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German Pages 264 Year 2015
Ruprecht Mattig Rock und Pop als Ritual
2009-02-05 15-25-24 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02d6201746039848|(S.
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Ruprecht Mattig (Dr. phil.) arbeitet als Assistenzprofessor im Projekt »Revitalizing Education for Dynamic Hearts and Minds« an der Universität Kyoto. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Pädagogische Anthropologie.
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Ruprecht Mattig
Rock und Pop als Ritual Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Photo by L2i.de (Sebastian Klenke), © Photocase 2009 Satz: Ruprecht Mattig Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1094-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Einleitung Zum Zusammenhang von Jugendritualen und populärer Musik Zur pädagogisch-anthropologischen Untersuchungsperspektive 1 Ritual und populäre Musik: Zugänge zu grundlegenden Begriffen Ritual und Magie Afro-amerikanische Gottesdienste als eine Wurzel der Rock- und Popmusik Populäre Musik und Transritualität Die ritualtheoretische Perspektive Ritual und Zauber Das kulturelle Feld der Rock- und Popmusik Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 2 Jugend und Ritual: Kulturanthropologische Konzepte Liminalität, Communitas und Anti-Struktur in traditionellen Jugendritualen Die Entwicklung des Menschen im Wechsel von Struktur und Anti-Struktur Liminalität und Gemeinschaftlichkeit: Absonderung der Jugendlichen und universelle Verbundenheit Liminalität und Geschlechtlichkeit: Zügellosigkeiten und Ambiguität Liminalität und Transzendenz: Der Kontakt mit dem Heiligen Zum Zusammenhang von Liminalität und Musik Das Liminoide Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
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3 Populäre Musik und Anti-Struktur: Komparativ-Symbologische Untersuchungen Vorbemerkungen zur Methode Die Rock’n’Roll-Revolution als Aufbrechen einer unmittelbaren Communitas Jugendlicher Von Woodstock bis Live 8: Die Entwicklung einer ideellen Communitas in der Rock- und Popmusik Die Welt der Rock- und Popstars Stars als Idole von Fangemeinschaften Stars als moderne Anwärter auf Unsterblichkeit Rock- und Popsongs: Verzaubernde Rhythmen, Klänge und Texte Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 4 Populäre Musik und rituelle Erfahrung: Qualitativ-Sozialwissenschaftliche Analysen Vorbemerkungen zur Methode Das Rockkonzert als rituelle Aufführung Vier Fan-Biographien Tina, Fan von Robbie Williams Sarah, Fan von Kurt Cobain Timo, Fan von Xavier Naidoo Edgar, Fan von Britney Spears Die Rekonstruktion unterschiedlicher Fan-Typen Typik 1: Star versus Musik Typik 2: Unmittelbare versus ideelle Communitas Die Überlagerung von Typik 1 und Typik 2: Grundlegende Fan-Orientierungen Typik 3: Ritual versus Reflexion Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
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103 103 113 128 128 154 179 200 225 226 231 238 239 241
Ausblick
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Literaturverzeichnis
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Richtlinien der Transkription
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Da nk sa gung
Das vorliegende Buch ist im Rahmen der von Professor Christoph Wulf geleiteten Berliner Ritualstudie entstanden, die sich das Ziel gesetzt hat, das produktive Potential von Ritualen und Ritualisierungen in Erziehungs-, Bildungsund Sozialisationsprozessen herauszuarbeiten. Meine Untersuchungen hätten ohne die vielfältige Unterstützung durch andere Personen nicht zustande kommen können. So geht mein herzlicher Dank an meine Interviewpartner, deren offene und lebendige Berichte über ihre Erfahrungen als Rock- und Popfans das Herzstück meiner Forschungen ausmachen. Ganz besonders bedanke ich mich auch bei Professor Christoph Wulf und Professor Ralf Bohnsack, die diese Arbeit mit großem Engagement betreut haben. Mein Dank gilt auch den Teilnehmern des von Professor Wulf angebotenen Doktorandencolloquiums und der von Professor Bohnsack veranstalteten Forschungswerkstatt, deren inhaltliche Anregungen mehr als einmal richtungsweisend für den Verlauf meiner Studien waren. Auch die Diskussionen mit meinen Kollegen aus der Berliner Ritualstudie konnten mir entscheidende Denkanstöße geben. Hier bedanke ich mich bei Kathrin Audehm, Birgit Althans, Mario Bührmann, Gerald Blaschke, Nino Ferrin, Benjamin Jörissen, Ingrid Kellermann, Iris Nentwig-Gesemann, Monika Wagner-Willi und Sebastian Schinkel. Weitere Anregungen für meine Forschungen bekam ich auf internationalen Workshops in Japan, Norwegen und Kalifornien, wofür ich mich bei der Professorin Shoko Suzuki und ihrem Team von der Kyoto University, den Kolleginnen und Kollegen des Agder University College aus Kristiansand und der University of California, Irvine bedanke. Mein Dank geht auch an meine Mutter Eva, zu der ich mich in einer entscheidenden Phase des Schreibens zurückziehen konnte. Schließlich gilt meine tiefe Dankbarkeit meiner langjährigen Lebenspartnerin Stephanie Römer, die den Entstehungsprozess dieses Buches hautnah miterleben konnte und dabei nicht nur
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wichtige Ideen hinsichtlich meiner empirischen Vorgehensweise einbrachte, sondern mir stets mit Geduld und Zuversicht zur Seite stand. Berlin, im Februar 2009
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Ruprecht Mattig
Einleitung
Z u m Z u s a m m e n h a n g vo n J u g e n d r i t u a l e n u n d populärer Musik Die Jugend ist eine Übergangsphase, die sowohl die heranwachsenden Individuen als auch deren soziale Umgebung vor vielfältige Herausforderungen stellt. In Jugendlichen beginnt das sexuelle Begehren aufzukeimen, die ersten tentativen Liebesbeziehungen bahnen sich an. Damit verbunden sehen sich Jugendliche vor die Aufgabe gestellt, ihr gleichsam geschlechtsneutrales Dasein als Kind hinter sich zu lassen und sich einer der beiden sozialen Geschlechtskategorien ›Frau‹ oder ›Mann‹ zuzuordnen. Zudem stehen Jugendliche vor der Herausforderung, sich beruflich zu orientieren. Die Jugendzeit ist oft auch mit einer beginnenden Ablösung von den Werten des Elternhauses und der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Idealen und Anforderungen verbunden, was wiederum zu einer mehr oder weniger radikalen Rebellion gegen Familie und Gesellschaft führen kann. Nicht selten überschießen bei Jugendlichen die Emotionen und die körperlichen Kräfte, was im Extremfall in Gewaltexzessen einen Ausdruck findet – die dann wiederum heftige gesellschaftliche Debatten auslösen. Dieser komplexe Übergang, den die Jugendzeit darstellt, wird dementsprechend auch als Adoleszenzkrise bezeichnet. In den meisten traditionellen Gesellschaften wurde und wird der Übergang vom Kindsein zum Erwachsensein mit so genannten Initiations- und Pubertätsriten gestaltet. Oft durchlaufen die Jugendlichen dabei ekstatische Zustände, die mit Hilfe von Musik und Tanz hervorgerufen werden. Sie kommen mit den von der jeweiligen Gemeinschaft verehrten übernatürlichen Wesen und heiligen Mythen in Kontakt, müssen teilweise schwere Prüfungen bestehen und werden dann, ausgestattet mit sakraler Macht, in eine neue soziale Gruppe – meistens ›Männer‹ bzw. ›Frauen‹ – überführt, in der sie dann die traditionell vorgegebenen Rechte und Pflichten haben. Sie gelten dann als Elder und können auch rituelle Aufgaben bei der Initiation der nachfolgenden 9
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Gruppen übernehmen. Wie der Kulturanthropologe Arnold van Gennep (1873-1957) in seinem Buch Übergangsriten – einem Klassiker der Ritualforschung – zeigt, dienen die Initiations- und Pubertätsriten dazu, einerseits die Statuspassage des Individuums zu gestalten und andererseits, die Gesellschaft vor den Gefahren, die mit Veränderungen im sozialen Gefüge verbunden sind, magisch zu schützen. In unseren modernen Gesellschaften dagegen ist eine zunehmende Entritualisierung der Jugendzeit zu beobachten, die vor allem auf die zurückgehende Bedeutung der Religion sowie den schnellen kulturellen Wandel zurückgeführt wird (vgl. z. B. Eliade 1989: 10). Wie der Ethnologe und Psychoanalytiker Mario Erdheim betont, gibt es zum einen kaum noch verbindliche Traditionen, in welche die Jugendlichen eingeführt werden könnten; zum anderen haben Gesellschaften, die sich schnell verändern, eine ungewisse Zukunft: »[M]an kann sich nicht einmal darauf verlassen, daß die auftauchenden Probleme auch diejenigen sind, die man erwartet hat. Damit wird auch die Initiation entwertet, sie verliert ihre Gültigkeit als Einführung ins Leben, weil man nicht mehr sicher ist, was einen erwartet« (Erdheim 1991: 83). Es wird oft argumentiert, dass diese Entritualisierung zu den in modernen Gesellschaften bekannten Problemen von und mit Jugendlichen – wie Orientierungslosigkeit, Gewaltbereitschaft oder Drogenmissbrauch – führt. Aus diesem Gedanken wird wiederum geschlussfolgert, dass man nur neue Übergangsrituale für Jugendliche erfinden müsse, um diese Probleme zu bewältigen. Allerdings stellt sich dieses Neu-Erfinden als eine kaum lösbare Aufgabe heraus, schon allein aufgrund des angesprochenen Kulturwandels (vgl. dazu auch Grimes 2000 und Soeffner 2000). Aus einer anderen Perspektive wird argumentiert, dass die Jugend in modernen Gesellschaften gar nicht so entritualisiert ist, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Jugendliche haben durchaus ihre Rituale. Diese finden allerdings kaum noch in gesellschaftlich dafür legitimierten Institutionen statt, sondern werden von den Heranwachsenden in eher spontaner und experimenteller Weise selbst geschaffen. So können Mutproben oder Kämpfe, die in Peergroups zu finden sind, als eine Art Initiationsäquivalent angesehen werden (vgl. z. B. Hugger 1991 und Tervooren 2007). Diesem Gedanken folgend entstehen in modernen Gesellschaften soziale und kulturelle Felder, die zwar außerhalb der traditionellen Institutionen angesiedelt sind, die es den Adoleszenten aber dennoch ermöglichen, den Übergang, in dem sie sich befinden, rituell zu gestalten. Darüber hinausgehend haben sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungen in den letzten Jahren auf die anthropologische Bedeutung von Ritualen hingewiesen: Rituale sind nicht einfach eine Angelegenheit vormoderner Zeiten, sondern spielen auch in modernen Gesellschaften in praktisch allen Bereichen menschlichen Lebens eine wichtige Rolle (vgl. dazu z. B. Belliger/Krieger 2003; Wulf/Zirfas 2003; 2004c). Allerdings haben sich viele Ele10
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mente traditioneller Rituale aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst; zudem bilden sich neue Rituale und Ritualisierungen heraus, so dass die Forschungen vor der Herausforderung stehen, das Rituelle in modernen Gesellschaften zunächst einmal zu identifizieren, um es dann beschreiben und analysieren zu können. Was haben diese Überlegungen mit der Rock- und Popmusik zu tun? Dass die populäre Musik eine große Bedeutung für Jugendliche in modernen Gesellschaften hat, ist vielfach gezeigt worden. Sie wirkt identitätsstiftend, behandelt lebensweltliche Themen und Probleme Jugendlicher und ermöglicht in besonderer Weise, dem Körperlich-Sinnlichen Ausdruck zu geben (vgl. z. B. Fritzsche 2003; Schäfers 1999; Willis u. a. 1990: 59-83; Flender/Rauhe 1989; Voullième 1987; Spengler 1987; Frith 1981). Gleichwohl mangelt es durchaus noch an Verständnis gegenüber bestimmten, mit der Rock- und Popmusik verbundenen Phänomenen. Vor allem der so genannte Starkult wird oft belächelt oder – meist aus pädagogischer Perspektive – sogar verurteilt. So wird geargwöhnt, dass die jugendliche Begeisterung für einen von der »Kulturindustrie« gemachten Star das pädagogische Ziel der Mündigkeit geradezu verhindert (vgl. dazu exemplarisch Schaar 1997). Allerdings ist bisher noch nicht ausreichend gesehen worden, dass gerade der Begriff ›Kult‹ – der nicht allein auf Stars bezogen sein muss: auch eine bestimmte Musikrichtung oder ein einzelner Song können ›Kultstatus‹ erlangen – auf eine anthropologische Dimension in der populären Musik verweist, denn er stellt einen metaphorischen Bezug zum religiös-rituellen Bereich her. Wenn es gelingen könnte, diese anthropologische Dimension in der populären Musik auszuarbeiten, so könnten auch bisher kaum verstandene Phänomene, die im Zusammenhang mit der populären Musik auftreten, neu beurteilt werden. Dies zu leisten ist das Ziel des vorliegenden Buches. Dazu werde ich über den metaphorischen Bezug des umgangssprachlichen Begriffs ›Kult‹ hinausgehen und die Rock- und Popmusik systematisch aus einer ritualtheoretischen Perspektive untersuchen – insbesondere hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Jugendphase. Es werden sowohl bisherige Studien über die populäre Musik als auch eigene empirische Forschungsergebnisse aus Interviews und Gruppendiskussionen mit Fans und teilnehmenden Beobachtungen auf Konzerten vor dem Hintergrund kulturwissenschaftlicher Überlegungen zu Jugendritualen interpretiert.1 Aus der so eingenommenen ritualtheoretischen Perspektive stellt sich die Rock- und Popmusik als ein kulturelles Feld dar, dem ein ritueller Zauber eigen ist. Die Kraft der Rock- und Popmusik, Menschen zu verzaubern, erweist
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Den Begriff ›Kulturwissenschaften‹ verstehe ich dabei in einem weiten Sinne, der ethnologische, anthropologische, religionsanthropologische sowie theaterwissenschaftliche Untersuchungen umfasst. 11
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sich dabei in drei grundlegenden Dimensionen: erstens in den Rhythmen, Klängen und Texten der Musik selbst; zweitens im Idolcharakter der Rockund Popstars; und drittens in den spezifischen Formen der rituellen Vergemeinschaftung, welche die Fans erfahren. Dabei werden meine Untersuchungen zeigen, dass man zwischen verschiedenen Fan-Typen unterscheiden kann, denn für einige Fans stehen die Stars, für andere die Musik im Vordergrund des Interesses. Auch gibt es bei den Fans unterschiedliche Orientierungen hinsichtlich der Vergemeinschaftung. Zudem zeigt sich, dass das Rituelle in der Rock- und Popmusik eine große Bedeutung im Zusammenhang mit den Biographien der von mir untersuchten Fans hat. Die Verzauberung durch die populäre Musik hilft den Fans dabei insbesondere, die Adoleszenzkrise zu bearbeiten. Ich werde den Begriff des Zaubers, der in bisherigen kulturwissenschaftlichen Studien eher unsystematisch verwendet wird, in bewusster Abgrenzung vom ethnologischen Verständnis des Magie-Begriffs benutzen: zwar werden Fans in der Auseinandersetzung mit dem kulturellen Feld der Rock- und Popmusik nicht magisch verwandelt, so wie die Initianden in vielen traditionellen Initiations- und Pubertätsriten, doch vermag die Rock- und Popmusik einen Zauber auf die Fans auszuüben, sie zu verzaubern. ›Zauber‹ ist dabei kein im Vorhinein klar definierter Begriff, sondern dient als ein heuristischer Terminus, d. h. als ein zunächst relativ offener Suchbegriff, der es ermöglicht, spezifische Merkmale der Rock- und Popmusik zu erkennen. In der fortschreitenden Auseinandersetzung mit dem Gegenstand gewinnt er dann zunehmend an empirischer Substanz und wird in die Dimensionen ›Be-‹, ›Ver-‹ und ›Entzauberung‹ differenziert. Für eine erste Bestimmung dieses Begriffs mag die Figur des Zauberkünstlers herangezogen werden: Der Zauberkünstler fasziniert sein Publikum durch Inszenierungen, die durchaus an magische Operationen erinnern können (z. B. Verwendung von Beschwörungsformeln) und die den Eindruck erwecken, es ginge ›nicht mit rechten Dingen zu‹. Trotz der Rätselhaftigkeit seiner Handlungen sind sich die Zuschauer in der Regel sicher, dass die Vorgänge mit mechanischen Prozessen erklärbar sind – und dass keinesfalls übernatürliche Kräfte im Spiel sind. Unter ›Zauber‹ soll der Effekt verstanden werden, der beim Publikum hervorgerufen wird und der zunächst mit Ausdrücken wie Überraschung, Erstaunen, Fassungslosigkeit zu umschreiben ist. Mit dem Begriff des Zaubers können somit Phänomene und Erfahrungen erfasst werden, die das rationale Erfassen übersteigen. Darüber hinaus vermag der Zauberkünstler – wenn er denn überzeugend ist –, das Publikum in seinen Bann zu ziehen, es gleichsam an sich zu fesseln und in diesem Sinne einen Zauber auszuüben. Im Gegensatz zum Magier will der Zauberer auf sein Publikum wirken, nicht auf mystische Wesen oder Kräfte. Während die Magie von einem heiligen Ernst getragen ist – eine falsche Ausführung
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EINLEITUNG
des magischen Rituals kann fatale Konsequenzen haben –, ist der Zauber im Grunde ›nur‹ Unterhaltung. Wissenschaftliche Studien unterscheiden bisher nicht so deutlich zwischen ›Magie‹ und ›Zauber‹, wie ich es in der vorliegenden Untersuchung beabsichtige. So bezieht sich Max Webers gewichtiges Wort von der »Entzauberung der Welt« auf den Akzeptanzverlust des »religiös-metaphysischen Weltbildes« zugunsten der rational-wissenschaftlichen Sichtweise in modernen Gesellschaften (vgl. Weber 1988: 564). Nach der von mir getroffenen Unterscheidung bedeutet »Entzauberung« also das Verschwinden des Magischen. Das einzige Werk, das meiner Kenntnis nach die Unterscheidung zwischen Magie und Zauber systematisch verfolgt – und das mich in dieser Hinsicht inspiriert hat –, ist Magie und Zauberei in der alten Welt von Kurt Aram (1998). Die Untersuchungen dieses Buches erfolgen in vier Hauptkapiteln. Das erste Kapitel befasst sich mit grundlegenden Begrifflichkeiten wie ›Ritual‹, ›Magie‹, ›Zauber‹ und ›Rock- und Popmusik‹. In Anlehnung an zentrale Arbeiten der Berliner Ritualstudie schlage ich dabei vor, zur Untersuchung der Rock- und Popmusik eine ›weiche‹ Definition des Ritualbegriffs zu verwenden. Die Rock- und Popmusik bestimme ich nicht allein als eine spezifische Musikrichtung, sondern als ein kulturelles Feld, welches durch verschiedene soziale Akteure wie Stars und Fans, aber auch durch Mythen, Symbole sowie rituelle Handlungen konstituiert wird. Das zweite Kapitel wendet sich dann klassischen kulturanthropologischen Studien zu und untersucht die besonderen Kennzeichen von Jugendritualen in traditionellen Gesellschaften. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, auf welche Weise die Jugendphase in traditionellen Gesellschaften – also der Übergang vom Kindsein zum Erwachsensein – rituell gestaltet wird. Dabei wird der ritualtheoretische Begriff der Liminalität herausgearbeitet, der die Phase der Riten bezeichnet, in der die Jugendlichen sich gleichsam in einer Zwischensphäre befinden und rituell umgewandelt werden. In der liminalen Phase sind die normalen Verhaltensregeln außer Kraft gesetzt: An die Stelle des geschlechtsspezifischen Verhaltens, welches im nicht-rituellen Leben gilt, treten Ambiguität und Zügellosigkeiten; zwischen den Jugendlichen kann eine besonders intensive, ekstatische Gemeinschaft – eine »Communitas« – entstehen; schließlich kommen die Jugendlichen in der liminalen Phase mit dem Heiligen in Kontakt. In einem weiteren Schritt wird dann der Frage nachgegangen, inwiefern auch in modernen Gesellschaften liminale Phänomene auftreten. Dabei wird das Konzept des Liminoiden dargestellt, welches darauf verweist, dass in bestimmten kulturellen Feldern moderner Gesellschaften Ausdrucks- und Erfahrungsmöglichkeiten entstehen, die an die Liminalität in traditionellen Riten erinnern.
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In den beiden folgenden Kapiteln werden diese Überlegungen dann auf die Rock- und Popmusik übertragen, die als ein liminoides Kulturfeld rekonstruiert wird. Kapitel drei zeigt, inwiefern die zentralen Symbole der populären Musik einen liminoiden Charakter aufweisen. Hier nehme ich eine historische Perspektive ein und stelle verschiedene Entwicklungen von der Entstehung der modernen populären Musik in den 1950er Jahren bis heute dar. Dabei ziehe ich Forschungsliteratur verschiedener Fachrichtungen zur Rock- und Popmusik heran und interpretiere deren Analysen aus ritualtheoretischer Sicht. So kann deutlich werden, weshalb diese Musik gerade für die Jugend eine so bedeutende Rolle spielt. Im vierten Kapitel werde ich dann mit Hilfe meiner empirischen Forschungen rekonstruieren, welche Erfahrungen Fans in der Auseinandersetzung mit der Rock- und Popmusik machen. Zentrales Ergebnis ist dabei, dass die Fans gerade nach Erfahrungen von Liminalität – bzw. Liminoidem – suchen und diese auch machen. Dies zeige ich zunächst, indem ich anhand eigener teilnehmender Beobachtungen sowie zweier Gruppendiskussionen mit Konzertgängern die zentralen Kennzeichen von Rockkonzerten rekonstruiere. Danach analysiere ich detailliert vier verschiedene Fan-Biographien. In allen Fällen wird insbesondere deutlich, dass das Fan-Sein eine wichtige Funktion für die Gestaltung und Bewältigung der Adoleszenzkrise übernimmt. Abschließend werden aus dem Material verschiedene Fan-Typen rekonstruiert.
Zur pädagogisch-anthropologischen U n t e r s u c h u n g s p e r s p e k t i ve Auch wenn das vorliegende Buch vielfach auf kulturwissenschaftliche Untersuchungen zurückgreift, versteht es sich nicht eigentlich als ein Beitrag zur Kulturwissenschaft, sondern vor allem zur pädagogisch-anthropologischen Forschung. In deren Mittelpunkt stehen Fragen nach dem Menschen und – damit verbunden – nach den Bedingungen und Möglichkeiten seines Aufwachsens. Auch wenn in diesem Buch nicht explizit auf pädagogische Theorien Bezug genommen wird, so ist doch das Interesse, das mich leitet, letztlich ein pädagogisches, denn es geht darum, wie Menschen in verschiedenen kulturellen Umfeldern heranwachsen, und auf welche Weise der Prozess des Aufwachsens jeweils gestaltet wird. Ich folge dem von Dietmar Kamper und Christoph Wulf geprägten Paradigma der Historischen Anthropologie, welches davon ausgeht, dass Untersuchungen über den Menschen nicht von kulturellen und geschichtlichen Gegebenheiten abstrahieren dürfen. Die Frage nach ›dem‹ Menschen, der die philosophische Anthropologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachging, ist demnach nicht richtig gestellt; vielmehr können Menschen nur in ihrer jeweiligen Zeit und Kultur verstanden
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EINLEITUNG
werden.2 Zwar werden die Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie nicht grundsätzlich abgelehnt – sie stellen im Gegenteil oft eine wichtige Grundlage der Historischen Anthropologie dar –, doch die Perspektive auf das menschliche Leben wird verschoben und erweitert. Darüber hinaus wird in historisch-anthropologischen Forschungen reflektiert, dass auch die Herangehensweisen der Forschenden immer geschichtlich und kulturell geprägt sind. Es ist also von einer doppelten Geschichtlichkeit und Kulturalität auszugehen: »Auf der Grundlage der Einsicht in das Ende der Verbindlichkeit einer abstrakten anthropologischen Norm wird heute in der Anthropologie versucht, die Geschichtlichkeit und Kulturalität der Begriffe, Perspektiven und Methoden auf die Geschichtlichkeit und Kulturalität der untersuchten Themen, Gegenstände und Sachverhalte zu beziehen« (Wulf 2004a: 268). Historische Anthropologie geht davon aus, dass es prinzipiell nicht möglich ist, »einen Begriff vom Menschen begrifflich zu entwickeln« – mit jedem Wissen wächst auch das Nichtwissen – und hält die Frage nach dem Menschen deshalb grundsätzlich offen (Wulf 2004a: 264). Annäherungen an das menschliche Leben sind also nur in Ausschnitten möglich. Historische Anthropologie ist auch keine Fachwissenschaft, sondern hat einen transdisziplinären Charakter und ist von einer Pluralität der verwendeten Methoden gekennzeichnet. So lässt sich die vorliegende Arbeit im Schnittfeld von Ritualforschung, Jugendforschung, Erziehungswissenschaft, Rekonstruktiver Sozialforschung, Medienpädagogik, vergleichender Religionswissenschaft, Theologie, Theaterwissenschaft und Musikwissenschaft verorten. Ziel der Historischen Anthropologie ist es letztlich, einer eindimensionalen Sicht auf den Menschen als eines europäischen, weißen und männlichen Wesens entgegenzutreten, und damit Egozentrismus, Ethnozentrismus und Logozentrismus der europäischen Kultur zu überwinden (vgl. Wulf 2004a: 97). So entsteht das vielgestaltige Bild vom Menschen als eines »polyphonen« Wesens, das nicht nur durch Rationalität, sondern auch durch das Körperlich-Sinnliche und das Mythisch-Imaginäre geprägt ist.3 Auch wenn die Forschungen der Historischen Anthropologie sich oft auf vergangene Epochen der Geschichte beziehen, so versuchen sie doch, den Bezug zur Gegenwart nicht aus den Augen zu verlieren. »In der Reflexion ihrer eigenen Geschichtlichkeit und Kulturalität können sie sowohl den Eurozentrismus der Humanwissenschaften als auch das lediglich antiquarische Interesse an Ge2
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Die drei Klassiker der philosophischen Anthropologie bringen schon in ihren Titeln das Ziel eines abstrakten Menschenbildes zum Ausdruck: Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt (Gehlen 2004); Die Stellung des Menschen im Kosmos (Scheler 1976) ; Die Stufen des Organischen und der Mensch (Plessner 1981). Der Begriff von der menschlichen Polyphonie ist von Joan-Carles Mèlich geprägt worden (vgl. Mèlich 1999: 303; siehe dazu auch Mèlich 1996). 15
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schichte hinter sich lassen und offenen Problemen der Gegenwart und der Zukunft den Vorzug geben« (Wulf 2004a: 129). Die Bedeutung historisch-anthropologischer Forschungen für die Pädagogik liegt auf der Hand: Jeder erzieherischen Praxis und allen Vorstellungen über das ›richtige‹ Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen liegen Bilder vom Menschen zugrunde, wie auch immer diese im jeweiligen historischen und kulturellen Zusammenhang aussehen mögen. So ist es für die Ziele und Methoden der Erziehung nicht unerheblich, ob sich der Mensch, mit dem philosophischen Anthropologen Arnold Gehlen gesprochen, z. B. »als Geschöpf Gottes versteht oder als arrivierten Affen […]; man wird in beiden Fällen auch in sich sehr verschiedene Befehle hören« (Gehlen 2004: 9). Forschungen der Historischen Anthropologie können die Geschichtlichkeit und Kulturalität der eigenen pädagogischen Vorstellungen und Praxen bewusst machen und dazu beitragen, bestimmte Themen und Probleme der Gegenwart aus einer anderen Perspektive zu sehen – und damit auch anders zu beurteilen.4 Für die pädagogische Anthropologie stellen Rituale seit einigen Jahren einen wichtigen Forschungsgegenstand dar. Standen Rituale in der Pädagogik lange Zeit unter dem Verdacht, Menschen ein rigides Verhalten aufzuzwingen – ein Verdacht, der teilweise durchaus Berechtigung hat –, so rückt nun das produktive Potential von Ritualen in den Vordergrund. So konnte u. a. bereits herausgearbeitet werden, dass Rituale und Ritualisierungen ein bildendes Potential haben. Denn in Ritualen entsteht durchaus Wissen. Dieses hat freilich keinen reflexiven Charakter, sondern bleibt eher unbewusst: »Da Rituale in den Inszenierungen und Aufführungen von Körpern entstehen, schreiben sie sich in die Körper der Handelnden ein. In der Aufführung der rituellen Handlungen werden ihre Sequenzen, Muster und Schemata verkörpert, die Teil des körperlichen Wissens der Ritualteilnehmer werden. So entsteht ein praktisches Körperwissen, das die Voraussetzung für erfolgreiches rituelles Handeln darstellt: Die Ritualteilnehmer wissen, wie sie wann zu handeln haben« (Wulf 2004c: 9).
Und da Rituale immer auch Werte und Normen von Institutionen oder Gruppen symbolisch zum Ausdruck bringen, eignen sich die Teilnehmer auch diese während der entsprechenden Handlungen auf der Ebene des praktischen Wissens an. Die Untersuchung zur rituellen Dimension der Rock- und Popmusik soll also dazu beitragen, die komplexe Phase der Adoleszenz besser zu verstehen. Was nicht intendiert ist, sind Schlussfolgerungen über konkrete Handlungsanweisungen für die pädagogische Praxis. Das bedeutet nicht, dass ich die Praxis gering schätzte – im Gegenteil, ich habe selbst mit Freude als Pädago4
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Zur pädagogischen Anthropologie siehe z. B. Zirfas 2004a, Wulf 2001, Wulf/Zirfas 1994.
EINLEITUNG
ge mit Jugendlichen gearbeitet –; doch angesichts der schon beschriebenen Schwierigkeiten, neue Rituale zu schaffen, ist hier Zurückhaltung geboten. So soll das Ziel des Buches sein, den Blick auf die (positiven) rituellen Funktionen der Rock- und Popmusik zu öffnen und damit einer abwertenden Haltung entgegenzutreten, die sowohl in der öffentlichen Meinung als auch in pädagogischen sowie anderen akademischen Schriften über die populäre Musik verbreitet ist. Denn es wird deutlich werden, dass Argumente über die vermeintliche ästhetische Wertlosigkeit der populären Musik an Bedeutung verlieren, wenn man feststellt, dass es bei dieser Musik weniger um Ästhetik als um rituelle Erfahrung geht. Auch die häufig anzutreffende Geringschätzung der Begeisterung von jugendlichen Fans für Musikstars als ›irrational‹ oder gar ›hysterisch‹ erscheint in einem anderen Licht, wenn man erkennt, dass hier eine bestimmte Thematik zum Ausdruck kommt, die auch in traditionellen Initiations- und Pubertätsriten eine wichtige Rolle spielt: die Bindung der Fans an ihre Stars weist Ähnlichkeiten mit der Bindung der Novizen an transzendente Wesen auf. Diese Bindung ist für die Fans schon ein Wert an sich, sie hat aber darüber hinaus auch die Funktion, dass die Fans eine Gemeinschaft Gleichgesinnter finden. Das Vorhaben, kulturwissenschaftliche – vor allem ethnologische – Ritualforschungen auf ein kulturelles Feld in der modernen Gesellschaft zu beziehen, steht vor einer grundlegenden Herausforderung, die von der Kulturanthropologin und Ritualforscherin Mary Douglas im Jahr 1970 wie folgt formuliert wurde: »Analysen, die sich über unsere moderne Gesellschaft und Stammeskulturen zugleich erstrecken, sind bisher so vernachlässigt worden, daß es noch nicht einmal ein gemeinsames Vokabular gibt« (Douglas 1981: 20). Auch wenn seitdem auf verschiedenen Wegen versucht wurde, dem genannten Problem beizukommen, ist es noch lange nicht überwunden. Einer der eingeschlagenen Wege besteht darin, die Begriffe, die in der Ethnologie verwendet werden, in ihrer Bedeutung zu erweitern und dann auf Phänomene in modernen Gesellschaften anzuwenden. In der historisch-anthropologischen Ritualforschung wird dies weitgehend mit dem Begriff des Rituals so gehandhabt. Der Vorteil einer solchen Ausweitung ist, dass Ähnlichkeiten zwischen bestimmten Phänomenen in Stammeskulturen und modernen Gesellschaften benannt werden können. Der Nachteil ist wiederum, dass zum einen spezifischen Unterschiede zwischen den Phänomenen verwischen und zum anderen auch die Spezifik des jeweiligen Begriffs teilweise verloren geht. So hat der Ritualbegriff durch die Ausweitung seiner Bedeutung seine in der Ethnologie so bedeutende Beziehung zur Magie weitgehend eingebüßt. Ganz offensichtlich liegt das gleiche Problem vor, wenn der Theologe Bernd Schwarze sagt: »Popmusiker sind Götter« (Schwarze 1997b: 1) – der Gottesbegriff vermag in diesem Zusammenhang einiges über Stars deutlich zu machen, aber der Unterschied zwischen ›echten‹ Göttern und Popstars wird dabei unscharf. 17
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Ein anderer Weg besteht darin, neue Begriffe einzuführen, die zugleich auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Phänomenen verweisen. In der Religionsforschung finden sich z. B. Wortschöpfungen wie ›quasi-religiös‹ oder ›pseudo-religiös‹, wenn von Phänomenen in modernen Gesellschaften die Rede ist, die an traditionelle Religionen erinnern, aber eben aus Sicht der Forschenden keine ›echte‹ Religion sind. Auch der Erziehungswissenschaftler Helmut Voullième geht diesen Weg, wenn er zeigt, dass die Rock- und Popmusik Geschichten und Zeichen hervorbringt, die an religiöse Mythen erinnern: Da diese Geschichten und Zeichen aber in keinen kosmologischen Gesamtzusammenhang integriert sind, spricht er von ›Trivialmythen‹ (vgl. Voullième 1987: 63ff.). Der Nachteil dieser Wortschöpfungen ist darin zu sehen, dass Präfixe wie ›quasi-‹, ›pseudo-‹ oder ›trivial-‹ meist einen abwertenden Charakter haben. Ein ›Trivialmythos‹ hat etwas Banales, Wertloses an sich. Hier kommt ein Werturteil des Forschers zum Ausdruck, das gerade in empirischen Untersuchungen so nicht geduldet werden kann. Schließlich muss man davon ausgehen, dass Fans die Mythen um ihren Popstar – evtl. im Gegensatz zum Forscher – gar nicht banal oder wertlos finden, sondern ihnen besondere Wertschätzung entgegenbringen. Diese Wertschätzung herauszuarbeiten sollte aber gerade ein Ziel der Forschung sein. Es sind also grundsätzlich Begriffe vorzuziehen, die wertneutral bleiben, so wie es Victor Turner mit dem Begriff des ›Liminoiden‹ gelungen ist. Allerdings haben auch derartige Ausdrücke einen nicht zu vernachlässigenden Nachteil, nämlich den, dass sie nicht ohne weiteres verständlich sind (die Leser, die Turners Schriften nicht kennen, werden sicherlich nicht viel mit dem Begriff ›das Liminoide‹ anfangen können). Ich werde in diesem Buch auf die verschiedenen dargestellten Wege zurückgreifen, weil die Begriffsbildung in Bezug auf verschiedene Begriffe unterschiedlich weit fortgeschritten ist. So verwende ich den Begriff ›Ritual‹ im weiten Sinne, ›Initiation‹ dagegen im engen, denn ›Initiation‹ ist (noch) relativ klar bestimmt. Weiterhin übernehme ich Turners Begriff des ›Liminoiden‹. Die wesentliche Unterscheidung, die ich dabei in die Ritualforschung einführen möchte, ist die zwischen ›Magie‹ und ›Zauber‹. Bevor ich mit den Ausführungen beginne, soll noch kurz der Entstehungsprozess der Untersuchung dargelegt werden. Ein fertiges Buch mag den Eindruck erwecken, als sei die Forschung geradlinig von einer im Vorhinein festgelegten Fragestellung zu einem entsprechenden Ergebnis vorangeschritten. Dies war mitnichten der Fall. Vielmehr ist diese Arbeit – wie auch viele andere Arbeiten, die sich auf die hier verwendeten Methoden stützen – durch das »ganz normale Chaos, das der Forschungsprozess braucht«5, gegangen: Als ich mit meinen Untersuchungen begann, stand das Ritual noch gar nicht im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit. Vielmehr wollte ich zunächst mit Hilfe 5 18
Ralf Bohnsack mündlich in der Forschungswerkstatt am 09.01.2008.
EINLEITUNG
qualitativer empirischer Methoden der Sozialwissenschaft die religiöse Dimension der Rock- und Popmusik rekonstruieren, nachdem ich verschiedene theologische Studien gelesen hatte, die von einer »Religion der Rock- und Popmusik« sprechen. Ich hatte vor, meine empirischen Forschungen auf religionsanthropologische Theorien zu beziehen, wobei ich unter ›Religion‹ von Anfang an sowohl Glaubensüberzeugungen als auch rituelle Handlungen fasste (vgl. Weber 1988; Weber 1921; Durkheim 1994; Luckmann 1991). So führte ich teilnehmende Beobachtungen auf Rock- und Popkonzerten durch und befragte vor und nach den Konzerten die Fans. Weiterhin traf ich mich mit Konzertgängern und führte mit ihnen Gruppendiskussionen zu den Konzerterlebnissen durch. Schließlich schrieb ich Internet-Fanclubs an und traf mich mit deren Mitgliedern zu Einzelinterviews. Allerdings stellte sich nach den ersten Interpretationsversuchen von Gruppendiskussionen und Einzelinterviews heraus, dass die (sehr allgemeinen) religionsanthropologischen Ansätze nur schwer auf das Material anwendbar waren.6 Zwar spielen Glaubensvorstellungen bei einigen Fans eine Rolle, aber eben nicht bei allen. Gleichzeitig wurde – nicht zuletzt durch die wertvollen Hinweise meiner Kollegen in der von Ralf Bohnsack veranstalteten Forschungswerkstatt – deutlich, dass das vorhandene Material mit ritualtheoretischen Konzepten interpretiert werden konnte. Die ritualtheoretische Perspektive richtete meine Aufmerksamkeit dann zunehmend auf biographische Veränderungsprozesse, wie sie sich vor allem in den Einzelinterviews mit Fans rekonstruieren ließen. Hier konnte ich an kulturwissenschaftliche Studien anknüpfen, die zeigen, dass die Funktion von Initiations- und Pubertätsriten gerade darin liegt, Kinder in Erwachsene umzuwandeln. Ein großer Teil des vorliegenden Buches befasst sich deshalb mit Einzelinterviews. In meinen Untersuchungen folgte ich weiterhin dem Grundsatz der qualitativen Sozialforschung, nach dem die empirischen und theoretischen Untersuchungen in einem fortlaufenden Prozess wechselseitig ineinander greifen sollten. Dieses Prinzip soll verhindern, dass dem empirischen Material bereits vorhandene theoretische Begriffe und Modelle gleichsam übergestülpt werden. Vielmehr geht es darum, Begrifflichkeiten zu entwickeln, welche die Spezifik des Materials reflektieren. Da sich keine Begrifflichkeit aus dem leeren Raum entwickelt, müssen also vorhandene Modelle und Begriffe entsprechend der empirischen Untersuchungen modifiziert und spezifiziert werden. So fiel mir bei der Rekonstruktion der Interviews auf, dass fast alle Fans in eine sehr intensive Beziehung der Nähe zu den Stars treten, auch wenn sich die konkrete Form dieser Nähe von Fall zu Fall unterscheidet. Es ließen sich auch Ähnlichkeiten zwischen der Fan-Star-
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Den funktionalen religionsanthropologischen Ansätzen, von denen Luckmanns wohl der populärste ist, wurde immer wieder vorgeworfen, sie seien letztlich beliebig. 19
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Beziehung und der Beziehung zwischen Initianden und transzendenten Wesen in traditionellen Riten erkennen. Zunächst fehlte mir ein passender Ausdruck für diese Art der Beziehung, bis mir der Einfall kam, den von Victor Turner geprägten Begriff der Communitas, den ich schon im Hinblick auf die Vergemeinschaftungsform der Fans benutzt hatte, zu differenzieren. So nannte ich also die Gemeinschaft der Fans ›horizontale Communitas‹, die Fan-StarBeziehung ›vertikale Communitas‹. Die Idee, den Begriff des Zaubers einzuführen, kam mir schließlich kurz vor Abschluss meiner Untersuchungen. Lange hatte ich mich gefragt, wie ich mit der Tatsache umgehen sollte, dass manche Handlungen von Fans – z. B. das Erhalten eines Autogramms des Stars – durchaus an magische Akte erinnern. Da diesen Handlungen aber keine als magisch zu bezeichnenden Vorstellungen zugrunde liegen, sprach ich zunächst einmal von ›quasi-magischen Akten‹, war mit dieser Lösung aus den bereits genannten Gründen aber nicht zufrieden. Schließlich bekam ich Kurt Arams Magie und Zauberei in der alten Welt in die Hände – ein in der Ritualforschung völlig unbeachtetes Werk – und fand in der dort getroffenen Unterscheidung zwischen Magie und Zauber eine Lösung für das Problem. Dabei übernahm ich allerdings nur die systematische Unterscheidung der beiden Begriffe, nicht Arams religionsphilosophische Argumentation. Bei der Bestimmung des Zauberbegriffs stützte ich mich dagegen auf neuere Forschungen zum performativen Charakter von Ritualen. Zusätzlich zur Analyse des empirischen Materials rezipierte ich vor allem sozial- und musikwissenschaftliche sowie theologische Studien zur Rock- und Popmusik. Dabei wurde deutlich, dass die ritualtheoretischen Begriffe und Konzepte auch geeignet sind, die verschiedenen Ergebnisse dieser Studien zusammenführend zu deuten. Es zeigte sich schließlich, dass ich sowohl in meinen empirischen Analysen als auch in meinen Interpretationen der wissenschaftlichen Untersuchungen zu dem Resultat kam, dass der Idolcharakter der Stars, der Zauber der Musik und Formen der rituellen Vergemeinschaftung zentrale Bedeutung im kulturellen Feld der Rock- und Popmusik haben. Diese drei Punkte sehe ich deshalb als die grundlegenden Dimensionen der rituellen Kraft der populären Musik an.
