem Verlust der Augen erlebt und stellt damit eine unheimliche paranoide Wiederholung der Urszene der Kastration dar. Die Kastrationsdrohung ist zugleich immer auch eine Todesdrohung. Das Unheimliche der Doppelgängerfantasie ist verknüpft mit der Vorstellung des Schwindens des Subjekts, mit der Angst vor dem Verlust einer klaren Subjektposition und insofern werden in den ,Doppelgängern‘ technischer und medialer Natur Verlustängste thematisiert, die von den historisch jeweils neuen Möglichkeiten der technischen Simulation ausgelöst werden.
Aktuelle KünstlerInnen und ihre ,Puppen‘ Für die Auseinandersetzung mit der Figur der Puppe können eine Reihe von aktuellen Künstlernamen stehen: Katrin Freisager, Kirsten Geisler, Lynn Hershman, Inez van Lamsweerde, Victorine Müller, Yves Netzhammer, Tony Oursler, Cindy Sherman oder auch Judy Fox, Robert Gober, Mike Kelley, Kiki Smith. Das Interesse an der Puppe ist jeweils unterschiedlich motiviert und muss in jedem einzelnen Fall auf die Traditionen und die Bezüge zu den aktuellen Debatten über Medialität und Wahrnehmung hin überprüft werden. Die Puppe wird nicht nur als Schauplatz von Fantasmen der Ganzheit und Zerstückelung gesehen, sondern auch als Figur, an der der Zusammenhang von Unbewusstem und (Automatismen der) Kreativität, das Verhältnis von Kunst und Politik und die Reflexion der surrealistischen Experimente mit Medieninszenierungen thematisiert werden können. Man kann die aktuelle Häufung des Puppenmotivs symptomatisch lesen, d.h. aus einer kulturwissenschaftlichen Analyse heraus als Hinweis auf Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Körperbildern verstehen, die zwischen Werbung, Schönheitschirurgie und Gentechnologie angesiedelt sind, und nicht zuletzt als Auseinandersetzung mit den neuen scheinbar körperlosen Kriegstechnologien und den in der westli11 Freud: „Das Unheimliche“, S. 254 f.
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chen Welt allenfalls über Fernsehbilder vermittelten neuen Kriegen in Afghanistan und im Irak.
Die Wiederkehr des Verdrängten Insofern repräsentiert die Auseinandersetzung mit der Puppe möglicherweise auch eine „Wiederkehr des Verdrängten“ (Hal Foster) – eine Wiederkehr der verdrängten Traumata zweier Weltkriege und der Einsichten der Psychoanalyse der 1920er Jahre in die zentrale Bedeutung des Wiederholungszwangs und des Todestriebs für die Subjektkonstitution.12 Die Thesen des US-amerikanischen Kunstwissenschaftlers Hal Foster situieren den Surrealismus und seine künstlerischen Experimente historisch nach dem ersten Weltkrieg auch als Verarbeitungen der Begegnung mit Kriegsneurotikern und deren zwanghaften Wiederholungen der Schrecken des Krieges. Diese Begegnungen surrealistischer Künstler, z.B. diejenige Bretons 1916 als Assistent an der neuropsychiatrischen Klinik Saint-Dizier mit Kriegsneurotikern, ist nicht in die offizielle Geschichte des Surrealismus eingegangen. Sie ist gewissermaßen dessen verdrängte „Urszene“ und geht – so Hal Foster – mit einer Verwerfung von Freuds Konzeptualisierung des Todestriebes einher. Letztere ist ebenfalls anlässlich der Begegnung mit Kriegsneurotikern im Anschluss an seine Überlegungen zum Unheimlichen entstanden. Die Surrealisten – allen voran Breton – hatten das Konzept des Unbewussten mit einem Konzept von Freiheit gleichgesetzt,13 in dem die Vorstellung von (unbewusstem) Zwang nicht zugelassen werden konnte.14 Das aktuelle Interesse am Surrealismus am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann also auch als ein Wiederholen unabgegoltener historischer Auseinandersetzungen begriffen werden, innerhalb derer aktuelle Probleme und Fragestellungen thematisiert und umformuliert werden. Drei Hauptkomplexe stehen zur Debatte: die Auseinandersetzung mit dem Körperfragment im Kontext von Körperwahrnehmung, Geschlechterrepräsentation und Pornografiedebatte; Reflexionen, die sich auf eine Krise der Subjektposition, das Schwinden der symbolischen Ordnung und die medialisierte Wahrnehmung beziehen15; technoide Fantasien, innerhalb derer sowohl Monströses wie auch Autonomiefantasmen zur Sprache gebracht werden, die 12 Vgl. Foster: Compulsive Beauty, Vorwort u. S. 1f. 13 Vgl. Steinwachs: Mythologie des Surrealismus. 14 Schade: „Der Spuk ist durchschaut! Rück-Sichten auf Darstellbarkeit von Kubin bis zur Abject Art“. 15 Davon zeugt das Thema der Ausstellung The Collective Unconsciousness.
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von verschiedenen aktuellen Technik- und Medienentwicklungen geprägt sind. Die beiden letzten Komplexe sind kaum voneinander zu trennen.
Geschlechterrepräsentation, Körper(fragment) und Pornografie Figurationen von Körpern oder Körperteilen sind unhintergehbar mit traditionellen Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen in der Kunstgeschichte und den Massenmedien verknüpft. Die Figur der Puppe selbst ist spätestens seit der Romantik eher weiblich als männlich konnotiert – insbesondere in der von den Surrealisten bevorzugten sexualisierten Variante, in der die sekundären Geschlechtsmerkmale ein zentrales Element der Visualisierung waren. Fragmentarisierungen bzw. Zerstückelungs-Szenarien wurden in der Geschichte der Kunst ebenfalls eher an ,weiblichen‘ als an ,männlichen‘ Körpern durchgespielt. Diese Zuordnung setzte sich letztlich in den Massenmedien der Pornografie fort. Insofern wundert es nicht, dass vor allem Ausstellungen und Publikationen, die seit den 1980er Jahren im Kontext feministisch orientierter künstlerischer Praxen und Theoriebildungen entstanden sind, sich des Themas der Puppe angenommen haben,16 wobei die Inszenierungen surrealistischer Künstler aufgegriffen, reinszeniert und reformuliert wurden. Eine feministische Debatte über die Deutung des Körperfragments in der Moderne hatte bereits in den 1980er Jahren eingesetzt.17 Diese Debatte kann nachträglich als eine verschobene Auseinandersetzung mit der Erbschaft des Konzepts der „Entarteten Kunst“ betrachtet werden (zumindest im deutschsprachigen Raum), welche – lange Zeit tabuisiert – in ihren Implikationen überhaupt erst in den 1980er Jahren thematisiert werden konnte. Diese Implikationen betrafen das Körperideal des Nationalsozialismus (NS) als Spiegelfantasma einer rassischen Ganzheit und Vollkommenheit ebenso, wie die ,wörtliche‘ Lektüre von Körperfragmenten als Metapher für Dekadenz und Krankheit, welche sich in gewisser Weise in den „Culture Wars“ der puritanischen USA wiederholte.18
16 Schade: Andere Körper – Different Bodies; Höffer/Schulte-Fischedick (Hrsg.): Cross Female: Metaphern des Weiblichen in der Kunst der 90er Jahre; Zimmermann: Skandalöse Bilder – Skandalöse Körper. 17 Schade: „Der Mythos des Ganzen Körpers: Das Fragmentarische in der Kunst des 20. Jahrhunderts als Dekonstruktion“. Der Ausstellung Le corps en morceaux, Musée d’Orsay, Paris 1990 (deutsch Frankfurt a.M. 1990) gelang es, diese Debatte vollständig auszublenden. 18 Zimmermann: Skandalöse Bilder – Skandalöse Körper.
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Für die Surrealisten, welche im NS unter das Verdikt der „Entarteten Kunst“ fielen, deren deutsche Protagonisten zunächst nach Paris und schließlich in die USA auswandern mussten, war die Puppe Schauplatz einer intensiven Auseinandersetzung mit Fantasien, welche eine von traditionellen Geschlechterbildern durchsetzte, fragile Subjektposition mit ihren Projektionen und Abspaltungen im Kontext von Zerstückelungsängsten thematisiert. Diese wurden auf der Folie projektiver Fantasmen der Moderne inszeniert19 und – geradezu antizipatorisch – gegen Körperästhetiken des NS gesetzt.20 Die hybriden Puppenkonstruktionen und fotografischen Serien von Puppen des zu den deutschen Surrealisten zählenden Hans Bellmer sind z.B. Bezugspunkt für die US-amerikanische Künstlerin Cindy Sherman, die in ihren Fotografien die Bellmerschen Puppenelemente zitiert, um jedoch zugleich die konventionellen Geschlechterkonstruktionen in ihnen aufzusprengen. In ihrer Fotoserie mit Körperversatzstücken mischt sie im Gegensatz zu Bellmer ,weibliche‘ und ,männliche‘ Körperteile, so dass sich die Zerstückelungsängste nicht vom eigenen Körper (,Geschlecht‘) abspalten und dem „Anderen“ (Geschlecht) zuordnen lassen. Sie setzt darin ihre Arbeit der Dekonstruktion von Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern in den Massenmedien Film, Fotografie und der Tradition der Kunstgeschichte fort, die sie seit 1975 in ihren fotografischen Serien von den „Film-Stills“ über die „Centerfolds“, den „Märchenhaften Maskeraden“, die „History Portraits“ bis zu den „Ekel-Fotografien“ und den „Sex Pictures“ von 1992 verfolgte.21 Die Anlehnung an Bellmer ist sowohl auf der Ebene der Darstellung der Konstruktion von Körperbildern zu finden: in der Exponierung des Materials, des Blicks der BetrachterInnen, als auch auf der Ebene der Reflexion über die Medialität der Fotografie. Diese Aspekte hat auch die Zürcher Künstlerin und Fotografin Katrin Freisager herausgearbeitet. Vor allem in ihrer zehnteiligen Foto-Serie „Untitled“ (2002) werden die sich konstituierenden Momente von Fotografie, Pornografie, Blick und Körperkonstruktion exakt nachvollzogen. Die ein paar Jahre vorher entstandene siebenteilige Foto-Serie „Living Dolls“ könnte mit einem anderen Aspekt der bellmerschen Puppenfotografien in Verbindung gebracht werden, nämlich mit seinem Konzept des Körper(bilde)s als Sprache und der Körperteile als Satzelementen. Bellmer hatte das Sprach-Spiel des Anagramms in die Bildsprache übersetzt und die an traditionelle Seh-Logiken und an die Vorstellung vom „Ganzen Körper“ gebundene Körper-Grammatik 19 Müller-Tamm/Sykora: Puppen. Körper. Automaten. Phantasmen der Moderne. 20 Vgl. Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus (Ausstellungskatalog des NGBK), besonders die Beiträge von Frank Wagner, Gudrun Linke, Silke Wenk.. 21 Vgl. Krauss/Bryson: Cindy Sherman.
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der Anatomie – ebenso wie im Spiel mit Anagrammen – aufgelöst. Seine ,unmöglichen‘ Kombinatoriken von Körperteilen werden von ihm mit den ästhetischen Möglichkeiten des Anagramms verglichen und zugleich in einen Diskurs eingebunden, der das Unbewusste und die Nachträglichkeit als zentrale Kategorien von Wahrnehmung und Sinnstiftung benennt.22 Katrin Freisagers Fotoserie verbindet das Konzept des Mannequins im Sinne von Fotomodell (es handelt sich um Fotografien von lebenden Frauen und Männern, die auf einer Matratze liegend fotografiert wurden, so als wären sie unfähig jemals wieder aufzustehen) mit der Tradition des tableau vivant. Die Haltungen und die Beziehungen der Körper-Glieder erzeugen den Eindruck, als seien sie von einem Außenstehenden (der Fotografin) so gelegt worden, als handle es sich um Gliederpuppen oder hingelegte Marionetten, die man in jede gewünschte Position oder Drehung bringen könnte – seien diese anatomisch auch noch so absurd. Zusammen gesehen bildet die Reihe von Körpern eine Art Alphabet. In diesem Zusammenhang muss auch auf die Bedeutung des Seriellen sowohl für Hans Bellmer als auch für Cindy Sherman und Katrin Freisager hingewiesen werden. Das serielle Prinzip hatte am Potential der medialen Selbstreflexion der Fotografie einen entscheidenden Anteil und ermöglicht es, spezifische Qualitäten der Fotografie zum Ausdruck zu bringen.
Medialisierte Wahrnehmung und Reflexion der Medien Die Puppe oder das Mannequin, die Schaufensterpuppe als Motiv der Fotografie oder des Films ist nicht nur für Hans Bellmer, sondern auch für die anderen Surrealisten ein zentrales Thema gewesen, so für André Breton, Marcel Duchamp, Paul Eluard, Max Ernst, André Masson, Man Ray, Raoul Ubac, Wols u.a. Wols fotografierte 1937 die Mannequins des Pavillons de l’Elégance auf der Pariser Weltausstellung bei Nacht und gab ihnen durch die Licht- und Schattenspiele eine dramatische, scheinbar lebendige Existenz, obgleich sie erkennbare Drahtgestelle u.ä. waren. Für die Exposition Internationale du Surréalisme 1938 inszenierten die Surrealisten eine „Straße der Puppen“, die von ihren absurd und hybrid ausgestatteten Schaufensterpuppen bevölkert war.23 Insbesondere Man Ray interessierte sich für die fotografische Gegenüberstellung
22 Schade: „Text- und Körperalphabet bei Hans Bellmer“. 23 Zu den Inszenierungen mit Schaufensterpuppen vgl. Filipovic: „Abwesende Kunstobjekte. Mannequins und die ‚Exposition Internationale du Surréalisme‘ von 1938“, S. 234f.
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Sigrid Schade | Die Medien/Spiele der Puppe
von (toten) Masken, Puppen, Torsi und (lebendigen) Menschen.24 Die meisten der surrealistischen Puppen sind nicht nur fast ausschließlich medial überliefert (in Fotografien oder im Film), sondern auch von vorneherein ausschließlich zum Fotografieren hergestellt. Um mit Benjamin zu sprechen: sie rechnen mit ihrem Fotografiert-Werden: „Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Masse die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks.“25 Das heißt, dass sie historisch von den Surrealisten selbst nicht als eigentliches surrealistisches Objekt begriffen wurden, sondern gewissermaßen als Mittel der Produktion eines anderen surrealistischen Objekts verwendet wurde: nämlich der Fotografie, oder noch besser gesagt: einer häufig mit Text kommentierten Fotografie.26 Deshalb muss diese künstlerische Produktion auch als eine bewusste und intensive Auseinandersetzung mit der Medialität der Fotografie und des Films gesehen werden. Nicht zuletzt deshalb wird das Motiv auch in der aktuellen Medienkunst wieder aufgegriffen. Die Möglichkeiten des Video, der digitalen Fotografie, der digitalen Bildbearbeitung und des digitalen bewegten Bildes fordern eine Reflexion der Medialität der Darstellung erneut heraus, die wiederum in der Tradition der Täuschung oder Ent-Täuschung steht. Die Surrealisten konnten in ihren Puppenfotografien das Unheimliche der Fotografie herausarbeiten, die Mortifizierung sowie die Verlebendigung des fotografierten Objekts.27 Dafür eignete sich die Puppe besonders, die als totes Objekt durch die mortifizierende Abbildungstechnik der analogen Fotografie – eine gleichsam tautologische Kombination – zum Leben erweckt wird, wie bei Nathanael in Der Sandmann: durch ein Objektiv oder eine Scheibe hindurch. Die Reflexion über den veränderten Status und den veränderten Bezug zu einem Referenten in den mittels digitaler Bildbearbeitung hervorgebrachten Bildern28 ist ein zentrales Motiv für aktuelle KünstlerInnen, an der Figur der Puppe die Mimesis der zeitgenössischen Simulationstechniken zu exponieren. Dabei spielen einerseits die Möglichkeiten der Projektion eine große Rolle, sei es die Projektion eines Videos oder diejenige digitaler Bilder, andererseits die unendlichen Möglichkeiten der Manipulation oder Simulation aller vorangegangenen Bild- und Tonmedien in der digitalen Bearbeitung. Nicht zuletzt 24 Schade: „Die Spiele der Puppe im Licht des Todes: Das Motiv des Mannequins in der Auseinandersetzung surrealistischer Künstler mit dem Medium der Fotografie“. 25 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, S. 21. 26 Krauss/Livingston: L’Amour Fou. 27 Schade: „Die Spiele der Puppe im Licht des Todes“. 28 Dies zu untersuchen war Motiv der Ausstellung Fotografie nach der Fotografie; vgl. Amelunxen (Hrsg.): Fotografie nach der Fotografie.
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Sigrid Schade | Die Medien/Spiele der Puppe
werden auch die Potentiale interaktiver Konstellationen ausgelotet, die in Kombination von Bild, Ton und Aktivität die Sinne einer immersiven Täuschung unterwerfen können.
Projektionen Tony Oursler projiziert Videos von sprechenden Menschen z.B. auf Gegenstände und Sofakissen in Koffern und Kisten, die ,unheimlich‘ verzerrt gleichwohl die Assoziation eines lebenden ,Dings‘ hervorrufen. Seine Videoinstallationen sind Demonstrationen der menschlichen Einbildungskraft, die die Apparate, die in den jeweiligen Settings deutlich sichtbar aufgestellt sind, ,übersieht‘ und die Träger der Botschaften (Kissen u.a.) in Wiederholung der kindlichen Perspektive zum Leben erweckt. Frontale Projektionen von Menschenbildern in Lebensgröße machen BetrachterInnen zu direkten Adressaten der ,Puppen‘.29 Kirsten Geisler entwickelte mehrere interaktive Videoinstallationen, in denen Projektionen von virtuellen Frauen, die sich mit den BetrachterInnen ,unterhalten‘, eine zentrale Rolle spielen. Die Installationen „Counting Beauty 2.1“ von 1999 oder „Dream of Beauty 2.0“ (1997–2000) exponieren die ,Künstlichkeit‘ der neuen Frau – sie ist digital errechnetes Ergebnis von empirischen Daten der Verhaltensforschung über Schönheitsideale, deren Konstruktion offen gelegt wird.
Machbarkeiten Inez van Lamsweerde inszeniert in ihren lebensgroßen digitalen Fotoprints ebenfalls künstliche Menschen, die auf den ersten Blick wirklich zu sein scheinen, aber auf den zweiten Blick als konstruierte Körper mit puppenhaften Zügen wahrzunehmen sind. Die leichte Abweichung, die Verschiebung von der traditionellen analogen Fotografie zum digitalen Monster lässt sich an kleinen ,Körperzeichen‘ ablesen: toten Augen, fehlenden Brustwarzen und Körperöffnungen, leicht veränderte Proportionen. Sie sind Hinweise auf Perfektionismus und Schönheitswahn, wie sie uns in den Massenmedien begegnen, deren potentielle Machbarkeit durch die plastische und die nicht-invasive Chirurgie und nicht zuletzt die Biotechnologie täglich versprochen wird.30
29 Siehe dazu ausführlich Stephen Vitiello im Gespräch mit Dieter Daniels. 30 Zu den Arbeiten von Inez van Lamsweerde siehe auch Yvonne Volkarts Text „Monströse Körper“ und Verena Kuni: „Mythische Körper II“.
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Wahrnehmungs-Spiele Die digitalen, bewegten Bilder von Yves Netzhammer und seine Installationen mit Großprojektionen – wie etwa das mehrteilige Ausstellungsprojekt „Die überraschende Verschiebung der Sollbruchstelle eines in optimalen Verhältnissen aufgewachsenen Astes“ oder „Große Spiegel werden verloren. Informationen von Abwesenheit, damit Anwesenheit entstehen kann“ – thematisieren die unendlichen Verwandlungsmöglichkeiten des menschlichen Körperbildes, das – wie seinerzeit bei Hieronymus Bosch – entnaturalisiert und hybridisiert wird. Es kann in der Bewegung der Bilder aus einer Linie, aus der Fläche oder aus einer anderen Figur (Vogel) hervorgehen und wiederum in andere Figuren eingehen. Yves Netzhammers Bildgebungen sind nicht auf Täuschung angelegt, vielmehr haben seine digitalen Figuren (nicht nur Menschen, sondern alles Gegenständliche) einen betonten Künstlichkeitscharakter.31 Die glatten Oberflächen simulieren nicht Haut oder andere ,natürliche‘ Oberflächen; der digital erzeugte Glanz scheint vielmehr auf die Materialität von Plastik hinzuweisen. Die Oberfläche und die Bewegungsmechanik des Vogels erinnern an Blechspielzeug. Die Körper repräsentieren in ihrer Typisierung und Ähnlichkeit eine neue Menschenart ohne Geschlechterdifferenz, sie unterscheiden sich allenfalls in den Farben (nicht nur schwarz-weiß, sondern auch bunt). Sie haben keine Gesichter. Sie haben auch keine Gelenke, die Übergänge zwischen den Gliedern sind allerdings wie bei Puppen oder Gliederpuppen so abgesetzt, dass man an Verschweißungen denken könnte. Ihre fast schon gepanzerten Körperoberflächen scheinen einerseits undurchlässig, das Körperinnere ist zumindest nicht muskulös, organisch oder als flüssig gekennzeichnet. Andererseits öffnen sich Körperteile oder spalten sich ab, werden durchbohrt von anderen Gegenständen. Und werden damit zugleich Teil anderer Körper-, Material- oder Textureinheiten. Wenn man diese ,Puppen‘ statisch wahrnimmt oder beschreibt, so erinnern sie an Skulpturen von Charles Ray oder die Fotografien von Dieter Huber, die das Monströse neuer Menschen- oder Körperbilder im Zeitalter der Biotechnologie aufgreifen und potentielle Effekte des Klonens thematisieren.32 Die digitalen Bilder von Yves Netzhammer sind jedoch immer in Bewegung. In einer permanenten metamorphotischen Verschiebung erzeugen sie einerseits Erinnerungsbilder des Wiedererkennens und zugleich eine Perspektive hochgradiger Verunsicherung. 31 Vgl. auch den Ausstellungskatalog: Netzhammer: Die überraschende Verschiebung der Sollbruchstelle eines in optimalen Verhältnissen aufgewachsenen Astes. 32 Volkart: „Monster und Mutanten: das Verrückte Geschlecht des bio- und medientechnologischen Körpers“. Vgl. dazu auch den Text dies.: „Monströse Körper“.
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Die Bildausschnitte, die jeweiligen Proportionen und Perspektiven verunmöglichen in vielen Fällen die Vorhersehbarkeit der Wandlungsbewegung und der zukünftigen Form. Yves Netzhammer nutzt das Medium des digitalen Bildes zur Reflexion über die menschlichen Wahrnehmungsmuster, die auf der Folie des Bekannten, Erwarteten und Wiederholbaren von Automatismen durchzogen sind und die von den entstehenden und sich aus- und nacheinander entwickelnden poetischen Bildern exponiert werden, weil sie ent-täuscht werden.33 Insofern tragen die digitalen Figuren Netzhammers nicht unbedingt zu einer Identifikation mit oder zu einer Warnung vor monströsen kybernetischen Organismen bei, sondern zu einer Infragestellung subjektiver Wahrnehmung, die zutiefst normiert und relational ist. Die Exponierung des Zusammenhangs zwischen dem Zu-Sehen-Gegebenen und dessen Deutungen in Hinsicht auf das Verhältnis zu Dingen, die noch nicht oder nicht mehr zu sehen sind, macht die Unsicherheit und die Konventionalität des Deutens und nicht zuletzt ihre Nachträglichkeit in der Wahrnehmung sichtbar. Mit anderen Worten: Die Medienspiele der Puppe greifen Vorstellungen des Unheimlichen wieder auf und erzeugen sie mit anderen Mitteln. Im Falle von Yves Netzhammer wird das Gefühl des Unheimlichen nicht über die Simulation von ,Echtheit‘ oder ,Natürlichkeit‘ von menschlichen Doppelgängern und die Unsicherheit ihrer ,Beseelung‘ erzeugt. Unsicherheit entsteht über das Bewusstmachen der automatischen Deutung von Gesehenem. Diese wird dadurch verunmöglicht, dass ein einheitlicher, die Wahrnehmung eines Subjekts konstituierender Blick- oder Augenpunkt unterlaufen wird. In die Vorstellung schleicht sich so die Angst ein, dass die in ständiger Metamorphose befindlichen, digitalen Puppenkörper möglicherweise auch anders sehen, uns anders sehen – oder auch uns übersehen können. Auch die schweizerische Performancegruppe cpx greift in ihrer Performance „fontaine bleu“ ganz explizit das Motiv der Puppe als Gestalt des Unheimlichen auf und verbindt sie mit aktuellen Ängsten vor dem Cyborgwerden. Während einer Nacht in einem Park standen fünf Personen reglos hinter Plexiglas. Daneben befand sich ein Computer, über den vom Publikum Daten der ausgestellten Person abgerufen werden konnten. Die puppenartigen Menschen repräsentieren hier Menschenmodelle in einer Gesellschaft der Kontrolle und Verfügbarkeit, eine Fantasie, die, wie ich aufzuzeigen versuchte, Geschichte
33 Davon zeugen schon die Titel der Ausschnitte „Die Möglichkeit nicht mehr haben, sich weniger ähnlich zu sehen“ oder „Am Horizont können wir unsere Sinne ablesen“, vgl. dazu die DVD, die dem Katalog von Yves Netzhammer: Die überraschende Verschiebung der Sollbruchstelle eines in optimalen Verhältnissen aufgewachsenen Astes, beigelegt ist.
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hat. Und doch war die Situation im Park auf seltsame Weise zugleich unheimlich und absurd. Puppen können im Zeitalter der Medienkunst in Figuren von Cyborgs wiederkehren. Die Konstruktionen von kybernetischen Organismen und die an sie geknüpften Fantasien und Fantasmen sind ohne die Geschichte der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Figur der Puppe nicht nachvollziehbar. Auch in Zeiten ihrer digitalen Konstruierbarkeit weisen sie auf die Bezüge hin, die sie mit dem Leben der Menschen verbindet.34
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Susanne Klengel
Surrealistische und estridentistische Prä-Texte: Zur poetischen Spurensicherung des mexikanischen Infrarealismus in Roberto Bolaños Los detectives salvajes1 callejón sin salida callejón de muervida socio: cómplice: infrarrealista hermanito nuestro (M. Santiago Papasquiaro, Aullido de Cisne)
Der poetische Leibraum der Avantgarden Poetisch zu leben war das neue politische und anthropologische Credo der ästhetischen Avantgardebewegungen, die am Ende des „langen 19. Jahrhunderts“, am Übergang ins „Zeitalter der Extreme“ (E. Hobsbawm) einsetzten. Aktive Aufruhr und handlungsgeleitete Reflexion bestimmten das Verhältnis der Poeten und Künstler zur neuen Epoche und ihrer Modernität, die sie leben und verändern wollten. Ihre Aufsehen erregenden Aktionen sind daher poetische Re-Aktionen auf die Lebenswelt, ihre Texte und Kunstwerke poetische Kommentare und Handlungsanleitungen – mit überraschend unorthodoxen Botschaften, wenn man sie im Detail betrachtet. Mit einem fremden Blick rückten die Poeten und Künstler den Leibraum2 der eigenen Lebenswelt in eine gleichsam ethnologische Perspektive und holten umgekehrt das Fremde herein ins Eigene. Nicht zum Zwecke der Assimilierung, sondern zur schöpferischen Anverwandlung oder kreativen Einverleibung im Sinne der brasilianischen Anthropophagiebewegung der modernistischen 1920er Jahre. Dieser methodische Primitivismus der Avantgarden ist der ethnologischen Methode teilnehmender Beobachtung durchaus verwandt, doch mündet er nicht in den Versuch einer angemessenen kulturellen Überset-
1
Der Beitrag ist eine leicht veränderte Fassung meines Beitrags „Infrarrealismo y Estridentismo. Rastreando huellas“. Im vorliegenden Beitrag wird der Bezug des Infrarealismus zum Surrealismus deutlicher herausgestellt.
2
Der Begriff „Leibraum“ geht bekanntlich auf Walter Benjamins Aufsatz über den Surrealismus zurück (Benjamin: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“; hier S. 309-310) und wird im Folgenden besonders in seiner anthropologischen Dimension, die Benjamin selbst mit dem Hinweis auf den „anthropologischen Materialismus“ der Surrealisten unterstrich, angewendet.
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zung des Fremden, sondern bringt ganz neue Interpretationen aus der Verknüpfung von Bild, Text und Aktion hervor. Interpretationen, die bis heute ihre Horizonte erweiternde Kraft nicht verloren haben, wie manche Aktualisierung der Avantgardeästhetik zeigt, die sich nicht nur in der Literatur, sondern auch oft, nicht zufällig, in den Schriften von Ethnologen findet.3 Die stimulierende Aktualität dieses poetischen Leibraums der Avantgarde, der sich zunächst vor allem in der modernen Stadt auftat, hat die Theoretiker immer wieder beschäftigt. Literatur- und Kulturhistoriker widmen sich dieser Frage ebenso wie Museums- und Ausstellungskuratoren. Daher die anhaltende Suche nach Dokumenten, Zeugnissen, Originalaussagen, die in den zeitgenössischen Kontext zurückführen, daher auch die mannigfachen Versuche der visuellen Rekonstruktion einschlägiger Avantgarde-Ereignisse. Stationen der Moderne hieß eine der ersten Ausstellungen, die sich der Veranschaulichung von Avantgarde-Ereignissen auf der Basis eines historischen Wiederholungsakts verschrieben hatte. Die Berliner Ausstellung stellte systematisch eine Reihe von zentralen Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts nach – von der Ersten Internationalen Dada-Messe (1920) bis zu den FluxusAusstellungen der 1960er Jahre.4 Ein überragender Publikumserfolg wurde vor allem der originalgetreu rekonstruierte Dada-Raum, der in der Folge von internationalen Museen (z.B. dem Madrider Reina Sofía und dem Londoner Barbican Center) angefordert und gezeigt wurde.5 Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher und bedauerlicher für die Geschichtsschreibung des Surrealismus, dass es nicht gelungen ist, die Privatsammlung André Bretons, die im Jahre 2003 zur Versteigerung kam, in ihrem Kontext der Rue Fontaine zu erhalten. Bei der Rekonstruktion solcher Lebenswelten und Ereignisse sind Dokumente aller Art von Bedeutung, seien es Fotos, Einladungskarten, Ausstellungsbroschüren, Briefe, Zeitschriften- oder Presseberichte etc. Diese Zeugnisse werfen ein Licht auf die lebensweltlichen Kontexte der Avantgardisten, die jenseits überlieferter und kanonisierter Einzelwerke und Einzeltexte auf3
Eine der wichtigsten und einflussreichsten Neulektüren des Surrealismus aus der Perspektive einer in den 1980er Jahren selbstreflexiv gewordenen Ethnologie findet sich bei James Clifford: „On Ethnographic Surrealism“. Clifford führt darin nicht nur einen expliziten Dialog mit den Surrealisten, sondern auch mit den Autoren aus dem Umfeld der Zeitschrift Documents und des Collège de Sociologie.
4
Vgl. Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland.
5
Vgl. hierzu auch den im September 2006 am Museum of Modern Art in New York gehaltenen Vortrag der Kuratorin Helen Adkins: „Approaching a Myth: The 1988 Reconstruction of Berlin’s First International Dada Fair of 1920“. www.moma.org /visit_moma/audio/2006/pub_prog/downloadAAPAA_2006.html.
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leuchten. Sie zeugen gleichzeitig auch von den intellektuellen Konstellationen, poetischen Aktions- und Rezeptionsprozessen, also von der Realität des Leibraums einer umfassenden poetischen Erfahrung. Doch nicht immer sind diese Kontexte leicht zu rekonstruieren, weil oftmals die Dokumente fehlen oder Legendenbildung die historischen Ereignisse überlagert. Dies betrifft möglicherweise in noch größerem Maße einzelne Avantgardeströmungen in Lateinamerika, deren systematische Erkundung erst spät begonnen hat. Wie unbekannt auch heute noch der poetische Leibraum mancher lateinamerikanischer Avantgardebewegung ist, zeigt das Beispiel des Estridentismus, einer mexikanischen Avantgardebewegung zu Beginn der 1920er Jahre, die insbesondere an den Futurismus anknüpfte, deren Darstellung von städtischen Themen und Charakteren bisweilen aber auch mit der Repräsentation des Stadtraums bei den Surrealisten verglichen werden kann. Ein neues Licht ist auf den Estridentismus aber erst durch den großen Roman Los detectives salvajes (1998) von Roberto Bolaño gefallen. Die Rekonstruktion dieser Avantgardebewegung wird in Bolaños Text in Form eines literarischen Detektivspiel inszeniert: Eine Generation junger Dichter der 1970er Jahre in Mexiko-Stadt befindet sich auf der Suche nach ihren Vorläufern...
Spurensicherung 1: Eine vergessene Neo-Avantgarde? Roberto Bolaño und der mexikanische Infrarealismus Roberto Bolaños Roman ist ein literarisches Rayuela. In ihm grenzen die Wüsten Sonoras und Baja Californias an den Sinai, die Straßen, Häuserfluchten, Cafés und Bars von Mexiko-Stadt an die von Paris (Ort des lateinamerikanischen Prekariats), und neben ihnen hört man das Stimmengewirr der Buchmesse in Madrid, Streitereien auf mediterranen Campingplätzen oder Gespräche in den Bars von Barcelona. Der sechshundertseitige Roman ist ein Echoraum, in dem die Stimmen der literarischen Haupt- und Nebenfiguren im Handlungszeitraum zwischen 1975 und 1996 ebenso erklingen wie Texte der literarischen Moderne und der internationalen Avantgarde. Schon die Namen der beiden Protagonisten, Arturo Belano und Ulises Lima, verweisen auf die mysteriöse Geste der Verweigerung des in Afrika verschwundenen Arthur Rimbaud, die urbane Odyssee und andere Irrfahrten bei Joyce und die labyrinthischen Kindheitserinnerungen eines José Cemí in José Lezama Limas großem Havanna-Roman Paradiso. Doch diese Indizien sind nur allererste Hinweise auf die verschlungene literarische Rekonstruktion des poetischen Leibraums einer vergessenen
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oder zumindest verdrängten mexikanischen Neo-Avantgardebewegung, die Mitte der 1970er Jahre in Erscheinung trat. Im Roman Los detectives salvajes nennen sich diese Dichter „Realviszeralisten“: Eine Gruppe junger Leute hat sich der Poesie verschrieben, einer neuen Poesie, die aufkeimt in einer Welt besessener Lektüren und exzessiven Lebens, einer Welt, die von Ferne an die amerikanische Beat-Generation erinnert. Aus der autobiografischen Perspektive eines Juan García Madero wird die Entwicklungsgeschichte dieser Dichtergeneration im Buch nachgezeichnet. In Wirklichkeit handelt es sich um den Infrarealismus, der im Jahre 1975 von Roberto Bolaño (1953-2003) und Mario Santiago (1953-1998) gegründet wurde. Doch erst seit wenigen Jahren werden im Zuge der weltweit zunehmenden Bolaño-Rezeption die Spuren dieser umtriebigen Dichter, die als Hauptfiguren des Romans zu Arturo Belano und Ulises Lima werden, nach und nach sichtbar. Zwar findet man nun auch immer mehr Teile des infrarealistischen Puzzles im Internet (darunter auch die seit 2005 existierende „Página oficial del Movimiento Infrarrealista“), doch nur langsam entsteht daraus ein Gesamtbild. Mit Sicherheit kann aber gesagt werden, dass die Gründung des Infrarealismus im Zeichen einer Rückbesinnung auf die historischen Avantgardebewegungen stand. Dies geht vor allem aus Roberto Bolaños Artikel über den Estridentismus (1976) und seinen Interviews mit drei noch lebenden Protagonisten der Bewegung, Manuel Maples Arce, Germán List Arzubide und Arqueles Vela (1976) hervor.6 Aufschlussreich sind aber auch die in jüngerer Zeit bekannt gewordenen infrarealistischen Manifeste.7 Roberto Bolaño bezieht sich nämlich in seinem Manifest des Jahres 1976 offen auf einen Gründungsakt des Surrealismus. Mit seinem Appell „Déjenlo todo, nuevamente“ und seiner Aufforderung „Láncense a los caminos“ zitiert er wörtlich den berühmten Text André Bretons aus dem Jahre 1922, in dem dieser zu einer Abkehr von Dada und einem radikalen Aufbruch zu neuen Horizonten aufruft: „Lâchez tout. Lâchez dada. Lâchez votre femme. Lâchez votre maîtresse. Lâchez vos espérances et vos craintes […] Partez sur les routes.“8 Bolaño
6
Bolaño: „Tres estridentistas en 1976: Arqueles Vela, Maples Arce, List Arzubide“ und ders.: „El estridentismo“; vgl. auch ders.: „La nueva poesía latinoamericana: ¿Crisis o renacimiento?“. Vgl. auch Promis: „Poética de Roberto Bolaño“. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass Bolaños Estridentismus-Artikel seit vielen Jahren in der Forschungsliteratur zum Estridentismus aufgelistet werden.
7
Vgl. z.B. Campos: „El ‚Primer Manifiesto de los Infrarrealistas‘ de 1976: su contexto y su poética en ‚Los detectives salvajes‘“. Für diesen Artikel wurde das Manifest auf der „Página del movimiento infrarrealista de poesía“ konsultiert.
8
Breton: „Lâchez tout“, S. 263.
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wiederholt diese surrealistische Geste des Bruchs durch seinen ostentativen Zusatz „déjenlo todo, nuevamente“ und propagiert nun seinerseits einen neuen infrarealistischen Weg. Der surrealistische Geist in den poetischen und lebensweltlichen Ortsbestimmungen der Infrarealisten klingt auch noch in den 1990er Jahren an, z.B. in der persönlichen, poetisch-provokativ formulierten „Carte d’identité“ von Mario Santiago Papasquiaro auf dem rückseitigen Umschlag seines Gedichtbandes Aullido de Cisne (1996): […] Su profesión es darse cuenta. Su verdad / ninguna. Su número teosófico: el 69. Su alter ego / sueño & guía: Edmundo Dantés/Conde de Montecristo. Su máxima ilusión: meterle 1 gol de corner a la ausencia flagrante del Dios Campeador. Escribe como camina/a ritmo de chile frito. A tranco firme & sin doblarse […]9 Der avantgardistische Echoraum des Infrarealismus ist aber mit diesen Hinweisen noch nicht vollständig ausgeleuchtet. Auch heute sind die Informationen über die „Infras“, die quer zur offiziellen Literaturszene Mexikos standen und für ihre aggressiven Verweigerungsakte berüchtigt waren (und noch immer sind?), noch sehr fragmentarisch. Vereinzelte Spuren lassen sich allerdings anhand von verschiedenen meist schwer greifbaren Publikationen fast bis in die Gegenwart verfolgen: etwa in den „Hojas de poesía“ mit dem Titel Calandria de Tolvañeras in den 80er Jahren oder in der Zeitschrift La Zorra vuelve al gallinero, deren erste Ausgabe im Jahre 1992, mit einer Umschlaggestaltung von Rodolfo Zanabria erschien, der häufig die Publikationen von Mario Santiago illustrierte. Die zweite Ausgabe der Zeitschrift erschien erst im Jahre 2000, die dritte im Jahre 2002. Auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe wird verheißungsvoll angekündigt: „Lo que no era nada ha vuelto“10. In dem Heft findet man eine repräsentative Sammlung von Gedichten und Texten infrarea9
Santiago: Aullido de Cisne, Rückseite des Buchumschlags. Übersetzung: „Sein Beruf ist sich bewusst werden. // Seine Wahrheit / keine. // Seine theosophische Zahl: die 69. //Sein alter ego / Traum & Führer: // Edmond Dantès /Graf von Monte Cristo. // Seine größte Illusion: der offenkundigen Abwesenheit des Gottes Campeador 1 Eckballtor rein zu schießen. // Er schreibt wie er geht / im Rhythmus frittierten Chilis. // Festen Schrittes & ohne einzuknicken […].“ [diese und alle folgenden Übersetzungen von Susanne Klengel und Isabel Maurer Queipo: Es handelt sich um sinngemäße Übersetzungen, die selbstverständlich nicht das wortspielerische Potential der Originale widerspiegeln können.]
10 Übersetzung: „Was nichts war, kehrt wieder.“
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listischer Dichter wie Mario Santiago, Bruno Montané, Guadalupe Ochoa oder Pedro Méndez. Auch Roberto Bolaño ist mit einem poetischen Prosatext vertreten, in dem aber ein überraschend melancholischer Ton anklingt. „Ya no sé qué decir“11 heißt es öfter in diesem autobiografisch geprägten Text, der Lebensstationen erinnert und am Ende schließlich die Fragen aufwirft: „¿Es este el recital de poesía que me cubría?“, „¿Es este el recital de poesía que yo esperaba?“12 Es scheint, als deute sich hier bereits der Weg zu der großen Erinnerungsarbeit an, die Bolaño in seinem Roman Los detectives salvajes leistet, wo er den poetischen Leibraum dieser verlorenen infrarealistischen Neo-Avantgarde unter dem Namen „realvisceralismo“ rekonstruiert.
Spurensicherung 2: Wildes Detektivspiel: Die verlorenen Spuren des Estridentismus Doch der Realviszeralismus ist nur die eine Seite der Medaille im Roman. Er bildet im Grunde den Rahmen für eine weitere Suchbewegung. Die Jagd der wilden Dichter-Detektive gilt nämlich einer historischen Avantgardebewegung, in der sie ihr Vorbild erkennen: dem Estridentismus und seinem Umfeld. Cesárea Tinajero heißt die fiktive Leitfigur des Romans, sie ist das Vexierbild, nach dem Arturo Belano und Ulises Lima fahnden. Die verschollene Dichterin mit ihrem unbekannten Werk aus dem Umfeld der Estridentisten wird als Gründungsfigur des Realviszeralismus ausgemacht. Doch fällt bei dieser abenteuerlichen Suche der Blick im Grunde immer wieder auf den Estridentismus zurück. Mit Manuel Maples Arce kommt im Roman sogar ein realer historischer Protagonist kurz zu Wort. Die estridentistische Hauptrolle spielt indessen Amadeo Salvatierra, ein (fiktiver) Zeitzeuge, der über schwer auffindbare Dokumente von und über Cesárea Tinajero verfügt. Bei viel Tequila kommen Belano und Lima mit Salvatierra immer intensiver ins Gespräch über die rätselhafte Dichterin. Gleichzeitig wird das estridentistische Projekt einer mexikanischen Moderne aufgerollt: Der provokative Thesenanschlag von Manuel Maples Arce in Form des Manifests Actual No. 1 an den Wänden der Hauptstadt (1921) wird ausführlich zitiert und kommentiert. Ebenso die spätere Zusammenarbeit der Estridentisten mit der Regierung des Staates Veracruz in Jalapa und das kühne Projekt einer zukünftigen „Estridentopolis“. Aber auch in indirekten Anspie-
11 Übersetzung: „Ich weiß nichts mehr zu sagen“. 12 Bolaño: „Un resplandor en la mejilla. Paisaje de cisnes instantáneos“; (hier insb. S. 4 u. S. 7). Übersetzung: „Ist das die Dichterlesung, die mich einhüllte?“, „Ist das die Dichterlesung, die ich erwartete?“
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lungen ist der Estridentismus präsent, etwa wenn Salvatierra in seinem Tequilarausch zu träumen beginnt... von IHR, die zielstrebig über den Zócalo geht, durch die Straßen des Zentrums, im Menschengewimmel, eine junge Frau in der Betriebsamkeit der Straßen von Mexiko-Stadt... er glaubt, es sei Cesárea und murmelt „¿adónde vas, Cesárea Tinajero?“13, während sie seinen Blicken entschwindet. Das Vexierbild Cesáreas verbindet sich mit dem Faszinosum der jungen Frau, deren flüchtige Erscheinung wie bei Baudelaire und in den surrealistischen Texten auch in den estridentistischen Texten ein Merkmal der städtischen Physiognomie bildet. SIE/Cesárea ähnelt der „Señorita etc.“ (1922) oder „Mabelina“ (El Café de Nadie, 1926) in den estridentistischen Erzählungen von Arqueles Vela. Sie ist vielleicht „Ella que está siempre a XV minutos del Zócalo“14 gemäß dem Motto des Gedichtbands Esquina von Germán List Arzubide (1923). Liest man die estridentistischen Gedichte und Erzählungen über die moderne Stadt, ihre Cafés und Begegnungen, ihre moderne Technik, Apparate, Verkehrsmittel und Verbrechen, dann lässt sich schnell eine Verwandtschaftslinie zu der in Los detectives salvajes bezwingend entfalteten, faszinierenden und wilden Stadtthematik herstellen. Bolaños Detektive sind hartnäckig: Im letzten Teil des Buchs finden Belano, Lima, García Madero und Lupe nach einer irrwitzigen Autofahrt durch die Wüsten von Sonora endlich Cesárea Tinajero, die aber bei einem Showdown mit den Verfolgern der Gruppe nur wenig später ums Leben kommt. Das geheimnisvolle Verschwinden der weiblichen Figur, jenes estridentistische (und surrealistische) Sehnsuchtsmoment in der modernen Stadt, wird somit in den Zeiten des Realviszeralismus rabiat entzaubert. Dennoch endet Bolaños Buch rätselhaft. Zu sehen sind drei Kästchen: minimalistisch angedeutete Fensteröffnungen, deren letzte sich wie eine Fata Morgana auflöst – oder handelt es sich um eine Kinoleinwand, die nach dem Ende des Films langsam im Dunkel verschwindet?
Spurensicherung 3: In der Bibliothek: Von estridentistischen Texten und Kontexten Auch Bibliotheken sind unergründlich. Nach Bolaños realviszeralistischer Sicherung estridentistischer Spuren in Mexiko-Stadt und in der Wüste von Sonora kehren wir in die Welt der Iberoamerikanischen Bibliothek am Pots-
13 Bolaño: Los detectives salvajes, S. 242. Übersetzung: „Wohin gehst Du, Cesárea Tinajero?“ 14 Übersetzung: „Sie, die immer XV Minuten vom Zócalo entfernt ist.“
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damer Platz in Berlin zurück – mit der Überlegung, welch eigenartige Überraschung es wäre, wenn hier eines Tages die protorealvizeralistischen Werke Cesárea Tinajeros auftauchten, nach denen Arturo Belano und Ulises Lima so sehr gesucht hatten. Denn eine Recherche zum Thema des mexikanischen Estridentismus ist in dieser Bibliothek durchaus ergiebig. Eine beachtliche Zahl gut erhaltener Originaldokumente, die teilweise persönliche Widmungen enthalten, vermittelt einen direkten Zugang zur poetischen und künstlerischen Produktion des Estridentismus und seinem Projekt, dem von der Revolution ausgezehrten Mexiko zum Sprung in eine kosmopolitische Moderne zu verhelfen. Und in der Tat fallen die Werke sofort durch ihre leitmotivische Inszenierung von Ikonen der technischen Moderne auf: Maschinen, Rundfunkantennen, Telegrafenmasten, Stromkabel, Automobile, Flugzeuge und Hochhäuser. Das Ziel ist an dieser Stelle allerdings keine theoretische Studie zum Estridentismus.15 Ich versuche vielmehr, im Anschluss an Roberto Bolaños leibräumliche Rekonstruktion, durch einen Gang zu den Originaldokumenten einen möglichst „authentischen“ Blick auf die Ästhetik und Poetik des Estridentismus zu gewinnen. Wie in vielen anderen Avantgardebewegungen finden sich auch im Estridentismus kunstvoll gestaltete Bücher, in denen Text und Bild nicht zum Zwecke der wechselseitigen Illustration, sondern als eigenständige Kunstformen aufeinander treffen. Diese Verschränkung der Künste ist bekanntlich ein wichtiges Indiz für das Konzept einer umfassenden poetischen Lebenspraxis.16 Auffallend ist auch der hohe handwerkliche Aufwand bei der Gestaltung der Bände, die oft mehrfarbig und auf relativ gutem Papier hergestellt wurden. Kunstabbildungen wurden zum Teil als Farbtafeln eingeklebt. Im Folgenden seien zwei besonders aufwändig gestaltete Werke beschrieben. Der Gedichtband VRBE, super-poema bolchevique en 5 cantos von Manuel Maples Arce umfasst etwa 40 Seiten, auf denen sich die Verse der 5 Gesänge unregelmäßig angeordnet auf den Buchseiten entfalten. Das Titelbild und sechs weitere Holzschnitte wurden von Jean Charlot, der in der mexikanischen Wandmalereibewegung großes Ansehen genoss, gestaltet. Die Bilder zeigen, parallel zu Maples Arces Gesängen, verschiedene Aspekte der modernen Stadt: Panoramen, etwa auf dem schwarz-rot gestalteten Titelbild mit seinen anonymen Hochhäusern, die auf den Lettern VRBE wie auf einem mächtigen Fundament ruhen, Transportmittel wie Eisenbahnen und Transatlantikdampfer oder Flugzeuge („pajaros de acero“) oder ein Seegeschwader im aggressiven 15 Vgl. hierzu die umfassende, kommentierte Bibliografie in Forster: Las vanguardias literarias en México y la América Central. 16 Dieser Aspekt geht leider oft in späteren Textsammlungen verloren, wie z.B. in Luis Mario Schneiders außerordentlich wichtiger Anthologie (Schneider: El Estridentismo. México 1921-1927).