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1 Ritual und populäre Musik: Zugä nge z u grundle ge nde n Be griffe n
Zunächst gilt es, Zugänge zu den hier verwendeten Begriffen zu finden: Was ist ein Ritual, was ist Rock- und Popmusik? Auf diese Fragen werden in der Literatur verschiedene Antworten gegeben, die sich teilweise stark voneinander unterscheiden. Gerade der Ritualbegriff wird in verschiedenen Bedeutungen verwendet, es gibt also keine verbindliche Definition von ›Ritual‹. Ich werde im Folgenden die historische Entwicklung des Ritualbegriffs nachzeichnen, die Schwierigkeiten einer ›harten‹ Definition darlegen und schließlich für eine ›weiche‹ Definition, wie sie in der Berliner Ritualstudie Verwendung findet, plädieren. Im gleichen Zug soll zudem ein Begriff der Rock- und Popmusik erarbeitet werden. Auch hier tut sich die Literatur schwer, eine klare Definition zu geben. So wird z. B. diskutiert, ob es sinnvoll ist, zwischen ›Rock‹ und ›Pop‹ zu unterscheiden. Ich verschränke meinen historischen Suchgang zum Ritualbegriff mit einem Blick auf die Entwicklung der Rockund Popmusik und werde die populäre Musik schließlich als ein kulturelles Feld bestimmen. Beginnen möchte ich die Diskussion mit einigen Beobachtungen, die ich gemacht habe: Am 28.07.2006 befand ich mich zusammen mit ca. 60.000 anderen Menschen im Berliner Olympiastadion, um ein Konzert des zu dieser Zeit in Europa beliebtesten Rock- und Popstars Robbie Williams zu sehen. Im Folgenden gebe ich Auszüge aus meinen Notizen zu diesem Konzert wieder: Beobachtungsprotokoll Konzert Robbie Williams, 28.07.2006 Um 19.55 Uhr verabschiedet sich die Vorband mit einem »Thank you, good Night«. Für ungefähr eine Minute ist Stille, dann kommt auf den Leinwänden ein Gewinnspiel: »Sende Angels an 82000«, dann Werbeclips für Autos, Shampoo, Kinofilm etc. Es gibt ein Gewinnspiel, bei dem man Robbie Williams in Australien treffen kann. Zwischendurch ein Video der Band Nirvana mit dem Song »Smells like Teen Spirit«, dann der Queen-Hit »We will rock you«. Immer wieder Musik von Robbie 21
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Williams auf Werbeclips. […] Gegen 20.30 Uhr verlischt die Musik vom Band, auf den Leinwänden hinter und neben der Bühne erscheint ein Kreissymbol, Kunstnebel verströmt auf der Bühne. Viele Zuschauer pfeifen erwartungsvoll. Doch nach fünf Minuten ertönt wieder nur Musik vom Band. Das Symbol bleibt, genau wie die Spannung. Schließlich kommt, die verbleibende Zeit überbrückend, eine »La Ola« auf, die mehrfach um das Stadion läuft, bis die Musik wieder ausgeht. Dann schießt plötzlich mit lautem Knallen von der Bühne aus ein Feuerwerk in die Luft, gleichzeitig setzen Bass und Keyboard mit vereinzelten Tönen und in kräftiger Lautstärke ein. Die Scheinwerfer auf der Bühne beginnen, mit Unterbrechungen, grell zu strahlen. Das Publikum johlt, kreischt und pfeift voller Begeisterung. Auf den Leinwänden erscheint ein Bild des Sternenhimmels. Dann steigt auf dem Ende des Bühnenstegs ein Kreis von Rauchsäulen auf, in dessen Mitte Robbie Williams aus der Tiefe hochgefahren wird, bis er auf der Höhe der Bühne ist. Er beginnt, zum kräftigen und rockigen Sound der Band, zu singen. Das Stadion kocht. Viele fangen an, sich zum Rhythmus zu bewegen und mitzusingen. […] Es folgt eine zweistündige Aufführung, bei der das Publikum immer mehr in Verzückung gerät. Höhepunkt ist die bekannte Ballade »Angels«, die Williams gegen Ende des Konzerts als Zugabe spielt. Allerdings singt er dieses Lied kaum noch selbst, er lässt es zu großen Teilen vom Publikum alleine singen. Während Wunderkerzen, entzündete Feuerzeuge und Leuchtstäbe in der Nachtluft geschwenkt werden, tönt es aus tausenden Kehlen: »I sit and wait / Does an angel contemplate my fate? / And do they know / The places where we go / When we’re grey and old? / ‘Cos I’ve been told / That salvation lets their wings unfold / So when I’m lying in my bed / Thoughts running through my head / And I feel that love is dead / I’m loving angels instead / Chorus: And through it all she offers me protection / A lot of love and affection / Whether I’m right or wrong / And down the waterfall / Wherever it may take me / I know that life won’t break me / When I come to call she won’t forsake me / I’m loving angels instead // When I’m feeling weak / And my pain walks down a one way street / I look above / And I know I’ll always be blessed with love / And as the feeling grows / She breathes flesh to my bones / And when love is dead / I’m loving angels instead.«
Viele Elemente von Rock- und Popkonzerten erinnern an religiöse Ritualhandlungen: der Tanz zum monotonen Rhythmus der Musik, durch den die Menschen gleichsam miteinander verschmelzen; die immer wiederkehrenden Gesten des Jubelns, des gemeinsamen Armschwenkens. Im beschriebenen Beispiel lässt vor allem das gemeinsame Singen des Songs »Angels« an eine Gemeinde denken, die während des Gottesdienstes religiöse Lieder anstimmt. Der Text des Liedes hat einen religiösen Charakter: Er erzählt von einer Krisensituation, in welcher der Blick voller Hoffnung zur Transzendenz – zu den Engeln – erhoben wird. Haben wir es hier also mit einem religiösen Ritual zu tun? Feiern all die Menschen im Olympiastadion zusammen mit dem Rockstar Robbie Williams ein religiöses Fest?
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Man zögert, auf diese Fragen mit einem klaren »Ja« zu antworten. Schon die Werbeclips passen nicht in das Bild eines religiösen Rituals. Und man mag sich die Frage stellen, wie ernst es die Menschen auf dem Konzert mit ihrem »Glauben« an die Transzendenz meinen. Mit Recht, wie aus der folgenden Beobachtung aus demselben Konzert hervorgeht: Beobachtungsprotokoll Konzert Robbie Williams, 28.07.2006 Vor dem Song »Make me pure« setzt Robbie Williams sich auf einen Stuhl und fordert das Publikum auf, ihm nachzusprechen: »Repeat after me: Oh Lord«, das Publikum: »Oh Lord«, Williams: »Make me pure«, das Publikum: »Make me pure«, Williams, nach einer kurzen Verzögerung: »But not yet«, das Publikum: »But not yet«. Williams wiederholt das Ganze, wobei er nun das »but not yet« in sehr hoher Intonation fast schon jault. Dann beginnt das Lied, bei dem Williams den Refrain (»Oh Lord, make me pure but not yet«) jedes Mal vom Publikum allein singen lässt. Einmal hält er dabei das Mikrophon mit einer Hand in Richtung Publikum, senkt den Kopf theatralisch auf die Brust und bekreuzigt sich mit der anderen Hand mehrmals schnell hintereinander.
Auch hier geht es wieder um Transzendenz. Und die Aufführungspraxis des Vor- und Nachsprechens hat einen deutlichen Bezug zum so genannten Call&Response-Schema der afro-amerikanischen Gospel-Gottesdienste, bei dem die Gemeinde religiöse Textzeilen oder Ausrufe wie »Jesus« oder »Amen« wiederholt, nachdem der Prediger sie vorgesungen hat.1 Allerdings zeigt die offensichtliche Ironie, die Robbie Williams hier sowohl in Text als auch Performance zum Ausdruck bringt, dass er es mit dem Glauben nicht allzu ernst nimmt. Der Sinn einer religiösen Handlung – Ausdruck von Verehrung, Beschwörung etc. – wird hier geradezu ins Gegenteil verkehrt. Denn die Beziehung religiöser Menschen zu ihren Göttern ist doch gerade von einem heiligen Ernst getragen, was Spott gegenüber den Göttern gleichsam ausschließt. Und nicht nur Williams, sondern auch das von ihm animierte Publikum macht sich hier über den »Lord« lustig. Viele vollziehen das Call&Response-Schema mit, niemand erhebt Einspruch (jedenfalls nicht bemerkbar). Auch die Zuschauer parodieren also das Religiöse, oder sind zumindest – wenn sie nicht mitsprechen – mit der Parodie einverstanden. Es ist also fragwürdig, ob das beschriebene Konzert als religiöse Handlung im herkömmlichen Sinne gedeutet werden kann. Kann man dennoch von einem Ritual sprechen? Im Zusammenhang mit der Rock- und Popmusik lassen sich auch Szenen beobachten, bei denen die Musik überhaupt keine Rolle spielt. Dies geht aus 1
Dass die Rock- und Popmusik das Call&Response-Schema aus der afro-amerikanischen Musik entlehnt hat, wird vor allem in theologischen Studien zur populären Musik immer wieder betont (vgl. z. B. Schwarze 1997a: 31). 23
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meinen Notizen hervor, die ich zu einem anderen Zeitpunkt vor einem hochklassigen Hotel am Potsdamer Platz in Berlin angefertigt habe. Es ging dabei wieder um Robbie Williams, der mit einem Konzert sein neues Album vorstellen wollte: Beobachtungsprotokoll Hotel am Potsdamer Platz in Berlin, 09.10.2005 Seitdem Williams in der Stadt ist, steht vor seinem Hotel eine Menschenmenge, die zwar größer und kleiner wird – aber immer wenn ich an dem Hotel vorbeigehe, sind Menschen davor. Am Tag, als das Konzert stattfinden soll, stelle ich mich am späten Nachmittag mit in die Menge, die jetzt ziemlich groß ist. Dort sind Menschen aller Altersstufen. Die Straße, die direkt am Eingang des Hotels entlang führt, wird von Polizisten abgeschirmt. Die Menschen stehen still, reden teilweise miteinander und gucken in Richtung Lobby. Ich komme mit zwei Frauen ins Gespräch, die ca. Mitte 30 sind und Karten für das Konzert haben. Sie sind von der Ostseeküste bis nach Berlin gefahren, um Robbie Williams zu sehen. Nun sind sie hin- und hergerissen: einerseits wollen sie noch hier bleiben und Williams beim Verlassen des Hotels sehen, andererseits wollen sie bald zur Konzerthalle, um noch einen möglichst guten Platz vor der Bühne zu bekommen. Sie einigen sich darauf, noch eine halbe Stunde zu bleiben, und dann spätestens zur Konzerthalle aufzubrechen. Immer wieder fahren Autos vor das Hotel. Dabei geht jedes Mal ein Raunen durch die Menge, dass dies das Auto sein könnte, in dem Williams zur Konzerthalle fahren wird. Aber immer steigen unbekannte Hotelbesucher aus den Fahrzeugen aus und gehen in das Hotel. Auf einmal fangen Mädchen, die dicht am Hoteleingang stehen, laut zu kreischen an, doch das Kreischen hört wieder auf. Ich kann den Grund für das Kreischen nicht ausmachen. Schließlich rollen die Polizisten Absperrbänder aus und bilden damit eine Kette. Die Menschen drängen gegen diese Abschirmung an, immer näher zum Hotel. Dann fährt ein großer Bus vor, er braucht sehr lange, um durch die enge Gasse zu kommen. Alle fragen sich, ob das der Tourbus von Robbie Williams sein könnte. Die halbe Stunde, die sich die beiden Frauen gesetzt hatten, ist inzwischen vorbei, doch der Bus hat ihre Erwartung noch einmal so geweckt, dass sie weiterhin bleiben, ja gar nicht mehr auf die Uhr schauen. Irgendwann fährt der Bus wieder ab, ohne dass Williams gesichtet wurde. Dann kommt eine Stretchlimousine und parkt direkt vor dem Hoteleingang. Wieder denken alle, dass dieses das Gefährt für Robbie Williams sein könnte. Auf einmal wieder ein Kreischen, ein jüngerer Mann kommt aus dem Hotel und verteilt Autogrammkarten. Mir ist er als ein Teilnehmer der letzten RTL-»Superstar«-Staffel bekannt. Als er nach einiger Zeit wieder weggeht, nehmen die Polizisten die Absperrbänder fort und verlassen allmählich den Hoteleingang. Es ist nun klar, dass Robbie Williams den Weg aus dem Hotel geschafft hat, ohne von den Wartenden entdeckt worden zu sein. Die Menschenmenge löst sich langsam auf, auch die beiden Frauen eilen zur Konzerthalle.
Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Anwesenden ist hier ganz eindeutig nicht die Musik, sondern der Musiker. Zentrales Interesse der Menschen scheint es zu sein, Robbie Williams leibhaftig sehen zu können. Es stellt sich 24
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also die Frage, ob man eine Szene wie die hier dargestellte überhaupt unter dem Stichwort der Rock- und Popmusik fassen kann. Das Publikum wirkt hier, als ob es unter einem Bann stünde, wenn es sich teilweise stundenlang vor dem Hotel aufhält und nicht von dem Ort lösen kann, auch wenn der Popstar sich nicht blicken lässt. Das ganze Geschehen unterliegt dabei offensichtlich einer Planung und wird klug inszeniert: die staatliche Ordnungsmacht ist zur Stelle und strukturiert den Raum, ein Ersatzstar wird für ein Ablenkungsmanöver eingesetzt. Und die kreischenden Mädchen nehmen eine Rolle ein, die seit Elvis und den Beatles von weiblichen Rock- und Popfans bekannt ist. Haben wir es bei dieser Szene also mit einem Ritual der Rock- und Popmusik zu tun?
R i t u a l u n d M a gi e In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Ritualen wurde der Ritualbegriff lange Zeit fast ausschließlich auf den religiösen Bereich bezogen. Rituale wurden als religiöse oder magische Handlungen bestimmt (wobei nicht immer klar zwischen Religion und Magie unterschieden wurde). Der französische Soziologe Emile Durkheim (1858-1917) hat in seinem einflussreichen Werk Die elementaren Formen des religiösen Lebens, das erstmals 1912 in Frankreich erschien, die Glaubensüberzeugungen und Rituale der Ureinwohner Australiens untersucht, wobei er sich auf das Material verschiedener Ethnologen bezog. Er ging dabei von folgender Ritualdefinition aus: »Riten […] sind Verhaltensregeln, die dem Menschen vorschreiben, wie er sich den heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat« (Durkheim 1994: 67). Aus diesem Satz lassen sich zwei Bestimmungen des Rituals herauslesen: Rituale sind erstens Handlungen, die rigiden, weil vorgeschriebenen Abläufen folgen. Dass diese Regeln im Sinne von Vorschriften zu verstehen sind, lässt darauf schließen, dass bei deren Nichteinhaltung Sanktionen zu befürchten sind: Ein Fehler in der Ausführung von Ritualen kann dazu führen, dass das gewünschte Ergebnis nicht eintritt oder eine Gottheit sich erzürnt, so dass evtl. weitere Rituale durchgeführt werden müssen, die den Fehler wieder aufheben (vgl. ebd.: 122, 508, 543f.). Zweitens zeichnen sich Rituale dadurch aus, dass sie eben religiöse Handlungen sind. Dieses Kennzeichen unterscheidet nach Durkheim Rituale von anderen regelhaften Handlungen wie Feiern: »Wenn ein Ritus nur mehr dem Vergnügen dient, ist es kein Ritus mehr« (ebd.: 514). Rituale sind hier gewissermaßen technische Verfahren, mit deren Hilfe religiöse Zwecke erreicht werden sollen.2 Und gerade weil von
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Diese liegen nach Durkheim zum einen darin, das Heilige vom Profanen zu sondern (Durkheim nennt diese Rituale den »negativen Kult«, vgl. Durkheim 1994: 405ff.). Zum anderen wird bezweckt, die jeweilige Totemgattung einer Totem25
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ihnen die entsprechenden Ergebnisse erwartet werden, ist es so wichtig, die Vorschriften der Ausführung genau einzuhalten. Durkheim betont diesen technischen Aspekt von Ritualen bisweilen auch durch den Sprachgebrauch, wenn er von »ritualen Operationen« oder »Verfahren« schreibt. Die rituellen Zwecke können, je nach Art des Rituals, durch ganz verschiedene Handlungen erreicht werden: es wird gefastet, geschwiegen oder auch gesungen und getanzt, es gibt Anrufungen und darstellende Aufführungen. Diese rituellen Handlungen – Durkheim nennt sie Gesten – haben zumeist einen symbolischen Charakter: Wenn beispielsweise die Initianden bei den Initiationszeremonien den nurtunja, einen heiligen Stamm, auf den das Totem gezeichnet ist, zu küssen haben, so hat dieser Kuss vor allem symbolische Bedeutung. Über den Kuss nimmt der Initiand Kontakt zu der mystischen Kraft auf, welche das Zeichen symbolisiert. »Die Riten wenden sich also in Wirklichkeit an dieses Bild« (Durkheim 1994: 172). Der aus Schottland stammende Kulturanthropologe Victor Turner (19201983), der in den 1950er Jahren einen mehrjährigen Feldforschungsaufenthalt in Afrika, vor allem bei den Ndembu in Sambia durchgeführt und dabei deren Rituale analysiert hat, gab im Jahre 1967 eine Ritualdefinition, die ebenfalls den Zusammenhang zwischen Ritual und Religion bzw. Magie herstellt und sich in diesem Sinne ähnlich liest wie diejenige Durkheims: »By ›ritual‹ I mean prescribed formal behavior for occasions not given over to technological routine, having reference to beliefs in mystical beings or powers. The symbol is the smallest unit of ritual which still retains the specific properties of ritual behavior; it is the ultimate unit of specific structure in a ritual context« (Turner 1967a: 19). Rituale sind auch hier ein nach vorgegebenen Regeln ablaufendes Handeln, mit dem magisch-religiöse Zwecke erreicht werden sollen.3 Die Teilnehmer der Rituale gehen davon aus, dass ihre Gesten und die verwendeten Symbole auf die Welt der religiösen Kräfte eine Wirkung ausüben. Wenn Rituale in den beiden genannten Ansätzen als magische Handlungen charakterisiert sind, dann heißt das auch, dass die Ritualteilnehmer bestimmte Vorstellungen über kausale Gesetzmäßigkeiten haben, die sich von
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gruppe zu stärken und zu vermehren (dies ist der »positive Kult«, vgl. ebd.: 441ff.). So beschreibt Turner in seinem für die Ritualforschung grundlegenden Buch Das Ritual, das 1969 erstmals erschienen ist, zwei Riten – »Isoma« und »Wubwang’u« –, die beide dazu dienen, eine gestörte kosmische Harmonie wieder herzustellen. Mit »Isoma« sollen unfruchtbare Frauen fruchtbar gemacht, mit »Wubwang’u« Frauen, die Zwillinge gebären werden, gestärkt werden. Turner dazu: »Der von der Wubwang’u-Schattenmanifestation verursachten Störung wird hier rituell durch die Darstellung reiner Ordnung entgegengewirkt – eine Darstellung, die man nicht bloß für eine Anhäufung kognitiver Zeichen hält, sondern der man Wirkkraft zuspricht« (Turner 1989a: 86).
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denen der westlichen Wissenschaft fundamental unterscheiden. Diese Vorstellungen werden meist als magische, mythische, analoge oder religiöse Denkform bezeichnet.4 Es ist ein Denken, das eng mit den Gefühlen verbunden ist und davon ausgeht, dass die Welt von unsichtbaren Kräften (meist in Form von Geistern oder Göttern) durchwirkt ist und gewissermaßen einen organischen Zusammenhang bildet. Der Kosmos erscheint als ein großes Gewebe, in dem alles miteinander zusammenhängt (vgl. Turner 1989b: 43). Jedes Ereignis, das einem Menschen widerfährt, kann als Zeichen interpretiert werden, hat also symbolische Bedeutung. Die Natur ist »gleichzeitig Übernatur, das heißt Kundgebung heiliger Kräfte und Chiffre transzendentaler Wirklichkeiten« (Eliade 1989: 18). Die angenommene Wirkmächtigkeit von Ritualen basiert dabei darauf, dass eine Verbindung zwischen Dingen gesehen wird, die für das naturwissenschaftliche Denken nichts miteinander zu tun haben. Das magische Denken hat ein zyklisches Verständnis der Zeit und folgt u. a. den Gesetzen der Analogie, der Übertragung und des pars pro toto.5 Das Ritual, verstanden als magisch-technisches Verfahren, kann als Handlungsform dieses Denkens angesehen werden: Eine künstlich hergestellte Rauchwolke soll den Regen beeinflussen (Analogie), ein Erdklumpen enthält das Wesen des Feldes (pars pro toto) und einen Fluch versucht man wegfliegen zu lassen, indem man ihn auf eine Schwalbe überträgt. Dabei repräsentiert der Rauch weniger die Wolke, als dass er sie im Sinne einer Wesensgleichheit tatsächlich ist (vgl. Gloy 1995: 31-72; Cassirer 1954: 39-89).
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In den meisten Studien findet man keine klare Unterscheidung zwischen magischem, mythischem, analogem und religiösem Denken. Der Begriff des mythischen Denkens ist von dem Kulturanthropologen Ernst Cassirer in seiner dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen geprägt worden (vgl. Cassirer 1954). Cassirer bezieht sich dabei in weiten Teilen, ähnlich wie Durkheim, auf totemistische Glaubenssysteme (vgl. auch Cassirer 1956). Während Durkheim aus seiner soziologischen Perspektive den Totemismus aber als Religion bezeichnet, unterscheidet Cassirer aus seiner philosophischen Sicht zwischen Mythos, wozu er den Totemismus rechnet, und Religion. Eine aufschlussreiche ritualtheoretische Studie zur Spezifik der Kausalvorstellungen im analogen Denken hat Tambiah vorgelegt (1985a). Zur Unterscheidung zwischen mythischem und analogem Denken aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive siehe Mattig (2003). Es soll hier nicht der Anschein entstehen, als gebe es »das« mythische bzw. analoge Denken. Vielmehr gab und gibt es zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen der Erde bestimmte Formen des Denkens, die allesamt dem Analogiedenken zugeordnet werden können, aber doch bestimmte Unterschiede untereinander aufweisen (vgl. dazu z. B. Gloy 1995: 31-72). Da das analoge Denken »polysynthetisch« ist und keine Einzelmomente aus einem als ganzheitlich aufgefassten Prozess herauslöst (vgl. Cassirer 1954: 57ff.), ist eine Unterscheidung verschiedener Gesetze eher dem Drang des wissenschaftlichen Denkens nach Kategorisierung geschuldet. 27
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Rituale sind aber nicht nur Techniken, mit denen die wirkenden Kräfte der Welt manipuliert werden sollen, sie dienen auch dazu, Kontakt mit diesen Kräften aufzunehmen und sich mit ihnen zu verbinden: »Nirgends bleibt hier der Mensch in der bloßen Anschauung des Naturgeschehens stehen, sondern überall drängt es ihn, die Schranke, die ihn vom All des Lebendigen trennt, zu durchbrechen, die Intensität des Lebensgefühls in sich derart zu steigern, daß er sich dadurch aus seiner sei es gattungsmäßigen, sei es individuellen Besonderung befreit. In wilden orgiastischen Tänzen wird diese Befreiung erreicht, wird die Identität mit dem Urquell alles Lebens wiederhergestellt. Hier handelt es sich nicht um eine bloße mythisch-religiöse Deutung des Naturgeschehens, sondern um die unmittelbare Einswerdung mit ihm, um ein echtes Drama, das das religiöse Subjekt in sich erfährt« (Cassirer 1954: 225f.).
Dieses Zitat macht deutlich, dass eine klare Trennung zwischen magischem Denken und Handeln kaum möglich ist. Man müsste deshalb nicht allein von einem magischen Denken sprechen, sondern von einem magischen Weltverhältnis, welches u. a. in Ritualen (als magisch-technische Verfahren verstanden) zum Ausdruck kommt. Der »mythische Mensch« (Cassirer) denkt ja nicht nur in einer besonderen Weise – seine Beziehung zur ihn umgebenden Welt hat vielmehr sowohl auf der kognitiven als auch der emotionalen und handelnden Ebene eine spezifische Prägung. Frühe kulturanthropologische Studien sind von einer Stufenentwicklung des Denkens ausgegangen, nach der das magische Denken gewissermaßen eine archaische Stufe darstellt, die in der modernen Gesellschaft durch vermeintlich höherentwickelte Denkformen abgelöst worden sei. Dieser Auffassung entsprechend wurde magisches Denken oft als ›primitiv‹ abqualifiziert. Durkheim schrieb beispielsweise zum magischen Denken: »[D]ie dunklen Intuitionen der Empfindung und des Gefühls treten hier oft an die Stelle der logischen Vernunft« (Durkheim 1994: 576f.). Paradigmatisch ist eine solche ›Evolutionstheorie des Denkens‹ in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen zu finden. Einer solchen Perspektive kann heute nicht mehr zugestimmt werden: Weder sind magische Weltverhältnisse in modernen Gesellschaften nicht existent, noch dürfen sie abgewertet werden. Vielmehr ist die »Polyphonie« menschlicher Weltverhältnisse zu betonen.6 Ein Begriff des Rituals, der dieses als magisch-technisches Verfahren bestimmt, ist kaum sinnvoll auf die Rock- und Popmusik anzuwenden: Es gibt keine Hinweise darauf, dass beispielsweise ein Rock- und Popkonzert als ein ernsthafter Versuch, mit mystischen Kräften in Kontakt zu treten, zu deuten 6
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Eine kritische Stellungnahme zu Cassirer findet sich in: Bachmann 2000. Aus ritualtheoretischer Perspektive formuliert LaFontaine eine Kritik an den frühen ethnologischen Religionstheorien (1985, Kapitel 1).
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sei. Rock- und Popkonzerte sind keine technisch-magischen Verfahren. Allerdings zeigt ein Blick auf die Geschichte der Rock- und Popmusik, dass eine der wichtigsten Wurzeln dieser Musik im Kontext magisch-religiöser Handlungen zu finden ist. Eine kurze Darstellung dieser Wurzel wird im Folgenden weitere Rückschlüsse auf die Entwicklung des Ritualbegriffs ermöglichen.
Af r o - a m e r i k a n i s c h e G o t t e s d i e n s t e a l s e i n e W u r z e l der Rock- und Popmusik Die Forschung zur Geschichte der Popularmusik datiert den entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung der populären Musik einhellig auf die Mitte der 1950er Jahre, als in den USA weiße Sänger wie Bill Haley, Jerry Lee Lewis und Elvis Presley begannen, Rhythm&Blues zu singen – laute, aggressive und rhythmusbetonte Tanz- und Unterhaltungsmusik, die bis dahin allein von Schwarzen gespielt wurde und die letztlich auf die afro-amerikanische Gottesdienstmusik zurückgeht (vgl. Jerrentrup 1981: 52ff.).7 Den seit 1619 nach Amerika verschleppten, aus Afrika stammenden Sklaven wurden zwar der Gebrauch von Trommeln sowie die Ausführung von Ritualen wie dem Ring-Shout – ein religiöser Kreistanz, der sich bis zur Trance der Tänzer steigert – verboten. Zudem wurden sie zunehmend christianisiert, so dass ab Ende des 18. Jahrhunderts Kirchen entstanden, in denen Schwarze ihre eigenen Gottesdienste feierten (vgl. Lehmann 1996: 93-110). Aber ihre traditionellen musikalischen Ausdrucksweisen bewahrten sie insofern, als sie die europäischen Hymnen und Choräle mit einem ekstatischen Gesangsstil verbanden, wobei eine eigene Liedform entstand: die Spirituals (auch Jubilees genannt). Über Namensanrufungen wie »Jesus!« oder »Lord!« blieb der ursprüngliche afrikanische Glaubensvollzug der Beschwörung von Gottheiten in einem anderen, christlichen Gewand erhalten (vgl. Kögler 1994: 13f.). Lehmann beschreibt die afro-amerikanischen Gottesdienste als körperlich und emotional sehr bewegt, wobei das Singen einen zentralen Platz einnimmt.
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Die Geschichte der afro-amerikanischen Musik lässt sich kaum zuverlässig rekonstruieren, da diese Musik zunächst oral tradiert und teilweise auch unter Geheimhaltung vor den Weißen gesungen wurde. Die ersten schriftlich fixierten Sammlungen von Spirituals erschienen nach Ende des Sezessionskrieges (vgl. Darden 2004: 34-69). So ergibt sich ein unklares Bild, auf welche Weise der Blues, der direkte Vorläufer des Rhythm & Blues, entstanden ist. Lehmann schreibt, dass der Blues seinen Vorgänger im Spiritual hatte (1996: 350). Bei Kögler hingegen lesen wir, der Blues gehe auf die Worksongs und Field Hollers der Sklaven auf den Plantagen zurück (1994: 21). Die Unklarheit in diesem Punkt wird noch erhöht durch den Hinweis von Darden (2004: 43-45), auch die Spirituals könnten auf Worksongs zurückgehen. Die genaue Herkunft des Blues wird sich wohl nicht klären lassen. 29
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Während der Gottesdienste entwickelt sich oft aus der Predigt heraus in spontaner Weise ein Lied: »Die Gemeinde ist immer mit dabei, mit beteiligt, und sie sitzt während der Predigt nicht still und stumm in den Bänken, sondern nimmt höchst aktiv am gesamten gottesdienstlichen Geschehen Anteil. Mit spontanen Ausrufen – wie ›yes‹, ›surely‹, ›amen‹, ›preach it‹, ›it is indeed‹ usw. – reagiert sie auf das Wort des Predigers, der sich somit mit der Gemeinde in einem ständigen Kontakt befindet. […] Die Reaktionen auf die Predigt sind vielfältig, sie reichen von Zwischenrufen bis hin zum Aufstehen, Händeklatschen, Rufen, Stöhnen, Schreien, Singen, Tanzen. […] Das alles geschieht auf dem Hintergrunde eines durch Fußstampfen und Händeklatschen markierten Rhythmus, der, anfangs langsam, sich im Laufe des Gottesdienstes steigert, schneller, zwingender, mitreißender wird. Prediger und Gemeinde feuern sich gegenseitig an, so daß eine Spannung entsteht, die geradezu körperlich spürbar wird. Hat diese Spannung ihre Klimax erreicht, so löst sie sich dadurch auf, daß das Sprechen bzw. der Sprechgesang in das Singen übergeht, und zwar in das Singen der ganzen Gemeinde. Das geschieht so, daß entweder der Pfarrer selbst oder ein Glied der Gemeinde einen bestimmten Satz aus der Predigt oder einen ihr zugrunde liegenden Bibelvers musikalisch zu formen beginnt. Zunächst noch suchend, dann immer bestimmter und deutlicher werdend, bildet sich eine feste Melodie, die sofort von der übrigen Gemeinde aufgegriffen wird. Auf der Grundlage des gestampften und geklatschten Rhythmus baut sich ein Lied auf, das nun von der Gemeinde weitergebildet wird durch das Hinzufügen immer neuer Verse« (Lehmann 1996: 112).
Alle Teilnehmenden richten ihre Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes religiöses Thema und steigern sich während des Gesangs in eine gemeinschaftliche Ekstase, die nicht selten zu Ohnmachten bei Teilnehmern führt (vgl. ebd.: 274ff.). Spirituals werden in den Gottesdiensten dabei nicht als ›Kunst‹ gesungen und geschaffen, sondern sie dienen religiösen Zwecken im Sinne einer »gottesdienstlichen Gebrauchsmusik« (ebd.: 111): es geht nicht in erster Linie darum, wohlklingende Musik zu erzeugen, sondern dem religiösen Gefühl Ausdruck zu verleihen. Nach Lehmann sind viele Teilnehmer der Gottesdienste der Auffassung, dass ihnen die Gesänge unmittelbar vom heiligen Geist eingegeben werden. Er zitiert einen Gospelsänger: »The way I see it, if a song is in you you got to sing it, and it’s just another aspect of the Holy Spirit« (zit. n. ebd.: 122). Auf die afro-amerikanischen Gottesdienste lässt sich der oben dargestellte Ritualbegriff also durchaus anwenden. Unter Zuhilfenahme von Cassirers oben zitierten Worten:8 Die Gottesdienste sind Handlungen, die nach bestimmten Regeln ablaufen, und die vor allem mittels »orgiastischer Tänze« die
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Siehe Seite 28.
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»Einswerdung« mit einer religiösen Kraft herzustellen versuchen. Die Musik ist dabei das zentrale Medium, um diese Einswerdung zu erreichen.
Populäre Musik und Transritualität Die afro-amerikanischen Gottesdienste sind durch eine Vermischung von afrikanischen und europäischen Ausdrucksmitteln entstanden. Gerade das ekstatische, an afrikanische Musik angelehnte Singen von Liedern christlichen Inhalts macht deutlich, dass dabei rituelle Elemente aus verschiedenen kulturellen Zusammenhängen miteinander kombiniert und zu einer neuen Einheit verbunden wurden. Wir stellen hier also eine rituelle Dynamik fest. Häufig werden Rituale in einem negativen Sinn als alte, teilweise auch überkommene Traditionen angesehen, bei denen immer nur die überlieferten Verhaltensweisen blind wiederholt werden, so dass nichts Neues entstehen kann. Diese Auffassung hat ihre Berechtigung, muss aber um die hier dargestellte Ritualdynamik ergänzt werden: Rituale können sich immer auch verändern, und, wie im Fall der afro-amerikanischen Gottesdienste, durch die Kombination verschiedener ritueller Traditionen neu formieren (vgl. dazu auch Schenk/Harth 2004). Die Entstehung neuer ritueller Handlungen durch eine Verbindung von verschiedenen rituellen Elementen ist in der Berliner Ritualstudie mit dem Begriff der ›Transritualität‹ bezeichnet worden: »Wollte man Transritualität definieren, so lassen sich zunächst mit einem Verweis auf das lateinische Präfix ›trans‹ die Bedeutungsebenen eines räumlichen, zeitlichen und symbolischen Übergehens und Verschiebens, eines ebensolchen Darüberhinaus- und Hindurchgehens sowie Bewegungscharakteristika und Dynamiken eines Aufeinanderzugehens und Zusammengehens benennen« (Wulf/Zirfas 2004a: 382). Die afro-amerikanischen Gottesdienste und damit auch die dort gesungene Musik sind in diesem Sinne als Produkte von Verschiebungen und Zusammenfügungen und damit als transrituelle Phänomene anzusehen. Lehmann sagt: »Der Begriff der Vermischung, Verschmelzung, Umwandlung oder Transformation ist grundlegend für die Charakterisierung der gesamten afroamerikanischen Musik« (Lehmann 1996: 147). Die Rock- und Popmusik ist nun durch weitere Verschiebungen entstanden, wobei Elemente der ursprünglich religiösen afro-amerikanischen Musik in den profanen Bereich der Unterhaltung abwanderten. Konnten wir bei den Spirituals noch fraglos von religiösen Liedern sprechen, so ist dies beim Blues schon nicht mehr so eindeutig der Fall, denn Blues wird nicht in der Kirche und meist auch nicht in der Gemeinschaft gesungen, sondern von einzelnen Sängern, die von ihrer Musik leben müssen. Allerdings setzen sich die Texte des Blues auch mit religiösen Themen auseinander (vgl. Schwarze 1997: 31
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115ff.). Bei Rhythm&Blues handelt es sich schließlich um Tanz- und Unterhaltungsmusik, die als eine mit Tanzelementen der Schwarzen angereicherte Variante des Blues angesehen werden kann. Zudem entwickelten die Sänger einen als Shouting bezeichneten Gesangsstil, der seinen Ursprung wiederum »in der höchst expressiv und laut interpretierten Gospelmusik der Schwarzen hat« (Jerrentrup 1981: 28). Bei den Bühnenshows wird auch der Körper als »musikalisches Instrument« (Kögler) eingesetzt: Rhythm&Blues-Musiker lassen ihre Becken kreisen, oder wirbeln ihre Gitarren herum und benutzen sie als sexuelle Provokation (vgl. Kögler 1994: 51 und Schwarze 1997: 119). Diese Körperbetonung, die von den Rock’n’Roll-Musikern und ihrem Publikum aufgenommen wurde, hat ihren Ursprung in der ekstatischen, religiösen Musik der Afro-Amerikaner. Auch in heutigen Rock- und Popkonzerten findet man Handlungssequenzen, die einen Bezug auf die Gesangspraxis der afro-amerikanischen Gottesdienste, aber wiederum auch Verschiebungen und Transformationen dieser Praxis erkennen lassen, wie die eingangs zitierte Beobachtung zum Call& Response-Schema deutlich macht (»Oh Lord, make me pure, but not yet«). Auch lassen Rock- und Popkonzerte mit ihren spontanen Elementen und der körperlichen wie emotionalen Bewegtheit der Akteure einen Bezug zu den oben dargestellten afro-amerikanischen Gottesdiensten erkennen. Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten sind Rock- und Popkonzerte im Gegensatz zu den Gottesdiensten allerdings keine magisch-religiösen Handlungen. Wenn man Durkheims Diktum folgte, wonach ein Ritus, der sich im Laufe der Zeit so verändert hat, dass er kein religiöses Ziel mehr verfolgt, kein Ritus mehr ist (s.o.), so könnte man eine Untersuchung der Rock- und Popmusik aus einer ritualtheoretischen Perspektive an dieser Stelle bereits beenden. Allerdings ist schon Durkheim häufig nicht sicher, ab wann bestimmte Handlungen noch als religiös bzw. als nicht mehr religiös zu bezeichnen sind. Bei den Gedenk- und Darstellungsriten der australischen Ureinwohner, die manchmal keinen anderen Zweck haben als die mythische Vergangenheit darzustellen, sieht er eine nahe Verwandtschaft zum Drama: »[D]a ihnen jeder Nützlichkeitsgesichtspunkt fremd ist, lassen sie die Menschen die wirkliche Welt vergessen, um sie in eine andere Welt zu versetzen, wo ihre Phantasie zu Hause ist: sie zerstreuen. Es kommt sogar vor, daß sie das äußere Bild einer Unterhaltung bieten: Man sieht die Zuschauer lachen und sich offen unterhalten« (Durkheim 1994: 511). Gerade die Darstellungsriten machen damit deutlich, dass rituelles Handeln nicht auf rein zweckgerichtetes Handeln reduziert werden kann und dass es nicht immer möglich ist, Rituale streng symbolisch zu deuten. Vielmehr enthalten Rituale einen ästhetischen »Überschuss«, wie Durkheim sagt.
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»Man setzt sich also Mißerfolgen aus, wenn man, um die Riten zu erklären, glaubt, jeder Geste ein präzises Objekt und einen bestimmten Daseinsgrund zuweisen zu müssen. Es gibt eben welche, die zu nichts da sind. Sie befriedigen einfach das Bedürfnis der Gläubigen, zu handeln, sich zu bewegen, zu gestikulieren. Daher sieht man sie springen, drehen, tanzen, schreien, singen, ohne daß es immer möglich ist, diesen Bewegungen einen Sinn zu unterlegen« (Durkheim 1994: 512f ).
Schon bei den Australiern machte Durkheim zudem Zeremonien aus, die ursprünglich religiösen Charakter hatten, sich aber im Laufe der Zeit gewandelt hatten und nunmehr nur noch der »Zerstreuung« dienten. Es wird deutlich, dass es kaum möglich ist, eine klare Grenze zwischen diesen verschiedenen Gattungen von Zeremonien zu ziehen (vgl. ebd.: 511f.). Auch Turner stellt in einer seiner späteren Schriften fest, dass die Riten der afrikanischen Stammesgesellschaften nicht so rigide ablaufen, wie seine 1967 gegebene Ritualdefinition es suggeriert. Vielmehr enthalten Rituale immer auch spielerische und freie Elemente: »A tribal ritual of any length and complexity is in fact an orchestration of many genres, styles, moods, atmospheres, tempi, and so on, ranging from prescribed, formal, stereotyped action to a free ›play‹ of inventiveness, and including symbols in all the sensory codes mentioned be Lévi-Strauss: visual, auditory, olfactory, gustatory, tactile, kinesthetic, and so on« (Turner 1992a: 52). Turner war darüberhinaus der Ansicht, dass in modernen Gesellschaften viele ursprünglich religiöse Handlungen gleichsam in den säkularen Bereich abgewandert sind: »Many of the symbols and ludic capacities of tribal religion have, with the advancing division of labor, with massive increase in the scale and complexity of political and economic units, migrated into nonreligious genres. Sometimes they have taken their sacred tone with them, and one speaks of ›high priests‹ and ›priestesses‹ of this or that art form or of criticism« (ebd.: 56). Die Schwierigkeiten der klaren Unterscheidung zwischen religiösen und nicht-religiösen Handlungen und der Aspekt der Verschiebung, Vermischung und Transformation von rituellen Elementen hat in der historisch-anthropologischen Ritualforschung dazu geführt, die enge Bindung des Ritualbegriffs an den Bereich der Religion bzw. der Magie fallenzulassen. Die vertikale Dimension des Rituellen – also die Verbindung von ›Himmel und Erde‹ – ist sowohl im sozialen Leben als auch in der Ritualforschung zunehmend in den Hintergrund getreten (vgl. auch Gebauer/Wulf 1998: 128ff.). Unter dem Stichwort der Transritualität ist aber noch eine weitere Entwicklung zu beachten, die gerade bei der Musik eng mit der technischen Entwicklung der Medien verbunden ist. Denn das Aufkommen von Tonträgern machte es möglich, dass Musik unabhängig von ihrer konkreten (rituellen) Aufführung wiedergegeben werden kann. Auch hier liegt wiederum eine Verschiebung von ursprünglich in rituelle Handlungen eingebetteten Elementen 33
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in andere Kontexte vor. So kann man sich beispielsweise Gospelmusik alleine in seinem Wohnzimmer anhören – man muss dafür nicht mehr unbedingt an einem afro-amerikanischen Gottesdienst teilnehmen. Es stellt sich die Frage, wie die Ritualforschung mit dieser Thematik umgehen soll. Es könnte einerseits argumentiert werden, dass man es nicht mehr mit rituellen Handlungen im ›eigentlichen‹ Sinn zu tun hat, wenn jemand, um bei dem Beispiel zu bleiben, allein im Wohnzimmer Musik hört. Dieser Haltung entsprechend wäre das Musikhören im Wohnzimmer kein Untersuchungsgegenstand der Ritualforschung. Ich meine allerdings, dass hier wiederum ein transrituelles Phänomen vorliegt, das durchaus zum Gegenstand gemacht werden kann.
D i e r i t u a l t h e o r e t i s c h e P e r s p e k t i ve Anstatt einer ›harten‹ Definition des Rituals, die die Grenzen des Begriffs klar festlegt, wird in der Berliner Ritualstudie aus den oben genannten Gründen eine ›weiche‹ Begriffsbestimmung verwendet, die es ermöglicht, »die Aufmerksamkeit auf die Bereiche ›zwischen‹ den Definitionen, auf die Übergänge zwischen den Phänomenen, auf das ihnen Gemeinsame zu legen« (Wulf 1997: 1032). Weiche Definitionen werden den empirischen Erscheinungen eher gerecht, denn sie gewähren größere Offenheit gegenüber neu auftretenden Phänomenen. Dies gilt sowohl hinsichtlich konkreter Handlungsabläufe als auch ursprünglich ritueller Ausdruckselemente wie Musik, die z. B. über die Medien in andere Kontexte abgewandert sind. Allerdings hat eine weiche Ritualdefinition den Nachteil, dass der Begriff an Schärfe verliert. Es liegt die Gefahr nahe, dass alles zu einem Ritual wird. Für eine gegenstandsbezogene Untersuchung ist letztlich entscheidend, ob man mit der jeweils verwendeten Terminologie den betrachteten Gegenstand erkenntnisbringend beschreiben und analysieren kann. Für meine Forschungen zur Rock- und Popmusik bietet sich ein weicher Begriff des Rituals aus den genannten Gründen an. Gunter Gebauer und Christoph Wulf bestimmen rituelle Handlungen aus einer offenen Perspektive wie folgt: »Rituale bestehen aus zeitlich geordneten Handlungssequenzen, in denen soziale Subjekte verschiedene Rollen übernehmen, indem sie z. B. Zuschauer sind oder stellvertretend für andere handeln. Sie bedienen sich signifikanter Objekte, symbolischer Mittel und aussagekräftiger gestischer und szenischer Arrangements« (Gebauer/Wulf 1998: 137). Bei dieser Perspektive kommen auch Handlungen in den Blick, die sich in ihrem symbolischen Gehalt nicht an religiöse Kräfte richten, sondern ›nur‹ der Kommunikation unter Menschen dienen. Es kann dann zwischen verschiedenen Erscheinungsformen rituellen Handelns und Verhaltens wie ›Ritualisierung‹, ›Konvention‹, ›Zeremonie‹, ›Liturgie‹ oder ›Feier‹ unterschieden
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werden, wobei der Begriff ›Ritual‹ als Oberbegriff dient (vgl. ebd. 1998: 135f.). Rituelle Handlungen werden hier nicht mehr im Sinne von »vorgeschriebenen Verhaltensregeln« (Durkheim) verstanden, sondern als mimetische Bezugnahmen auf vorgängige Handlungsmuster. Mimesis bezeichnet dabei nach Wulf »die Bezugnahme auf einen anderen Menschen oder auf eine andere ›Welt‹, in der Absicht, ihm oder ihr ähnlich zu werden« (Wulf 2001: 78). Das jeweilige rituelle Handlungsmuster schreibt sich bei der Durchführung eines Rituals mehr oder weniger genau in die Körper und Vorstellungswelten der Teilnehmer ein und kann von diesen zu einem späteren Zeitpunkt reproduziert werden. Dabei erwerben die Teilnehmer ein praktisches Wissen davon, auf welche Weise sie sich in bestimmten sozialen Zusammenhängen zu verhalten haben. Rituelles Handeln orientiert sich also an (meist nicht voll bewussten) Regeln, muss aber nicht rigide sein: »Insofern der mimetische Bezug auf ein Ritual nicht dazu führt, dieselbe Handlung wieder herzustellen, sondern lediglich bewirkt, ein ähnliches Ereignis zu erzeugen, besteht bei jeder Inszenierung […] die Möglichkeit der Variation der Aufführung« (Wulf 2004a: 60). Viele Rituale geben den teilnehmenden Personen die Möglichkeit, die vorgängigen Verhaltensmuster selbst auszugestalten und zu verändern.9 Da es zudem kaum möglich ist, ein vorgegebenes Verhalten ganz exakt zu reproduzieren, unterscheiden sich Rituale streng genommen immer ein wenig voneinander. Da Menschen das jeweilige rituelle Handlungsmuster immer ihren individuellen Möglichkeiten entsprechend reproduzieren und dabei auch eigene Ideen und spontane Einfälle zur Modifikation des Verhaltens einfließen lassen können, liegt im mimetischen Charakter rituellen Handelns der Grund für kreative Neuformungen von rituellen Mustern, wie ich sie im Hinblick auf transrituelle Phänomene bereits dargestellt habe. Bei dieser Perspektive verschiebt sich auch die Bestimmung des Rituals als eines vorwiegend technischen magischen Verfahrens hin zur Betonung des performativen Charakters rituellen Handelns: In Ritualen führen sich Menschen voreinander auf und bringen dadurch die soziale Welt mit ihrer symbolischen Ordnung handelnd hervor (vgl. dazu auch Wulf/Göhlich/Zirfas 2001). Wenn sich z. B. zwei Staatsmänner im Rahmen einer militärischen Zeremonie 9
Beispielsweise können bzw. müssen die Veranstalter einer Adventsfeier selbst entscheiden, ob sie einen Posaunenchor spielen lassen, inwiefern und auf welche Weise sie Kerzen in die Feier einbeziehen etc. Die Regelgeleitetheit des Rituals besteht hier nicht in Vorschriften, sondern darin, dass aus einer Menge von Elementen, die zu einer Adventsfeier gehören, nach eigenem Ermessen bestimmte Elemente ausgewählt und miteinander kombiniert werden müssen. Die Freiheit der Veranstalter liegt darin, dass der Bezug zum Muster ›Adventsfeier‹ relativ locker ist; sie ist insofern begrenzt, als der Bezug immer erkennbar bleiben muss. Die verschiedenen Feiern sind einander ähnlich, gleichen sich aber nicht (vgl. Wagner-Willi 2004). 35
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an einem geschichtsträchtigen Ort Hände haltend aufstellen, so handelt es sich hier um eine symbolische Inszenierung, in der nicht nur die Verbundenheit der beiden Staatsmänner, sondern vor allem der durch sie repräsentierten Völker her- und dargestellt werden soll (vgl. Gebauer/Wulf 1998: 132ff.). Eine solche Betrachtungsweise rituellen Handelns richtet sich also weniger auf die einzelnen Symbole, mit denen in religiösen Praktiken die transzendenten Mächte beeinflusst werden sollen – wie in den klassischen ethnologischen Arbeiten –, sondern fragt nach den sozialen Formen und Funktionen von Inszenierungs- und Aufführungspraktiken (vgl. dazu vor allem die in der Berliner Ritualstudie erschienenen Arbeiten: Wulf u. a. 2001; 2004; 2007; Wulf/ Zirfas 2004c; Wagner-Willi 2005; Bausch 2006; Tervooren 2006; Audehm 2007; Kellermann 2008). Nach den Untersuchungen der Berliner Ritualstudie hat die Aufführung und Inszenierung von Ritualen dabei die Funktion, soziale Differenzen zu bearbeiten (vgl. Wulf u. a. 2001). Damit kann eine Aufhebung von Differenzen gemeint sein, wie es z. B. bei Begrüßungen der Fall ist. Rituale können aber auch Differenzen hervorbringen oder bereits existierende Differenzen bestätigen und festigen. Schulprüfungen z. B. erzeugen eine soziale Grenze zwischen denen, die bestehen und denen, die nicht bestehen (vgl. auch Bourdieu 1990). Die rituelle Differenzbearbeitung kann sich schließlich auch auf den Übergang von Individuen oder Kollektiven von einem Status oder Zustand zu einem anderen beziehen, wie er z. B. bei Einschulungen oder Silvesterfeiern vollzogen wird. Im folgenden Kapitel wird detailliert herausgearbeitet, welche Differenzen in traditionellen Jugendritualen bearbeitet werden. Die historisch-anthropologische Ritualforschung ist sich bewusst, dass Rituale als »Konstrukte der Forschung« angesehen werden müssen (Wulf 1997: 1030). Das heißt, es wird nicht danach gefragt, ob bestimmte Phänomene Rituale sind, sondern ob und inwiefern sie aus einer ritualtheoretischen Perspektive fruchtbar beschrieben und analysiert werden können. Eine solche Perspektive gleicht einem Scheinwerfer, der auf ein Phänomen gerichtet wird und bestimmte Aspekte zu erhellen vermag (wobei gleichzeitig aber auch andere Aspekte unbeleuchtet bleiben). Für meine weiteren Untersuchungen wird dabei der Bezug auf kulturwissenschaftliche Studien zu Initiations- und Pubertätsriten zentral sein, denn deren Ergebnisse über die Funktion der Riten sowie die Kennzeichen ritueller Symbole und Handlungen stellen eine Interpretationsfolie zur Verfügung, vor deren Hintergrund die Rock- und Popmusik analysiert werden kann.
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Ritual und Zauber Insofern die vertikale Dimension – also die Verbindung von Himmel und Erde – in der historisch-anthropologischen Ritualforschung zunehmend in den Hintergrund tritt, werden Rituale auch kaum noch als magische Verfahren angesehen, mit denen Götter beschworen oder Flüche übertragen werden. Trotzdem wird immer wieder darauf verwiesen, dass Ritualen etwas ›Magisches‹ oder ›Heiliges‹ eigen ist, auch wenn sie keine magischen Zwecke verfolgen. So schreibt der Soziologe Hans-Georg Soeffner: »Anders als Verhaltensgewohnheiten und Routinen […] erzeugen Rituale, versteckt oder deutlich sichtbar, die Aura des ›Heiligen‹« (Soeffner 2004: 165). Allerdings zeigt dieses Zitat auch, wie schwierig es ist, den angesprochenen Sachverhalt auszudrücken, denn Soeffner setzt den Begriff des Heiligen in Anführungszeichen. Auch in Begriffen wie »pseudo-religiös«, »Diesseitsreligion« (Honer/Kurt/Reichertz 1999) oder »profanisierte Sakralität« (Wulf/Zirfas 2004a: 376-378) kommt zum Ausdruck, dass das Heilige in der säkularisierten Welt noch zu finden ist, wenn auch in neuen, nicht traditionell-religiösen Formen (vgl. auch Kamper/Wulf 1987). In ritualtheoretischen Untersuchungen, die ihre Aufmerksamkeit auf den performativen Charakter von Ritualen legen, findet sich in diesem Zusammenhang der Begriff des Zaubers, den ich hier aufnehmen und im Laufe meiner Untersuchungen weiter differenzieren werde. So vertritt die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte die Auffassung, dass Inszenierungen und Aufführungen die teilnehmenden Menschen verzaubern können – auch ohne Magie. Sie schreibt: »Inszenierung läßt sich […] als ein Verfahren bestimmen und beschreiben, das auf die Wiederverzauberung der Welt – und die Verwandlung der an der Aufführung Beteiligten – zielt« (Fischer-Lichte 2004: 330). Verzauberung hängt hier also eng mit Verwandlung, Transformation zusammen. Fischer-Lichte räumt dabei ein, dass ihr Begriff von Verwandlung relativ offen ist und sich vor allem auf körperliche, motorische sowie affektive Veränderungen der Beteiligten bezieht (vgl. z.B. ebd.: 340, FN 45). In Untersuchungen des Inszenierungs- und Aufführungsaspektes von rituellen Handlungen wird deutlich, dass Rituale das Körperlich-Sinnliche ansprechen und eine besondere Stimmung zu erzeugen vermögen. So kann bereits die Stimme eines Menschen andere Menschen emotional berühren. Auch wenn die Stimme oft mit Sprache und damit der Produktion von Bedeutung verbunden ist, hat sie doch eine Qualität, die unabhängig von der semantischen Ebene ist. Dies wird gerade dann deutlich, wenn sich die Stimme, wie beim Schrei oder bei sehr hoch gesungenen Tönen einer Koloratur, von der Sprache löst. Die Stimme des Sängers oder der Sängerin kann dann bei den Zuhörern einen »Schauder der Lust« verursachen oder, je mehr sich das Singen dem Schreien annähert, einen »Schauder des Schreckens« (ebd.: 222). 37
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Das heißt also: »Mit seiner Stimme berührt der, der sie zu Gehör gibt, den, der sie vernimmt« (ebd.: 227). Die Körper einzelner theatraler Darsteller oder ritueller Akteure können auch eine erotische Anziehungskraft haben, so dass sich das Begehren der Zuschauer auf sie richtet. Von der körperlichen Präsenz der Darsteller kann zudem eine raumbeherrschende, die Aufmerksamkeit der Zuschauer erzwingende Kraft ausgehen, womit die Darsteller wiederum zu einer »Kraftquelle« für die Zuschauer werden. Darstellern kann es gelingen, mittels ihrer Präsenz eine Energie zu erzeugen, welche wiederum die Zuschauer animiert, selbst Energie hervorzubringen (vgl. ebd.: 166). Schon Durkheim – der als ein Vordenker der Untersuchungen zum Performativen gelten kann – hatte darauf hingewiesen, dass reale Personen bei Massenveranstaltungen Gefühle der Begeisterung hervorrufen können. Wenn ein Einzelner zur Menge spricht, kann eine sich steigernde Energie zwischen der Menge und dem Sprechenden zirkulieren, es entsteht eine »kollektive Efferveszenz« (von frz. ›effervescence‹ = Sprudeln, Schäumen, Gärung, Überschäumen, Aufbrausen, Steigerung, Aufwallen): »Seine Sprache wird großsprecherisch, was unter gewöhnlichen Umständen lächerlich wäre; seine Gesten haben etwas Herrisches; selbst seine Gedanken werden maßlos und lassen sich leicht zu allen möglichen Arten von Übertreibungen verleiten. Er fühlt eben ein ungewöhnliches Übermaß an Kräften, die ausufern und nach außen drängen. […] Nun ist aber dieses ungewöhnliche Übermaß an Kräften höchst wirklich: Es wächst dem Redner aus der Gruppe zu, an die er sich wendet. Die Gefühle, die er hervorruft, kommen zu ihm zurück, nur mächtiger und vergrößert, und verstärken wiederum seine eigenen Gefühle. Die leidenschaftlichen Energien, die er entfacht, hallen in ihm wieder und steigern seine Stimme. Es spricht nicht mehr der einzelne, sondern die verkörperte und personifizierte Gruppe« (Durkheim 1994: 290).
In diesem Zusammenhang ist die Frage von Bedeutung, in welcher Weise der Einzelne räumlich zu der Menge positioniert ist. Er muss, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, durch das szenische Arrangement in irgendeiner Weise herausgehoben sein, sei es durch eine Bühne, durch die Beleuchtung etc. Dies verweist darauf, dass auch die Räumlichkeit, die Anordnung der Körper im Raum und die Atmosphäre der Räume Wirkungen auf die Beteiligten haben. Genauso die Lichtverhältnisse und der Einsatz von Beleuchtungseffekten, denn der menschliche Organismus reagiert sehr sensibel auf Licht: Die Befindlichkeit der Zuschauer einer Aufführung kann sich durch wechselnde Beleuchtungsverhältnisse abrupt ändern. Oftmals verläuft diese Verwandlung der Zuschauer dabei unterhalb des Bewusstseins und kann von ihnen nicht kontrolliert werden. Die Zuschauer sind diesen Veränderungen gleichsam ›ausgesetzt‹ (vgl. Fischer-Lichte 2004: 207). 38
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Diese Ausführungen zeigen, dass rituelle Handlungen durch das Gesamtarrangement von Räumlichkeit, Beleuchtung, Lautlichkeit und Bewegung auf die Akteure wirken. Ein Ritual muss als ein ›Gesamtkunstwerk‹ angesehen werden, das bei den Teilnehmern eine außeralltägliche Erfahrung hervorruft (vgl. Wulf 2005: 93). Rituelle Handlungen folgen auch bestimmten zeitlichen Abläufen und Dramaturgien, mittels derer Zeiträume geschaffen werden, die es den Beteiligten ermöglichen, die Gleichförmigkeit des Alltags zu vergessen und »Momente gesteigerten Lebens« zu erfahren (Wulf 2004a: 205). Jörg Zirfas schreibt in diesem Zusammenhang über den Zauber der Rituale: »Rituale halten die Uhr an und stellen die Zeit still. Sie bewahren uns im Alltag davor, dass uns das Leben mit seinen vielen Problemen zu nahe kommt. Aber Rituale ermöglichen auch die Erfahrung einer besonderen, intensiven Zeit. Diese Erfahrung wird oftmals durch die Formen der Inszenierungen und die Möglichkeiten kollektiver Erregungszustände enorm gesteigert. So wird durch die dramatische räumliche und zeitliche Verdichtung ritueller Veranstaltungen eine intensive Form gemeinsamer Realität inszeniert, die den Gedanken nahe legt, dass man an der Ewigkeit teilhat« (Zirfas 2004b: 11).
In unserem Zusammenhang muss betont werden, dass Musik und Tanz eine bedeutende Rolle spielen, um kollektive Gefühle zu erzeugen, denn über den Rhythmus werden die Bewegungen der Menschen, die an den rituellen Handlungen beteiligt sind, koordiniert: Die Menschen kommen in einen Einklang. Auch die in Ritualen häufig zu beobachtenden redundanten Handlungen (z. B. sich wiederholende Textpassagen in Gesängen) erzeugen eine Verdichtung und Intensivierung von Gefühlen (vgl. Tambiah 1985b: 145). Eine Voraussetzung für die Erzeugung eines Einklangs der Beteiligten ist allerdings, dass die Ritualteilnehmer sich wenigstens bis zu einem gewissen Grade dem rituellen Geschehen hingeben, sich von der Stimmung ›anstecken‹ lassen und die willentliche Kontrolle reduzieren. »Wie im Tanz oder im Liebesspiel hat die rationale Steuerung der Handlungen auch in einem Ritual ihre Grenze« (Wulf 2004a: 207). Es wird deutlich, dass mit Zuschauern und Ritualteilnehmern etwas geschieht, während sie die Rituale durchführen: Sie kommen körperlich und psychisch in Bewegung. Insofern erfahren die Ritualteilnehmer während des Rituals eine Verzauberung. Schon Durkheim hatte dies erkannt, wenn er schrieb, dass die Menschen in Ritualen gleichsam über sich hinauswachsen: »Der Mensch erkennt sich nicht wieder; er glaubt, verwandelt zu sein« (Durkheim 1994: 565). Während der Magiebegriff der klassischen Ritualforschung sich also auf die Beeinflussung metaphysischer Kräfte bezieht, geht es beim Begriff des Zaubers um die physische und affektive Veränderung der beteiligten Men39
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schen. Der Begriff des Zaubers umfasst dabei verschiedene Dimensionen. Zum einen bezeichnet er die emotionale und körperliche Involvierung der Beteiligten in Situationen der intensiven Gemeinschaftserfahrung. Zudem bezieht er sich auf eine wie auch immer geartete Verwandlung der Personen. Schließlich bezeichnet er unerklärliche und das Individuum gleichsam überwältigende Erfahrungen, die von den Menschen nur begrenzt gesteuert werden können. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die in den Riten entstehenden Gefühle auch über die Zeit der rituellen Handlungen hinweg andauern können. Nach Fischer-Lichte ist bei der Beantwortung dieser Frage Zurückhaltung geboten: Ob es in einer Theateraufführung zu einer nachhaltigen Verwandlung der Zuschauer komme, lasse sich nur im jeweiligen Einzelfall entscheiden (vgl. Fischer-Lichte 2004: 313). Diese Feststellung verweist auf die Notwendigkeit empirischer Forschung. Meine Einzelinterviews mit Rock- und Popfans werden zu dieser Frage neue Aufschlüsse geben.
Das kulturelle Feld der Rock- und Popmusik Wie beim Ritualbegriff ist auch bei der Rock- und Popmusik eine ›weiche‹ Begriffsbestimmung einer ›harten‹ vorzuziehen. Dies wird schon durch den oben dargestellten Vermischungscharakter der afro-amerikanischen Musik deutlich, der auch die Rock- und Popmusik kennzeichnet. Die populäre Musik befindet sich in einem Gärungszustand, ist ständig im Wandel begriffen, vermischt sich mit anderen Musikrichtungen. Es gibt unzählige Rubriken wie Pop, Soul, Heavy Metal, Rap, HipHop etc., teilweise mit jeweiligen Unterrubriken. In der vorliegenden Arbeit soll der Begriff ›Rock- und Popmusik‹ aber nicht nur als Oberbegriff dieser verschiedenen musikalischen Stilrichtungen angesehen werden. Vielmehr soll er hier ein kulturelles Feld bezeichnen, das durch bestimmte soziale Akteure, mediale Darstellungen und nicht zuletzt rituelle Praktiken charakterisiert ist. Die von dem Musikwissenschaftler Ansgar Jerrentrup 1981 herausgearbeiteten Charakteristika geben noch immer eine gute grundlegende Orientierung bezüglich des Begriffs der Rock- und Popmusik, müssen aber teilweise revidiert oder ergänzt werden (vgl. Jerrentrup 1981: 4-11). Danach ist ein wesentliches Kennzeichen der Rockmusik ihre Herkunft aus »Musikformen des afro-amerikanischen Akkulturationsprozesses«. Sie hat einen »eklektischen Grundzug«, ist »stark motorisch geprägt« und basiert weniger auf fester Notation als auf Improvisation. Das klangliche Bild wird vom Schlagzeug und elektrisch verstärkten Gitarren beherrscht (heute zählen auch SynthesizerKlänge dazu); eine herausragende Stellung kommt der menschlichen Stimme zu. In Zeiten des Musikfernsehens und des Videoclips ist die Rock- und Popmusik aber nicht mehr nur ein vornehmlich auditives, sondern auch ein visu40
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elles Phänomen: »Fragt man heute einen Jugendlichen nach einem bestimmten Song, so wird er oft nicht mehr antworten: ›Ja, ich habe den Song gehört.‹ Er wird vielmehr sagen: ›Ja, ich habe das Video gesehen‹ oder ›Ja, ich habe den Song gesehen‹« (Langhoff 1998: 364). Zudem bilden sich über die Medien zahlreiche Mythen und Symbole im Bereich der Rock- und Popmusik heraus. Der Erziehungswissenschaftler Helmut Voullième setzt dies sogar mit dem Bedeutungsverlust der traditionellen Religion in modernen Gesellschaften in Verbindung: »Im Verlauf ihrer Entwicklung hat die Rockmusik eigene Mythen geschaffen, über sich selbst, ihre gesellschaftliche Funktion, ihren Sinn und über ihre Propheten, die Rockstars. […] In einer Gegenwart, wo traditionelle Symbole ihre einstige Bedeutung verlieren, ist es die Symbolisierungsfähigkeit der Rockmusik, die ihre weltweite Popularität begründet« (Voullième 1987: 63 u. 68). Die Mythen und Symbole der Rock- und Popmusik haben allerdings – im Gegensatz zu vielen Symbolen in magischen Riten nach Turners Analysen – kaum klar zu bestimmende Bedeutungen, sondern enthalten eher diffuse Botschaften, »die niemals explizit genannt, aber von den Massen intuitiv verstanden und begierig rezipiert [werden]« (Flender/Rauhe 1989: 7). Man könnte hier mit den Worten der Ritualforscherin Mary Douglas von ›diffusen Symbolen‹ reden (vgl. Douglas 1981: 24). Entsprechend schwierig ist es für Interpreten der Rock- und Popmusik häufig, diese Botschaften zu analysieren und sprachlich auszudrücken. Wie zu zeigen sein wird, stellt die hier vorgeschlagene ritualtheoretische Perspektive einen Interpretationsrahmen bereit, der es erlaubt, den Bedeutungsgehalt der Symbole und Mythen der Rock- und Popmusik auf den Begriff zu bringen.10 Auch wenn die Rock- und Popmusik entsprechend ihrer Mythen und Symbole oft mit bestimmten Werten des Rauschs, der Rebellion, der Betonung des Körperlichen etc. assoziiert wird (was z. B. in dem Slogan »Sex, Drugs and Rock’n’Roll« zum Ausdruck kommt), weist sie doch gleichzeitig eine enge Bindung zum Kommerz auf und ist ein integrierter Bestandteil des marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems. Insofern steht sie »in der ständigen Spannung zwischen Kommerz und Ausdruck eines Lebensgefühls« (Kögler 1994: 28). Oftmals wird für »verschlagerte«, also vor allem dem Kommerz untergeordnete Musik, der Begriff der ›Popmusik‹ verwendet, der gegen die als authentisch angesehene ›Rockmusik‹ abgegrenzt wird. Diese Unterscheidung ist aber nicht hilfreich, da eben jede populäre Musik in die marktwirtschaftlichen Mechanismen eingebunden ist.11 Dies ist der Grund, weshalb ich von ›Rock- und Popmusik‹ oder einfach auch ›populärer Musik‹ spreche.
10 Vgl. vor allem Kapitel 3 des vorliegenden Buches. 11 Natürlich sind auch die anderen musikalischen Felder wie Volkmusik oder Klassische Musik in die Marktwirtschaft integriert. 41
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Wenn die Rock- und Popmusik als kulturelles Feld angesehen wird, gehören auch die als ›Fans‹ bezeichneten Anhänger zu ihrem Erscheinungsbild dazu, wobei all jene als Fans gelten können, »die eine leidenschaftliche Beziehung zu einem für sie externen, entweder personalen, kollektiven oder gegenständlichen Fanobjekt haben und in die emotionale Beziehung zu diesem Objekt Zeit und Geld investieren« (Schäfer/Roose 2005: 49). Schon Jerrentrup kennzeichnete die Rock- und Popmusik in diesem Zusammenhang als ein »sub- oder teilkulturelles Feld« der Jugendlichen (Jerrentrup 1981: 10). Die Musik dient dabei dazu, ein jugendkulturelles Lebensgefühl zum Ausdruck zu bringen: Mit Hilfe der Musik können Jugendliche sich von Erwachsenen abgrenzen und ihre spezifischen Sehnsüchte, Wünsche, Schwierigkeiten kommunizieren. Die Anfänge einer ›Subkultur‹ Jugendlicher nach dem zweiten Weltkrieg wird meist direkt mit der Entstehung des Rock’n’Roll verbunden.12 Der Medienpädagoge Ralf Vollbrecht schreibt: »In den 50er Jahren wird Popund Rockmusik zum Ausdrucksmedium der neu entstehenden Jugendkulturen (›Teenager‹, ›Halbstarke‹). Jugendliche schaffen damit erstmals eigene soziale Milieus in Abgrenzung von der Welt der Erwachsenen. Diese subkulturellen Milieus sind gekennzeichnet durch die (unterschiedliche) Verwendung der Symbolmedien Musik, Mode und Ausdrucksgestus« (Vollbrecht 1995: 30). Da die Fans der Anfangszeit allerdings inzwischen gealtert sind, gilt diese Bestimmung nicht mehr uneingeschränkt. Studien zur Rockmusik betonen allerdings immer wieder, dass diese Musik gerade im Jugendalter eine besondere Bedeutung erlangt.13 Unter der Bezeichnung ›Rock- und Popstar‹ werden im Allgemeinen Musiker verstanden, die kommerziell besonders erfolgreich sind und eine hohe Aufmerksamkeit seitens der Medien wie der Fans bekommen.14 Das Verhältnis der Stars zum Publikum ist durch eine eigentümliche Verschränkung von Nähe und Distanz gekennzeichnet: Stars sind über die Medien omnipräsent, ihr körperliches Erscheinungsbild ist dem Publikum äußerst vertraut. In den Songs der populären Musik dominiert das Muster des Ansingens eines imaginären Gegenübers, wodurch der Eindruck der Intimität zwischen Sänger und Hörer hervorgerufen wird (vgl. Wicke 2001: 28ff.). Aber auch unabhängig von den Songinhalten erzeugt die Stimme der Sänger Intimität, wie der Rock12 Wie Sander ausführt, ist es inzwischen nicht mehr sinnvoll, von »Subkulturen« zu sprechen, denn den modernen Gesellschaften fehlt meist ein allgemeiner gesellschaftlich-kultureller Rahmen, vor dessen Hintergrund sich dann die »Subkulturen« abgrenzen ließen (vgl. Sander 1995). 13 Auch im Kindesalter spielt Rock- und Popmusik inzwischen eine wichtige Rolle, wie die Studie von Bettina Fritzsche (2003) zeigt. Welche Bedeutung Rockmusik für erwachsene Fans hat, müsste erst noch erforscht werden. 14 Seit einigen Jahren ist allerdings eine gewisse Inflation des Starbegriffs zu bemerken: es gibt immer mehr »Superstars«, »Megastars« etc., die allerdings oft nur wenig oder nur kurzen Erfolg haben. 42
GRUNDLEGENDE BEGRIFFE
soziologe Simon Frith zeigt: »All pop singers […] have to express emotion. Their task is to make public performance a private revelation. Singers can do this because the voice is an apparently transparent reflection of feeling: it is the sound of the voice, not the words sung, which suggests what a singer really means« (Frith 2004: 204). Gleichzeitig sind Stars aber in erster Linie Medienprodukte, zu denen das Publikum nur in den seltensten Fällen direkten Kontakt aufnehmen kann. Informationen aus der Welt der Stars gelangen nahezu ausschließlich über die Medien zu den Fans. Der Kunstwissenschaftler Jens Thiele resümiert: »Nähe und Distanz, Verheißung und Zurückweisung sind grundlegende Pole im Spannungsfeld zwischen Star und Publikum, das ja durch einen hochkomplexen emotionalen Dialog gekennzeichnet ist« (Thiele 1997: 137f.). Und der Sozialpsychologe Carlo Sommer weist darauf hin, dass Stars von einem Geheimnis umgeben sind: »Der Star muss einen Mythos verkörpern, das heißt ein spezifisches Figurenschema mit dazugehörigem Kontext, das allen vertraut [ist], dessen Ursprung aber im dunkeln [sic.] liegt. Das Geheimnis ist demnach zweifacher Art: Einmal liegt es im Ursprung des Mythos, und zum anderen ergibt es sich aus der Frage: ›Wie kommt gerade dieser eine Sterbliche dazu, die Reinkarnation dieses Mythos zu sein?‹« (Sommer 1997: 115). In der hier verwendeten Terminologie lassen sich dieses durch Nähe und Distanz charakterisierte emotionale Verhältnis zwischen Star und Publikum sowie die mediale Inszenierung des Geheimnisses auch als ein Zauber bezeichnen, der die Rock- und Popstars umgibt. Hinsichtlich der Fan-Star-Beziehung sind auf dem kulturellen Feld der Rock- und Popmusik zahlreiche Praktiken der Fans zu beobachten, die mit dem hier verwendeten weichen Ritualbegriff als Rituale bezeichnet werden können, wie das eingangs beschriebene Warten vor dem Hotel. Und auch die Stars haben ihre Rituale, in denen sie sich, wie bei der Grammy-Verleihung, selbst feiern – und an denen die Fans über die mediale Vermittlung als Zuschauer teilnehmen können. Als zentrales Ritual der Rock- und Popmusik muss aber die Konzertveranstaltung angesehen werden, denn hier treffen Fans und Stars aufeinander. Wie ich weiter unten zeigen werde, ist auch für Rockund Popkonzerte das Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Fans und Stars charakteristisch.15 Schon bei Jerrentrup findet sich ein Hinweis darauf, dass das Publikum in Konzerten eine Verzauberung erfährt: Konzerte der Beatles oder der Rolling Stones, so Jerrentrup, erhielten »ein im europäischen Bereich ungewöhnliches Stigma, eine dionysische Dimension. Ein dort aktivierter Besucher geht sichtlich in anderer seelischer Verfassung nach Hause, die einer tiefgehenden Veränderung seines Wesens nahekommen kann« (Jerrentrup 1981: 116f.). Allerdings sollte Jerrentrups Formulierung nicht darüber 15 Siehe den Abschnitt »Das Rockkonzert als rituelle Aufführung« im Kapitel 4. 43
ROCK UND POP ALS RITUAL
hinwegtäuschen, dass es noch kaum empirische Untersuchungen dazu gibt, ob und inwiefern ein Fan in Rockkonzerten tatsächlich eine »tiefgehende Veränderung seines Wesens« erfährt. Das vorliegende Buch versteht sich dementsprechend als ein Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke. Schließlich muss hinzugefügt werden, dass die Grenze zwischen Fans und Musikern oft fließend ist. Viele Stars waren selbst einmal Fans von anderen Stars und haben im Jugendalter angefangen, Musik zu machen. Es gibt unzählige Amateurbands, von denen viele sicherlich davon träumen, berühmt zu werden; doch andere wollen sich bewusst der Kommerzialisierung ihrer Musik entziehen.16
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen In diesem Kapitel wurden die für den weiteren Gang dieses Buches grundlegenden Begriffe Ritual, Zauber und Rock- und Popmusik erarbeitet. Dabei wurde deutlich, dass eine ›weiche‹, von der engen Bindung an Magie und Religion gelöste Ritualdefinition notwendig ist, um die Rock- und Popmusik zu beschreiben und analysieren. Es wurde vorgeschlagen, statt des Begriffs der Magie den des Zaubers zu verwenden, der eng mit Inszenierungs- und Aufführungsstrategien verbunden ist. Inszenierungen und Aufführungen können demnach einen Zauber auf die beteiligten Personen ausüben, der in einer emotionalen und physischen Involvierung der Personen oder deren Verwandlung durch überwältigende oder für sie unerklärliche Erfahrungen besteht. Es wurde weiterhin deutlich, dass die Rock- und Popmusik als ein kulturelles Feld aufzufassen ist, welches durch bestimmte Mythen, Symbole und rituelle Handlungen gekennzeichnet ist. Es deutete sich an, dass diese Mythen, Symbole und rituellen Handlungen einen Zauber auf das Publikum auszuüben vermögen, wobei gleichzeitig betont wurde, dass es noch empirischer Forschung bedarf, um diese Verzauberung detailliert zu rekonstruieren. Schließlich wurde herausgestellt, dass die Rock- und Popmusik gerade für die Jugend von besonderer Bedeutung ist, weil sie es schafft, ein jugendliches Lebensgefühl zum Ausdruck zu bringen. Offen bleibt bisher die Frage, weshalb dieses kulturelle Feld so geeignet ist, der Jugend eine Stimme zu geben. Was ist das Besondere an den Mythen, Symbolen und rituellen Handlungen der Rock- und Popmusik, dass sie gerade für Jugendliche so faszinierend sind? Inwiefern ›passen‹ die Jugendphase und die Rock- und Popmusik zueinander? Auf diese Fragen werde ich in den folgenden Kapiteln aus ritualtheoretischer Perspektive eingehen.