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Licht der Suchscheinwerfer. Die Gedichte und Bilder schwanken zwischen aggressiver Dynamik und Momenten des Innehaltens, zwischen Monumentalität und kleiner Geste: So schwebt z.B. über zwei gewaltigen Wolkenkratzern ein kleiner Heißluftballon, und ein winziges Strichmännchen winkt dem vorbeirauschenden Zug auf einem gigantischen Viadukt zu. Auch in Maples Arces Worten hat die bewegte VRBE, „ciudad fuerte y múltiple, hecha toda de hierro y de acero […] ciudad musical hecha toda de ritmos mecánicos“17 eine Kehrseite, denn nachts ist die Stadt verwundbar, sie erschrickt vor den wilden Horden, die über sie herfallen. Der Gesang der gewaltigen und gewalttätigen VRBE, Stadt der Technik und der Arbeit, ist eine vom Futurismus und den dramatischen Umbrüchen in der fernen Sowjetunion beeinflusste Vision, die später in die Vorstellung von der Stadt „Estridentopolis“ einmündet, die Germán List Arzubide in seiner Gesamtdarstellung El movimiento estridentista aus dem Jahre 1926, dem zweiten hier zu besprechenden Werk, ausführlich beschreibt und bebildert. Die Idee einer „Estridentopolis“ geht offenbar auf Germán Cueto zurück, den neben Ramón Alva de la Canal und Leopoldo Méndes wichtigsten Künstler der Gruppe, dessen Bedeutung als eigenwilliger und ungewöhnlicher Künstler der lateinamerikanischen Avantgarde in jüngerer Zeit auch international entdeckt wird.18 Cueto wird von List Arzubide als „formidable proyectista“ charakterisiert. Die vorgebliche Plakette an seinem Ateliereingang liest sich wie ein Aufruf zum poetischen Leben, der auch aus der Feder der Surrealisten hätte stammen können:19
17 Maples Arce: VRBE. Super-poema bolchevique en 5 cantos; Gesang 1. Übersetzung: „starke und multiple Stadt, ganz aus Eisen und Stahl gemacht […] musikalische Stadt, ganz aus mechanischen Rhythmen gemacht.“ 18 Germán Cueto gilt als einer der großen Unbekannten der mexikanischen und lateinamerikanischen Avantgarde, obgleich seine Werke schon 1930 in Paris gezeigt worden waren. Erst im Jahre 2005 fand die erste internationale Einzelausstellung seines Gesamtwerks im Madrider Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía statt. 19 List Arzubide: El movimiento estridentista, S. 73. Übersetzung: „GERMAN CUETO. PROJEKTE. // Wir sagen Ihnen, was Sie ahnen, mit unseren inkongruenten Apparaten. Wir organisieren interastrale Reisen. Wir kennen die Quadratur des Raumes. Unsere Berechnungen gründen auf der vierten Dimension. Wir horchen das Herz der Unendlichkeit ab. Möchten Sie ein Held sein? Wir kennen die Ebene der Zukunft, wir können Ihnen eine Route in den Ereignissen empfehlen. // Besuchen Sie uns. Beratungen gratis für die Phantasiearmen.“
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GERMAN CUETO. PROYECTOS. Le diremos lo que usted intuye, con nuestros aparatos incongruentes. Organizamos viajes interastrales. Sabemos la cuadratura del espacio. Nuestras medidas se basan en la cuarta dimension. Auscultamos el corazón del infinito. ¿Quiere usted ser un heroe? Conocemos la plana del futuro, podremos recomendarle una ruta en los acontecimientos. Véanos. Consultas gratis para los pobres de imaginación.
Estridentopolis wird bei List Arzubide immer wieder erwähnt, beschrieben und bildlich anhand von futuristischen Architekturen oder Fotos von Funktürmen, Sendemasten, Telegrafenleitungen und Großstadtskylines in Szene gesetzt. Neben Werken von Ramón Alva de la Canal finden sich auch Fotos von Tina Modotti und Edward Weston sowie eine Zeichnung des peruanischen surrealistischen Dichters César Moro. Auch die Präsenz bekennender Apologeten der modernen Stadt ist auffallend. Das Buch enthält eine große Zahl an stilisierten Porträts, Karikaturen sowie von Reproduktionen der inzwischen berühmten Masken von Germán Cueto, die auf farbigem Hintergrund bzw. als eingeklebte Farbtafeln abgebildet sind – darunter eine besonders grimmige mit dem lachenden List Arzubide (vgl. Abb. 1). List Arzubides Buch, „relato del único movimiento revolucionario-literario-social de México“, wie es im Kolofon heißt, ist „Huitzilopoxtli, manager del movimiento estridentista“ gewidmet und versteht sich als „homenaje de admiración azteca“20. Das Buch ist ein mitreißender Einblick in das estridentistische Universum, eine komplexe Collage, ein Gesamtkunstwerk aus Erinnerungen, Anekdoten, absurden Dialogfragmenten, Gedichten und Zitaten. Hinzu kommt eine Vielzahl von Abbildungen (z.B. der estridentistischen Manifeste) in Verbindung mit typografischen Signalen, die narrative Zusammenhänge des Buches markieren und herstellen. Das Buch darf keinesfalls als historische Darstellung des Estridentismus gelesen werden. Es vermittelt vielmehr einen Eindruck von einem im wörtlichen Sinne poietisch-schöpferischen Leben, das 20 Ebd., S. 9. Übersetzungen: „Bericht/Erzählung der einzigen revolutionär-literarisch-sozialen Bewegung Mexikos“; „Huitzilopoxtli, Manager der estridentistischen Bewegung“; „Huldigung aztekischer Bewunderung“.
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Kunst und Leben zusammendachte, was bei einigen Estridentisten später tatsächlich zu einer eigenen Beteiligung an den sozialen Bewegungen geführt hat.
Abbildung 1: Germán List Azurbide: El Movimiento Estridentista, Jalapa: Ediciones de Horizonte, 1927, S. 6
Germán List Arzubide hat seine Bücher offenbar an den argentinischen Juristen Ernesto Quesada geschickt. Durch dessen Schenkung an den Preußischen Staat gegen Ende der 1920er Jahre gelangten diese estridentistischen Originalwerke in den Gründungsbestand des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin, wo sie heute zu den Rara gehören. Roberto Bolaños wilde und großartige Rekonstruktion geht freilich über diese historisch-philologische Spurensicherung hinaus. Denn der Text deckt zugleich das Paradox des rekonstruktiven Unterfangens auf, indem er anhand der Rekonstruktion des historischen Estridentismus eine andere Suche postuliert: die Suche nach jener avantgardistischen Geste der Verweigerung, die auf spektakuläre Weise poetisch gelebt werden kann, die sich aber letztlich der Darstellung entzieht.
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Literaturverzeichnis Benjamin, Walter: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. II, 1, Frankfurt a.M. 1980, S. 295-310. Bolaño, Roberto: Los detectives salvajes, Barcelona 1998. Bolaño, Roberto: „Un resplandor en la mejilla. Paisaje de cisnes instantáneos“, in: La zorra vuelve al gallinero, Nr. 1, 1992, S. 4-7. Bolaño, Roberto: „La nueva poesía latinoamericana: ¿Crisis o renacimiento?“, in: Plural, Nr. 68, 1977, S. 41-49. Bolaño, Roberto: „El estridentismo“, in: Plural, Nr. 61, 1976, S. 48-50. Bolaño, Roberto: „Tres estridentistas en 1976: Arqueles Vela, Maples Arce, List Arzubide“, in: Plural, Nr. 62, 1976, S. 48-60. Breton, André: „Lâchez tout“ [1922], in: Œuvres Complètes, Édition de la Pléiade, hrsg. v. Marguerite Bonnet, Bd. 1, Paris 1988, S. 262-263. Campos, Javier: El ‚Primer Manifiesto de los Infrarrealistas‘ de 1976: su contexto y su poética en ‚Los detectives salvajes‘. (www.letras.s5.com /Jc011009.htm), 2006. Clifford, James: „On Ethnographic Surrealism“, in: The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature and Art, Cambridge (Mass. USA) 1988, S. 117-151. Forster, Merlin H.: Las vanguardias literarias en México y la América Central. Bibliografía y antología crítica, Frankfurt a.M. (Iberoamericana) 2001. Klengel, Susanne: „Infrarealismo y Estridentismo. Rastreando huellas“, in: Haase, Jenny u.a. (Hrsg.): El andar tierras, deseos y memorias. Homenaje a Dieter Ingenschay, Madrid/Frankfurt a.M. 2008, S. 323-333. La zorra vuelve al gallinero. Revista de arte y poesía, Nr. 1, 1992. List Arzubide, Germán: El movimiento estridentista, Jalapa 1926. Maples Arce, Manuel: VRBE. Super-poema bolchevique en 5 cantos, Mexiko 1924. Página del movimiento infrarrealista de poesía. (www.infrarrealismo.com). Promis, José: „Poética de Roberto Bolaño“, in: Espinosa, Patricia (Hrsg.): Territorios en fuga. Estudios críticos sobre la obra de Roberto Bolaño, Santiago de Chile 2003, S. 47-63. Santiago Papasquiaro, Mario: Aullido de Cisne, Mexiko 1996.
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Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Ausstellungskatalog, Red. Michael Bollé, Berlin 1988. Schneider, Luis Mario: El Estridentismo. México 1921-1927, Mexiko 1985.
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Volker Roloff
Surreale Medienspiele Anmerkungen zu Carlos Fuentes’ Diana o la cazadora solitaria und
Los años con Laura Díaz Es ist offensichtlich, dass der europäische Surrealismus, der nicht nur in Frankreich, sondern ebenso in Spanien seinen Ursprung hat, in der lateinamerikanischen Literatur seine stärksten Wirkungen zeigt. Er prägt seit Borges vor allem auch die Erzählliteratur sowie die Lyrik und Essayistik nach dem Zweiten Weltkrieg, von Cortázar, Carpentier, Octavio Paz, bis hin zu García Márquez, Rulfo, Cabrera Infante und vielen anderen, um nur einige der wichtigsten Namen zu nennen.1 Ebenso wichtig sind die Wirkungen im Bereich des Theaters, des Films, der Malerei und Musik. Dabei geht es um Transformationen und Verwandlungen, die den Surrealismus nach Breton kennzeichnen, um neue Formen, die sich zum Teil von den älteren surrealistischen Spielregeln und Programmen lösen und mit den Prämissen und Abgrenzungen Bretons und seiner Gruppe nicht mehr zu erfassen sind. Es erscheint daher sinnvoll, den engen Rahmen des historischen Surrealismus französischer Provenienz von einer weiter reichenden Ästhetik des Surrealen zu unterscheiden, die bis in die Gegenwart spürbar ist und vor allem in Spanien und Lateinamerika eine erstaunliche Dynamik entwickelt. Bemerkenswert erscheint dabei, wie sich die bekannte surrealistische Aversion gegen bestimmte Typen des Romans und traditionelle Erzählformen in der lateinamerikanischen Literatur mit einer verblüffenden Leichtigkeit in eine neue, geradezu exzessive Erzählfreude verwandelt. Diese ist ein Produkt der surrealistischen Programmatik selbst, nämlich die ironische Kehrseite einer verdrängten, aber immer latent vorhandenen Narrativität, wobei aber, gerade auch in den längeren, quasi episch ausschweifenden Romanen wie García Marquez’ Cien años de soledad, Carpentiers Siglo de las luces oder Cortázars Rayuela die figurativen, abstrakten, traumanalogen und bildhaften Formen der surrealistischen ars combinatoria einen Angelpunkt bilden. Die von vielen französischen Surrealisten der 1920er und 1930er Jahre eher verdrängte und verleug-
1
Vgl. Klengel: Amerika-Diskurse der Surrealisten; Felten/Maurer Queipo (Hrsg.): Intermedialität in Hispanoamerika: Brüche und Zwischenräume, Felten/Roloff (Hrsg.): Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus; Wentzlaff-Eggebert (Hrsg.): Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext.
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nete Gattung des Romans taucht in Lateinamerika überraschenderweise wieder auf; aber nicht in den vertrauten Mustern der Moderne des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern vor allem mit dem Rückgriff auf prämoderne Erzähltraditionen, insbesondere spätmittelalterliche Formen, die besonders in Spanien bis ins 17. Jahrhundert eine Rolle spielen. Entsprechende Gattungen (wie z.B. Hagiographie, Schwank, ‚Volksbücher‘, Abenteuerroman, Spätformen der Artusepik und vor allem pikareske Erzählweisen, karnevaleske Formen bei Rabelais, Cervantes, Quevedo) werden, z.T. in parodistischer und ironischer Verfremdung, aktualisiert.2 So entsteht eine neue Erzählfreude mit karnevalesken und pikaresken Elementen, die bereits bei Borges angelegt ist und z.B. bei Mário de Andrade (Macunaíma, 1928), bei Cortázar und Carpentier immer mehr zur größeren Romanform tendiert – zugleich aber deutliche Bezüge zum Surrealismus erkennen lässt.3 Die lateinamerikanischen Autoren zeigen, dass es möglich ist, surrealistische Verfahren und romaneske Erzählformen zu verbinden und auf diese Weise – wie der sogenannte ‚Boom‘ lateinamerikanischer Romane bestätigt – ein größeres Publikum zu erreichen. Dies gilt besonders auch für Carlos Fuentes, dessen Neigung zum Surrealismus bisher aber – überraschenderweise – weniger beachtet wird.4 Fuentes bezieht sich z.B. in seinem Werk La nueva novela hispanoamerica (1969) vor allem auf Borges, der mit seiner Ironie und Spielfreude mit Kategorien wie „mitificación, alianza de imaginación y crítica, ambigüedad, humor y parodia“ die neue lateinamerikanische Erzählkunst begründet habe.5 Obwohl Carlos Fuentes immer wieder Borges, Cortázar, Octavio Paz, Carpentier und García Márquez als seine Vorbilder erkennen lässt, gibt es bisher nur wenige Versuche, die Erscheinungsformen der surrealistischen Ästhetik im Werk von Fuentes genauer zu untersuchen. Man könnte im Anschluss an Fuentes Erzählungen Los días enmascarados von Masken, Metamorphosen, Rollenspielen und Verrätselungen sprechen, die im Werk von Fuentes die Ästhetik des Surrealen verdeutlichen6 und die den Zusammenhang von Ge-
2
Vgl. Teuber: Sprache – Körper – Traum; Wild: „Merlinus poeta“.
3
Vgl. Roloff: „Vom Surrealismus zur postmodernen Erzählfreude“; Wild: Paraphrasen der Alten Welt: Interkulturelle Ästhetik im Werk Alejo Carpentiers.
4
Bevorzugt werden, je nach Auswahl der Romane von Fuentes, Zuordnungen und Begriffe wie realismo symbólico, metafiktionale Geschichtsromane, Kategorien wie z.B. ‚Hybridisierung‘, ‚Hypertextualität‘ – und besonders nach Cambio de piel (1967) und Terra nostra auch Postmoderne; vgl. z.B. Sauter de Maihold: Del silencio a la palabra., S. 311, Leopold: Der Roman als Verschiebung. S. 89ff., Dröscher/Rincón (Hrsg.): Carlos Fuentes’ Welten, S. 21ff.
5
Fuentes: La nueva novela hispanoamericana, S. 24, 26.
6
Vgl. Paz: „La máscara y la transparencia“.
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schichte und Phantasie, von kollektivem und individuellem Imaginären illustrieren. Fuentes betont immer wieder die offene und verdeckte Präsenz der präkolumbianischen Kultur in Mexiko und die damit verbundenen Träume der Conquista: „Es que siempre he pensado que en Mexico hay subterráneos de la memoria, de la imaginacion, de la realidad.“7 Ich kann angesichts der Vielfalt der Bezüge, die Carlos Fuentes mit dem Surrealismus verbindet, hier nur einzelne Beispiele herausgreifen. Zwei bisher noch nicht erwähnte Künstler nehmen dabei eine Sonderstellung ein, da sie nicht nur in den Essays von Fuentes, sondern zugleich auch als Romanfiguren auftreten: Buñuel und Frida Kahlo, sie repräsentieren in dieser Doppelrolle die neue Ästhetik des Surrealen in einer exemplarischen Weise, Buñuel in Diana o la cazadora und Frida Kahlo in Los años con Laura Díaz. Hinzu kommt ein für Fuentes besonders wichtiger Aspekt, den ich mit dem Begriff Surreale Medienspiele andeute. Frida Kahlo und Buñuel sind Beispiele für die Intermedialität des Surrealismus, Buñuel für eine Filmkunst, die von Anfang an durch die Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Theater und Film geprägt sind, und Frida Kahlo als Malerin, die insbesondere in dem Tagebuch, aber auch in vielen anderen Texten eine, wie Renate Kroll es nennt, „sprach-bildnerische“ Schreibkunst entwickelt,8 eine literarische Ästhetik des Schauens, die sich in den Passagen und Zwischenräumen der Künste entwickelt und dabei auch die Fotografie einbezieht. Beide Künstler sind, wenn auch auf verschiedene Weise, paradigmatisch für eine mexikanische Aktualisierung jener intermedialen Experimente, die den Surrealismus von Anfang an bestimmt haben und von Fuentes weitergeführt werden.
Buñuel und Diana o la cazadora solitaria Kapitel 26 von Diana o la cazadora solitaria, in dem das Treffen zwischen dem Ich-Erzähler und Buñuel geschildert wird, bietet für Fuentes zunächst den Anlass, auf bestimmte Unterschiede zwischen dem französischen und spanischen Surrealismus hinzuweisen. Auffällig ist, daß die französischen Theoretiker des Surrealismus selbst dann schöne Essays und andere Texte in einer kartesianisch klaren Sprache hinterlassen haben, wenn Sie nach einer automatischen
7
Fuentes zit. in: Sauter de Maihold: Del silencio a la palabra, S. 311; Übersetzung: „Es ist einfach so, dass ich immer geglaubt habe, in Mexiko gebe es tiefere Schichten der Erinnerung, der Einbildungskraft, der Realität.“
8
Kroll: Blicke die ich sage, S. 15.
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Schreibweise und dem „Entgrenzen aller Sinne“ verlangten. Von der Provokation abgesehen, scheinen die französischen Surrealisten ihre rationalistische Kultur nicht aufs Spiel zu setzen und geben ihr auch nicht den Anhauch jenes Wahnsinns zurück, der Rabelais und Villon beseelt haben muß. Es sind jene Surrealisten, die ohne Theorie und intuitiv vorgehen, wie etwa Buñuel in Spanien und Max Ernst in Deutschland, denen es gelingt, ihre Kultur und ihre Kunst einzubringen, womit sie der Vergangenheit eine kritische Aktualität verleihen und die historisch widernatürlichen Grenzen der modernen Neuerungssucht aufzeigen. Alles ist in weit zurückreichende Erinnerungen und in Böden einer alten Geschichte verwurzelt. Wenn man sie aufwühlt, taucht die wahre Moderne hervor: die Gegenwart der Vergangenheit, die Warnung vor dem Hochmut des Fortschritts. Die spanischen Mystiker, die Schelmenromane, Cervantes und Goya waren die Väter des Surrealismus Buñuels, ebenso wie die nächtliche, grausame und überschwängliche Phantasiewelt des deutschen Märchens die Mutter Ernsts war.9 Dabei nimmt Fuentes eine Position ein, die Buñuel selbst, u.a. in seiner Autobiographie, in seinem kritischen Rückblick auf den frühen Surrealismus formuliert hatte und die für die spanische und lateinamerikanische Rezeption des Surrealismus bezeichnend ist: Die Erweiterung des Spektrums im Rahmen einer Ästhetik des Surrealen, die schon in ihrer frühesten Phase, z.B. im Theater von Valle-Inclán, Lorca, in den frühen Filmen von Buñuel und Dalí oder bei Picasso, durch spektakuläre Rückgriffe auf prämoderne, archaische pikareske und karnevaleske, aber auch mystische Traditionen Spaniens geprägt ist und sich dabei nicht nur auf literarische Texte bezieht, sondern sich vor allem auch von den spanischen Bildwelten von Hieronymus Bosch bis hin zu Goya inspirieren lässt. Die kritische Diskussion der, wie Fuentes bemerkt, im französischen Surrealismus noch erkennbaren rationalistischen Kultur der kartesianischen Sprache ist typisch für die lateinamerikanische Interpretation und Neuorientierung des Surrealismus, die mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verstärkt einsetzt und mit einer radikalen Diskurskritik verbunden ist – mit der Kritik an einer europäischen und eurozentrischen Denkweise, die, trotz Humanismus, Aufklärung und Fortschrittsglauben, die Katastrophe des Weltkrieges und der faschistischen Diktaturen nicht verhindern konnte. Fuentes folgt in dieser Hinsicht der Argumentation von Buñuel, Octavio Paz und Carpentier, die an der ursprünglichen Idee des Surrealismus durchaus festhalten, zugleich aber in einer lateinamerikanischen Perspektive neu formulieren und erweitern. In dem Essay El surrealismo aus dem Jahre 1954 betont Octavio Paz: 9
Fuentes: Diana oder die einsame Jägerin, S. 174f.
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Von Tag zu Tag wird klarer, daß das von der westlichen Zivilisation errichtete Gebäude für uns ein Gefängnis, ein blutiges Labyrinth, ein kollektives Schlachthaus geworden ist. Es ist daher kein Wunder, daß wir die Wirklichkeit in Frage stellen und nach einem Ausweg suchen. Eben das will der Surrealismus. Er ist eine radikale Infragestellung dessen, was von unserer Gesellschaft bis heute für unveränderlich gehalten wurde, wie auch ein verzweifelter Versuch, einen Ausweg zu finden.10 Für Octavio Paz, ebenso wie für Carpentier und Fuentes, liegt die Faszination und Subversivität des Surrealismus nach wie vor darin, die – so Fuentes – dunkle, unsichtbare, vergessene Seite der Wirklichkeit aufzudecken, „el descubrimiento de lo invisible, de lo no dicho, de lo olvidado, de lo marginado, de lo perdido […]“11. Wie bei Buñuel ist auch für Fuentes die Frage, wie man das Unsichtbare sichtbar machen kann, der entscheidende Ausgangspunkt. Es geht um eine Veränderung der Wahrnehmung, eine andere Art zu sehen. In dem Essay Luis Buñuel und das Kino der Freiheit, in dem Fuentes an die Reflexionen in Kapitel 26 des Diana-Romans anknüpft, wird der Gedanke weitergeführt: Buñuels unzufriedene Figuren verkörpern eine andere Wahrnehmung, eine andere Art zu sehen, die nur dadurch erreicht wird, dass Augäpfel aufgeschlitzt werden, dass das Unmögliche begehrt wird, all das, was in unserer Gesellschaft aus moralischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen verborgen, verstümmelt, verformt, oder der Zeit des Ortes, des Namens oder der Reflexion beraubt wurde. Er ist ein Dichter. Wie soll man das Namenlose benennen, wie kann man das Unsichtbare sehen? Deshalb besteht Buñuel so auf dem Traumhaften: um sich eine maßlose Begierde vorstellen zu können. Durch Träume gelangen Männer und Frauen (und Kinder natürlich; träumen Tiere?) zu der wunderbaren und schrecklichen Wahrnehmung dessen, was niemals sein wird. Aber wenn der Traum zur Traumwirklichkeit wird, wird er zu einer unmöglichen Wirklichkeit, einer anderen verborgenen und darum nicht weniger wahren Seite der Wirklichkeit, einem der stärksten Anker der Begierde. In Buñuels Filmen manifestiert sich der Glaube an die erste und zerbrechliche Begegnung von Begierde und Freiheit im Traum.12
10 Paz: „Der Surrealismus“, S. 260. 11 Fuentes zit in: Dröscher/Rincón (Hrsg.): Carlos Fuentes’ Welten, S. 40; Übersetzung: „die Entdeckung des Unsichtbaren, des Unsagbaren, des Vergessenen, des Randständigen und des Verlorenen“. 12 Fuentes: „Luis Buñuel und das Kino der Freiheit“, S. 177f.
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Was Buñuel als Dichter und Filmregisseur durchschaubar macht, das hinter den Bildern Verborgene, ist für den Erzähler das Imaginäre der mexikanischen Geschichte, das Unterirdische, die teils noch sichtbare, teils verdrängte Präsenz der präkolumbianischen Kultur und der Grausamkeiten der Conquista. Mit der Frage, wie man das Namenlose benennen, das Unsichtbare sehen kann, erinnert Fuentes nicht nur an die frühen Filme von Buñuel, sondern auch an die späteren mexikanischen sowie spanischen und französischen Filme des Regisseurs, die, seit Los Olvidados (1950), sich wieder einer „forma tradicional del relato“ anzunähern scheinen.13 Schon Octavio Paz hat erkannt, dass dieser Eindruck täuscht, dass Buñuel, wenn auch auf anderem Wege, dabei nur umso deutlicher das Abgründige, Irrationale der Wirklichkeit zum Vorschein bringt. In einem Vortrag an der Universidad de México 1958 „El cine, instrumento de poesía“ bekennt sich Buñuel ohne Einschränkung zu diesem Leitgedanken des Surrealismus: „El cine es un arma maravillosa y peligrosa si la maneja un espíritu libre. Es el mejor instrumento para expresar el mundo los sueños, de las emociones, del instinto.“14 Entscheidend sei, wie Buñuel auch in einem Gespräch mit Max Aub anmerkt, dass z.B. in Nazarín und Viridiana die moralische Linie surrealistisch ist.15 Hinter dem filmischen Erzählen stecke der Versuch einer „visión integral de la realidad“, die Welt der Träume und Phantasmen, das Unheimliche und Groteske. Genau diese Position fasziniert Fuentes, wenn er in der Buñuel-Episode in Diana Buñuels locura auf Goya zurückführt: Buñuel hatte mit Goya den Heimatboden gemeinsam, Aragonien, das Land mit dem Ruhm, die Heimat von Starrköpfen zu sein. Tatsächlich träumt niemand heftiger als die Kinder dieses Landes. Es sind Träume, die bis zum Äußersten gehen, die eines Hexensabbats und der Zwiesprache zwischen Menschen, vierfüßigen Tieren und Insekten.16 So wird die Ästhetik des Surrealen, die besonders Buñuels späte Filme auszeichnet, sein schwarzer Humor, seine Mischung von Groteske und Ironie zum Vorbild für Fuentes, für die Erzählweise und Konzeption seiner Romane und Erzählungen.
13 Paz zit. in: Sánchez Vidal: Luis Buñuel, S. 125. 14 Buñuel zit. in: Aranda: Luis Buñuel, S. 389; Übersetzung: „Das Kino ist eine wunderbare und gefährliche Waffe, wenn sie ein freier Geist bedient. Es ist das beste Mittel, um die Welt der Träume auszudrücken, der Emotionen, der Triebe.“ 15 Aub: Conversaciones con Buñuel, S. 67. 16 Fuentes: Diana oder die einsame Jägerin, S. 176.
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Die Buñuel-Episode in Diana hat, wie ich hier nur andeuten kann, eine weiterreichende Funktion, da sie durch offene und verdeckte Anspielungen mit dem Roman selbst verbunden ist. Der autobiographische Roman von Fuentes schildert einen amour fou, der sehr deutlich an Bretons Konzeption des amour fou erinnert, nicht zuletzt auch an Bretons Anmerkungen zu Buñuels L’Âge d’or, mit denen Breton in L’amour fou erstmals zur Bedeutung der filmischen Ästhetik Buñuels Stellung nimmt „Ce film demeure à ce jour la seule entreprise d’exaltation d’amour total tel que je l’envisage […].“17 Viele Motive Bretons finden sich daher auch bei Fuentes, z.B. die Faszination der beauté convulsive. Aber Fuentes erzählt seine Geschichte des amour fou konkreter und detaillierter mit eben jenem schwarzen Humor, mit derselben Ironie und Skepsis, die er bei Buñuel hervorhebt. Bretons eher vage, erotische Phantasien, seine literarische Suche der Transgression, Steigerung und Entgrenzung der Sinne z.B. in L’amour fou, aber auch in Nadja, verbinden sich bei Fuentes mit weiterreichenden Reflexionen über Sexualität, über die Beziehung zwischen sexuellem Begehren und einem Bewusstsein der Sünde, das besonders in der spanischen und auch mexikanischen Tradition wichtig ist und mit den Tabus der katholischen Kirche zusammenhängt. Das im Roman eingefügte Gespräch mit Buñuel über Sexualität, Ehebruch und Sünde erinnert den Erzähler an die verborgene Problematik seines eigenen amour fou, gewissermaßen an ihre dunkle Seite, „‚Sex ohne Sünde ist wie Ei ohne Salz.‘ Immer ging ich ihm in die Falle. Buñuel predigte die Keuschheit, um die Lust, das Verlangen, die Begierde des liebenden Leibes anzustacheln.“18 Aber das Gespräch mit Buñuel erinnert auch, um so mehr und irritierender, an die Lust der – von Buñuel repräsentierten – anarchischen Formen der Rebellion und des Widerstandes gegen die geltenden Regeln der bürgerlichen Gesellschaft und damit an die Utopie einer Freiheit, die, so Buñuel, sich schlecht verwirklichen lässt, aber als Idee der Surrealisten präsent bleibt: Daß der Anarchismus eine wunderbare Idee der Freiheit ist, niemanden über sich zu haben. Keine höhere Macht, keinen Zwang. Es gibt keine Idee, die sich in der Praxis schlechter verwirklichen läßt. Aber man muß die Utopie der Ideen bewahren.19 Die Figur der Geliebten, die ähnlich wie schon bei Breton durch literarische und mythologische Assoziationen zum Faszinosum, zum Objekt der Begierde wird, gerät bei Fuentes, in Bezug auf Diana, in einen Kontext antiker, aber 17 Breton: L’amour fou, S. 113 18 Fuentes: Diana oder die einsame Jägerin, S. 178. 19 Ebd., S. 170.
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auch präkolumbianischer Mythologie und sie erscheint darüber hinaus als ein Produkt der filmischen Phantasie, die den Erzähler noch vor seiner ersten Begegnung mit Diana reizt und verführt. Hinter Diana steckt die Filmschauspielerin Jean Seberg, die, seit Godards À Bout de souffle (1960), die Ästhetik der Nouvelle Vague und die Revolte der 68er-Generation verkörpert. Und sie ist am Ende dann doch die Gefangene in den Klischees des Hollywoodfilms. Es geht nicht darum, die Jägerin Diana mit Jean Seberg gleichzusetzen; der Schlüssel des Romans liegt vielmehr darin, die Figuren selbst, einschließlich der des Erzählers, als Phantome der Erinnerung, als Projektionen der 1960er und 1970er Jahre zu durchschauen. Alle Figuren sind Rollenspieler, die Masken tragen, sie sind bei Fuentes mehr oder weniger lächerlich, groteske Produkte der Diskurse und Inszenierungen der Mediengesellschaft der 1960er Jahre in Frankreich, Mexiko und den USA. Die Masken werden durch die Medien, besonders den Film, aber auch durch das Fernsehen modelliert und manipuliert, alle Rollen sind inszenierbar. So erweitert und modifiziert Fuentes mit den surrealen Medienspielen des Romans das Spektrum surrealistischer Verfahrensweisen. Die intermediale Analyse der Mediengesellschaft führt, wie der Roman zeigt, zur Aufhebung der Opposition von Realität und Imagination, die in der Frühzeit des Surrealismus schon angelegt ist und in der Gegenwart des Romans, in der Film- und Fernsehgesellschaft der 1960er Jahre eine neue Relevanz erhält.
Laura Díaz, Frida Kahlo und Diego Rivera Die Beziehungen zwischen Texten und Bildern sind in jüngster Zeit mit der Entwicklung der Intermedialitätsforschung, besonders im Blick auf Lateinamerika, stärker beachtet worden, z.B. in den bereits erwähnten Studien von Renate Kroll zum Tagebuch der Frida Kahlo und weiteren Arbeiten von Angelica Rieger und Uta Felten, die sich mit den Beziehungen zwischen literarischen und pikturalen Diskursen beschäftigen und die z.B. bei Octavio Paz und Frida Kahlo zeigen, „wie Bilder als Orte eines literarischen und Texte als Orte eines visuellen Gedächtnisses fungieren, dessen Körperbilder und Mythenkonstruktionen durch kulturelle Hybridität geprägt sind“20. In dem Roman Los años con Laura Díaz erscheinen Frida Kahlo und Diego Rivera einerseits als künstlerische Vorbilder, andererseits aber auch als Romanfiguren, die im fiktionalen Kontext eine wichtige Rolle spielen und zu weitreichenden in20 Felten: „‚Éste, que ves, engaño colorido‘ – Intermedialität und hybride Diskurspraxis in der mexikanischen Literatur und Mediengeschichte“, S. 255; vgl. Rieger: „El Diario de Frida Kahlo“, S. 122ff.
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termedialen Reflexionen Anlass geben. Es handelt sich um einen Roman, der, wie auch schon Diana o la cazadora solitaria, unter anderem als Medienspiel, als ars combinatoria zwischen Malerei, Fotografie und literarischem Text konzipiert ist. Zu diesem Thema gibt es bereits eine gut dokumentierte Studie von Nina Badenberg und Alexander Honold,21 die aber meines Erachtens einen Aspekt nicht genügend berücksichtigt: Carlos Fuentes Auseinandersetzung mit dem Surrealismus. Dabei geht es weniger um die historischen Kontakte zwischen Breton und Frida Kahlo, sondern um die Darstellung der Metamorphosen des Surrealismus, die in diesem scheinbar konventionell, fast behaglich erzählten Roman umso spektakulärer und irritierender in Erscheinung treten. Der Roman Los años con Laura Díaz konzentriert sich, wie auch schon La muerte de Artemio Cruz,22 auf Schlüsselszenen, die zeigen, dass durch das Zusammenspiel verschiedener Medien keine objektive Historiographie Mexikos zustande kommen kann, sondern vielmehr die Brüche, die Diskontinuitäten und Abgründe der Geschichte. Dargestellt werden das Arbiträre, die Subjektivität, das Traumatische und Gespenstische der Erinnerungen und Wahrnehmungen. Laura Díaz ist Zeitzeugin und Betroffene der wichtigsten Ereignisse der mexikanischen Geschichte, aber sie verwandelt sich am Ende in eine Fotokünstlerin, die z.B. das Massaker von 1968 auf dem Platz von Tlateloco nicht nur auf unheimliche Weise miterlebt, sondern durch ihre Fotos dokumentiert. Damit berührt der Roman ein zentrales Problem der Intermedialität, die Frage, wie die Bilder den Körper und die Sinne besetzen, die Frage der Wechselbeziehung zwischen äußeren und inneren Bildern und Stimmen. Unsere Bilderfahrung gründet zwar auf einer Konstruktion, die wir selbst veranstalten und doch wird sie gesteuert von der aktuellen Verfassung, in der die medialen Bilder modelliert sind. Es läuft auf einen Akt der Metamorphosen hinaus, wenn sich die gesehenen in erinnerte Bilder verwandeln, die fortan in unserem persönlichen Bildspeicher einen neuen Ort finden.23 Schon die erste Szene des Romans zeigt einen solchen Akt der Metamorphosen. Der Erzähler betrachtet im Jahre 1999 Diego Riveras Wandgemälde Die Industrie von Detroit, oder Mensch und Maschine, das 1932/33 im Detroiter Institute of Arts im Auftrag von Henry Ford entstanden ist, mit einem Kamerateam,
21 Vgl. Badenberg/Honold: „Geschichte als Bild in Los años con Laura Díaz“. 22 Vgl. in La muerte de Artemio Cruz (1962) die Funktion des Tonbandes in den Schlusskapiteln des Romans; Roloff: „Macht, Medien und Maskierungen – zum Engagement lateinamerikanischer Autoren“, S. 186f. 23 Belting: Bild-Anthropologie, S. 21.
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das das berühmte Bild für eine Fernsehdokumentation filmen soll. Der subjektive Blick verwandelt das Bild, das ursprünglich darauf angelegt war, die Dynamik der Arbeitswelt, die Symbiose von Mensch und Maschine darzustellen, in einer Zeit, in der die riesigen Wandgemälde von Rivera von vielen als realistisch angesehen wurden. Der Betrachter entdeckt 1999 in dem Bild Details, die noch niemand so gesehen hatte, z.B. in der Reihe der Gesichter der Arbeiterinnen nicht nur Frida Kahlo, sondern auch eine andere Frau mit einem Adlerprofil, das zu ihrer großen Gestalt passt, und er bemerkt ihren melancholischen Blick aus den umschatteten Augenhöhlen. Es ist Laura Díaz, die fiktive Protagonistin des Romans, die der Erzähler als seine Urgroßmutter erkennt.24 Carlos Fuentes sei, so N. Badenberg und A. Honold, zu sehr Romancier, „als dass es hier um interpretatorische Genauigkeit oder kunsthistorische Detailtreue ginge“; auch die bei Fuentes erwähnten aufrüherischen Blicke der Schwarzen suche man auf dem Wandbild vergebens.25 Aber es geht in den Romanen um etwas anderes, um eine Analyse jener Blicke, die prinzipiell die Grenzen und die Statik der Bilder überschreiten, d.h. das Bild verwandelt sich in der Narration und den Erinnerungen. Man kann, so formuliert es der Erzähler, kein Wandbild nur mit einem einzigen Blick erfassen: Man kann ein Wandbild nur scheinbar mit einem einzigen Blick erfassen. Seine Geheimnisse erfordern eine lange, geduldige Betrachtung, einen Blick, der sich nicht auf den Raum des Gemäldes beschränkt, sondern all das ergründet, was darüber hinausweist, jenen unausweichlichen Zusammenhang, der den Blick der Gestalten und des Betrachters zeitlos macht.26 Aus diesem Bild entsteht, in der Phantasie des Erzählers, der Roman von Laura Díaz. Diego Rivera wird in dem Roman in den späteren Kapiteln als ein Maler dargestellt, der das Groteske, die Kehrseite der sichtbaren Realität, darstellt, jenseits der Klischees des Realismus: „El artista sabe mejor: su arte no refleja la realidad. La funda.“27 Man kann das äußerst raffinierte, komplexe romaneske Spiel mit dem Wandbild von Rivera als eine neue Form der Surrealisierung kennzeichnen, die sich erst in der intermedialen Kombination verschiedener Medien ganz entfalten kann, als ein Spiel, in dem die Bilder, in dem Maße, in dem sie durch andere Medien und Blicke verwandelt werden, sich auflö24 Vgl. Fuentes: Die Jahre mit Laura Díaz, S.12. 25 Badenberg/Honold: „Geschichte als Bild in Los años con Laura Díaz“, S. 46. 26 Fuentes: Die Jahre mit Laura Díaz, S.13. 27 Fuentes: Los años con Laura Díaz, S. 177, Übersetzung: „Der Künstler weiß es besser: seine Kunst reflektiert nicht die Realität. Sie schafft sie.“
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sen und eine neue Gestalt annehmen. Mit im Spiel ist in der Konstellation des Romans Frida Kahlo, die bei der ersten Begegnung mit Laura Díaz als Göttin der Metamorphosen vorgestellt wird: Laura war überzeugt, daß Riveras Frau die Göttin der Metamorphosen war, die sie gemeinsam mit Großvater Felipe im Veracruzaner Urwald entdeckt hatte, jene Figur der Kultur von El Zapital, der Großvater Felipe Kelsen den mythischen Zauber nehmen wollte, indem er sie zu einem einfachen Wollbaum erklärte, damit das Mädchen nicht an Phantasiegeschichten glaubte – eine wunderbare Frauengestalt, die in die Ewigkeit sah, mit Schnecken und Schlangen umgürtet, an Armen, Nase und Ohren mit Ringen geschmückt und mit einer Krone, die der Urwald verfärbt hatte. Der Wollbaum war gefährlicher als die Frau, obwohl ihr Großvater etwas anderes gesagt hatte.28 Schon als kleines Mädchen hatte Laura in dem Urwald von Catemaco eine riesige Steinfigur entdeckt, die offensichtlich aus präkolumbianischer Zeit stammt.29 Jetzt hat Laura den Eindruck, dass Frida Kahlo die Inkarnation dieser indianischen Gottheit sei: „War Frida Kahlo der vergängliche Name einer indianischen Gottheit, die mitunter feste Gestalt annahm und hier oder da auftauchte, um sich mit Kriegern, Banditen und Künstlern in Liebe zu vereinen?“30 Die Begegnung zwischen Laura Díaz und Frida Kahlo gehört zu den Schlüsselszenen und Angelpunkten des Romans, die hier nicht im Einzelnen behandelt werden können. Carlos Fuentes entwickelt in seinem Roman hinter der chronologisch erzählten Lebensgeschichte Lauras eine magische Welt mit einer versteckten Mythologie, mit geheimnisvollen Figuren und Bildern, die Zusammenhänge andeuten, aber im Grunde rätselhaft und mehrdeutig bleiben. So entsteht ein romanhaftes Fresko und Szenario, in dem Realität und Phantasie, Geschichte und Fiktion sich vermischen und nicht mehr zu unterscheiden sind. So wie Frida Kahlo für Laura als Göttin der Metamorphosen erscheint, so verwandelt auch der Erzähler Frida Kahlo zu einer Romanfigur, die nicht nur surrealistische Bilder malt, sondern selbst durch ihre eigenen Bilder modelliert wird. Die Bilder von Frida Kahlo31 werden, als mise en abyme des Romans, zugleich Angelpunkte der Geschichte von Laura Díaz. In dem Roman 28 Ebd., S. 199. 29 Fuentes: Die Jahre mit Laura Díaz, S. 42, 42. 30 Fuentes: Los años con Laura Díaz, S. 199. 31 Z.B. F. Kahlos Bild mit der chinesischen Puppe, Henry Ford Hospital oder das Fliegende Bett (1932), dazu Badenberger/Honold: „Geschichte als Bild in Los años con Laura Díaz“, S. 66.
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von Fuentes geht es nicht mehr, wie für Breton, darum, Frida Kahlo für den europäischen Surrealismus in Anspruch zu nehmen, eine Zuordnung, die Frida Kahlo bekanntlich selbst skeptisch betrachtet.32 Man kann den Roman von Fuentes eher als eine Umkehrung der exotistischen Perspektive lesen, die bei Breton noch sehr deutlich ist und in der Mexiko selbst als paysage mental du surréalisme erscheint.33 Der Roman von Fuentes betont, so auch Badenberg/ Honold, Frida Kahlos verzweifelte Suche nach einer restitutio ad integrum,34 den Versuch ihren zerstückelten Körper und die verlorenen Kinder durch ein künstliches, künstlerisches Pendant zu ersetzen, und er betont ihr politisches Engagement, die radikale Kritik an der mexikanischen Gesellschaft. Und er zeigt insbesondere auch ihren schwarzen Humor, ihre Neigung zur grotesken, karnevalesken Komik. Für Fuentes ist Frida Kahlo, gerade in dieser Hinsicht, eine der wichtigsten Künstlerinnen, da sie die Metamorphosen des Surrealismus in Lateinamerika repräsentiert. Vor allem auch dadurch, dass sie die neue Mythologie der Surrealisten erweitert und sowohl mit einer prämodernen, barocken Tradition und darüber hinaus mit der präkolumbianischen Kultur Mexikos verbindet.
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Nachrichten vom Rande des Reiches: Surreale Peripherien zwischen Ungleichzeitigkeit und Aktualität Einstweilen muß man sich damit abfinden, dass der Surrealismus eben nur als eine literarische Schule betrachtet werden kann. (Maurice Nadeau)1 Auch beim Surrealismus muß man sich, um ihn wirklich zu verstehen, nicht an seine ‚Ideologie‘ halten, sondern an die Praxis. (Hans Sedlmayr)2
1.
Mentalität und Methode
Die Mentalität des Surrealisten ist jener grenzenlose Idealismus, der sich offenbar bald nur noch um den Preis einer seiner Komponenten – der Entgrenzung oder des Idealismus – bewahren lässt. Dies mag erklären, dass man ihm lediglich einen zeitgeschichtlich intermediären Charakter zugestand, der in der geschwundenen sozialen Bestimmung vor dem Hintergrund gewandelter gesellschaftlicher Bedingungen gründet. Nicht zuletzt Maurice Nadeau ist diese Sicht des Surrealismus zu verdanken. Er beschreibt den Surrealismus als zum Abschluss gekommene Bewegung unter dem Aspekt ihrer Geschichtlichkeit, was nicht zuletzt im Titel seiner klassischen Studie Histoire du surréalisme zum Ausdruck kommt: Das Experiment endet im Misserfolg: Die Welt lebt weiter, als gäbe es die Surrealisten gar nicht. Die Denk- und Verhaltensweisen, auf die die Surrealisten ihrem eigentlichen Anliegen gemäß einwirken wollten, werden durch ihr eifriges Anliegen überhaupt nicht verändert. […] Damit haben die Surrealisten das Spezialgebiet der politischen Revolutionäre betreten, und sie mühen sich auch, mit diesen zusammenzuarbeiten. […] Es ist leicht zu sagen, die Surrealisten seien gescheitert, wenn man die treibenden Kräfte der Bewegung geflissentlich außer
1
Nadeau: Geschichte des Surrealismus, S. 218.
2
Sedlmayr: Die Revolution der modernen Kunst, S. 81.
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acht lässt oder sie in den Ehrgeiz umdeutet, eine neue Literatur und eine neue Malkunst zu schaffen.3 Ungeachtet des weiteren Wirkens von Éluard, Breton, Ernst, Miró, Picasso und Dalí, das bekanntlich teils bis in die 1980er Jahre hinein reicht, scheint sich gerade in der hier beargwöhnten Spaltung das Problem der Wirkungsmächtigkeit des Surrealismus zu kristallisieren. Sieht man nämlich Surrealismus als gesellschaftsbezogenes – und somit zeitlich begrenztes – Phänomen, so hat man sich damit abzufinden, dass seine eher bescheidenen politischen Gestaltungskräfte gerade durch jene ästhetischen Aktivitäten ins Leere laufen, mit deren Verweigerung er kokettierte: „Einmal begehrte der Surrealismus gegen die Fetischisierung der Kunst als Sondersphäre auf, wurde aber als die Kunst, die er doch auch war, über die reine Gestalt des Protests hinausgetrieben.“4 Peter Bürger hat dem Phänomen einer immer kürzer werdenden Halbwertszeit antibourgeoisen künstlerischen Protestmoden und der damit einhergehenden beschleunigten Nobilitierung von Avantgardekunst seine Theorie der Avantgarde gewidmet. Offenbar scheint erst in der Trennung von Idealismus und Entgrenzung, oder aber von Ästhetik und Politik die Möglichkeit der Kunst zu bestehen, transhistorische Widerständigkeit zu entwickeln und zu behaupten. Sieht man hingegen Surrealismus als ästhetisch-stilistisches Phänomen im eigentlichen Sinn, als maniera und somit als historisch präzisierten Ort einer medial bedingten Wahrnehmungskonfiguration, so bietet sich an, das Ästhetische des Surrealismus vom Politischen der Surrealisten abzulösen. Der Erkenntniseffekt wäre die von G. R. Hocke5 bereits postulierte – wohl aber unter dem Einfluss Adornos6 nicht so recht etablierte – Kategorie des „Surrealen“ als einer zeitgenössischen Variante des Manierismus, deren ästhetische Komponenten eine über die Zwischenkriegszeit hinaus in die Gegenwartsliteratur und Kunst weisende Reichweite erlangen. Surrealismus wäre dann als gesellschaftlicher Aufbruch einer Gruppe französischer Intellektueller zwar ein folgenlos gebliebenes Experiment7, dessen stilistische Konfiguration dann das „surréel“ wäre: als von der politischen Ambition abgelöstes ästhetisches Merkmalsbündel wäre Surrealismus dann das frei verfügbare Arsenal einer 3
Nadeau: Geschichte des Surrealismus, S. 205f.