16 Siehe z. Β. den Ausschnitt aus der Gruppendiskussion auf Seite 235ff. 44
2 J uge nd und Ritual: Kultura nthropologisc he Konze pte
Dieses Kapitel handelt kaum von der Rock- und Popmusik. Vielmehr wird hier hauptsächlich die rituelle Gestaltung der Jugendzeit in traditionellen Gesellschaften untersucht. Dies ist aus folgenden Gründen für den weiteren Fortgang des Buches notwendig: Erstens können die in diesem Kapitel dargestellten kulturanthropologischen Konzepte einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Jugendphase – auch in modernen Gesellschaften – leisten. Zweitens bieten diese Konzepte einen geeigneten Interpretationsrahmen für die Analyse der Rock- und Popmusik. Drittens schließlich wird es mit Hilfe dieser Konzepte möglich, die Bedeutung der Rock- und Popmusik gerade für Jugendliche zu verstehen. Im Folgenden wird deshalb zunächst der Frage nachgegangen, welche Differenzen in den traditionellen Riten der Jugend bearbeitet werden – also welche Veränderungen die Jugendlichen durchlaufen –, und welche rituellen Mittel dabei zum Einsatz kommen. Dabei werden zentrale kulturanthropologische Begriffe und Konzepte wie ›Liminalität‹, ›Anti-Struktur‹ und ›Communitas‹ erarbeitet. Daran anschließend wird die Bedeutung von Musik in traditionellen Jugendritualen herausgearbeitet. In einem weiteren Schritt wird dann gezeigt, inwiefern sich die bei der Untersuchung traditioneller Riten gewonnen Erkenntnisse auf moderne Gesellschaften übertragen lassen.
L i m i n a l i t ä t , C o m m u n i t a s u n d An t i - S t r u k t u r in traditionellen Jugendritualen Nicht alle, aber sehr viele traditionelle Gesellschaften begehen den Übergang ihrer Mitglieder vom Kindsein zum Erwachsensein mit spezifischen Ritualen, die als Initiations- oder Pubertätsriten bezeichnet werden. Diese Riten können sich je nach Gesellschaft in ihrer Dauer, ihrer Symbolik, ihrer szenischen 45
ROCK UND POP ALS RITUAL
Ausgestaltung, dem Einbezug verschiedener Gesellschaftsmitglieder etc. unterscheiden. Auch wenn dieser Umstand darauf verweist, dass keine allgemeingültige Theorie der Initiation möglich ist, gibt es allerdings einige kulturvergleichende Studien, die auf bestimmte Themen aufmerksam machen, welche in vielen Initiations- und Pubertätsriten verbreitet sind. Als zentrale Arbeiten sehe ich die der Kulturanthropologen Arnold van Gennep, Victor Turner, Jean LaFontaine und Ronald Grimes sowie des Religionswissenschaftlers Mircea Eliade an. Allerdings sind Initiations- und Pubertätsriten, wie alle Rituale, sehr komplex. Die Autoren haben in ihren Untersuchungen jeweils verschiedene Aspekte betrachtet und unterschiedliche theoretische Schwerpunkte gesetzt. Während Eliade sich z. B. auf die religiöse Erfahrung von Tod und Wiedergeburt konzentriert, betont Turner die soziale Erfahrung einer besonderen Form von Gemeinschaft, die während der Riten entsteht. LaFontaine geht auf Eide und Geheimwissen ein, welche von keinem anderen Autor weitergehend analysiert werden. Verschiedene Autoren beschreiben zudem gelegentlich ähnliche Phänomene, deuten sie aber jeweils unterschiedlich oder benennen sie anders.1 Auch diese Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten zeigt, dass es kaum möglich sein dürfte, eine allgemeingültige Theorie der Initiations- und Pubertätsriten zu entwerfen. Zudem ist die Begriffsverwendung ›Initiation‹ bzw. ›Pubertätsritus‹ nicht einheitlich. Bei Eliade gelten auch solche Zeremonien als Initiation, mit denen ein Kandidat (der nicht notwendig ein Jugendlicher sein muss) in einen Geheimbund aufgenommen wird. Diese Rituale werden in der vorliegenden Arbeit nicht betrachtet. Als entscheidendes Kennzeichen von Initiationen wird oft auch angegeben, dass sie kollektiv stattfinden: ein ganzer Jahrgang durchläuft das Ritual gemeinsam. Dagegen bezieht sich der Begriff der Pubertätsriten meist auf Zeremonien für einzelne Individuen (so sieht es z. B. LaFontaine 1985: 14f.). Allerdings ist schon der Begriff der Pubertät problematisch, denn er suggeriert die Verbindung der Riten mit einem biologischen Prozess. Doch schon Arnold van Gennep hatte darauf hingewiesen, dass die Altersschwankungen bei der physiologischen Entwicklung so groß sind, »daß man sich keine Institution vorstellen kann, die auf einem so unbestimmbaren und unregelmäßigen Element wie der Pubertät basieren könnte« (van Gennep 2005: 71). Er unterschied deshalb zwischen sozialer und physiologischer Pubertät. Da in der rituellen Praxis beide selten zusammenfallen, schlägt van Gennep vor, Initiationsriten nicht mehr als Pubertätsriten zu bezeichnen (vgl. ebd.: 72). Diese Argumentation hat sich aber nicht durchgesetzt, noch immer werden vor allem individuelle Übergänge zwischen Kindsein und Erwach1
46
So lassen sich Momente der ›Anti-Struktur‹, auf die Turner mit Nachdruck hinweist, auch in den Ritualbeschreibungen von Eliade und LaFontaine finden, ohne dass diese Autoren diese Momente analytisch oder begrifflich weiter ausarbeiten.
KULTURANTHROPOLOGISCHE KONZEPTE
sensein mit dem Begriff des Pubertätsritus gefasst. Für den Zweck des vorliegenden Buches soll die Unterscheidung zwischen Initiation und Pubertätsritus nicht weiter von Interesse sein (weshalb ich auch zusammenfassend von ›Jugendritualen‹ spreche). Hier wird es darum gehen, die zentralen Dimensionen der Differenzbearbeitung der Rituale, die in traditionellen Gesellschaften für die Jugendlichen begangen werden, zu identifizieren – gleich, ob diese Riten kollektiv oder individuell stattfinden.
Die Entwicklung des Menschen im Wechsel von Struktur und Anti-Struktur Als theoretischer Ausgangspunkt dient mir Arnold van Genneps klassisches Modell der Übergangsriten. Beim Studium unterschiedlicher ethnologischer Untersuchungen hatte van Gennep Ähnlichkeiten zwischen Ritualen, die bis dahin niemand in einen Zusammenhang gebracht hatte, festgestellt. Van Gennep meinte, dass so unterschiedliche rituelle Handlungen wie territoriale Grenzüberschreitungen oder Bestattungszeremonien eine Gemeinsamkeit haben: Sie markieren einen Übergang. Aufgrund dieser Beobachtung entwickelte er den Begriff der Übergangsriten. Übergangsriten, so van Gennep, folgen einem bestimmten Ablaufschema, welches drei Schritte oder Phasen umfasst: (1) die Trennungsphase, in der die Loslösung aus dem bisherigen Zustand mittels eines Trennungsritus stattfindet, (2) die Schwellen- oder Umwandlungsphase (auch liminale Phase genannt, von lat. limen = Schwelle), in der die erstrebte oder notwendige Veränderung mittels verschiedener ritueller Handlungen vollzogen wird, und (3) schließlich die Phase der Angliederung, welche mittels eines spezifischen Ritus in den neuen Zustand hineinführt. Van Genneps Ablaufschema der Übergangsriten lässt sich wie folgt darstellen:
t
Trennungsritus █
liminale Phase
Angliederungsritus █
Diesem Modell entsprechend lassen sich viele Jugendrituale in drei Schritte einteilen. So werden die zu initiierenden Jungen bei den australischen Ureinwohnern zunächst mit bestimmten Handlungen aus ihrer gewohnten Umgebung und von ihren Müttern entfernt (Trennungsritus) und in den Busch gebracht, wo sie für eine Weile in Seklusion leben (liminale Phase), bis sie mit bestimmten Zeremonien wieder in die gesamte Gemeinschaft integriert werden (Angliederungsritus). Große Aufmerksamkeit wurde in der Ritualfor-
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ROCK UND POP ALS RITUAL
schung vor allem der liminalen Phase entgegengebracht, die teilweise mehrere Jahre dauern kann und meist in besonderer Weise symbolisch ausgestaltet ist.2 Die Individuen, deren Übergang zelebriert wird – Turner nennt sie im Anschluss an van Gennep die »liminalen Subjekte« oder »Schwellenwesen« – befinden sich während dieser Phase in einer uneindeutigen und unsicheren Situation: sie sind in einer »Zwischensphäre«, schweben gleichsam »zwischen zwei Welten« (van Gennep 2005: 143f ., 29). Die Initianden sind in der liminalen Phase keine Kinder mehr und noch keine Erwachsenen, sie sind, wie Turner es in einem bekannten Artikel ausdrückt, »betwixt and between« (Turner 1967b). Die rituellen Symbole und Handlungen, die die liminale Phase kennzeichnen, drücken dabei genau diesen ambivalenten Zustand, dieses Herausfallen aus der gewöhnlichen Ordnung, aus: »Schwellenwesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen. Viele Gesellschaften, die soziale und kulturelle Übergänge ritualisieren, verfügen deshalb über eine Vielzahl von Symbolen, die diese Ambiguität und Unbestimmtheit zum Ausdruck bringen. So wird der Schwellenzustand häufig mit dem Tod, mit dem Dasein im Mutterschoß, mit Unsichtbarkeit, Dunkelheit, Bisexualität, mit der Wildnis und mit einer Sonnen- oder Mondfinsternis gleichgesetzt« (Turner 1989a: 95).
Die Initianden nehmen nicht mehr am normalen gesellschaftlichen Leben teil, verbringen ihre Zeit an einem vom Dorf abgelegenen, heiligen Ort (meist bei Jungen) oder in einer besonderen Hütte (meist bei Mädchen). Bei vielen Stämmen gelten sie als ›tot‹ und gleichzeitig als ›neugeboren‹, was oft sogar mit denselben Symbolen ausgedrückt wird: »It is interesting to note how […] logically antithetical processes of death and growth may be represented by the same tokens, for example, by huts and tunnels that are at once tombs and wombs, by lunar symbolism (for the same moon waxes and wanes), by snake symbolism (for the snake appears to die, but only to shed its old skin and appear in a new one), by bear symbolism (for the bear ›dies‹ in autumn and is ›reborn‹ in spring), by nakedness (which is at once the mark of a newborn infant and a corpse prepared for burial), and by innumerable other symbolic formations and actions« (Turner 1967b: 99).
2
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Dies hatte schon van Gennep betont. Die ihm gegenüber häufig geäußerte Kritik, er hätte im Grunde lediglich gezeigt, dass Rituale einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, ist also nicht gerechtfertigt, wie LaFontaine ausführt (1985: 24ff.).
KULTURANTHROPOLOGISCHE KONZEPTE
Die liminale Phase ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass die im gewöhnlichen Leben geltenden ökonomischen und rechtlichen Beziehungen teilweise oder sogar ganz außer Kraft gesetzt sind, so dass die Initianden exzessiv über die Stränge schlagen können. Sie können ungehindert stehlen, plündern und auf Kosten der Gemeinschaft leben. »Die Novizen leben außerhalb der Gesellschaft; und die Gesellschaft hat keine Macht über sie, um so weniger, da sie sakral und heilig, somit unberührbar und gefährlich wie Götter sind« (van Gennep 2005: 112). Den vorangehenden Beobachtungen entsprechend hat Turner das nichtrituelle Leben mit dem Begriff der »Sozial-Struktur« und das rituelle Leben (bzw. die Liminalität) als »Anti-Struktur« oder auch »Communitas« bezeichnet. Sozial-Struktur ist dadurch gekennzeichnet, dass jedes Individuum einen klar definierten sozialen Status innehat (z. B. ›Kind‹ oder ›Erwachsener‹) und sich in ein festes ökonomisches und rechtliches Beziehungsgefüge einfügen muss. Mit Anti-Struktur und Communitas wird der Zwischenzustand erfasst, in den die Jugendlichen während der liminalen Phase geraten, denn in der liminalen Phase sind diese gewöhnlichen Beziehungen mehr oder weniger stark aufgehoben.3 An diese Unterscheidung anschließend entwickelte Turner ein Modell der individuellen, sozialen und kulturellen Dynamik, das in einem dialektischen Wechsel zwischen Struktur und Anti-Struktur besteht: Menschen brauchen danach abwechselnd beide Zustände. Anti-Struktur ist notwendig, um Veränderungen und Übergänge in der Struktur zu bewältigen: »Aus all dem schließe ich, daß für Individuen wie für Gruppen das Leben eine Art dialektischer Prozeß ist, der die sukzessive Erfahrung von Oben und Unten, Communitas und Struktur, Homogenität und Differenzierung, Gleichheit und Ungleichheit beinhaltet. Der Übergang von einem niederen zu einem höheren Status erfolgt durch das Zwischenstadium der Statuslosigkeit. In einem solchen Prozeß konstituieren gewissermaßen die Gegensätze einander und sind für einander unerläßlich« (Turner 1989a: 97). 3
In Turners Arbeiten werden die Begriffe ›Liminalität‹, ›Communitas‹ und ›AntiStruktur‹ nicht besonders trennscharf verwendet. ›Liminalität‹ bezeichnet vor allem die mittlere Phase von Übergangsriten, ›Communitas‹ die Form des sozialen Miteinanders in dieser Phase. ›Communitas‹ kann allerdings auch unabhängig von Übergangsriten auftreten (wie ich in den nächsten Kapiteln eingehender zeigen werde). Als ›Anti-Struktur‹ lässt sich das gemeinsame Auftreten von Liminalität und Communitas begreifen (vgl. Turner 1974b: 202). Aber auch das gemeinsame Auftreten von Communitas und ›liminoiden‹ Symbolen (siehe dazu weiter unten) kann mit dem Begriff der Anti-Struktur erfasst werden. In weiten Teilen seiner Schriften weicht Turner diese Begriffsbestimmungen allerdings auf und benutzt die verschiedenen Begriffe annähernd synonym. Insofern erarbeitet Turner weniger eine klare begriffliche Systematik als ein Konzept zur Untersuchung ritueller Handlungen im Besonderen sowie sozialer Prozesse im Allgemeinen. 49
ROCK UND POP ALS RITUAL
Die Erfahrung der Liminalität, dieses vorübergehenden rituellen Zwischenzustandes, hat nach Turner oft einen ekstatischen Charakter. Sie ist subjektiv mit dem Gefühl unbegrenzter Macht verbunden, wodurch sie eine magische Qualität erhält (vgl. ebd.: 135). Dementsprechend wird Liminalität meist als heilig angesehen (vgl. ebd.: 107). Nach Turner bleibt die magische Qualität der Liminalität an den Initianden nach Beendigung der Riten gleichsam haften und gibt ihnen die notwendige Autorität, die sie in ihrer neuen Position brauchen (vgl. ebd.: 96). Sozialstruktur dagegen ist eher ein nüchternes Erfordernis, welches vor allem auf profanen, ökonomischen Notwendigkeiten basiert. Denn Wirtschaften bedeutet, Ressourcen zu mobilisieren: »Ressourcen mobilisieren bedeutet aber auch Menschen mobilisieren. Und das hat soziale Organisation mit all ihren ›Zielen‹ und ›Mitteln‹ und dem notwendigen ›Triebverzicht‹ zur Voraussetzung, was wiederum die […] Einrichtung geordneter Strukturbeziehungen zwischen den Menschen erfordert« (ebd.: 132). Anti-Struktur hat die wichtige gesellschaftliche Funktion, die soziale Struktur von Zeit zu Zeit aufzulockern und vor allzu starken Verfestigungen zu bewahren bzw. bereits entstandene Verfestigungen gleichsam zu verflüssigen. Anti-Struktur kann dabei auch zu kreativen Veränderungen in der sozialen Struktur führen: »For its very existence puts all social structural rules in question and suggests new possibilities« (Turner 1974b: 202). Zunächst ist aber festzuhalten, dass in traditionellen Jugendritualen der Übergang der Individuen vom Status des Kindes zu dem des Erwachsenen in der Weise gestaltet wird, dass die Individuen in einen vorübergehenden Zustand der Anti-Struktur versetzt werden. Diese Gestaltung des Übergangs kann als grundlegende Differenzbearbeitung angesehen werden, welche die Jugendrituale leisten. Allerdings lassen sich in den kulturanthropologischen Schriften drei weitere Dimensionen der Bearbeitung von Differenz in der liminalen Phase von Jugendritualen finden: (1) Gemeinschaftlichkeit, (2) Geschlechtlichkeit und (3) Transzendenz. Diese sollen im Folgenden dargestellt werden – nicht nur, um die ganze Komplexität der Liminalität herauszuarbeiten und den Begriff der Communitas weiter zu schärfen, sondern vor allem, weil alle Dimensionen bei der Analyse der Rock- und Popmusik von Bedeutung sein werden.
Liminalität und Gemeinschaftlichkeit: Absonderung der Jugendlichen und universelle Verbundenheit Da sich die Initianden während der liminalen Phase weitgehend in einer von den anderen Stammesmitgliedern abgesonderten Gruppe befinden und alle denselben Status haben – nämlich statuslos, eben »betwixt and between« zu sein –, kann sich eine intensive Gemeinschaft zwischen ihnen entwickeln. Turner stellte bei seinen Beobachtungen des Rituals Mukanda – der Jungen50
KULTURANTHROPOLOGISCHE KONZEPTE
initiation bei den Ndembu – fest, dass die im nicht-rituellen Leben bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien und Strukturen stark vereinfacht und auf zwei Beziehungsformen heruntergebrochen wurden: Zum einen herrschte eine absolute Autoritätsbeziehung zwischen den Initianden und ihren Lehrern, zum anderen entstand eine äußerst intensive Kameradschaft unter den Initianden, selbst wenn die Initianden im nicht-rituellen Leben einen unterschiedlichen sozialen Status hatten: »If complete obedience characterizes the relationship of neophyte to elder, complete equality usually characterizes the relationship of neophyte to neophyte, where the rites are collective. This comradeship must be distinguished from brotherhood or sibling relationship, since in the latter there is always the inequality of older and younger, which often achieves linguistic representation and may be maintained by legal sanctions. The liminal group is a community or comity of comrades and not a structure of hierarchically arrayed positions. This comradeship transcends distinctions of rank, age, kinship position, and, in some kind of cultic group, even of sex. Much of the behavior recorded by ethnographers in seclusion situations falls under the principle: ›Each for all, and all for each‹« (Turner 1967b: 100).
Unter den Jungen der Ndembu entstanden dabei Freundschaften, die teilweise über das ganze Leben hinweg andauerten, und deren Basis nicht Abstammung oder Nachbarschaft war, sondern individuelle Wahl. Es ist diese von einer prinzipiellen Gleichheit der Individuen geprägte Form der sozialen Beziehung zwischen den Initianden, auf die sich Turners Begriff der »Communitas« grundlegend bezieht. Communitas ist der Form der sozialen Beziehungen, die im nicht-rituellen Leben gelten, entgegengesetzt, denn sie tendiert dazu, die sozialen Unterschiede zwischen Menschen zum Verschwinden zu bringen. Dementsprechend ist die Erfahrung von Communitas auch von angenehmen und bisweilen ekstatischen Gefühlen des Verschmelzens mit anderen Menschen verbunden. Communitas bedeutet aber nicht nur eine existentielle Verbundenheit der Jugendlichen untereinander, sondern auch zwischen den Menschen und der Natur. Liminalität »is also replet with symbols quite explicitly relating to biological processes, human and nonhuman, and to other aspects of the natural order. In a sense, when man ceases to be the master and becomes the equal or fellow of man, he also ceases to be the master and becomes the equal or fellow of nonhuman beings« (Turner 1974c: 252f.). Die liminale Phase ist dementsprechend oft von symbolischen Bezügen zu Tieren und Pflanzen durchzogen, was z. B. im Gebrauch von Tiermasken oder Federkleidern zum Ausdruck kommt.4 4
Was dabei in verschiedenen Kulturen als »Natur« angesehen wird, kann ganz unterschiedlich sein: »It is culture that fabricates structural distinctions; it is cul51
ROCK UND POP ALS RITUAL
Schon hier zeigt sich, dass Communitas dazu neigt, umfassend zu werden. Turner hatte zudem bei der Initiation der Ndembu-Jungen beobachtet, dass in den Symbolen und Handlungen des Rituals nicht nur die Verbundenheit der Initianden, sondern – auf einer anderen Ebene – auch die des gesamten Stammes hervorgehoben wurde. Die Machtkonflikte zwischen einzelnen Personen und Gruppen wurden in den sakralen Phasen des Rituals zugunsten der Betonung der universellen Verbindung untereinander, des grundlegenden Aufeinander-Angewiesenseins, unterdrückt: »Mukanda has the prominent characteristic of expressing in its symbolism and rolepattern not the unity, exclusiveness, and constancy of corporate groups but rather such widespread classes as men, women, elders, children, the married, the unmarried, and so on. Such categories cut across and interlink the memberships of corporate groups. In a sense they represent, when ritualized, the unity and continuity of the widest society, since they tend to represent the universal constants and differentiae of human society, age, sex, and somatic features. […] On the whole, conflict is excluded from the stereotyped behaviour exhibited in ritual events. […] Harsh penalties are exacted upon those who disobey ritual officiants, and dreadful supernatural sanctions are believed to punish taboo-breaking. By these means, the opposition between social categories is confined within narrow limits, and in the ritual situation their interdependence, rather than their mutual antagonism, is emphasized« (Turner 1967c: 265).
Communitas tendiert also dazu, universell zu werden. Die Grenzen der Communitas decken sich idealerweise mit denen der Menschheit (vgl. Turner 1989a: 129). Die Erfahrung des Verschmelzens mit anderen Menschen kann prinzipiell auf ein Gefühl des Verbundenseins mit allen Menschen ausgedehnt werden. Es ist also festzuhalten, dass in Jugendritualen auch insofern Differenzen bearbeitet werden, als einerseits die Initianden untereinander eine besondere Gemeinschaftserfahrung machen und andererseits die universelle Verbundenheit aller Stammesmitglieder symbolisch betont und rituell eingefordert wird. Entsprechend kann man mit Turner zwischen einer »unmittelbaren«, »existentiellen« oder auch »spontanen« und einer »normativen« oder »ideologischen« Communitas unterscheiden: erstere bezeichnet eine direkte, letztere eine symbolische oder inszenierte Einforderung von Verbundenheit. Beide Formen von Communitas können gemeinsam auftreten, müssen es aber nicht unbedingt.
ture too that eradicates these distinctions in liminality, but in so doing culture is forced to use the idiom of nature, to replace its fictions by natural facts – even if these facts themselves only possess what reality they have in a framework of cultural concepts« (Turner 1974c: 253). 52
KULTURANTHROPOLOGISCHE KONZEPTE
Liminalität und Geschlechtlichkeit: Zügellosigkeiten und Ambiguität In der Literatur ist man sich durchweg einig, dass Geschlechtlichkeit und Sexualität wichtige Themen von Initiations- und Pubertätsriten sind. Oft enthalten die Riten auf die eine oder andere Weise die Offenbarung der Sexualität (vgl. Eliade 1989: 26). Auch der sexuelle Akt selbst kann, real oder symbolisch vollzogen, Bestandteil von Initiations- und Pubertätsriten sein.5 Viele Initiations- und Pubertätsriten haben das Ziel, aus Kindern, die als geschlechtslos angesehen werden, Frauen bzw. Männer zu machen. Dieser Vorgang kann mit der physiologischen Reife der Initianden zusammenfallen, muss es aber nicht. So waren die Initianden bei einer Initiation der Gisu, die LaFontaine untersucht hat, zwischen 18 und 25 Jahren alt, hatten also die physiologische Pubertät bereits hinter sich. Dennoch galten sie vor der Initiation als ›Jungen‹, hinterher als ›Männer‹. Erst nach der Initiation durften sie heiraten und einen Hausstand führen (vgl. LaFontaine 1985: 119ff.). Genau auf diesen Punkt bezieht sich van Gennep, wenn er zwischen physiologischer und sozialer Pubertät unterscheidet. Man kann also sagen, dass in den Riten das soziale Geschlecht der Initianden hergestellt wird. Den Riten wird dabei oft eine größere – weil magische – Kraft als der physiologischen Entwicklung zugesprochen. So sagt LaFontaine über die Vorstellungen der Bewohner der Wogeo-Inseln: »natural growth is seen as weak and likely to fail unless strengthened by the rites« (ebd.: 130). Die während der Riten real oder symbolisch vollzogenen sexuellen Handlungen können als Versuch, die intendierte Umwandlung der Initianden magisch mit Potenz aufzuladen, interpretiert werden (vgl. ebd.: 114ff.). Damit steht im Zusammenhang, dass Initiations- und Pubertätsriten oft auch eine deutliche Trennung der Geschlechter zum Ausdruck bringen. So gibt es kaum Riten, an denen sowohl Mädchen als auch Jungen beteiligt sind, in aller Regel gibt es für beide Geschlechter je spezifische rituelle Arrangements. Da die Zeremonien für Mädchen meist mit dem Einsetzen der Menstruation beginnen, haben sie oft einen individuellen Charakter. Die Initiation der Jungen dagegen findet meist in Gruppen statt. Die Symboliken und Handlungen der Riten definieren zudem oft das in einer Gesellschaft vorherrschende Verhältnis zwischen Männern und Frauen und weisen den Geschlechtern vorgegebene soziale Rollen zu: »The aim of many traditional ini5
Während James Frazer die Initiation noch als eine Form von Fruchtbarkeitsritus ansah, also die Thematik von Geschlechtlichkeit und Sexualität als deren Hauptfokus identifizierte, weist van Gennep darauf hin, dass diese Thematik zwar durchaus vorhanden ist, aber andere Themen mindestens ebenso bedeutend sind. Geschlechtlichkeit und Sexualität werden seitdem als einer von mehreren Themenkomplexen bei der Initiation angesehen (vgl. LaFontaine 1985: 26). 53
ROCK UND POP ALS RITUAL
tiations is to ingrain clear images of manhood and womanhood. The primary intention may be less to create responsible adult citizens and more to define proper male and female roles, making it easier to enforce rules regarding the display of gender« (Grimes 2000: 109). Auch wenn die Riten letztendlich das Ziel haben, das Geschlecht der Initianden klar zu markieren, verweist die Symbolik der liminalen Phase oft auf einen vorübergehenden Zustand der Geschlechtslosigkeit oder gar der Geschlechtsumkehr der Initianden. Eliade sagt über einen Ritus der Dajak auf Borneo, bei der sich das geschlechtsreife Mädchen in einer weißen Hütte aufhält, weiße Kleider trägt, sich von weißen Nahrungsmitteln ernährt und schließlich mit einem Bambusrohr das Blut aus der Vene eines jungen Mannes saugt: »[I]n der Zwischenzeit [also in der liminalen Phase] ist das Mädchen weder Frau noch Mann; man hält es für ›weiß‹, ›blutleer‹« (Eliade 1989: 87). In verschiedenen afrikanischen Gesellschaften kleiden sich die männlichen Initianden wie Frauen, die weiblichen wie Männer (vgl. ebd.: 60). In diesen ambivalenten Kodierungen von Geschlecht kommt die Tendenz von Communitas-Phänomenen zum Ausdruck, soziale Unterschiede zum Verschwinden zu bringen. Vor allem Initiationen von Mädchen beinhalten darüber hinaus oft sexuelle Zügellosigkeiten, obszöne Handlungen und die Verspottung von Männern durch Frauen. In dieser »rituellen Rebellion« (Gluckman) kommt nicht einfach ein Mangel an Respekt zum Ausdruck, sondern die rituell vorgeschriebene Umkehrung des normalen weiblichen Verhaltens. Auch hinsichtlich der Geschlechterrollen wird in Initiations- und Pubertätsriten also Anti-Struktur bzw. Communitas hergestellt: »The particular form of this reversal, however, can only be understood if it is seen as an opposition of symbols, a creative reordering of categories, rather than the manifestation of feminine resentment against men as human beings who exercise power and authority« (LaFontaine 1985: 165f.). Nach Turner stellen die in Ritualen oft zu beobachtenden symbolischen oder realen Aggressionen von Niedrigstehenden gegenüber Hochstehenden – wie die obszönen Gesten von Frauen gegenüber Männern – ein soziales Gleichgewicht wieder her, welches durch die zunehmende Verfestigung sozialer Strukturen und der damit verbundenen sozialen Ungleichheiten während der nicht-rituellen Zeit verloren gegangen war (vgl. Turner 1989a: 164-169).6 Ich halte fest, dass Jugendrituale oft das Ziel haben, die Initianden erwachsen zu machen, indem ihnen innerhalb der jeweils gültigen sozialen Konstruktion von Geschlecht eine eindeutige Position zugewiesen wird. In
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Communitas kann also durchaus rebellische Formen annehmen. Dementsprechend analysiert Turner in seinen Texten immer wieder verschiedene Communitas-Formen – von friedfertigen bis zu »wilden«, »rohen« oder gar »militanten«.
KULTURANTHROPOLOGISCHE KONZEPTE
der liminalen Phase hingegen schweben die Initianden auch hinsichtlich der Geschlechtlichkeit in einer von Ambiguität gekennzeichneten »Zwischensphäre«.
Liminalität und Transzendenz: Der Kontakt mit dem Heiligen In die liminale Phase fallen auch die wichtigsten magischen Handlungen der Initiations- und Pubertätsriten, denn hier wird der Kontakt der Initianden mit der sakralen Sphäre hergestellt. Personen, die nicht initiiert wurden – so genannte Profane – sind deshalb ausgeschlossen. Die sakrale Sphäre können je nach Kultur die Ahnen, übernatürliche Wesen, magisch-religiöse Kräfte oder auch Vorstellungen über kosmologische Zusammenhänge sein. Eliade sieht die Begegnung der Initianden mit dem Heiligen als eigentliche Erfahrung der Initiation an. Der symbolische Tod bedeutet danach vor allem das Ende des ›natürlichen‹, profanen Zustandes der Initianden. Der Initiand ›stirbt‹ in der Eigenschaft als Kind seiner physischen Eltern und wird dann von der Gottheit ›wiedergeboren‹. Der Kontakt mit der sakralen Sphäre ist dabei der zentrale Moment der Transformation: er macht die Initianden zu neuen – das heißt bei Eliade: geistigen, kulturellen – Menschen. Die anthropologische Bedeutung der Initiation sieht Eliade darin, dass die Initiation es vermag, dem Tod eine positive Deutung zu geben. Die Initiation ermöglicht den Menschen »den Zugang zu einer Seinsweise, die der verheerenden Wirkung der Zeit entzogen ist« (Eliade 1989: 243). Die Verbindung der Initianden mit der Transzendenz, die in den Riten hergestellt wird, überdauert die Riten selbst und hält für das gesamte Leben der Initianden an, oft geht sie sogar über deren Tod hinaus. Die Initianden werden gleichsam unsterblich (vgl. ebd.: 208). Turner hat sich mit diesem Aspekt der Liminalität nur wenig auseinandergesetzt. Es gibt aber Hinweise, dass er den Begriff der Communitas nicht nur im Sinne einer existentiellen Verbindung zwischen Menschen, sondern auch zwischen Menschen und den übernatürlichen Kräften versteht. Wir hatten bereits gesehen, dass sich Communitas auch auf nicht-menschliche Wesen bezieht, wobei damit vor allem Wesen aus der Natur gemeint sind. Darüber hinaus schreibt Turner: »[B]ecause communitas is such a basic, even primordial mode of human interlinkage, depending as it does neither on conventions nor sanctions, it is often religiously equated with love – both the love of man and the love of God« (Turner 1974c: 266.)7
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An einer anderen Stelle schreibt Turner, dass selbst der einsame (indische) Mystiker Communitas erreicht, wenn er zu ›Atman‹ vordringt, einer Instanz, von der der Mystiker glaubt, dass sie in allen Menschen existiert (vgl. Turner 1974b: 203). 55
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Ich möchte diesen Gedanken aufgreifen und bei der Verbindung von Menschen mit transzendenten Wesen von einer ›vertikalen Communitas‹ sprechen. Davon zu unterscheiden ist dann die ›horizontale Communitas‹, die sich auf die Gemeinschaft von Menschen bezieht. In Initiations- und Pubertätsriten sind beide Formen von Communitas von Bedeutung. Während der Begriff der horizontalen Communitas darauf verweist, dass zwischen den Ritualteilnehmern keine Hierarchie besteht, sie also alle ›auf einer Stufe‹ stehen (zumindest die Gruppe der Initianden), so beinhaltet die vertikale Communitas dagegen insofern eine Hierarchie, als sich die Menschen den transzendenten Mächten, mit denen sie sich verbunden fühlen, unterordnen. Den Göttern wird Autorität zuerkannt: »Ein Gott ist tatsächlich zuerst ein Wesen, das sich der Mensch in gewissen Zügen als sich selbst überlegen vorstellt und von dem er glaubt abzuhängen« (Durkheim 1994: 285). Oft bedingen sich vertikale und horizontale Communitas, denn es ist meist die gemeinsame Unterordnung unter ein übernatürliches Wesen, welche dazu führt, dass die Menschen sich auf einer existentiellen Ebene verbunden fühlen. Dies kommt in Sätzen wie »vor Gott sind alle Menschen gleich« zum Ausdruck (vgl. dazu vor allem Turner 1974b). In den kulturanthropologischen Berichten über Jugendrituale finden sich verschiedene rituelle Techniken, mittels derer eine vertikale Communitas hergestellt wird. Zunächst findet man es häufig, dass die Initianden während der Riten Unterweisungen von Lehrern erhalten. Es kann vorkommen, dass die Initianden während der Riten erfahren, dass alles, was sie bis dahin geglaubt hatten, falsch war (vgl. z. B. LaFontaine 1985: 83). Ihnen werden die geheimen Namen der Götter offenbart und heilige Gegenstände gezeigt, sie lernen über die Theogonie, die Kosmogonie und die mythische Geschichte ihrer Gesellschaft (vgl. Turner 1967b: 103). Turner hat in diesem Zusammenhang betont, dass die liminale Phase der Riten eine Zeit der symbolischen Kreativität ist. Denn in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Mythen und Symbolen entsteht für die Initianden ein Freiraum, ihre Phantasie spielen zu lassen und über den Ursprung ihres Daseins und die Werte des Stammes zu reflektieren. »In such situations as the liminal periods of major rites de passage the ›passengers‹ and ›crew‹ are free, under ritual exigency, to contemplate for a while the mysteries that confront all men, the difficulties that peculiarly beset their own society, their personal problems, and the ways in which their own wisest predecessors have sought to order, explain, explain away, cloak or mask […] these difficulties« (Turner 1974c: 242). In der Liminalität wird der Intellekt zu einem gewissen Grade befreit und kann sich »proto-philosophischen Spekulationen« hingeben (ebd.: 253). Turner sieht hierin die Möglichkeit zu gesellschaftlicher und kultureller Innovation in Übergangsriten. »Mit anderen Worten, in der Liminalität ›spielen‹ die Menschen mit den Elementen des Vertrauten und verfremden sie. Und aus 56
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den unvorhergesehenen Kombinationen vertrauter Elemente entsteht Neues« (Turner 1989b: 40). Neben der Unterweisung und Kontemplation kann die Verbindung der Initianden mit den übernatürlichen Wesen auch in einer direkteren Weise über magische Akte hergestellt werden. So wird der Initiand beim Besessenheitskult der Nyoro in West-Uganda symbolisch mit einem Geist verheiratet, wobei der Initiand als ›Braut‹, der Geist als ›Bräutigam‹ angesehen wird (vgl. La Fontaine 1985: 58ff.). Bei der Mädcheninitiation der Pokot in West-Kenia ist der geheimste Teil der Riten die Herstellung einer Verbindung der Initianden mit einem Geist, der einen sakralen Teich bewohnt. Die Mädchen müssen auf das Wasser schlagen und der dabei entstehende Regenbogen zeigt die Zustimmung des Geistes an (vgl. ebd.: 170). Auch das Berühren oder bloße Sehen von heiligen Gegenständen muss hier genannt werden. Ich hatte oben schon auf den Ritus der Arunta in Australien hingewiesen, bei dem der Initiand mit der religiösen Kraft in Kontakt tritt, indem er einen heiligen Pfahl, auf den das Totemwappen gezeichnet ist, küsst (vgl. Durkheim 1994: 173f.). All dies sind rituelle Akte, bei denen unter der Leitung von Ritualspezialisten eine magische Verbindung der Initianden mit einem transzendenten Bereich geknüpft wird. Eine weitere, nochmals direktere und auch individuellere Form der Verbindung mit übernatürlichen Wesen ist die mystische Erfahrung. Vor allem von den Indianderstämmen Nordamerikas ist die Visionssuche bekannt. Die Jugendlichen ziehen sich dabei für eine bestimmte Zeit aus dem normalen Leben des Stammes zurück und unterziehen sich rituellen Übungen wie Fasten, Tanzen und Beten.8 Schließlich offenbart sich ihnen in einer Vision oder einem Traum ihr persönlicher Schutzgeist, meist in Gestalt eines Tieres. Dieser Geist wird seinem Schutzbefohlenen für den Rest des Lebens Rat geben, weltlichen Erfolg garantieren und im Krieg und bei der Jagd beistehen. Das Individuum erhält von dem Geist einen neuen Namen und bei einigen Stämmen auch ein Lied oder einen Tanz, mit dem er beschworen werden kann. Der Initiierte fertigt sich schließlich in der Regel eine »Medizin«, die den Schutzgeist symbolisiert. Die Initianden bekommen also nicht einfach von anderen Personen einen Schutzgeist zugewiesen, sondern begegnen ihm selbst. Gleichzeitig ist die Schutzgeistsuche hoch formalisiert, das heißt bei jedem Stamm gibt es trotz des individuellen Charakters der Erfahrung bestimmte rituelle Prozeduren sowie kulturell vorgegebene Gestalten, die eine Schutzgeistvision annehmen kann (vgl. Benedict 1974: Kapitel II). Durkheim fasst die Intensität der so entstehenden Beziehung wie folgt zusammen: 8
Die Schutzgeistsuche in Nordamerika kann zwar teilweise als Pubertätsritual angesehen werden, aber nicht durchgängig. Auch Erwachsene suchen sich ihren Schutzgeist, z. B. wenn sie Schamanen werden wollen (vgl. Benedict 1974: 4951). 57
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»Zwischen dem Individuum und dem Tier, das ihm seinen Namen gegeben hat, bestehen die engsten Beziehungen. Der Mensch nimmt an der Natur des Tieres teil; er hat seine Eigenschaften wie im übrigen seine Fehler. […] Die Gemeinschaft zwischen ihnen ist so eng, daß ihre Schicksale oft als gleichartig angesehen werden: nichts kann einem zustoßen, was der andere nicht ebenfalls fühlt. Wenn das Tier stirbt, ist das Leben des Menschen gefährdet« (Durkheim 1994: 220f.).