4
Adorno: Ästhetische Theorie, S. 339.
5
Hocke: Die Welt als Labyrinth; und ders.: Manierismus in der Literatur.
6
Adorno: Ästhetische Theorie, S. 504.
7
Nadeaus Geschichte des Surrealismus (S. 219ff.) stellt diesbezüglich ein leidenschaftliches Plädoyer für die Reduktion des Ästhetischen zu Gunsten des Politischen dar.
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post- oder neosurrealistischen Kunstproduktion, der womöglich später ähnliche poetische Auslöser- und Anregerfunktion für die gegenwärtige Literatur zukäme wie einst den Werken Pontormos und Caravaggios, Marinos und Tassos oder Nennas und Gesualdos für den späteren sog. Barock. Ästhetikgeschichtliche Verspätung koinzidierte dann mit der Rettung der um den Preis der „Inhalte“ entideologisiert freigesetzten stilistischen Komponenten. Diese formalen Komponenten lassen sich auf eine zentrale Kategorie zurückführen, die die Revolution des Surrealismus in wahrnehmungstheoretischer Hinsicht ausmacht. Das „surréel“ als lediglich ästhetisch definierter Surrealismus gründet vordergründig in der Forderung nach einer Aufhebung der Opposition Kunst versus Leben. Deren Verdikt begründet sodann die Absage an jegliche intellektuell kontrollierte poetische Produktion. Zumal mit der Aufhebung der Trennscheide Kunst/Leben kann der Surrealismus ein neues Verhältnis zur Wahrnehmung selbst entwickeln. Dieses äußert sich in einem neuen Verhältnis zu Wesen und Begriff des Bildes, mit Aragons Worten: die „leidenschaftliche Anwendung des Rauschgiftes BILD“8. Nicht grundlos arbeiten von vornherein bildende Künstler und Literaten in der surrealistischen Bewegung gemeinsam an der Produktion von Zeitschriften, die als spezifische Bild-Text-Konfigurationen konzipiert sind, um das Ziel eines „au-delà“ rezeptionsästhetisch anzuvisieren; und nicht minder eindrucksvoll belegt schon Breton mit seinem wohl aussagekräftigsten theoretischen Text Le surréalisme et la peinture (erstmals 1928), wie surrealistische aisthesis vorzugsweise sich an einem neuartigen Bildverständnis festmacht, das dem menschlichen Auge eine jenseits kultureller Kodierungen liegende originäre Rolle zuweist. Letztere beruht stets auf der intrikaten Kombinatorik bislang unvereinbar scheinender visueller, sprachlicher und akustischer Elemente. Noch in den sechziger Jahren feiert der Typograph Iliazd (d.i. Ilia Zdanewitsch), Herausgeber von Max Ernsts graphischem Spätwerk Maximiliana ou l’exercice illégal de l’astronomie (1964), in diesem Sinne die neue Malerei als „Zuflucht des Auges“9 angesichts einer stetig fortschreitenden Uniformierung des menschlichen Blicks. Die Emanzipation des „surréel“ von der Alltäglichkeit des „réel“ korreliert mit einer Verabsolutierung des Fundgegenstandes Bild, des sprachlichen wie optischen Ready-made zum entheimateten Museumsstück10. Unter dem Einfluss eines absichtsvoll naiv verstandenen Freudianismus löst surrealistische Perzeption das Ding aus der bisherigen diskursiven Klammer der sprachlichen, optischen und damit lebensweltlichen Syntax. 8
Zit. in: Fischer: Max Ernst, S. 61.
9
Ebd., S. 129.
10 Vgl. Wild: „Athaumasia – eine Theorie des Staunens aus musealem Geist. Medienarchäologische Überlegungen zur Protogenese des Surrealismus.“
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nicht als eine Sprache der Unmittelbarkeit, sondern als Zeugnis des Rückschlags der abstrakten Freiheit in die Vormacht der Dinge und damit in bloße Natur wird man den Surrealismus begreifen dürfen. Seine Montagen sind die wahren Stilleben. Indem sie Veraltetes auskomponieren, schaffen sie nature morte.11 Ein Blick in unsere zeitgenössischen Formen visueller Kommunikation – vom Hollywood-Kino über den kommerziellen Musikvideoclip bis zum Werbespot für eine Automarke – könnte als Beleg dafür dienen, wie mit der zeitlichen Verzögerung von mehr als einem halben Jahrhundert der einstmals schockierend neuartige Umgang des Surrealismus dergestalt zum medialen Handwerk geriet, gerade weil die von den historischen Avantgarden generierten und vom Surrealismus systematisierten Verfahren das BILD als Rauschmittel zur Erzeugung jener vorbewussten Aufmerksamkeit nutzen, die Breton in dem Rahmenessay zu Le surréalisme et la peinture auf gerade diesem subjektivistisch gegen das Primat der vostrukturierten Erkenntnis emphatisch gesetzt hatte: „il y a aussi ce que je vois différemment de ce que le voient les autres, et même ce que je commence à voir qui n’est pas visible.“12 Im „surrealen“ Bild, das aus einer „Mesalliance“ unvereinbarer Bestandteile der Dingwelt herrührt, erschließt sich Welt nur mehr als entautomatisierte Wahrnehmung der Dingwelt. Die so entstandene „Momentaufnahme“ einer chaotisierten Wirklichkeit13 beruht linguistisch gesehen auf der zerborstenen Syntax. Als Sprache erweist sich diese indes bloß als Oberflächenphänomen, das tiefenstrukturell auf eine Spaltung der Wahrnehmung selbst verweist. Mit ihr korrespondiert anstelle einer einheitlich sich auf das Subjekt hinordnenden Welt nur mehr das amorphe Sammelsurium einer assoziativ verschalteten Wirklichkeit, derer sich das Subjekt über ein verstärkt synästhetisches Moment glaubt versichern zu können: Es überrascht nicht, dass der späte Max Ernst in seiner Zeit in Huismes und Seillans zum Spaß durch die Fernsehprogramme „zappte“, während er gleichzeitig ein Bandgerät oder Schallplatten an Stelle des Originaltons laufen ließ.14 Diese Parodieform von Eisensteins „kontrapunktischer Montage“, die erstmals in Buñuels/Dalís Chien andalou (1928) erprobt wurde, verweist auf das Bedürfnis des Surrealismus nach einer Ursprünglichkeit, die dem wahrnehmenden Subjekt die Ekstase einer neuen Unmittelbarkeit der Bilder verleiht. Bemerkenswert ist, dass eben jene Ursprünglichkeit gleichzeitig von der Wahrnehmungstheorie dergestalt aufgegriffen wird, dass konko11 Adorno: „Rückblickend auf den Surrealismus“, S. 104. 12 Breton: Le surréalisme et la peinture, S. 1. 13 Dalí, zit. in: Sedlmayr: Die Revolution der modernen Kunst, S. 81. 14 Fischer: Max Ernst, S. 131.
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mittierende Wahrnehmungen als das neue Eigentliche gefeiert werden, das in der Phénoménologie de la perception Merleau-Pontys (1945) als Normalzustand postuliert wird: Les sens se traduisent l’un à l’autre sans avoir à passer par l’idée. […] si nous ne nous en apercevons pas, c’est parce que le savoir scientifique déplace l’expérience et que nous avons désappris de voir, d’entendre, et, en général, de sentir pour déduire de notre organisation corporelle et du monde tel que le conçoit ce que nous devons voir, entendre et sentir.15 Über die Synästhesie wird der von den Surrealisten wie von Merleau-Ponty gefeierten „unité naturelle“16 der Sinne ein mythisches Moment attribuiert, das vage an jene Ursprünglichkeitsträume eines „état primitif“ anklingt, den das 19. Jahrhundert polemisch gegen die Décadencemythen setzte. Das „chaotisierte“ Bild der Surrealisten gründet insofern in einer Ursprungsmythologie, die auf eine Regeneration der durch rational gelenkte Wahrnehmung kanalisierten Teilsinne setzt, wie sie, Jahre nach Merleau-Ponty, die neuere Entwicklungspsychologie dem Kinde zuschreibt. Das „surréel“ auf Rezipientenseite entspricht insofern einem prälogischen Imaginationsprozess, der in der Fähigkeit des Schaffenden gründet, „von der gegenständlichen Welt in die eigene Subjektivität zurückzutreten“17. Die Ermöglichungsstruktur des Imaginativen ruht auf Produzentenseite im monadischen Prinzip menschlicher Wahrnehmung18, das der Kunstschöpfung als „Publizieren“ des „privat Ersehenen“19 vorausgeht. Wenn das „surréel“ zur bevorzugten „Zuflucht des Auges“ (allgemein: des Geistes schlechthin) im 20. (und 21.) Jahrhunderts aufsteigt, so vor allem durch die monadische Protesthaltung gegen die Konventionen der Wahrnehmung. Nicht die auf gesellschaftliche Entgrenzung hin geordnete Ideologie des Surrealismus, sondern dessen in diesem neuen Bildverständnis ruhendes Verfahren des Ver-/Entfremdens emphatisiert diese wahrnehmungstheoretische Obdachlosigkeit.
15 Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, S. 271 und S. 265. 16 Ebd., S. 262. 17 Flusser: „Eine neue Einbildungskraft“, S. 116. 18 Vgl. Wild.: „Heteropoiesis: Wahrnehmung und poetische Ein-Bildungskraft in Dalís frühen Prosaschriften und ihre Beziehung zur Ästhetik des Fin de Siècle“ und ders.: „Rigoletto im Regenwald: Monade, Mythos und Manierismus im Werk von Werner Herzog“. 19 Flusser: „Eine neue Einbildungskraft“, S. 117.
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Wie im Folgenden an portugiesischen Beispielen gezeigt werden soll, wird diese musealisierende Mesalliance zur Bildstrategie des „surréel“ und damit Methode wahrnehmungspraktischer Erneuerung. Will man nicht alle Verfahrensweisen der Postavantgarde lediglich unter der Perspektive des „anything goes“ als eine ohne intellektuelles Peinlichkeitsempfinden praktizierte Piraterie ästhetischen Strandguts abtun, so erweist sich von daher zumal in der Iberoromania die Relektüre des „historischen“ Surrealismus als poetische Inspirationsmaschinerie angesichts der ansonsten schwer herleitbaren ästhetischen Irregularitäten zahlreicher zeitgenössischer Werke als sinnvoll.
2.
Ungleichzeitigkeit I. Intermedialität und Eros, oder: Wie surreal war der modernismo?
Nach gängiger Auffassung entstand der Surrealismus in Portugal spät, ohne in der Salazardiktatur reale Wirkungsmacht entfalten zu können.20 Wenngleich die politischen Umstände und das baldige Zerbrechen des Grupo surrealista de Lisboa die unmittelbare Rezeption des Surrealismus in Portugal be- oder gar verhinderten, so wird die lange Zeit vertretene Ansicht des Fehlens oder der Marginalität des portugiesischen Surrealismus mittlerweile erfreulicherweise nicht mehr absolut gesehen. Zwar verhinderten inneres wie äußeres Exil die primäre Rezeption jener Linie surrealistischer Texte, die den Surrealismus als gesellschaftsverändernde Ideologie begreifen wollten – ihr hatten sich vorzugsweise der harte Kern der Lissabonner Surrealisten – Alexandre O’Neill, Mário Vasconcelos Cesariny, zeitweilig auch Manuel de Lima und Natália Correia – verschrieben. Solange die portugiesische Öffentlichkeit davon unberührt blieb, musste die Diktatur indes nicht das „surréel“ verhindern, jenen ästhetischen Subjektivismus, der den unmittelbar vorausgehenden Neorealismus der zwanziger und dreißiger Jahre überspringend bei der Ästhetik der geistigen „Großvätergeneration“, dem ersten modernismo, anknüpfte: bei dem 1916 verstorbenen Mário de Sá-Carneiro, dem 1919 publizistisch verstummten Fernando Pessoa und dem ersten bedeutenden portugiesischen Maler-Dichter, José Sobral de Almada Negreiros. Zumal der Letztere wird – gemeinsam mit Pessoa – zunehmend als Ahnherr eines genuin portugiesischen Surrealen erkannt. Anders als Pessoa, der
20 Siepmann: Kleine Geschichte der portugiesischen Literatur, S. 199: „Entsprechend dem französischen Beispiel war der Surrealismus in Portugal zugleich ein Ereignis, das die Literatur wie die bildenden Künste anging. Wie in Frankreich gab es Streitigkeiten um die rechte Konzeption und Spaltungen in Orthodoxe und Dissidenten.“
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sich bereits in den frühen Álvaro de Campos-Oden über seine präsurrealistischen Verfahren durch eine verstärkt metapoetische Komponente er- und deren futuristische Ästhetik damit aufhebt, erweist sich der Maler, Lyriker, Erzähler und Dramatiker Almada Negreiros als der synästhetische „Bastler“, der als erster die vom französischen Surrealismus radikalisierte Bildauffassung um ein Jahrzehnt vorwegzunehmen scheint. Nur am Rande verwiesen sei dabei auch auf die Kongruenzen mit genuin surrealistischen Sujets wie der antibourgeoisen Agitation, die sich insbesondere gegen staatliche Ordnungsorgane wie Militär und Polizei richtet, Moralvorstellungen – insbesondere im Bereich der Erotik – entgrenzt und sich dezidiert gegen herrschende religiöse Auffassungen wendet.21 Bereits mit der „Novela vulgar lisboeta“ A Engomadeira (1915/1917) nimmt Negreiros surreale Verfahren wie die Überlagerung von Bewusstem und Unbewussten, die Simultaneität von äußerer und innerer Realität und die Durchdringung der Wahrnehmung durch den Traum vorweg. Die Mesalliance von Signifikanten und das Außerkraftsetzen der Syntax der lebenswirklichen Dingwelt, die Salvador Dalís kritisch-paranoische Methode seit 1930 zur Masche degeneriert, ist in Negreiros modernistischen Werken der Orpheu-Zeit vorgebildet: Bereits er erprobt jene Klischeemassierung, aus der das „surréel“ als Effekt des Staunens hervorgeht, wenn sich etwa in einer der letzten Szenen der Engomadeira die Kammer der Protagonistin mit Schlüsseln füllt, oder in einem Turm ein Zwerg auftritt, der aus der Fantasy-Literatur entsprungen scheint. Der vermeintlichen Stabilität eines als Einheit erfahrbaren äußeren Daseins begegnet Almada Negreiros mit der Valenz einer bloß noch in Fragmente innerer Bilder zerfaserten Wirklichkeit. Bereits A Engomadeira lebt auf sprachlicher Ebene von einer Assoziationskunst, die über die Klangfiguren der klassischen Rhetorik22 jene Sprachspiele vorwegnimmt, welche die Surrealisten unter Berufung auf Freuds Theorie sprachlicher Fehlleistungen betrieben. Wie häufig bei versierten Lyrikern,
21 Die Trennlinie zwischen Sá-Carneiro, Pessoa und Almada Negreiros ist in dieser Hinsicht nicht auf der inhaltlichen, sondern auf der stilistischen Ebene zu ziehen. Während etwa Sá-Carneiro es bei der verhaltenen Problematisierung gesellschaftlicher Normen belässt („A Confissão de Lúcio“), werden herrschende Diskurse bei Pessoa entweder über das aus der angelsächsischen Literatur überkommene grotesk-phantastische Moment (Individualanarchie in „O Banqueiro Anarquista“, Kannibalismus in „A Very Original Dinner“, Homoerotik in „Antinous“, die künstlichen Paradiese in den Álvaro de Campos-Oden) eher stilistisch subvertiert als diskursiv attackiert. Lediglich Almada Negreiros wählt bereits in seinen frühen Texten den verbalen Angriff auf die bourgeoise Lebensordnung auch auf der Sujetebene. 22 z.B. „anão/não“ (Almada Negreiros: Ficções, S. 40).
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erweisen sich Almadas Sprachspiele zwar auch als gesucht, doch als Generatoren traumanaloger Intensitätsmomente bringen sie eine spezifische Bildhaftigkeit hervor, so etwa in der Schlusssequenz: Cantava indecências aos zig-zig de dissonantes no luar cansado da manhã. Com chapeladas e gargalhadas saudava com exageros des conjuntados as árvores medrosos que guardam os caminhos. […] Por vezes julgava-se elegante e andava dois passos sem zig-zigs e se esbarasse em alguma árvore comentava logo sem premeditação: Cróia. […] Depois seguia com os olhos uma seta da cor da estrada e que seguia pla estrada fora e que depois chegava a uma torre e que subia até lá cima e acabava em palhas às escuras.“23 Das Beispiel aus A Engomadeira belegt, wie unter Beibehaltung einer konventionalistischen Syntax von Sprache und Aktion optische und akustische Komponenten eine für das Portugiesische neuartige semantische Reaktion eingehen, die im Sinne der manieristischen Synästhesie „novas sensibilidades“24 provozieren sollen. Die poetische Imagination geht aus der Fluktuation von Sehen und Hören eines monadischen Subjekts hervor, dessen textuelle Aktivität kaum noch logisch erschließbar ist, sondern montageartige Bildsequenzen nebeneinander, teils ineinander setzt. In Auseinandersetzung mit dem vom Pariser Kubismus initiierten Bestreben nach einer restlosen Analyse der Wirklichkeit entwickelt der Maler-Dichter Almada Negreiros hieraus um 1915 eine Sprach- und Bildauffassung, die der späteren surrealistischen Handhabung von Bildern als einer Mesalliance nicht mehr konkomittanter Wahrnehmungen bereits merklich nahe steht: Der seinem Wesen nach stilistisch wie ideologisch heterogene portugiesische Modernismus scheint zumal in Almada Negreiros’ Experimenten gerade dadurch auf unsere zeitgenössischen Formen postsurrealer Bildlichkeit vorauszuweisen, dass er in gespielter Naivität (oder aber: ironischer Trauer) die Stilkonfigurationen von Futurismus und Orphismus aufgreift und in die den damals noch nicht einmal projektierten Verfahrenspara-
23 Ebd., S. 41; Übersetzung [G.W.]: „Im morgendlich müden Mondenschein sang sie Schlüpfrigkeiten im Zigzag von Dissonanzen. Sie begrüßte mit übertiebenen Verrenkungen die furchtsamen Bäume entlang des Weges, wobei sie ihren Hut lüftete und laut herauslachte. […] Manchmal meinte sie, elegant sein zu müssen, ging zwei Schritte im Zigzag, stieß gegen einen Baum, was sie ohne nachzudenken mit ‚Schlampe‘. kommentierte: […] Dann blickte sie einem Pfeil nach, der in der Farbe der Straße aus der Straße heraus zu einem Turm hinauf führte, um dort oben im finstren Nichts zu enden.“ 24 José de Almada Negreiros [gemeinsam mit Ruy Coelho und José Pacheco]: „Os bailados Russos em Lisboa“, S. 36.
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digmata von Dada und Surrealismus zu spiegeln scheint und so das „anything goes“ der Postmoderne vorwegnimmt. So gehen auch bei Almada Negreiros aus der Diskrepanz von logozentrischer Analyse und einer aufgrund der Multiplizität der Empfindungen nicht mehr zu leistenden Synthese der Realität neue Bildverfahren hervor, die ein Jahrzehnt später die Surrealisten für sich in Anspruch nehmen werden. Forciert erscheint diese surreale Bildauffassung in dem seit 1915 entstandenen Erzähltext K4, der sämtliche Kunstgriffe des späteren Surrealismus an einem nur wenige Druckseiten umfassenden Prosastück abspult. K4 wurde dadurch zu einem der komplexesten Texte der gesamten portugiesischen Literatur. Zusammengehalten durch das sich dem Erzählsubjekt darbietende, in der Erzählung wiederkehrende Motiv des blauen Quadrats („K4“), spielt der Text eine synästhetische Bilderflut ein, die noch stärker als A Engomadeira die erzählte Welt als Effekt von Polysemien begreift, die nicht mehr in einem einheitstiftenden Diskurs aufgehen können. In dem Maße, in welchem das Subjekt sich seiner selbst zu versichern versucht, ist es gezwungen die Welt zu zersetzen. Mit dieser Dekonstruktion der äußeren Wirklichkeit geht die Demontage konventioneller sprachlicher und ästhetischer Auffassungen, allen voran des Konzepts „Gattung“ einher, das in K4 abgearbeitet wird: von einem eingangs paraphrasierten dekadentistischen Feuilletonroman25 und der realistischen Künstlernovelle („Um dia dera-lhe pra pintar e voltou pra mim numa tela um torso ansioso na intenção de vício.“26) verändert Almada die Faktur allmählich zum romantischen Egodokument, das die zunehmend halluzinatorischen Züge einer subjektivistisch erotischen Rêverie annimmt, um aus der Meditation über die strahlendblauen Augen der Geliebten „Mima Fataxa“ [das mit den Attributen eines Flittchens ausgestattete Objekt der Begierde in mehreren anderen Texten Almadas] die allmähliche visuelle Abstraktion aller weiteren Handlungsabläufe zu entwickeln. Schließlich erweist sich auch die Traumartigkeit des Textes, die jenseits alltagsweltlicher Logik Bilder zeugt und in Metamorphosen wieder dekonstruiert, im Schlussteil nur als eine mögliche Äußerungsform textuellen Begehrens, als die dekadentistische Rêverie in ein Manifest übergeht. Dem erotischen Begehren („A+M+A+ R“), das sich anfangs um Mima Fataxas Augen assoziierte blaue Quadrat zen-
25 Almada Negreiros: Fiçcões, S. 58: „O perfume penetrante da sua alma […]“: [„Der zudringliche Duft ihrer Seele…“] Unklar bleibt, ob der zitierte Text Bruchstück eines fremden Textes ist, also der außerliterarischen Realität angehört, oder aber eine Parodie aus Almadas Feder darstellt. 26 Ebd., S. 59; Übersetzung [G.W.]: „Einen Tag widmete ich der Malerei und wendete mich auf einem Bild einem ängstlichen Torso in lasterhafter Absicht zu.“
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tierte, wird ein universelles ästhetisches Begehren („V, E, R, D, A, D, E“27) entgegensetzt. Almadas synästhetische Wirklichkeitsauffassung korreliert in K4 also mit einer konkretistischen Sprachauffassung, wenn der träumerisch-erotischen Deformation konkreter Wirklichkeit das Zerschneiden der Worte selbst antwortet. Die in K4 propagierte (an Kubismus und Orphismus gemahnende) analytische Dekonstruktion zielt zwar auf die Totalität des Wahrnehmbaren ab, kann aber auf logisch-intellektuellem Wege die Komplexität der Erfahrungswirklichkeit sprachlich kaum noch einholen. Am Ende von K4 geht der Prosatext vom Manifest in die reine Kollage über, die sich als Parodie eines Kabelberichts erweist, der zeitgenössische Nachrichtenklischees dergestalt ventiliert, dass das Verfahren des Ready-Made in Sprache übertragen wird. Typographisch durch Schreibmaschinenlettern abgesetzt wird das Versagen der Diskurse vor der Wirklichkeit in der linguistisch-typographischen Segmentierung der Wahrnehmung selbst dokumentiert: A minha fortuna é o Século XX. O meu groom chamsa-se T.S.F. Bravo ao meu groom! ice-berg s.o.s. titanic titantan tan-tan tan-tania lusita-nia s.o.s. wanderbilt U35 berlim kronprinz prussia kaiser 300 hp + 42 krupp canet 75 joffre 38 goritza 914 neo-salvar-sen europa super-dreadnought monitor alta-tensão perigo de morte martinica panama exposition universelle tour eiffel coupe internationale des motor-cars mercedes benz the cruzaders rugby jeffriesjohnson duncan scott polo-sul petrogrado nijinsky polonia marne front poilus reims kodak nordisk galito & belmonte carranza zeiss zeppelin taube tank zenith quadrado azul viva K4 bravo salvas morteiro terra estampido rachar marte funerais misterio herança fortuna beleza gloria viva quadrado azul josé de almada-neigreiros 28 europa.
27 Ebd., S. 72. 28 Almada Negreiros: Faksimile des letzten Abschnitts von K4, in: Fiçcões; Übersetzung [G.W.]: „Mein Glück ist das 20. Jahrhundert. Mein Butler heißt drahtlose Telegraphie. Hoch mein Butler! eisberg s.o.s. titanic titan-tan tan-tan tan-tania lusita-nia s.o.s. wanderbilt U35 berlin kronprinz preussen kaiser 300 hp
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Im Austausch mit den Pariser Avantgardisten Robert und Sonia Delaunay hatte Almada Negreiros bereits in der ersten Nummer von Orpheu (1915) die „consequência do encontro das letras com a pintura“ 29 proklamiert, wie er sie dann in Text und Schutzumschlag von K4 anstrebt:
Abbildung 1: Schutzumschlag von Almada Negreiros’ K4 (mit der Vorankündigung des Folgewerks Mima-Fatáxa auf der Rückseite), S. 188f.
Diese erstrebte Simultaneität aller Empfindungen geht mit der Schlusskollage von K4 in einer fingierten Synästhesie des Subjekts auf, der auf Verfahrensebene eine Vereinigung optischer (Malerei) und akustisch-konzeptueller (Literatur) Wahrnehmungsformen entspricht.
+ 42 krupp canet 75 joffre 38 goritza 914 neo-salvarsen europa super-dreadnought monitor alta-tensão Perigo de morte martinica panama exposition universelle eiffelturm international cup der motor cars mercedes benz the cruzaders rugby jeffriesjohnson duncan scott südpol petersburg nijinsky polen marne front poilus reims kodak nordisk galito & belmonte carranza zeiss zeppelin taube tank zenith blaues quadrat es lebe K4 bravo mörsersalven erde knall sprengen mars begräbnis mysterium erbe glück schönheit ruhm es lebe das blaue quadrat josé de almada-neigreiros europa“. 29 Zit. nach Alvarenga: A Arte Visual Futurista em Fernando Pessoa, S. 13; Übersetzung [G.W.]: „Konsequenz aus dem Aufeinandertreffen von Schriftzeichen und Malerei“.
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Schreiben und Malen, Sprechen und Sehen gehen dabei eine provokante Liaison ein, die Almada in dem Vortrag „Direcção única“ (1932) als den tragischen Mythos beschreibt, durch den er die Moderne letztlich auf das Ursprungsdenken Platons zurückbezieht, da er als Triebkraft menschlicher Kultur die Erkenntnis der Uneinholbarkeit einer ursprünglichen Einheit30 betrachtet. In K4 verweist Almada in einer bis heute in der portugiesischen Literatur kaum mehr erreichten Deutlichkeit gerade durch die wahrnehmungstheoretischen Ambivalenzen auf eine den Text (oder: jeden Text?) vorantreibende Begehrensstruktur: „O quadrado azul inchava-se pra harmonium asmático co’a voz de candeeiro rouca de ventania e dezia esta quadra de 4 vértices Amar = A + M +A +R.“31 Das blaue Quadrat, ursprünglich in der sich damals etablierenden abstrakten Malerei der Delaunays ein Ideal ästhetischer Repräsentation, gerät so im Laufe eines auf beständige Metamorphosen hin angelegten Erzählflusses zunächst zur gottgleich glorifizierten Geliebten des Erzählsubjekts, mit der er sich schließlich in einer neuerlichen hermaphroditischen Metamorphose verbindet: „Eu era a minha amante.“32 Doch diese kosmische Vereinigung geht alsbald in einen Akt monadischer Selbstsetzung über: „Mas a inteligência era absolutamente mia. […] E otra vez se diluía pra ser apenas a minha amante toda nua mas com a minha inteligência.“33 Letztlich gerät der Eros selbst damit in Verdacht, lediglich ebenso eine Funktion des sich selbst setzenden Subjekts zu sein: „Eu penso no instante igual à duração de todos os Mundos.“34
30 Almada Negreiros: Manifestos e conferências, S. 162: „Por outras palavras, fez Deus do homem e dea mulher dois animais selvagens que não podem ser domados isolamente. Fez o isolamento ainda pior do que era, tornou a solidão ainda mais amarga do que devia ser e indicou a direcção única da colaboração entre ambos: 1 + 1 = 1.“ [„Anders ausgedrückt, schuf Gott mit Mann und Frau zwei wilde Tiere, die nicht isoliert zu zähmen sind und verschlimmerte damit die Isolation, machte ihre Einsamkeit unnötig bitter und bezeigte ihnen die einzige Richtung gemeinsamen Handelns: 1 +1=1.“] Das in „Direcção única“ propagierte, über den portugiesischen modernismo auf den Futurismus zurückweisende Gemeinschaftspathos blitzt hier zugleich als Schlaglicht der surrealistischen Ideologie auf. 31 Almada Negreiros: Fiçcões, S. 66; Übersetzung [G.W.]: „Das blaue Quadrat blähte sich mit der heiseren Stimme einer Leuchte im heftigen Wind zum asthmatischen Harmoniums, und die vier Schenkel des Quadrats sagten: Amar = A + M +A +R.“. 32 Ebd., S. 70; Übersetzung [G.W.]: „Ich war selbst meine Geliebte.“ 33 Ebd., S. 71; Übersetzung [G.W.]: „Doch die Einsicht war ganz mein. […] ein ander Mal löste sie sich auf um eine Geliebte zu werden, gänzlich entblößt doch mit meiner Intelligenz.“ 34 Ebd., S. 72; Übersetzung [G.W.]: „Ich denke zugleich an die Dauer aller Welten.“
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Das Frühwerk von Almada Negreiros, für gewöhnlich dem portugiesischen Futurismus zugeordnet, weist also bereits die Charakteristika jenes „surréel“ auf, das subjektive Imaginationsprozesse über die Verfahren Fragmentierung, Metamorphose, Musealisierung und synästhetische Mesalliance in Bildwelten zu übertragen versucht, die sich einer logisch-intellektuellen Annäherung versagen, sofern man nicht bereit ist, sich auf die vom Surrealismus behauptete monadische Wahrnehmungshypothese und deren über den psychischen Automatismus und die durch das makrostrukturelle Verfahren der Mesalliance transportierte Wirklichkeitskonstruktion einzulassen. Wenngleich die Revolte des portugiesischen modernismo nur wenige Jahre dauerte, so blieb Almada Negreiros bis in die sechziger Jahre ein Experimentator, ohne freilich die antibourgeoise Kühnheit aus der Orpheu-Phase anzustreben. Gerade die Aufenthalte in Paris (1919/20) und Madrid (1927/32) wurden ihm zur bestimmenden Erfahrung, die sich selbst in Gedichten in französischer Sprache zeigt; doch bedurfte er der Anregungen durch die zeitgenössischen Strömungen Dada und Surrealismus offenbar nicht mehr, da er als „Futurist“ und „Intersektionist“ den Verfahrensfundus surrealistischer Praxis bereits ohne Zugriff auf die von Breton später verordneten ideologischen Dogmen ausgelotet hatte. Bezeichnender ist die Stringenz, mit der das intermediale Programm der so kurzlebigen Orpheu-Periode – „consequência do encontro das letras com a pintura“ – in der Folge die malerische wie literarische Produktion dergestalt vor sich hertreibt, dass die Malerei sich literarisiert und der Text sich visualisiert, ohne dabei auf die Modi einer im portugiesischen modernismo situierten Intertextualität und den Bezug auf die Pariser Avantgarden zu verzichten. So ist das graphische Poem „Litoral“ (1916) einerseits dem wiederum im Pariser Ambiente um Apollinaire und Delaunay beheimateten portugiesischen Maler-Architekten Amadeo de Souza-Cardoso gewidmet und zugleich die intertextuelle Reperkussion auf die ein Jahr zuvor entstandene „Oda marítima“ des Freundes Pessoa. Dabei spielt „Litoral“ nicht nur auf einer rein thematischen Ebene mit dem trotz seiner Sperrigkeit mittlerweile berühmtesten Gedicht Pessoas. Unter dem offenkundigen Einfluss von Apollinaires Calligrammes, die in die Iberoromania durch die portugiesischen und katalanischen Modernisten in zahlreichen Varianten emphatisch aufgegriffen wurden35, entdeckt Almada Negreiros die „leidenschaftliche Anwendung des Rauschgiftes
35 Vgl. Wild: Ideen-Maschinen – Klang-Figuren – Bewegungs-Bilder – Sprach-Barrieren. Ebenen poetischer Subjektivität in Texten schreibender Maler (Chirico, Dalí, Giacometti, Miró, Ernst, Duchamp, Picabia, Magritte); zum Kalligramm vgl. bes. S. 45ff.
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BILD“36. von vornherein in der für das Surreale charakteristischen generischen, medialen und konzeptuellen Ambivalenz. Denn die kalligraphische Lektüre lässt wenigstens zwei Varianten zu, da die ausgefranste Versstruktur zum einen den unregelmäßigen Verlauf des Übergangs von Wasser zu Land nachzeichnet, zum anderen optisch die Umrisse von Objekten – etwa das in Strophe 1 genannte Schiff mit Lateinersegel – nachbildet.
Abbildung 2: Almada Negreiros: „Litoral“, 1916, (Faksimile aus Almada Negreiros, Poemas, Lissabon 2001, S. 49)37
36 Wie Anm. 8. 37 Übersetzung [G.W.] s.u.:
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Doch wenn „Litoral“ bildgeschichtlich als „Küstenstück“ durch synästhetische Überschreibung die von Signac und Monet über Turner bis zu Ruisdael und Brueghel zurückweisende Tradition des „Seestücks“ hypostasiert, so medialisiert das Werk über seine typographische Materialität den literarhistorischen Dialog auf das Werk des Dichterfreundes Pessoa, der sich im Gegensatz zu Almada Negreiros jedweden Ausflug in außersprachliche literarische Ausdrucksformen zeit seines Lebens versagt hat. Die mediale Überbietung der intertextuellen Replik kann denn nur in ironischer Gebrochenheit aufgehen und so verwundert nicht, wenn der Dichter am Ende des Textes gleich einem Komödianten an die Bühnenrampe tritt und sich selbst die Maske vom Kopf reißt: „esteve aqui a Rosa Maria com o poeta futurista josé de ALMADANegreiros“38.
zuckungen des meeresstrandes borden über invasion der sand taucht durch die meerestiefe durch die jungfernlosen piratenaugen am bug Dünung brunst des Meeres was vom Lateinersegel Herrin der Befreiung Auktion der geretteten Zollwache die Küste Sperrfort das bild des piloten der talk aus Holland und süße zitrone sabots vom zoll und pfeife motor Taverne am Meer Kean matrose aus England Niveau 12
die Große Flut
Vorsicht mit den propellern
BELFAST atavismen der Sintflut
die angst vor unter onanistischem mondenschein geschrumpften klippen strudel baumelnder gefährdung der glanz des Negroiden öls die pflicht des leuchtturms der nicht so groß aussieht von innen die dünen die grotten die huren der Nacht
38 Almada Negreiros: Poemas, 52; Übersetzung [G.W.]: „Rosa Maria war hier mit dem futuristischen Poeten José de Almada-Negreiros“.
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„Litoral“ umgrenzt insofern ein ideologisch und ästhetisch gestaffelter medialer Spielraum, in dem die Bilderzeugungsmechanismen zwischen optischer, akustischer und konzeptueller Kunst ausspekuliert werden. Selbst Almadas Gemälde, selbst Selbstporträts seit den zwanziger Jahren, sind vormodernen Emblemen gleich von sprachlichen Metainformationen überwuchert39, über die das schaffende Ich der Uneinholbarkeit der Außenwirklichkeit durch multimediale Selbstsetzung („não há mal-entendidos entre a vida e eu“40) begegnet. Die aus derselben Epoche überlieferten Texte, die er „Mémoire“ betitelt, scheinen in Worten bloß zu skizzieren, was der Maler später auf Leinwand bannen will: Les chaises sont assises Elles n’ont jamais été debout […] Le lit est couché Il ne fait que dormir Le lit ouvert a l’air aimable Il se figure être une femme une femme mariée. La lampe allumée fait des pointes sur la table. Rien n’est plus nu au monde Que la lampe allumée sans abat-jour.41 Wie Éluard, Char und Desnos wenige Jahre später, so bündelt Almada Negreiros die sinnliche Totalität in einem Simultanismus, dem selbst die alten rhetorischen Verfahren Anthropomorphisierung, Metonymie, Parallelismus und Synekdoche ein avantgardistisches Werkzeug werden. Sinnliche Erfahrung geht in semantischen Überlagerungen auf, die den klassischen Surrealismus vorwegnehmen.
39 So liest beispielsweise noch 1954 in Almadas wohl bekanntestem Gemälde (Porträt Pessoas) der dort dargestellte Fernando Pessoa die erste Ausgabe der Zeitschrift Orpheu. 40 So die Inschrift auf einem Selbstbildnis von 1926, zit. in: Almada Negreiros: Poemas, S. 289; Übersetzung [G.W.]: „Es gibt keine Missverständnisse zwischen Leben und Ich.“ 41 Almada Negreiros, „Mémoire 3“ (1919), in: Poemas, S. 67.
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Ungleichzeitigkeit II. Intermedialität und Psyche, oder: Monadische Flânerie durchs Minho
Gemäß den aus Frankreich übernommenen Prinzipien setzt der klassische Surrealismus gerade in der Salazarzeit zunächst auf Gruppenbildung und zieht damit das Misstrauen der Staatsmacht auf sich, ohne gesellschaftliche Wirkungsmacht zu entfalten. Stärker noch als in Frankreich gewinnt nicht die Bewegung als Ganzes ein ästhetische Profil, sondern einzelne ihrer Mitglieder. Wie schwer sich Portugal mit seinem surrealistischen Residuen getan hat, wird daran evident, dass in Portugal der Dichter Almada Negreiros bis jenseits der Salazarzeit kaum bekannt war, während der Zeichner, Karikaturist und Maler als Aushängeschild des Landes galt. So muss Portugal den Surrealismus seit den späten dreißiger Jahren zum zweiten Mal erfinden, was sich unabhängig in verschiedenen Medien und an unterschiedlichen Plätzen ereignet.42 Stärker noch als in Frankreich zeichnen sich die Arbeiten der originären Surrealisten Portugals durch eine dezidiert intermediale Komponente aus: Manuel de Lima ist Musiker und Musikkritiker, Aleixandre O’Neill Graphiker, Mario Cesariny Maler. Noch vielseitiger als Almada Negreiros, der diese Entwicklung der portugiesischen Literatur vorgezeichnet hat, erweist sich António Pedro: als Maler, Graphiker, Bildhauer, Keramiker, Filmemacher und Theaterregisseur hinterlässt Pedro ein vielfältiges dramatisches, erzählerisches, lyrisches und essayistisches Werk. Stärker noch als der erste modernismo lebt der Surrealismus Portugals – durchaus gegen den Willen der Salazardiktatur – von der Internationalität: Alle Mitglieder der Lissabonner Surrealistengruppe halten sich vorübergehend in Paris auf, am längsten wieder Pedro, der 1935 gemeinsam mit Alexander Calder, Joan Miró, Magritte, Ben Nicholson, Vicente Huidobro, Max Ernst, Marcel Duchamp, Picabia und Picasso in französischer Sprache das Manifesto Dimensionista formuliert. Mit dem klassischen Surrealismus verbindet den als Gruppenästhetik eher kurzlebigen Dimensionismus wieder das Moment einer Transgression der Realität mittels der in der Formel „N+1“ kristallisierten Forderung nach einer Transzendierung des traditionellen Materialbegriffs. Pedros ästhetische Euphorie der Pariser Jahre äußert sich in den 1930er Jahren in einer Malerei, die in ihrer optischen Eigenart den Ver42 So weist das Frühwerk Manoel de Oliveiras, zumal sein erster abendfüllender, mit Kindern gedrehter Film Aniki Bobo (1942), sowohl durch seine Traumsequenzen, durch die sprachspielerischen Operationen (dem Kindervers „a-ni-ki-bo-bo“) auf Handlungsebene und durch seine auf Schock hin angelegte Montagetechnik ausgesprochene Tendenzen zum Surrealen auf, die der Filmemacher selbst erst in späteren Arbeiten der achtziger und neunziger Jahre wieder aufgreifen sollte. Vgl. Wild: „Mnemosyne und Melancholie: Zur Theatralisierung von Bewusstseinsinhalten in Manoel de Oliveiras Vou Para Casa“.
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gleich auf Dalí zurückweist. Wie dessen Arbeiten derselben Epoche erweisen sich Pedros Werke voller Anspielungen auf vorgängige Kunstwerke. Denn wie die französischen Surrealisten schöpft Pedro zugleich aus dem Fundus der Vergangenheit: hatten doch schon Salvador Dalí und die ihn beeinflussenden Manieristen aus überlegender Schau, melancholisch-ironisch auf die Geschichte der Künste geblickt, die Pedro nicht zuletzt in theoretischen Arbeiten für Portugal dokumentiert.43 Ebenso situieren sich Pedros Theaterstücke in einer Ästhetik, die das Surreale über die Mesalliance hervorruft, der ein aggressiv-melancholischer Blick auf mediale und diskursive Traditionen inhärent ist. Bereits das erste, während der Pariser Zeit in Portugiesisch und Französisch verfasste Stück, Théâtre (1934), das in Auseinandersetzung mit Pirandellos Theaterproduktion entstand, weist Momente der Surrealisierung von iberischen Theatertraditionen, namentlich des auto sacramental, auf. Wie bei Calderón heißen die Mitspieler nur noch Figur, Autor, Frau und Teufel. Der „Autor“ gerät mit einer vermeintlich erdachten „Figur“ in Streit, da sich diese von ihrem Erfinder emanzipiert. Die „Figur“ entzieht sich der vom „Autor“ festgelegten Rolle ebenso wie die „Frau“ des Autors, die mit der „Figur“ durchbrennt. Als eigentlicher Drahtzieher erweist sich der „Teufel“, mit dem der „Autor“ um das Urheberecht streitet. Unter offensichtlichem Rekurs auf das Gran Teatro del Mundo (1655) wird hier Calderóns Allegorie über die Willensfreiheit surrealisiert. Auf ähnliche Effekte wird António Pedro 1956 mit dem Puppenstück O lorpa zurückgreifen. War es in Théâtre die surreale Infragestellung Willensfreiheit der den Bühnenkonventionen unterworfenen Mitspieler, so basiert das Stück über den portugiesischen Hanswurst (Lorpa) auf der Ironisierung des surrealistischen „Hasard“. Denn jedes Mal, wenn der Name des Teufels erwähnt wird, sorgt dieser für Verwirrung - gemäß dem auch in Portugiesischen bekannten Sprichwort, dass der Teufel dann komme, wenn man von ihm spricht. Damit gehen hier die dramaturgischen Überraschungseffekte aus einer realistischen Ausstellung der Sprache selbst hervor, wie sie sich seit den zwanziger Jahren in den poetischen Aphorismen Duchamps, Magrittes, Picassos, Mirós und Ernsts, vorbereitet. Auch die 1937 erschienene als farsa quotidiana bezeichnete Desimaginação weist mit ihren Verfremdungseffekten auf die Theatergeschichte zurück, indem lange Zeit vergessene dramaturgische Möglichkeiten des religiösen Theaters zur Konturierung einer antibourgeoisen Attacke dienen. Das Phänomen der ästhetischen Mesalliance wird hier über die Revitalisierung der mittelalterli43 Pedro: História breve da pintura, 1946; Martírios do Fingimento, 1952; Introdução a uma História de Arte, 1947; Sentido e expressão do nu no Renascimento e no Barroco, 1965.
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chen Simultanbühne erreicht, deren ursprüngliches Prinzip des Ortswechsels, den Betrachter der Synchronie eines Handlungskaleidoskops aussetzen, da die 15 zeitlich aufeinanderfolgenden Bilder ohne Unterbrechung, teils gleichzeitig gespielt werden. Wie in Almada Negreiros’ K4 entsteht die sprachliche Mesalliance aus der Collagierung der Kolportageliteratur und den Konversationsriten der Bourgeoisie, indem Pedro Stereotypen der Gesellschaftskomödie mit ihrem ebenso beliebigen wie langweiligen Texten so aneinanderreiht, dass sie zwar keine Bühnenhandlungen, jedoch über die linguistische Dekonstruktion – insofern aber wieder den Ready-Mades äquivalent – das Rauschmittel BILD hervorbringen.
Abbildung 3: Pedro: Gedicht Nr. 7 aus Solilóquio mostrado, in: Desenhos, S. 6844
44 Übersetzung [G.W.]: „Gedicht ängstlicher Verzückung Wieviele Bilder nächtigen wie der Tag / In der Bitternis, mich genau zu wollen. Nicht mehr oder weniger als meinen ganzen Körper! Nicht mehr oder weniger als meine Seele wie der Körper: /sanft oder tragisch, wie die Dichter, / und wie die Dinge umrissen und glatt. Ach! Wenn ich, wie die Finger, mich geben könnte / sanfte Blume der Bewegung in jeder Geste / Oder wie wir Alten (So aber), /Solche, in den Händen, die mein Zauber erblüht / Blühen die Finger wie eine Tulpe. / Es vereinen sich auf einem erdachten Tisch verpasste Begegnungen. Sie zu harmonisieren / Meine beiden Augen in einem einzigen Bild! / Die Vögel fliegen über das Gesicht der bäuer-
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Erweist sich das Theater als Überschreibung von älteren Gattungstraditionen, die ineinandergesetzt werden, so gerät Pedros Lyrik unter den Einfluss der bildenden Kunst. In Solilóquio mostrado (1935, vgl. Abb. 3) werden Verse typographisch in Wellenform gesetzt, Strophen sind mit Piktogrammen durchwoben oder in Klammern gesetzt. Wenn der Band eine „Ode an Almada Negreiros“ enthält, so scheinen die präsurrealen Aktivitäten des letzten der Modernisten offenbar doch Wirkung entfaltet zu haben. Wie Almada Negreiros erforscht António Pedro in den Gedichten der 1930er mit der synästhetischen Kombinatorik von typographischer, klanglicher und generischer Ebene. Sie ist als Rekurs auf die graphischen Gedichte anzusehen, mit denen 12 Jahre zuvor Almada experimentiert hatte, ohne die modernistische Poetik nach dem Tod Pessoas 1935 weiterzuverfolgen. Wieder herrschen Synästhesie und Intermedialität in den Texten vor, wieder wird eine uneinholbare Einheit fingiert, die Ich und Welt, Schöpfer, Betrachter und Werk, Realität und Kunst in dem neuen Werk aufgehen lässt, aber dennoch ständig die eigene Produktion reflektiert. Das Verfahren der Mesalliance entsteht aus dem Antagonismus von poetischer Sprache und Typographie. „Poema duma anciosa exaltação“ beruht auf der Mesalliance von optischer und einer begrifflichen Information, die ihrem Klanggestus noch auf die dichterische Hochsprache zurückgeht, in der der junge Dichter 15 Jahre zuvor seine ersten Sonette verfasst hatte. Wie einst Almada Negreiros’ „Litoral“, so erweisen sich die ondulierenden Verszeilen („Nicht mehr oder weniger als […] wie der Körper“) einerseits als eine surrealistische Landschaft, die womöglich auch die Bildmotive des damals bereits weltweit berühmten Freundes Miró – Sterne, Wellen, Handabdruck – zitiert. Weit davon entfernt, die Lettern als bloßes objet trouvé zu belassen, gerät der lesende Betrachter in den Sog einer konzeptistischen Maschinerie, die selbst immer neue Schockmomente aus der rhetorisch gezeugten semantischen Mesalliance hervorruft: Oxymora („Wieviele Bilder nächtigen wie der Tag“; „Blühen die Finger wie eine Tulpe“) und Paradoxien („In der Bitternis, mich genau zu wollen“), ironische Dekonstruktion optischen Repräsentierens („auf einem erdachten Tisch“). Oft dient dem Maler-Dichter Pedro das synästhetische Bild zugleich vor allem als Anlass, über die Möglichkeit des Abbildens an sich zu reflektieren („Es vereinen sich auf einem erdachten Tisch verpasste Begegnungen. Sie zusammenzubringen / Meine beiden Augen in einem einzigen Bild“) oder durch Selbstbezüglichkeit und Illusionsbruch („Wer wohl hat meine Verwirrung erfunden, die so ungeeignet für Sonette ist?“) die Infragestellungen der literarischen Tradition zum Thema zu erheben. lichen Statue . . . aber sie lassen Federn. /Es bedeckt sich mit Gold der Gesang Was sie sangen!...– Wer wohl hat meine Verwirrung erfunden, die so ungeeignet für Sonette ist?“
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Wenngleich sich Pedro an verschiedenen Stellen dem analytischen Zugang zu seiner Produktion verweigert, so erweist sich getreu der freudianischen These, dass nichts präziser funktioniere als das Unbewusste, der surrealistische Hasard als planvolles Ausloten der Tiefendimension der Sprache selbst. Denn die willkürlichen Homonymien („coMo nOs“), in denen ein weiterer geheimer Sinn des Textes aufgehoben scheint, werden durch die Typographie ins Relief gesetzt: Der dimensionistische Maler-Dichter ist als Schöpfer neuer graphischer Sinngefüge zugleich Analytiker seiner autoreferentiellen Sprachbildwelten.