Gemeinsames Element all der dargestellten rituellen Handlungen ist also die Erfahrung der Initianden, in eine enge Verbindung mit transzendenten Bereichen gebracht zu werden, sei diese Nähe kognitiv, körperlich oder visionär hergestellt. Diese Verbindung füllt die Initianden mit einer neuen, magischen Kraft. Der Initiierte ist nun selbst fähig, die übernatürlichen Mächte zu kontrollieren und zu erreichen, dass deren Eingreifen in menschliche Angelegenheiten günstig sei. Durkheim bringt es hinsichtlich der Schutzgeistsuche zudem auf den Punkt, dass der Initiand auch eine neue moralische Kraft erlangt: »Das Vertrauen, das der Mensch in seinen Beschützer hat, ist so groß, daß er den größten Gefahren trotzt und gelassen die tollkühnsten Taten vollbringt: der Glaube gibt ihm den notwendigen Mut und die nötigen Kräfte« (Durkheim 1994: 221). Das Verhältnis der Menschen zu ihren Göttern – die vertikale Communitas – hat also zwei Seiten: Zum einen ordnen sich die Menschen der Autorität der Götter unter, zum anderen fühlen sich die Menschen durch ihre Götter moralisch gestärkt. Um weiterhin an der Kraft der heiligen Wesen teilhaben zu können, müssen die Menschen immer wieder Riten durchführen, mit denen diese Wesen gestärkt werden sollen. Ziel dieser Riten ist es also, »die heiligen Wesen am Leben zu erhalten, sie neu zu gestalten und sie ständig zu regenerieren.« Das heißt: »Zwischen der Gottheit und ihren Anbetern besteht nichts weniger als ein Austausch von Diensten, die sich gegenseitig bedingen« (ebd.: 467f.). Dieses in Ritualen zum Ausdruck kommende Verhältnis der gegenseitigen Stärkung bezeichnet Durkheim als »Kult«. Ich werde darauf bei der Analyse der Einzelinterviews zurückkommen. Ich halte also fest, dass eine weitere Dimension der Differenzbearbeitung in Initiations- und Pubertätsriten darin besteht, die Initianden in Kontakt mit der sakralen Sphäre zu bringen.
Zum Zusammenhang von Liminalität und Musik Aus den kulturanthropologischen Texten geht hervor, dass in vielen Initiations- und Pubertätsriten gesungen und getanzt wird. Allerdings wird in der Ritualforschung nur selten theoretisch über die Bedeutung von Musik und Tanz reflektiert. In diesem Abschnitt sollen zumindest skizzenhaft einige
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Überlegungen zum Zusammenhang von Liminalität und Musik ausgearbeitet werden. Folgt man den kulturanthropologischen Berichten, so scheinen Musik und Tanz ein wichtiger Faktor bei der Erzeugung von Communitas und AntiStruktur zu sein. LaFontaine beschreibt, wie die Gisu-Jungen in Uganda sich mit Tanz und Gesang auf ihre Initiation vorbereiten, was »Litima«, eine heftige und gewalttätige Emotion, in ihnen intensivieren soll. »Litima« ist dabei nicht nur die Ursache von Streit und Gewalt, sondern auch die Basis für Unabhängigkeit und Konkurrenzfähigkeit, die von den Gisu in Männern bewundert wird. Die Initianden kommen durch das Tanzen und Singen in einen Zustand »which resembles a state of trance or disassociation; they speak in a special yodel and appear not to understand what is said to them. Older ›brothers‹, already initiated, accompany them, protecting bystanders from their wild behaviour and the novices from blundering into things« (LaFontaine 1985: 122). In diesem Zustand werden die Initianden für das, was sie tun, nicht verantwortlich gemacht. LaFontaine schreibt: »To the observer they appear to be giving an impression of untamed humanity, outside normal society; they are powerful but asocial« (ebd.). Durch das exzessive Tanzen und Singen geraten die Jugendlichen also in einen Zustand, der die Kennzeichen der AntiStruktur trägt: Der im normalen Leben geltende Verhaltenskodex ist außer Kraft gesetzt. Musik und Tanz haben weiterhin die Funktion, die Bewegungen der Ritualteilnehmer zu synchronisieren. Die Akteure geraten in einen gemeinsamen Rhythmus, wodurch eine intensive Gemeinschaftserfahrung entstehen kann. Schon Durkheim ging darauf ein, dass Musik und Tanz in besonderem Maße dazu geeignet sind, eine »kollektive Efferveszenz« zu erzeugen, denn die Menschen können sich durch Singen und rhythmisches Bewegen immer mehr in ein gemeinsames Gefühl hineinsteigern (vgl. Durkheim 1994: 297). Im ausgelassenen Tanzen ›verschmelzen‹ die Menschen gleichsam miteinander, so dass unter den Teilnehmern eine Erfahrung von Communitas entstehen kann. Und das gemeinsame und synchrone Bewegen zum Rhythmus der Musik weist darauf hin, dass soziale Differenzen zwischen den Akteuren, die für die Sozial-Struktur kennzeichnend sind, im Tanz tendenziell aufgehoben werden. Wie Turner im Zusammenhang mit dem Ritual »Wubwang’u« schreibt – welches allerdings kein Jugendritual ist –, können in Tanz und Gesang auch die für die Liminalität charakteristischen sexuellen Zügellosigkeiten zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Turner 1989a). Schließlich hat Musik oft einen sakralen Charakter. Wie ich oben hinsichtlich der afro-amerikanischen Gottesdienste schon gezeigt habe, können Gesang und Tanz dazu dienen, den Kontakt zwischen Menschen und heiligen Kräften herzustellen. Musik vermag also eine vertikale Communitas zu ver59
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mitteln. Mit ihrem Bezug zum Sakralen hat Musik auch eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit der liminalen Phase in Übergangsriten, wie die Ethnomusikologin Marcia Herndon schreibt: »Song may be said to sacralize time, space, and being, creating an atmosphere in which paranormal acts can be performed and opposing forces brought to a point of resolution. Those points in the human life cycle that are recognized as important in a given society will be marked by song and ceremony. In this instance song marks and gives protection in the liminal phase of a rite of passage« (Herndon 1992: 165). Diese Ausführungen belegen die wichtige Funktion von Musik und Tanz bei der Erzeugung der für die liminale Phase von Jugendritualen so charakteristischen außeralltäglichen Zustände und Erfahrungen.
Das Liminoide In Turners anthropologischem Modell, nach dem soziale Prozesse und individuelle Entwicklungen in dialektischer Weise sowohl auf Struktur als auch Anti-Struktur angewiesen sind, erscheint Liminalität als ein grundlegendes Element des menschlichen Lebens. Jede Gesellschaft, so Turner, steht vor der Herausforderung, eine je angemessene Balance zwischen Struktur und AntiStruktur zu finden. Ein Ungleichgewicht kann sogar schwerwiegende Folgen nach sich ziehen: »Since communitas has a strong affectual component, it appeals more directly to men; but since structure is the arena in which they pursue their material interests, communitas perhaps even more importantly than sex tends to get repressed into the unconscious, there to become either a source of individual pathological symptoms or to be released in violent cultural forms in periods of social crisis« (Turner 1974c: 266). In traditionellen Gesellschaften ist die Balance von Struktur und AntiStruktur durch das zyklische Feiern von Übergangsriten gegeben. Wenn die Jugendphase in modernen Gesellschaften aber zunehmend entritualisiert wird, so stellt sich die Frage: Was wird dabei aus der Liminalität? Turner bemerkt in seinen kulturvergleichenden Analysen, dass es in modernen Gesellschaften soziale und kulturelle Felder gibt, deren zentrale Symbole an die Liminalität erinnern – auch wenn in diesen Feldern keine rituelle Liminalität wie in traditionellen Übergangsriten hergestellt wird. Die in diesen Feldern zu findenden Symbole und Handlungen stammen entweder von früheren Formen ritueller Liminalität ab oder dienen als deren funktionale Äquivalente (vgl. Turner 1992a: 51). Turner prägte in diesem Zusammenhang ein Konzept, das im weiteren Verlauf dieses Buches eine große Bedeutung haben wird: das Konzept des ›Liminoiden‹ (was so viel bedeutet wie ›dem
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Liminalen ähnlich‹).9 Bei der »Migration« der liminalen Symbole in den Bereich des Liminoiden ist das geschlossene rituelle Setting der Übergangsriten gleichsam aufgebrochen und ausdifferenziert worden, so dass sich eine Vielzahl von »liminoiden Genres« herausgebildet hat: »Music, dance, song, drama, painting, woodcarving, sculpture, narrative, and so forth are unified and orchestrated in preindustrial ritual. Each becomes specialized, professionalized, and in a measure secularized as societies pass certain thresholds of scale and complexity and development of the social division of labor« (Turner 1992b: 153f.). Der Begriff der Liminalität bezieht sich also allein auf die mittlere Phase von Übergangsriten (vgl. Turner 1989b: 43f.). Mit dem Begriff des Liminoiden werden dagegen Phänomene bezeichnet, die nicht im Kontext expliziter Übergangsrituale verortet sind, aber in ihrer symbolischen Ausgestaltung und sozialen Funktion Gemeinsamkeiten mit der liminalen Phase aufweisen. Trotz der Ähnlichkeiten, auf die ich gleich eingehen werde, bestehen doch auch bedeutende Unterschiede zwischen Liminalität und den liminoiden Genres (vgl. Turner 1989b): Während die Teilnahme an Stammesritualen für die Mitglieder obligatorisch ist, kann man in die Welt der liminoiden Genres freiwillig eintreten – sie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie im Bereich der Freizeit angesiedelt ist, wohingegen die Ausführung von Ritualen als (sakrale) Arbeit gilt. Übergangsriten haben einen Statuswechsel der Individuen zum Ziel, die liminoiden Genres nicht. Während Riten zyklisch begangen werden, sind Literatur, Kunst, Musik etc. kontinuierlich verfügbar. Riten sind eine Angelegenheit des Kollektivs, in den liminoiden Genres wird das Individuum, der einzelne Künstler, Sänger etc. betont. Riten sind in den sozialen Prozess zentral integriert, die liminoiden Genres sind eher am Rande der zentralen politischen und ökonomischen Institutionen angesiedelt. Schließlich unterliegt das Liminoide den Marktbedingungen. Turner beurteilt dies positiv, bedeutet der Markt doch eine prinzipielle Entscheidungsfreiheit für die ›Konsumenten‹10; gerade der Markt macht es möglich, dass sich viele verschiedene liminoide Phänomene herausbilden können.11 Schließlich weist Turner darauf 9
Turner hat dieses Konzept relativ spät entwickelt; frühere Arbeiten, in denen er sich bereits mit der Frage nach der Liminalität in modernen Gesellschaften auseinandersetzte, kamen ohne es aus. Gleichwohl werde ich auch seine früheren Überlegungen, in denen es vor allem um Communitas-Bewegungen geht, unter dem Stichwort des Liminoiden abhandeln. 10 Der Begriff des Konsumenten ist im Hinblick auf das Publikum der liminoiden Gattungen kaum angemessen, denn er verweist eher auf eine passive Haltung. Im Bereich der liminoiden Gattungen geht es aber gerade im Gegenteil oft darum, aktiv zu werden: selbst zu klettern, zu schwimmen, zu tanzen oder zu singen. 11 Turner sieht sogar eine etymologische Verbindung zwischen Freizeit und Markt: »Das englische Wort ›leisure‹ leitet sich etymologisch vom altfranzösischen lei61
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hin, dass das Liminoide im Gegensatz zum Liminalen weitgehend ohne direkten Bezug zur Transzendenz auskommt, dass also – in der hier verwendeten Begrifflichkeit – die vertikale Communitas an Bedeutung verliert (vgl. Turner 1992b: 160). Dies bedeutet natürlich auch, dass das Liminoide im Gegensatz zum Liminalen nicht mehr mit magischen Vorstellungen verbunden ist. Worin sind aber nun die Gemeinsamkeiten von Liminalität und liminoiden Kulturfeldern zu sehen? Turners kulturvergleichenden Arbeiten zufolge ermöglichen die liminoiden Genres die Erfahrung und den Ausdruck von Communitas und Anti-Struktur. Beispielsweise verweist die Figur des Außenseiters, des Armen und Schwachen, die in Literatur und Mythos – und, wie zu zeigen sein wird, auch in der Rock- und Popmusik – eine wichtige Rolle spielt, auf die Idee der Communitas. Denn diese Figur zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie, den »Schwellenwesen« ähnlich, außerhalb oder am Rande der sozialen Strukturen steht und gleichzeitig auf universell menschliche Werte verweist. »Diese, die Armen und Deformierten repräsentierenden Figuren symbolisieren anscheinend die moralischen Werte der Communitas im Gegensatz zur Zwangsmacht der höchsten politischen Herrscher. In der Volksliteratur wimmelt es von symbolischen Figuren wie ›heiligen Bettlern‹, ›dritten Söhnen‹, ›kleinen Schneiderlein‹ und ›Einfaltspinseln‹, die die Inhaber eines hohen Ranges ihres Dünkels berauben und sie auf das Maß allgemeiner Menschlichkeit und Moral reduzieren« (Turner 1989a: 108f.).
Die liminalen Symbole können weiterhin immer eine Kritik an bestehenden sozialen Strukturen beinhalten und Hinweise geben, wie die Gesellschaft stattdessen sein könnte. Sie bringen gleichsam ein »Mag sein«, »Könnte sein«, »Kann sein« und »Als ob« zum Ausdruck. Dies kennzeichnet aber auch die liminoiden Genres. Dabei ist die Freiheit der liminoiden Genres, spielerisch und experimentell nach neuen Antworten auf kulturelle und soziale Fragen zu suchen, weitaus größer als in der liminalen Phase von Übergangsriten. Denn während die liminale Kreativität stets funktional für die soziale Struktur ist, können von den liminoiden Genres auch subversive oder revolutionäre Impulse ausgehen: »Die verschiedenen Gattungen industrieller Muße wie Theater, Dichtung, Literatur, Ballet, Film, Sport, Rockmusik, klassische Musik, Kunst, Pop Art usw. spielen
sir ab, das vom lateinischen licere, ›erlaubt sein‹, stammt und interessanterweise die indoeuropäische Wurzel *leik, ›zum Kauf, zum Handel anbieten‹, hat, was auf die ›liminale‹ Sphäre des Wahl, Variation, Vertrag implizierenden Markts verweist – eine Sphäre, die in archaischen und tribalen Religionen mit TricksterGottheiten wie Eshu-Elegbar und Hermes verknüpft ist« (Turner 1989b: 60f.). 62
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ebenso mit den Faktoren der Kultur, ordnen sie ebenso zu zufälligen, grotesken, unwahrscheinlichen, schockierenden, gewöhnlich experimentellen Kombinationen an, wie wenn Stammesangehörige Masken anfertigen, sich selbst als Monsterwesen verkleiden, disparate rituelle Symbole vereinigen oder die profane Realität in Mythen und Märchen umkehren oder parodieren. Sie tun das aber auf sehr viel kompliziertere Weise, als das in der Schwellenphase von tribalen Initiationsriten der Fall ist, indem sie sich in spezialisierte Gattungen des Kunst- und Unterhaltungssektors, der Massen-, Pop-, Volks-, Hoch-, Gegen-, Untergrund- usw. Kultur […] aufspalten. Und innerhalb dieser Gattungen haben die Autoren, Dichter, Dramatiker, Maler, Bildhauer, Komponisten, Musiker, Schauspieler, Komödianten, Folksänger, Rockmusiker, die ›Macher‹ im allgemeinen sehr viel Spielraum, nicht nur ›verrückte‹ Formen, sondern auch, und das nicht eben selten, direkte, gleichnishafte oder Aesopsche Modelle zu entwickeln, die dem Status quo entweder insgesamt oder teilweise äußerst kritisch gegenüberstehen« (Turner 1989b: 61).
Turner arbeitet weiterhin heraus, dass viele politische oder religiöse Bewegungen sich zentral auf die Werte der Communitas beziehen. Sie lehnen die bestehenden sozialen Strukturen ab und fordern eine andere, ›menschlichere‹ Welt, die auf einer universellen Kameradschaft basieren soll. Dabei brechen solche Bewegungen vor allem in Gesellschaften hervor, die sich in starker Veränderung befinden und/oder in denen verfestigte soziale Strukturen bestehen. Auch der Rock- und Popmusik bescheinigte Turner den Charakter einer Communitas-Bewegung. Turner kam in seiner Analyse zu dem Schluss: »Rock is clearly a cultural expression and instrumentality of that style of communitas which has arisen as the antithesis of the ›square‹, ›organization man‹ type of bureaucratic social structure of mid-twentieth-century America« (Turner 1974c: 262). Allerdings sind Turners Ausführungen zur Rock- und Popmusik eher fragmentarisch. Ich werde sie dementsprechend im nächsten Kapitel aufnehmen und differenzieren. Turner betont in seinen Schriften immer wieder, dass die Liminalität eine sakrale, magische Qualität hat. Dies nicht nur, weil die Initianden in der liminalen Phase mit den transzendenten Mächten in Kontakt kommen, sondern auch, weil die Liminalität mit der Erfahrung großer Macht sowie großer Gefahr verbunden ist und einen die vorherrschenden Machtverhältnisse unterwandernden Charakter hat. Zwar verweist Turner auch auf den Bedeutungsverlust des Religiös-Magischen in modernen Gesellschaften, reflektiert dies aber in seinem Konzept des Liminoiden kaum. An diesem Punkt hilft der hier vorgeschlagene Begriff des Zaubers weiter: Da das Liminoide, ähnlich wie die Liminalität, die bestehenden Machtverhältnisse zu unterwandern, ja sogar zu revolutionieren vermag, ist es auch – je nach Perspektive – mit Macht und/oder unkontrollierbarer Gefahr verbunden und also mit einem Zauber umgeben. Auch Erfahrungen der unmittelbaren Communitas, des Verschmelzens mit anderen, haben eine Qualität des Zaubers. Und schließlich ist das 63
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Liminoide wie die Liminalität von einer symbolischen Ambiguität gekennzeichnet, die Symbole können keinen klar definierten Kategorien zugeordnet werden und transzendieren damit gleichsam das übliche rationale Fassungsvermögen. Auch wenn das Liminoide also keine magische Qualität im strengen Sinne aufweist, ist ihm doch ein Zauber eigen.12 Turner hat sich in seinen späteren Schriften, in denen er das Konzept des Liminoiden ausarbeitet, nicht mehr mit Übergängen von Individuen beschäftigt. Dementsprechend geht er auch nicht auf die Jugendphase ein. Allerdings erscheinen die Konzepte der Liminalität bzw. des Liminoiden als gut geeignet, um die Jugend zu beschreiben und analysieren. So schlägt Erdheim unter Bezug auf Turner vor: »Es scheint mir sinnvoll zu sein, die Adoleszenz einmal unter diesem Aspekt probeweise als eine chaotische Phase voller Ambivalenzen zu betrachten und als einen Bereich, der wenig oder keine Merkmale der Kindheit oder des Erwachsenseins aufweist« (Erdheim 1991: 82). Ich werde im Folgenden die Forschungen des Erziehungs- und Sozialwissenschaftlers Ralf Bohnsack skizzieren, die an Turners Konzept des Liminoiden anschlussfähig sind. Bohnsack hat mit seinen Mitarbeitern die gewalttätigen Auseinandersetzungen von Hooligans, die fights von Breakdancern oder auch die musikalische Praxis von Jugendbands untersucht und dabei herausgearbeitet, dass sich in diesen Praktiken eine Suche der Jugendlichen nach Gemeinschaft ausdrückt. In Ermangelung tradierter Rituale, die in eine klar definierte soziale Gruppe einführen könnten, tauchen während biographischer Entwicklungskrisen – wie die Jugendphase es ist – Fragen auf wie: »Wo gehöre ich hin, welcher Gruppe fühle ich mich zugehörig?« Ein wichtiges Kennzeichen von Entwicklungskrisen ist demnach die Herausforderung, sich in neue soziale Milieus einzufinden. Die Forschungen von Bohnsack u. a. weisen dabei darauf hin, dass Jugendliche dies vor allem über gemeinsames Tun erreichen – Bohnsack spricht auch von »Aktionismen« –, welches oft einen ritualisierten Charakter annimmt: durch das Musikmachen oder Kämpfen wird eine »habituelle Übereinstimmung« der Individuen erzeugt und eine gemeinsame Geschichte geschaffen (die allerdings auch eine bloße Episode bleiben kann). Diese Ritualisierungen sind meist richtungsoffen und experimentell, haben also den Charakter der Suche: »Je größer die Differenz zwischen den tradierten Wissensbeständen und der zu bewältigenden Handlungspraxis wird, desto weniger kann auf bewährte und habitualisierte Rituale der Bewältigung dieser Differenz zurückgegriffen werden und desto mehr nehmen die Rituale den Charakter einer experimentellen Suche, einer probehaften Sondierung an. Sie erhalten die Funktion einer experimentellen Suche nach
12 Diese knappen Ausführungen werden in den folgenden Kapiteln am Gegenstand der Rock- und Popmusik differenziert und empirisch ausgearbeitet. 64
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Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit, eben nach habitueller Übereinstimmung« (Bohnsack 2004: 85).
Bohnsack greift dabei Durkheims Begriff der kollektiven Efferveszenz auf und zeigt, wie sich die Jugendlichen in ihren Ritualisierungen gegenseitig aufschaukeln – wodurch eben die habituelle Übereinstimmung hergestellt wird (vgl. Bohnsack 2000; zur Musikpraxis vgl. auch Schäffer 1996). Mit Bezug auf Turner lässt sich auch sagen, dass die Jugendlichen in ihren experimentellen Ritualisierungen nach Erfahrungen von Communitas suchen. Insofern diese Ritualisierungen dabei helfen, eine Entwicklungskrise zu bewältigen, können sie in gewissem Sinne als ›Übergangsrituale‹ gedeutet werden. Allerdings handelt es sich hier um spontane und nicht-institutionalisierte Bearbeitungen eines Übergangs. Die Ritualisierungen finden im Rahmen der Freizeit statt und ermöglichen keine für den Lebenslauf relevante Statuspassage. Allerdings können sie durchaus eine hohe biographische Relevanz für die jeweiligen Individuen erlangen.13 Führt man die Ansätze von Turner und Bohnsack zusammen, so ergibt sich die Fragestellung, ob und inwiefern die liminoiden Genres eine Bedeutung im Zusammenhang der biographischen Suchprozesse von Jugendlichen, die der Bewältigung der Adoleszenzkrise dienen, eine Rolle spielen.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen In diesem Kapitel wurden ritualtheoretische Begriffe und Konzepte, die sich spezifisch auf die Jugendphase beziehen, herausgearbeitet. Es wurde deutlich, dass das Jugendalter in den meisten traditionellen Gesellschaften auf besondere Weise rituell gestaltet wird. Große Bedeutung kommt dabei der Liminalität, der mittleren Phase der Jugendrituale, zu, in der die Initianden in den Zustand des »betwixt and between« versetzt werden. In dieser sakralen Ausnahmesituation kommen die Initianden mit den transzendenten Wesen in Kontakt (vertikale Communitas), bilden eine abgesonderte Gemeinschaft Gleicher (horizontale Communitas), stehen gleichsam zwischen den Geschlechtskategorien und können die Grenzen des normalen Verhaltens in ekstatischen Zuständen überschreiten, wobei Musik und Tanz eine wichtige Rolle spielen. In modernen Gesellschaften hat sich die Liminalität aus den fest institutionalisierten rituellen Zusammenhängen, in die sie in traditionellen Gesellschaften eingebunden ist, gelöst und zerfällt in verschiedene liminoide Genres. Es wurde deutlich, dass das Konzept des Liminoiden eine Anregung bietet, um 13 Unter ›Lebenslauf‹ sind dabei die »objektiven, sozial-strukturell validen Fakten«, also Schulabschluss, Berufseinstieg etc. gefasst, unter ›Biographie‹ dagegen die »subjektiv hergestellten Bedeutungs- und Sinngehalte eines lebensgeschichtlichen Ablaufs« (Marotzki 1996: 81). 65
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die Spezifik der Jugendphase auch in modernen Gesellschaften zu begreifen, da diese Phase von Ambiguität geprägt ist und die Jugendlichen beginnen, in ritualisierten Praktiken nach Communitas zu suchen. Kommen wir nun wieder zu dem Hauptthema dieses Buches, der Rockund Popmusik, zurück. Es wurde schon auf Turners Auffassung hingewiesen, dass die Rock- und Popmusik als ein liminoides Genre zu begreifen ist. Allerdings zeigte sich auch, dass Turners Analysen diesbezüglich zu knapp sind und weiterer Untersuchungen bedürfen. Es ist also zu fragen, inwiefern das kulturelle Feld der Rock- und Popmusik mit dem Konzept des Liminoiden fruchtbar beschrieben und analysiert werden kann. Dabei gilt es zwei grundlegende Perspektiven zu berücksichtigen. Zum einen müssen – gleichsam aus einer Außenperspektive – die zentralen Symbole und Rituale dieses Kulturfeldes analysiert werden. Zum anderen gilt es, die Binnenperspektiven von involvierten Akteuren dieses kulturellen Feldes zu erfassen. Dies ist notwendig, weil die Auseinandersetzung mit Kultur bei verschiedenen Menschen durchaus unterschiedlich gestaltet sein und auch unterschiedliche Funktionen haben kann. Die Analyse aus der Außenperspektive muss sich dabei nicht unbedingt mit dem decken, was die Analyse der Binnenperspektive ergibt.14 Dementsprechend werden sich die folgenden zwei Kapitel der Untersuchung des kulturellen Feldes der Rock- und Popmusik aus den beiden genannten Blickwinkeln widmen.
14 Die zitierten kulturanthropologischen Untersuchungen über traditionelle Initiations- und Pubertätsriten haben diese zweite Perspektive nicht systematisch verfolgt und die Riten nur aus der Außenperspektive erforscht. 66
3 Populäre Musik und Anti-Struk tur: Komparativ-S ym bologisc he Unters uc hunge n
Vorbemerkungen zur Methode In diesem Kapitel werde ich das kulturelle Feld der Rock- und Popmusik untersuchen, indem ich der von Turner vorgeschlagenen Vorgehensweise der komparativen Symbologie folge. In deren Mittelpunkt steht die Analyse der zentralen Symbole eines kulturellen, sozialen oder politischen Feldes. Die Analyse bezieht sich dabei auf eine Vielzahl von Phänomenen, welche die entsprechenden Felder konstituieren, z. B. Rituale, Texte, Musikstücke, Mythen und Legenden. Aufgabe ist es dabei, »die Beziehungen zwischen Symbolen und den ihnen von Benutzern, Interpreten oder Exegeten zugeordneten Begriffen, Gefühlen, Werten, Vorstellungen etc.« zu untersuchen (Turner 1989b: 29). So befragte Turner während seiner Feldforschungen bei den Ndembu vor allem Ritualspezialisten zu den Bedeutungen der in den verschiedenen Riten verwendeten Symbole, und aus den Aussagen, die er erhielt, entwickelte er seine Theorie ritueller Symbole. Bei der Interpretation von ›liminoiden‹ Phänomenen wendete Turner sich dann nicht mehr an direkt involvierte Personen, sondern zog vor allem die Literatur – oft wissenschaftliche – über bestimmte politische, soziale oder religiöse Bewegungen heran.1 Als »Exegeten« eines kulturellen Feldes lassen sich also sowohl beteiligte Akteure als auch eher distanzierte Kommentatoren verstehen. Für Turners vergleichende Symbologie ist die bereits dargestellte Annahme grundlegend, dass das soziale Leben in dialektischer Weise zwischen zwei verschiedenen Modi aufgespannt ist, die er mit den Begriffen Struktur und Anti-Struktur bezeichnet. Die komparativ-symbologische Deutung nimmt dieses Gesellschaftsmodell gewissermaßen als Interpretationsfolie und fragt 1
So interpretierte er die franziskanische Bewegung anhand des Buches Franciscan Poverty von M. D. Lambert. 67
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nach den jeweiligen historischen Ausprägungen von Symbolen sozialer AntiStruktur. Indem die komparative Symbologie Ähnlichkeiten zwischen Symbolen, Mythen und Riten, die in verschiedenen Kulturen zu finden sind, herausarbeitet, folgt sie also einem analogen Denken (zum Analogiedenken siehe Mattig 2003 und Gloy/Bachmann 2000). Dabei ist davon auszugehen, dass die Bedeutung von bestimmten kollektiven Symbolen nicht ein für allemal festgelegt ist, sondern sich angesichts der sich verändernden Probleme einer Gesellschaft im Laufe der Zeit wandelt. Gerade in den sozialen Bereichen, wo Communitas entsteht, ›spielen‹ die Menschen mit den Bedeutungen von Symbolen, die wiederum kraft ihrer die Gefühle und Wünsche aktivierenden Eigenschaft neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen können. »Die vergleichende Symbologie versucht, dieses ›Ludische‹ oder Spielerische zu erhalten, die Symbole gewissermaßen in Bewegung einzufangen und mit ihren Form- und Bedeutungsmöglichkeiten zu ›spielen‹, indem sie die Symbole in den konkreten, historischen Verwendungszusammenhängen der sozial handelnden, reagierenden, verhandelnden und interagierenden ›lebendigen Menschen‹ untersucht« (Turner 1989b: 33). Man kann das Rituelle gleichsam wie ein »Fenster« ansehen, »durch die hindurch die Dynamik betrachtet werden kann, mit deren Hilfe Menschen ihre kulturelle Welt schaffen, erhalten und verändern« (Wulf 2004b: 49f.). Wenn ich im Folgenden die Rock- und Popmusik komparativ-symbologisch untersuche, so heißt dies also, dass ich wiederum eine historische Betrachtung vornehme, bei der auch Veränderungen in der Symbolik der populären Musik in den Blick geraten. Dabei stütze ich mich weitgehend auf akademische Exegeten und Interpreten der populären Musik, wobei ich Autoren verschiedener Fachrichtungen und Perspektiven berücksichtige. Der Anspruch dieser Untersuchungen ist es letztlich, die Vielfältigkeit des kulturellen Feldes der populären Musik vor dem Hintergrund eines theoretischen Rahmens zu deuten, der diese Vielfältigkeit einerseits integrierend zu umfassen vermag, ohne sie andererseits unzulässig zu reduzieren. In meinen Untersuchungen werde ich zeigen, dass die Rock- und Popmusik als ein liminoides Kulturfeld gedeutet werden kann, welches dem jugendlichen Bedürfnis nach Anti-Struktur und Communitas einen kraftvollen Ausdruck zu geben vermag. Dabei analysiere ich sowohl soziale als auch musikalische Aspekte des kulturellen Feldes der Rock- und Popmusik.
D i e R o c k ’ n ’ R o l l - R e v o l u t i o n a l s Au f b r e c h e n e i n e r unmittelbaren Communitas Jugendlicher Zunächst gehe ich auf den entscheidenden Einschnitt in der Geschichte der populären Musik im 20. Jahrhundert, den Durchbruch des Rock’n’Roll in den 1950er Jahren, ein. Der Rock’n’Roll ist für meine Analyse besonders interes68
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sant, weil sich in der Begeisterung der Jugendlichen und der Reaktion der Erwachsenen auf diese Begeisterung die kulturelle Bedeutung der Rock- und Popmusik in besonderer Weise herauskristallisiert. Vieles von dem, was damals aufbrach, hat auch heute noch Bedeutung im kulturellen Feld der Rockund Popmusik. Es ist in der Literatur unumstritten, dass der Rock’n’Roll eine Revolution auslöste – nicht nur innerhalb der Musikwelt, sondern auch im sozialen Gefüge der modernen Gesellschaften. Wie immer wieder betont wird, entstand der Rock’n’Roll mitten in einer von starkem Konservatismus geprägten Zeit. »Es war die Zeit nach der McCarthy-Ära, in der Intellektualität und kritisches Bewußtsein als Anzeichen kommunistischer Umtriebe gedeutet worden waren. In der Mitte der ›silent fifties‹ kam es einerseits zu wirtschaftlichem Aufschwung, der für den Großteil der Bevölkerung eine Leistungs- und Wohlstandsorientierung mit sich brachte, andererseits wurden bestehende soziale Spannungen verschärft; manche Schichten verarmten« (Schwarze 1997a: 125).
Die Jugendlichen partizipierten zwar einerseits am wachsenden Wohlstand, hatten aber andererseits keinen eigenen Kulturbereich, in dem sie ihr Geld hätten ausgeben können. Zudem hatte die damalige populäre Musik seit über 15 Jahren keine nennenswerten Entwicklungen aufzuweisen, sie galt als »Symbol einer Welt der etablierten Erwachsenen […], die auf ästhetischem Gebiet völlig auf eine Änderung der Dinge verzichtete« (Jerrentrup 1981: 39). In der den Markt dominierenden Schlagermusik der Weißen kamen auch die – oft als rigide bezeichneten – damaligen gesellschaftlichen Vorstellungen zur Sexualität zum Ausdruck: »Die Inhalte der Texte […] waren auf die Wonnegefühle der sentimentalen Romanze orientiert, definiert entlang dem Stereotyp bürgerlicher heterosexueller Beziehungen« (Middleton 2001: 75). Sänger wie Frank Sinatra oder Doris Day wurden als Spitzenstars vermarktet. Zum Verlauf der Konzerte schreibt Jerrentrup: »Das Verhalten der Zuhörerschaft in den Konzerten mit Schlagermusik ist in der Tat von großer Passivität gekennzeichnet, da die dort gepflegte Show, die den Sängerstar permanent in den Mittelpunkt stellt, perfekt festgelegt und mit allen Beteiligten einstudiert wird, sodaß Freiräume zu spontanem Reagieren nicht entstehen können« (Jerrentrup 1981: 19). Die strikte Trennung verschiedener Ethnien, die vor allem in den USA herrschte, galt auch für den Bereich der Musik. »Bis in die späten fünfziger Jahre gab es einen strikten Boykott schwarzer Musik durch die weiße Bevölkerung Amerikas in den Medien, im Plattenhandel und im öffentlichen Konzertwesen« (Kögler 1994: 24). Mit dem Rock’n’Roll wurde nun binnen kürzester Zeit eine Musik auch bei den Weißen populär, welche bis dahin lediglich von einer weitgehend 69
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ausgegrenzten sozialen Gruppe – den Afro-Amerikanern – gespielt wurde. Rock’n’Roll war die erste Musik, die den so genannten Crossover schaffte, das heißt sie wurde sowohl in den (weißen) Pop-, und Country&Western- als auch in den (schwarzen) Rhythm&Blues-Charts gelistet. Die Repräsentanten der etablierten Gesellschaft waren von dem plötzlichen Interesse sowohl schwarzer als auch weißer Jugendlicher am Rock’n’Roll schockiert und bekämpften die Musik vehement. Mit dem Crossover hat die Popmusik schon gleich mit ihrer Entstehung sozialstrukturelle Kategorien transzendiert, wodurch sie zum Symbol für eine vorher nicht dagewesene Verbindung verschiedener sozialer Gruppen und kultureller Traditionen – also für Communitas – wurde.2 Insofern der Rock’n’Roll sich auf diese Weise in einer soziokulturellen »Zwischensphäre« ansiedelte und sich symbolisch auf Außenseiter bezog, lässt er sich als ein liminoides Phänomen beschreiben. Mit dem Rock’n’Roll setzte sich auch die Körperbetonung, welche die afro-amerikanische Musik prägt, in der populären Musik durch. Nun war es mit der Passivität und Unspontaneität vorbei, jedenfalls bei der Jugend. Die Teenager verfielen in eine »Tanzwut« (Flender/Rauhe 1989: 83) und kreischten auf Konzerten von Rock’n’Roll-Musikern wie Elvis Presley. Nicht zuletzt setzten auch die Musiker ihren Körper aktiv und provozierend ein: »Rock’n’Roll war stark durch die Körpersprache einiger Interpreten geprägt, eine Körpersprache, die von Erwachsenen als reine Provokation empfunden wurde. Chuck Berrys ›Entengang‹, Little Richards grelle Bühnenbekleidung, seine schier grenzenlose, lautstarke Vitalität und Vorliebe dafür, nach behämmernder Bearbeitung der Tasten ein Bein auf das Klavier zu setzen, das arrogante Lächeln Jerry Lee Lewis’, der mit einer Hand provozierend langsam seine Haare kämmte, während er mit der anderen Hand am Klavier schnelle Boogieläufe spielte, sind Beispiele für verkörperte Empfindungen pubertierender, unreflektierter Auflehnung gegen die Welt der Erwachsenen. […] Elvis Presley war zwar weiß, hatte aber eine schwarze Körpersprache, die eine Herausforderung darstellte. Hängende Unterlippe, gesenkte Augenlider, weitgespreizte Beine, leicht zuckendes rechtes Knie und kreisende Bewegungen des Beckens (ElvisThe Pelvis – das Becken) brachten ihm die Bewunderung bis hysterische Verehrung vieler Jugendlicher, gleichzeitig die Ablehnung von deren Eltern« (Kögler 1994: 50f.).
Auch die bis dahin geltenden sozialen Konstruktionen von Geschlecht wurden durch den Rock’n’Roll nachhaltig in Frage gestellt. Viele der ersten Rock’n’Roll-Stars fügten sich den geschlechtlichen Kategorien nicht ein und betraten auch in diesem Bereich eine Zwischensphäre, was wiederum Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Konstruktionen von Geschlecht hatte. 2
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Auch heutige Popmusiker nehmen immer wieder Elemente aus anderen musikalischen Traditionen auf.
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»[Little] Richards extravagante Kostüme und sein Make-up, beides mit seiner Bisexualität verbunden […] tragen […] dazu bei, die weniger offensichtlichen, aber allgemein beobachteten Hinweise auf eine ›Feminisierung‹ von Elvis Presleys visuellem und vokalem Erscheinungsbild zu kontextualisieren. Wenn, wie oft (und zutreffend) behauptet, der Rock’n’Roll den musikalisch Marginalisierten ›eine Stimme gab‹ – sei es potentiellen Musikern, die diese scheinbar einfache Musik spielen konnten, sei es Hörern, die sich mit dem, was sie für einen neuen Stil hielten, identifizieren konnten, dann vollzog sich dieser Demokratisierungsprozess zum Teil über Vermittlungen, die um neue Konfigurationen des sexuellen Habitus und deren musikalische Entsprechungen sowie um die Möglichkeiten der Beziehungen zwischen diesen Konfigurationen und den Geschlechterrollen organisiert waren« (Middleton 2001: 84).
Das symbolische Spiel mit Uneindeutigkeiten geschlechtlicher Zuordnungen, wie sie oft während der liminalen Phase von traditionellen Initiations- und Pubertätsriten zu beobachten ist, hat mit dem Aufkommen des Rock’n’Roll auch im Bereich der populären Musik eine große Bedeutung bekommen und diese seitdem bis heute behalten. Erwähnt seien nur David Bowies »ambivalente Markierung von Sexualität« (Middelton 2001: 91) und die »provokativen Herausforderungen sexueller Normen, Gesten und Themen« von Madonna (Bloss 2001: 203). Es muss allerdings erwähnt werden, dass es in der Popmusik immer auch Gegenbewegungen zu den genannten Dekonstruktionen von Geschlechtlichkeit gab und gibt. So stellt Middleton fest, dass die amerikanische Rap-Kultur »eine der politisch reaktionärsten und frauenfeindlichsten Formen der Popmusik« hervorgebracht hat (Middleton 2001: 105). Was das Publikum des Rock’n’Roll in dieser Hinsicht angeht, ist festzustellen, dass vor allem die weiblichen Fans bei Rock’n’Roll-Konzerten anfingen, sich in bisher nicht gekannter und von den Erwachsenen schroff abgelehnter Weise als aktiv begehrend gegenüber den Stars zu inszenieren. Bis heute gehören kreischende Mädchen fest zum Erscheinungsbild der Rockund Popmusik. Ein Kommentar aus der Anfangszeit der Rock- und Popmusik (hier allerdings bezogen auf die Beatles) belegt die Verständnislosigkeit der Erwachsenen: »Man glaubt, in eine publike Orgie der Onanie geraten zu sein, wenn man das heiser brüllende Echo auf die Songs aus den Kehlen Minderjähriger hört, wenn man in Film oder Foto die Teenager erblickt, die ohnmächtig werden […], die ihre lackierten Nägel gegenseitig in die Schultern krallen, tränenüberströmt schluchzen oder wie von Belladonna erweiterte Augen haben, sich schütteln wie junge Birken im Wind, nahe der Epilepsie sind oder den Mund so weit aufreißen wie bei einer zahnärztlichen Untersuchung« (Schaefer, zit. n. Faulstich 1997: 164).
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Zwar hat sich die Öffentlichkeit inzwischen an Bilder dieser Art gewöhnt, doch noch immer werden vor allem weibliche Fans meist als ›hysterisch‹ abgetan und verständnislos belächelt (vgl. Fritzsche 2003). Aus komparativsymbologischer Perspektive erinnert das beschriebene Fan-Verhalten allerdings eindrücklich an die in der liminalen Phase von Übergangsriten so oft beobachteten sexuellen Freizügigkeiten und obszönen Handlungen, die dort dem weiblichen Geschlecht nicht nur erlaubt, sondern auch rituell vorgeschrieben sind. Der Ausbruch der »publiken Orgie der Onanie« durch die Rock- und Popmusik verweist also einmal mehr auf die liminoide Qualität dieses kulturellen Feldes. Und weiter: Die auch heute noch zu beobachtenden Reaktionen des Publikums deuten darauf hin, dass ein großes Bedürfnis nach liminoiden Erfahrungs- und Ausdrucksmöglichkeiten besteht, welches bis zum Auftreten des Rock’n’Roll aufgrund der relativ rigiden moralischen Vorstellungen keine Erfüllung finden konnte. Als dieses Bedürfnis einmal freigesetzt war, war es nicht mehr zu halten – schon gar nicht von den Vertretern der etablierten Erwachsenengesellschaft. Der Rock’n’Roll wurde von jungen Musikern gemacht und sprach mit seiner Betonung des Körperlichen und den Textinhalten (bei denen es vor allem um Vergnügung ging) gezielt ein jugendliches Publikum an. Er gab damit der Jugend ein Ausdrucksmittel, mit dem sie sowohl ihren spezifischen Bedürfnissen als auch ihrem Protest gegenüber der älteren Generation Gehör verschaffen konnte. Dabei entwickelte sich (auch in Verbindung mit dem Film) ein eigener Lebensstil der Jugendlichen, der oft mit dem Begriff der ›Jugendsubkultur‹ gefasst wurde und der sich sowohl auf das äußere Erscheinungsbild der Jugendlichen als auch deren innere Einstellung bezog. ElvisTolle, Blue-Jeans und kariertes Hemd wurden zu Markenzeichen Jugendlicher (vgl. Andersen 1998: 22). Die innere Einstellung zeigte sich in der Hochachtung körperlicher Kraft und der Geringschätzung von bürgerlich-wirtschaftlichen Karrieren sowie Kirche, Staat und Familie (vgl. Jerrentrup 1981: 71ff.) – wobei Letztere aus ritualtheoretischer Sicht als Symbole für soziale Struktur gelten können. Für die damalige Jugend stellte der Rock’n’Roll fraglos eine unerwartete und nachdrückliche Ermächtigung gegenüber der Erwachsenenwelt dar. Exemplarisch geht dies aus dem Nachruf des deutschen Rockstars Udo Lindenberg auf Elvis Presley hervor: »Bis jetzt hatten wir immer nur zu hören bekommen: ›Dafür bist du noch zu jung‹. Mit Elvis in den Ohren konnten wir zurückbrüllen: ›Dafür seid ihr schon zu alt‹« (Lindenberg 1998: 344). Es ist verständlich, dass sich die Mitglieder der etablierten Gesellschaft gegen dieses Aufbegehren der Jugendlichen wehrten. Denn aus der Perspektive derjenigen, die an der Erhaltung von Struktur interessiert sind, erscheinen alle Manifestationen von Anti-Struktur als gefährlich und anarchisch, weshalb sie oft
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durch Vorschriften und Verbote eingeschränkt werden (vgl. Turner 1989a: 107). In ästhetischer Hinsicht stellte Rock’n’Roll einen krassen Gegensatz nicht nur zur bis dahin dominierenden populären Musik, sondern überhaupt zu den in der abendländischen Tradition geltenden ästhetischen Kategorien dar. Flender und Rauhe bezeichnen den überwältigenden Erfolg des Rock’n’Roll in der abendländischen Welt aus einer kulturanthropologischen Perspektive als ein »absolutes Novum«, ein »kulturgeschichtlich einmaliges Ereignis«, gar als »Kulturrevolution« (Flender/Rauhe 1989: 5, 83, 84). Doch was war das Besondere am Rock’n’Roll? Nach Flender und Rauhe konnten die musikalische Aggressivität, die sexuell-erotischen Anspielungen und der zum Tanz stimulierende Rhythmus der Musik nicht mehr mit Maßstäben wie schön oder hässlich gefasst werden: bei Rock’n’Roll ging es vor allem um die Hervorrufung von Ekstase. Es setzte sich ein Musikgebrauch durch, der in der abendländisch-christlichen Tradition über Jahrhunderte hinweg tabuisiert gewesen war: »Die Kirchenväter waren sich einig darin, daß sich christlicher Glaube und Bewußtseinsveränderung nicht vereinen ließen, und verboten die Ausübung von Tanz und ekstatischer Musik in der Kirche« (ebd.: 83). Die Kirchen Amerikas lehnten den Rock’n’Roll denn auch durchweg ab (vgl. Kögler 1994: 57). Zwar waren afro-amerikanische und lateinamerikanische Tanzstile schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts populär geworden; doch dieses Tanzen hielt sich noch an vorgegebene Bewegungen, von denen sich der Rock’n’Roll dann ablöste. Mit den freien und vom individuellen Körpergefühl des Tänzers geleiteten Tanzbewegungen war der Rock’n’Roll »als Gegenentwurf zu den vorherrschenden oder als Norm gesetzten Bewegungsmustern des Alltags angelegt« (Wicke 2001: 55). Auch in dieser Hinsicht widersetzte sich der Rock’n’Roll also den sozio-kulturellen Strukturen, so dass er als Ausdruck von Anti-Struktur zu deuten ist. In Rock’n’Roll-Konzerten entstand, mit Durkheims Begriff gesagt, kollektive Efferveszenz: Publikum und Musiker steigerten sich gemeinsam in Ekstase – ein völlig neues Bild im abendländischen Konzertbetrieb. Die kollektive Efferveszenz schoss dabei vor allem in der Anfangszeit so hoch, dass es zu Gewalttätigkeiten und Krawallen kam. Von Erwachsenen wurde die Rockmusik dementsprechend mit Gewalt und Jugendkriminalität in Verbindung gebracht. Im Anschluss an Ralf Bohnsacks Überlegungen lassen sich diese Krawalle als Aktionismen bezeichnen, also als nicht-habitualisierte, experimentelle und richtungsoffene kollektive Steigerungen. Das Rockfieber breitete sich von den USA sehr bald in die übrige Welt aus. In Deutschland waren es anfangs vor allem Arbeiterkinder, die sich für Rock’n’Roll begeisterten; nach Kögler übernahmen Mittelschichtsjugendliche zunächst das Urteil ›Urwaldmusik‹ von ihren Eltern und Lehrern. Doch schon bald nahmen auch Jugendliche der Mittelschicht an den Saal- und Straßen73
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kämpfen teil, weil sie »die konformistische Enge und die fleißige Geschäftigkeit der Wirtschaftswundergesellschaft als bedrängende Alltagserfahrung erlebten« (Kögler 1994: 59). Es dürfte deutlich geworden sein, dass sich mit dem Rock’n’Roll eine wilde, aktionistische und rebellische Communitas der Jugend ihre Bahn brach, welche die damals bestehenden sozialen Strukturen und kulturellen Traditionen aufrüttelte und zu einem nachhaltigen kulturellen Umbruch führte: »Rock’n’Roll wurde zum Symbol jugendlicher Revolte« (Flender/Rauhe 1989: 84). Anders gesagt: Rock’n’Roll hatte die Kraft, dem jugendlichen Bedürfnis nach Anti-Struktur und Communitas einen Ausdruck zu geben. Damit verzauberte er »eine ganze Generation« (Bronfen 2002: 157). Wenn hier im Übrigen von einer kulturellen Revolution die Rede ist, so ist damit keinesfalls ein im Voraus geplanter Umsturz gemeint. Vielmehr war die Veränderung des musikalischen und jugendkulturellen Ausdrucks von großer Spontaneität geprägt und kam für alle Akteure, auch für die Musiker und die Musikindustrie, unerwartet.3 So sagte Elvis Presley, »er hätte lediglich die Gunst der Stunde ergriffen, als er mit seinen Musikern bei den Proben für seine erste Platte – ›It’s all right Mama‹ – auf einen ganz neuen, originären Sound gestoßen sei: einen Sound, auf den niemand vorbereitet war, auch wenn der sofortige Erfolg zeigte, wie sehr man darauf gewartet hatte« (Bronfen 2002: 157). Die Rock’n’Roll-Revolution der 1950er Jahre hatte keine ideologische Programmatik und kann dementsprechend auch nicht eigentlich als ein systematisches ›Umdenken‹ bezeichnet werden; vielmehr ging es um ein spontanes Um-Handeln, einen veränderten Umgang mit Körperlichkeit und Musik. Wir können also – im Anschluss an Bohnsack – von einer aktionistischen Revolution sprechen, deren bestimmendes soziales Merkmal in der Erzeugung einer habituellen Übereinstimmung der Jugendlichen zu sehen ist.4 Die Rock’n’Roll-Communitas war vor allem eine unmittelbare Communitas Jugendlicher.
V o n W o o d s t o c k b i s L i ve 8 : D i e E n t w i c k l u n g e i n e r ideellen Communitas in der Rock- und Popmusik Im Folgenden werde ich nachzeichnen, welche Entwicklungen diese initiale Communitas der Jugendlichen seither genommen hat. Dabei wird insbesondere deutlich, dass die Rock- und Popmusik als Ausdruck von Anti-Struktur in3 4
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Zur damaligen Situation der Musikindustrie siehe Peterson 2004. Dies muss deshalb betont werden, weil Turner sich in seiner Analyse der Rockmusik auf eine programmatische Schrift einer Hippie-Community in SanFrancisco aus den 1960er Jahren bezieht (vgl. Turner 1974c: 261-265). Angefangen hat die Rock-Communitas aber als spontane, nicht-intellektuelle und körperbezogene Bewegung.
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zwischen gesellschaftlich akzeptiert ist und dass es über die Zeit hinweg Verschiebungen von der unmittelbaren zu einer ideellen Communitas gegeben hat. Es gehört zu den Kennzeichen der liminoiden Genres, dass sie in die Marktmechanismen der kapitalistischen Wirtschaftssysteme eingebunden sind. Diese Einbindung hat in Bezug auf die Rock- und Popmusik bedeutende Konsequenzen. Sehr bald bemächtigte sich die Musikindustrie des Rock’n’Roll, so dass er nur wenige Jahre nach dem oben dargestellten Umbruch zunehmend »verschlagert« wurde. Der anfängliche rebellische und ästhetisch innovative Charakter der Musik verlor sich im Mainstream-Pop. Allerdings hatte der Rock’n’Roll seine Spuren hinterlassen: Die Unterhaltungsmusik war nun insgesamt deutlich rhythmusbetonter, dominierende Stilbereiche wie Rhythm&Blues und Country&Western verloren an Bedeutung. Stattdessen entstand eine Flut verschiedener Stilrichtungen (vgl. Jerrentrup 1981: 79ff.). Kaum jedoch war die Rock’n’Roll-Welle in Verschlagerung und Kommerz ausgelaufen, kam um 1963/64 – aus einer ganz anderen Region der Welt, nämlich England – die Beatmusik auf. Die Jugendlichen jubelten nun nicht mehr Elvis Presley, Little Richard oder Chuck Berry, sondern Bands wie den Beatles, Rolling Stones oder Yardbirds zu. Auch diese Bewegung drückte, wie zuvor schon die Rock’n’Roll-Bewegung, ihre Unzufriedenheit und ihr Misstrauen gegenüber den Traditionen der Erwachsenengesellschaft aus. Und wieder kam es zu »Massenhysterien« (ebd.: 114.). Ohne weiter auf Einzelheiten des Beats einzugehen, möchte ich auf ein Muster aufmerksam machen, welches sich schon hier abzeichnet und die Geschichte der Rock- und Popmusik durchzieht: ein anfänglicher anti-struktureller Impuls (wie der des Rock’n’Roll) wird kommerzialisiert und damit ›entschärft‹, bis – von den Rändern (!) des etablierten Musikbetriebes her – wieder ein neuer Impuls auftritt (wie der des Beat). Aus der Beatmusik heraus entwickelte sich dann Ende der 1960er Jahre die ›progressive Rockmusik‹ bzw. der ›Art Rock‹, der mit der Idee des Konzeptalbums einen hohen ästhetischen Anspruch verfolgte (vgl. Middleton 2001: 89). Die Gegenreaktion ›von unten‹ kam dann in den 1970er Jahren mit dem Punkrock. Die Punks brachten »eine Rebellion in Gang, die nicht nur auf die Machtstrukturen der Gesellschaft, sondern auch auf das Establishment der Popmusik zielte, zu dem der Rock ihrer Meinung nach inzwischen längst geworden war. Ihre Aufführungstaktik der Publikumsbeschimpfung, des Schocks und der Demütigung, ihre gegen die Gesellschaft gerichteten Eskapaden, ihr bizarres äußeres Erscheinungsbild und ihre provokante Themenwahl sowie ihre rasanten und extrem lauten Songs mit den geschrieenen Vocals, dem vom Feedback überlagerten, sägenden Gitarrenklang, dem bis an die Schmerzgrenze gedroschenen Schlagzeug, den beinah einmotivischen Baßlinien und
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der kalkulierten Syntax – all das war als Angriff auf den prätentiösen Anspruch der Rockelite sowie die herrschenden sozialen und ästhetischen Werte angelegt« (Middleton 2001: 92f.).
Inzwischen ist Punk im Mainstream akzeptiert und vermag kaum noch zu provozieren. Nach seiner Hochphase kamen dann Stile wie Rap und HipHop, Grunge und schließlich Technomusik auf. Es wird in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hingewiesen, dass neue Stil-Entwicklungen in der Rockund Popmusik meist von Jugendlichen hervorgebracht werden, die – wie es schon beim Rock’n’Roll der Fall war – über die Musik eine Differenz zwischen sich und der Welt der Erwachsenen herstellen. »Die Punkgeneration war vermutlich die erste, die damit konfrontiert war, dass ihre eigenen Eltern selbst Rockmusik hörten, eine Musik, die anfangs der Jugend allein gehörte. Durch Punk wurde eine Abgrenzung wieder möglich« (Huppert 2005: 70f.). Rock- und Popmusik kann also insofern als eine Musik der Jugend bezeichnet werden, als die entscheidenden kreativen Impulse immer wieder von Jugendlichen ausgehen. Zudem kann man erkennen, dass sich in der Geschichte der Rock- und Popmusik immer wieder Phasen der Innovation mit Phasen der Stagnation und der Kommerzialisierung vormaliger Innovationen abwechseln. Dieses historische Changieren zwischen einem initialen anti-strukturellen Impuls und dessen anschließender Kommerzialisierung kennzeichnet die populäre Musik bis heute und ist sicherlich mit ein Grund für die Schwierigkeit, ihren Begriff eindeutig zu definieren. Wie bereits dargestellt, is es in diesem Zusammenhang geläufig, zwischen den zwei Richtungen ›Rock‹ und ›Pop‹ in der populären Musik zu unterscheiden. ›Rock‹ soll dabei für tiefe Gefühle, Authentizität, Originalität und Selbstexpressivität stehen – ungeachtet der kommerziellen Verwertbarkeit der Musik; ›Pop‹ dagegen soll Glanz, Erfolg in den Charts, Glauben an Klischees und die Ausrichtung am Publikumsinteresse bedeuten. Als prägnantes Beispiel für ›Pop‹ könnte das Boygroup-Phänomen der 1990er Jahre genannt werden. Die Unterscheidung zwischen Pop und Rock ist aber problematisch, weil sich in beiden Kategorien oftmals die gleichen musikalischen Techniken finden lassen und ein gegebenes Stück von verschiedenen Hörern unterschiedlich kategorisiert werden, im Laufe der Zeit sogar die Kategorie wechseln kann (vgl. Middleton 2001: 103). Zudem kann ein und derselbe Musiker unterschiedlich eingestuft werden. So war Elvis Presley anfangs sicherlich ein ›Rockmusiker‹, entwickelte sich nach seiner wilden Anfangsphase aber immer mehr zu einem am Kommerz orientierten ›Popmusiker‹. So ist es insgesamt gesehen nicht möglich, Presley einer der beiden Kategorien klar zuzuordnen. Man muss die populäre Musik als ein schillerndes Phänomen begreifen, welches gleichsam zwischen den beiden Polen ›Rock‹ und ›Pop‹ aufgespannt ist. 76
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Der hier skizzierte Prozess einer immer weiter fortschreitenden stilistischen Differenzierung in der populären Musik führte im Ergebnis nicht nur zu der heute unüberschaubaren Vielfalt an musikalischen Stilrichtungen, sondern – damit verbunden – auch zu einer zunehmenden Pluralisierung von Lebensstilen und Jugendkulturen, die untereinander teilweise keine Überschneidungen mehr haben.5 Dabei können die jeweiligen Szenen das gleiche Schicksal der Kommerzialisierung wie der entsprechende Musikstil erfahren, wie der Sozialwissenschaftler Dick Hebdidge am Beispiel der Mod-Bewegung im England der 1960er Jahre gezeigt hat (vgl. Hebdidge 1981). Meist verschwindet in diesem Prozess keine der alten Szenen völlig, so dass alte und neue Szenen nebeneinander existieren (vgl. Kögler 1999: 153). Heute kann man also nicht mehr von ›der‹ Jugendkultur sprechen; vielmehr gibt es ein breites Spektrum unterschiedlicher Szenen, Stile und Haltungen. So liegt es nahe, dass auch die jugendkulturelle Communitas, die in der Anfangszeit der Rockund Popmusik entstanden war und eine ganze Generation umfasste, mit der Zeit zerfasert ist und seine die unterschiedlichen Jugendlichen vereinende Kraft verloren hat. Uwe Sander schreibt, »daß sich das jugendkulturelle Projekt einer ›besseren Welt für alle‹ im jugendkulturellen Wirrwarr zerspalten hat« (Sander 1995: 51). Dabei erweist sich die Rock- und Popmusik auch inhaltlich als äußerst differenzierungsfähig. So kann sie ebenso linken wie auch rechten, aber auch völlig unpolitischen Gruppen von Jugendlichen als »magisches Bindemittel« dienen (Breyvogel 2005: 12). Hier lassen sich wieder Turners Überlegungen anschließen. Er zeigt anhand verschiedener historischer Communitas-Bewegungen wie dem Franziskanerorden, wie diese die anfängliche euphorische Erfahrung der unmittelbaren und existentiellen Verbundenheit in einem dauerhaften sozialen System zu organisieren versuchen. Solch eine Organisation erfordert soziale Rollen und Hierarchien sowie die Verteilung von Ressourcen, was der ›eigentlichen‹ Idee von Communitas als einer unstrukturierten Gemeinschaft Gleicher bereits zuwider läuft. So sei es das Schicksal von Communitas-Bewegungen, »sich in einem, von den meisten Menschen als ›Niedergang und Verfall‹ aufgefaßten Prozeß in Struktur und Gesetz zu verwandeln«. Dabei »unterliegt nicht nur das Charisma der Führer, sondern auch die Communitas ihrer ersten Schüler und Anhänger der ›Routine‹« (Turner 1989a: 129). Communitas wird dann nur noch als ein Symbol oder eine entfernte Möglichkeit angesehen, weniger als eine konkrete Realisierung universeller Verbundenheit – sie wird zur Norm der Gemeinschaft, die allerdings nur unvollkommen in deren sozialen Praktiken verwirklicht ist. Turner spricht hier von der Entstehung einer ›normativen‹ Communitas. Im Hinblick auf moderne Gesellschaften be5
Eine historische Darstellung der Entwicklung von Musik und Jugendkulturen findet sich in: Breyvogel 2005. 77
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schreibt er auch das Phänomen, welches ich hier bei der Rock- und Popmusik dargestellt habe, dass Communitas nämlich oft nur in kleinen Gruppen aufkommt, die sich wiederum von anderen Gruppen abgrenzen. In dieser Abgrenzung voneinander entwickeln die Gruppen ihre je spezifische Form ›normativer‹ Communitas, so dass eine paradoxe Situation entsteht: »In our society, it seems that the small groups which nourish communitas do so by withdrawing voluntarily from the mainstream not only of economic but also of domestic familial life. […] People who are similar in one important characteristic […] withdraw symbolically, even actually, from the total system, from which they may in various degrees feel themselves ›alienated‹, to seek the glow of communitas among those with whom they share some cultural or biological feature they take to be their most signal mark of identity. […] The paradox of such groups is that while existential communitas is in feeling tone a striving toward the universal, an open society, and an open morality, the normative communitas they achieve often separates them even more completely from the environing society as symbolically framed ingroups« (Turner 1992a: 60).
Geht Turner davon aus, dass das geschlossene rituelle Setting von Übergangsriten in modernen Gesellschaften in den verschiedenen liminoiden Gattungen gleichsam aufgesplittert erscheint, so können wir hier einen Prozess beobachten, bei dem sich selbst ein einzelnes liminoides Genre – die Rock- und Popmusik –, welches als eine umfassende Communitas-Bewegung begonnen hatte, immer weiter aufspaltet, bis von der anfänglichen umfassenden Communitas nur noch vereinzelte Gruppen bzw. Szenen übrig bleiben.6 Es muss aber noch auf eine andere Entwicklung der Rock- und PopCommunitas hingewiesen werden, die in den 1960er Jahren einsetzte und die letztlich dazu beitrug, die zerfaserte Pop-Gemeinde rituell zusammenzuhalten. In dieser Zeit kam in der populären Musik eine Entwicklung zu einer Communitas auf, die Turner ›ideologisch‹ genannt hätte. Unter ›ideologischer‹ Communitas versteht Turner »explizit formulierte Ansichten darüber, wie Menschen am besten in brüderlicher Harmonie zusammenleben« (Turner 1989a: 130f.). ›Ideologische‹ Communitas kann man auch als ausformulierte Utopie bezeichnen. Sie ist nicht mehr unbedingt an (rituelle) Veranstaltungen und Situationen gebunden, in denen Menschen körperlich zusammenkommen, sondern kann auch über Literatur, Musik etc. vermittelt werden. Da der Begriff der Ideologie aber in den Sozialwissenschaften meist negativ konnotiert ist und mit einem ›falschen Bewusstsein‹ assoziiert wird, ziehe ich es im Folgenden vor, von einer ›ideellen‹ Communitas zu sprechen, wenn diese Com6
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Die verschiedenen Szenen der Jugendkultur sind allerdings meist nicht klar voneinander abgegrenzt, sondern für die Jugendlichen zumindest teilweise füreinander durchlässig (vgl. Kögler 1999: 153f.).
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munitas mit Vorstellungen und Ideen von einer ›besseren‹ Gesellschaft verbunden ist. Eine ideelle Communitas bringt also explizit eine bestimmte, auf die Werte der Anti-Struktur bezogene soziale Haltung zum Ausdruck, sei es in Texten oder symbolischen Inszenierungen.7 In den 1960er Jahren nun verband sich die Rock- und Popmusik mit der in den USA aufkommenden Protest- und Bürgerrechtsbewegung. Themen wie Rassendiskriminierung und soziale Ungerechtigkeit wurden von Musikern wie Woody Guthrie, Pete Seeger, Bob Dylan, Leonard Cohen und Joan Baez aufgegriffen – wobei die Songs mit ihrem pazifistischen und humanistischen Credo eine ideelle Communitas zum Ausdruck brachten. Turner selbst bezeichnet Bob Dylan als »Communitas-Träger« und »Wortführer der strukturell Unterlegenen« (Turner 1989a: 157f.). Die Hippies versuchten, ein alternatives, aus sozialstrukturellen Zusammenhängen entbundenes Leben zu führen und entwarfen dabei regelrechte Programme, in denen sie ihre Ideen darstellten. Turners Analyse der Rock- und Popmusik basiert vor allem auf einem solchen Programm – welches einer seiner Studenten aus einer Kommune in San Francisco mitgebracht hatte –, in dem der Popmusik eine wichtige Rolle für die Verwirklichung der Communitas-Ideen zugeschrieben wird (vgl. Turner 1974c: 261-265). In den 1960er Jahren kamen auch die großen Rockfestivals auf, die bis heute nicht an Faszination verloren haben.8 Ein Ereignis, das in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung erlangt hat, stellt das Festival von Woodstock im US-Bundesstaat New York dar, das im August 1969 stattfand. Dieses Festival gilt als Verwirklichung der Ideen von Freiheit, Liebe und Genuss – nicht zuletzt aufgrund einer Filmdokumentation, der Rockgeschichtsschreibung und verschiedener Songs, die von dem Ereignis berichten. Hunderttausende junge Menschen kamen zusammen, liebten sich und nahmen Drogen, ohne dabei von staatlicher Seite eingeschränkt zu werden. Die Dokumentationen lassen sich so interpretieren, dass auf dem Woodstock-Festival eine spontane, unmittelbare Communitas entstand. Immer wieder fallen Schlagwörter wie Verbrüderung, Liebe, Frieden, Harmonie, Rausch, die allesamt auf eine direkte Erfahrung von Communitas hinweisen. Ich zitiere einige Stellen aus dem euphorischen Erfahrungsbericht eines Teilnehmers, die sich entsprechend lesen lassen: »Du kommst nach Woodstock, und das Lächeln auf deinem Gesicht, zusammen mit tausend anderer Leute Lächeln, läßt einen anderen Menschen lächeln und sein Lächeln steckt weitere an und das wiederum wirkt sich auf dein Glücksgefühl aus« (Williams 1998: 31). Sozialstrukturelle 7 8
Den Vorschlag, hier den Begriff der ›ideellen Communitas‹ einzuführen, verdanke ich Ralf Bohnsack. Rockfestivals sind inzwischen zu einer Art kalendarischem Fest für Rockfans geworden: Alljährlich finden zur Sommerzeit unzählige Festivals statt, zu denen tausende Besucher strömen. 79
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Rollen wurden während des Festivals spontan aufgegeben: Die Polizisten, die eigentlich gegen den Drogenkonsum hätten vorgehen müssen, taten dies nicht, sondern wurden Teil der Gemeinschaft. »Sie schluckten auch mal eine Dose Bier, die ihnen von den Hippies geschenkt wurde. […] Bullen und Hippies freundeten sich an« (ebd.: 43). Selbst mit der Natur verbrüderte man sich: »Der Regen brachte Transzendenz. Als sich die Sonne um die Mittagszeit wieder endgültig durchkämpfte, waren wir noch alle da. Und wir hatten gemeinsam etwas Elementares erlebt. Allein im Regen zu stehen ist ein mitleiderregendes Bild. Gemeinsam im Regen zu stehen ist ein Zeichen von Mut, eine vereinende Erfahrung und ein großer Spaß dazu. Eine Manifestation gesellschaftlicher Stärke« (ebd.: 34). Kaum war das Festival aber vorbei, setzten sich wieder die Regeln der Sozialstruktur durch: »Gleich am Montag morgen kam es auf der Straße zu Verhaftungen wegen Drogenbesitzes. Nach drei Tagen Woodstock fiel es verdammt schwer, sich wieder in die amerikanische Realität hineinzuversetzen« (ebd.: 45). Das Festival von Woodstock wurde durch Texte wie den hier zitierten zu einem Symbol für gelebte, unmittelbare Communitas. Auch Turner stellt in seinen Überlegungen zur Hippiebewegung der 1960er Jahre Gemeinsamkeiten zwischen den Happenings der Hippies und stammesgesellschaftlichen Ritualen heraus: »In Amerika und Westeuropa sind in jüngster Zeit Versuche zur Wiederholung der rituellen Bedingungen unternommen worden, unter denen spontane Communitas […] heraufbeschworen werden kann. Beatniks und Hippies versuchen durch den eklektischen und synkretistischen Gebrauch von Symbolen und liturgischen Handlungen aus dem Repertoire vieler Religionen und mit Hilfe von ›bewusstseinserweiternden‹ Drogen, ›Rock‹-Musik und Lichteffekten, eine ›totale‹ Gemeinschaft zu schaffen. […] Die Communitas, die Stammesangehörige in ihren Riten und Hippies in ihren ›Happenings‹ suchen, hat nichts mit der angenehmen und mühelosen Kameradschaft zu tun, die jederzeit zwischen Freunden, Mitarbeitern oder Arbeitskollegen entstehen kann. Jene suchen eine transformierende Erfahrung, die bis in die Tiefe des Seins jedes Einzelnen vordringt und dort etwas grundlegend Gemeinsames findet« (Turner 1989a: 134).
Gleichzeitig gab es beim Woodstock-Festival aber auch Elemente, die sich als ideelle Communitas deuten lassen. So gilt die legendäre Version der U.S.Hymne von Jimi Hendrix, in der durch Spezialeffekte die Geräusche von Fliegern und Bomben imitiert wurden, als eine musikalische Kritik am Vietnamkrieg. Vor allem gilt Woodstock insgesamt nicht einfach nur als ein Konzertereignis, sondern auch als Ausdruck der »Hoffnung, durch Meditation und friedvolles Miteinander die Erde wieder zu einem Paradies werden zu lassen« (Schwarze 1997a: 128). »Liebe« galt als das Schlagwort der Hippies (vgl. Faulstich 1997: 167). So trägt der Mythos Woodstock ein utopisches Potential 80
KOMPARATIV-SYMBOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN
in sich, welches Turner als charakteristisch für Formen von ›ideologischer‹ Communitas ansieht. Der Woodstock-Mythos ist vielleicht auch deshalb so wirkungsmächtig, weil noch im selben Jahr das Festival von Altamont im US-Bundesstaat Kalifornien stattfand, welches alle Hoffnungen auf Friedlichkeit zunichte machte und zu einer herben Ernüchterung bei den Fans führte. Es kam zu Schlägereien, Unfällen, Massenhysterie und letztlich vier Toten. Dabei wurde klar, dass sich eine friedfertige Communitas, wie sie in Woodstock aufgekommen war, nicht beliebig herstellen ließ. Aus ritualtheoretischer Sicht ist darauf hingewiesen worden, dass rituelle Handlungen, in denen eine liminale oder liminoide Situation entsteht, nicht gänzlich kontrolliert werden können: »Vielmehr birgt die Freisetzung der im rituellen Prozeß geweckten Emotionen auch immer die Gefahr, daß der Rahmen des Rituellen verlassen wird und die Performanz zum Auslöser für grundlegende, möglicherweise gewalttätige Veränderungen wird« (Köpping/Rao 2000: 25). In Altamont kam die Rock- und Popmusik an die Grenzen ihrer Macht. Vielleicht macht auch dies den Zauber des Mythos von Woodstock aus: nachträglich wirkt die dort entstandene Communitas wie eine Gnade, wie ein paradiesischer Glücksfall. Jedenfalls heißt es zum Altamont-Festival in einem Reclam-Band: »Die Rockmusik hatte ihre Unschuld endgültig verloren« (Kemper/Langhoff/Sonnenschein 1998: 55). Die Idee, dass man mit Rock- und Popmusik-Konzerten die Welt verändern könne, hat sich allerdings weiter erhalten. 1971 veranstalteten der ExBeatle George Harrison und der indische Musiker Ravi Shankar das »Concert for Bangladesh« in New York für die Bürgerkriegsopfer und Flüchtlinge von Bangladesh. 1985 fand das von dem Rock- und Popsänger Bob Geldof initiierte »Live-Aid«-Konzert als weltweite Hilfsaktion gegen den Hunger in Afrika statt: In London und Philadelphia traten nahezu alle damals aktuellen großen Rock- und Popstars auf. Über neun Satelliten wurde das globale Konzert in 100 Länder übertragen, es spielte 120 Millionen Dollar Spenden ein (vgl. Kögler 1994: 237). Je öfter derartige Veranstaltungen stattfanden, desto stärker wurden sie ritualisiert. Hatte das Woodstock-Festival mit seinem spontanen und experimentellen Charakter noch viele aktionistische Elemente, so sind Wohltätigkeitskonzerte heute gleichsam zur Routine geworden. Im Jahr 2005 fand eines der bisher größten rockmusikalischen Ereignisse, das »Live 8«-Konzert, statt, das ebenfalls von Bob Geldof ins Leben gerufen wurde. Diese Veranstaltung werde ich im Folgenden genauer analysieren, denn sie gibt Aufschlüsse über die gegenwärtige Form der Rock- und PopCommunitas: Über vier Kontinente verteilt (in den Ländern England, Frankreich, Deutschland, Italien, USA, Kanada, Japan, Südafrika, Russland) gaben etwa 170 Rockstars in zehn verschiedenen Städten insgesamt 50 Stunden lang freie Konzerte, die live über das Fernsehen und das Internet übertragen wur81
ROCK UND POP ALS RITUAL
den. Mit dem Motto »Make Poverty History« protestierten die Musiker gegen die Politik der G8-Staaten und forderten einen Schuldenerlass für die ärmsten Länder Afrikas. Sie sammelten mehr als 24 Millionen Unterschriften per SMS für eine Petition, welche sie den Regierungschefs der G8-Staaten übergaben. Auf den Bühnen standen Popstars der ersten Stunden wie Paul McCartney, Elton John oder Pink Floyd, aber auch jüngere Sänger wie Robbie Williams oder Xavier Naidoo. Auch im Publikum waren die verschiedenen Generationen vertreten. Musiker und Fans inszenierten sich gleichsam als eine globale Familie. Die demonstrative Solidarisierung mit den ›Verlierern‹ der Globalisierung lässt zudem wieder an die von Turner als Communitas-Symbole herausgestellten Figuren der Außenseiter, Armen und Schwachen, denken.9 Gerade der Anspruch der Veranstaltung, eine globale Gemeinschaft zu bilden (die also niemanden prinzipiell ausschließt), lässt die Live 8-Konzerte dem nahe kommen, was Turner als das empirisch kaum je erreichte Ideal seines Communitas-Begriffes darstellt: »Total or global brotherhood or communitas has hardly yet overlapped the cultural boundaries of institutionalized religious structures« (Turner 1974b: 206). Hier ging es allerdings weniger um die unmittelbare Erfahrung einer existentiellen Verbindung zwischen Menschen wie z. B. in Woodstock, sondern um die symbolisch ausgedrückte und zugleich eingeforderte Solidarität der Reichen mit den Armen dieser Erde. Die Live 8Konzerte lassen sich also als Inszenierung einer ideellen Communitas interpretieren. Allerdings steht das Motto »Make Poverty History« ganz im Gegensatz zu allem, was Turner über religiöse Communitas-Bewegungen sagt: Er betont gerade die hohe Wertschätzung von Besitzlosigkeit in jenen Bewegungen, denn Armut gilt der religiösen Idee von Communitas als ein positiv konnotiertes Zeichen der Verneinung von Weltlichkeit und der mit ihr verbundenen sozialen Strukturen (vgl. insbesondere Turner 1974c). Die Rock- und PopCommunitas kehrt die Vorzeichen gewissermaßen um. Sie ist nicht auf das Paradies ausgerichtet, sondern, wenn man so will, auf das Schlaraffenland: ein Diesseits, in dem alle alles haben sollen (Armut soll Geschichte werden). Dabei ist bemerkenswert, dass die Rock- und Popmusik als ein liminoides Kulturfeld nicht nur den Prinzipien des Marktes folgt – das stellt bereits Turner als Kennzeichen der liminoiden Genres heraus –, sondern auch eine den
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Folgt man Kritikern der Live 8-Konzerte, so war Afrika dort tatsächlich ›nur‹ ein Symbol, denn Afrika war, wie bemängelt wurde, personell in Form von auftretenden Musikern kaum vertreten. Auch wurde kein einziger afrikanischer Politiker durch die Veranstaltung adressiert, obwohl diese durchaus an den desolaten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zuständen einiger afrikanischer Länder mitverantwortlich gemacht werden können.
KOMPARATIV-SYMBOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN
Prinzipien des Marktes verpflichtete Communitas-Symbolik hervorgebracht hat. Weiterhin zeigen die Live 8-Konzerte, dass die Rock- und Popmusik ihren revolutionären Charakter endgültig verloren hat. Es ging kein Aufschrei um die Welt, als die Konzerte stattfanden; selbst die Politik zeigte Verständnis für die Forderungen, teilweise demonstrierten Politiker und Popstars öffentlich ihre Nähe. So gab Bob Geldof vor den Konzerten zusammen mit der deutschen Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul eine Pressekonferenz. Die Rock- und Popgemeinschaft rebellierte nicht, sondern inszenierte sich ›nur‹ als moralisches Gewissen der Industriestaaten. Rock- und Popmusik stellt hier gleichsam den liminoiden Gegenpol zum sozialstrukturell institutionalisierten Feld der Politik dar: Sie kann humanitäre Forderungen formulieren, ohne durch sozialstrukturelle Bedingungen eingeschränkt zu sein. Genau dies ist der Politik verwehrt, die sich im Kampf verschiedener Interessengruppen um Ressourcen bewähren muss. Turner unterscheidet das Liminale vom Liminoiden u. a. dadurch, dass das Liminale letztlich im Dienst der Sozialstruktur steht, das Liminoide dagegen dazu tendiert, die sozialen Strukturen umzustürzen. Wenn man sich in dieser Hinsicht ein Kontinuum vorstellt, bei dem der eine Pol durch das Liminoide, der andere durch das Liminale repräsentiert wird, so könnte man sagen, dass die Rock- und Popmusik sich vom äußeren Pol des Liminoiden in Richtung Mitte bewegt hat. Natürlich bleibt die populäre Musik ein liminoides Genre (der Begriff der Liminalität bezieht sich allein auf Übergangsriten); aber ihre Moral steht nicht mehr im krassen Widerspruch zur Moral der etablierten Gesellschaft, sondern stimmt mit ihr durchaus überein.10 Die eine globale Communitas inszenierenden Riten der Rock- und Popmusik sind, wie die Übergangsriten der Stammesgesellschaften, für die gesellschaftliche Moral letztlich funktional. In diesem Zusammenhang ist weiterhin bemerkenswert, dass die Live 8Konzerte nur wenige Tage vor dem Treffen der G8 stattfanden. Und im Jahre 2007 waren die Rock- und Pop-Riten mit dem Treffen der Regierungschefs der G8-Staaten in Heiligendamm unmittelbar zeitlich verkoppelt, so dass man in gewisser Weise von gemeinsamen Groß-Ritualen sprechen kann: Während die Delegierten der G8 miteinander verhandelten, spielten die Popmusiker ihre Songs. Findet das soziale Leben in Stammesgesellschaften im zyklischen Wechsel von Struktur und Anti-Struktur statt, so bringen die Rituale von Pop und Politik diese beiden Modelle von Gesellschaft in verdichteter Form gleichzeitig zum Ausdruck.