Abbildung 4: António Pedro: Gedicht Nr. 8 aus Solilóquio mostrado, in: Desenhos, S. 6845
45 Übersetzung [G.W.]: „Krise Die Fruchtknoten brachten sich in Sicherheit als die Bewußtseinsinhalte vor Hunger karg wurden. Die Welt brach mitten durch. Auf der einen Seite die Elenden, auf der anderen Seite die Elenden. Obendrüber erholte sich Gott von der Ewigkeit und vermachte sie den Poeten, damit sie
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Auch das Gedicht VIII „Crise“ (vgl. Abb. 4) spielt zugleich auf einer optischen und semantischen Ebene mit dem gewählten Gegenstand. In „Krisis“ werden zeitgeschichtliche Anspielungen mit den biblischen Vorstellungen des Jüngsten Gerichts in respektlos-zynischer Weise überblendet. Nicht die Gerechten von den Sündern zu trennen, ist die Tat eines Gottes, der über der eigenen Ewigkeit erschlafft ist, sondern die Welt zerbricht in zwei gleichermaßen von Unglücklichen bevölkerte Teile und bloß den Dichtern ist es gegeben, den Zustand abzuändern. Als Reflex einer überholten Didaktik scheint die graphische Anordnung jene neuscholastischen kosmologischen Modelle älterer Epochen zu parodieren, die in Portugals Erziehungswesen bis zur Revolution für die Pseudotransparenz der offiziellen Tautologien bürgten. Der portugiesische Surrealismus dekonstruiert insofern die herrschenden Diskurse des Salazarstaats mit seinem gnostischen Schwarz-Weiß-Denken und dem daraus herrührenden Erlösungsanspruch durch die Mesalliance von konventionalisierter Bildlichkeit und respektloser Entmythologisierung. Mit dem Protest gegen den Salazarstaat und seinem durch die Kirche garantierten Alleinvertretungsanspruch wendet sich der portugiesische Surrealismus aber zugleich gegen das ästhetische Ambiente des Neorealismus, dessen „große Erzählungen“ – Marxismus und Psychoanalyse – von Pedro zumal in dem Kurzroman Apenas uma narrativa (1942) dekonstruiert werden. Wie in Solilóquio mostrado diskursive Modelle in ihrer optischen Materialität ausgestellt wurden, so werden diesem surrealistischen Prosatext die Mythen des von der Geschichte überholten nationalen Neorealismus’ – Regionalismus, Sozialkritik, Stadt-Land-Konflikt, Befreiung der Frau – vermittels der surrealen Klischeemassierung in ihrer Mechanik bloßgelegt, wobei selbst der klassische Surrealismus der Unterwanderung durch den Erben der zweiten Generation unterworfen ist. Denn wie einst René Magrittes selbstbezüglich sprachkritische Werktitel,46 so verweist auch Pedros Apenas uma narrativa ebenso auf die Problematik des älteren europäischen Repräsentationsideals, dem selbst die in Portugal gerade erst entdeckte, vom Neorealismus ebenso begeistert angenommene wie vom Salazarstaat verteufelte Psychoanalyse zum Opfer eines dekonstruktiven Spiels wird, dessen Intention wieder die kompromittierende Musealisierung des Fundgegenstandes Bild in immer neuen Mesalliancen ist. Zunächst wird wieder jenes finstere Spiel mit allem betrieben, was dem guten portugiesischen Christenmenschen „heilig“ sein sollte. Bereits das erste Kapitel beginnt daher mit einer der für den Surrealismus so charakteristischen erführen, auf welche Seite der Welt ihr Schatten fiel. Ihr Schatten in der Welt hatte keinen Platz an der Sonne.“ 46 Vgl. Wild: „Ideen-Maschinen – Klang-Figuren – Bewegungs-Bilder – Sprach-Barrieren“, bes. S. 67-71.
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Schocksequenzen: In der Landschaft des Minho sät der Pflanzer Adão weibliche Körperteile in den Acker: Arme von Königinnen mit herabbaumelnden Händen, weiß und mit Ringen, eine Unmenge Augen wie bunte Murmeln, […] Schenkel, Münder, weiße Knöchelchen, Zähne. Wieder verweist Pedro damit auf Almadas bereits in A Engomadeira ausgespielten Klischeearrangements zurück. Die parodistische Mesalliance von biblischem Weltbegründungsdiskurs, der Blut- und Bodenideologie des Salazarstaats und der Fetischisierung der ruralen Welt durch die marxistisch geschulten Neorealisten gehen in kakophonischen Intensitätsmomenten auf, da der Erzähler seine Fundstücke alsbald dekonstruiert: „O plantador chamava-se Adão, como é fácil de calcular. Não é, no entanto, verdade que fosse o primeiro homem.“47 Ein Klischee verärgert, doch ihre Masse begründet das surreale merveilleux. Wie die Romanciers der Pariser Avantgarde – Soupault, Chirico, Picabia – bezieht sich Pedro auf wahrgenommene Wirklichkeit nur insofern, als er die idées reçues aus dem Abfalleimer der bürgerlichen Ästhetik arrangiert. Elemente der Kolportageliteratur werden mit dem realistischen Setting der Minho-Landschaft kombiniert. Und deutlicher als die Forschung dies lange Zeit48 sehen mochte, werden die Versatzstücke der Psychoanalyse – Augen, Spiegel, u.ä. – selbst zum diskursiven objet trouvé, etwa bei der Beschreibung des Mädchens Lulu, das mit dem Erzähler-Protagonisten eine erotische Liaison eingeht: Desta maneira a Lulu andava na rua com os olhos de toda a gente pegados à diversas partes do seu corpo fresquíssimo, tão radiante por isso lhe acontecer, que seria uma pena alguém dizer-lhe qualquer coisa de razoável.49 Wie in poetischen Aphorismen Duchamps oder in Bildtiteln und Gedichten Max Ernsts wird ironisierende Sprachanalyse durch eine avancierte Bildhaftigkeit vorangetrieben.50 Es scheint gerade so, als ob vor allem bildende Künstler der Avantgarde im Sprachabfall des Alltäglichen das merveilleux zu entdecken vermögen. Denn über eine Verschränkung von sprachlicher Analyse und bild-
47 Pedro: Apenas uma narrativa, S. 29; Übersetzung [G.W.]: „Der Pflanzer hieß Adam, wie leicht zu erraten ist. Er war indes wahrhaftig nicht der erste Mensch.“. 48 Vgl. Gekle: Tod im Spiegel. 49 Pedro: Apenas uma narrativa, S. 42; Übersetzung [G.W.]: „So ging Lulu, die Augen aller auf die verschiedenen Partien ihres straffen Körpers geheftet, so beeindruckend, dass allen die Luft wegblieb.“ 50 Wild: „Ideen-Maschinen – Klang-Figuren – Bewegungs-Bilder – SprachBarrieren“, S. 63 ff.
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licher Synthese wird das thaumaturgische Moment des Surrealismus als ein weiteres Klischee inszeniert, wie eine der dem jeweiligen Kapitel vorangestellte surrealistische Graphik offenlegt:
Abbildung 5: António Pedro: Apenas uma narrativa, S. 39 [„So ging Lulu, die Augen aller auf die verschiedenen Partien ihres straffen Körpers geheftet“ Übersetzung (G.W.)]
Einmal verweist Pedro damit auf die – wiederum hochgradig psychoanalytisch konnotierte – surrealistische Augenmotivik, wenn im wörtlichen Sinne hier die Augen aller auf die Dorfschönheit geheftet sind, da der bildende Künstler António Pedro die Redewendung „os olhos de toda a gente pegados à diversas partes do seu corpo fresquíssimo“ sprachlich ernst nimmt (vgl. Abb. 5). Zum anderen verweist er auf jene imaginierte Körperlichkeit, wie sie speziell der Pariser Surrealismus literarisch forcierte. Wenn Lulu im weiteren Verlauf des Textes auftaucht und verschwindet, schließlich den Beischlaf mit dem Erzähler-Protagonisten in einem Hotelzimmer pflegt, öffnet António Pedro einen intertextuellen Raum zu Nadja, Irène, Rosine, Georgette und den anderen Repräsentantinnen des surrealistischen Weiblichkeitsideals. Was in der sprachlichen Fiktion noch sexualisiert sein mag, wird aber über ihre graphische Visualisierung als Produkt jener Klischeemaschinerie erkennbar, die der Pariser Surrealismus mit der Fetischisierung des Freudianismus erkauft hatte. Die auf den Körper gehefteten Augen werden zur Mesalliance, über die Pedros ländliche
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Kokotte ihren erotischen Reiz einbüßt. Indem der schriftstellernde Graphiker António Pedro mehrere diskursive Formationen ineinanderspiegelt, bedient er sich des Rauschgiftes BILD, um es zu dekonstruieren. Auch in späteren Kapiteln erweist sich Pedro als Analytiker der Persistenz surrealer Topoi. Als der Erzähler in eine Kleinstadt im Minho kommt, findet er dort den abstoßend hässlichen, aber mit Orden behängten Dieb Ildebrando vor, der die Stadt terrorisiert wie die Bandenchefs in den avantgardistischen Unterweltromanen der zwanziger Jahre51 und etliche Frauen in einem Baum gefangen hält. Als Ildebrando Arme und Beine verliert, sich auf einem Wägelchen fortbewegen muss, bindet er die im Baum gefangenen Frauen zu einem Blumenstrauß zusammen. Ildebrando stirbt bei einer Revolution, in deren Verlauf die gefangenen Frauen sich in ein Denkmal verwandeln. Auch der rote Faden des Romans, die Odyssee des Erzählers auf der Suche nach Lulu, weist auf jene Pariser Stadtstreicher zurück, wie sie die Romane Bretons, Aragons, Picabia und Soupaults bevölkern. Als der Erzähler erstmals Lulu in einem obskuren Hotel begegnet, deren Namen er auf sein Bein tätowiert – also so die Person zum Schriftzeichen, sich selbst zum Zeichenkörper materialisiert hat –, gibt sich mit der Schrift auf dem Körper der Hasard als literarische Konstruktion zu erkennen. Gemäß der einstigen Forderung von Almada Negreiros’ modernismo erweist sich Pedros Surrealismus wieder als das „Rauschgift Bild“, das aus der „Konfrontation des Schriftzeichens mit dem Bild“ ersteht. Fragmentierte Körper auf einem Acker, Augen auf dem Frauenkörper, Frauen auf einem Baum – Seite für Seite wird der Leser mit den bildhaften Topoi des Surrealen konfrontiert. Dabei entziehen die planvoll an die Kapitelanfänge gestellten und durch ein Textzitat begleiteten Zeichnungen, ja selbst die theologisierende Gliederung in zehn Kapitel dem Text die zentrale Fiktion von Traum und écriture automatique. Schließlich musealisiert Pedro offenbar nicht die Bewusstseinsinhalte seines Protagonisten, sondern deren metaphorische Konstruktion, ohne die Psychoanalyse ernsthaft zu bedienen.
51 Vgl. Die Tigerin (1925) des deutschen Dadaisten Walter Serner und Philippe Soupaults Les dernières nuits de Paris (1928). Der Begeisterung des Surrealismus für die zeitgenössische Subkultur, die insbesondere in den Irrationalismen von Alains /Souvestres bzw. Feuillades Fantômas aufscheint, reflektiert einen spezifischen Exotismus, der eine Trivialästhetik ebenso dezidiert gegen die Bourgeoise in Szene setzt wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Romantik (Fouqué, Tieck, Hoffmann) im Rückgriff auf die spätmittelalterliche Trivialliteratur. Vgl. zu Fantômas Maurer Queipo: „Von Fantômas zu Kill Bill – Zwischen Kult und Électrochoc sowie Wild: „Ideen-Maschinen – Klang-Figuren – Bewegungs-Bilder – Sprach-Barrieren“, S. 70f.
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Ungleichzeitigkeit III. Blick zurück nach vorn oder: If Dreams Come True
Der französische Surrealismus war trotz seines Liebäugelns mit der gesellschaftlichen Veränderung gerade wegen Bretons völlig in der französischen Geisteskultur ruhender Intellektualität stets getragen vom Erotismus einer Jeunesse Dorée, die das Innovationspotential ihres neuartigen Bildverständnisses aus drei Kanälen gespeist hatte: einem vormals in der Romantik und im postwagnerischen Symbolismus anvisierten synästhetischen Totalitätsempfinden, einer polyglotten Sprachauffassung, die sich dem Zustrom von Persönlichkeiten wie Picasso, Dalí, Duchamp, Ernst, Giacometti und Man Ray verdankte und ihre Innovationen nachträglich über den Freudianismus begründete, und einem das Verhältnis von Material und Verfahren in neuartiger Weise definierenden Werkbegriffs, der sich in viel stärkerem Maß der Erfahrung Dadas bediente, als dies gerade Breton bekennen wollte.52 Als um mehr als ein Jahrzehnt verspätete Geistesbeschäftigung erweist sich Pedros Lusosurrealismus mithin als kalkulierender Rückblick auf eine ohnehin intellektualisierte Strömung, die in ständigen Rückbezügen Literatur, Kunstgeschichte, den noch jungen Film53 und Psychoanalyse ein- und somit gegeneinander ausspielt.54 Insofern unterscheidet sich Pedros Surrealismus von den Darstellungsaktivitäten der Neorealisten durch eine dezidiert metaästhetische Praxis, die sich wie bereits bei seinen modernistischen Vorläufern Pessoa und Almada Negreiros aufgrund ihrer Reflektiertheit keinen Weg zum Publikum bahnen konnte. Wenngleich auf Pedros metasurrealistische Aktivitäten bereits Giuseppe Ungaretti 1942 auch seine zeitweiligen surrealistischen Weggefährten Natália Correia und Mário Cesariny aufmerksam machten,
52 Vgl. hierzu André Bretons erst 2005 im Rahmen einer Züricher Ausstellung präsentiertes Dossier Dada, die gerade unter dem Aspekt der Erprobung neuer Materialien und Verfahren Dada als Proto-Surrealismus (oder den Surrealismus als reintellektualisiertes Dada?) offerieren. In diese Richtung argumentiert auch Laetitia Rimpau, „A noir – O bleu ! Von Laut und Schrift zur Fläche. Joan Miró und seine Methode der peinture-poétique“. Auch Werner Spies hat sich in einer Reihe jüngerer Arbeiten für die Umwertung Dadas mit Blick auf den Surrealismus und die Reperkussion in der Postavantgarde eingesetzt. Vgl. Spies: Der Surrealismus und seine Zeit. Auge und Wort. Gesammelte Schriften zu Kunst und Literatur. 53 Es würde zu weit führen, die Bezüge etwa von Apenas uma narrativa und den Ikonen des französischen Avantgardefilms – Cocteau, Buñuel, Dulac, Man Ray – insbesondere auf der thematischen Ebene darzustellen. Tatsächlich scheinen einzelne Episoden präzise auf Sequenzen von L’Age d’or und Un chien andalou zu rekurrieren. 54 Vgl. jetzt auch Philipp Stadelmaier: „Das Sublime und das Aas. Salvador Dalís Entwürfe einer Geschichte (vom Tod) des Kinos“.
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scheint er selbst, wie sein späterer Lebensweg zeigt, daraus die Konsequenz einer Abkehr von Malerei, Lyrik und Narrativik und Verlagerung auf die Töpferei und theaterpädagogische Projekte in der portugiesischen Provinz gezogen zu haben. Wie im Falle seiner Mitstreiter, Lima, Cesariny, Correia und O’Neill setzt die Rezeption, mehr noch die produktive Wirkungsgeschichte erst im späten 20. Jahrhundert ein.55 Nach der Diktatur wird in der Tat der Surrealismus in doppelter Hinsicht als nicht bis zum Ende beschrittene Spur einer anderen nationalen Ästhetik aufgegriffen. Einmal werden die Heroen der zwei links liegengelassenen Künstlergenerationen um Pessoa und Pedro durch Publikum und Forschung „entdeckt“. Zum anderen finden sich in der Literatur Portugals nach der Nelkenrevolution Reflexe des surrealen Wunderbaren, die einmal durch die Wiederentdeckung des verschütteten nationalen Surrealismus zu erklären sind, womöglich aber auch inspiriert durch die Auseinandersetzung mit der neueren lateinamerikanischen Literatur, deren surreale Residuen ebenfalls lange verkannt wurden.56 Wieder geht es um Mesalliancen, die das Surreale begründen. Wieder verweist die über Musealisierung und Mesalliance hervorgebrachte komplexe Metapher zurück auf die „leidenschaftliche Anwendung des Rauschgiftes BILD“57, die nun neue Größendimensionen annehmen kann. Ihrem Ursprung nach beheimatet in der surrealen Konzeption der Produktion von Staunen durch die Montage im einzelnen Bild, generiert die Generation der lusitanischen Postavantgardisten Romane gleichsam als Verkettungen, als kontinuierliche Metaphern mit surrealem Anspruch. Wieder wird aber auch auf Inhaltsebene das Verfahren der surrealen Mesalliance um den Rekurs auf nationale literarische Mythen und somit um die Dimension der Metareflexion erweitert, die sich aus dem aggressiv-sarkastischen oder melancholisch-ironischen Blick auf die Tradition speist: An die Stelle des originär surrealistischen Spielmaterials der Psychoanalyse und des Neorealismus tritt der modernismo selbst, also der portugiesische Protosurrealismus, vorzugsweise repräsentiert durch seinen 55 Jackson: Portugal. As Primeiras Vanguardas, S. 215: „Aparecendo tardiamente, apenas nos anos 40, o Surrealismo […] em Portugal serve de transição entre as vanguardas históricas e as novas e neo-vanguardas dos anos 60.“ [„Spät, fast in den vierziger Jahren einsetzend, markiert der Surrealismus in Portugal den Übergang von den ersten Avantgarden zu den Neoavantgarden der sechziger Jahre.“ Übersetzung [G.W.]. 56 Vgl. Wild: Paraphrasen der Alten Welt. Interkulturelle Ästhetik im Werk von Alejo Carpentier, sowie ders.: „…combatir la razón con la sin-razón. Vom Antisurrealismus zum Metasurrealismus (Carpentiers und Sábatos Replik auf den französischen Surrealismus)“. 57 Wie Anm. 8.
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bekanntesten Vertreter, den allmählich zum nationalen Schmerzensmann kanonisierten Fernando Pessoa, der in immer neuen überraschenden Repliken zu einer dauerhaften Mesalliance mit dem Land verurteilt wird, dem der Fiktion zufolge immerhin seine Heteronyme Álvaro de Campos und Ricardo Reis noch den Rücken kehren konnten. Ausgangspunkt ist José Saramagos 1984 erschienener Roman O Ano da Morte de Ricardo Reis, der auf der Ebene des Gattungsdiskurses die Mesalliance so divergenter Genres wie des phantastischen Romans, des Literaturromans, der lukianischen Burleske, vor allem aber des historischen Romans58 betreibt: 1936 kehrt auf ein Telegramm des Heteronyms Álvaro de Campos der 1919 nach Brasilien emigrierte Ricardo Reis, anlässlich des wohl unmittelbar bevorstehenden Todes seines Schöpfers Pessoa nach Portugal zurück. Als surreale Überbietung tritt zu dem Pessoa der Lebenswelt und seiner Kunstfigur in Ricardos Hotel auch noch das Zimmermädchen Lídia, das Pessoas innerliterarischer Konzeption zufolge bekanntlich die Adressatin von Ricardo Reis’ Oden war. Dass der Dichter zweiter Ordnung und die literarischen Figuren dritter Ordnung eine lebensweltliche Mesalliance eingehen, wird von ihrem (fiktiven) Erfinder erster Ordnung mit Verweis auf die in der Iberoromania ohnehin seit dem Goldenen Zeitalter stets behauptete Unentscheidbarkeit von Fiktion und Realität kommentiert: afinal a tão falada justiça poética sempre existe, tem graça a situação, tanto você chamou por Lídia, que Lídia veio […] Não seja ingrato, você sabe lá que a mulher seria a Lídia das suas odes, admitindo que exista tal fenómeno, essa impossível soma de passividade, silêncio sábio e puro espírito, É duvidoso, de facto, Tão duvidoso como existir, de facto o poeta que escreveu as suas odas, Esse sou eu, […] Você disse que o poeta é um fingidor, Eu o confesso, são adivinhações que nos saem pela boca sem que saibamos que caminho andámos para lá chegar, o pior é que morrir antes de ter percebido se é o poeta que se finge de homem ou o homem que se finge de poeta. […] Diga-me só uma coisa, é como poeta que eu finjo, o como homem, O seu caso, Reis amigo, não tem remédio, você, simples58 Der historische Roman, bis dato Lieblingskind nationalistischer Erbauung, wird repräsentiert durch den politisch-historischen Hintergrund des Jahres 1936 (z.B. Abessinien-Feldzug Mussolinis, Erhebung Francos). Wie im Spätwerk Carpentiers setzt die surreale Dekonstruktion eines konventionellen Wirklichkeitsbegriffs mit dem vermeintlich stabilsten Realitätsbezug ein, mit dem Verweis auf die Historizität des literarischen Ambientes. Vgl. Wild: Paraphrasen der Alten Welt, pass. Die Surrealisierung des historischen Romans nähert sich diesen dem Konzept an, das von Ceballos als „transversalhistorischer Roman“ bezeichnet wurde.
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mente, finge-se, é fingimento de si mesmo, e isso já nada tem que ver com o homem e com o poeta, [….]59 Hatte Fernando Pessoa mit der Aufspaltung in die Heteronympoesie das Konzept der écriture automatique durch die Ausfaltung konkurrierender fiktiver Individualitäten überholt, so überrascht nicht, wenn José Saramago die Heteronympoesie mit ihrem Erfinder Pessoa dergestalt konfrontiert, dass Fiktion sich materialisiert und das surréel in die Wirklichkeit holt. Als konsequenter Verfahrensimport intertextueller/intermedialer Mesalliancen erweisen sich weitere Episoden des Romans, durch die sich Saramagos Roman auf den Nationaldichter Camões zurückbezieht. In einer späteren Episode finden wir Pessoa am Fuß des Camões-Standbildes sitzend und ein Gedicht aus dem nationalistisch-esoterischen Zyklus Mensagem murmelnd, das den Dichter der Lusíadas besingt, um gewahr zu werden, dass er kein solches verfasst hat: levou tempo a perceber que não há na Mensagem nenhum poema dedicado a Camões […] omissão, ausencia, fazem tremer as mãos de Fernando Pessoa, a consciência perguntou-lhe, Porquê, o inconsciente não sabe que resposta dar, então Luís de Camões sorri, a sua boca de bronze tem o sorriso inteligente de quem morreu há mais tempo, e diz, Foi inveja, meu querido Pessoa, mas deixe, não se atormente tanto, cá onde ambos estamos nada tem importãncia […]60
59 Saramago: O Ano da Morte de Ricardo Reis, S. 118f.; Übersetzung [G.W.]: „schließlich existiert die so genannte poetische Wahrheit immer, das ist komisch: Sie haben so sehr nach Lydia verlangt, dass sie jetzt da ist […] Seien Sie nicht ungerecht, Sie wissen genau, dass es die Lydia aus Ihren Oden ist, aber wenn man etwas einräumt, dann eine unmögliche Summe an Passivität, das weise Schweigen und die Reinheit des Geistes, Es bleibt zweifelhaft, in der Tat genauso zweifelhaft wie das Leben, natürlich bin der Dichter dieser Oden ich, […] Sie haben gesagt, der Dichter sei ein Lügner, ich gebe zu, es sind Ahnungen, die unserem Mund entspringen und dort hingingen, wohin wir gehen, um dort anzukommen, das Schlimmste ist, dass wir sterben, bevor wir erfahren haben, ob es der Dichter ist, der den Menschen ersinnt oder der Mensch den Dichter. […] Sagen sie mir bloß, ersinne ich als Mensch oder als Dichter, Ihr Fall, mein lieber Reis, ist unheilbar, Sie ersinnen sich schlicht selbst, und die Fiktion Ihrer selbst ist eine Fiktion über Sie, das hat schon nichts mehr mit dem Menschen oder dem Dichter zu tun“. 60 Ebd., S. 351f.; Übersetzung [G.W.]: „es dauert ein wenig, bis mir schwante, dass es in Mensagem gar kein Widmungsgedicht für Camões gibt, […] Lücke, Absenz ließen Fernando Pessoas Hände zittern, sein Gewissen fragte sich Weshalb? Das Unbewusste weiß keine Antwort darauf, Luís de Camões indes schmunzelte, sein Mund aus Bronze verzog sich zum wissenden Lächeln des seit langem Verstorbe-
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Nicht der Freudianismus, sondern das belebte Standbild einer kulturellen Ikone ergründet das Unbewusste jenes Fernando Pessoa, der doch die Selbstanalyse so weit vorangetrieben hatte, dass er sich in heteronymische Vielheit zerfaserte. Einmal wird – keineswegs zum einzigen Male – das Problem eines die eigene innere Wirklichkeit strukturierenden, aber der Ratio nicht zugänglichen Unbewussten der Surrealisten thematisiert. Doch überdies ruft das Lächeln des Standbildes das Motiv der Statuenbelebungen im Kontext des surrealistischen Films auf. Fern der standardisierten intertextuellen Rückbindung, wie sie v.a. die portugiesische Romantik – etwa mit den Künstlerdramen Garretts – im Zuge der kulturellen Identitätsbegründung betrieb, belebt Saramago den Mythos Camões’ in der Mesalliance mit Pessoas Selbstinterpretation als „SuperCamões“. Zugleich thematisiert die Episode die für die historischen Avantgarden und zumal im Surrealismus virulente Problematik, wie nur noch medial vermittelte Tradition (Camões-Statue) über das Moment ihrer seit dem Futurismus von der Avantgarde beabsichtigten Löschung61 gerade vermittels der kreativen Mesalliance bewahrt wird. Auch in weiteren Episoden gehen Textelemente aus Camões’ Epos, aus Pessoas Heteronympoesie und selbst aus einem Text von Borges die Mesalliance mit der fremden Textwelt ein. Mit Hegel ließe sich Saramagos Verfahren, die Heroen der portugiesischen Literatur und deren Kunstgestalten, in einen Lissabonner Stadtroman in der Salazarzeit zu integrieren, als Versuch lesen, Kunst in der Lebenswelt „aufzuheben“. Im Schein einer Fiktion, die das Fiktive der Literatur in der (fingierten) Wirklichkeit realisiert, wäre Saramagos historischer Roman somit in ideologischer Hinsicht das Dokument der vom Surrealismus geforderten Überführung der Kunst in die Lebenspraxis und insofern die postmodernistische Restitution eines surrealistischen Kernideologems. Auf Werkebene transformiert Saramago somit das Konzept des älteren neorealistischen Romans als Analyseinstrument der Wirklichkeit in eine narrative Collage, die vermittels der vom Surrealismus bereitgestellten Bildauffassung das merveilleux hervorruft. Diese entspricht der Montagepraxis, die Max Ernst in seinem 1922 entstandenen surrealistischen „Stifterbild“ Au rendez-vous des amis62 anwendete. Als Gattungsfolie dient die Atelierversammlung, ein seit dem Impressionismus (u.a. Monet, Manet, Fantin-Latour und Maurice Denis) nen und sagte: es war Neid, mein lieber Pessoa, aber lassen Sie nur, ja, mein lieber Pessoa, grämen Sie sich nicht, weil hier, wo wir sind, nichts von Bedeutung ist.“ 61 Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 66. 62 Vgl. Abbildung 6. Zum Montageverfahren dieses Werks vgl. Gaethgens: „Das ,Märchen vom Schöpfertum des Künstlers‘. Anmerkungen zu den Selbstbildnissen Max Ernst und zu Loplop.“
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verwendeter Bildtypus, der aber bis auf Raffaels Fresko Die Schule von Athen (1512) zurückweist. Dieser wird, wie Gaehtgens gezeigt hat, mit der Bildstruktur eines anderen Freskos desselben Zyklus’ – Raffaels Disputà (ca. 1510) – kombiniert, während in die Gruppe der dargestellten späteren Surrealisten zwei Störfaktoren – Dostojevskij und Raffael – einmontiert sind. (Man mag sich an der Stelle fragen, ob womöglich das am unteren Bildrand dargestellte Stillleben auf den absenten Picasso und den überwundenen Kubismus verweisen.) Das „Rauschgift BILD“ geht somit aus einem Amalgamierungsvorgang hervor, der Elemente unterschiedlicher Kontexte (Epochen, Nationen, Gattungen, Medien) zu einer lediglich über die Bild- oder Romansstruktur vermittelten Mesalliance arrangiert. Hatte damit Max Ernst (und erst nach ihm Dalí) die neue Bildauffassung begründet, indem er das Ready-made zur surrealistischen Bildgattung amplifizierte, so verwendet künftig auch der portugiesische Roman – vermittelt durch das späte, anerkannte Vorbild António Pedro – das bei Almada Negreiros noch punktuell verwendete „Rauschgift BILD“ flächendeckend.
Abbildung 6: Max Ernst: Au rendez-vous des amis, 1922, Öl auf Leinwand, 130 x 195 cm, Köln, Museum Ludwig
Wie fremd dieses Moment der Wirklichkeitsauffassung der portugiesischen Ästhetik war, wird daran deutlich, dass sich diese Nationalliteratur stets mit dem „Phantastischen“, „Wunderbaren“ und verwandten Wirkungskategorien schwer getan tat, ja diese selbst in der Frühen Neuzeit – in Camões’ Epos und
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der frühen fiktionalen Prosa63 über nationalhistorische Ideologie oder die christliche Religion gerechtfertigt werden musste: Camões musste sich bekanntlich bereits für die „permixtio“ von Christlichem und Paganem den Häresievorwurf gefallen lassen. Der Neorealismus der fünfziger Jahre war zwar in der Lage, bei gleichzeitiger Ausbeutung der Psychoanalyse und außerportugiesischer literarischer Vorbilder starke Schauerelemente oder gar ein „Unheimliches“ hervorzurufen. Die zauberische Deformation der Wirklichkeit blieb indes Surrealisten wie Manuel de Lima und António Pedro vorbehalten. Mit der nachrevolutionären Literatur der 1980er Jahre, die vage als „postmodern“64 klassifiziert wird, erfasst das Surreale den portugiesischen Roman. Drei Jahre nach der Nelkenrevolution hatte Saramago mit Manual de Pintura e de Caligrafia (1977) der realistischen Abbildung äußerer Wirklichkeit eine Absage erteilt; neben den in O ano da morte de Ricardo Reis (1984) erprobten Verfahren surrealer Kombinationskunst wird auf das Groteske (Memorial do Convento, 1982), Wunderbare (A Jangada de Pedra, 1986) und dezidiert Surreale mit absichtsvollem intertextuellem Traditionsrückbezug (etwa auf Platons Höhlengleichnis in A Caverna, 2002) zurückgegriffen. Die Lusitanistik hat am portugiesischen Gegenwartsroman vorzugsweise sein gesellschaftskritisches Potential und seinen Wirklichkeitsbezug hervorgehoben, dabei übersehen, dass der nachrevolutionäre Roman dadurch lediglich die ästhetische Fortschreibung der portugiesischen Neorealismen ohne deren zensurbedingte Restriktionen wäre. Die auf den Surrealismus zurückweisende Verfahrensamalgamierung, die den Roman zum „Rauchgift BILD“ totalisiert, wurde indes marginalisiert. Wie in Saramagos Ricardo Reis basiert die Realitätskonstitution in den folgenden Beispielen nicht mehr auf dem pseudoaristotelischen Postulat der Wahrscheinlichkeit, sondern auf der „planmäßigen Ausstellung emphatisierter Unwahrscheinlichkeit“65, einer nachavantgardistischen Spielform des surrealistischen „hasard objectif“. Sogar António Lobo Antunes gerät vorübergehend in den Sog des Surrealen, als der in seinem Roman As Naus (1988) ein lusitanisches merveilleux vermittels der ironischen Mesalliance hervorruft. Die ästhetische Ermöglichungsstruktur des merveillaux ist eine äußerlich stabile Wirklichkeit, die sich (wie spätere Werke Antunes’) über die nationalen Traumata der Salazarzeit und des Kolonialkriegs konstituiert, wenn der Roman sich als Erzählung von Kriegs63 Vgl. Wild: „Geschichte, Mythos und Fiktion: Zur Rezeption von Camões Os Lusíadas in Manoel de Oliveiras Film Non (1989)“ und „verba vana non loqui: Banalisierung und Politisierung des Wunderbaren im portugiesischen Ritterroman des 16. Jahrhunderts“. 64 Siepmann: Kleine Geschichte der portugiesischen Literatur, S. 234ff. 65 Vgl. Wild: Lexikonartikel „Wahrscheinlichkeit“.
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heimkehrern ausgibt, deren Vorgeschichte die Geschichte ideologisch begründeten Scheiterns ist. Doch nicht die gewöhnlichen Flüchtlinge kehren ins Mutterland zurück, sondern die in der Salazarzeit zu Mythen aufgewerteten Helden der portugiesischen Geschichte. Bezeichnenderweise sind es nicht nur die militärischen Gründerväter, denen bereits Pessoa in dem Gedichtband Mensagem ein schwer zu interpretierendes Monument setzte. Neben Vasco da Gama, Afonso de Albuquerque, Vaz de Caminha, Diogo Cão, Álvares Cabral, sind es nicht nur der Missionar Francisco Xavier, sondern auch die Begründer des Kolonialdiskurses – Mendes Pinto und Camões, und selbst der heterodoxe Jesuiten Padre António Vieira ist unter den nationalen Heroen. Das Nebeneinander der hier aufgerufenen divergenten historischen Schichten, Lebensläufe aus anderthalb Jahrhunderten und die jetzige Situation der zeitgenössischen Afrikaheimkehrer ist mit dem Genre des historischen Romans nicht mehr verrechenbar. Die Diskrepanz zwischen der desolaten Realität im nachkolonialen Lissabon und den Lichtgestalten generiert das „Rauschgift BILD“, das bis in die Episodengestaltung hinein dort seine surrealistische Abkunft verrät, wo Mythos und Banalität ihre Mesalliance feiern. Da mixt Manoel de Sousa de Sepúlveda gepanschte Drinks; ein Funktionär der Kolonialverwaltung, der ein Auge verloren hat (ein Typ namens Luis: „o homem de nome Luís“) steht staunend seinem eigenen Denkmal gegenüber, – es ist Luís Camões. Fernão Mendes Pinto (Weltreisender und Verfasser der ersten portugiesischen Robinsonade A Perigrinaçam) hat in Indien mit Bibeln und Pornographie Geschäfte gemacht. Der Missionar Francisco Xavier betreibt ein zweifelhaftes Hotel namens Apóstolo das Índias, in dem der Brasilienentdecker Álvares Cabral mit einer Mulattin absteigt, die prompt von Xavier im Zuge des Ausgleichs der Mietzahlungen zur Prostitution getrieben wird. Der seit dem militärischen Desaster von Qsar-el-Quibir 1578 verschollene König Sebastião hat sich als Nachtwächter verdungen: bei einem Verkehrszwischenfall mit seinem Autowrack ohne Auspuff, Licht und Rückspiegel versucht er vergeblich die Lissabonner Polizei davon zu überzeugen, dass er „der Herrscher“ sei: nach Ansicht der Polizisten ein Fall für die Psychiatrie. An anderer Stelle heißt es über ihn: uma sentinela nos informou que o rei Filipe se reunira com os seus marechais na rulote do Estado-Maior a combinar a invasão de Portugal, porque D. Sebastião, aquele pateta inútil de sandálias e brinco na orelha, sempre a lamber uma mortalha de haxixe, tinha sido esfaqueado num bairro de droga de Marrocos por roubar a um maricas inglês, chamado Oscar Wilde, um saquinho de liamba.66
66 Lobo Antunes: As Naus, S. 179; Übersetzung [G.W.]: „Ein Wachhabender berichtete uns, dass König Philipp sich mit seinen Marschällen in der Staatskarosse
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Zunächst sind die Einzelepisoden mit dem Prinzip der grotesken Überhöhung in Einklang zu bringen, für das Bachtin den Terminus „Karnevalisierung“ prägte. Deren Konvergenz mit dem Surrealen gründet in dem von Bachtin als „groteske Mesalliance“ bezeichneten Phänomen. Doch sind über die ironische Verzerrung des Bekannten (Sebastian von Portugal als Drogensüchtiger, der dem „maricas“ Oscar Wilde ein Päckchen Marihuana stielt) wären nicht allein über das parodistische Moment des respektlosen Umgang mit nationalen Mythen ästhetisch einholbar. Auffällig ist die Simultanität kulturell und historisch divergenter Schichten (Drogen/Politik/Homosexualität; Goldenes Zeitalter /Fin de Siècle/Gegenwart). Diese Simultanität entsteht wie in Max Ernsts La vierge corrigeant l’enfant Jésus devant trois témoins: André Breton, Paul Eluard et le peintre (1926) nicht bloß aus der grotesken Entheiligung optischer Konventionen, sondern aus der intermedialen Überlagerung eines generischen Kodes des Erhabenen (der christlichen Malerei) mit Elementen der Lebenswelt.
Abbildungen 7 und 8: Max Ernst: Die Jungfrau Maria züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Eluard und dem Maler, 1926, Öl auf Leinwand, 196 x 130 cm, Köln, Museum Ludwig; Parmigianino: Madonna mit dem langen Hals, 1534-1540, Öl auf Holz, 216 x 132 cm, Florenz, Uffizien zwecks Koordinierung des Einfalls in Portugal traf, weil Sebastian, dieser unnütze Schwachkopf mit seinen Sandalen und dem Ohrenring, der am liebsten eine Prise Rauschgift naschte, in einem Drogenviertel in Marokko erstochen worden war, als er versuchte, einer englischen Tunte namens Oscar Wilde ein Päckchen Haschisch zu klauen.“
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Alle Spielregeln des klassischen Gattungsdiskurses gehen als Systemreferenzen gegen den Strich verarbeitet ein, wie durch die Gegenüberstellung mit dem wahrscheinlichen Vorbild, der Madonna mit dem langen Hals (1534-1540) des Manieristen Parmigianino deutlich wird. Anstelle der standardisierten Präsentation der sitzenden Madonna sowie des spielenden oder Segen spendenden Jesusknaben in Front- oder Seitenansicht ist der Betrachter mit einer Züchtigung konfrontiert: das Hinterteil des Erlösers, der zu Boden gefallene Heiligenschein (der die Signatur des Malers Max Ernst umkränzt) und das überschattete, alles andere als Güte ausstrahlende Gesicht der Madonna lesen sich als im traditionellen Sinne karnevalisierende Parodie eines Gattungsdiskurses der klassischen religiösen Malerei. G. R. Hocke hat in seinem Kommentar zu Parmigianinos Bild67 die Ambivalenzen des manieristischen Werks hervorgehoben, die ihrerseits auf eine subtile Umkodierung der klassischen Bildelemente der Madonnenmalerei schließen lassen. Auch die Personengruppe, die im Bildhintergrund in dem perspektivischen Fensterausschnitt gesetzt ist, korrespondiert nicht nur mit dem Gattungsdiskurs, da gerade in älterer Heiligenmalerei die Anwesenheit nicht zur biblischen Geschichte gehöriger Personen – etwa Stifters eines Altarbildes – standardisiert waren.68 Doch erst der nicht im Bild, sondern über den Titel dechiffrierbare Hinweis, Breton, Éluard und Ernst figurierten als Zeugen dieser heilsgeschichtlichen Dysphorie, verleiht der dargestellten Szene jenen stupore, der aus der konfrontativen Montage eines ironisierten Heiligenbildes und der zeitgenössischer Lebenswelt entsteht. Der Blick der drei Surrealisten generiert insofern eine mise en abyme, deren ironische Subtilität in einem Bildtitel besteht, der das Moment der Zeugenschaft ambiguisiert, indem über die Thematisierung heiligmäßiger Zeugenschaft auf die Produktionsstätte des Wunderbaren – die Qualen des Jesuskindes – in komischer Verkehrung verwiesen wird. Offenkundig hat „Dada-Max“ Ernst in seiner frühen surrealistischen Phase das seit jeher über die religiöse Malerei auratisierte Wunderbare hier über den im Martyrium (gr. ƬƜƱƴƵƱ= Zeuge) begründeten Nexus von Gewalt und Schmerz durchaus hintergründig banalisiert. Die Anwesenheit der surrealistischen „témoins“ alltäglicher Gewalt banalisiert das christliche Wunderbare in der anrüchigen Konstellation von Voyeurismus und Sado-Masochismus. Das Wunder als theologische Heilswahrheit erfährt seine Überbietung im surrealen Bild, das aus der Kollage von gegen den ideologischen und ästheti67 Vgl. auch den erhellenden Kommentar Hockes: Welt als Labyrinth, S. 27. 68 Gerade durch den Vergleich von Ernsts mit Parmigianinos Personengruppe wird die Bezugnahme evident. Der von Parmigianino beabsichtigte Effekt, der jeweils in eine andere Richtung blickenden Gestalten, wird von Ernst durch seine scheinbar desinteressierten „Zeugen“ aufgenommen.
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schen Strich montiertem Fremdmaterial hervorgeht. Insofern handelt auch Lobo Antunes’ As Naus nicht bloß die karnevalisierende Demontage nationaler portugiesischer Größe ab, sondern organisiert diese zu einem neuen Tableau, das aus der Mesalliance von Vergangenheiten und Gegenwart nicht bloß eine komische Wirkung, sondern vor allem poetische Kraft zieht. Stärker noch als in Saramagos Roman wird der ältere Realismus hier vor allem durch eine Verfremdungstechnik überholt, die das Bekannte (Pessoa, Camões, Sebastião etc.) in den fremden Kontext einer entzauberten Alltagswelt setzt. Die daraus herrührenden poetischen Mesalliancen enthüllen Schreiben als „Traum für die Wachen“.69 Das vermutlich keineswegs letzte Beispiel einer historisch-ästhetischen Genealogie des nachavantgardistischen Surrealen in Portugal operiert stärker noch als die bisher dargestellten mit der Mesalliance unter dem diskursiven Muster traumanaloger Unbestimmbarkeiten. Antonio Tabucchi, seit einigen Jahren portugiesischer Staatsbürger und gänzlich vor einem lusitani(sti)schem Horizont schreibend, verfasste seinen Requiem (1991) betitelten Kurzroman nicht nur in portugiesischer Sprache, sondern schrieb sich im dezidierten Rekurs insbesondere auf den Modernismus Pessoas in einen postmodernen Kontext ein, der seine Grundlagen im Surrealen nicht verleugnet. Der Bezug zum Surrealismus, der sich auch in anderen Arbeiten Tabucchis niederschlug, ist unter anderem durch die philologischen Arbeiten des Genueser Professors manifest, der sich bereits frühzeitig für das literarische Schaffen von António Pedro eingesetzt hat. Die „Gattungsbezeichnung“ Uma Alucinação (gr. ơƫƽƥƩƭ = außer sich sein)70 rückt den nachfolgenden Roman in die produktionsästhetische Sphäre der 69 Platon: Der Sophist: „Und unsere Kunst, werden wir nicht sagen, daß sie das Haus selbst durch die Baukunst hervorbringt, durch die Zeichenkunst aber noch ein anderes, gleichsam als einen menschlichen Traum für Wachende Verfertigtes?“, S. 737. 70 Vgl. den entsprechenden Eintrag „alucinação“, in: Diccionário Houaiss da língua portuguesa: „perturbação mental que se caracteriza pelo aparecimento de sensações (visuais, auditivas etc.) atribuídas a causas objetivas que, na realidade, inexistem; visão fantástica, sensação sem objeto, afronésia, alheação, alheamento, alienação, amência, deliração, deliramento, delírio, delusão, demência, dementação, desvairo, desvario, frenesi, frenesim, insânia, insanidade, loucura, mania, piloura, psicopatia, tresvario, vareio, variação, veneta; ver tb. sinonímia de desatino“. [Geistige Verwirrung, die durch das Auftreten von (optischen, akustischen etc.) Empfindungen bestimmt ist, die auf objektive, in der Realität inexistente Ursachen bezogen werden; phantastische Vision, gegenstandslose Wahrnehmung, Angstzustand, Irrsinn, Wahn, Entfremdung, Amenz, Delinieren, Delirium, Täuschung, Demenz, Abwesenheit, Verrücktheit, Frenesie, Tobsucht, Manie, Raserei, Psychopathie, Wahnsinn, Veränderung, Laune; vgl. a. Unsinn“, Übersetzung G.W.].
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écriture automatique und der Traumberichte der Surrealisten. Bereits Saramago hatte eine Schreibweise geschaffen, die dem inneren Monolog nähersteht als einer konventionellen Erzählung der 3. Person. Im Gegensatz zu Antunes’ Werk ist auch Tabucchis Werk in der ersten Person verfasst, steht damit kommunikationstechnisch der Vermittlungsform von Almada Negreiros’ K4 und Pedros Apenas uma Narrativa nahe. Wieder ist die Handlung in der Großstadt Lissabon so präzise situiert, dass es möglich wäre, die traumwandlerischen Stadtstreichereien des Icherzählers an einem heißen Julisonntag auf der Landkarte nachzuvollziehen. Wie im französischen Surrealismus wird der Erzählung eine autobiographische Fiktion zugrunde gelegt. Zugleich ist die in die Struktur der katholischen Totenmesse71 eingepasst ist. Gemäß der seit Almada Negreiros gängigen Verfahren der surrealen Überschreibung von Gattungsmustern wird auch auf das in Saramagos Ricardo Reis und Lobo Antunes’ As Naus virulente Modell der lukianischen Unterweltsdialoge rekurriert, wenn in Kapitel 9 Fernando Pessoa mit dem Ich-Erzähler speist. Entsprechend der metapoetischen Tendenz des Surrealen operiert auch Tabucchis Roman mit mehr oder minder deutlich markierten intertextuellen und intermedialen Einspielungen, vor allem von Pessoas Gedichten, des Livro do desassossego und von Hieronymus Boschs in Lissabonner Nationalgalerie ausgestelltem Gemälde Versuchung des heiligen Antonius (um 1500), desjenigen Künstlers also, auf den sich der klassische Surrealismus immer wieder bezog. Dieses Werk, an sich bereits ein surrealisiertes Heiligenbild, dessen literarische Wirkungsgeschichte nur am Rande erwähnt sei, wird im Rahmen eines Konzepts fingierter Intermedialität dadurch musealisiert, dass es (ähnlich wie die ausgeschnittenen Pessoa-Zitate) nicht nur als Museumsoriginal erscheint, sondern das ein Kopist Details dieses Bildes im Großformat im Auftrag eines Texaners kopiert, der diese Megarepliken in seinem Haus arrangiert. Dieses in Kapitel 5 beiläufig beschriebene Gebäude wird damit zur mise en abyme der surrealen Ästhetik des Romans, die mit jenen Doppelungen arbeitet, die schon das Werk Pessoas einzigartig erscheinen lassen. Gattungstheoretisch basiert das Surreale insofern in allen Fällen auf einer dezidierten, unterschiedlich chaotisierten Referenzintertexualität. Diese weist bereits das Moment der Mesalliance auf, da sie vorzugsweise mit der Profanierung erhabener Gattungsmuster (Messe, Heiligenbild) arbeitet. Deren generische Distraktoren sind das surrealistische Egodokument, der Stadtroman und die lukianische Satire und vor allem im letzten Kapitel Platons Symposion als abendländischer Urszene eines Arbeitsessens mit philosophischer Zielsetzung. 71 Die vorausgehende Note und die neun Kapitel korrespondieren mit der Struktur der zehn im nachtridentinischen Totenritus obligatorischen Messsätze des Requiems.
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Die bei Almada Negreiros zugleich emphatisch wie ironisch herbeigeschriebene Moderne, ging bereits bei António Pedro in einer metaästhetischen Praxis auf, die stets mit dem Phänomen des Fremdseins innerhalb oder außerhalb des Vaterlandes korrespondierte. Dies mag neben allen gesellschaftskritischen Ambitionen der neueren portugiesischen Autoren auch der Grund dafür sein, dass ins Zentrum der surrealen Aktivitäten gerade Fernando Pessoa und Luís Vaz de Camões rückten. Hatten die Pariser Surrealisten für die Mesalliance der objets trouvés den Neologismus der Entheimatung (dépaysement) geprägt, so betreibt der portugiesische Neosurrealismus mit dem Begriff der Heimat ein ironisch-melancholisches Umkehrspiel, scheint doch das Surreale dieser Texte aus der Begegnung der exilierten Söhne mit ihrer Heimat herzurühren. Anders als die vom französischen Surrealismus im Anschluss an Lautréamont („Nähmaschine und Regenschirm auf dem Operationstisch“) geforderte Mesalliance des aufgrund unterschiedlicher Zweckbestimmung oder Herkunft Unvereinbaren, erweist sich das Surreale des portugiesischen Gegenwartsromans als Umkehrspiel fiktionaler Setzungen, die ursprünglich nationale Identität stifteten. Die Heimkehr Pessoas und Camões’ in einen konventionellen, der Literatur entfremdeten Kontext generiert die Verzauberung. Die Aktualität des Surrealen in der Iberoromania, das sich auch in Katalonien (Joan Mira, Perejaume, Joan Brossa)72, Brasilien (Márcio Souza, Moacyr Scliar), Kuba (Severo Sarduy, Leonardo Padura), Argentinien (Federico Andahazi, Ignacio Padilla) und Mexiko (Autoren der Gruppe „Crack“) zeigen ließe, beruht insofern auf der entfremdenden Collage, die aus der multiplen Spannung von Aktualität und Geschichte, Fiktionalitätsauffassung und Wirklichkeitsbegriff Realität und Imagination oder Medium und Botschaft das „Rauschgift BILD“ hervorbringt.
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72 Vgl. Hierzu die Beiträge von Dietmar Frenz: „Kratylische Träumereien in Perejaumes Oïsme“, und Andrea Stahl: „Vom Sprechen der Bilder: Variationen visueller Wahrnehmung bei Joan Brossa“.
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Ent-Stellungen – Chris Cunningham Körper als Pop-Surrealismus1 Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l’on peut ainsi dire. C’est à sa conquête que je vais, certain de n’y pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas supporter un peu les joies d’une telle possession. (André Breton)2
1.
Reiner psychischer Automatismus
Im Jahr 2006 veranstaltete das Experimental Performing Media and Arts Center am Rensselaer Polytechnic Institute, Brooklyn, einen Abend unter dem Titel „Dreamscapes And Dark Places: Music Videos Spawned from Surrealism“. Die Ankündigung verknüpfte André Bretons surrealistisches Manifest und René Clairs 13-minütigen Kurzfilm Entr’acte (1924) mit einer Reihe millennialer Musikvideos von Performern wie Björk, Beck, The Arcade Fire, LCD Soundsystem, Amon Tobin and Aphex Twin. Unter dem Banner von Bretons surrealistischem Manifest und seiner Vision der Auflösung des Widerspruchs zwischen Traum- und Realitätszustand lautet die dort vertretene These, dass das Musikvideo oder zumindest bestimmte Musikvideos zu surrealistischer Kunst geworden seien: „many music videos have begun to look more like an art form reminiscent of the short film genre than a commercial product.“3 Diese Formulierung ist problemlos: Viele Musikvideos sehen aus wie surrealistische Kunst – aber nicht jede Kunst, die aussieht wie surrealistische Kunst, ist damit auch bereits surrealistische Kunst.
1
Das normenbrechende Aufmerksamkeitsstimulans des nicht realisierten Genitivs in meinem Titel ist eine zitierende Geste, die auf die surrealistische Montage rekurriert. Auf diese Weise stellt der Titel den Autor Cunningham und seine Körperbilder collagenhaft und enthierarchisiert nebeneinander.
2
Breton: Manifestes du surréalisme, S. 24.
3
„Dreamscapes And Dark Places: Music Videos Spawned from Surrealism“. Experimental Media and Performing Arts Center (EMPAC), Rensselaer, Polytechnic Institute, http://empac.rpi.edu/events/2006/spawns.html.
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Ausgangspunkt von Dreamscapes And Dark Places wie auch dieses Aufsatzes ist (1)
eine medial-generische Affinität zwischen Surrealismus und Popmusikvideo, gemäß dem Schema „Music Videos Spawned from Surrealism“ und
(2)
eine spezifische Affinität zwischen den Clips des Regisseurs Chris Cunningham und der surrealistischen Ästhetik. Im ersten Teil werde ich den Forschungsstand zum Verhältnis von Surrealismus und Clipästhetik bilanzieren und in einem zweiten Teil auf den spezifischen Beitrag von Chris Cunninghams Videos in diesem Kontext eingehen.
Ich werde jedoch auch versuchen zu zeigen, wie letztlich der Surrealismus unvereinbar ist mit der medienkulturellen Verfasstheit des Musikvideos – aufgrund der finanziellen Probleme der Musikindustrie wohl ohnehin eine sterbende, in jedem Fall jedoch anders verortete Gattung. Nicht mehr zu diskutieren, weil communis opinio, ist also folgende These: Das Musikvideo ist erheblich vom Surrealismus beeinflusst und zwar sowohl was Bilder und Musik angeht – also mit Bezug auf das semiotische Material – als auch in der medialen Verfasstheit des Genres. Schon vor mehr als 30 Jahren, in einem der ersten akademischen Aufsätze zum Musikvideo, analysierte Marsha Kinder die traumhafte Qualität des Musikvideos. In most rock videos what we do see is a chain of disparate images, which may involve the musical performers, but which stress discontinuities in space and time – a structure that resembles the form of dreams.4 Es ist bekannt und erscheint folgerichtig, dass die Surrealisten sich nach literarischen Anfängen zunehmend der Bildkunst widmeten. Es ist ebenso bekannt, dass sie filmbegeistert waren, den deutschen Expressionismus schätzten.5 Entscheidend war für sie die Traumstruktur des Films, die – zusammengefasst von Schneede – in noch viel stärkerer Weise auf den Musikclip anzuwenden wäre: Aus der Perspektive surrealistischer Ästhetik faszinierte sie [die Surrealisten, E.V.-V.] die Fähigkeit des Films, die Schwerkraft aufzuheben, die Zeiten durcheinander zu wirbeln, die Räume nach Belieben
4
Kinder: „Music video and the spectator“, S. 3.
5
Zum surrealistischen Film vgl. Matthews: Surrealism and Film; Gould: Surrealism and the Cinema; Kovács, The Story of Surrealist Cinema; Williams: Figures of Desire; Kuenzli: Dada and Surrealist Film, sowie zuletzt, hervorgegangen aus der Siegener Vorgängerkonferenz, Lommel u.a. (Hrsg.): Surrealismus und Film.
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zu wechseln, die Figuren überraschend zu verwandeln, Gewaltakte zu simulieren, unwahrscheinliche Metamorphosen durchzuführen, Ereignisse unglaublich zu beschleunigen, kurz: die Welt nicht nach den Naturgesetzen, sondern frei nach der Imagination aus Elementen der Wirklichkeit zu gestalten. Das alles konnte die Literatur auch, aber der Film leistete es frappierend, besonders irreführend oder bestürzend durch seine direkten überprüfbaren Realitätsbezüge.6 Beispiele schon aus den 1980er Jahren von Annabel Jankel, Tim Pope, Godley & Creme oder David Byrne sind ubiquitär in YouTube verfügbar. Unter dem Verdikt der strukturellen Ähnlichkeit von Musikvideo und Traum kollabieren die Unterschiede zwischen Entr’acte, Un Chien andalou (1928) oder L’Âge d’or (1930) und dem Musikvideo. 1993 fasst die Frankfurter Kunstgeschichtlerin Birgit Richard dies zusammen: Die Gestaltungselemente der Musikvideos leiten sich aus der Formensprache der klassischen modernen Avantgarde ab. […] Entscheidende Grundlage für die späteren Musikvideos sind auch die Einflüsse aus den Anfängen der Filmgeschichte und dem Experimental-Film.7 Heute steuert die bildende Kunst außerdem insbesondere formale Elemente aus Dadaismus und Surrealismus bei. Vom Surrealismus übernehmen die Musikvideos vor allem Bildelemente von René Magritte oder Salvador Dalí, die zum einen hohen Wiedererkennungswert besitzen und sich zum anderen ideal in den Phantasieraum dieser Medienwelten einpassen. Dazu gesellen sich Elemente aus der Alltagskultur: aus Werbung und Fernsehspots. Musikvideos stellen also ein hybrides Bindeglied zwischen künstlerisch-avantgardistischen Ausdrucksformen und Massenkultur dar. Musikvideos bieten in eingeschränktem Maße eine Erhöhung der Akzeptanz (moderner) avantgardistischer Elemente. Richard resümiert: „Das Musikvideo ist also ein nicht-lineares, nicht-cartesianisches, rekursives Medium.“8 – In der Ablehnung des cartesianischen Logos und der Nichtlinearität, aber auch darüber hinaus, ist das Musikvideo medial mit dem Surrealismus verknüpft. André Breton definiert bekannterweise im ersten surrealistischen Manifest den Surrealismus als reinen psychischen Automatismus, als Denken ohne Vernunft:
6 7 8
Vgl. Schneede: Die Kunst des Surrealismus, S. 194. Birgit Richard nach Margot Lovejoys Postmodern Currents 1989, vgl. Richard: „Music Video Clips“. Ebd.
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Surréalisme, n.m. Automatisme psychique pur par lequel on se propose d’exprimer, soit verbalement, soit par écrit, soit de toute autre manière, le fonctionnement réel de la pensée. Dictée de la pensée, en l’absence de tout contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale.9 Eine solche Definition scheint wieder auf, wenn die Bilderflut des Musikvideos gegen den Anwurf des Rationalitätsverlusts verteidigt werden muss. Williams10 bemüht zu seiner Analyse des Musikvideos den Neologismus ECHOS (aus logos und echoes), mit dem er sich vom Logos abgrenzt. In diesem Begriff will er die spezifische integrative audio-visuelle Denkweise des Clips ausdrücken, mit der die westliche Unterscheidung von Subjekt und Objekt phänomenologisch und buddhistisch in einer gegenseitigen Durchdringung überwunden werde. Eine solche Analyse des Clips erscheint mir vereinbar mit dem surrealistischen Projekt, den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken. Man könnte formulieren: Der Clip ist surreal, weil er das wirkliche Denken sichtbar macht, anstatt Objekte zu zeigen, die von Sinn-Such-Subjekten gelesen werden sollen. Dennoch ist diese Charakterisierung des Clips als Pop-Variante der surrealistischen Avantgarde durchaus problematisch. Die Clips fanden 1981 ihre erste Heimat in einem Sender, der sich an weiße, 12-34 Jahre alte Mittelklassejugendliche wandte und in seiner Glanzzeit bis zu 340 Mio. Haushalte weltweit erreichte. Die rebellische, subkulturelle, gegen die Familie und andere soziale Einengungen gerichtete Geste, die die Zielgruppe verlangt, bildet eine eher schwache Basis für ein surrealistisches Veränderungsprogramm. Immerhin hieß 1924 die surrealistische Zeitschrift La Révolution Surréaliste und die Scharmützel zwischen mehr und weniger kommunistischen oder revolutionären Mitgliedern der Gruppe sind bekannt. „Der Surrealismus sollte sich als tiefgreifende kulturelle Erschütterung erweisen“11, urteilt Schneede – er sollte die vorhergehenden Avantgarden aufheben und beerben und eine subversive Revolte einleiten. Dagegen erscheint im Videoclip von vornherein nur das gestische Zitat der Rebellion. Zudem ist der Clip zuallererst ein Werbeprodukt der Musikindustrie – unter den Bedingungen der schwindenden Ressourcen der dahinsiechenden Musikindustrie befindet sich der Videoclip zudem in einer ökonomischen Krise. Während billig produzierte Amateurclips und illegale Uploads Videoportale wie YouTube dominieren, feiert die Präsenz des inszenierten Stars in der Tournee neue Urstände als Haupteinnahmequelle der Musikbranche in den Zeiten des illegalen Downloads (Madonna, wie kürzlich zu le9
Breton: Manifestes du surréalisme, S. 36.
10 Vgl. Williams: Why I (Still) Want My MTV. 11 Schneede: Die Kunst des Surrealismus, S. 14.
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sen, steht nicht mehr bei Warner, sondern bei einem Tourneeveranstalter unter Vertrag).12 Wie Frith bereits 1981 feststellte, ist der Clip immer im kapitalistischen Nexus. Er verkauft seine Zeichen, macht also – ganz im Gegensatz zum ursprünglichen Surrealismus – „commoditized dreams“13 verfügbar. Insofern macht ein Clip nicht das wirkliche Denken sichtbar, sondern ersetzt oder ergänzt Denken durch Stimmung. Das ist kein ästhetischer Umsturz. Besonderes Interesse widmet Chris Cunningham dem Mensch-MaschineHybrid – also der surrealistischen Puppe, die in der Medienkunst der 1990er Jahre eine Auferstehung feiern konnte. In seiner Bevorzugung eines grotesken und hybrid-monströsen Körperbilds setzt Cunningham Obsessionen sowohl des Surrealismus als auch des Musikvideos um. Ohne bewegte Körper kein Clip – ohne Körpermontagen kein Surrealismus. Wenn Sigrid Schade das Typische der derzeitigen Puppenkunst benennt, klingt dies wie eine Beschreibung von Cunninghams Videos: [T]echnoide Fantasien, innerhalb derer sowohl Monströses wie auch Autonomiefantasmen zur Sprache gebracht werden, die von verschiedenen aktuellen Technik- und Medienentwicklungen geprägt sind. Die beiden letzten Komplexe sind kaum voneinander zu trennen.14 Der Körper – oft genug der Körper der Frau, so Birgit Schulte15 – wurde zur Sprache der Surrealisten. Einige wohlbekannte Beispiele finden sich in Hans Bellmers sexualisierten Puppenbildern über Kokoschkas Fetisch bis zur heutigen Sammlung unheimlicher, weil unbeseelt-beseelter Körper bei Mike Kelley. Häufig – so bei Bellmer, aber auch in Clairs und Picabias Entr’acte – ist es der behinderte, deformierte oder prothetische Körper, der das besondere Interesse der Surrealisten hervorrief. Möglicherweise war dies auch eine ästhetisch-politische Reaktion auf die überall evidenten Kriegsversehrungen des Ersten Weltkriegs – der von den Zeitgenossen sogenannten ‚Krüppelfürsorge‘. In jedem Fall konstruiere ich hier einen Zusammenhang zwischen dem surrealistischen Körper und Chris Cunninghams besonderer Form und Ästhetik der ,ClipKrüppelfürsorge‘, die z.B. auf den sogenannten Weimar Cyborg16 rekurriert. 12 Onlineberichte hierzu gibt es z.B. unter: http://www.alleyinsider.com/2007/10/bye-bye-madonna.html. 13 Williams: Why I (Still) Want My MTV, S. 25. Die wichtigsten frühen Texte zum Musikvideo sind gesammelt in Frith, Goodwin und Grossberg, Sound and Vision. 14 Vgl. den Beitrag von Sigrid Schade in diesem Band, S. 116f. 15 Schulte: „Sex-Paralysappeal“, S. 26. 16 Vgl. hierzu den Text von Matthew Biro.
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Der technologisierte, verfremdet auswüchsige Körper, der die Surrealisten inspirierte, inspiriert neben vielen anderen zeitgenössischen Künstlern – herauszuheben sind sicher Stelarc oder Orlan – auch Chris Cunningham. Der bewegte, generell libidinös aufgeladene, immer jedoch mit genügendem Aufmerksamkeitspotential ausgestattete Körper ist die conditio sine qua non des Musikvideos. Gelegentlich erscheint dieser abstrahiert, meist jedoch als notwendiger Bestandteil des Videos, weil es der beworbene Körper des Performer-Produkts ist. Besonders, aber nicht nur im Fall männlicher Pop-Produkte, erscheint der Performer-Körper umgeben von statuserhöhenden, verweisenden Frauenkörpern. Beispielhaft finden wir dies in „Rock DJ“ von Robbie Williams formuliert: „It’s time to move your body“. Hier gehen Sexualität und Tanz eine verkaufsfördernde Körpersymbiose ein, deren Nacktheit in diesem Fall sogar bis unter die Haut geht: in Vaughan Arnells Video aus dem Jahr 2000 zieht sich Williams – digital animiert – bis auf sein Gerippe aus und lässt die ihn umgebenden weiblichen Models dadurch an seiner Körperwelt teilhaben, dass er sie mit Fleischstücken bewirft. Richard benennt des Weiteren eine Zäsur zwischen dem digitalen und nicht-digitalen Musikvideo – während sich das vor-digitale Video primär zum trivialisierenden Bilderrecycling eigne17, sei das Musikvideo mit der digitalen Bild- und Toncollage in einer Art Befreiung zu sich selbst gekommen. Durch die digital beschleunigten Geschwindigkeitsreize – splitting, sampling, imaging – habe das trancehafte Erleben im Video zu sich selbst gefunden.18 So lässt sich auch das Musikvideo wieder auf die dadaistische Avantgarde beziehen, z.B. auf Raoul Hausmanns Optophon: „Der Dadaist Raoul Hausmann, konkretisiert seine Vorstellung einer Farbenmusik, [sic!] in einer opto-phonetischen Schaumaschine – auch Optophon genannt – von 1920.“19 Oskar Fischinger, Walter Ruttmann und Hans Richter werden gleichfalls als Vordenker des Musikvideos herangezogen. Zu nennen ist hier in jedem Fall aber 17 „Die traditionellen, digital unbearbeiteten Musikvideos zehren im Gegensatz zu den digital generierten eher vom kulturellen Vorrat der Bilder. Sie recyceln das Bildgedächtnis der Gesellschaft, das alle bildförmigen Erzeugnisse vom Tafelbild bis zum Pressefoto enthält. Dies ist mit Abnutzungs- und Trivialisierungserscheinungen verbunden, da sie dem Bilderuniversum keine neuen Bildwelten hinzufügen können. […] Bestes Beispiel hierfür ist die endlose Zirkulation männlicher Repräsentationsbilder für das Weibliche in den Musikvideos, vgl. Birgit Richard, „Music Video Clips. Von der ‚optophonetischen Schaumaschine‘ Raoul Hausmanns zum Brain Dance der Techno Kultur“. 18 Dies unterschätzt meiner Auffassung nach jedoch den Einfluss vor-digitaler Kunstformen auf das Video bereits lange vor der digitalen Wende. 19 Vgl. Richard: „Music Video Clips. Von der ‚optophonetischen Schaumaschine‘ Raoul Hausmanns zum Brain Dance der Techno Kultur“.
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auch Clairs und Picabias Entr’acte, 1924 im Dada-Ballett Relâche gezeigt, bei dem Man Ray, Duchamp und Erik Satie mitwirkten. Hier sind bereits durch Zeitlupe, Überblendung, Umkehrung und Perspektive deformierte SlapstickKörper paradigmatisch zu sehen, u.a. ein Schein-Beinamputierter in einem Rollkasten und ein lebendiger Leichnam, der als Film-Magier sich und andere aus dem Bild verschwinden lässt. All dies könnte in einer platten Argumentation in einer These wie der folgenden kulminieren: „Würden die Surrealisten heute noch leben, wären Sie alle Videofilmer.“ In der Tat erscheint Chris Cunninghams Rubber Johnny beispielhaft in seiner perfekten Synchronisierung des monströsen Körpers mit der technischen Musik zu einer künstlichen und synästhetisch-künstlerischen Einheit. Dies ist im Musikvideo nicht neu, denn die Synchronisierung von Körpern und Rhythmen ist dort konstitutiv – z.B. im sogar bereits prä-digitalen Gesichtsmorphing bei Godley & Creme (Cry, 1985 und später, 1989, in Michael Jacksons Black or White) oder auch bei der Synchronisierung von Roboterpuppen mit technischen Beats in Herbie Hancocks Rockit (1983), damals ironischerweise ohne den schwarzen Körper des Musikers vorzuführen, der weiße Käuferschichten verschreckt hätte. „Wir sind die Roboter“ hieß es stilprägend 1978 in dem Album Die Mensch-Maschine von Kraftwerk. Generell ist die Körperverfremdung und Körperproliferation, die wir bei Cunningham vorfinden, umgesetzt z.B. in Zeitlupen, Linsen etc., natürlich fester Bestandteil vieler Musikvideos, die z.B. fünf Kylie Minogues auf einen zyklischen Kurs schicken (Come Into My World, Michel Gondry 2002) oder – à la Being John Malkovich – einen ganzen Raum mit digitalen Klonen (George Michaels und Mary J. Bliges As, 1998) füllen. Traum und Trauma sind im Bilderapparat des Clips keine Grenzen gesetzt.20
2.
Chris Cunninghams Krüppelfürsorge: Der andalusische Hund ist ein Chihuahua
Chris Cunningham ist primärer Gegenstand dieses Aufsatzes, weil er am Schnittpunkt von kommerziellem Musikvideo und digitaler Videokunst arbeitet, und weil seine Körperästhetik eine besondere Affinität zum Surrealismus aufweist. 1999 erhielt Chris Cunningham zusammen mit dem irischen Electronica-Musiker Richard D. James alias Aphex Twin den Prix Ars Electronica in der Kategorie digital musics. Biografisch ist die Affinität zum grotesken und verfremdeten Körper leicht zu erklären, denn sein erstes Training erfuhr Cunningham bei Clive Barker und den Machern der satirischen Puppenshow 20 Die Videos sind alle am einfachsten auf YouTube verfügbar.
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Spitting Image. Cunningham versuchte sich früh als Zeichner von graphic novels. Dieser Einfluss des Comics, der etwa auch Mike Kelley zu seinen Installationen von Sammlungen ‚unheimlicher‘ Körper inspirierte, ist für Cunninghams digital verfremdete Körper von zentraler Bedeutung,. In die Filmlehre ging Cunningham als Mitarbeiter von Stanley Kubrick, sowie bei Alien 3 und anderen ‚Special Effects-lastigen‘ Filmen. Auch mit Bezug auf den Körper bei Cunningham wäre ich nicht der erste, der die Bezüge zum Surrealismus herausstellt. So hat 2001 Rick Poynor im Eye Magazine Cunninghams Kurzfilm Rubber Johnny mit Hans Bellmers Studien deformierter Körper verglichen. Man könnte auch einwenden, dass Cunningham ein Denken ohne Vernunft herstellt, wenn er sich doch biografisch als Techniker darstellt, der sich nur um das Wie und nicht um das Was seiner Bilder kümmere. Doch auch in dieser Apotheose des Technischen erweist sich Cunningham als guter Surrealist. Was Cunningham darbietet, sind digital animierte Ent-stellungen, groteske Körper in grotesken Positionen, wie sie der Surrealismus vielfach vorgeführt hat. Es sind frappierende Mensch-Maschinen-Hybride, die deutlich mehr groteske Körperlichkeit bieten als die maschinenästhetisch liebenden Roboter in Björks All Is Full of Love (1999). In Come to Daddy (1997) hetzt Cunningham in einer urbanen Betonwüste eine Horde Mutantenkinder, die das Performergesicht mit furchteinflößendem Effekt solipsistisch vermehren, auf eine ältere Dame. Come to Daddy verweist in seiner Vision grotesk-unnatürlicher videoinduzierter Prokreation bereits auf Rubber Johnny (2005). Schließlich schreit die ausgemergelte, aggressive Ausgeburt der visuellen Verwahrlosung der – ganz herkömmlich – „Natur“ und „Normalität“ suggerierenden alten Frau der audiovisuellen Zivilisation ins Gesicht. Sein wohl bekanntester Clip ist Windowlicker (1999). Der über zehn Minuten lange, narrative Clip geht in seiner dialogischen Eingangssequenz wie weiland das Video zu Thriller von Michael Jackson21 über die reine Bebilderung von Musik weit hinaus. Hier lässt Cunningham die sexualisierten Frauenkörper des typischen R’n’B-Videos und die ethnischen Typen der „home boys“ durch eine monströse TransgenderMontage karikieren. Sowohl der überphallische Alphamann, der mit einer stretch limousine als überlangem Phallus in einer grotesk verlängerten Sequenz ins Bild fährt, als auch seine Gespielinnen sind mit dem bärtigen Grinsen des Performers Aphex Twin ausgestattet und werden so zur Chimäre. Suggestiv werden Sektflaschen entkorkt und die Schirme des Busby Berkeley Musicals erfüllen ihre phallischen Zwecke. Cunninghams Chimärenkörper stehen klar in der 21
Das Video zu „Thriller“ (1983) sprengte mit 15 Minuten Länge das bis dahin gebräuchliche Format der Clips und wurde (inklusive eines ‚Making Of‘) eher als Filmkunst denn als Promotion-Clip vermarktet.
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Tradition der surrealistischen Obsessionen mit dem monströsen Anderen, mit dem möglicherweise beseelten Körper der doch unbelebten Puppe, und Cunningham ist wie die Surrealisten ein Visualisierer des Verdrängten. Mit Rubber Johnny gelang Cunningham 2005 immerhin ein Skandälchen, weil die Druckerei sich weigerte, das Video-Booklet zu produzieren. Der etwa 6-minütige Kurzfilm, ursprünglich als Videoclip für das Stück Afx237 V7 von Aphex Twin gedacht, wurde signifikanterweise nicht als Musikvideoclip, sondern als Kurzfilm vermarktet. Er zeigt nicht unbedingt, wie in einem von dem Bedürfnis nach narrativer Kontextualisierung entstellten Artikel in Wikipedia zu lesen, das „Leben eines durch Inzucht gezeugten und von seinen Eltern in einem [sic!] Keller gesperrten Kindes“.22 Eine kurze Sequenz zeigt ein aufgezogenes, dann zerplatzendes Kondom – in britischem Slang heißt Kondom „Rubber Johnny“ – in unmittelbarer Nähe einer Ratte und versehen mit den „Credits“. „Rubber Johnny“ ist aufgemalt und darunter erkennt man kurz die Aufschrift der produzierenden „Warp Films“. Wenn man mich hier zu einer – dem Genre Musikvideo insgesamt wenig angemessenen – semantischen Bewertung aufforderte, würde ich anlässlich dieser Credit-Sequenz, die ja die Genese des Films autorisiert, über eine ungewollte Schwangerschaft nach einer Mensch-Tier-Kreuzung als Urgrund von Rubber Johnny spekulieren. Vergegenwärtigen wir uns kurz, was wir gesehen haben, gewissermaßen den Plot dieses narrativen Clips: Ein eingesperrtes, missgebildetes Kind in einem Rollstuhl wird offenbar in einem dunklen Raum gehalten. Wir sehen es mit Bartansatz, die Extremitäten verrenkt, einen hypertrophen Wasserkopf hinten über die Lehne eines Rollstuhls gelegt. Die grundlegende Situation erinnert ein wenig an Becketts Not I, die Sinne vertauscht vom Hören zum Sehen – hier ist es jedoch ein Chihuahua mit im Nachtsichtgerät leuchtenden Augen, der den Listener verkörpert. An einer Stelle reagiert der groteske Chihuahua durch sein Bellen auch auf die Verrenkungen des nicht weniger grotesken Gummikinds „Rubber Johnny“, gespielt von Cunningham, aber mit Hydrozephalus und weiteren Deformierungen digital und prothetisch entstellt (vgl. Abb. 1-3).
22 http://de.wikipedia.org/wiki/Chris_Cunningham.
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Abbildung 1-3: Chris Cunningham: Rubber Johnny, 2005, Screenshots
Rubber Johnny ist ein vollkommenes Geschöpf des Musikvideoclips, völlig dem Logos entzogen, dessen Schwundform sein gestammeltes „muammmaaa“ – offenbar „Mutter“ – ist. Rubber Johnny wird eingangs von einem Arzt aus dem off befragt und gerät außer sich durch die Frage, ob dieser seine Mutter rufen soll. Nach einer offenbar ruhigstellenden Injektion beginnt in der Dunkelheit Johnnys Zunge im Rhythmus eines Beats zu schnellen. Es beginnt eine rapide, schnittschnelle Rollstuhl-Tanzroutine zur elektronischen Musik von Aphex Twin, in deren Verlauf Johnny Lichtblitze abwehrt und mit seinem Rollstuhl balanciert. Der deformierte Jugendliche erweist sich, in einer Geste surrealistischer Unvereinbarkeit, als Gummikörper zu den unglaublichsten Aktionen in vollkommener Synchronität zur Musik in der Lage. Eine geradezu maschinelle motorische Präzision, ein Gleichklang von Maschinenmusik und einem Defizit-Körper, der paradoxerweise im Kontext der leitenden Musik zu Übermenschlichem fähig ist. Zweimal öffnet sich die Tür und ein männlicher Erwachsener, möglicherweise der Vater, beschwert sich in grobem Ton über das Verhalten des nun in erzwungener Ruhe posierenden Tänzers. Johnny wird als „great clot“ (also ‚Klumpen‘) und „stupid fucker“ tituliert. Nachdem Johnny eine Linie Kokain konsumiert hat, wird der Tanz immer grotesker verformt und schließlich klebt Johnnys exaltierter Wasserkopf als Körpermasse und Innerei, so inferiert der Zuschauer, an der Kameralinse. Der bewegte Körper – im Zentrum fast jedes Musikclips – tut dies im geschützten
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Raum des Dunkels der Nacht, auch hierin ein wahres Kind des Surrealismus. Das Nachtsichtgerät, das das dunkle Szenario erst sichtbar macht, wirkt wie ein surrealistischer Apparat, denn das surrealistische Bild will bekanntermaßen das Unbewusste nicht nur bebildern, sondern sicht- und erfahrbar machen. Alles, was sich hier mit diesem Repräsentanten einer deformiert-grotesken Jugend abspielt, ist im Rausch von Nachtvision, Musik und Drogen dem ÜberIch entzogen. Dies ist als Apotheose des Beats und des Rauschs lesbar, der Eltern und Arzt an den Rand drängt und lediglich die unvernünftige Kreatur, den Hund, als Präsenz toleriert. Doch selbst der starrende Chihuahua ist fassungslos und bellt. Cunninghams Rubber Johnny führt in kristevaschem Idiom also eine Abjektion vor, also das Abjekte als das in der psychosozialen Entwicklung der Unterscheidung von Objekt und Subjekt Vorgängige, dessen kulturelle Emanationen im ausgeschlossenen, widerlich Körperlichen zu suchen sind. Rubber Johnny ist ein Unfall, kein corps propre. Sein Körper steht unter der Kontrolle des Logos – gesprochen wird nur von den Caretakern aus dem off, die ihn in einen weitgehend lichtlosen Raum verbannt haben. Beobachtet von einem Logos-losen Leib, dem Chihuahua, verselbständigt sich Rubber Johnny, indem er mit der technisierten Musik von Aphex Twin eine techno-korporale Symbiose eingeht, die ihn befreit und über die ihm sonst zur Verfügung stehenden technischen Hilfen, den Rollstuhl, hinausgeht. Rubber Johnny ist also ein Körper, der in der digitalen Bilder-, Sound- und Drogenwelt seine Erfüllung findet. Damit steht er in der Tradition des Kunstkörpers, des Cyborg, der in technisch-organischer Symbiose neue Lusterfahrungen machen kann. Cunninghams Video ist lesbar als prothetisches Liebesspiel zwischen Körper und Musik. Es ist die Projektion einer triumphalen Rückkehr des Abgestoßenen, eines tabuisierten, herausgeschriebenen Körpers.
3.
Surrealismus, Pixies und Morgan Stanley: „Got me a movie / Ha ha ha ho / Slicing up eyeballs“
Ende der 1980er Jahre nahmen die Pixies und ihr Mastermind Black Francis (Charles Thompson) in dem Signatur-Song „Debaser“ ihres Albums Doolittle von 1989 explizit Bezug auf die Surrealisten: got me a movie i want you to know slicing up eyeballs i want you to know girlie so groovy
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i want you to know don’t know about you but i am un chien andalusia i am un chien andalusia i am un chien andalusia i am un chien andalusia wanna grow up to be be a debaser, (debaser) debaser, (debaser) debaser, (debaser) debaser, (debaser) debaser, (debaser) debaser, (debaser) Hier haben wir Material für zwei Bewertungen des Pop-Surrealismus: Zum einen das Zitat als Geste der Aneignung einer ästhetischen Rebellion – der Pop-Debaser, der in der Persona des auf Bataille oder Sacher-Masoch anspielenden Erniedrigers („Debaser“) das Programm der Surrealisten im Pop-Kosmos weiterführt, indem er sich über Grenzen bewegt. Wenn es zutrifft, dass die Surrealisten die Ersten waren, die nach vereinzelten Vorläufern in der Kunstgeschichte, nach dem Ersten Weltkrieg „[d]as Verdrängte und das Unerklärliche, Begierde und Gewalt, das Drohende, die Chimären, die ausbrechenden Düsternisse“23 zu dominanten Themen erklärten24, dann wird dies in der derzeitigen Videokunst sicherlich aufgegriffen. Einige Videos können als solche Versuche der Entgrenzung beschrieben werden und es gibt einen Kanon von Videos, die in ihrer Widerständigkeit den Anspruch erheben, das Andere sichtbar zu machen. Zum anderen erweist sich jedoch in der Grenzenlosigkeit des Popuniversums als Beispiel einer recuperation der Spektakelgesellschaft die Unmöglichkeit der rebellischen Geste. Die Pixies zitieren den Filmtitel in bewusst inkorrekter Mischung aus Spanisch und Französisch und kokettieren mit der Idee eines Schwundstufen-Surrealismus. Black Francis’ Persona ist der Clip-User – vermutlich jung, männlich, weiß und gut situiert –, der seinem girlie so groovy mit Rekurs auf die ästhetische Rebellion der Surrealisten imponieren will und die Devianz in seinem Sozialisationsprogramm verinnerlicht hat: „Wanna grow / up to be / be a debaser“ – muss der Clip also erst erwachsen werden, um die surrealistische Revolte umzusetzen? Die Frage sei erlaubt, ob sein Erscheinen in einem Popsong und im Popvideo die Möglichkeit ästhetischer Rebellion 23 Schneede: Die Kunst des Surrealismus, S. 16. 24 Vgl. ebd.
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nicht viel mehr unmöglich macht oder lediglich eine Rebellion gegen die Akademisierung des Surrealismus andeutet. Andererseits ist es nämlich ebenso fraglich, ob eine Ausstellung wie die von Jennifer Mundy kuratierte Surrealism. Desire Unbound 2001 an der Tate Modern, der rebellischen und zerstörerischen Geste des Surrealismus, wie ernst er auch jemals gemeint war, nicht ebenso hilflos gegenübersteht. Sponsor der Ausstellung waren die Investmentbanker von Morgan Stanley. Im „Sponsor’s Foreword“ ist zu lesen: The surrealists threw back the boundaries of conventional art by challenging conventional thinking, a theme that is still very resonant today. Morgan Stanley itself has a history of challenging traditional thinking to help our clients realise their financial aspirations.25 An diesem Beispiel ließe sich der von den Situationisten beschriebene und durchgeführte Wettlauf von recuperation (Kunstsponsor Morgan Stanley) und détournement (situationistischer Gebrauch des Surrealismus) zeigen. Die im Namen von Morgan Stanley behauptete Analogie von Investment Banking und Surrealismus ist selbst eine surrealistische Assemblage, eine „Kombinatorik zur Entfremdung des Wirklichen“26. Die Begegnung des Surrealismus mit Morgan Stanley in einem teuren coffee table book der Tate ist die beste Umsetzung der „unvermuteten Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“27, die pointierte Formulierung des Irrationalen durch Lautréamont, die so großen Einfluss auf die surrealistische Bewegung ausübte. Sicherlich gibt es noch diese Grenzen, die den Surrealisten ein Graus waren, aber ich würde weder in einer Ausstellung der Tate Modern noch in Musikvideos nach ihnen suchen. Schließlich polemisierte Breton gegen das widerlich materielle Wohlleben der modernen Gesellschaft28, was ich an einigen Beispielen demonstrieren möchte. Auch hier nutzt die weitere Entgrenzung des im Clip Zeigbaren überwiegend den menschlichen Körper als Spielfeld. Die besten Beispiele finden sich gesammelt in einem ARTE-Extra in „Die 7 Todsünden des Videoclips“29: die im Auftrag von Rammstein montierte Leni Riefenstahl, der Sexfilm bei Add N 25 Newhouse: „Sponsor’s Foreword“, S. 6. 26 Schneede: Die Kunst des Surrealismus, S. 36. 27 „la rencontre fortuite sur la table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie“, Lautréamont: Les chants de Maldoror, S. 327. 28 Vgl. Schneede: Die Kunst des Surrealismus, S. 47. 29 David Combe, Jean-Marx Barbieux, „Les 7 Péchés Vidéo“ (ARTE France/Programme 33. Ausstrahlung: ARTE, 30.12.2005).
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to X oder, inspirationsgebend, auch bei Christina Aguilera, primitivst misogyner Sex und Drogenkonsum bei The Prodigy’s Baby’s Got a Temper, snuff clips schlagender Jugendgangs in Lil’ Jons What You Gon’ Do oder, bereits 1992, die masochistische Inszenierung des verstorbenen Bob Flanagan in Nine Inch Nails’ Musikclip Body Art-Hybrid. Nachdem Flanagan der Foltermaschine eine Kerze opfert, beginnt das Folterritual, in dessen Verlauf er von der Maschine mit Vorliebe an seinen Geschlechtsorganen gequält und schließlich umgebracht wird. Im close-up seines Gesichts zeigt sich die Schmerzlust – vielleicht ein Kommentar zum batailleschen Begriff des Heiligen. Dieses Video wollte zumindest ARTE nicht im Fernsehen zeigen, obwohl die Sendung „Die 7 Todsünden des Videoclips“ doch angetreten war, das zu zeigen, was sonst massenmedial zensiert wird. Ist die ubiquitäre audiovisuelle Verfügbarkeit von allem und mit der weltweiten digitalen Proliferation die Aufhebung von Realität/Traum nun die Erfüllung der kühnsten Träume der bretonschen Clique, die mit einer harmlosen Imitatio Fellatio die Zensoren auf den Plan rief? Heute könnten sie es wie Lil’ Jon halten – die Gewaltclips kommen aus den Handykameras in die Datennetze, werden von dort zum Clip zusammenmontiert und dann wiederum – weil das Fernsehen, das seine massenmediale Herkunft noch nicht völlig negiert, sich dem Tabubruch verweigert – über das Netz vertrieben und verfügbar gemacht. Vaughan Arnells Inszenierung von Robbie Williams in Rock DJ zeigt es kreativ und humorvoll: Um auch nur ein bisschen Medienaufmerksamkeit zu erhaschen – hier ist das Publikum personifiziert im medialen Multiplikator ‚DJȧ –, muss der Körper bis zur Selbstaufgabe, zur Annihilation, gehen. Im Grunde genommen war die in den ersten Teilen vorgestellte banale Übung dieses Aufsatzes also überflüssig. Rubber Johnny ist vom Surrealismus beeinflusst. Der Surrealismus hat das Musikvideo insgesamt inspiriert – in der reduzierten Narrativität und dem unmäßigen Bildergenerator Videoclip findet der Surrealismus vielleicht noch eher ein Zuhause als im Film. Wussten oder ahnten wir das zumindest nicht schon vorher? Kehren wir kurz zurück zu Rubber Johnny. Das käuflich zu erwerbende Video von Rubber Johnny muss ich natürlich nicht mehr kaufen, sondern ich kann den Upload, mit technischem Geschick und unter skrupelloser Missachtung des Copyright auch den Download, in YouTube nutzen. In YouTube, gegründet im November 2005 in Silicon Valley von Chad Hurley und Steve Chen, ist neben fast allen Clips von Chris Cunningham zudem auch L’Âge d’or und eine ganze Reihe von re-enactments und Parodien auf Rubber Johnny zu besichtigen. In seiner Bilder- und Reizsucht hat das digitale Universum die mühsam errichteten Kanones immer wieder neu definiert, Grenzen weiter und weiter gezogen
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– in YouTube ist es derzeit die nur sehr schwache Grenze einer Versicherung, älter als 18 Jahre zu sein. Martin Seel definiert Inszenierung als auffällig vorüberziehende Gegenwart oder, genauer, als „die öffentliche Herstellung eines vorübergehenden räumlichen Arrangements von Ereignissen, die in ihrer besonderen Gegenwärtigkeit auffällig werden“30. In YouTube und den anderen Plattformen, in denen wir inzwischen diverses Bildmaterial anschauen und unsere selbst gebastelten Clips einstellen können, werden die ungehemmten absichtsvollen und vorübergehend auffälligen Erscheinungen des Alltags wie der Kunst einträchtig vereint gegenwärtig. In YouTube erscheint alles, aber alles verschwindet auch sofort wieder im Nichtgesehenwerden: „folly seeing all this“ – oder „folly given all this – seeing“, wie der durch Augenleiden sensibilisierte Samuel Beckett in Comment dire/What is the word schon lange vor YouTube wusste.31 Und so ähnlich formulieren es auch Nine Inch Nails in ihrer Version des von Buñuel aufgeschlitzten Auges: Don’t open your eyes you won’t like what you see The devils of truth steal the souls of the free Don’t open your eyes take it from me I have found You can find Happiness in slavery32 Offensichtlich ist hier die Anlehnung an das zentrale Motiv des Chien andalou, in den Worten von Uwe Schneede: Durch einen Schock wird die Wahrnehmung eingestellt auf Ungewohntes und Grausames. Das Motiv trifft den Nerv, die Art des Sehens wird zum Thema. Das äußere Sehen ist ausgeschaltet, es wird Tabula rasa gemacht mit den alltäglichen Sehgewohnheiten, um einer anderen, der inneren Sicht den Weg zu bereiten.33 Doch was tun, wenn diese anderen inneren Sehgewohnheiten im Clip schon längst alltäglich geworden sind? Natürlich können wir in Rubber Johnny die von
30 Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen“, S. 55. 31 Diese Argumentation führe ich ausführlicher aus in: Voigts-Virchow: „‚Am I as much as … being seen.‘ Beckett-Inszenierungen“. 32 Trent Reznor und Nine Inch Nails, Happiness is Slavery, zit. in: http://www.ninwiki. com/Happiness_In_Slavery_(song). 33 Schneede: Die Kunst des Surrealismus, S. 198.
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Artaud angestrebte „völlige Zersetzung des Realen durch die Poesie“34 erkennen, zumal einer grotesken, abjekten Poesie des Ekels, den, wie Wilfried Menninghaus’ Studie nachgewiesen hat, die verschiedenen modernistischen Avantgarden als reizvoll entdeckten. Die Erfahrung primitiver Gewalt am Körper als Garant des Authentischen ist in den millennialen Diskursen allerorten etabliert – kein Clip kann diese Erfahrung kommunizieren. Unter diesen Bedingungen der grenzenlosen Sichtbarkeit ist es schwer, die surrealistische Geste einer alternativen Kunst aufrecht zu erhalten, die ja mit dem Versprechen antritt, die Versöhnung von Traum und Realität skandalös – also als produktives Ärgernis – sichtbar zu machen. Zumindest die westlichen Ikonen des surrealistischen Bildersturms – vor allem die katholische Kirche und die repressive Bourgeoisie – sind weitgehend zerstört, quasi-religiös ersetzt von immer wieder neuen Medieninszenierungen von Stars und Celebrities, die mit ihren verselbständigten Images jonglieren und dieses oder jenes Produkt durch ihr celebrity endorsement in der öffentlichen Sphäre sichtbar halten. Alle sehen sich machtlos der Bildermaschinerie der User ausgesetzt, die nicht zuletzt mit dem Musikvideo und MTV in den 1980er Jahren einsetzte und in der digitalen Proliferation weithin unkontrollierbar und grenzenlos geworden ist. Wenn ich auf die eingangs zitierte Passage von Schneede zurückkomme: Dem Surrealismus sind zum einen in der digitalen Welt die überprüfbaren Realitätsbezüge abhanden gekommen und zum anderen in der habitualisierten Schaulust der Bilderflut die Möglichkeit des irreführenden und bestürzenden Schocks. Insofern ist spätestens in den netzbasierten Bildermaschinen das surrealistische Projekt gescheitert, weil allerorten die Ausstellung des Ausgestoßenen und Tabuisierten domestiziert wird. In YouTube wird das Unheimliche heimlich heimisch.
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Gregor Schuhen
Madonna und Salvador am Kreuze vereint Ein Versuch über Surrealismus & Pop Für Volker Roloff
1. Ein Bild trotzte im Sommer des Jahres 2006 der durch die Fußballweltmeisterschaft ausgelösten Bilderflut. Ein Bild, das für ein paar Wochen von sämtlichen Zeitungen und Boulevardblättern wirkungsvoll ausgestellt wurde. Es handelt sich um die Popsängerin Madonna, die sich anlässlich ihrer ConfessionsTour ans Kreuz hängen ließ (vgl. Abb. 1) und somit jenseits der allgegenwärtigen Fußball-Euphorie für lebhafte Diskussionen sorgte.