10 Es gibt einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Entwicklungshilfe ›gut‹ sei und auch politisch umgesetzt werden müsse. Uneinigkeit gibt es lediglich über die Art der Umsetzung. 83
ROCK UND POP ALS RITUAL
Es zeigt sich, dass die Rock- und Popmusik aus ritualtheoretischer Sicht als eine Communitas-Bewegung angesehen werden kann, die in den 1950er Jahren als eine unmittelbare Communitas Jugendlicher begann. Auch wenn diese Communitas im Laufe der Zeit zerfaserte, wird sie doch durch ein gemeinsames Ideal, welches immer wieder rituell inszeniert wird, zusammengehalten. Insofern lässt sich die Rock-und Pop-Communitas als eine ideelle Communitas begreifen.11
Die Welt der Rock- und Popstars Die Rock- und Popmusik hat eine inzwischen unüberschaubare Vielzahl von Stars und Sternchen hervorgebracht. Das Phänomen des Stars reicht allerdings weit über die Rock- und Popmusik hinaus und hat in Film, Politik, Wissenschaft etc. Bedeutung. Nach Werner Faulstich und Helmut Korte ist dieses Phänomen trotz seiner »zentralen Bedeutung […] für das Funktionieren der modernen Mediengesellschaft […] bis heute ein weitgehend ungelöstes Rätsel« (Faulstich/Korte 1997: 7).12 Ich werde meine Untersuchungen auf den Bereich der Rock- und Popmusik beschränken und aus komparativ-symbologischer Perspektive zeigen, dass die Faszination, welche von der Welt der Rock- und Popstars ausgeht, eng mit der liminoiden Qualität dieser Welt zusammenhängt. Dabei lässt sich die Welt der Rock- und Popstars aus zwei Blickwinkeln deuten. Zum einen arbeite ich die Funktion der Stars für die verschiedenen Fangemeinschaften heraus, wobei Gemeinsamkeiten zwischen den Stars und den transzendenten Wesen der Stammeskulturen deutlich werden: Stars dienen als Idole von Fangemeinschaften. Bei dieser Betrachtungsweise steht die Bedeutung einzelner Idole für bestimmte Fans im Vordergrund. Zum anderen betrachte ich die Rock- und Popstars als eine spezifische soziale Gruppe, wobei ich zeigen werde, dass die Stars aus der Perspektive des Publikums eine liminoide Gemeinschaft bilden, die sich in einer modernen Form der Seklusion befindet. Stars können dabei als moderne Anwärter auf Unsterblichkeit gedeutet werden.
11 Wenn hier von einer Verschiebung von einer unmittelbaren zu einer ideellen Communitas die Rede ist, so soll damit nicht gesagt werden, dass die Rock- und Popmusik nicht auch heute noch das Potential hat, Erfahrungen unmittelbarer Communitas zu ermöglichen. 12 Auch wenn diese Einschätzung mehr als zehn Jahre zurückliegt, hat sie nichts an Aktualität eingebüßt, wie man anhand neuerer Untersuchungen feststellen kann. Siehe z. B. Ullrich/Schirdewahn 2002 sowie Huppert 2005. 84
KOMPARATIV-SYMBOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN
Stars als Idole von Fangemeinschaften Der Medienwissenschaftler und Soziologe Peter Ludes interpretiert Stars im Anschluss an Max Webers Unterscheidung von drei Typen legitimer Herrschaft als charismatische Personen. Charismatische Herrschaft basiert nicht wie rationale Herrschaft »auf dem Glauben an die Legalität gesetzter Ordnungen« oder wie traditionale Herrschaft »auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen«, sondern auf einer »außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person« (Weber 1964: 159). Die Anhänger von charismatischen Personen glauben, dass diese Personen mit »übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen Kräften oder Eigenschaften« ausgestattet sind (ebd.: 179). Diese Charakterisierung lässt sich direkt mit dem Begriff des Stars verbinden, denn dieser Begriff verweist auf einen leuchtenden Punkt in einem dunklen Umfeld, auf eine erhabene Lichtgestalt, zu der der ›normale‹ Mensch nur aufblicken kann. Zudem ist charismatische Herrschaft »irrational im Sinne der Regelfremdheit« und eng mit einer emotionalen Gemeinschaftsbildung der Anhänger verbunden (ebd.: 180f.). Wenn wir diesen Aspekt vor dem Hintergrund von Turners Gesellschaftsmodell betrachten, so heißt dies, dass der charismatische Führer als Kopf einer Communitas-Bewegung angesehen werden kann. So heißt es bei Ludes: »In diesem Sinne gehört es zu menschlichen Gesellschaften, seitdem es Herrschaftsgebilde gibt, daß legale und traditionale Herrschaftsausübung immer wieder durch außeralltägliche, personengebundene, charismatische Herrschaft ergänzt, ja auch in Frage gestellt oder revolutionär umgebrochen werden kann« (Ludes 1997: 79). Charismatische Führer zeichnen sich vor allem durch informelle, emotionale und expressive Kommunikationskompetenzen aus und haben im Laufe der Geschichte auch eine entsprechende Gestik und Mimik entwickelt, mittels derer sie ihre Außeralltäglichkeit ausdrücken (vgl. Ludes 1997: 80). Auch Durkheim weist darauf hin, dass eine kollektive Begeisterung personalisiert werden kann, wobei die entsprechende Person einen herausgehobenen Status erhält und von der Menge idealisiert und sakralisiert wird: »Im Übrigen sehen wir, daß die Gesellschaft jetzt genauso wie früher ständig heilige Dinge erschafft. Wenn sie sich für einen Menschen begeistert, in dem sie die wesentlichen Sehnsüchte zu entdecken glaubt, die sie selbst bewegen, und die Mittel, um sie zu befriedigen; dann sondert sie ihn aus und vergöttert ihn beinahe. Die öffentliche Meinung bekleidet ihn mit einer Majestät, die der ähnlich ist, die die Götter beschützt« (Durkheim 1994: 293).
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ROCK UND POP ALS RITUAL
Oft genug werden Rock- und Popstars – in Durkheims Worten – mit einer göttergleichen Majestät bekleidet.13 Wenn etwa Elvis Presley als »King of Rock’n’Roll« gilt, so verdichten sich in seiner Person gleichsam alle Bedeutungsinhalte, die mit dem Rock’n’Roll verbunden werden. In manchen Fällen weisen die den Stars zugewiesenen Hoheitstitel sogar explizit religiöse Dimensionen auf: So bekam der Bluesgitarrist Eric Clapton den Beinamen »Gitarrengott«; Bob Geldof wurde aufgrund seines Engagements für Afrika in der Presse als »Heiliger Bob« bezeichnet. Aber auch wenn Stars keine so deutlichen Titel zugewiesen bekommen, sind die Vorstellungsinhalte, die man mit ihnen verbindet, doch auf die liminoiden Gehalte ihres Schaffens und Wirkens gerichtet. Z. B. verkörperte Bob Dylan das Leitbild der pazifistischen Bewegung der 1960er Jahre, den Vagabunden: Dieser »lebt außerhalb der Gesellschaft, er ist friedlich und menschlich, im Einklang mit der Natur […]. Er ist frei und anspruchslos« (Flender/Rauhe 1989: 105). In diesem Image kommen die Werte der Communitas – Ablehnung von Sozialstruktur, Verbrüderung mit Mensch und Natur – deutlich zum Ausdruck. Rock- und Popstars sind als charismatische – also herausragende, ›übernatürliche‹ – Personen mit einem Zauber umgeben und dienen damit als sakralisierte Kristallisationsfiguren für die Werte und Ideale der Rock- und Popmusik. Kurz: Sie stehen für Anti-Struktur und Communitas. Wenn man nun noch in Betracht zieht, dass Stars oft von einem mythischen Geheimnis umgeben sind und dass durch die mediale Vermittlung eine eigentümliche Verschränkung von Nähe und Distanz zwischen Star und Publikum erzeugt wird, so zeigt sich, dass Stars eine ähnliche soziale Funktion haben wie die heiligen Wesen in traditionellen Gesellschaften. Stars lassen sich in diesem Sinne als Idole deuten: »Man vergleiche die Situation in der aktuellen Mediengesellschaft einmal mit der in einer traditionellen dörflichen Stammeskultur, in der es Idole in der ursprünglichen Wortbedeutung gibt: etwa als Figurinen oder (Tanz-)Masken, welche mythische Gestalten und damit verbundene Geschichten repräsentieren. Im Unterschied zu den Medienidolen befinden sie sich mitten unter ihren Anhängern. Dies ist ein Grund, weshalb diese Idole kaum natürliche Personen sein können. Deren Alltagsleben unter all den anderen würde die für ein Idol erforderliche Distanz, das Geheimnis, unmöglich machen. Man hätte […] zu oft einen Blick hinter die Fassade. Die Statuetten ermöglichen dieses Geheimnis. Die individuelle Person, die die Tanzmaske trägt, ist ohne Bedeutung und häufig als solche nicht identifizierbar. Die modernen Medien können demgegenüber die Spannung zwischen Vertrautheit und Geheimnis
13 Natürlich ist auch bei der Betrachtung der jeweiligen Images von Rock- und Popstars eine geschichtliche Einstellung notwendig. Entsprechende Arbeiten liegen aber bisher kaum vor (vgl. dazu Faulstich 1997). 86
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erstens viel einfacher, mit lebenden Personen, zweitens viel effektiver herstellen« (Sommer 1997: 119).
Das besondere Potential von Stars als Idolen liegt dabei darin, in der neuen Unübersichtlichkeit moderner Gesellschaften identitätsstiftend zu wirken. Bei der Suche nach Zugehörigkeit zu neuen Gruppen, die, wie schon gesagt wurde, gerade in der Jugendphase besonders virulent wird, stellen Stars Angelpunkte dar, über die die Fans neue Gruppenzugehörigkeiten experimentell ausprobieren können. Die Idole dienen gleichsam als Schirme, unter denen sich Fan-Gemeinschaften sammeln können. Zwischen Fans und Stars entstehen dabei »parasoziale Beziehungen«, die von der beschriebenen Verschränkung zwischen Nähe und Distanz gekennzeichnet sind (Sommer 1997: 119). Im Kapitel »Jugend und Ritual« hatte ich herausgearbeitet, dass in vielen Initiations- und Pubertätsriten sowohl eine horizontale als auch eine vertikale Communitas erzeugt wird. Die Zusammengehörigkeit der Initianden wird dabei unter Bezug auf die gemeinsame Zugehörigkeit der Initianden zu einem bestimmten transzendenten Wesen hergestellt. Im Licht der Deutung des Stars als eines Idols erscheint nun die parasoziale Beziehung zwischen Fans und Stars ebenfalls als eine – wenn auch diesseitig gewendete – Form der vertikalen Communitas. Die horizontale Communitas der Fans kommt über den gemeinsamen Bezug der Fans zum Idol zustande. Das Fan-Sein hat für die Fans also die Funktion, sich mit den von den Stars symbolisierten Werten der AntiStruktur bzw. Communitas zu identifizieren und sich gleichzeitig in eine horizontale Communitas von Fans einzufinden.14
Stars als moderne Anwärter auf Unsterblichkeit Die bisher dargestellte Auffassung, dass Stars als Symbole für Anti-Struktur bzw. Communitas gedeutet werden können, soll nun noch differenzierter herausgearbeitet werden. Aus der hier eingenommenen ritualtheoretischen Perspektive werde ich im Folgenden zeigen, dass Stars mit verschiedenen Symbolfeldern identifiziert werden, die in modernen Gesellschaften eine sakrale Qualität haben. Die Welt der Rock- und Popstars, so meine ich, stellt eine liminoide Sphäre, eine Art virtuelles Initiationscamp moderner Gesellschaften dar: Stars können als Kandidaten auf Unsterblichkeit gedeutet werden, die in ihrer abgesonderten Welt mit dem ›Heiligen‹ in Kontakt kommen. Dabei erreichen sie die Unsterblichkeit oft gerade durch ihren eigenen Tod. Diese Überlegung werde ich im Folgenden schrittweise darlegen. Dabei stellt sich vor allem die Frage, was in modernen, säkularisierten Gesellschaften als ›das
14 Dieser Punkt wird im folgenden Kapitel anhand der empirischen Befunde weiter ausgearbeitet. 87
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Heilige‹ anzusehen ist. Ich werde auf soziologische und philosophische Untersuchungen, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen, zurückgreifen, und diese auf die Welt der Rock- und Popstars beziehen. Wenn ich im Folgenden von einer ›Welt der Rock- und Popstars‹ spreche, so meine ich damit, dass die Stars als eine soziale Gruppe angesehen werden können, die durch bestimmte Merkmale charakterisiert ist. Ein bedeutendes Merkmal ist, dass die Welt der Rock- und Popstars vor allem medial hergestellt ist. So kommt das Publikum mit Stars fast ausschließlich über die Medien in Kontakt. Es ist ja gerade die bereits angesprochene Dialektik von Nähe und Distanz, welche das Starphänomen allgemein kennzeichnet. Die Welt der Stars ist zwar über die mediale Verbreitung omnipräsent, bleibt dem Publikum aber gleichzeitig unerreichbar. In diesem Sinne leben die Stars in einer eigenen, von den ›normalen‹ Menschen abgesonderten Welt. Dabei wird durch die spezifische Selektion von Informationen, welche über die Medien zum Publikum dringen, ein spezifisches Vorstellungsbild von dieser Welt konstruiert. Typisch sind die mythischen Erzählungen vom Aufstieg eines gesellschaftlichen Außenseiters zu Erfolg, Ruhm und Reichtum, dem dann meist unvermeidlich ein Absturz in die Einsamkeit, in Depressionen und Drogenprobleme folgt. Es wird von regelrechten »Stereotypen des Berühmtseins« gesprochen, zu denen »opulente Verschwendungssucht, exzessiver Drogenkonsum, Paparazzihetze beim Brötchenholen« gezählt werden (Schilling 2002: 225). Ich zitiere exemplarisch aus zwei Zeitungsartikeln, die während der Zeit meiner Forschungen über die Stars Robbie Williams und Britney Spears – zwei Musiker, die uns auch im folgenden Kapitel weiter beschäftigen werden – erschienen sind. Im Berliner Tagesspiegel heißt es am 15.02.2007 über Robbie Williams: »Der Absturz. Am Dienstag hat sich Robbie Williams, es war sein 33. Geburtstag, in eine Prominenten-Entzugsklinik im US-Bundesstaat Arizona einweisen lassen. Dort soll seine Medikamentensucht behandelt werden. […] Schon seit Jahren gibt Williams freimütig zu, dass er an Depressionen leidet, an Gewichtsschwankungen und an dem Gefühl, nicht zu wissen, wem er eigentlich vertrauen kann. Zwischen den Tourneen sitzt er allein in seiner Villa in Los Angeles. Seit Jahren ist er ohne feste Freundin. Dazu der Druck seiner Plattenfirma, doch endlich mit guten Alben zu beweisen, dass er seinen Rekordvertrag von angeblich 120 Millionen Dollar wert ist« (36).
In der Bild-Zeitung steht am 05.02.2008 über Britney Spears: »Kurz nachdem Sängerin Britney Spears (26) mit Krankenwagen und Polizeieskorte in die geschlossene psychiatrische Abteilung des Medizinischen Zentrums der kalifornischen Universität UCLA gebracht worden war, wurde alles noch viel schlimmer! Nach ihrer Einlieferung am vergangenen Donnerstag sollen aus ihrer Villa in 88
KOMPARATIV-SYMBOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN
Beverly Hills einige Wertgegenstände gestohlen worden sein. Angeblich auch vermisst: private Skandal-Videos! Darauf soll eine Glatzen-Britney beim Schauen eines pikanten Videos zu sehen sein: die Sängerin beim wilden Sex mit einem Mann und zwei weiteren Frauen! Beim Gruppensex soll Britney diverse Drogen konsumieren!« (9).
Es ist hier nicht von Belang, ob in derartigen Berichten die ›Wahrheit‹ über das Leben der Stars steht. Entscheidend ist vielmehr, dass die Medien eben bestimmte Stereotype über Stars erzeugen. Insofern nach Turner Mythen und Legenden wichtige ›Fakten‹ für die Ritualforschung darstellen, werde ich diese Stereotype aus komparativ-symbologischer Perspektive deuten (vgl. Turner 1974a: 98). Was sind also die dominierenden Themen in diesen Berichten? Da geht es zum einen um den »Absturz«, verursacht durch Vereinsamung und Drogenprobleme. Weiterhin ist von sexuellen Ausschweifungen zu lesen. Und schließlich ist auch der Reichtum der Stars ein Thema. Schon diese zwei Berichte zeigen, dass wir es bei der Welt der Stars mit einer vielschichtigen Symbolik zu tun haben. In wissenschaftlichen Untersuchungen zum Starphänomen wird der Absturz von Stars meist mit der Schwierigkeit erklärt, biographische Person und Star-Image über die Zeit hinweg in Übereinstimmung zu halten (vgl. z. B. Sommer 1997: 115; Ludes 1997: 90f). Die biographischen Personen laufen danach Gefahr, von ihrem Image geschluckt und nicht nur ihren Fans, sondern auch sich selbst zum Mythos zu werden – was geradezu zwangsläufig zur Überforderung führt (vgl. Schwarze 1997a: 26). Drogenprobleme und Einsamkeit werden dementsprechend als ›Schattenseiten‹ des Stardaseins angesehen. Aus komparativ-symbologischer Perspektive kann auch eine andere Interpretation vorgeschlagen werden. Dabei stelle ich nicht das Problem von Stars in Frage, biographische Person und Image in Einklang bringen zu müssen. Aber ich werde zeigen, dass die genannten ›Schattenseiten‹ als integraler Bestandteil der Welt der Rock- und Popstars gedeutet werden können. Schon in formaler Hinsicht lassen sich Analogien zwischen der Welt der Rock- und Popstars und den Seklusionslagern in traditionellen Initiationsriten feststellen: Obwohl Stars über die Medien omnipräsent sind, befinden sie sich gewissermaßen in einer permanenten Seklusion: Ihr Platz ist außerhalb der ›normalen‹ Gesellschaft, sie partizipieren nicht am Leben der gewöhnlichen Menschen. Schon die Meinung, dass Rock- und Popstars nicht einmal unerkannt Brötchen kaufen können, macht dies deutlich – wie oben zitiert, sitzt Robbie Williams »allein in seiner Villa«, wenn er nicht gerade auf Tournee ist. Darüber hinaus wird die Welt der Rock- und Popstars in den Medien als eine Welt konstruiert, in der andere Regeln gelten als in der Welt der ›Normalbürger‹. Genau genommen ist es so, dass das Leben von Stars gerade nicht 89
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den ›normalen‹ Verhaltensregeln zu folgen scheint. Drogenexzesse und Sexorgien verweisen auf eine anti-strukturelle Dimension des sozialen Lebens, auf das Über-die-Stränge-Schlagen. Es entsteht das Bild, dass Rock- und Popstars von den gültigen Normen des sozial-strukturellen Lebens entkoppelt sind. Zudem erzeugen die Medien das Bild einer Communitas von Rock- und Popstars. Bei allen Abgrenzungstendenzen, die zwischen den einzelnen FanGemeinschaften bestehen mögen, kommen die Rock- und Popstars der unterschiedlichsten Stilrichtungen doch regelmäßig, oft auch medial inszeniert zusammen, um sich in Ritualen wie der Grammy-Verleihung selbst zu loben und zu feiern. Auch in den oben genannten Live 8-Konzerten wurde diese Star-Communitas eindrucksvoll inszeniert und aufgeführt. Auch wenn die Stars also nicht wie die australischen Initianden im Busch leben, so befinden sie sich aus Sicht des Publikums doch in einer weitgehend geschlossenen, virtuellen Seklusionswelt.15 Und das Publikum bekommt, ähnlich wie die profanen Mitglieder eines Stammes, nur ausgewählte Botschaften aus dieser Welt. Allerdings ist das Publikum hier wie dort notwendig, um die Transformation, welche die ›Auserwählten‹ durchlaufen, zu beglaubigen und zu bewundern.16 Auch inhaltlich lassen sich Ähnlichkeiten zwischen der Welt der Rockund Popstars und dem traditionellen Seklusionscamp feststellen. In den vorangegangenen Abschnitten wurde bereits gezeigt, dass die Stars die Möglichkeit haben, mit den sozialen Konstruktionen von Geschlecht zu spielen, musikalische Kreativität zu entfalten und »proto-philosophischen Spekulationen« nachzugehen. Gerade der letzte Aspekt macht deutlich, dass Rock- und Popstars sich in ihren Songs oftmals mit dem Heiligen auseinandersetzen und eine vertikale Communitas herzustellen versuchen. Wenn in diesem Zusammenhang vom Heiligen die Rede ist, dann durchaus noch in einem – wenn auch nicht traditionellen – religiösen Sinn. Darüber hinaus kommen Rockund Popstars aber auch mit anderen, säkularisierten Formen des ›Heiligen‹ in Berührung, wie ich nun unter Rückgriff auf Untersuchungen zur Bedeutung von Individualismus, Reichtum und Drogensucht in modernen Gesellschaften demonstrieren werde.17
15 Mittlerweile gibt es interessanterweise tatsächlich quotenstarke Fernsehinszenierungen, in denen relativ unbekannte Sternchen in den ›Busch‹ geschickt werden und dort bestimmte Prüfungen zu absolvieren haben. Dieses Phänomen wäre aus ritualtheoretischer Sicht sehr interessant, muss aber im Rahmen der vorliegenden Arbeit ein Desiderat bleiben. 16 So berichtet LaFontaine davon, dass ein Gisu-Junge sie zu dem öffentlichen Teil seiner Initiation mit den Worten einlud: »come and admire me at my initiation« (1985: 124). 17 Dabei setze ich den Begriff des Heiligen in einfache Anführungszeichen, um zu betonen, dass hier von einer diesseitig gewendeten Religiosität gesprochen wird. 90
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Das Individuum und das ›Heilige‹ Verschiedentlich wird betont, dass der Individualismus einen zentralen Wert moderner Gesellschaften darstellt. Nach Christoph Wulf entstand das moderne Individualitätskonzept dabei durch die Umdeutung religiöser Schemata während der Aufklärung (vgl. Wulf 2004d: 118f.). Der Soziologe Thomas Luckmann sieht das Individuum als wichtigstes sakrales Symbol einer neuen, »unsichtbaren Religion« an, die als funktionales Äquivalent zunehmend an die Stelle der etablierten Religionen tritt. »Die Inhaltsanalysen von populärer Literatur, populären Radio- und Fernsehsendungen, Lebensberatungs-Kolumnen in Zeitschriften belegen deutlich, daß Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung in der Tat das vorherrschende Thema darstellt« (Luckmann 1991: 155). Doch nicht nur in den Alltagsmedien, auch in der Philosophie und der Erziehung nimmt die Fokussierung auf das Individuum eine zentrale Position ein, was zeigt, dass dieses Thema die gesamte Gesellschaft durchdringt. Seinen sakralen Status erhält das Individuum vor allem durch die ihm zugeschriebene Autonomie: »Die Sakralisierung des Individuums führt dazu, dass von ihm erwartet wird, was früher von Gott erhofft wurde« (Wulf 2004d: 121). Mit dem Individualitätskonzept sind nach Luckmann weitere Themen wie Selbstdarstellung, Selbstverwirklichung, Sexualität oder Konsumorientierung verbunden. Die Individuen moderner Gesellschaften sind nach Sommer »besonders darauf angewiesen, ihre einzigartige Persönlichkeit zu kultivieren und zu demonstrieren« – sie bedürfen dafür allerdings angesichts der Unübersichtlichkeit moderner Orientierungsmuster der »Direktiven über Art und Richtung dieser Persönlichkeit« (Sommer 1997: 121). In dieser Situation erhalten Stars eine herausragende soziale Bedeutung, denn das Interesse an ihnen gilt nicht nur ihrem Image, sondern immer auch der »authentischen, wirklichen Person«, die dahinter steht: »Ganz gleich, welche Werte sie im Detail verkörpern, Stars stehen grundsätzlich für den Wert des Individualismus, sie leben Möglichkeiten vor, wie man als Einzelner mit den (je spezifischen) Anforderungen der Gesellschaft umgehen kann, wie man dabei seine einzigartige personale Identität, seine Authentizität […] behaupten kann« (ebd.: 122). In den Medien wird der Anschein erweckt, als könnten Rock- und Popstars »ihre Arbeit zutiefst mit ihrem Lebensgefühl verbinden« (Voullième 1987: 63). Stars können somit als Figuren angesehen werden, die dem zentralen sakralen Wert moderner Gesellschaften ganz konkret ›ein Gesicht‹ geben. Auch in dieser Hinsicht sind sie Idole: Bilder, die glauben machen, dass die Selbstverwirklichung nicht nur ein Traum ist, sondern Realität werden kann; und Vor-Bilder, die in einer oft undurchsichtigen sozialen Welt Orientierungsmöglichkeiten bieten.
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Reichtum und das ›Heilige‹ Die oben zitierten Zeitungsberichte enthalten beide Verweise auf den Reichtum der Stars: es ist von Villen die Rede und von einem Vertrag über 120 Millionen Dollar. Derartige Hinweise auf das schier unfassbare Vermögen von Rock- und Popstars finden sich immer wieder in den Medien.18 Welche soziale Bedeutung hat dies? Der Soziologe Christoph Deutschmann hat sich mit der sozialen Funktion des Geldes auseinandergesetzt und ist zu der Auffassung gelangt, dass Geld in kapitalistisch orientierten Gesellschaften eine sakrale Qualität erlangt hat. In vielen modernen Mythen und Symbolen – Deutschmann bezieht sich auf Mythen der industriellen Produktion – wird eine »Verheißung absoluten Reichtums« erzeugt, also der Verweis auf die Möglichkeit, über eine unbegrenzte Quantität und Qualität an Gütern verfügen zu können: »Die Unermeßlichkeit dessen, was sich mit Hilfe des Geldes in der modernen Gesellschaft erwerben läßt, hebt das letztere über einen rein instrumentellen Status hinaus und umgibt es erneut mit der Aura des ›Heiligen‹« (Deutschmann 1999: 84). Die Vorstellung absoluten Reichtums verweist auf das »ewige Fest« (Enderwitz 1990: 12) – oder, profaner: die unendliche Party –, also auf eine permanente rituelle Auszeit. Sie ist also mit der Idee der Entbindung aus ökonomischen Zwängen und damit aus der Sozialstruktur verbunden: Wer absolut reich ist, braucht sich nicht mehr dem täglichen Kampf um Ressourcen zu stellen.19 Nun sind Rock- und Popstars zwar sicherlich nicht absolut reich, doch die medialen Darstellungen ihres Vermögens erzeugen durchaus so etwas wie ein Phantasma der pekuniären Entgrenzung. Die Welt der Rock- und Popstars verweist auch in diesem Sinne auf Vorstellungen von Anti-Struktur.20 Aber auch hier – und hier sogar besonders zugespitzt – zeigt sich wieder die Umkehrung der Vorzeichen gegenüber religiösen Communitas-Bewegungen, die ich schon bei der Untersuchung der Live 8-Konzerte herausgestellt hatte. Die anti-strukturelle Symbolik der Welt der Popstars hat nicht nur einen diesseitsorientierten Charakter, sondern erscheint darüber hinaus auch in einem kapitalistischen Gewand. Während sich viele Initianden in traditionellen 18 Auf den Musikfernsehkanälen VIVA und MTV gibt es sogar besondere Sendungen wie »The Fabulous Life of…«, in denen der Reichtum der Stars das zentrale Thema ist. 19 In ethnographischen Studien über Initiations- und Pubertätsrituale ist oft zu lesen, dass die Riten mit recht großen ökonomischen Aufwendungen verbunden sind. 20 Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die Anwesen von Elvis Presley und Michael Jackson auch durch ihre Namen »Graceland« und »Neverland« auf die Communitas-Vorstellungen von Gnade und Zeitlosigkeit verweisen. 92
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Initiationsriten im Fasten üben, um den Kontakt zur Transzendenz herzustellen – sich also durch Verzicht der sozialstrukturellen Welt entziehen – gehen Rock- und Popstars gleichsam den Weg der Völlerei. Trotz dieser Umkehrung der Vorzeichen wird deutlich, dass die Welt der Stars durch diesen symbolischen Bezug zum Reichtum als eine sakrale Sphäre der Anti-Struktur in der modernen Gesellschaft erscheint.
Drogen und das ›Heilige‹ Um auf das Stereotyp vom Star als Drogenjunkie näher einzugehen, greife ich die kulturhistorischen Untersuchungen des Philosophen Peter Sloterdijk über den Zusammenhang von Drogensucht und Entritualisierung in modernen Gesellschaften auf.21 Nach Sloterdijk dienen Drogen in magisch orientierten Kulturen, also in Kulturen, wo sich die Menschen als durchlässig für die Götter ansehen, »überwiegend als Vehikel eines ritualisierten metaphysischen Grenzverkehrs« (Sloterdijk 1993: 127). Damit ist ein Bezug zwischen Drogen und Liminalität hergestellt: Drogen können den Kontakt der Menschen zu den übernatürlichen Kräften vermitteln, sie ebnen den Weg zur vertikalen Communitas. Gerade die rituellen Vorschriften zum Gebrauch von berauschenden Substanzen sowie deren sakraler Charakter garantieren dabei, dass keine Sucht entstehen kann. Moderne Menschen zeichnen sich allerdings dadurch aus, dass Offenbarungen der Götter nicht mehr zu ihrem Erfahrungsraum gehören. Und: »Auch in Ekstase verlernten die Menschen mehr und mehr die Dialekte ihrer Götter« (ebd.: 140). Drogen können schließlich allenfalls noch ungewöhnliche innere Zustände erschließen helfen, sie verlieren aber ihre Kraft, den Kontakt zum Jenseits herzustellen. Die vormals sakralen Substanzen werden in diesem Prozess, der mit einer Entritualisierung verbunden ist, zunehmend dämonisch: »Wenn die Ekstase uninformativ wird, weil die Götter offenbarungsmüde sind und die Rauschbilder ihre Profilschärfe verlieren, dann setzt sich ein flacher und entritualisierter Umgang mit den mächtigen Substanzen durch. Sobald die rituellen Halterungen fallen, die dem Subjekt beim Gebrauch sakraler Drogen den Rücken stärkten, findet sich dieses in einer ungeschützten Direktbeziehung zu dem vor, was aller Erfahrung zufolge stärker ist als das profane Selbst« (ebd.: 141).
Im entritualisierten und privatisierten Konsum der Droge schlägt die vormalige Teilhabe am Heiligen in eine »maligne Überwältigung« um – es entsteht die Sucht.
21 Zum Zusammenhang von Drogensucht, Ritual und Pädagogik siehe: Sting 2004. 93
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Allerdings ist die Sucht für Sloterdijk nur dann erklärbar, wenn man bei Menschen neben dem Selbsterhaltungstrieb auch einen Willen zum Nichtsein annimmt. Die Überwältigungsmacht der Droge könne nämlich nicht allein auf deren chemische Wirkungen zurückgeführt werden; vielmehr könne Sucht nur in dem Maße entstehen, »wie sich die Droge einem Unwillen, zu sein, unentbehrlich machen konnte« (ebd.: 149). Aus ritualtheoretischer Perspektive liest sich dieses anthropologische Postulat sehr ähnlich wie Turners Überlegung zum menschlichen Bedürfnis nach Anti-Struktur. So schreibt Sloterdijk: »Durch die Allianz mit der Droge setzt das süchtige Subjekt seine Existentialität außer Kraft, durch die es in die Spannungen der Weltoffenheit hineingehalten würde – mit allen den Herausforderungen, die diese in Form von Sorgen, Kämpfen, Aufgaben und sozialen Verbindlichkeiten mit sich brächte« (ebd.: 148). In der hier verwendeten Terminologie lässt sich dies in dem Sinne formulieren, dass der süchtige Mensch über die Droge einen Zugang in einen anti-strukturellen Zustand zu finden versucht.22 Wenn also die Medien uns immer wieder an den Drogenexzessen der Rock- und Popstars teilhaben lassen, so zeichnen sie uns das Bild vom Star als überwältigtem, aufgelöstem Menschen (oftmals auch mit reichlich Fotound Filmmaterial, welches den Zustand des Aufgelöstseins dokumentiert). Rock- und Popstars repräsentieren in diesem Fall den Menschen, der sich im Verlangen nach der Erfahrung von vertikaler Communitas einer stärkeren Macht unterwirft – und an ihr zerbricht. Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bemerkenswert, dass die größte mythische Überhöhung jenen Stars zuteil wird, die mittel- oder unmittelbar an der Sucht zugrunde gingen, wie Elvis Presley, Jim Morrison, Janis Joplin, Jimi Hendrix oder Kurt Cobain. Es wird argumentiert, dass »tote Idole die langlebigsten« sind, denn »sie können das mythische Bild nicht mehr durch ihre menschlichen Schwächen zerstören« (Sommer 1997: 115). Aber ist nicht gerade das Zugrundegehen an einer Droge ein eindrucksvoller Beleg für eine »menschliche Schwäche«? Vielleicht ist es doch eher so, dass die Welt der Rock- und Popstars das Publikum einerseits mit außergewöhnlichen menschlichen Stärken – der Star als charismatische Person, als Verkörperung des Individualitätskonzepts, als Eroberer des absoluten Reichtums –, gleichzeitig aber auch mit der bodenlosen Ohnmacht von Menschen konfrontiert. Eine Parallele dazu findet sich in der Symbolik von Initiationsriten, denn die Initianden unterwerfen sich einerseits den transzendenten Mächten, erhalten dadurch aber wiederum eine gesteigerte soziale Autorität. Der Kontakt mit der Transzendenz und das damit verbundene Erlangen von Unsterblichkeit sind für sie dabei mit einem symbolischen 22 Tatsächlich besteht ein noch auffälligerer Bezug zwischen Sloterdijks Annahme eines Willens zum Nichtsein und Initiations- und Pubertätsriten. Schließlich ist doch ein Hauptmerkmal dieser Riten, dass die Initianden symbolisch getötet werden und für eine bestimmte Zeit als ›tot‹ – also als nichtexistent – gelten. 94
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Tod verbunden, der dramatisch inszeniert und teilweise auch den profanen Stammesmitgliedern eindrucksvoll vor Augen geführt wird.23 Auch der Star erlangt durch seinen Tod – der von den Medien dramatisch inszeniert wird, im Gegensatz zu dem der Initianden aber sehr real ist – die diesseitig gewendete Unsterblichkeit im öffentlichen Bewusstsein. Denn auf seinen Tod folgt meist die symbolische Auferstehung in Form von mythenbildenden und idealisierenden Gedenkinszenierungen von Medien und Fans.24 Aus der hier eingenommenen Perspektive erscheint die Welt der Rock- und Popstars also als ein massenmedial erzeugtes Seklusionscamp, in welchem sich die modernen Anwärter auf die Unsterblichkeit befinden. Unsterblichkeit erlangen die Kandidaten, wenn sie ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten unter Beweis stellen und in Kontakt mit dem ›Heiligen‹ treten.25 Manifestationen von Communitas bzw. Anti-Struktur, so Turner, sind in der Lage, Gefühle des Heiligen zu erzeugen – wobei darunter mit Rudolf Otto ein ambivalentes Gefühl der Faszination und des gleichzeitigen Schauderns zu verstehen ist: fascinanz et tremendum (vgl. Otto 2004). Die vorstehenden Überlegungen machen es nachvollziehbar, dass die Welt der Rock- und Popstars einen so bedeutenden Platz im öffentlichen Interesse einnimmt. Denn diese Welt fasziniert das Publikum nicht nur durch die symbolische und performative Kreati23 Das Publikum der Rock- und Popstars gleicht in dieser Perspektive jenen profanen Stammesmitgliedern der Gisu in Uganda, die der Beschneidung der Jungen rituell beiwohnen müssen, um die magischen Kräfte anzuerkennen, welche die Initianden durch die vorbereitenden Zeremonien erhalten haben (vgl. LaFontaine 1985: 117ff.). Prinzipiell ist zwar niemand in modernen Gesellschaften gezwungen, sich mit der Welt der Rock- und Popstars auseinanderzusetzen; allerdings ist es auch schwierig, sich ihr völlig zu entziehen. So werden alle mehr oder weniger intensiv von dieser Seklusionswelt der Stars verzaubert, auch wenn sie das Starwesen ablehnen – ich habe jedenfalls noch niemanden kennengelernt, der von den Drogenabstürzen der Stars nicht in irgendeiner Weise betroffen gewesen wäre. Allerdings ist es bei den Gisu anscheinend so, dass die profanen Stammesmitglieder nicht nur an der Beschneidung teilnehmen müssen, sondern dies auch voller Faszination tun, weil sie die Kandidaten für ihren Mut bewundern. Diese Situation trifft wohl auch auf viele moderne Menschen im Hinblick auf die Welt der Rock- und Popstars zu: der Zauber dieser Welt zieht das Interesse des Publikums unweigerlich auf sich. 24 Einen besonderen ›Zauber‹ hat in diesem Zusammenhang der Fall des Sängers Falco auf die Musikwelt ausgeübt, der in dem Song »Out of the Dark« seine Kokainabhängigkeit besingt. In einer Zeile fragt er dort: »Muss ich denn sterben – um zu leben?« Der Song bot vor allem deshalb Stoff für Mythen, weil er gleichsam prophetisch war: er wurde kurz nach dem tödlichen Autounfall des Sängers, bei dem dieser unter Drogen stand, veröffentlicht. 25 In diesem Zusammenhang ist ein T-Shirt bemerkenswert, welches ich einmal bei einem Jugendlichen gesehen habe. Darauf waren die Portraits von Kurt Cobain, Jim Morrison, John Lennon und Jimi Hendrix zu sehen. Darunter der Schriftzug: »They all met together in Heaven«. 95
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vität, das Phantasma des unermesslichen Reichtums und Vorstellungen sexueller Freizügigkeit, sondern gibt ihm auch Schaudern hervorrufende Einblicke in die Abgründe der menschlichen Existenz. Diese komplexe Symbolik macht den Zauber der Welt der Rock- und Popstars aus.
Rock- und Popsongs: V e r z a u b e r n d e R h yt h m e n , K l ä n g e u n d T e x t e Nachdem in den bisherigen Abschnitten der soziale Aspekt der Rock- und Popmusik im Zentrum stand, werde ich nun noch die ›eigentliche‹ Musik – also die Songs – betrachten. Dabei möchte ich der Frage nachgehen, weshalb die Musik eigentlich so geeignet ist, als ein liminoides Medium zu dienen. Aus komparativ-symbologischer Sicht rücken dabei vor allem die Ekstase hervorrufende Kraft der Musik, die Erzeugung verzaubernder Klangwelten und die in vielen Songs zum Ausdruck kommende ›Pop-Religiosität‹ in den Mittelpunkt der Betrachtung. Das Potential der Rock- und Popmusik, zum ekstatischen Tanzen anzuregen, kann auf ihr aus Afrika stammendes musikalisches Erbe zurückgeführt werden. So wird als wichtigstes Kennzeichen der Rock- und Popmusik durchweg ihre Rhythmusbetonung genannt. Die Musik basiert, genau wie ihr Vorläufer, die afro-amerikanische Musik, auf einem gleichmäßigen Grundschlag, dem Beat, über den sich weitere rhythmische und auch melodische Abläufe lagern, die gerade nicht mit dem Grundschlag übereinstimmen, sondern dazwischen fallen. Diese rhythmische Gestaltung wird als Off-Beat-Technik bezeichnet.26 Der Musikwissenschaftler Alfons Dauer hat darauf hingewiesen, dass dieser Rhythmus eine körperliche Spannung hervorruft, die geradezu zwangsläufig zu Erregung und Ekstase führt: »Es entsteht ein zwanghaftes Bedürfnis nach entspannendem Ausgleich, und das ist die eigentliche Quelle der Erregung. Diese Erregung wiederum verwandelt ihre Energie in mechanische Bewegung und wird dadurch zum Antriebsfaktor für Arbeit und Fortbewegung. Äußert sich diese Energie indes als geistige Erregung, dann wird sie zur Ergriffenheit, Besessenheit, Ekstase« (Dauer, zit. n. Kögler 1994: 20). Die Off-Beat-Technik hat im wahrsten Sinne des Wortes einen ekstatischen Charakter: »[I]hr Wesen ist es, das statische Ruhen in sich selbst, das sowohl Metrum wie Rhythmus neben ihrer Eigenschaft als zeitliche Ablaufform auszeichnet, durch Überlagerung ihrer Akzente mit ekstatischen Schwerpunkten zu beunruhigen, zwischen statischen und ekstatischen Akzenten Spannungen zu erzeugen. […] So gese26 Mit der Betonung des Rhythmus unterscheidet sich die afro-amerikanische Musik grundlegend von der abendländischen Musik, deren Grundlange nicht der Rhythmus, sondern die Melodie ist (vgl. Kögler 1994: 18f.). 96
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hen besteht das innerste Anliegen der afrikanischen Musik darin, durch rhythmische Konfigurationen spezifischer Art eine ununterbrochene Ekstasis hervorzurufen« (Dauer zit. n. Lehmann 1996: 144).