Abbildung 1: Madonna: Confessions Tour, 2006, Screenshot
Ein Skandal war geboren, ein wohl kalkulierter freilich, der fortan nahezu jede Station der Welttournee begleiten sollte. In Moskau wurden Rufe laut nach einem Auftrittsverbot, Italien folgte auf dem Fuße, selbst in Deutschland mussten Juristen auf Geheiß katholischer und evangelischer Bischöfe den umstrittenen Auftritt auf seinen vermeintlich blasphemischen Gehalt prüfen. Doch wie schon unzählige Male zuvor in ihrer Karriere ging Madonna als Siegerin aus dieser Kontroverse hervor, berief sich immer wieder auf ihre künstlerische Freiheit, und so darf sich ihre Tournee seit einiger Zeit mit einem Ein-
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Gregor Schuhen | Madonna und Salvador am Kreuze vereint
trag im Guiness-Buch der Weltrekorde schmücken als erfolgreichste Tournee, die eine Solokünstlerin jemals veranstaltet hat: Jeder einzelne Auftritt brachte durchschnittlich zwei Millionen US-Dollar ein. So viel zum kommerziellen Aspekt des Auftritts. Die inzwischen 25-jährige Karriere der Popsängerin ist nicht zuletzt eine Aneinanderreihung solcher wohl kalkulierter Skandale, die im Wesentlichen aus zwei Bereichen entstammen: dem der Sexualität und – wie im vorliegenden Fall – dem der Religion –, den beiden menschlichen Bereichen, in denen laut Foucault in unserer Zeit überhaupt noch Tabuüberschreitungen möglich sind.1 Daraus ergibt sich für Madonna eine dichotomische Imagedopplung, die immer wieder leitmotivisch im Diskurs über die Künstlerin bemüht wird und die fast so alt ist wie die Etymologie ihres Namens, nämlich Heilige und Hure. Dieser paradigmatischste aller Weiblichkeitstopoi haftet seit jeher am Phänomen Madonna genauso wie die inzwischen sprichwörtlich gewordene Wandelbarkeit der Künstlerin. Unzählige Kruzifixe, Rosenkränze und andere Heiligensymbole schmücken zu Beginn ihrer Karriere den leicht bekleideten Körper Madonnas; sexuelle Wollust und christlich geforderte Jungfräulichkeit stellen die zentralen Inhalte ihrer Lieder dar (vgl. Abb. 2-3).
Abbildungen 2-3: Madonna: The First Album, 1983; Madonna: Like a Virgin, 1984
Im Folgenden soll nun, entsprechend des eingangs präsentierten Bildbeispiels, der Fokus auf die religiösen Aspekte und Tabubrüche gesetzt werden, die über die Jahre hinweg zum wichtigen Bestandteil innerhalb Madonnas Selbstinszenierungen geworden sind, bevor daran anschließend eine genauere Analyse der Kreuzigungsszene gewagt wird. Man muss vorab noch erwähnen, dass die serienmäßigen Provokationen, die den Karriereweg der Sängerin pflastern, aus-
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Vgl. Foucault: „Vorrede zur Überschreitung“, S. 28-46.
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schließlich durch Bilder ausgelöst werden, weniger durch sprachliche Äußerungen in Interviews oder Liedern. Das unterstreicht Madonnas Status als ikonischster aller Popstars. Häufig tauchen diese ikonischen Skandalons in Videoclips, Fotografien oder Auftritten auf und dienen als zitatförmige Selbstinszenierungen auf der Basis wohl bekannter Ikonen und Szenen aus dem kollektiven Fundus des kulturellen Bildrepertoires. Dazu mehr an späterer Stelle. Kommen wir nun zur „religiösen“ Madonna: Im Jahr 1989 schließt die Sängerin mit dem amerikanischen Erfrischungsgetränkehersteller Pepsi einen mit mehreren Millionen US-Dollar dotierten Werbevertrag ab. Inhalt des dazugehörigen Werbeclips ist Madonna inmitten von Jugendlichen, denen sie nahe legt, ihre Träume zu leben. Unterlegt wird das Ganze durch ihren neuen Song „Like A Prayer.“2 Der Clip läuft jedoch nur ein einziges Mal über die US-amerikanischen Bildschirme, der Vertrag wird sofort wieder durch den Konzern aufgelöst. Grund dafür war der zeitgleich auf dem Musikkanal MTV ausgestrahlte Originalvideoclip zum Song „Like A Prayer“. In diesem Minispielfilm flüchtet Madonna vor einer Bande Rechtsradikaler in eine kleine Kapelle, in der sich eine dunkelhäutige Heiligenfigur befindet. Diese überschüttet sie mit glühenden Küssen, wodurch die Figur in bester Pygmalion-Manier zum Leben erweckt wird (vgl. Abb. 4-5).
Abbildungen 4-5: Madonna: Like a Prayer, 1989, Screenshots
Ein angedeuteter Liebesakt zwischen Sängerin und Heiligem schließt sich an, plötzlich findet sie ein Messer, das ihren Händen sogleich Wunden zufügt, die in ihrer Ausprägung sehr stark an die Stigmata Christi erinnern (vgl. Abb. 6-7).
2
Dieser Werbeclip wurde im Jahr 2003 auf der Düsseldorfer Ausstellung „Video – 25 Jahre Videoästhetik“ gezeigt und von den Kuratoren der Ausstellung somit immerhin zu den 100 bedeutendsten Videoclips der Geschichte gezählt. Madonna war des Weiteren mit dem Clip zum Song Frozen (1997, Regie: Chris Cunningham) vertreten.
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Abbildungen 6-7: Madonna: Like a Prayer, 1989, Screenshots
In der nächsten Szene dann tanzt Madonna außerhalb der Kirche vor brennenden Kreuzen, eine Szene, welche die anti-rassistische mit der christologischen Ebene des Clips vereinigt. Am Ende erweist sich alles nur als ein Theaterstück im Video, die Kirche wird als Bühnenraum enttarnt, die Schauspieler verneigen sich, ein roter Vorhang fällt. Heute gilt dieser Clip als Klassiker innerhalb der Musikvideogeschichte, die bekanntlich kaum älter ist als die Karriere Madonnas. Madonna war tatsächlich eine der ersten Popinterpretinnen, die das junge Medium Video von Anfang an auf besonders erfolgreiche Weise nutzte, ja möglicherweise – so scheint es zumindest – durch dieses hervorgebracht wurde. Der oberflächenzentrierte Glanz der schnell geschnittenen Minifilme sowie die ornamentalen, schnelllebigen Selbstentwürfe der Sängerin durchdringen sich stets gegenseitig und kreieren dabei ein äußerst massenwirksames Phänomen. Bereits in den späten 1970er Jahren prophezeit niemand anderes als David Bowie dem Medium Musikvideo einen glorreichen Siegeszug: Das Musikvideo ist die logische Erfüllung in der Zusammenführung von Kunst und Technologie. Ich verstehe es als eine künstlerische Bereicherung. Ich sehe den Tag kommen, da an der Schnittstelle von Musik und Video ein völlig neuer Künstlertyp entsteht.3 Mit Madonna scheint genau dieser „völlig neue Künstlertyp“ geboren. Um nun auf den Clip zu „Like A Prayer“ zurückzukommen, so waren die Reaktionen durchaus mit denen vergleichbar, die 2006 durch die Kreuzigungsszene ausgelöst wurden: Pepsi löste mit sofortiger Wirkung den Werbevertrag mit Madonna auf, MTV entschied sich für ein einstweiliges Ausstrahlungsverbot des Clips, der Papst drohte diesseits des Atlantiks gar mit der Exkommunikation der Sängerin – die Verkäufe der Single jedoch brachten Rekordsummen ein. Als Dank für die verkaufsfördernde Kampagne seitens 3
Bowie zit. in: Poschardt: „Das Video als Laboratorium“, S. 9-32, hier: S. 27.
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des Vatikans widmet Madonna im darauffolgenden Jahr ihr erstes Best-OfAlbum mit dem vielsagenden Titel The Immaculate Collection, also die unbefleckte Sammlung, niemand anderem als dem Papst. Zwischen dem skandalösen Musikvideo, in dem sich Madonna als übermenschlicher Pygmalion, als Messias sowie als Predigerin gegen Rassendiskriminierung in Personalunion inszeniert, und dem Aufsehen erregenden Auftritt im Rahmen der Confessions-Tour sind keine nennenswerten Tabubrüche mehr zu verzeichnen, die sich vermeintlich blasphemischer bzw. profanatorischer Strategien bedienen. In der Zwischenzeit liefert die Sängerin vielmehr Skandale am Fließband, die auf eine entgrenzte und selbstbestimmte Sexualität der Frau abzielen. Damit ist sie den konservativen Vertretern jugendschützender Instanzen ein Dorn im Auge, während sie von modernen Frauenrechtlerinnen als Ikone eines neuen aggressiven Feminismus gefeiert wird. Als im Sommer 2006 so kontrovers über den umstrittenen Auftritt Madonnas diskutiert wurde, geschah dies in erster Linie auf der Basis des eingangs präsentierten Bildes. Es interessierte dabei kaum, dass eben dieses Bild lediglich eine fotografische Momentaufnahme aus einem ca. fünfminütigen Auftritt darstellt. Man erhielt den Eindruck, es handele sich eher um ein performativ eingesetztes wirkmächtiges Bildzitat als um eine künstlerische Performance mit durchaus gesellschaftspolitischem Inhalt. Dies verwundert insofern, als wir doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer zunehmend säkularisierten Welt leben, wie es immer wieder allerorts proklamiert wird und worauf Michel Foucault bereits 1963 in seiner „Vorrede zur Überschreitung“ aufmerksam machte: „In einer Welt, die dem Sakralen keinen positiven Sinn mehr zuerkennt, kann Profanierung nur etwas sein, was man als Überschreitung bezeichnen könnte.“4 Profanation also in einer Welt, in der es nichts mehr zu profanieren gibt, erschöpft sich Foucault zufolge in einer „leeren Form“.5 Aber ganz offensichtlich, so zeigt der Madonna-Skandal, bietet jedwede Re-Inszenierung christlicher Motive sowie öffentliche Bezugnahmen auf christologische Ikonographie immer noch ausreichend Zündstoff, um darüber lautstark zu debattieren – weitere Beispiele wären die Debatte über die angestrebte Verbannung von Kruzifixen aus deutschen, insbesondere bayrischen Klassenzimmern oder gar die kontroverse Diskussion um die Splatter-Version der Passion Christi von Mel Gibson vor drei Jahren. Die Antwort auf die Frage, ob es sich bei all diesen öffentlichen Auseinandersetzungen möglicherweise um Symptome eines auflodernden Neo-Konservatismus handelt, möchte ich mir an dieser Stelle versagen, da es nicht zum eigentlichen Gegenstandsbereich
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Foucault: „Vorrede zur Überschreitung“, S. 29.
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Ebd.
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meines Interesses gehört. Hans Belting weist seinerseits darauf hin, dass sich der mitnichten abgeschlossene Prozess der Säkularisierung sowie die Wirkmächtigkeit religiöser Bilder keineswegs ausschließen. Er schreibt in seiner Studie über Das echte Bild: Auch wenn wir über ihre Geschichte nur noch sehr wenig wissen, ist die christliche Religion selbst nach der Säkularisation noch in der westlichen Mentalität präsent. […] Im Falle der Bilder stehen wir auch nach der großen Wende, die mit der Säkularisierung begann, immer noch im Banne von Bildbegriffen, Bildwünschen und Bildängsten, die in der Religion geboren wurden.6 Als Beleg dafür mag die Omnipräsenz christlicher Ikonographie in unserer postmodernen Gesellschaft herangezogen werden, die sich jedoch häufig in der Reduktion auf das rein Ornamentale erschöpft. Ein prominentes Beispiel für den überbordenden Camp-Charakter christlicher Ikonographie wäre der Film Romeo + Juliet von Baz Luhrmann aus dem Jahr 1997. Um einen ungefähren Eindruck von Madonnas komplettem Auftritt zu vermitteln, soll nun eine kurze Synopse erstellt werden: Nach einem Soloauftritt der Tänzer verdunkelt sich die Bühne kurz, und es beginnt ein Kirchenorgel-Intro, das für eine sakral anmutende Akustik sorgt. Langsam richtet sich aus dem Boden ein ca. drei Meter großes Kreuz aus Spiegelglas auf, auf dem Madonna zunächst liegt, dann hängt (vgl. Abb. 13). Über dem Kreuz fängt ein Timer per Videoinstallation bei null an zu zählen. Die Musikspur wechselt auf den Song „Live to Tell“ aus dem Jahr 1986, in dem es thematisch um Bekenntnisse, Geheimnisse, Lügen und Weisheiten geht. Madonna bleibt am Kreuz und singt ihr frühes Lied mit einer Dornenkrone auf dem Kopf. Aus dem Hintergrund der Bühne wird ein Sonnenaufgang angedeutet, in dessen Zentrum das Kreuz steht. Während einer kurzen akustischen Pause innerhalb des Songs verdunkelt sich die Bühne erneut, der Zähler bleibt bei 12.000.000 stehen. Madonna steigt vom Kreuz ab und singt schließlich weiter. Das Finale des Songs wird begleitet durch Videoinstallationen, die abwechselnd Explosionen sowie Gesichter leidender dunkelhäutiger Kinder zeigen. Am Ende legt sich Madonna mit dem Gesicht nach unten auf die Bühne, streckt ihre Arme aus, so dass ihr Körper die Form des Kreuzes einnimmt. Auf den Leinwänden erscheint der Schriftzug „In Africa 12.000.000 children are orphaned by AIDS“, dann einige Bibelzitate und abschließend die
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Belting: Das echte Bild, S. 7, 10.
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Internetadressen der Clinton Foundation und des afrikanischen Landes Malawi, für das sich die Künstlerin seit einiger Zeit sozial engagiert.7 Man mag nun von diesem Auftritt halten, was man mag; feststeht, dass es sich um eine Inszenierung handelt, die beim Betrachter Emotionen freisetzt. Dass Empörung zu diesen Gefühlen gehört, ist vor allem dann erst nachvollziehbar, wenn man sich den kompletten Auftritt anschaut und nicht nur das Kreuzigungsbild allein. Und dies insbesondere dann, wenn man daran anknüpfend einen kurzen Exkurs in die Bibel unternimmt, namentlich ins Matthäus-Evangelium. Dort nämlich wird erzählt, wie Vorübergehende dem gekreuzigten Gottessohn eine Schmährede entgegenschleudern mit den Worten: „Wenn du Gottes Sohn bist, so steige herab vom Kreuze.“ Und genau das tut Madonna: Sie steigt herab. Im Klartext bedeutet das, dass Madonna genau den Akt performiert, der selbst dem Gottessohn versagt geblieben ist und somit ihre Selbstapotheose auf die Spitze treibt, was den eigentlichen blasphemischen Gehalt dieser Inszenierung darstellt. Das wird allerdings nirgendwo so kommentiert. Alle Schmähreden auf die Sängerin beziehen sich einzig auf den Akt der Kreuzigung und dessen performative Visualisierung. Eines der wenigen öffentlichen Organe, das sich mit dem kompletten Auftritt auseinandersetzte und nicht nur mit dem Kreuzigungsbild als solchem, war die FAZ, die vor allem dank Redakteur und Schriftsteller Dietmar Dath seit einigen Jahren so etwas wie das inoffizielle Fan-Magazin der Sängerin darstellt – Madonna wird von Dath huldvoll „die Chefin“ genannt.8 Zusammen mit seinem Kollegen Andreas Platthaus verfasste Dath folgenden Kommentar: Genau in dem Moment, an dem das neonerleuchtete Marterinstrument aufgerichtet wird, auf dem die Künstlerin in kühl kalkulierter Perversion die Überlieferung travestiert und also selbst mit Dornenkrone gekreuzigt liegt, – in diesem tatsächlich als Blasphemie verdammten und die Landesbischöfin von Hamburg zum Boykottaufruf inspirierenden Moment also wird das nachtschwarze Stadion von einer Lichtermenge erhellt, die das Publikum des nikotinfeindlichen 21. Jahrhunderts zu Wiedergängern des 20. macht, als das Feuerzeug noch dazu da war, mitten im Stadion Innerlichkeit zu demonstrieren. Es sind Abertausende von Foto-Handys, die hier schimmern. Denn dieses ikonische Bild will konserviert sein: als das letzte Tabu, das noch behauptet werden soll. […] Alle von erregungswilliger Seite 7
Zu sehen ist der Auftritt auf der zur Tour gehörenden DVD (Madonna: The Confessions Tour, USA: Warner 2007) oder auf den einschlägigen Internet Seiten (z.B. youtube).
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Dath: „Sie malt die Nacht mit Licht an. Die Chefin tanzt wieder“.
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schon auf dem italienischen Abschnitt der Tournee für lästerlich gehaltenen Versatzstücke mystischen Ergriffenseins und gläubiger Outriertheit haben einen präzisen musik- und showdramaturgischen Sinn: Umrahmt von einem alten Stück über Geständnisse und Bekenntnisse („Live to Tell“) sowie Videoeinspielungen über Straßengewalt, Kindesmisshandlungen und das sonstige Elend auf Erden sind sie im Grunde genau die Brücke zwischen Musik- und Religionsunterricht, von der deutsche Lehrer bis heute vergeblich träumen.9 Es gab dessen ungeachtet vor allem negative Reaktionen auf den polarisierenden Auftritt, so ließ sich z.B. Hannelore Schlaffer in DIE ZEIT dazu hinreißen, Madonnas Konzert als eine Art überteuerte Gymnastikstunde abzuurteilen, welche die Qualität früherer Werke nicht einzuholen vermag.10 Gemein ist sämtlichen Reaktionen, dass das Kreuz jedes Mal vorkommt, zuweilen gar in der Betrachtung das ganze Konzert, das immerhin zwei Stunden spektakuläre Show bietet, völlig absorbiert. Dath und Platthaus bezeichnen in ihrer Laudatio dieses Bild als „ikonisch“, was nicht weiter verwundert, wenn man in Handbüchern zur christlichen Ikonographie feststellen kann, dass Kreuz und Kreuzigung stets den breitesten Raum einnehmen. Das Kreuz ist unbestritten das ikonischste aller Symbole, und das nicht nur innerhalb der christlichen Symbolik. Es besiegelt zunächst die Schnittstelle, welche die menschliche mit der göttlichen Sphäre verbindet. Erste christlich motivierte Kreuzdarstellungen datieren aus dem frühen Mittelalter – bis dahin war das Bilderverbot des Gekreuzigten wirksam, das deutlich vorschrieb, dass nur der lebendige Christus das einzige zulässige Bild Gottes repräsentieren dürfe.11 Somit ließe sich vorläufig festhalten, dass das ikonischste aller Bilder ursprünglich aus einem Tabu hervorging. Im Verlauf der Kunstgeschichte durchlief die Darstellung des gekreuzigten Gottessohns verschiedene Modi der Indexikalisierung. Von der spätmittelalterlichen Darstellung des gepeinigten „Schmerzensmannes“12, in der deutlich der Opfergestus im Vordergrund steht, über die Bilder eines immer jungen und schönen Christus, wie ihn die Vertreter der Renaissance darstellten, um die Triumphalsymbolik der crux invicta zu illustrieren, d.h. den Sieg des Gottessohnes über den Tod, bis hin zu den dramatisch und dramaturgisch aufgeladenen Kreuzigungsszenarios in der Barockkunst.13 Die wesentlichen Implikationen, die sich 9
Dath/Platthaus: „Drei Tage war Deutschland eine Disco“, S. 33.
10 Schlaffer: „Viel Arbeit, kein Fest“. 11 Vgl. dazu u.a. Poeschel: Handbuch der Ikonographie. 12 Vgl. van der Meer: Christus, S. 63ff. 13 Vgl. Schiller: Ikonographie in der christlichen Kunst, S. 98ff.
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demzufolge an die je unterschiedlichen Darstellungen des Kreuzigungsmotivs anknüpfen, sind – neben der Verbildlichung Gottes durch dessen Sohn – Opfer, Unsterblichkeit, Tilgung der Ursünde und Erlösung der Menschheit. Diese Insignien sind keineswegs aus dem kultur-, religions- und kunstgeschichtlichen Gedächtnis verschwunden, sondern sind dem Bild des gekreuzigten Gottessohnes bis heute inhärent. Genau in dieser religiösen Verwurzelung der abendländischen Bildkultur, die trotz säkularisierender Tendenzen immer noch Bestand hat, liegt der Eklat begründet, den Madonna durch ihre spektakuläre Selbstapotheose auslöste.
2. Damit wird es nun höchste Zeit, auf den Surrealismus zu sprechen zu kommen, eine kunstgeschichtliche Strömung, die bekanntlich gleichermaßen mit Strategien der Profanierung und Farcierung antiker sowie christlicher Mythologie und Ikonographie arbeitet.14 Ein prägnantes Beispiel dafür ist das folgende Bild (vgl. Abb. 8) von Max Ernst.
Abbildung 8: Max Ernst: Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen, 1926
14 Vgl. Roloff: „Mythos und Farce“.
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Hier soll es jedoch weniger um den deutschen Vertreter des Surrealismus gehen als um dessen katalanischen Kollegen Salvador Dalí, den selbsternannten Erretter der modernen Kunst. Meine These nämlich lautet, dass sich Madonna, die postmoderne Meisterin des Zitats, für ihre skandalöse Inszenierung maßgeblich bei den mystischen Bildwerken des katalanischen Surrealisten aus den 1950er Jahren inspiriert hat. Hier einige Gegenüberstellungen, die dazu dienen sollen, diese These zu verbildlichen:
Abbildungen 9-11: Salvador Dalí: Corpus Hypercubus, 1954; Madonna: Confessions Tour, 2006, Screenshot; Salvador Dalí: La Croix de l’Ange, 1954
Abbildungen 12-13: Salvador Dalí: Christ de Saint-Jean-de-la-Croix, 1951; Madonna: Confessions Tour, 2006, Screenshot
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Abbildungen 14-15: Salvador Dalí: La Découverte d’Amérique, 1958/59 (Detail); Madonna: Confessions Tour, 2006, Screenshot
Dass Madonna mit Werken der Avantgarden, insbesondere des Surrealismus, sehr gut vertraut ist und diese schon zu einem früheren Zeitpunkt in einem Videoclip prominent in Szene setzt, wurde bereits mehrfach in der MadonnaForschung hervorgehoben.15 Dies belegen Impressionen aus dem Clip Bedtime Story aus dem Jahr 1995, in dem Madonna u.a. Bildwerke der Surrealisten Man Ray, Remedios Varo und Leonor Fini verarbeitet (vgl. Abb. 16-18).
Abbildungen 16-18: Madonna: Bedtime Story, 1995, Screenshots
Auch ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass die Sängerin einige Bilder avantgardistischer Prägung ihr eigen nennen darf, u.a. von Frida Kahlo und Tamara di Lempicka. Rose-Maria Gropp vom FAZ-Kunstmarkt hebt gar hervor, dass der vor einigen Jahren aufgeflammte Kahlo-Boom seinerzeit auf die Tatsache zurückging, dass Madonna medienwirksam ein Bild der mexikanischen Künstlerin erworben hatte. Was nun Salvador Dalí angeht, so ist nicht bekannt, ob Madonna bislang eines seiner Werke in ihre zitathaften Selbstinszenierungen eingebaut hat – bis zum berüchtigten Auftritt im Rahmen der Confessions Tour 2006. 15 Vgl. Schuhen: „Hybride Pop-Welten“, S. 123-152; Weiß: Madonna revidiert, S. 73ff.
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Die Bilder, die meiner Meinung nach Madonnas Performance als künstlerische Inspirationsquelle dienen, entstammen allesamt aus Dalís nuklear-mystischer Periode, die zeitlich recht präzise die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts umfasst. Auslöser für Dalís neu entdeckten Mystizismus war ein durchaus weltliches Ereignis, nämlich die Explosion der ersten Atombombe im Jahr 1945. Ob es sich hierbei um das handelt, was Walter Benjamin in seinem berühmten „Sürrealismus“-Aufsatz als „profane Erleuchtung“ beschreibt, ist zu bezweifeln.16 Um jedenfalls seiner neuen Ästhetik adäquat Gehör zu verschaffen, schreibt Dalí im Jahr 1951 sein Mystisches Manifest, ein über weite Strecken hinweg nahezu unlesbarer Text, in dem er performativ die „Wandlung vom Dalí der Psychoanalyse zum Dalí der Kernphysik“17 vollzieht bzw. die endgültige Abwendung vom Surrealismus zum Mystizismus. Auch wenn Dalí in diesem merkwürdigen Schriftstück die heilige Theresa von Avila anruft, so darf man das Manifest keineswegs als Glaubensbekenntnis im herkömmlichen Sinne verstehen. Zwar drückt der Text eine tiefe Form von Gläubigkeit aus, jedoch richtet sich diese weniger an Gott, sondern an den Verfasser selbst, wie folgender Auszug besonders eindringlich demonstriert: Katalonien hat drei überragende Genies hervorgebracht: Raymond de Sebonde, den Verfasser der Natürlichen Theologie; Gaudí, den Schöpfer der mediterranen Gotik; und Salvador Dalí, den Erfinder der kritisch-paranoischen Mystik und den Erlöser (wie schon sein Name andeutet) der modernen Malerei.18 Mystik muss als religiöse Bestrebung charakterisiert werden, bereits im Diesseits mit einer göttlichen Instanz vereinigt zu werden. Höchstes Ziel dabei ist die unio mystica, die Vereinigung der Seele mit Gott. Daraus geht deutlich hervor, dass Mystik und Egomanie sich einander ausschließen, weshalb von einer genuin religiösen Bestimmung in Dalís Manifest Abstand zu nehmen ist. Interessant ist vielmehr die Synthese von Kunst und Naturwissenschaft, die Dalí in seinem ästhetischen Programm anstrebt und das durchaus mit spirituellen Einflüssen. Nicht umsonst bezeichnet er seine Form der Mystik als nuklear, d.h. das Göttliche könnte seiner Meinung nach eine Substanz darstellen, die man mit den Methoden der modernen Kernphysik sucht. Derart besessen vom Absoluten sollte Dalí in den klassischen Ikonographien des Christentums die Möglichkeit finden, einen anderen Kunstbereich zu ergründen: den des Sakralen. Die künstlerischen Umsetzungen dieses neuen Programms, das ihn end16 Benjamin: „Der Sürrealismus“, S. 297f. 17 Descharnes/Néret: Salvador Dalí (1904-1989), S. 157. 18 Dalí: „Mystisches Manifest“, zit. in: ebd.
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gültig mit seinen einstmaligen Weggefährten entzweite, sind u.a. die weiter oben präsentierten Bilder. Darstellerisch orientieren sie sich an den Werken der Renaissance, wie er implizit ausführt: Ich möchte, dass mein nächster Christus ein Bild wird, das mehr Schönheit und Freude enthält als alles, was bis zum heutigen Tag gemalt worden ist. […] Ursprünglich war ich Atheist, ein frevelhafter Mystiker. In Spanien geht jeder bis zum Extrem – zum einen oder anderen.19 Zu den piktoralen Vorbildern gehören, wie Isabel Maurer Queipo darlegt, „unter anderem die spirituell-mystischen Werke Francisco de Zurbaráns [sowie] die biblischen Werke Diego Velázquez’“20. Dass vor allem Zurbarán zu den großen Vorbildern während seiner mystisch-nuklearen Phase gehört, äußert Dalí nach der Relektüre seiner eigenen 50 magischen Geheimnisse: „Während ich sie las, habe ich wirklich gelernt, fast ebenso gut zu malen wie Zurbarán.“21 Hier ein Bildbeispiel des spanischen Barockmalers, das Dalí bei der Komposition seines hyperkubischen Christus inspiriert haben dürfte (vgl. Abb. 19):
Abbildung 19: Francisco de Zurbarán: Hl. Lukas als Maler vor dem Kreuz , 1635-4022
19 Zit. in: Cowles: Salvador Dalí., o.S. 20 Maurer Queipo: „Délire – Désir: Mystik, Hysterie und Paranoia bei Salvador Dalí“, S. 129. 21 Ebd., S. 158. 22 Interessant erscheint neben der ähnlichen thematischen Ausrichtung der beiden Gemälde sowie der gemeinsamen kompositorischen Gestaltung, dass sowohl
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Aber auch die geometrischen Formen des exzentrischen Mathematikers Charles Howard Hinton standen bei der Konzeption des hyperkubischen Kreuzes Pate (vgl. Abb. 20):
Abbildung 20: Charles Howard Hinton: The Fourth Dimension, 1912
Hinton versuchte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die so genannte vierte Dimension, d.h. das Transzendentale, auf mathematische Weise zu visualisieren. Der von ihm angefertigte vierdimensionale Hyperkubus wurde für die Mathematiker seiner Zeit zum beliebten mystischen Symbol des transzendentalen Raumes und schließlich zum korpuskularen Motiv der dalíschen Kreuzigungsszene.23
3. Wie der Theologe Andreas Mertin herausgefunden hat, zeigt „ein Blick auf die Rezeption Dalís durch die Theologie […], dass Dalí gar nicht oder allenfalls in einem pejorativen Sinne vorkommt.“24 Das mag vor allem an Dalís religiösem Selbstverständnis liegen, an seinem Hang zur apotheotischen Selbstinszenierung. Hier treffen sich erstmals Dalís egomanisch fundierte Vorstellungen von Religion mit denen von Madonna, denn „wenn etwas im Gedächtnis der Menschen mit dem Namen Salvador Dalí verbunden ist, dann ist es neben dem
Zurbarán als auch Dalí ihre Kreuzesdarstellungen figural signiert haben: Zurbarán verleiht dem heiligen Lukas seine eigenen Gesichtszüge, während Dalí bekanntlich der trauernden Maria den Kopf von Gala aufsetzt, die er bekanntlich zeitlebens als sein Alter Ego bezeichnete. 23 Vgl. zur Beziehung Dalí-Hinton: Kemp: „Dalí’s Dimensions“, S. 27. 24 Mertin: „Centre du monde“, S. 74.
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Gestus des Magischen und des Surrealen, neben den zerfließenden Uhren vor allem sein Hang zur Selbstdarstellung.“25 Dieser Befund ließe sich in gleichem Maße für die amerikanische Sängerin geltend machen, vor allem, was das mitunter größenwahnsinnige Ausmaß dieser Inszenierungen angeht, die stets nach Superlativen streben, nach dem Absoluten, dem Alles oder Nichts. Auf dieser personalen Ebene der Selbstinszenierung, die bei beiden Egomanen eng mit dem jeweiligen künstlerischen Konzept verbunden ist, sind die Parallelen besonders frappierend. Bei dieser Beobachtung möchte ich einen Augenblick verweilen, weil sie für die abschließenden Überlegungen im Hinblick auf eine ästhetisch-diskursive Engführung von Surrealismus und Pop nicht unwichtig ist. Zunächst ist es wohl so, dass sowohl Dalí als auch Madonna einem künstlerischen Milieu entstammen, das sehr stark von ästhetischen Auf- und Umbrüchen geprägt war. Das Paris des beginnenden 20. Jahrhunderts ist zweifellos mit dem New York der späten siebziger und frühen achtziger Jahre vergleichbar. Das künstlerische Umfeld des spanischen Künstlers muss nicht näher dargestellt werden, da die Aufarbeitung der historischen Avantgarden, insbesondere des Surrealismus, bereits hinreichend erfolgt ist.26 Künstlerisch erscheint der junge Salvador Dalí zunächst wie ein Schwamm, der alles aufsaugt und sich aneignet, was neu, aktuell, aufsehenerregend und revolutionär erscheint. Dalí in seinen Anfängen ist ein ästhetischer Szene-Scout sondergleichen.27 Auch Madonna bewegt sich kurz nach ihrem Umzug nach New York zielsicher in Kreisen, die aus künstlerischer Sicht besonders aufregend sind: Im Dunstkreis von Andy Warhol schließt sie eine Liaison mit dessen Protegé, dem Graffiti-Künstler Jean-Michel Basquiat, dessen Bilder inzwischen auf Auktionen Höchstpreise erzielen. Diese neoavantgardistischen Einflüsse, die sie gierig aufnimmt, und ihr damit verbundenes Gespür für Neues müssen u.a. als Fundament ihrer erfolgreichen und überraschend langlebigen Karriere verstanden werden. Ihre eigenen künstlerischen Gehversuche unternimmt sie in verschiedenen Punkbands, aber sie will von Anfang an eigentlich immer nur eins: Er25 Ebd., S. 76. 26 Vgl. u.a. Nadeau: Geschichte des Surrealismus; Spies (Hrsg.): Surrealismus 19191944; vgl. auch die zahlreichen Publikationen des DFG-Projekts Intermedialität im europäischen Surrealismus Teilprojekt des Siegener Forschungskollegs Medienumbrüche unter der Leitung von Volker Roloff, die den Surrealismus vom Staub des Musealen befreien und ihn in all seiner Facettenhaftigkeit und ästhetischen Strahlkraft darstellen. 27 Mertin: „Centre du monde“, S. 76.
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folg haben und das möglichst allein und selbstbestimmt. Immer wieder trennt sie sich in regelmäßigen Abständen von ihren Bands, weil die Gruppendynamik an ihrem enormen Ehrgeiz sowie am Ausmaß ihrer schon früh beobachtbaren Egomanie scheitern muss. Auch für Dalí wird das Leben in der surrealistischen Bewegung auf Dauer zum Problem, „[d]enn man kann plausibel den von Dalí gepflegten Surrealismus als ‚künstliche Religion‘ im Konzert der Kunst-Religionen des 20. Jahrhunderts begreifen“28, die jedoch für gleichberechtigte Mitstreiter nur wenig Raum lässt. So haben die Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe, insbesondere zwischen Dalí und Breton, mitunter einen geradezu „konfessorischen Charakter.“29 Damit wären wir wieder bei den religiösen Aspekten, und interessanterweise sieht Andreas Mertin in seiner Studie zu Religion und Mystik bei Dalí genau darin einen entscheidenden Bezug zwischen dem Surrealisten und der Popdiva. Hierbei handelt es sich um den einzigen konkreten Bezugspunkt, den ich bislang in der Forschungsliteratur entdecken konnte: Das Interesse an der Hierarchie, an der glorreichen Inszenierung, am Spektakel verbindet Dalí daher nach eigenem Bekunden mit der katholischen Kirche und dem katholischen Glauben. Dalís Verhältnis zur katholischen Kirche ist in seiner Ambivalenz höchst interessant. Einerseits bemüht er sich unbestritten, bestimmte Bestandteile der Ikonografie des Mittelalters und der frühen Neuzeit auf hohem ästhetischem Niveau zu reformulieren. Auf der anderen Seite steht der gesamte religiöse Rahmen und Kontext, den er bemüht, doch ziemlich einseitig im Interesse des Egomanen Dalí. Von einem echten religiösen Verhältnis kann kaum eine Rede sein. Und auch was die Inszenierungsstrategien betrifft, so konzentriert sich Dalí – vergleichbar mit späteren Popstars wie Madonna – auf die Schauseite der Religion.30 So einseitig dieser Befund auf den ersten Blick erscheinen mag, so prägnant lassen sich anhand dessen die wesentlichen Parameter innerhalb der hier diagnostizierten Wahlverwandtschaft Madonna-Dalí herausdestillieren: Hierarchie, Inszenierung, Spektakel und die Schauseite der Religion. Zweifelsohne transformieren beide Künstler innerhalb ihrer jeweiligen Kunstformen und damit verknüpften Selbstinszenierungen die Schauseite der Religion in ein veritables Spektakel. Guy Debord setzt in seiner Abhandlung zur Société du spectacle die Bilderwelt des Spektakels ins Verhältnis zur Religion, wenn er schreibt:
28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 78.
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Le spectacle est la reconstruction matérielle de l’illusion religieuse. La technique spectaculaire n’a pas dissipé les nuages religieux où les hommes avaient placé leurs propres pouvoirs détachés d’eux: elle les a seulement reliés à une base terrestre.31 Diese Bemerkung bringt uns ein letztes Mal zurück zur Diskussion um die gekreuzigte Madonna, die als selbsternannter Messias auf das Leid dieser Welt aufmerksam macht. Die Frage drängt sich abschließend auf, ob der große Skandal ausgeblieben wäre, wenn das ganze von vornherein als surrealistisch inspiriertes Bildzitat kenntlich gemacht worden wäre. Hier darf nun entsprechend dem Titel dieses Bandes – „Zwischen Kunst und Kommerz“ – der kommerzielle Aspekt nicht außer Acht gelassen werden, da der kalkulierte Skandal, der durch diese Szene ausgelöst wurde und der nicht zuletzt auch im Aufruf zur kollektiven Idolatrie besteht, sich als überaus verkaufsfördernd erwiesen hat. Oder um es auf den Punkt zu bringen: Die Kunst hätte möglicherweise dem Kommerz im Weg gestanden. Zitate sind wir schließlich von Madonna gewohnt, auch Größenwahn wäre nichts wirklich Neues gewesen, aber eine imitatio christi, ein offensiver Flirt mit dem letzten Tabu unserer Kultur, der an Plakativität nichts zu wünschen übrig lässt – das hätte sicherlich auch dem selbsternannten Meister der spanischen Malerei gefallen, der genau wie Madonna schon zeitlebens mit dem Verfassen seiner eigenen Hagiographie beschäftigt war und dadurch längst seinen Platz im Pantheon der Popkultur beanspruchen darf, denn man muss deutlich sagen, dass das Phänomen Dalí repräsentativ für eine sukzessive Verlagerung des Surrealismus vom Avantgardestatus zur Popkultur anzusehen ist. Dass auch Madonna auf dem besten Wege in die geradezu göttlichen Sphären der Populärkultur ist, lässt die Verneigung erahnen, die Dietmar Dath und Andreas Platthaus ihr am Ende ihrer Laudatio in einem der bedeutendsten Feuilletons unseres Landes erweisen: „Madonna ist eine Popsängerin exakt in dem Sinne, in dem New York eine Stadt und der Papst ein Priester ist: Grundsätzlicher, umfassender, wichtiger geht’s nicht.“32
Literaturverzeichnis Belting, Hans: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005. Benjamin, Walter: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, in: Gesammelte Schriften, Bd. II, 2, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1980, S. 295-310. 31 Debord: La Société du spectacle, S. 24. 32 Dath/Platthaus: „Drei Tage war Deutschland eine Disco“.
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Cowles, Fleur: Salvador Dalí. Biographie, München/Wien 1981. Dalí, Salvador: „Mystisches Manifest“, zit. nach Descharnes/Néret, S. 156-181. Dath, Dietmar/Platthaus, Andreas: „Drei Tage war Deutschland eine Disco“, in: FAZ, 24.08.2006. Dath, Dietmar: „Sie malt die Nacht mit Licht an. Die Chefin tanzt wieder“, in: FAZ, 12.11.2005. Debord, Guy: La Société du spectacle, Paris 1992. Descharnes, Robert/Néret, Gilles: Salvador Dalí (1904-1989), Köln 2006. Foucault, Michel: „Vorrede zur Überschreitung“, in: Von der Subversion des Wissens, hrsg. v. Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1996, S. 28-46. Kemp, Martin: „Dalí’s Dimensions“, in: Nature, Nr. 391, 1998, S. 27. Maurer Queipo, Isabel: „Délire – Désir: Mystik, Hysterie und Paranoia bei Salvador Dalí“, in: Maurer Queipo, Isabel/Rißler-Pipka, Nanette (Hrsg.): Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, Bielefeld 2007, S. 129-158. Meer, Frits van der: Christus. Der Menschensohn in der abendländischen Plastik, Freiburg u.a. 1980. Mertin, Andreas: „Centre du monde. Mystik und Religion in Dalís Kunst“, in: Kolberg, Gerhard (Hrsg.): Salvador Dalí. La Gare de Perpignan. Pop, Op, Yes-yes, Pompier. Ausstellungskatalog, Museum Ludwig und der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig Köln, Ostfildern-Ruit 2006, S. 73-86. Nadeau, Maurice: Geschichte des Surrealismus, Reinbek b. Hamburg 1986. Poeschel, Sabine: Handbuch der Ikonographie. Sakrale und profane Themen der bildenden Kunst, Darmstadt 2007. Poschardt, Ulf: „Das Video als Laboratorium“, in: Video – 25 Jahre Videoästhetik, Ausstellungskatalog, Ostfildern-Ruit 2003, S. 9-32. Roloff, Volker: „Mythos und Farce. Vorüberlegungen zur neuen Mythologie der Surrealisten“, in: Erstiý, Marijana u.a. (Hrsg.): SPEKTRUM reloaded. Siegener Romanistik im Wandel, (voraussichtlich) Siegen 2009. Schiller, Gertrud: Ikonographie in der christlichen Kunst, Bd. 2: Die Passion Jesu Christi, Gütersloh 1983. Schlaffer, Hannelore: „Viel Arbeit, kein Fest“, in: DIE ZEIT, 17.08.2006.
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Gregor Schuhen | Madonna und Salvador am Kreuze vereint
Schuhen, Gregor: „Hybride Pop-Welten. Madonna und die Avantgarde(n)“, in: Hülk, Walburga u.a. (Hrsg.): (Post-)Gender. Choreographien/Schnitte, Bielefeld 2006, S. 123-152. Spies, Werner (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944. Die surrealistische Revolution, Ausstellungskatalog, Paris Centre Pompidou, Düsseldorf K20, OstfildernRuit 2002. Weiß, Matthias: Madonna revidiert. Rekursivität im Videoclip, Berlin 2007.
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Kirsten von Hagen
Vom Schauen, Schwimmen und Schreiben – zur Ästhetik des Intermedialen und Surrealen bei François Ozon und Albert Ostermeier In seiner Darstellung zum Generationenwechsel in der deutschen Literatur, macht Volker Wehdeking eine intermediale Schreibweise als Signum der deutschen Gegenwartsliteratur aus.1 Ostermeier, der bis zum Erscheinen seiner jüngeren Werke hauptsächlich als Dramatiker rezipiert und als Lyriker eher als Randerscheinung wahrgenommen wurde, fehlt freilich in diesem Band. Dabei stellt bereits Ostermeiers Lyrikband Polar von 2006 ein interessantes Projekt einer intermedialen Schreibweise dar. Neben einer intermedialen Ästhetik ist es eben jene besondere Relation von Aktualität und Virtualität, Realem und Imaginärem, die der Gedichtband und auch der erste Roman Zephyr (2008) von Albert Ostermeier immer wieder umkreisen und reflektieren. Beide Texte möchte ich im Folgenden als Aktualisierung einer surrealen Ästhetik näher analysieren. Polar, Ostermeiers Hommage an das französische Kino der 1960er und 1970er Jahre, ist zugleich eine melancholische Reise in die Bereiche der Unschärfe, in jene Übergangsorte zwischen Wachen und Träumen, in die auch sein erster Roman führt. In Zephyr geht es um eben diesen Zustand zwischen Wachen und Träumen, zwischen kühler Melancholie und rasender Eifersucht. Erneut werden dabei Zwischenräume zwischen Bild und Text in Szene gesetzt. Der Roman spielt auf mehreren Ebenen, er rekurriert einerseits auf die reale Verzweiflungstat von Bertrand Cantat, andererseits auf den antiken Mythos und die Bilder und Gesten des französischen Kinos, insbesondere des Film Noir. Deutliche Anspielungen an Jacques Derays Film La Piscine (1969) strukturieren den Roman, der von Begehren und Anziehung, Ablehnung und düsterer Sehnsucht getragen wird. Interessant ist es jedoch nicht nur, Bezüge zu La Piscine, Jacques Derays Kultfilm, aufzuzeigen, sondern den Roman in Beziehung zu einem anderen Film zu setzen: François Ozons Swimming Pool von 2004. Bei Ozon und Ostermeier geht es um das Schreiben, bei beiden um ein Spiel zwischen ‚real‘ und ‚surreal‘. Beide treiben dieses Spiel schließlich bis zur Ununterscheidbarkeit zwischen Virtualität und Aktualität. Diese Ununterscheidbarkeit ist es, die auch zum Schluss nicht aufgelöst wird und in der hier vor allem die Aktualisierung 1
Vgl. Wehdeking: Generationenwechsel: Intermedialität in der deutschen Gegenwartsliteratur, S. 7ff.
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einer surrealen Ästhetik besteht. Reale und imaginäre Bilder überlagern sich. Meiner These zufolge nähert sich Ostermeiers Roman einer surrealen Ästhetik an, da er auf Poesie und Film rekurriert, sich filmische Verfahren zu eigen macht und v.a. das Kristallbild im Medium der Schrift aktualisiert. Als Folie für meine folgenden Ausführungen möchte ich daher zunächst den deleuzeschen Begriff des Kristallbildes, sein Konzept des Virtuellen und Aktuellen, näher erläutern. Im modernen Film tritt das aktuelle Bild als „image-temps“ in Beziehung zu einem virtuellen Bild, das Deleuze auch als mentales oder Spiegel-Bild bezeichnet. Anstelle einer linearen Fortsetzung ergibt sich so eine Kreisbewegung, bei der beide Bilder einen Punkt umkreisen, an dem Reales und Imaginäres nicht länger zu unterscheiden sind.2 Das Imaginäre ist laut Deleuze somit nicht das Irreale, sondern die Nicht-Unterscheidbarkeit von Realem und Irrealem. Beide entsprechen sich nicht, sie bleiben unterschieden, aber sie tauschen ihre Unterscheidung immer wieder aus. Deleuze verdeutlicht dies am Phänomen des Kristalls. Hier kommt es zu einem Austausch zwischen einem aktuellen und einem virtuellen Bild, wobei das Virtuelle aktuell wird und umgekehrt, des Weiteren, und auch das ist für die folgenden Ausführungen von Bedeutung, gibt es einen Austausch zwischen dem Durchsichtigen und dem Opaken, wobei das Opake durchsichtig wird und vice versa.3 Deleuze zufolge ist das Imaginäre dieses Ensemble von Tauschprozessen, das Imaginäre als Kristallbild. Bestimmend für den modernen Film, lässt sich das Kristallbild in unterschiedlicher Form, etwa bei Filmemachern wie Ophüls, Renoir, Fellini, Visconti, Tarkowski oder Zanussi, ausmachen. Was man im Kristall sieht, ist ein Kino der Unentscheidbarkeit: Das Kristallbild begriffen als Kreislauf von Austauschprozessen ist die autonom gewordene Zeit, die unabhängig geworden ist von der Bewegung, den Zeitverhältnissen. In Ostermeiers Roman fallen, wie zu zeigen sein wird, verschiedene Zeitebenen, Reales und Imaginiertes, Wirklichkeit und Traum, wie im Kristallbild zusammen. Ostermeiers Roman nennt immer wieder selbstreferentiell Bezugspunkte des eigenen Schreibens: Die Affäre des Rocksängers Bertrand Cantat, der in einer Nacht in Vilnius seine Geliebte, die Schauspielerin Marie Trintignant, erschlagen hat; die Villa an der Côte d’Azur, in der bereits Derays Kultfilm Swimming Pool gedreht wurde und schließlich Zéphyr, die Bar, in der sich Marie und Bertrand stets trafen, und natürlich zugleich der ovidsche Mythos.
2
Deleuze: „Über das Bewegungs-Bild“, S. 78.
3
Vgl. Deleuze: „Zweifel am Imaginären“, S. 97f.
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Hauptinspirationsquelle ist dabei Jacques Derays La Piscine, dem er schon in seinem Gedichtband ein Erinnerungsbild gewidmet hat: „die wiederkehr der vögel im/spiegel der wellen wenn ich/am rand des beckens liege und/ihn verschwommen über mir/sehe die augen schliesse du […].“4 Bereits mit der Gedichtsammlung Polar versuchte Ostermeier, Bilder des französischen Kinos sprachlich zu fassen. Wie Carola Wiemers formuliert: „Am kalten Blau der Augen von Alain Delon übte er sich in einem Sprachschliff, der dem Leser Angstschweiß auf die Stirn treibt.“5
Deray und die blauen Augen von Delon Derays Film von 1968 beginnt mit Reflexionen, Tauben auf einem Baum spiegeln sich im Wasser wie auch die Schrift des Vorspanns: Die Buchstaben lösen sich auf, scheinen wegzufliegen wie die Tauben. Die Kamera nähert sich und gibt den Blick frei auf die Oberfläche des Pools, sie fährt weiter heran und wir erkennen einen Mann am Rand des Swimming Pools liegen, die blauen Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Müde wendet er den Kopf, als eine Frau seinen Namen, Jean-Paul, ruft, wir hören auf der Tonspur einen Vogel wegfliegen, die Frau springt ins Wasser und nun sehen wir Romy Schneider, wie sie im Pool ihre Bahnen zieht, sie baut sich vor ihm auf – wie Franck vor Julie im Film von Ozon. Beide küssen sich leidenschaftlich, er zieht ihr das Bikini-Oberteil aus, doch sie wird von dem Klingeln des Telefons abgelenkt: Sie will den Anruf entgegennehmen, er möchte, dass sie bleibt. Sie streiten sich. Die Harmonie, die Idylle ist gestört, zerstört durch die Ankunft eines Dritten. Kündigt sich der Dritte im Fall der realen Tragödie um Marie Trintignant und den Rockstar Bertrand Cantat, die dem Roman als realer Hintergrund für die fiktive Dreiecksgeschichte dient, durch eine SMS des Ex-Mannes an und bei der Geschichte des Ich-Erzählers durch die Ankunft des Freundes Costello, so gibt Deray die Ausgangssituation für alle Tragödien vor: Der Anruf, der den störenden Dritten ankündigt, zeigt die Risse in der vordergründigen Idylle. Das Beste an dem Haus sei der Pool, so Jean-Paul zu dem ehemals besten Freund Harry (Maurice Ronet), der ihn dann auch sogleich auffordert, eine Runde mit ihm zu schwimmen. Doch das Blau des Pools ist trügerisch – wie bei Ozon und bei Ostermeier. In seinem Gedichtband heißt es in dem bereits anzitierten Poem zum Film „[…] du/lebst und er schwimmt wie ein/schatten 4
Ostermeier, „La piscine“, S. 47f.
5
Kritik Deutschlandradio Kultur, 24.04.2008, in: http://www.dradio.de/dkultur/ sendungen/kritik/774773/ (25.08.2008).
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am grund ohne grund/ertränkt von deinen tritten als/würdest du dein bild im wasser/treten und es käme nichts/als die immer gleichen wellen“.6 Das Gedicht schildert den vergeblichen Versuch, den anderen auszulöschen. Zentral ist in allen drei Texten – und hier fungiert der antike Mythos, der dem Roman seinen Titel verleiht, als Urszene – die Eifersucht: Jean-Paul, der erfolglose Autor, ist eifersüchtig auf Harry, Julie ist eifersüchtig auf die ältere Sarah Morton (und umgekehrt) und Gilles auf den Verführer Costello. Schließlich läuft alles aus dem Ruder, Jean-Paul beginnt wieder zu trinken, er und Marianne wollen sich trennen. Schuld an allem sei Harry, weshalb Jean-Paul diesen am Abend im Pool ertrinken lässt. Er versteckt Harrys nasse Kleider, alles soll wie ein Unfall aussehen. Dennoch leitet Inspektor Levec Ermittlungen ein. Schließlich wird der Fall ungelöst zu den Akten gelegt; das Liebespaar wird nie mehr leben wie zuvor. Der Film endet mit dem Bild des sich spiegelnden Baumes im Wasser, Bild der ewigen Wiederkehr. Auch Derays Film spielt mit den Realitäten, der eigenen und der der anderen, dem, was ist und was sein könnte, was durch die Spiegeleffekte zu Beginn und am Schluss unterstrichen wird. Doch anders als bei Ozon oder bei Ostermeier kann man hier nicht von einer Ästhetik des Surrealen sprechen.
Spiegelungen Alle drei Geschichten vom Wasser setzen eine Oberfläche in Szene, die an den Spiegel des Narzissus denken lässt, Oberfläche und Tiefe zugleich suggerierend. Nicht von ungefähr spielt bereits Deray in seinem Vorspann zu La Piscine mit der Oberfläche des Pools, die zu der der Kinoleinwand avanciert. Bei Ozon geht es, expliziter noch als bei Deray, um Schwimmen, Schreiben und Schauen, die Oberfläche des Pools avanciert zur blau schimmernden Fläche von Sarah Mortons Laptop, das Sichtbare/Unsichtbare wird so deutlich mit dem Akt des Schreibens selbst verknüpft. Wie auch bei Ostermeier, wo das Kino im Kopf, Gilles’ imaginärer Film, sein im Entstehen begriffenes Drehbuch mit den früheren Texten, Mythen und Bildern bis zur Ununterscheidbarkeit verknüpft werden. Auch in Ozons Swimming Pool weiß man schon bald nicht mehr, ob man sich gerade im Film von Ozon, im Buch, das Sarah schreibt, oder in ihrer Phantasie befindet. Reales und Surreales überlagern sich wie schon in seinem früheren Film Sous le sable (2000), in dem ein Mann gleichsam unter dem Sand verschwindet, schwimmen geht und nicht zurückkehrt, keine Spur hinterlässt, so dass seine Ehefrau fortfährt, sich ein gemeinsames Leben mit ihm zu imaginieren, weiter mit ihm ihren Traum zu leben. Wie bereits in 6
Ostermeier: „La piscine“, S. 48.
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Sous le sable, spielt auch in Swimming Pool, Ozons fünftem Spielfilm, Charlotte Rampling die Hauptrolle. Der Film beginnt in London, die Kamera zeigt die Themse, Großstadt, Menschen in der Straße, in der U-Bahn. Mit London wird ein Ort klassischer Verbrechen evoziert, man denkt an Edgar Wallace, Agatha Christie, Arthur Conan Doyle. Und tatsächlich ist Sarah Morton eine Schriftstellerin, Erfinderin des berühmten Ermittlers Dowell. Als solche wird sie in der U-Bahn erkannt, als solche wird sie von ihrem Verleger John geschätzt, von ihren Fans verehrt. Doch es ist zugleich diese Reduktion, die Sarah in eine Identitäts- und Schaffenskrise stürzt. Deutlich wird dies vor allem in der Szene zu Beginn, als eine Leserin sie mittels eines Fotos im neuesten Dowell identifiziert und sie somit auf ihre Funktion als Autorin reduziert: Sarah leidet wie Jean-Paul und Gilles, der fiktive Autor in Ostermeiers Roman, unter einer Schaffenskrise. Um ihre Schreibblockade zu überwinden, schickt John sie in sein Ferienhaus im südfranzösischen Luberon. Dort werde sie in Ruhe an ihrem Roman arbeiten können. Schreiben kann sie indes nur, indem sie wie Gilles zugleich zu einer Figur in ihrem eigenen Roman wird. Diesen Prozess setzt Ozon mit einer Reihe filmischer Mittel in Szene, die ich im Folgenden näher beleuchten möchte. Anders als bei Deray und bei Ostermeier spielt der Swimming Pool, der zum Ferienhaus gehört, zunächst bezeichnenderweise kaum eine Rolle. Da er dem Film seinen Titel verleiht, ahnt der Zuschauer jedoch, dass sich dies im Laufe des Films ändern wird. Von dieser Spannung zehren die Filmminuten zu Beginn. Inszeniert wird wie bei Deray und Ostermeier ein Blicktheater. Bei Deray tastet die Kamera gleichsam Orte und Körper ab, sie bleibt ihnen dabei jedoch zugleich merkwürdig fremd. Wir erfahren wenig über diese Figuren und wenn wir etwas beobachten, sind es zumeist Andeutungen in Dialogen, ausgetauschte Blicke. Anders bei Ozon. Hier ist es vor allem der Blick Sarahs, der Autorin, der zentral ist und der immer wieder als subjektiver inszeniert wird. Von zentraler Bedeutung für die Inszenierung der Relation ‚Real-Surreal‘ ist das Farbenspiel. Es dominiert die Farbe Blau. Blau ist der Bildschirm des Laptops, blau ist der Pool, der Schatten auf der Hauswand schimmert blau, wie der Spiegel in Sarahs Zimmer, der das Konterfei der schreibenden Autorin widerspiegelt. Blau erscheint aber auch die Tür zu Sarahs Dachzimmer, zu ihrem Reich der Wörter und Fiktionen. Blau markiert wird somit der fiktionale Raum. Die Ankunft Julies, die am Beginn des eigentlichen filmischen Geschehens und zugleich des fiktiven Romans von Sarah Morton steht, wird eingeleitet mit einem Fensterblick Sarahs. Die Schriftstellerin steht am Fenster ihres Dachzimmers, es ist die Zeit vor dem Schlafengehen. Die Autorin öffnet das Fenster, welches den Blick auf den Pool und die dahinter liegende Landschaft eröffnet. Die Kamera fährt vom Fenster zurück und in diesem Moment ist auf der Tonspur ein Geräusch zu vernehmen, das
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Sarah aufmerken lässt. Mit einem Kerzenständer bewaffnet, geht sie in den unteren Teil des Hauses und trifft dort auf Julie, deren Ankunft für Sarah völlig überraschend ist. Julies Ankunft wird damit bezeichnenderweise mit Sarahs Blick eingeleitet. Dieser Blick aus dem Fenster und dem davor liegenden Balkon auf den Pool wird zentral sein für das Eintreten in die Fiktion, wie es der Film inszeniert. Das Zimmer Sarahs mit seinen blauen Wänden und dem blau gestrichener Fensterrahmen geben somit den Rahmen vor für das fiktionale Geschehen. Erst mit dem Eintreffen Julies wird die Abdeckung des Pools zurückgezogen. Wie der Pool nun ungehindert zu sehen ist, so setzt auch der Imaginationsstrom ein: Der Bildschirm Sarahs füllt sich langsam mit Buchstaben, Wörtern, die eine Geschichte erzählen. Julies Geschichte. Die Datei, die ebenfalls die Form des Pools anzunehmen scheint, trägt den Namen des jungen Mädchens. Die Situationen und Konstellationen zwischen den Figuren ähneln sich, wandeln sich einander an: Mit Julies Eintreffen nähert sich erstmals auch Sarah dem Pool. Zunächst nur, indem sie ihn von ihrem erhöhten Beobachterstandpunkt aus betrachtet, zuschaut, wie das junge Mädchen im Pool seine Bahnen zieht, in die bläulich schimmernde Oberfläche hineingleitet. Nachdem der Pool auf Bitte Sarahs gereinigt wurde – auch bei Ostermeier ist wiederholt vom Einlassen neuen Wassers in den Pool die Rede – kann auch sie in die blaue Oberfläche eintauchen. Mit diesem Eintauchen kommt es wiederholt zu diversen Spiegeleffekten. Wer ist Julie, wer Sarah, wer die Romanfigur, wer die Autorin – von solchen Verschiebungen handelt der Film. So werden im Verlauf des Films mehrere Zusammentreffen am Pool inszeniert, die von Begehren geleitet werden, von dem lustvollen Blick auf den anderen und die je in der gleichen Art und Weise gefilmt werden. Einmal ist Sarah in einer Nahaufnahme im Profil zu sehen, wie sie auf der Liege am Pool schläft. Als Julie hinter den Liegestuhl tritt, fährt die Kamera an ihr herauf, tastet sie gleichsam wie mit Blicken ab. Sarah erwacht. Wir sehen Sarahs Blick, sind auf ihre Perspektive zurückgeworfen, wenn sie aus der liegenden Position Marcel, den Gärtner, erblickt, der sich sehnend über sie beugt, wie sich zuvor Franck über Julie gebeugt hat. Ob diese Julie wirklich existiert, oder ob es sich dabei nur um eine Projektion Sarahs handelt, um einen Dichterwunsch, die Imagination einer überreizten Autorin, dieses Geheimnis gibt der Film ebenso wenig preis wie der Roman Ostermeiers das Rätsel um die Identität von Gilles und Cathy. Ist Julie nur die virtuelle Seite der realen Julia, die britisch und deutlich kindlicher ist und am Ende des Films der Autorin zuwinkt oder ihre französische und sinnlichere Halbschwester, ist sie Tragtraum, Wunschphantasie, Realität oder Fiktion, der Zuschauer erfährt es nicht, der Film wahrt sein Geheimnis. Im Laufe des Films werden diese Grenzen immer wieder umkreist, die Differenzen indes verschwimmen bis zur Ununterscheid-
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barkeit, wie es das Spiegelbild deutlich macht, das Ozon zu Beginn des Eintreffens von Julie in Szene setzt. Julie, die in der Nacht mit einem Liebhaber heimgekehrt ist, weckt die schon schlafende Sarah, die sich nun hinunterschleicht, um die beiden zu beobachten. Sie sieht die Liebenden durch eine Glastür. Der Zuschauer indes nimmt nur die Spiegelung im Glas wahr. Die Kamera ist demnach gewissermaßen im selben Raum mit den Liebenden, während Sarah die Szene von außen beobachtet. Zunächst ist Sarah am linken Bildrand zu sehen, rechts Julie und ihr Liebhaber. Allmählich wechseln die Kameraschärfen: Erst ist Sarah deutlich zu erkennen, während das Liebespaar verschwommen wahrnehmbar ist, dann umgekehrt. Die Blickanordnung verdeutlicht, dass das Liebespaar von Sarah beobachtet wird, vielleicht auch nur ihr Traumbild, ihre Phantasie ist, wie durch das Scharfstellen des Blicks betont wird, als Julie Sarah und damit direkt die Kamera anblickt. Schließlich überlagern sich die beiden Figuren im Spiegel, als Sarah sich nach rechts bewegt und nun das Spiegelbild der Liebenden überdeckt. Die Konstellation verdeutlicht derart, wie die Grenzen zwischen Virtualität und Aktualität hier aufgehoben werden, die aktuelle Sarah in die virtuelle übergeht, Sarah, die Autorin, Sarah als Romanfigur überlagert. Nachdem Julie erneut einen Liebhaber empfangen hat, Sarah erneut Geräusche vernimmt und einen deutlich älteren Mann im oberen Schlafzimmer vorfindet, den Julie später dem Gärtner Marcel vorstellt, setzt sich Sarah an ihr Laptop und beginnt zu schreiben. Das Blau der Benutzeroberfläche spiegelt das Blau des Pools, an dem Sarah Julie und ihren Liebhaber beobachtet. Das Dachzimmer, in dem Sarah ihren Roman schreibt, wird nun erstmals in einer Halbtotalen fast vollständig eingefangen, wodurch auch farblich unterstrichen wird – der gesamte Raum schimmert blau –, dass hiermit der Raum ihrer Phantasie, ihrer Fiktion bezeichnet wird. Die am Schreibtisch sitzende Sarah wird dabei von einem Spiegel reflektiert, der an der rechten Wand ihres Zimmers hängt und der wiederum von einem anderen kleineren gespiegelt wird, der direkt neben Sarahs Schreibtisch hängt. Wir haben es demzufolge mit einer Spiegelung in der Spiegelung zu tun. Diese doppelte Spiegelung vermittelt die zunehmend offensichtlicher werdende Korrespondenz der Benutzer- und der Pooloberfläche. Der Pool avanciert nun sehr deutlich zur Projektionsfläche von Sarahs Fiktion. Sarah, die in dieser blauen Umgebung des Zimmers gezeigt wird, und später, wie sie selbst erstmals in den Pool eintaucht, avanciert zu einer Figur ihrer eigenen Fiktion. Diese Beobachtung wird dadurch filmisch unterstrichen, dass nun immer häufiger Spiegelungen des Pools beobachtbar sind. Sarah bemächtigt sich des Tagebuchs von Julie und nimmt im Laufe der Handlung immer stärker Züge der deutlich jüngeren Frau an. Wurde Sarah zunächst dem Klischee folgend als deutlich prüde und zugeknöpfte Engländerin in Szene ge-
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setzt, so legt sie nun ihre eigenen Kleider ab und ein verführerisches exotisch aussehendes kimonoähnliches Gewand an, das sie im Kleiderschrank vorfindet. Sie taucht in den gereinigten Pool ein und zeigt sich dem begehrenden Blick des Gärtners Marcel. Die zunehmende Grenzverwischung wird dabei in Form zahlreicher Spiegelungen filmisch in Szene gesetzt, bei der es zu einem Austausch von virtuellem und aktuellem Bild kommt. Als Julie eines abends den Kellner Franck mit ins Haus bringt, der zuvor von der Engländerin begehrt worden war, tritt der Konflikt deutlich zu Tage. Er tanzt mit Sarah, die er offenbar begehrt, beobachtet von Julie, die später mit ihm am Pool zu sehen ist. Sarah beobachtet ihr Liebesspiel, wie gewohnt von ihrem erhöhten Beobachterstandpunkt aus. Anders als zuvor, tritt sie diesmal jedoch auf den Balkon und greift in das, was sich ihr als Schauspiel darbietet, ein: Ein Stein, den sie ins Wasser wirft, wird Kreise ziehen, Konsequenzen haben. Julie erschlägt Franck, nachdem er sie zurückgewiesen hat, mit einem Stein. Ob es sich dabei um Wunschdenken der zuvor von ihrem Verleger sexuell zurückgewiesenen Sarah handelt, ob sich diese Szene so zugetragen hat oder alles Sarahs Traum beziehungsweise Fiktion ist, das lässt der Film bewusst offen. Das Beseitigen der Leiche, bei dem beide Frauen zu Komplizinnen werden, wird vor allem als Spiegelung im Wasser sichtbar. In dem Maße, wie sich Sarah ihrer Fiktion bemächtigt, tritt sie selbst als Figur immer stärker in ihre eigene fiktionale Welt ein. Gleichzeitig übernimmt Julie ihrerseits nun immer stärker auch Züge einer Autorin, indem sie Sarah bewusst von ihren ersten Liebeserfahrungen berichtet und Franck mit ins Haus bringt, von dem sie weiß, dass Sarah ihn begehrt. Schließlich überlässt sie ihr gar ein Romanmanuskript ihrer Mutter, damit sie dieses zu ihrer Fiktion macht. Diese Mutter ist jedoch, wie Julie, Teil der Fiktion, wie es vor allem das Gespräch Sarahs mit der kleinwüchsigen Frau verdeutlicht, die als unheimliches Moment fungiert und für die Unwirklichkeit des Geschehens steht. Sie sagt Sarah, dass Julies Mutter nicht, wie diese zuvor erzählt hatte, in Nizza wohnt, sondern tot ist. Als Julie Sarah das Manuskript ihrer Mutter mit den Worten übergibt, dass sie es damals nicht, wie behauptet, verbrannt habe, ist Sarah einmal mehr nur als Spiegelbild anwesend. Schnitt. Unvermittelt sind wir wieder in London. Sarah hat John ihr Manuskript, das sie in seinem Ferienhaus verfasst hat, zum Lesen gegeben. Der Verleger lehnt dieses ab und rät ihr, sich stattdessen auf das zu konzentrieren, was sie beherrsche: Detektivromane. Da die Autorin seine Reaktion bereits geahnt hat, hat sie ihr Manuskript schon einem anderen Verlag angeboten, der es auch gedruckt hat, so dass sie dem irritierten Verleger nun das fertige Buch überreichen kann: Das Buch, welches er in Händen hält, trägt denselben Titel wie der Film, den der Zuschauer zuvor gesehen hat: Swimming Pool. Mit dieser letzten Verdopplung wird das Verwirrspiel gleichsam gespiegelt: Handelt es sich bei dem Film um eine Projektion Sarahs, ihren Traum,
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oder ihre Fiktion, die wiederum Eingang in das Buch fand, das John in Händen hält? Oder basiert der Film gar auf dem Roman von Sarah, ist er von Anfang an ihre Fiktion? Der Film lässt diese Fragen bewusst offen, es gibt keine Möglichkeit der Unterscheidung, wie es auch am Schluss nicht möglich ist, die scheinbar reale Julia, die Tochter des Verlegers, von der französischen Julie zu unterscheiden. Der Film endet mit einem erneuten Fensterblick Sarahs. Die Kamera zeigt einmal ihren Blick auf Julia, dann wieder auf Julie, die beiden Figuren überlagern sich, wie Reales und Surreales, Realität und Fiktion. Die immer wieder spielerisch in Szene gesetzte vermeintliche Grenze zwischen den Differenzen verschwimmt, macht jede Entscheidung unmöglich, so wie im Roman von Ostermeier. Die blaue Oberfläche des Pools gibt das Geheimnis nicht preis, ebenso wenig wie die blau schimmernde Oberfläche des Laptops, an dem Sarah ihre Geschichte um Eifersucht und Verrat, Freundschaft und Vertrauen tippt. Die intermediale Dimension spielt auch in Ozons Film eine zentrale Rolle: Zeigt Swimming Pool eine Romanautorin, deren Schreibprozess filmisch in Szene gesetzt wird, ist es bei Ostermeier ein Drehbuchautor, der im Medium des Buches agiert. Es handelt sich um den Prozess der Verwischung der Grenze zwischen filmischer Realität und Vorstellungskraft einer Romanautorin. Die Überblendung der Ebenen ist hier ähnlich komplex wie im Roman Ostermeiers. Spricht Cathy in Ostermeiers Roman von Gilles’ Vorliebe für „Close-ups“, so sind es tatsächlich Großaufnahmen von Sarahs Gesicht, die immer wieder die Vermutung nahelegen, alles spiele sich nur im Kopf der Autorin ab. Immer wieder wird der Blick der Autorin auf den Pool sichtbar, sehen wir, was Sarah sieht – oder, was sie meint zu sehen. Zahlreiche Spiegeleffekte setzen die Verdopplung der Autorin, die Ununterscheidbarkeit zwischen virtuellem und aktuellem Bild in Szene.
Die blaue Kühle des französischen Kinos Schon in seinem Lyrikband Polar hat der Lyriker und Dramatiker Albert Ostermeier die Farben des Kinos mit den Stilmitteln der Lyrik neu inszeniert: Die Brandung des Meeres. Die Wellen vergeuden ihre Kraft an einen grauen Himmel. Der Traum, dass die gelben Läden sich der Sonne öffnen. Regen. Von innen erleuchtetes Glas. Dunkle Sonnenbrillen
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entworfen für die Augen der Nacht. Der Nebel lässt die Konturen verschwimmen. Abspann.7 Filme, die diese Art Kühle und Sehnsucht nach einem anderen Leben inszenieren, nennt die französische Filmkritik „Polar“, eine poetische Nachschrift dunkler und illusionsloser Gangsterfilme der 1940er Jahre, vor allem aber des „film policier“, des französischen Kriminalfilms der späten 1950er bis 1970er Jahre.8 So wie der „Polar“ aus dem amerikanischen Gangsterfilm der 1930er und 1940er Jahre hervorging, der seinerseits wiederum ästhetisches Resultat des expressionistischen Stummfilms war, so sind Ostermeiers Gedichte ebenfalls schichtartige Ablagerungen aus wiederholt Gesehenem und Erinnertem, eine Art poetischer Reinszenierung dieser dunklen und illusionslosen Filme, die gleichsam versucht, die Stimmungen und Atmosphären, Augenblicke und Gesten des Kinos festzuhalten. In seinen Polargedichten versucht Ostermeier die Zwischenräume der Sehnsucht, diese blaue Kühle des französischen Kinos, sprachlich zu fassen. Die Zwischenräume, das Gleiten zwischen Sehnsucht, Verbrechen, Liebe, Tod, Gewalt, unterdrückter Begierde werden von ihm mit den Mitteln der Lyrik neu inszeniert: „LE CIEL EST MORT“, „L’INSENSIBILITÉ DE L’AZUR“, „LE TRANSPARENT GLACIER“, „LA MASSIVE NUIT“, sind die einzelnen Kapitel überschrieben. Es sind Gedichte in lyrischem Cinemascope-Format – schwarz auf weiß mit breitem Rand. Das Papier avanciert zur Leseleinwand, die dunklen Buchstaben sind bewegte Schatten, die Raum lassen für eigene Projektionen. Es sind Gedichte, die mit filmischen Mitteln der Erzählung spielen: Low-Key-Beleuchtung des Film Noir, Rück- und Vorblenden spiegeln kaleidoskopartig die Gedankenwelt der handelnden Personen. Enjambements, assoziationsreiche lyrische Bilder und intermediale Bezüge sind Mittel, mit denen Ostermeier die Kraft des Kinos mit den Mitteln der Lyrik neu zu fassen sucht. Ostermeiers Gedichte zeichnen sich dabei durch ein wahrnehmungs- und medienästhetisches Reflexionspotential aus, das auf die Experimente der Surrealisten verweist. Enjambements, Vergleiche und eine filmanaloge Technik der Montage zeitigen häufig einen Effekt des Schocks, indem scheinbar unvereinbare Vorstellungsbereiche in einem Bild zusammengefasst werden: „[…] alles steht still/hier und nutzlos schlagen die/herzen und fallen wie die/mücken von der wand wenn/ihr Tag vorbei ist.“9 Der Filmwissenschaftler Michael Althen schreibt in seinem Nachwort zu dem Lyrikband, Ostermeier habe mit seinen Gedichten einen Nachklang zu den französischen 7
Vgl. Ostermeier: „pas d’espoir“, S. 17f.
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Vgl. „Policier français“, in: Dictionnaire du cinéma mondial, S. 600-614.
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Ostermeier, „l’aîné des ferchaux“, S. 24.
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Polar-Filmen verfasst und somit jenen Zwischenbereich, „in dem die Grenzen zwischen Kino und Wirklichkeit verschwimmen“ mit den Mitteln der Poesie reinszeniert.10 Ostermeier, der mit Zephyr seinen ersten Roman vorlegte, spielt ebenfalls, wie eingangs verdeutlicht, mit den Grenzen zwischen ‚virtuell‘ und ‚aktuell‘, ‚real‘ und ‚surreal‘, aber auch mit den Grenzen zwischen den Genres. Sein Roman ist weniger narratologisch als poetisch organisiert: eine Folge von Sprachbildern, Rhythmen, lyrischen Impressionen. Eine Geschichte spielt da nur als Folie eine Rolle, wird nicht im eigentlichen Sinne erzählt. In seiner intermedialen Schreibweise nähert er sich dem Film als Ort der Schaulust, der Kunst der Verwandlungen, einer Reflexion der Grenzen des Sehens und Redens an. Er umkreist, wie es Sartre einmal in seiner Kritik des Surrealismus beschrieb, jenen „imaginierten Punkt“, an dem „Traum und Wachsein, Reales und Fiktives, Objektives und Subjektives ineinander übergehen“11.
Träumen oder Wachen Wie Ozon setzt auch Ostermeier das Schreiben selbst in Szene. Hier ist es Gilles, der den Auftrag erhält, ein Drehbuch über die Affäre Cantat-Trintignant zu verfassen. Da er mit seinem Projekt nicht vorankommt, reist er, wie die Protagonistin bei Ozon, in den französischen Süden. Als Ort sucht sich Gilles ausgerechnet jene Villa an der Côte d’Azur aus, die schon als Kulisse für den Film Swimming Pool mit Alain Delon und Romy Schneider diente. Gleich zu Beginn ist von Tod die Rede: Ein Mann ist in dem Pool ertrunken, das gechlorte Wasser, in dem der Ich-Erzähler noch Mikropartikel des toten Körpers vermutet, soll gegen frisches Meerwasser ausgetauscht werden. An diesem Ort nun versucht sich der Held den Kopf freizuschwimmen und verstrickt sich doch immer stärker in seine eigene Phantasie. Bald schon vermag der Leser nicht mehr zu unterscheiden, ob es sich bei dem Geschilderten um das Drehbuch von Gilles handelt oder um den Roman von Ostermeier, den er vor sich hat. Die reale Tragödie des Rockstars und der Schauspielerin droht sich zu wiederholen, als Gilles immer stärker von den Bildern vor seinem inneren Kameraauge eingeholt wird und Cathy Züge der Toten zuschreibt. Die Anordnung von Ostermeiers Roman gehorcht zugleich der Logik des Traums, des Schlafenden. Häufig ist in dem Roman von Schlaf die Rede, vom Traum und vom Erwachen. Dabei werden die Ebenen nie scharf voneinander getrennt: Träumen wir den Traum Gilles, der neben der schlafenden – oder toten – Cathy liegt, oder den des Rocksängers Bernard, der neben der schwer 10 Althen, „Nachwort“, S. 135. 11 Sartre: Was ist Literatur?, S. 109.
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verletzten Marie einschläft, so dass jeder Versuch, sie zu retten, zu spät kommt – Ostermeier lässt den Leser bis zum Schluss im Unklaren über das Ausmaß der fiktionalen Tragödie. Die reale Tragödie spiegelt sich nicht nur in der fiktiven und ganz persönlichen Geschichte von Gilles, sondern auch in anderen fiktiven Geschichten des Kinos, wie der von La Piscine, auf die wiederholt im Text angespielt wird. Der Schlaf als Bruder des Todes ist ein zentrales Motiv des Autors. Ihr Atem wurde immer flacher. Gilles drückte Cathy das weiße Kissen auf das Gesicht. Ein sanfter Druck. Dann legte er den Kopf auf das Kissen. Er bildete sich ein, ihre Lippen durch die Federn zu spüren. Sie hatten es immer so gemacht. Einen Flügelschlag lang, wie sie es nannte.12 Die Federn und die Flügel erinnern an die weißen Tauben im Film von Deray: die Tauben, deren Flügelschlagen man auf der Tonspur vernimmt und deren Spiegelbild man im Pool sieht, bis sie sich in die Schrift des Vorspanns verwandeln. Verwandlungskünstler auch sie. Und die blauen Augen, die eiskalten blauen Augen von Delon, auch sie finden ihren Ort in der Prosa Ostermeiers: Dabei lag das Chlor seit diesem Morgen auf ihren Augen, fand er. Sie waren noch immer von einem unglaublichen Augenblicksblau. Aber irgend etwas zerfraß sie. – Deine Augen sind meine beiden Meere, hatte er in sein Notizheft geschrieben. Es lag neben dem Bett. Der Satz war durchgestrichen. Er hatte es ihr nicht gesagt.13 Die Augen von Delon, die verführen, werden hier zu Vorboten des Todes. Geschlossen geben sie ihr Geheimnis nicht preis. – Eines Tages wirst Du mich ersticken. Du bringst mich noch um, hatte sie gestern gesagt, als er das Kissen auf ihren Kopf drückte. Sie hatte es mit einem Lachen gesagt. Sie schien zu schlafen. Er nahm das Kissen von ihrem Kopf, beugte sich über das schlafende Gesicht und legte das Ohr auf den offenen Mund.14 Ob er ihren Atem noch hört, das erfährt der Leser nicht. Der Verdacht des Todes, der sich als Schlaf tarnt, durchzieht den gesamten Text. In dem Roman Ostermeiers geht es um die Konfusion realer und imaginärer Bilder, um die 12 Ostermeier: Zephyr, S. 7. 13 Ebd. 14 Ebd.
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Kontingenz und die Alogik des Traums. Ist der Ich-Erzähler zum Mörder an drei Menschen geworden, dem Immobilienhändler, der wie Harry im Pool an der Côte d’Azur ertrinkt, an seinem Freund Costeau, der angeblich bei einem Autounfall ums Leben kam und schließlich an Cathy, der Frau, die er liebt und die wie Marie – scheinbar – an seiner Seite einschläft? Der Roman lässt wie in einem Spiegel jeweils beide Deutungen zu, virtuelles und aktuelles Bild überlagern sich. Wie filmische Überblendungen gehen die unterschiedlichen Posen der Schlafenden ineinander über: Oder war sie [Cathy] gar nicht hier und seine tagträumenden Augen schrieben nur die linke Seite des Bettes voll. Ein zerknülltes Blatt Papier, das sich nicht mehr glattstreichen ließ.15 Verwandelt sich bei Ozon der Pool in den blauen Hintergrund des Bildschirms, auf dem sich allmählich Sarahs Phantasien zu Worten formen, so ist es hier eben dieser Zustand zwischen Wachen und Träumen, den der Roman umkreist und aus dem er sich speist, wie aus den filmischen Erinnerungen des Schreibenden.16 Ihr Traum ist auch zugleich ein Abspann ihrer Liebe. Eifersucht nährte und zerstörte sie wie die Beziehung von Jean-Paul und Marianne bei Deray. Der Taumel der Liebe, Wahnsinn der Leidenschaft, das Rätsel einer Emotion erinnert hier nicht zufällig an die romantische Imagination der Surrealisten, bildliche Darstellungen von Grenzzuständen, der dunklen Seite des Eros.17 Costeau ist stärker noch als der Immobilienhändler, der im Pool von Gilles seinen Tod findet, ein Wiedergänger Harrys, wie er ein alter Ego des Protagonisten, einer, der ihm den Spiegel vorhält, seine dunklen Seiten offenbart, die geliebte Frau verführt oder verführt hat und dafür schließlich in einem Akt der Eifersucht getötet wird. Eine weitere Ebene, auf die der Roman rekurriert, ist der antike Mythos. Aragon hatte 1922 in Les Aventures de Télémarque den antiken Mythos aktualisiert. Wie die Surrealisten in der Aktualisierung des Mythos eine Möglichkeit sahen, Grenzen zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten aufzulösen,18 weist auch bei Ostermeier der Titel auf eine Aktualisierung des Mythos vom eifersüchtigen Westwind: Bei Lukian und Ovid führt Zephyr, der eifersüchtige Westwind, den Tod des Hyakinthos herbei, indem er einen Diskus Apollos ablenkt. Es handelt sich mithin ebenfalls um eine hybride Konstella15 Ebd., S. 12. 16 Ebd., S. 26. 17 Vgl. Rousseau: „Magnetischer Eros: Der Surrealismus unter Hypnose“, S. 392f. 18 Vgl. Ferran: Le surrealisme, S. 108ff. sowie Chénieux-Gendron/Vadé (Hrsg.): Pensée mythique et surréalisme.
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tion, die zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen, Mensch und Pflanze changiert, wie sie in den Darstellungen der Surrealisten häufig anzutreffen ist. Es sind insbesondere die mythischen Szenen der Metamorphosen, die in Texten der Surrealisten figurieren: Crevel etwa rekurriert in Les Pieds dans le plat auf den Mythos von Leda, die sich mit Zeus in Gestalt eines Schwanes vereint, und Breton verleiht in Les Vases communicants einer Prostituierten die Erscheinung einer Sphinx. Brauner malte mit Vorliebe Chimären, halb Frau, halb Vogel, bei Desnos avancierte die Sirene zu einer Figur des Begehrens und in Nadja berschrieb Breton eine Frau, die gleich unterschiedliche mythische Vorstellungen in sich vereint, von zahlreichen Hybridisierungen und Metamorphosen gekennzeichnet ist: [Dans celui-ci] on distingue sans peine le visage du Diable, une tête de femme dont un oiseau vient becqueter les lèvres, la chevelure, le torse et la queue d’une sirène vue de dos, une tête d’éléphant, une otarie, le visage d’une autre femme, un serpent, plusieurs autres serpents, un cœur, une sorte de tête de bœuf ou de buffle, les branches de l’arbre du bien et du mal et une vingtaine d’autres éléments que la reproduction laisse un peu de côté mais qui en font un vrai bouclier d’Achille.19 Das Konzept der Metamorphosen relativiert Kategorien von Zeit und Ort, eine Vorstellung von der Identität der Geschlechter ebenso wie es Dichotomien von Leben und Traum, Realität und Virtualität, Vernunft und Wahn in Frage stellt. Auch bei Ostermeier geht es gleich um mehrere Verwandlungen, immer neue Figuren und Bilder, wobei sich diese zunächst aus der antiken Quelle für Memorphosen schlechthin, Ovids Metamorphoseon libri, speisen. Denn Ovid erzählt die Sage von Zephyr, der sich mit der Nymphe Chloris vermählt, die Nymphe, die Blumen wachsen lässt und später in die römische Frühlingsgöttin Flora verwandelt wird. Gleichzeitig ist der antike Mythos als Folie für die reale und imaginäre Eifersuchtstat zu sehen, die Tötung der Geliebten, die Ostermeier auf unterschiedlichen Ebenen in Szene setzt. So äußert sich Apollo in den Satirischen Gesprächen bei Lukian, die ich in der Übersetzung von Wieland zitiere, folgendermaßen: Er lernte den Diskus werfen, und ich war sein Gespiele dabei. Nun war der verdammteste aller Winde, der Zephyr, auch und schon lange in den Knaben verliebt; weil er aber kein Gehör bei ihm fand, lauerte er auf eine Gelegenheit sich zu rächen. Indem ich nun den Diskus, wie wir schon so oft gethan, in die Höhe werfe, bläst der verfluchte 19 Breton: Nadja, S. 126.
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Zephyr vom Taygetus herab, und treibt ihn im Herunterfallen dem Knaben mit solcher Gewalt auf den Kopf, daß das Blut gleich stromweise aus der Wunde floß, und der Knabe auf der Stelle starb.20 Der reale Hintergrund, der als Folie für das Romangeschehen um Gilles, Cathy und Costello fungiert, sieht ebenso blutig und gleichwohl düsterer aus: Die Schauspielerin Marie Trintignant, Tochter des berühmten Schauspielers JeanLuis Trintignant und der Regisseurin Nadine Trintignant, und Bertrand Cantat, Sänger der bekannten Punk-Band Noir Désir, waren ein ideales Liebespaar. Wie Götter wurden sie verehrt, avancierten zu Idolen einer ganzen Generation, und waren doch Sterbliche. Nachdem Cantat die Schauspielerin eines Tages in einem Hotel im litauischen Vilnius verprügelt hat, trägt er die Besinnungslose ins Bett und lässt sie viele Stunden lang dort liegen, so dass sie wenig später einem Schädel-Hirn-Trauma erliegt. Ihr Tod erschüttert eine ganze Nation. Ostermeier geht es indes nicht um die Rekonstruktion der Tat, nicht um das reale Drama, sondern um die Ausgangskonstellation: Dass der Sänger sich neben die Geliebte legte, in dem Glauben, sie schlafe. Es ist dieser grausame Schlaf-Wach-Traum, dieser Zwischenzustand zwischen dem Realen und Surrealen, zwischen Wachen und Träumen, Fakten und Fiktion, den Ostermeier in seinem Roman immer wieder umkreist und mit anderen Phantasmen bis zur Ununterscheidbarkeit vermischt: Er hörte ihren Atem nicht mehr. Er schlief rechts von ihr, nur rechts konnte er schlafen […]. – Dein Atem ist wie der Westwind, ein Frühlingshauch. Die Eishaut zeige erste Risse. Er beobachtete sie, ihre Glieder beginnen zu fließen, wenn sie träumt. Wie eine Welle, wenn sie am Strand in den Sand läuft und versinkt. Er legte seine Linke neben ihre Lippen, ihren Atem einzufangen und in seiner Faust festzuhalten.21 In seinem Ferienhaus am Pool hofft Gilles, sein Drehbuch über die Affäre Cantat-Trintignant fertigzustellen. Doch Cathys Bilder drängen sich immer wieder in seine Vorstellungswelt, in der er das Liebesdrama wie einen Film auf seiner inneren Bühne inszeniert. Als sein Freund Costello sich zu den beiden gesellt, sind es immer häufiger düstere Visionen, die sich in den Vordergrund drängen, Szenarien von Begehren und Zurückweisung. Die Konstellation Gilles – Cathy – Costello, der Freund Gilles, den er zugleich verdächtigt, mit Cathy eine heimliche Liebesaffäre zu haben, spiegelt dabei das reale Drama um
20 Lukian, „XIV. Unglücklicher Tod des schönen Hyazinthus“, S. 116. 21 Ostermeier: Zephyr, S. 29.
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die Schauspielerin Marie Trintignant, Bertrand Cantat und Samuel Benchetrit, den Noch-Ehemann Maries, spielt aber gleichzeitig mit dem fiktionalen Drama La Piscine. Als sein Freund Costello am Ende tot in seinem Wagen aufgefunden wird, nachdem dieser die Klippen heruntergestürzt war, lassen sich in seiner Lunge Reste von Süßwasser nachweisen. Ertrunken im Pool auch er, wie Harry in La Piscine und der Kellner Franck bei Ozon. Gleichzeitig spielt die Konstellation zwischen Cathy und Gilles sowie die von Marie und Bertrand auch auf den modernen Mythos Romy Schneider und Alain Delon an, deren Beziehung ebenfalls als ‚Mythos des Alltags‘ (Roland Barthes) in die Geschichte eingegangen ist. Über weite Strecken erinnert der Roman an die „écriture automatique“ der Surrealisten. Poesie und Roman überlagern sich, wie auch bald nicht mehr zu unterscheiden ist, ob es sich hier um Gilles’/Ostermeiers Roman oder Gilles’ Drehbuch handelt. Bei Ostermeier geht es zugleich um die Grenze zwischen den Medien. Das Intermediale spielt eine zentrale Rolle in seinem Text. Als Drehbuchschreiber verfasst Gilles ein Drehbuch, indem er zunächst einzelne Sätze, Bilder, Ansätze einer Geschichte in ein Notizbuch schreibt, die er später wiederum in den Computer überträgt. Seine Freundin, wenn es denn sie ist, die spricht, und nicht eine der imaginären Figuren in Gilles’ Kopf, wirft ihm denn auch vor, nur in filmischen Kategorien zu denken: in Close-ups, Rück- und Vorblenden. Der Eindruck, der dabei beim Lesen entsteht, ist häufig tatsächlich ein filmischer: Sprachbilder, Metaphern werden aneinander geschnitten, wie filmische Einzelbilder, lösen einander ab, ohne sich in ein Sinnganzes fügen zu wollen. Der surreale Effekt, der dabei entsteht, ist dem bei Ozon vergleichbar: Auch in Swimming Pool sind es einzelne Bilder, die durch die Montage so zusammengefügt werden, dass sie die subjektive Sicht der Schreibenden wiedergeben, ihre Träume, Visionen und Fiktionen. Dabei gehört der Schock zum ästhetischen Programm des Romans, etwa wenn in einer Szene des Romans der wohl berühmteste Filmschnitt der Geschichte des (surrealen) Kinos evoziert wird: Jetzt als er sich erinnerte, schnitt er dünne Scheiben, schnell, sehr schnell, zu schnell. […] Scheibe um Scheibe fiel, nach rechts auf den Haufen der Hälse. Durchschnitt. […] Ohne auf seine Hände zu achten, schnitt er weiter. Er sah die Augen des Fisches, die toten Augen nebem dem Waschbecken, auf der Zeitung, auf dem Bild des Ertrunkenen […]. Gilles hatte die Augen geschlossen, er hätte dem Fisch die
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Lider schließen müssen. Das Messer, die Klinge, Zucchinischeiben, ein Haufen“22 In Un Chien andalou (1929), dem ersten gemeinsamen Film von Luis Buñuel und Salvador Dalí, folgen ein Vollmond, ein Auge, eine zerfranste Wolke vor dem Mond und eine das Auge durchscheidende Rasierklinge aufeinander. Ein Bild zieht das andere nach sich, sorgt in einer metaphorischen Assoziationskette dafür, dass ein poetisches Bild mit einem grausamen verschmilzt.23 Bei Ostermeier verbinden sich das Alltägliche, Szenen des Alltags durch literarische Parallelisierung mit Momenten des Schocks, einem Gefühl von Tod und Verfall. Es kommt zur Überlagerung und Verflüssigung von Bildern und Vorstellungen, die Schnelligkeit und der Zusammenstoß von Bildern zeitigt hier einen surrealen Effekt. Wie Les champs magnétiques von 1919 bleibt der Text an eine erkennbare Komposition gebunden, das Nebeneinander von direkter Niederschrift und von Überarbeitung, wie es Ostermeier hier simuliert und rekapituliert, lässt jedoch das Sprunghafte in der Koppelung der Bilder deutlich hervortreten. Wie Breton und Soupault operiert auch Ostermeier mit visuellen Vorstellungen.24 Die vorherrschende Bildwelt ist dabei die des Schlafes und des Traums, Ziel dieser surrealen Ästehtik ist es, alltägliche Wahrnehmungs- und Handlungskonventionen zu durchbrechen. Das Begehren zeigt dabei seine düstere Seite, Szenarien von Liebe werden durch solche der Gewalt abgelöst und umgekehrt. Metamorphose(n) wirken als Gestaltprinzip eines zugleich unwillkürlichen und kontrollierten Denkens, das im Zeichen von Traum und Wahnsinn steht.25 Am Schluss des Romans wird die Großstadt als transitorischer Raum, als Ort des Zufalls in Szene gesetzt. Das sechste Kapitel beginnt mit der Situation des Flaneurs, eine Großstadtszene, wie sie auch den Film von Ozon eröffnet. Was Ozon mit filmischen Mitteln in Szene setzt, das Eintauchen Sarahs in ihre eigene Fiktion, umschreibt Ostermeier mit folgenden Worten: Ich sah heute morgen im Traum eine hübsche Straße. Ihren Namen vergaß ich, aber die Schulterblätter der Frau, die dort ging, glichen deinen. […] Gilles mußte Teil des Films werden, den er schrieb, der unbekannte Täter, den keiner findet, der im Schatten wartet, der 22 Ebd., S. 44f. 23 Vgl. Bouhours: „Das Unbewusste im Film“, S. 405. 24 Vgl. dazu Spies: „Einführung“, S. 17. 25 Vgl. die Analogien zur Bildwelt der Surrealisten bei Steinhauser, „Prolegomena zur surrealistischen Programmatik und Bildwelt“, S. 381-386, besonders S. 382f.
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Schlagschatten zwischen den Schnitten. […] Gilles schloß die Augen, war das Kameraauge.26 Wie Sarah Morton befindet sich auch Gilles in einer Schaffens- und Identitätskrise. Was er schreibt, ist zwischen Wachen und Traum angesiedelt, ohne eine Grenze zwischen den Bereichen ziehen zu können. Die reale Topografie wird in eine imaginäre transformiert. Die letzte Seite des Romans spiegelt das Motiv des Fensters. Ist es bei Ozon der Blick Sarahs aus dem Fenster auf Julie/Julia, die Gegenschuss-Aufnahme aus der Perspektive der beiden Mädchen auf sie, wie sie im offenen Fenster lehnt und den Mädchen zuwinkt, so ist es das sich schließende Fenster, das im 32. Kapitel von Ostermeiers Roman zugleich das Ende der Fiktion markiert: – Hörst du nicht, wie der Wind gegen das Fenster schlägt? – Noch ein Satz. Der Eisregen fällt gefrorenen Tränen gleich aus dem Himmel, dessen Azur dem Schwarz der Nacht weichen mußte. – Mir ist kalt. Bitte schließ das Fenster. – Noch ein Wort. FIN27
Literaturverzeichnis Althen, Michael: „Nachwort“, in: Ostermeier, Albert: Polar, Frankfurt a.M. 2006, S. 135-139. Bouhours, Jean-Michel: „Das Unbewusste im Film“, in: Spies, Werner (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944. Die surrealistische Revolution, Ausstellungskatalog, Paris Centre Pompidou, Düsseldorf K20, Ostfildern-Ruit 2002, S. 403-407. Breton, André: Nadja, Paris 1998. Chénieux-Gendron, Jaqueline/Vadé, Yves (Hrsg.): Pensée mythique et surréalisme, Arles 1996. Dictionnaire du cinéma mondial: Mouvements, écoles, courants, tendances et genres, hrsg. v. Alain und Odette Virmaux, Paris 1994, S. 600-614. Ferran, Florence: Le surrealisme, Paris 2000. Gilles Deleuze: „Über das Bewegungs-Bild“, in: Unterhandlungen, Frankfurt a.M. 1993, S. 70-85. (zuerst veröffentlicht in Cahiers du cinéma, Nr. 352, Oktober 1983).
26 Ostermeier: Zephyr, S. 31. 27 Ebd., S. 222.
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Gilles Deleuze: „Zweifel am Imaginären“, in: Unterhandlungen, Frankfurt a.M. 1993, S. 92-100. (zuerst veröffentlicht in Hors-cadre, Nr. 4, 1986). Kritik Deutschlandradio Kultur, 24.04.2008, in: http://www.dradio.de/ dkultur/sendungen/kritik/774773/ (25.08.2008). Lukian: „XIV. Unglücklicher Tod des schönen Hyazinthus“, in: Sechs und zwanzig Göttergespräche. Lucianus von Samosata. Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C.M. Wieland. Zweiter Theil. Leipizig 1788, S. 116. Ostermeier, Albert: Zephyr, Frankfurt a.M. 2008. Ostermeier, Albert: „l’aîné des ferchaux“, in: Polar, Frankfurt a.M. 2006, S. 23f. Ostermeier, Albert: „La piscine“, in: Polar, Frankfurt a.M. 2006, S. 47f. Ostermeiner, Albert: „pas d’espoir“, in: Polar, Frankfurt a.M. 2006, S. 17f. Rousseau, Pascal: „Magnetischer Eros: Der Surrealismus unter Hypnose“, in: Spies, Werner (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944. Die surrealistische Revolution, Ausstellungskatalog, Paris Centre Pompidou, Düsseldorf K20, Ostfildern-Ruit 2002, S. 389-397. Sartre, Jean-Paul: Was ist Literatur?, Hamburg 1958. Spies, Werner: „Einführung“, in: ders. (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944. Die surrealistische Revolution, Ausstellungskatalog, Paris Centre Pompidou, Düsseldorf K20, Ostfildern-Ruit 2002, S. 15-40. Steinhauser, Monika: „Prolegomena zur surrealistischen Programmatik und Bildwelt“, in: Spies, Werner (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944. Die surrealistische Revolution, Ausstellungskatalog, Paris Centre Pompidou, Düsseldorf K20, Ostfildern-Ruit 2002, S. 381-386. Wehdeking, Volker: Generationenwechsel: Intermedialität in der deutschen Gegenwartsliteratur, Berlin 2007.
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Der Traum vom Surrealismus bei Švankmajer und Gondry Zwei mäßig bekannte Filmemacher treffen aufeinander: Der eine ist ein Revolutionär der zweiten Stunde – der andere eine postmoderne Erscheinung, die dem intellektuell angehauchten Publikum gibt, wonach es verlangt und nur auf diese Weise in Hollywood Fuß fassen konnte. Beide können sich in ganz unterschiedlichem Maße und unter verschiedenen Vorzeichen als direkte ‚Nachkommen‘ der Surrealisten feiern lassen. Švankmajer ist als Protagonist des „Prager Frühlings“ Teil einer der letzten europäischen Revolutionsbewegungen. Seine Filme strahlen die damit verbundenen existentiellen Fragen bis heute aus und bleiben auf diese Weise reine Kunstprodukte. Michel Gondry dagegen kann auf eine beachtliche Karriere im Film- und Musikvideogeschäft zurückblicken und wählt doch immer wieder diesen verschrobenen tschechischen Surrealisten zum ästhetischen Vorbild. Nun könnte man dementsprechend Švankmajer eher aus dem Blickwinkel des historisch-politischen Surrealismus betrachten und Gondry als Gegenpol und Nachahmer unter einem rein ästhetischen Blickwinkel.1 Schließlich zeichnet sich Švankmajer allein durch seine Biographie eher durch die Nähe zur politischen Bewegung des Surrealismus aus, während Gondry zu der Generation der ‚Spaßgesellschaft‘ zu zählen ist, die noch nie Krieg oder Unterdrückung erlebt hat und scheinbar ahnungslos die ansprechenden Bilder des Surrealismus wiederverwertet. In der folgenden Analyse wird sich zeigen, dass eine solch klare Trennung in diesem Fall problematisch ist.
Švankmajer und der historische Surrealismus Die historisch-politische Richtung innerhalb der Epochendiskussion betrachtet den Surrealismus vor allem in Bezug auf das Ziel der „Revolution“ als politisch-gesellschaftliche Umwälzung. In Deutschland wurde diese Perspektive durch Benjamin, Adorno, Bürger2 begründet und schlägt sich bis heute in
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Vgl. zu dieser Unterteilung die Einleitung dieses Bandes.
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Bürger sieht auch in seinem späteren Werk, Das Altern der Moderne, den Kunstbegriff nicht ohne Grund als „radikal historisch“ (vgl. S. 194).
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kritischen Auseinandersetzungen nieder.3 Grundsätzlich ist es unter diesem Blickwinkel notwendig, die surrealistische Bewegung historisch eng einzugrenzen.4 Eine ‚Wiederbelebung‘ des Surrealismus wäre dann nur innerhalb einer nachträglichen Revolutionsbewegung wie im angesprochenen Mai ’68 oder im „Prager Frühling“, möglich. Die Ästhetik des Surrealismus wird in diesem Fall nur in direktem Zusammenhang mit der Politik betrachtet. Für Švankmajer und seine Künstlerkollegen ist eine solche Engführung von Kunst und politischer Alltagsrealität, wie sie im Surrealismus prinzipiell angelegt ist, von existentieller Bedeutung. Die tschechischen Surrealisten der Nachkriegsgeneration lebten im Gegensatz zu Breton und seiner Gruppe oder den Revolutionären des Mai ’68 unter tatsächlicher Repression, Zensur und letztlich Diktatur durch das sowjetische Regime. Daraus entsteht naturgemäß eine andere Auffassung von Surrealismus als sie Breton und seine Gruppe trotz ihres politischen Engagements im Paris der 1920er/30er Jahre vorlebten. Švankmajer selbst gehört auch in Tschechien bereits zur zweiten Generation der Surrealisten. Die von ihm mitgegründete „Karel-Teige-Gesellschaft“ ehrt als Vorbild den Mitbegründer der ersten tschechischen Surrealistengruppe von 1934. Das einzige tschechische Mitglied der bretonschen Gruppe war die Künstlerin Toyen alias Marie þermínová, die zwar ebenfalls die erste tschechische Surrealistengruppe mitbegründete, aber 1947 endgültig nach Paris auswanderte und schon vorher mehr in Frankreich bewirken konnte.5 Švankmajer stellt, auch im Gegensatz
3
Vgl. Asholt/Siepe (Hrsg.): Surréalisme et politique; Ehrlicher: Die Kunst des Zerstörens. Auch anlässlich der Ausstellung „Surrealismus 1914-1944. Die surrealistische Revolution“, die Werner Spies 2002 in Paris und Düsseldorf kuratierte, wurde heftig diskutiert, ob es sich dabei um eine Ästhetisierung der Revolution handele und die zeitliche Begrenzung nicht recht willkürlich gewählt sei: vgl. dazu vor allem Le Brun: „Surrealismus. Die usurpierte Revolution“.
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Beispielsweise von den ersten regelmäßigen Treffen der surrealistischen Gruppe am Beginn der 1920er Jahre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der endgültigen Auflösung. Breton versammelte zwar bis zu seinem Tode 1966 weiterhin wechselnde Künstler zu surrealistischen Ausstellungen, aber von fester Bewegung kann man nicht mehr sprechen. Bürger nennt als Ende des Surrealismus und sämtlicher Avantgarden den zweiten Weltkrieg (vgl. ders., Das Altern der Moderne, S. 188). Den Mai ’68 sieht er als scheinbar letzte Chance zur Umsetzung der surrealistischen Idee, die aber zum einen nicht zum gewünschten Ergebnis führte und zum anderen rückblickend bereits eine Wiederaufnahme des Surrealismus als „historisches Phänomen“ darstellte. Damit hat der Surrealismus in Bürgers Augen die ‚tödliche Musealisierung‘ erfahren: „the Surrealist movement came to an end, became history and its meaning for the present could also be questioned.“ (Bürger: „Readings of Surrealism 1968-1998“, S. 32).
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Dennoch betont Schlegel zu Recht, dass es einen regen Austausch zwischen den international ausgerichteten Franzosen um Breton und der tschechischen Avant-
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zu diesen ersten tschechischen Surrealisten, den politisch-gesellschaftlichen Aufruf immer in den Vordergrund.6 In seinen Filmen lässt sich zumeist eine Art von ‚Moral‘ ausmachen, die zwar subversiv ist und mit surrealistischer Ästhetik operiert, letztlich aber doch einen direkten Appell an die Menschlichkeit beinhaltet. Auch nach der Wende und dem Ende der sowjetischen Diktatur behält Švankmajer seinen appellativen Charakter bei, so z.B. in Food (1992), „wo es in drei surrealen Schockszenen um jene abstumpfende Gleichmacherei der Konsumgesellschaft geht, die die Menschen zu geist- und phantasielosen Automaten […] verkrüppelt.“7 Thematisch ähnliche Ansätze findet man ebenso in Buñuels Le Charme discret de la bourgeoisie (1972) wie in Jeunets Delicatessen (1991) – beide Filme sind der Tradition einer surrealistischen Ästhetik verpflichtet, haben aber eine weniger klare ‚Botschaft‘ als Švankmajers Filme.
Abbildung 1: Jan Švankmajer: Food, 1992, Screenshot
garde gab, vgl. Schlegel: „Subversionen des Surrealen in mittel- und osteuropäischen Filmen“, S. 9. 6
Švankmajer tritt erst 1970 der surrealistischen Gruppe in Prag um deren theoretischen Anführer Vratislav Effenberger bei. Michael O’Pray nennt als Motivation Švankmajers und der ganzen Gruppe die Repressionen durch die Sowjetunion seit 1968 (vgl. ders., „Jan Švankmajer: a mannerist Surrealist“, S. 48). Dezidiert grenzt sich die Gruppe von einer „Lesart des Surrealismus als ästhetische Kategorie“ ab, wie Wagner betont (vgl. dies.: Nähte am Puppenkörper, S. 207).
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O’Pray: „Jan Švankmajer: a mannerist Surrealist“, S. 26.
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Es kann allerdings nicht darum gehen festzulegen, welche der nachfolgenden Produktionen einen ‚richtigen‘ und welche einen ‚falschen‘ Surrealismus abbilden. Es zeigt sich hier jedoch das Problem einer historisch-gesellschaftlichen Definition des Surrealismus. Engt man den Surrealismus auf die Parole der Zusammenführung von Kunst und Leben ein, entstehen Werke wie diejenigen Švankmajers, die mithilfe einer surrealistischen Ästhetik eine bestimmte politisch-gesellschaftliche Botschaft übermitteln möchten. Švankmajer kann sozusagen die vorhandenen Bilder und Verfahrensweisen des Surrealismus benutzen, um sein Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Damit belebt er ohne Zweifel den Surrealismus neu und steht scheinbar gleichzeitig in der revolutionären Tradition, die ihn historisch einbettet. Dennoch, so meine These, handelt es sich nicht mehr um Surrealität, wenn realpolitische Dichotomien von „gut“ und „böse“ entsprechend bestätigt werden und sich daraus eine Handlungsanweisung für die Betrachter ergibt. Das ist bei Weitem nicht in allen Werken Švankmajers der Fall und generell nachvollziehbar durch die existentielle Notwendigkeit des Protests, aber doch eine ‚Verwendung‘ des Surrealismus und seiner Ästhetik, die sich von der kommerzialisierten Etikettierung gar nicht so sehr unterscheidet und mit der „surrealistischen Idee“ nur noch das Äußere gemein hat.
Švankmajer jenseits seiner politischen Appelle Bei aller notwendigen gesellschaftskritischen Ausrichtung des švankmajerschen Werkes und dem klaren politischen Engagement der tschechischen Surrealisten lassen sich die Filme Švankmajers auch als ein intermediales Experimentieren mit dem Medium Film8 und als ein Vorstoß in die Surrealität ‚lesen‘. Durch seine typische und einzigartige Verwendung des Puppenspiels und der Stop-Motion-Technik aus dem Trickfilm gelingt Švankmajer gleichzeitig ein synästhetisches Kinoerlebnis sowie die surrealistische Verfremdung der Realität.9 Die Materialien, die Švankmajer für seine Filme verwendet, haben einen hohen Grad an Taktilität. Wenn er Gesichter aus Alltagsgegenständen oder Lehm baut und diese in Nahaufnahme abfilmt, haben die Zuschauer das Gefühl, die Materialien spüren zu können, weil sie ihnen zum einen vertraut sind 8
Vgl. die Überlegungen zum Thema „Medienexperiment“, die während der Tagung Surrealismus und Film von Nicola Glaubitz und Jochen Venus diskutiert wurden: Glaubitz: „Medienexperimente nach den Avantgarden“ und Venus: „Kontrolle und Entgrenzung“.
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O’Pray sieht darin eine Verbindung zwischen Manierismus und Surrealismus, die sich in die Filme Švankmajers einschleiche, obwohl dieser selbst das Manieristische ablehne, vgl. ders.: „Jan Švankmajer: a mannerist Surrealist“, S. 57.
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und zum anderen von der Oberfläche her zur Berührung reizen. Im Puppenspiel erscheinen die kleinen Dinge, aus denen die Puppe und ihre Umgebung gebaut sind, durch die Kameraeinstellung sehr groß. Die Betrachter werden gezwungen, die Details der Materialien wahrzunehmen und sehen förmlich den Entstehungsprozess dieser zusammengebastelten Welt vor Augen. Wir sehen außerdem eine künstliche, ganz andere Welt, die aber nicht fantastisch-irreal, sondern surreal ist, weil sie vom Gebrauchsgegenstand, dem objet trouvé und seinem Material ausgeht. Produktionsästhetisch sowie thematisch kann man Švankmajers Filme demnach als durchweg surrealistisch bezeichnen, geht es ihm doch auch um den fragmentierten, verfremdeten Körper, kannibalistische Elemente, die kindlichen Albträume und Fantasien sowie die Entstehung des Wunderbaren aus dem Alltäglichen. Mehr noch als die Surrealisten nutzt Švankmajer dabei die Möglichkeiten des Films, indem er die Tricktechnik erweitert. Trotzdem scheinen die Filme aus einer anderen Zeit zu stammen, da Švankmajer für seine Puppen Vorbilder aus dem 17. Jahrhundert wählt (z.B. in Punch and Judy [1966] und Don Juan [1970]).
Abbildung 2: Jan Švankmajer: Punch and Judy, 1966, Screenshot10
10 In Punch and Judy wird außerdem eine Collagentechnik verwendet wie man sie vor allem bei Max Ernst findet: Der Sarginnendeckel ist ebenso wie das Haus des Kas-
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O’Pray sieht darin eine Parallele zu dem Modell der Ruine bei Breton und Aragon.11 Das Alte, Nutzlose, Überlebte funktioniert dabei wie die Eindrücke aus Benjamins Passagen als „Dialektik im Stillstand“: ein Aufblitzen des „Jetzt“ im „Gewesenen“,12 das uns gleichzeitig die Geschichte dieser alten Puppen erzählt und zahlreiche Verbindungen zur Gegenwart ermöglicht. Sei es die Puppenhaftigkeit des modernen Menschen zu zeigen, der hier im Film durch eine alte Puppe ersetzt wird. Sei es die unheimliche Belebung des Puppenkörpers, die im Film noch zusätzlich gesteigert werden kann.13 Diese und zahlreiche andere Möglichkeiten eröffnet Meike Wagner in ihrer hervorragenden Untersuchung zu Švankmajers Faust (1994), die damit schließt: „Der švankmajersche Körper stellt nicht einen bestimmten Körper dar, er ist eine Serie von Körperbildern, die aktualisiert werden im Spiel.“14 Eine Einschränkung dieser Deutungsmöglichkeiten, wie sie beispielsweise von O’Pray, Schlegel oder Schneider-Quindeau und vor allem von Švankmajer selbst in seinen politischen Äußerungen vorgenommen wird,15 bedeutet letztlich eine Abwendung vom Surrealismus dieser im Grunde zutiefst surrealistischen Filme.
Gondry und der ästhetische Surrealismus Bei der Frage, was uns der Surrealismus heute noch zu sagen hat, kommt man mit einer historisch-politischen Perspektive nicht weiter. Die Revolution und der Surrealismus scheinen längst begraben. Es gibt keine Tabus mehr, die es zu brechen lohnt. Die bürgerlich-kapitalistische Scheinwelt, gegen deren Konvention sich die Surrealisten der ersten Stunde auflehnten, ist längst selbst so ‚surrealistisch‘-multireal, dass es keine Verfremdung der Realität zu geben scheint, pers mit Zeitungsausschnitten beklebt, die einen ähnlichen Effekt wie die Verwendung der alten Puppen haben. Vgl. dazu von Max Ernst beispielsweise La femme 100 têtes (1929); vgl. dazu auch die Analysen von Werner Spies: Max Ernst – Collagen, und den Beitrag von Monika Schmitz-Emans in diesem Band. 11 O’Pray: „Jan Švankmajer: a mannerist Surrealist“, S. 65. 12 Vgl. Benjamin: Passagen-Werk, I, S. 576-577. 13 Vgl. zu weiteren Puppenkörpern und deren surrealistischer Ästhetik den Beitrag von Sigrid Schade in diesem Band. 14 Wagner: Nähte am Puppenkörper, S. 227. 15 Vgl. O’Pray.: „Jan Švankmajer: a mannerist Surrealist“, Schlegel: „Subversionen des Surrealen in mittel- und osteuropäischen Filmen“, Schneider Quindeau: „Surrealistische Körperinszenierung las Zivilisationskritik“ und Švankmajer im Interview mit dem ORF: http://www.orf.at/031105-67188/67201txt_story.html, 12.03.2007.
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die nicht bereits erfunden wurde. Die Fähigkeit surrealistischer Werke, die Aufmerksamkeit der Betrachter dadurch zu wecken, dass sie zwar aus dem Alltag entstehen, aber doch in unheimlicher Weise aus ihm herausstechen, bietet sich für eine Kommerzialisierung geradezu an, ist doch die Aufmerksamkeit des potentiellen Käufers eines der kostbarsten Güter auf dem Markt der medialen Angebote. Von politischen und historischen Begleiterscheinungen entledigt, lässt sich das surrealistische Erbe auf seine Ästhetik reduziert nutzen, um mit außergewöhnlichen Bildern, Assoziationen und Verknüpfungen des Disparaten auf sich aufmerksam zu machen.16 Unter diesem Verdacht stehen zunächst auch die Videoclips und Filme Michel Gondrys, der in Science of Sleep (2006) surrealistische Traumwelten nachbildet oder im Björk-Video „All is full of Love“ (1999)17 die Puppenkörper Bellmers zitiert. Nun ist es keineswegs ungebührlich, in der Kunst ebenso wenig wie im Kommerz, jemanden zu zitieren oder zu kopieren. Es kann sogar, wie bei vielen surrealistischen Werken der Fall, besonders anregend sein, gleichzeitig etwas Neues zu schaffen und auf frühere Traditionen des Manierismus, des Unheimlichen und Grotesken zu verweisen.18 Unter den Surrealisten laviert vor allem Salvador Dalí zwischen Kunst und Kommerz und wird dafür folgerichtig von Breton als Avida Dollars geneckt. Dass es sich bei seinen Ausflügen nach Hollywood und in die Modewelt um die konsequente Weiterführung seines Kunstprinzips handelt und es ihm gelingt, zumindest insoweit seine paranoisch-kritische Methode einzubringen, wie es sein Einfluss dort gestattet, zeigen aktuelle Studien.19 Die entscheidende Frage ist, wo die Grenze zwischen kommerziellem Ästhetizismus und einer Ästhetik des Surrealen liegt. Eine solche Ästhetik zu bestimmen, bedeutet zunächst einmal Kriterien und Beschreibungen aufzustellen. Dazu kann man die bekannten Verfahren wie écriture automatique oder 16 Dieser Vorwurf würde sich an die Argumentation Peter Bürgers anschließen. 17 Vgl. dazu Schuhen: „Künstliche Seele oder ‚What it feels like for a machine‘“ und Keazor/Wübbena: Video thrills the radio star. Auch im ersten Björk-Video „Human behaviour“ (1993) zitiert Gondry bereits surrealistisch-kindliche Albträume in Švankmajer-Manier. 18 Die Surrealisten erkennen damit den wiederholenden (Erfolgs-)Charakter der Kunst, den Hans Holländer mit seiner „ars inveniendi et investigandi“ beschreibt und der von Jochen Venus als Phänomen seit Mitte des 18. Jahrhunderts ausgemacht wird: „Zugleich ist der Erfolg eines jeden ästhetischen Seltenheitsmoments Anlaß, ihn zu kopieren.“ (Venus: „Kontrolle und Entgrenzung“, S. 32). 19 Vgl. die Beiträge von Saéz-Mateu, Amossy, Stahl, Minguet, Joseph-Lowery und von Hagen in: Maurer Queipo/Rißler-Pipka (Hrsg.): Dalís Medienspiele. Die Grenzen des dalíschen Einflusses zeigen Projekte wie der Hitchcock-Film Spellbound (1945). Vgl. auch den Beitrag von Gregor Schuhen in diesem Band.
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cadavre exquis heranziehen, die aber ohne den surrealistischen Kontext reine Kreativspiele bleiben und heute vor allem in der Netzliteratur weitergedacht werden.20 Für den Film hat Michael Lommel versucht, Ansätze solcher Kriterien einer Ästhetik des Surrealen zu benennen.21 Sie kennzeichnet sich vor allem als Gegenbewegung zur gewohnten Chronologie und Logik der Handlungen und des Sichtbaren – gepaart mit direkten Zitaten aus dem historischen Surrealismus. Ob es sich dabei noch um Kunst des Surrealismus handelt oder bereits um Kommerz, entscheidet letztlich die Wirkung auf die Zuschauer. Hat der Film noch das Potential zu verstören, d.h. im surrealistischen Sinne in die Sicherheit der vertrauten Realität einzubrechen? Daraus müsste man folgern, die vielfach in der Kritik als „surrealistisch“ eingestuften Filme, wie beispielsweise Le fabuleux destin d’Amélie Poulain (2001)22 von Jeunet oder eben auch Gondrys Science of Sleep, können trotz ihrer eindeutigen Wiederaufnahme von Verfahrensweisen des Surrealismus nicht einer Ästhetik des Surrealen zugeordnet werden. Wenn man bei Gondry auch weniger beschwingt aus dem Kino tritt als bei Jeunet, so erlaubt die Geschichte doch eine Erklärung für die surrealen Traumphantasien Stéphanes im schlichten psychopathologischen Sinn: Stéphane verarbeitet so den Tod seines Vaters und die kulturelle Differenz zwischen Mexiko und Frankreich. Zu sehr ähneln die Traumsequenzen auch den Fantasien eines naiven, verliebten Jungen. Im Gegensatz zu Švankmajer, der sich wie die Surrealisten auf die dunkle Seite der Kindheit mit ihren Albträumen und Gewaltfantasien konzentriert, wird Gewalt bei Gondry eher zum comicartigen Witz, wie der Karatekampf mit dem Kollegen im Kalenderverlag (vgl. Abb. 3). Auch die autobiografische Note des Films, die Gondry im Interview selbst bestätigt und Stéphane als sein alter ego preisgibt,23 in dem er sein schüchternes, träumendes, jugendliches Selbst verwirklicht, trägt nicht unbedingt zum Anschluss an den Surrealismus bei.
20 Vgl. die Forschungen von Gendolla/Schäfer (Hrsg.): The Aethetics of Net Literature, u.a., vgl. auch „Die Surrealisten und der Blog“ unter: http:// buchgeburt.de/2008/09/15/die-surrealisten-und-der-blog/, 29.09.2008. 21 Vgl. Lommel: „Einleitung“, S. 11f. 22 Vgl. von Hagen: „Spielformen des Surrealen in Jean-Pierre Jeunets Kinowelt“. 23 Vgl. Gondry im Interview unter http://www.pixelsurgeon.com/interviews/ interview.php?id=254, 28.10.2008.
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Abbildung 3: Michel Gondry: Science of Sleep, 2006, Screenshot
Gondrys früher Kurzfilm La lettre (1998) bereitet den späteren Science of Sleep vor. Hier ist die Stéphane-Figur tatsächlich erst 12-13 Jahre alt und heimlich in ein gleichaltriges Mädchen verliebt. Der Junge lebt seine Angst-Fantasien und Wünsche ebenfalls nur im Traum aus, während er in der Realität wie der Stéphane aus Science of Sleep von der Liebe enttäuscht wird. Der filmische Ideenreichtum, der sich in S/W-Ästhetik und transformierten Körpern niederschlägt (Stéphane hat im Traum statt eines Kopfes eine Kamera, seine Angebetete Aurélie ist ein wandelndes Negativ-Foto), erinnert durchaus an die Ästhetik der Surrealisten. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass man bei Gondry sowohl in La lettre wie in Science of Sleep jederzeit genau weiß, ob es sich gerade um eine Traumszene oder eine Szene aus der Realität handelt. Eben diese Sicherheit der Unterscheidung nehmen surrealistische Werke. Die Surrealität mag sich im Traum offenbaren, ist aber gerade nicht auf ihn beschränkt, sondern schleicht sich in die alltägliche Wahrnehmung, wo jeder Blick aus dem Fenster die ungewöhnlichsten Dinge offenbaren kann. Als Fantast, der sich auf die Möglichkeiten des Kinos besinnt und sie mit kindlichem Gespür austestet, hat Gondry seine eigene Ästhetik geschaffen, aber ob diese surrealistisch genannt werden kann, ist fraglich. Michel Gondry ist vielleicht der letzte Fantast des Kinos. Ihm geht es im Grunde um nichts anderes als das Aufzeigen des Unzeigbaren: die
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Windungen des Hirns, das innere Auge. Das ist der heimliche rote Faden seines Oeuvres [sic!].24 Vielleicht zieht man aber die Grenze auch zu eng, wenn man die Kriterien einer Ästhetik des Surrealen vom Surrealismus selbst herleitet und damit alle Werke, die sich verkaufen müssen und wollen, per se ausschließt, weil sie es sich nicht leisten können, die Zuschauer zu erschrecken und zu befremden – sie in den Grundfesten ihrer Wahrnehmung zu erschüttern. Breton selbst sah dies offenbar nicht so streng, wenn er in seiner kurzen „Note sur le Cinéma“ als entscheidende Gemeinsamkeit zwischen surrealistischen Filmen wie L’Âge d’or (1930) und Massenpublikumserfolgen wie King Kong (1933) oder Peter Ibbetson (1935) Folgendes schreibt: Toutes ces œuvres répondent à une mesure commune, décrivent une même trajectoire, la seule qui sous-tende le progrès humain dans le domaine affectif comme les autres, témoignent de cette seule certitude qu’en art il faut partir de l’irrationnel pour en faire du réel.25 Ebenso wie Breton in der Literatur den Surrealismus überall dort vermutet, wo das Irrationale, Fantastische und Wunderbare aufscheint (z.B. bei Poe, Baudelaire, Swift, de Sade, Chateaubriand, Hugo, etc.)26, ist es der TraumCharakter des Filmes selbst,27 der im Irrationalen die eigentliche Realität offenbart. Denn wir sollten nicht vergessen, dass sich die Surrealisten keineswegs von der Realität abwenden, sondern im Gegenteil in der Surrealität eine Form von absoluter Realität entdecken.28 All jene Bereiche, die unsere alltägliche Wahrnehmung aus Gewohnheit, Angst und Pragmatik ausblenden muss, sollen durch den offenen Blick auf das Surreale wieder sichtbar werden.
24 Peter Zander unter: http://www.welt.de/kultur/article1861632/Michel_Gondry_ gibt_dem_Kino_einen_neuen_Dreh.html, 22.10.2008. 25 Breton: „Note sur le Cinéma“, S. 1263. 26 Vgl. Breton: Manifestes du surréalisme, S. 37f. 27 Vgl. dazu vor allem Volker Roloff: „Zum Surrealismus in italienischen und französischen Filmen“. 28 Den Surrealisten ist wohl bewusst, dass dies insofern unlogisch ist, als die Realität von ihrer Definition her bereits einen Absolutheitsanspruch inne hält und daher nicht von etwas anderem ‚überboten‘ werden kann.
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Zu den Autorinnen und Autoren Justyna Cempel, Studium der Fächer Englisch und Französisch auf Lehramt Sekundarstufe I/II in Siegen und Tours. Studentische Hilfskraft an den Lehrstühlen für französische Literatur und Linguistik (Universität Siegen). Seit August 2005: wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für französische Literatur und im Teilprojekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche (Universität Siegen). Promotionsprojekt zu Catherine Breillat. Veröffentlichungen zu Themen des Surrealismus im Film und französischer Gegenwartsliteratur. Peter Gendolla, Promotion 1979 in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft an der Universität Marburg/L. mit der Arbeit Die Konstruktion und Zerstörung der automatischen Puppe. Zur Geschichte des Maschinenmenschen und seiner literarischen Gestalt bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. Habilitation 1987 an der Universität Siegen in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft/ Allgemeiner Literaturwissenschaft mit der Arbeit Phantasien der Askese. Über die Entstehung innerer Bilder am Beispiel der „Versuchung des hl. Antonius“. 1987-1992 Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft/Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; 1992-1993 Vertretung für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhruniversität Bochum. Dort 1993-1995 Lehrstuhlvertretung Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Seit 1996 Stiftungsprofessur „Literatur-KunstNeue Medien und Technologien“ an der Universität Siegen. Im SoSe 2000 Gastprofessor am Institut für Technikphilosophie der Universität Stuttgart zum Thema „Theorie und Geschichte der Simulation“. Seit 2000 Leitung des Universitätsverlags Siegen UniVerSi. Sprecher des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche der Universität Siegen. Jüngste Veröffentlichungen: The Aesthetics of Net Literature (hrsg. mit J. Schäfer) Bielefeld 2007; Beyond the screen (hrsg. mit J. Schäfer) (im Druck); Akteur-Medien-Theorie (hrsg. mit G. Schüttpelz, T. Thielmann) (im Druck); homepages: http://www. digitalaesthetics.org; http://www.likumed.uni-siegen.de; http://www.litnet. uni-siegen.de. Kirsten von Hagen, Studium der Komparatistik, Romanistik, Anglistik und Germanistik in Bonn, Oxford, Reims. Stipendiatin am Graduiertenkollleg „Intermedialität“ der Universität Siegen. Dissertation zum Thema Intermediale Liebschaften: Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses, Tübingen 2002. Lehre an den Universitäten Bonn, Salamanca und Siegen. Vertretung der Juniorprofessur „Geschichte und Theorie der Bildmedien“ an der Bauhausuniversität Weimar (2004/05). Habilitation im Rahmen eines LiseMeitner-Habilitationsstipendiums an der Universität Bonn (2006/07): „Insze-
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Zu den Autorinnen und Autoren
nierte Alterität: Zigeunerfiguren in Literatur, Theater, Oper und Film im 19. und 20. Jahrhundert“. Venia für Romanische und Vergleichende Literaturwissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Poetik des Briefromans, Intermedialität, v.a. die Relation Literatur/Film/Theater, Paratexte, Performativität, Alterität, Medienumbrüche und Fragen des Medienwechsels. Seit August 2006 FeodorLynen-Stipendiatin der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an der Pariser Sorbonne. Veröffentlichungen: Proustiana XXIV. ‚Ein unerhörtes Glücksgefühl...’ (hrsg. mit C. Hoffmann, V. Roloff) Frankfurt a.M. 2006; Intermediale. Festschrift zu Ehren von Franz-Josef Albersmeier, (hrsg. mit C. Hoffmann) Bonn 2007; außerdem Beiträge zu Cervantes, Mérimée, Laclos, Proust, Ophüls, Chaplin, Godard, Saura, Jean-Pierre Jeunet und Alejandro Amenábar. Susanne Klengel, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Professorin für spanische und portugiesische Kulturwissenschaft und Lateinamerikanistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim. Forschungsschwerpunkte: Kulturen und Literaturen Lateinamerikas, Geschichte der Avantgarden, Literaturen in Grenzräumen, Migration und kultureller Diskurs, Intellektuellengeschichte, kulturelle Übersetzung. Neueste Veröffentlichungen: Kultur, Übersetzung, Lebenswelten. Beiträge zu aktuellen Paradigmen der Kulturwissenschaften, Würzburg 2008 (hrsg. mit A. Gipper); Das Dritte Ufer. Vilém Flusser und Brasilien. Kontexte – Migration – Übersetzungen, Würzburg 2009 (hrsg. mit H. Siever); Kritischer Universalismus. Lateinamerikanische Intellektuelle in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg: Beobachter und Akteure (in Vorbereitung). Jürgen Link, Studium deutscher und romanischer Sprachen und Literaturen in Göttingen, Caen und München; 1968 in der Bewegung engagiert; danach Assistent (deutsche Literaturwissenschaft) an der Ruhr-Universität Bochum; Forschung und Lehre auf der Basis der „neuen Ansätze“: strukturalistische Theorie der Kollektivsymbolik, Diskurstheorie nach Foucault; Forschung und Lehre zur „alternativen Klassik“, besonders Hölderlin und Schiller. 1980-1992 Prof. in Bochum, 1992/1993 Gastprof. in Paris-VIII (Saint-Denis), 1993-2005 Prof. in Dortmund (2005 pensioniert); DFG-Forschungsprojekte zur nationalen Kollektivsymbolik und zum „Normalismus“; wichtigste Publikationen: Versuch über den Normalismus, Göttingen 32006, Hölderlin-Rousseau: inventive Rückkehr, Opladen/Wiesbaden 1999, Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten RuhrArmee. Eine Vorerinnerung (asso 2008); homepage: http://bangemachen. com. Michael Lommel, Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Germanistik und Philosophie, Promotion (2000) und Habilitation (2006) in Siegen. Gastprofessor für Theorie des Films in Wien und für Vergleichende Literaturwissenschaft in Innsbruck. Zurzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Siegener
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Zu den Autorinnen und Autoren
Forschungskolleg Medienumbrüche. Publikationen (Auswahl): Der Pariser Mai im französischen Kino: 68er-Reflexionen und Heterotopien, Tübingen 2001; Samuel Beckett – Synästhesie als Medienspiel, München 2006; Im Wartesaal der Möglichkeiten – Lebensvarianten und virtuelle Biographien (in Vorbereitung); Sartre und die Medien, Bielefeld 2008 (hrsg. mit V. Roloff); Surrealismus und Film. Von Fellini bis Lynch, Bielefeld 2008 (hrsg. mit I. Maurer Queipo, V. Roloff); homepage: www. michael-lommel.de. Andreas Puff-Trojan, geboren in Wien. Studium der Germanistik, Philosophie und Logik. Universitätslektorate in Budapest und Paris. Privatdozent für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Osnabrück, Lehrbeauftragter u.a. an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Kulturjournalist. Zahlreiche Veröffentlichungen in deutscher und französischer Sprache. Letzte Publikationen: Herausgabe und Kommentierung von: Walter Serner: Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen, Zürich/München 2007; SchattenSchriften. Deutschsprachige und französische Avantgarde-Literatur nach 1945, Wien 2008. Nanette Rißler-Pipka, Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Romanistik und Wirtschaftswissenschaften in Siegen und Orléans. Derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ des Siegener kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche. Dissertation zum Thema Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion, München 2005; Habilitationsprojekt unter dem Arbeitstitel „Passagen zwischen Bild und Text: Picassos Schriften“; Mitarbeit im Online Picasso Project (www.picasso.csdl.tamu.edu/picasso/); weitere Publikationen zu intermedialen Fragestellungen in Filmen der Nouvelle Vague und Jean Renoirs, zur französischen Literatur und Malerei des 19. Jahrhunderts sowie zu Bild-Text-Beziehungen im europäischen Surrealismus. Volker Roloff, Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen, mit Schwerpunkt im Bereich der französischen und spanischen Literatur und der romanischen Kultur- und Medienwissenschaft. Aktuelle Arbeitsbereiche und Forschungsinteressen: Theorie und ästhetische Praxis der Intermedialität; europäische Avantgarden (Schwerpunkt Frankreich und Spanien); Proust und die neuen Medien; französische Theater- und Filmgeschichte. Neueste Veröffentlichungen: Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust, München 2003 (hrsg. mit F. Balke); Die Ästhetik des Voyeur, Heidelberg 2003 (hrsg. mit W. Hülk, Y. Hoffmann); Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003 (hrsg. mit M. Lommel); Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus, Bielefeld 2004 (hrsg. mit U. Felten); Die
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Zu den Autorinnen und Autoren
grausamen Spiele des Minotaure, Bielefeld 2005 (hrsg. mit I. Maurer Queipo, N. Rißler-Pipka); Surrealismus und Film, Bielefeld 2008 (hrsg. mit I. Maurer Queipo, M. Lommel). Sigrid Schade ist seit 2002 Leiterin des Institute for Cultural Studies in the Arts an der Zürcher Hochschule der Künste. Von 1994-2005 war sie Prof. für Kunstwissenschaft und Ästhetische Theorie an der Universität Bremen. Habilitation 1994 zum Thema Körpersprachen in der bildenden Kunst und Fotografie. Promotion 1982 zu Hexendarstellungen der frühen Neuzeit. Neuere Publikationen: Grenzgänge zwischen den Künsten, Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen, Bielefeld 2008 (hrsg. mit J. John); „Is it now?“ – Gegenwart in den Künsten, Zürcher Jahrbuch der Künste, Bd. 3, Zürich 2008 (hrsg. mit S. Adorf, S. G. Fink, S. Schmidt); Inscriptions/Transgressions. Kunstgeschichte und Gender Studies, Bern 2007 (hrsg. mit K. Imesch u.a.), darin: „What Do Bildwissenschaften Want? In the Vicious Circles of Pictorial and Iconic Turns“; SchnittStellen, Basel 2005 (hrsg. mit T. Sieber, G.C. Tholen); „Widersprüche – Mythen der abstrakten Moderne zwischen der ‚Immaterialität‘ der Kunst und der ‚Materialität‘ des Kunsthandwerks“, in: Bauhaus Mythen, Berlin 2009 (hrsg. v. A. Baumhoff, M. Droste); „Zwischen ‚reiner‘ Kunst, Kunsthandwerk und Technikeuphorie. Sonia und Robert Delaunays intermediale und strategische Produktionsgemeinschaft“, in: Katalog der Ausstellung: Robert Delaunay. „Hommage à Blériot“, Kunstmuseum Basel 2008 (hrsg. v. R. Wetzel); „Künstlerbiografik, Künstlermythen und Geschlechterbilder im Angebot. Fallbeispiel Marlene Dumas“, in: Dienstleistung Kunstgeschichte? Emsdetten/Berlin 2008 (hrsg. v. O. Bätschmann u.a.); homepage: http://sigrid. schade.zhdk.ch. Monika Schmitz-Emans, Studium in Bonn (Germanistik, Philosophie, Italianistik, Pädagogik). 1984 Promotion in Germanistik in Bonn (zu Jean Pauls Sprachreflexion). 1992 Habilitation (Schrift und Abwesenheit), venia legendi für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft. 1992 Professur für Europäische Literatur der Neuzeit an der FernUniversität Hagen. 1995 Professur für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsthemen und Veröffentlichungen: Zur allgemeinen Literaturtheorie und Poetik, zu Werk und Poetik einzelner Autoren, zu Beziehungen zwischen Literatur und Philosophie, Literatur und bildender Kunst, Literatur und Musik. Gregor Schuhen, Studium der Romanistik und Anglistik in Siegen und Paris. 2003-2005 Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich 3 (Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaften)
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Zu den Autorinnen und Autoren
der Universität Siegen. 2006-2009 Mitarbeit am DFG-Forschungsprojekt „Macht und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde“, 2005-2006 wiss. Mitarbeiter an der Universität Leipzig (Romanistik). Forschungsschwerpunkte: Französische Literatur vom 18. bis 20. Jhd., Popkultur, klassische Avantgarden, Intermedialität im aktuellen Film. Veröffentlichungen zur genderspezifischen Lektüre von Marcel Proust, zum zeitgenössischen Film, zum Verhältnis von Gender Studies und Popkultur. Dissertation zum Thema Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Proust, Heidelberg 2007; Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, Bielefeld 2004 (hrsg. mit M. Erstiý, T. Schwan); (Post-)Gender. Choreographien/Schnitte, Bielefeld 2006 (hrsg. mit W. Hülk, T. Schwan). Aktuelle Forschungsprojekte: Jugend-Stile 1800/ 1900. Kulturelle, literarische und mediale Konfigurationen eines Schwellenphänomens (Habilitationsprojekt) sowie Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen von Massenmedialität und Marginalität. Eckart Voigts-Virchow, Professor für Anglistik/Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Promotion über Dennis Potter (Gießen 1994); Habilitation über viktorianische Industrieromane und Proto-Science Fiction (Gießen 2003); Schatzmeister der Deutschen Gesellschaft für das englischsprachige Drama und Theater der Gegenwart (CDE); im Advisory Board der Zeitschriften Adaptation (OUP) und Adaptation in Film and Performance (Intellect); Forschungsschwerpunkte: Zeitgenössisches britisches Drama und Theater; viktorianischer und neo-viktorianischer Roman, heritage culture und Literaturadaption, Literatur und Medien, Film- und Fernsehnarratologie. Zuletzt erschienen: Adaptations: Performing across Media and Genres (Mitherausgeber, WVT 2009), The New Documentarism (Mitherausgeber, ZAA 2008) und Introduction to Media Studies (Uni-Wissen, Stuttgart 2005). Michael Wetzel, Professor für Literatur- und Filmwissenschaft am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn; Studium der Philosophie, Germanistik und Erziehungswissenschaft an den Universitäten Bochum und Düsseldorf; Promotion in Düsseldorf mit einer Arbeit über Autonomie und Authentizität (Frankfurt a.M. 1985), Habilitation an der Universität Essen mit einer Arbeit über Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit (München 1999); Lehrtätigkeiten an den Universitäten Kassel, Essen, Mannheim, Innsbruck und Wien; von 1990 bis 1998 directeur de programme am Collège International de Philosophie in Paris; zahlreiche Übersetzungen von Büchern Jacques Derridas; Forschungsprojekte zu Visuellen Medien (Photographie und Film), Gender-Fragen, Autor- und Künstlerbegriffen und zu Marcel Duchamps „inframince“ (im Zusammenhang des For-
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Zu den Autorinnen und Autoren
schungsprojektes „Von der Intermedialität zur Inframedialität“ am SFB „Medien und kulturelle Kommunikation“ der Universitäten Aachen, Bonn, Köln); Weitere Buchpublikationen (in Auswahl): Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift, Weinheim 1990; Die Wahrheit nach der Malerei, München 1997; Derrida, [Grundwissen Philosophie, Stuttgart 2010]; Der Autor-Künstler, [Frankfurt a.M. 2010]. Gerhard Wild, Ordinarius für Romanische Literatur- und Medienwissenschaft an der Goethe-Universität/Frankfurt am Main; Studium der Romanistik, Komparatistik, Altphilologie, Musikologie, Kunstgeschichte, Philosophie und Arabistik in München; Assistent für Romanische Philologie in München und Siegen. Dissertation über den altfranzösischen Lancelotroman „Erzählen als Weltverneinung“ (Essen 1993); Habilitation Paraphrasen der Alten Welt. Interkulturelle Ästhetik im Werk Alejo Carpentiers (Tübingen 2004), Aufsätze zur älteren spanischen und portugiesischen Literatur (Artusepik, Ritterroman), zu ästhetischen Fragen von Manierismus, Fin de Siècle und Postmoderne, zur lateinamerikanischen (Neruda, Asturias, Amado, Sábato, Puig, Soriano) und portugiesischen Literatur (Pessoa, António Pedro, Almada Negreiros), zu Grenzfragen von Literatur und den Künsten (Liszt, Stravinski, Buñuel, Werner Herzog, Manoel de Oliveira), zur literarischen Medienarchäologie (Proust, Cervantes) zur Übersetzungsästhetik, zur literarischen Produktion bildender Künstler der Romania (Dalí, Ernst, Miró, Picasso), zuletzt: „Un segle de poetes-pintors: Katalanische Maler-Dichter im 20. Jahrhundert“, 2009, (hrsg. mit S. Winter); Mitherausgeber der Zeitschrift für Katalanistik und der Buchreihen, Imagines. Studien zur poetischen Einbildungskraft (Heidelberg) und Französische Studien (DEE, Frankfurt); Mitbegründer des VW-Graduiertenkollegs Göttingen „Kanon und Wertung“; Romanistischer Herausgeber der dritten Auflage sowie Koordinator der Online-Aktualisierung des Kindler Literaturlexikons (2005ff.).
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Bildnachweis Dalí, Salvador: La Découverte de l’Amérique par Christophe Colomb, 1958/59. © Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Dalí, Salvador: Corpus Hypercubus, 1954. © Salvador Dalí, Fundació GalaSalvador-Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Dalí, Salvador: Christ de Saint-Jean-de-la-Croix, 1951. © Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/VG BIld-Kunst, Bonn 2009. Duchamp, Marcel: Étant donnés: 1. La chute d’eau, 2. Le gaz d’éclairage, 1946-66. © Succession Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Duchamp, Marcel: Cover der Zeitschrift View. The Modern Magazine. Marcel Duchamp Number, Series V, No.1, New York 1945. © Succession Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Duchamp, Marcel: L.H.O.O.Q., Mona Lisa, 1919. © Succession Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Duchamp, Marcel: Fountain, 1917. © Succession Marcel Duchamp/VG BildKunst, Bonn 2009. Duchamp, Marcel: Die Braut von ihren Junggesellen entbößt, selbst oder Das Große Glas/La mariée mise à nu par ses célibataires, même ou Le Grand Verre, 19151923. © Succession Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Duchamp, Marcel: Drei Normalstopfmaße, (3 Standard Stoppages), 1913-14. © Succession Marcel Duchamp/ VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Duchamp, Marcel: Akt eine Treppe herabsteigend Nr. 2, 1912. © Succession Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Ernst, Max: Une semaine de bonté, 1963. © VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Ernst, Max: …Hoppla! Hoppla! …, [Tafel 32] des Collageromans Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au Carmel, 1930. © VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Ernst Max: die große Ruhe nach den künftigen Morden, [Tafel 91] des Collageromans La femme 100 têtes, 1929. © VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Ernst, Max: Die Jungfrau Maria züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Eluard und dem Maler, 1926. © VG Bild-Kunst/Bonn 2009. Ernst, Max: Au rendez-vous des amis, 1922. © VG Bild-Kunst/Bonn 2009. Iñigo Manglano-Ovalle: Phantom Truck, 2007. Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Documenta und Museum Fridericianum VeranstaltungsGmbH.
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Bildnachweis
Iñigo Manglano-Ovalle: The Radio, 2007. Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Documenta und Museum Fridericianum VeranstaltungsGmbH. Man Ray: Rrose Sélavy, (1920). © Man Ray Trust, Paris/VG Bild-Kust, Bonn 2009. Richter, Gerhard: Betty, 1977. © Gerhard Richter 2009. Stieglitz, Alfred: Fotografie „Fountain“ von Duchamp, 1917, © Georgia O’Keeffe Museum/VG Bild-Kunst, Bonn 2009.
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Medienumbrüche Sigrid Baringhorst, Veronika Kneip, Annegret März, Johanna Niesyto (Hg.) Politik mit dem Einkaufswagen Unternehmen und Konsumenten als Bürger in der globalen Mediengesellschaft 2007, 394 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-648-9
Albert Kümmel-Schnur, Jens Schröter (Hg.) Äther Ein Medium der Moderne 2008, 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-610-6
Rainer Leschke, Jochen Venus (Hg.) Spielformen im Spielfilm Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne 2007, 422 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-667-0
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Medienumbrüche Annemone Ligensa, Daniel Müller (Hg.) Rezeption Die andere Seite der Medienumbrüche Januar 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1026-0
Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hg.) Leitmedien Konzepte – Relevanz – Geschichte, Band 1 November 2009, 352 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1028-4
Jürgen Sorg, Jochen Venus (Hg.) Erzählformen im Computerspiel Zur Medienmorphologie digitaler Spiele Januar 2010, ca. 500 Seiten, kart., ca. 39,90 €, ISBN 978-3-8376-1035-2
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Medienumbrüche Manfred Bogen, Roland Kuck, Jens Schröter (Hg.) Virtuelle Welten als Basistechnologie für Kunst und Kultur? Eine Bestandsaufnahme Februar 2009, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1061-1
Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Mediengeographie Theorie – Analyse – Diskussion Februar 2009, 654 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1022-2
Rainer Geissler, Horst Pöttker (Hg.) Medien und Integration in Nordamerika Erfahrungen aus den Einwanderungsländern Kanada und USA Februar 2010, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1034-5
Rainer Geissler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Band 2: Forschungsbefunde Februar 2009, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1027-7
Marcus Hahn, Erhard Schüttpelz (Hg.) Trancemedien und Neue Medien um 1900 Ein anderer Blick auf die Moderne Februar 2009, 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1098-7
Ingo Köster, Kai Schubert (Hg.) Medien in Raum und Zeit Maßverhältnisse des Medialen Februar 2009, 320 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1033-8
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Volker Roloff (Hg.) Surrealismus und Film Von Fellini bis Lynch 2008, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-863-6
Michael Lommel, Volker Roloff (Hg.) Sartre und die Medien 2008, 228 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-816-2
Isabel Maurer Queipo, Nanette Rissler-Pipka (Hg.) Dalís Medienspiele Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten 2007, 416 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-89942-629-8
Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hg.) Leitmedien Konzepte – Relevanz – Geschichte, Band 2 November 2009, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1029-1
K. Ludwig Pfeiffer, Ralf Schnell (Hg.) Schwellen der Medialisierung Medienanthropologische Perspektiven – Deutschland und Japan 2008, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1024-6
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