Es ist nicht besonders verwunderlich, dass dieses musikalische Element, welches ursprünglich aus der afrikanischen Ritualmusik stammt, einen liminoiden Charakter hat: die Off-Beats befinden sich gewissermaßen »betwixt and between«. Schon Turners Forschungsberichte verweisen immer wieder auf Gesänge und Tänze der Ndembu; Turner geht allerdings nicht auf die besondere Charakteristik dieser Musik ein (vgl. z. B. Turners Darstellung des Beschneidungsritus Mukanda in 1967c). In diesem Zusammenhang ist zudem die Bemerkung von Flender und Rauhe bemerkenswert, der pulsierende Beat der Rock- und Popmusik habe eine auffällige Ähnlichkeit mit dem menschlichen Herzschlag: »Der Rezipient ›taucht‹ in den Rocksound ein: Er ›kriecht‹ dabei gleichsam in den ›magischen Uterus‹ der rhythmisch pulsierenden Klangwelt hinein, die ihn unbewußt an das vorgeburtliche Stadium erinnert und ihm auf dem Wege der Regression wohlige Geborgenheit und emotionale Sicherheit vermittelt« (Flender/Rauhe 1989: 161). Während Flender und Rauhe darin allerdings eine »große Gefahr« sehen (sie befürchten eine wachsende Unmündigkeit und Unfähigkeit der Rezipienten, ihr Leben selbst zu bewältigen), so scheint aus einer ritualtheoretischen Perspektive hier doch eher ein wichtiges Potential der Rock- und Popmusik zu liegen, Erfahrungen zu ermöglichen, die der Erfahrung von Liminalität ähnlich sind. Denn die liminale Phase von Jugendritualen zeichnet sich ja häufig gerade dadurch aus, dass die Initianden symbolisch in den embryonalen Zustand (zurück-)versetzt werden, um dann als neue Menschen wiedergeboren zu werden. Ein bedeutendes Kennzeichen des Blues, welches Eingang in die Rockund Popusik gefunden hat, ist die sogenannte Blue-Note. Die afrikanische Musik kennt, anders als die abendländische, keine Aufteilung der Tonleiter in Ganz- und Halbtöne, sondern verwendet sieben ungefähr gleich große Stufen, die etwas kleiner sind als ein Ganzton. Die schwarzen Musiker in den USA versuchten, diese Tonleiter auf europäischen Instrumenten zu verwirklichen, indem sie auf dem Klavier sowohl die kleine als auch die große Terz gleichzeitig anschlugen oder auf der Gitarre die Saiten während des Spielens so dehnten, dass der angeschlagene Ton zwischen die kleine und große Terz gezogen wurde.27 Dieser Ton, der in den Ohren weißer Musiker wie ein »Seuf27 Dies funktioniert vor allem auf E-Gitarren besonders gut. Ein ähnlicher Effekt wird auch durch die so genannte bottleneck-Technik erreicht, bei der die Gitarristen ursprünglich mit einem Flaschenhals über die Saiten glitten. Heute wird dazu in der Regel eine kleine Metallröhre verwendet, die auf den Finger gesteckt wird. 97
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zermotiv« klingt – und den die Sänger auch mit ihrer Stimme intonieren –, wird als Blue-Note bezeichnet (vgl. Flender/Rauhe 1989: 77). Der liminoide Charakter der Blue-Note ist offensichtlich, liegt dieser Ton doch genau zwischen zwei in der abendländischen Tradition gültigen Tönen. Und das Ziehen der Saiten (bei dem charakteristischerweise auch die Veränderung der Tonhöhe zu hören ist) gibt der Blue-Note zusätzlich etwas Unbestimmtes: sie pendelt und schwingt zwischen den ›eigentlichen‹ Tönen hin und her. Auch wenn die Blue-Note beileibe nicht in jedem Rock- oder Popsong zur Anwendung kommt, gehört es doch zum Standardrepertoire von E-Gitarristen, durch das Dehnen der Saiten Töne zu produzieren, die einen Übergang zwischen verschiedenen ›passenden‹ Tönen erklingen lassen. Auch mit modernen Keyboards lassen sich derartige Zwischentöne hervorbringen. Zudem werden in der Rock- und Popmusik die Klänge oft verzerrt, vor allem bei der E-Gitarre, aber auch bei der Stimme und dem Keyboard. Unter Musikern wird dabei von Distortion gesprochen, also »Zerstörung«. Der Klang wird unbestimmt und unklar, man könnte ihn auch als ›breiartig‹ oder ›dreckig‹ bezeichnen. Auch diese Unbestimmtheit und Unreinheit gibt dem Klang der Rock- und Popmusik einen liminoiden Charakter.28 War der Rock’n’Roll musikalisch noch stark am Rhythm&Blues orientiert und textlich vor allem auf die Sehnsucht nach Liebe und Vergnügung ausgerichtet, so setzten sich spätestens ab Mitte der 1960er Jahre neue kreative Impulse durch. Texte und Musik wurden anspruchsvoller; zunehmend wurden politische und weltanschauliche Themen behandelt. Schon an Songtiteln kann man oft erkennen, dass die Lieder die Idee der Communitas als einer universellen Verbrüderung zum Ausdruck bringen (z. B. »Come Together« von den Beatles oder »We are the World« von Michael Jackson und Lionel Richie). So wie sich die musikalischen Stile im Laufe der Zeit immer weiter differenzierten, hat auch die Breite der in den Songs behandelten Themen zugenommen, so dass man nicht von ›dem‹ Inhalt der Rock- und Popmusik sprechen kann. Keinesfalls ist es aber so, wie gelegentlich geschrieben wird, dass in Songs der populären Musik allein »triviale« Inhalte zu finden sind – auch wenn es diese sicherlich reichlich gibt (vgl. z. B. Huppert 2005). Was in den Songs behandelt wird und auf welche Weise dies geschieht, richtet sich nicht nach bestimmten ›Schulen‹, sondern nach dem, was den Musikern und dem Publikum gefällt. Die Musiker sind weitgehend frei, Inhalt und Darstellungsweise zu wählen. Hier ist wiederum eine Parallele zur liminalen Phase von traditionellen Jugendritualen zu sehen, denn in der Liminalität sind nicht nur die normalerweise gültigen Sozialstrukturen aufgehoben, sondern auch die sonst gängigen Strukturen des Denkens, so dass ein freies 28 Nach Turner spielen auch Symbole der Unreinheit eine Rolle in der liminalen Phase von Initiationsriten (vgl. Turner 1967b). 98
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Spiel mit den Faktoren der Kultur entstehen kann: »To my mind it is the analysis of culture into factors and their free recombination in any and every possible pattern, however weird, that is most characteristic of liminality, rather than the establishment of implicit syntax-like rules or the development of an internal structure of logical relations of opposition and mediation« (Turner 1974c: 255). Rock- und Popsongs halten sich an keine Dogmen, sondern zeichnen sich durch einen teilweise äußerst kreativen, freien und spielerischen Umgang mit musikalischen sowie textlichen Inhalten aus, wie zu zeigen sein wird.29 Vor allem die technischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts haben es möglich gemacht, dass die populäre Musik bis dahin unbekannte Klang-Konfigurationen hervorgebracht hat. Neuartige Verfahren der Aufzeichnung von Musik führten dazu, dass sich die Aufnahme von der Aufführung löste (vgl. Wicke 2001: 35). Die Musik entsteht nun oft zuerst im Studio und kommt erst danach zur Aufführung auf der Bühne (wobei die Klangwelt der im Studio aufgenommenen Musik oft kaum mehr zu reproduzieren ist); ›Sound‹ wird dabei zur bestimmenden Kategorie in der populären Musik. In den 1960er Jahren kam es in dieser Hinsicht zu einem »Gipfelpunkt der kreativen Leistungsfähigkeit«, der noch heute klangliche Maßstäbe setzt und den Middleton anhand der Beatles-Songs Strawberry Fields Forever und Penny Lane herausarbeitet. Ich zitiere seine Ausführungen zu dem ersten Song: »In Strawberry Fields sind die unkonventionellen harmonischen Fortschreitungen, die Phrasierung und rhythmischen Muster der Ansatzpunkt für das Heraufbeschwören einer Klangwelt, die ebenso mysteriös bleibt wie das Thema undurchsichtig ist. […] Viele der Klänge sind elektronisch verändert und in einem komplexen Mehrspur-Prozeß abgemischt, so daß ein Gefüge entsteht, das manchmal hell und fragmentarisch ist, wobei individuelle Klänge und Motive plötzlich aus dem Dunkel erscheinen (z. B. Glissandi der Violoncelli). Die Wirkung ist abwechselnd furchteinflößend und ätherisch, und das Mysterium wird durch die Coda, eine Collage vokaler, instrumentaler und elektronisch verarbeiteter Klänge in verschiedenen Tonarten und Tempi, noch vertieft« (Middleton 2001: 90).
Aus komparativ-symbolischer Perspektive sind an diesem Zitat zwei Punkte bemerkenswert: Erstens können die Klangwelten der populären Musik völlig neue Sound-Konfigurationen erzeugen, was auf den liminoiden Charakter der Musik verweist; zweitens – und das halte ich für bedeutender – sind diese Klangwelten in der Lage, einen Zauber auf die Zuhörer auszuüben, selbst auf den Autor eines kritisch-reflektierenden Textes über populäre Musik. Dies be29 Allerdings gibt es auch in der Popmusik bestimmte Konventionen. So wird die Musik fast ausschließlich im Songformat produziert. Zu den Gründen dafür siehe Wicke 2001: 23ff. 99
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zeugen die Ausdrücke ›mysteriös‹/›Mysterium‹, ›furchteinflößend‹ und ›ätherisch‹. Verweist also schon das klangliche Gewebe von Rock- und Popsongs oftmals auf andere, zauberhafte Welten, so kann dies auch bei Songtexten festgestellt werden. Inzwischen gibt es eine Vielzahl theologischer Arbeiten, die auf eine religiöse Dimension in der Rock- und Popmusik hinweisen. Für die Theologen stellt sich dabei allerdings das Problem, dass diese Dimension mit ihren gängigen Begriffen und Kategorien kaum fassbar ist. Denn die Musiker ›vermischen‹ nach eigenem Belieben religiöse Inhalte unterschiedlicher Traditionen miteinander, so dass ein »postmoderner Synkretismus« entsteht (vgl. Tischer 1992). Auch diese Entwicklung begann in den 1960er Jahren: »Offenbar war die liebes- und lustbetonte Phase des Rock’n’Roll und der Beat-Musik an eine Grenze gekommen. Der Hunger nach Sinn, die Sehnsucht nach religiösen Erfahrungen war aufgebrochen« (Schwarze 1997a: 127). Die Rock- und Popmusiker suchten nach bewußtseinserweiternden Erfahrungen durch fernöstliche Meditationstechniken oder Drogenkonsum und setzten sich mit verschiedenen spirituellen Lehren auseinander. Dies schlug sich wiederum in den Songs nieder, in denen nicht nur Rauscherfahrungen zur Sprache kamen, sondern auch Sitarklänge und Om-Gesänge zu hören waren. Der Kreativität waren dabei offenbar keine Grenzen gesetzt, denn »[d]ie Türen standen offen für geistliche Lehren aller Art« (ebd.: 128). Es entstand eine PopReligiosität, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie nicht als traditionell bezeichnet werden kann. Schwarze hat in diesem Zusammenhang drei Kennzeichen der Religiosität von Rock- und Popsongs herausgearbeitet (vgl. ebd.: 241ff.). Erstens ist eine Individualisierung des Religiösen festzustellen. Vermittelnde Institutionen zwischen dem Menschen und transzendenten Bereichen spielen kaum eine Rolle oder werden abgelehnt, die Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Heiligen ist individuell und direkt. Zweitens kommt es in der Rock- und Popmusik zu einer Ästhetisierung des Religiösen. Die Musiker schaffen neue religiöse Erzählungen, die sich teilweise an überliefertem Material verschiedener Traditionen orientieren, diese aber ganz entgegen den dogmatischen Vorstellungen kreativ miteinander verbinden. Dabei ist gelegentlich auch eine ironische Distanzierung vom Ernst der Themen zu konstatieren. In manchen Songs verwischen sogar die traditionellen Unterscheidungen zwischen religiösem und nicht-religiösem Bereich. Beispielsweise kommt Schwarze in seiner Interpretation des Prince-Songs Anna Stesia zu dem Schluss, Sexualität diene dort als ein Weg zur Erlösung: Orgasmus und Offenbarung seien »im Grunde nur zwei Benennungen desselben Ereignisses« (Schwarze 1997a: 248). Und drittens lässt sich in Popsongs eine ReInszenierung des Heiligen feststellen: Sowohl mit musikalischen Mitteln als auch in den Songtexten wird die Ambivalenz des Heiligen – mit seinen faszinierenden und bedrohlichen Aspekten – zum Ausdruck gebracht. 100
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Alle diese Kennzeichen betonen den liminoiden Charakter der Popmusik. Die Vorbehalte gegenüber vermittelnden religiösen Institutionen und die Betonung des Individuums lassen sich als Orientierung an den Werten der Communitas interpretieren. Turner argumentiert, dass »the individual, who is the human unit of communitas, is at the root of all religion« (Turner 1992b: 140). Der kreative Umgang mit unterschiedlichen religiösen Traditionen ist genau jene freie Kombination kultureller Faktoren – »however weird« (siehe das Zitat auf Seite 99) –, die Turner als entscheidendes Kennzeichen der Liminalität ansieht. Turners Auffassung allerdings, dass die liminoiden Genres im Gegensatz zur Liminalität traditioneller Initiationsriten weitgehend des Heiligen beraubt seien, lässt sich für die Rock- und Popmusik nicht bestätigen. Im Gegenteil, in der Popmusik scheint sich eher ein Bedürfnis nach Initiationserfahrungen im Sinne einer Kontaktaufnahme mit transzendenten Bereichen auszudrücken. Schwarze resümiert über die Pop-Religiosität: »In einer leidvoll erlebten Lebenswirklichkeit wird über die Grenzen des Diesseitigen hinausgefragt, leidenschaftlich nach Erlebnissen und Vorstellungen gesucht, die eine andere Welt, jenseits des Alltäglichen, ansichtig oder wenigstens ahnbar machen« (Schwarze 1997a: 248). In der hier verwendeten Terminologie gesagt: Viele Rock- und Popsongs bringen die Sehnsucht nach einer vertikalen Communitas zum Ausdruck. Schwarzes These, nach der der Erfolg der Rock- und Popmusik zeige, dass in unserer Kultur ein großes Interesse an der Religion wiederzufinden sei (vgl. ebd.: 251), ist aus der hier eingenommenen Perspektive aber nur bedingt zuzustimmen. Zunächst einmal sind, wie bereits gesagt wurde, nicht alle Songs religiös. In der populären Musik wird eine Vielzahl von Themen behandelt, religiöse sind nur ein Teil davon. Gerade diese Vielzahl macht meines Erachtens deutlich, dass der Erfolg der Rock- und Popmusik nicht allein ein Interesse an Religion, sondern, allgemeiner, an Anti-Struktur bzw. Liminoidem widerspiegelt: eine Sehnsucht nach einem Freiraum, die Welt deuten und den eigenen Platz darin suchen zu können, ohne sich dabei von institutionalisierten Denkstrukturen einengen zu lassen.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Es lässt sich zunächst festhalten, dass Turners ritualtheoretisches Konzept des Liminoiden einen Interpretationsrahmen bereitstellt, vor dessen Hintergrund sich die verschiedenen Symbole, Mythen und Rituale der Rock- und Popmusik integrierend deuten lassen. Auch wenn sich das kulturelle Feld der Rockund Popmusik im Laufe der Jahrzehnte verändert hat, zieht sich dessen symbolischer Bezug auf Werte der Communitas und Anti-Struktur doch durch die Zeit hindurch. So erweist sich die Rock- und Popmusik insgesamt als ein kulturelles Feld, welches durch seinen anti-strukturellen Charakter einen Gegen101
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pol zu den sozialen Strukturen moderner Gesellschaften bildet und somit dem von Turner postulierten Bedürfnis der Menschen nach Communitas bzw. Anti-Struktur entgegenkommt. Wie meine Analysen in diesem Kapitel zeigen, lässt sich die Faszination der Rock- und Popmusik im Wesentlichen auf drei Punkte zurückführen: Erstens auf die Kraft der Rock- und Popmusik, Communitas zu erzeugen (wobei hier noch die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und ideeller Communitas wichtig ist); zweitens auf die liminoide Qualität der Musik selbst; und drittens auf die komplexe Symbolik der Welt der Rock- und Popstars. Mit seiner liminoiden Qualität weist das kulturelle Feld der populären Musik also in gewisser Hinsicht Gemeinsamkeiten mit der liminalen Phase von Jugendritualen auf. Wer sich auf dieses Feld begibt, tritt gleichsam in einen Bereich des »betwixt and between« bzw. der Anti-Struktur ein. Die Bedeutung der Rock- und Popmusik für Jugendliche liegt demnach gerade darin, dass sie der spezifischen Situation der Jugendlichen – dem »Zwischenzustand« – eine kulturelle Gestalt gibt, dass also Musik und Jugend genau zueinander passen. Können meine komparativ-symbologischen Untersuchungen also zeigen, dass die Rock- und Popmusik aufgrund ihres liminoiden Charakters als geeignet erscheint, um eine wichtige Rolle bei der Bearbeitung der Adoleszenz zu übernehmen, so ist damit noch nicht gesagt, auf welche Weise eine solche Bearbeitung erfolgen kann. Wenn die Rock- und Popmusik gerade für die Jugendphase so bedeutend ist, müsste sich dies in biographischen Darstellungen von Fans niederschlagen. Auch stellt sich die Frage, welche der in diesem Kapitel herausgearbeiteten Aspekte der Rock- und Popmusik den Fans wichtig sind. Nehmen für die Fans beispielsweise eher die Songs einen hohen Stellenwert ein, oder eher die Stars? Lassen sich in dieser Hinsicht verschiedene Fantypen rekonstruieren, welche ihre Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Aspekte legen? Diese Fragen können mit der in diesem Kapitel verwendeten Methode der komparativen Symbologie nicht ausreichend beantwortet werden und stehen deshalb im Zentrum der folgenden, qualitativ-sozialwissenschaftlichen Untersuchungen. Wenn ich sage, dass Jugend und populäre Musik genau zueinander passen, so bedeutet das natürlich nicht, dass die Rock- und Popmusik allein eine Angelegenheit für Jugendliche ist. Auch viele Erwachsene hören gerne populäre Musik und gehen auf Konzerte. Das Liminoide ist also nicht den Jugendlichen vorbehalten. Allerdings zeigt sich immer wieder – und auch in den folgenden empirischen Analysen –, dass gerade Jugendliche in besonderer Weise von der Rock- und Popmusik verzaubert werden.
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Vorbemerkungen zur Methode Im vorliegenden Kapitel werde ich untersuchen, ob und inwiefern Menschen, insbesondere Jugendliche, auf dem kulturellen Feld der Rock- und Popmusik liminoide Erfahrungen – also Erfahrungen von Communitas bzw. Anti-Struktur – machen. Methodisch greife ich dafür auf Verfahren der qualitativen Sozialforschung zurück, insbesondere das Gruppendiskussionsverfahren, das narrative Interview und die teilnehmende Beobachtung. Bei der Auswertung meines empirischen Materials folge ich grundsätzlich der von Ralf Bohnsack entwickelten dokumentarischen Methode, kombiniere diese teilweise aber auch mit dem Interpretationsansatz der komparativen Symbologie. Bevor ich meine Ergebnisse präsentiere, stelle ich wieder kurz die zentralen Aspekte der verwendeten Methode dar.1 Ausgehend von meiner ursprünglichen Fragestellung, ob die Rock- und Popmusik eine religiöse Dimension für die Fans hat, stellte sich die Frage, mit welchen Methoden eine Untersuchung von Rock- und Popfans sinnvoll sei.2 Es war zum einen zu bedenken, dass meine Fragestellung offen war und ich durchaus in Erwägung ziehen musste, zu anderen Ergebnissen zu kommen, als ich es zunächst vermutete. Standardisierte Verfahren der Sozialforschung kamen deshalb nicht in Frage, denn diese eignen sich zwar zur Überprüfung von Hypothesen, nicht aber zu deren Generierung (vgl. Bohnsack 2003: Kapitel 2). Zum anderen brachte
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Das Ziel ist dabei nicht, eine umfassende Darstellung zu liefern. Weitergehende Fragen zur Methodologie können der angeführten Literatur entnommen werden. Grundlegende methodologische Überlegungen finden sich in Bohnsack 2003; Nohl 2006; Bohnsack/Marotzki/Meuser 2006. Siehe dazu auch die Ausführungen am Ende des Abschnitts »Zur pädagogischanthropologischen Untersuchungsperspektive« in der Einleitung. 103
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meine Fragestellung Begrifflichkeiten ins Spiel, die keinen unmittelbaren und offensichtlichen Bezug zur Rock- und Popmusik haben. Mit Fragen wie »Sind Rockstars für dich Heilige?« oder »Welche Rituale führst du im Zusammenhang mit der Rockmusik durch?« hätte ich wohl lediglich erfahren, was meine Interviewpartner unter einem Heiligen oder einem Ritual verstehen – wobei dieses Verständnis bei jedem Interviewpartner unterschiedlich sein kann und sich nicht notwendig mit meinem eigenen Verständnis decken dürfte.3 Diese Argumente sprachen gegen standardisierte Befragungsmethoden. Angesichts dieser Überlegungen griff ich auf die von Ralf Bohnsack im Anschluss an Karl Mannheim entwickelte Methode der rekonstruktiven Sozialforschung zurück, die zwischen »kommunikativem« und »konjunktivem« Wissen unterscheidet. Es wird dabei davon ausgegangen, dass Menschen in ihrer sozialen Praxis über ein Wissen verfügen, welches gleichsam »praktisch«, »atheoretisch« oder auch »implizit« ist. Wenn wir z .B. mit dem Fahrrad fahren, telefonieren oder Freunde begrüßen, greifen wir auf dieses Wissen zurück. Es ist »atheoretisch«, weil wir es in der Regel anwenden, ohne es erklären zu müssen. Wie wir Fahrrad fahren, telefonieren oder Freunde begrüßen, wissen wir aus der Erfahrung des Alltagshandelns. Wer in einer bestimmten Kirchengemeinde lebt, wächst informell in die dort gebräuchlichen Formen der Liturgie hinein und lernt die Abläufe kennen, ohne dass ihm jedes Detail erklärt werden müsste. Und da er dieses Wissen mit den anderen Gemeindemitgliedern teilt – er weiß, wie er sich verhält, ohne sich explizit darüber verständigen zu müssen –, spricht Mannheim von einer »konjunktiven Erfahrung«. Wenn diese Person nun aber jemanden trifft, der einen anderen Glauben hat und nach einer Erklärung der liturgischen Handlungen fragt, so reicht es nicht mehr aus, auf das konjunktive Wissen zurückzugreifen. Das Wissen, welches jetzt zum Tragen kommt, nennt Mannheim das »kommunikative Wissen«, denn es geht um die explizite Kommunikation bestimmter Wissensbestände (vgl. Nohl 2006: 8-14). Eine Frage wie »Sind Rockstars für dich Heilige?« würde also vor allem das »kommunikative Wissen« von Rockfans erschließen können: Es müsste über den Begriff des Heiligen kommuniziert werden und darüber, weshalb Rockstars für den Befragten Heilige sind oder nicht. »Da wir als Forschende aber nicht nur allgemeine Wissensbestände, die über die unterschiedlichen Gruppen und Individuen unserer Gesellschaft hinweg existieren, untersuchen möchten, sind wir in besonderem Maße auf das konjunktive, atheoretische
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Die Projektgruppe »Jugend und Religion« der Esslinger Hochschule für Sozialwesen ist bei der Befragung von Fußballfans so vorgegangen, wie ich es hier skizziert habe. So war eine Frage an einen Fußballfan: »Würdest du sagen, dass Fußball wie eine Religion für dich ist?« (Projektgruppe Jugend und Religion 2005: 161).
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Wissen verwiesen, das eng mit der spezifischen Praxis von Menschen in ihren Biographien und in ihren Milieus verknüpft ist« (Nohl 2006: 11). Zugänge zum konjunktiven Wissen ergeben sich über verschiedene Verfahren: die Gruppendiskussion, das narrative Interview sowie die Bild- und Filminterpretation. Für das hier verfolgte Ziel, Orientierungen von Rock- und Popfans zu rekonstruieren, boten sich Gruppendiskussionen sowie narrative Interviews an.4 Beide Verfahren basieren darauf, dass die Erforschten dazu angeregt werden, Beschreibungen und Erzählungen über ihre soziale Praxis zu geben. Solche Darstellungen sind dazu geeignet, das »atheoretische Wissen« der Erforschten zu erschließen, denn in ihnen kommt die spezifische Art und Weise zum Ausdruck, wie die Erforschten bestimmte Themen ihres Lebens erfahren. Wenn man dann die Erzählungen und Beschreibungen unterschiedlicher Probanden über dasselbe Thema miteinander vergleicht, lassen sich in der Regel auch unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema rekonstruieren. Bohnsack spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen »Orientierungsrahmen«. Wenn man also verschiedene Besucher von Rockkonzerten von ihren Konzerterfahrungen erzählen lässt, so lassen sich bei der Interpretation der Erzählungen bestimmte Herangehens- und Erlebensweisen feststellen, die von Fall zu Fall variieren können, wie später gezeigt wird. Es kann aber auch von Fall zu Fall Übereinstimmungen geben. Über den Vergleich verschiedener Fälle lassen sich also letztlich Typen unterschiedlicher Orientierungen rekonstruieren. Ich werde dementsprechend aus den verschiedenen Gruppendiskussionen und Interviews, die ich geführt habe, eine Typik von Fan-Orientierungen erarbeiten. Die vergleichende Analyse verschiedener Fälle ist darüber hinaus auch deshalb notwendig, weil dadurch die Standortgebundenheit des Interpreten methodisch kontrolliert wird. Mit Standortgebundenheit des Interpreten ist gemeint, dass ich selbst ein bestimmtes Vorwissen hinsichtlich der Rock- und Popmusik habe, welches auf meinen eigenen Erfahrungen mit diesem kulturellen Feld basiert. Würde ich nur ein Interview bzw. eine Gruppendiskussion interpretieren, so könnte ich diese Daten nur vor dem Hintergrund meines eigenen Vorwissens deuten. Ziehe ich aber einen zweiten Fall hinzu, so kann ich diesen auch vor dem Hintergrund des ersten Falles interpretieren – und rückwirkend kann ich dann auch den ersten Fall wiederum aus einer erweiterten Perspektive betrachten. Je mehr Fälle also in die Interpretation eingehen, 4
Filmaufnahmen von Konzerten internationaler Stars zu machen ist rechtlich problematisch. Und kommerzielle Filme von Konzerten lenken durch Schnitt und Kameraführung meist den Blick der Betrachter in einer bestimmten Weise, so dass das Konzert selbst nicht analysiert werden kann. Man könnte lediglich rekonstruieren, wie das Konzert filmisch inszeniert wird. Doch dies ist nicht das Ziel des vorliegenden Buches. In der Berliner Ritualstudie sind alle Verfahren zur Anwendung gekommen (siehe vor allem Wulf u. a. 2001; 2004; 2007). 105
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desto weiter tritt der Standort des Forschers zurück. Das heißt: »Unser Vorwissen wird zwar nicht völlig ausradiert, aber methodisch relativiert« (Nohl 2006: 13).5 Ich habe verschiedene Wege beschritten, um Kontakt zu Interviewpartnern aufzunehmen. Zum einen sind mir teilweise über Freunde und Bekannte Kontakte vermittelt worden. Zum anderen habe ich im Internet nach Fanclubs verschiedener Rock- und Popstars recherchiert und diese angeschrieben. Wenn von Seiten des Fanclubs Bereitschaft zu einem Interview bzw. einer Gruppendiskussion vorhanden war, bin ich für das Gespräch zu den betreffenden Personen gefahren. Bei den Interviews, die alle digital aufgenommen wurden, bin ich wie folgt vorgegangen: Als erstes legte ich mein Forschungsinteresse an einer Studie über die Bedeutung von Ritualen und Religion in der modernen Gesellschaft dar. Ich sicherte den Interviewten Anonymität bei einer Veröffentlichung der Daten zu und erklärte ihnen die Besonderheit des Interviews gegenüber den aus den Medien bekannten Interviews: dass der Schwerpunkt auf ihren Erzählungen liegt, nicht auf meinen Fragen. Idealtypisch verläuft das narrative Interview nach dieser Einführung in vier Phasen (nach Knoblauch 2003: 126ff.): Zunächst formuliert der Interviewer eine möglichst offene Erzählaufforderung, die sich auf den interessierenden Gegenstandsbereich bezieht. Den Interviewees wird dabei gerade durch die Offenheit der Formulierung die Möglichkeit gegeben, alle für sie relevanten Ereignisse zu erzählen. Wichtig ist, dass der Interviewer möglichst in allen Interviews dieselbe Erzählaufforderung verwendet, um die Vergleichbarkeit der Interviews zu gewährleisten. Ich habe den Fans in den narrativen Interviews die folgende Frage gestellt: »Kannst du mir mal erzählen, wie dein Interesse für Star X angefangen und wie es sich im Laufe der Zeit entwickelt hat?« Die Gruppendiskussionen, die ich geführt habe, bezogen sich zumeist auf das Erleben eines bestimmten Konzerts, so dass meine Frage lautete: »Könnt ihr mal erzählen, wie das Konzert abgelaufen ist?« Ich habe allerdings auch eine Gruppendiskussion mit Besuchern von Rockfestivals durchgeführt, bei der sich die Frage dann auf einen Festivalbesuch bezog. Auf die Eingangsfrage folgt als zweite Phase des Interviews die Erzählung des Interviewees, die vom Interviewer nicht unterbrochen werden sollte. Eventuell auftauchende Nachfragen sollten aufgeschrieben und für später aufgehoben werden. Mit Signalen wie »Mhm« oder »Ja« kann versucht werden, die Erzählenden zu unterstützen bzw. im Falle des Stockens zum weiteren Erzählen anzuregen. Wenn die Anfangserzählung zu einem Ende gekommen ist – was üblicherweise an einer Erzählkoda wie »So, das war’s: nicht viel, aber 5
Zur Standortgebundenheit des Forschers siehe auch Bohnsack 2003: Kapitel 10.
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immerhin…« zu erkennen ist –, folgt als dritte Phase des Interviews der Nachfrageteil, der sich wiederum in zwei Bereiche aufteilt. Bei den immanenten Nachfragen geht es darum, Stellen, die dem Interviewer in der Anfangserzählung zu sehr gerafft oder zu vage erschienen, noch einmal ausführlicher darstellen zu lassen. Sinnvoll ist es dabei, dass der Interviewer die in Frage stehenden Ereignisse aus der Erinnerung oder mit Hilfe der notierten Nachfragen noch einmal rezitiert und die Interviewees daran anknüpfen lässt. Auch die immanenten Nachfragen sollten möglichst narrativ gehalten sein. Wenn keine immanenten Nachfragen mehr bleiben, kann der Interviewer exmanente Fragen stellen, mit denen er sich auf Themenbereiche bezieht, die ihn interessieren und die bisher noch nicht angesprochen wurden. Es folgt, als vierte Phase, der Abschluss des Interviews. Dabei wird der Interviewpartner zunächst gefragt, ob er noch etwas sagen möchte, was bisher nicht angesprochen wurde. Wenn er noch etwas erzählen möchte, wird ihm hierzu der nötige Platz eingeräumt. Anschließend wird er noch gebeten, einen Fragebogen zu seiner Person auszufüllen. Die Hauptaufgabe des Interviewers ist es, den Interviewee zum Erzählen anzuregen und die Erzählung in Gang zu halten. Er sollte sich nicht als Sachkundigen darstellen, denn je weniger Wissen die Interviewten beim Interviewer voraussetzen können, desto ausführlicher werden sie erzählen. Nach Fritz Schütze geraten die Erzählenden beim narrativen Interview dabei in drei verschiedene »Zugzwänge«: den Gestaltschließungs-, Kondensierungs- und Detaillierungszwang. Gestaltschließungszwang heißt, dass die Erzählenden die Ereignisse und Teilereignisse in ihrem Zusammenhang mindestens so weit ausführen müssen, dass die Erzählung verständlich wird. Auch müssen sie eine angefangene Erzählung bis zum Ende durchführen, damit diese als vollständig erscheint. Der Kondensierungszwang bedeutet, dass der Erzählende angesichts der begrenzten Zeit eine Auswahl hinsichtlich der Themen, von denen er berichtet, treffen muss. Dabei ist er gezwungen, persönliche Schwerpunkte zu setzen. Der Detaillierungszwang schließlich bringt den Erzählenden dazu, aus Gründen der Plausibilisierung des Geschehenen so detailliert wie nötig auf den Kontext der Ereignisse einzugehen. Dadurch können Handlungs-, Entscheidungs- und Verlaufsmuster sichtbar werden, »die der Erzähler ansonsten übergangen hätte – sei es, dass er sie vergessen hat oder dass er sie verbergen wollte« (Bohnsack 2003: 94). Das narrative Interview ist vor allem dazu geeignet, biographische Verläufe, also die Entwicklung der je individuellen Auseinandersetzung eines Individuums mit seiner Außenwelt zu rekonstruieren. Bei der Biographieforschung geht es dementsprechend um die Analyse des dynamischen Ineinandergreifens von lebensgeschichtlichen Ereignissen und individueller Erfahrungsverarbeitung (vgl. Schütze 1983). Gerade für die Erziehungswissenschaft kann die Biographieforschung deshalb wichtige Aufschlüsse über 107
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Lern-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse liefern (vgl. dazu z. B. Krüger 2003; Marotzki 1996; Schulze 1995). Meine eigenen Analysen werden zeigen, dass die Rekonstruktion des Verlaufs der Auseinandersetzung eines Interviewees mit einem bestimmten Rock- und Popstar – ich spreche hier von Fan-Biographie – auch einen Zugang zur der Funktion der populären Musik im Prozess des Aufwachsens, speziell in der Adoleszenzkrise des jeweiligen Fans, ermöglicht. Für die Ritualforschung beinhaltet das narrative Interview ein bisher kaum genutztes Potential, denn es eröffnet die Möglichkeit, die Bedeutung des Rituellen für biographische Verläufe zu rekonstruieren.6 Die von mir zitierten kulturanthropologischen Untersuchungen zu Initiations- und Pubertätsriten haben sich fast ausschließlich auf teilnehmende Beobachtungen und die Symbol-Exegese der Ritualspezialisten bezogen, aber fast gar keine Aussagen der Initianden selbst betrachtet.7 So geht aus den Beobachtungen zwar einerseits klar hervor, dass die Riten in den traditionellen Gesellschaften eine zentrale Rolle bei der Markierung von Übergängen im Lebenslauf eines Individuums spielen. Es kann andererseits aber keine Aussage darüber gemacht werden, welche Relevanz die Individuen den Riten innerhalb ihrer Biographie beimessen. Das narrative Interview erlaubt nun den Zugang zum Verlauf der Biographie des Interviewten und überlässt diesem gleichzeitig die entsprechenden Relevanzsetzungen. So lässt sich rekonstruieren, ob bestimmte rituelle Handlungen oder Symbole dem Biographieträger für den Verlauf seiner Biographie etwas bedeuten – oder auch nicht. Diese Fragestellung ist denn auch mein zentraler Fokus bei der Interpretation der narrativen Interviews. Gruppendiskussionen verlaufen im Prinzip wie narrative Interviews.8 Bei der Gruppendiskussion wird allerdings ein Potential genutzt, welches im narrativen Interview nicht gegeben ist, und das darin liegt, dass sich die Diskutanten an einem Thema gegenseitig aufschaukeln können, wodurch sich ein kollektives Bedeutungsmuster herauskristallisiert. Die Teilnehmer sollen gerade nicht mit dem Interviewer, sondern untereinander kommunizieren.9 Al-
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Eine aufschlussreiche Studie zum Zusammenhang von Ritual und Biographie bei Marc Chagall ist von Theodor Schulze vorgelegt worden. Schulze verwendet dabei freilich nicht das narrative Interview, sondern greift auf autobiographisches Material von Chagall zurück (vgl. Schulze 2005). Die einzige Ausnahme bilden die Untersuchungen LaFontaines bei den Gisu. Aber auch dort werden die Aussagen der Initianden nicht systematisch in die Ritualinterpretation eingearbeitet. Zum Vorgehen des Forschers bei Gruppendiskussionen siehe auch Bohnsack 2003: 207-212. Dies ist das grundsätzliche, methodologisch noch nicht gelöste Problem des Einzelninterviews: mit und zu wem spricht der Interviewee? »Welcher Art aber ist der in der autobiographischen Stegreiferzählung, im narrativen Interview
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lerdings können Gruppendiskussionen wiederum nur wenige Aufschlüsse über individuelle Erfahrungsverarbeitungen und biographische Verläufe liefern (vgl. Marotzki 1995: 64). Ich habe das Verfahren der Gruppendiskussion verwendet, um die Erfahrungen von Fans auf Rock- und Popkonzerten zu rekonstruieren. Die Gruppendiskussionen liefern mir somit keine Aufschlüsse über bestimmte Veränderungen in der Zeit bei den Diskutanten, sondern stellen gleichsam Momentaufnahmen dar (es sei denn, die Diskutanten kommen von alleine auf individuelle oder gruppenspezifische Verläufe zu sprechen). Dies muss bei der Typenbildung berücksichtigt werden, denn hinsichtlich der Veränderungen des Umgangs von Fans mit der Rock- und Popmusik können nur die narrativen Interviews, nicht aber die Gruppendiskussionen berücksichtigt werden. Die Befragten werden also durch die Verfahren des narrativen Interviews und der Gruppendiskussion dazu angeregt, ihre Erlebnisse und Erfahrungen in einem spontanen, »schöpferischen Prozess« darzustellen (Bohnsack 2003: 33). Sie konstruieren dabei gleichsam ihre Lebensgeschichte bzw. ihre Erfahrungen auf einem Rockkonzert auf der sprachlichen Ebene. Die Auswertung des Materials besteht dann darin, diesen Konstruktionsprozess nachzuzeichnen, also die Biographie bzw. die Konzerterfahrungen vor dem Hintergrund der Forschungsfrage zu re-konstruieren. Bohnsack spricht aus diesem Grund auch von »Rekonstruktiver Sozialforschung«. Die Rekonstruktion des Materials erfolgt in mehreren Schritten (vgl. Bohnsack 2003: Kapitel 8). Zunächst wird die formulierende Interpretation vorgenommen. Hier gilt es, einen thematischen Verlauf des Interviews bzw. der Gruppendiskussion zu erstellen und die zu transkribierenden Abschnitte auszuwählen, welche schließlich einer formulierenden Feininterpretation unterzogen werden. Es geht also lediglich darum, Ober- und Unterthemen zu identifizieren und in eigenen Worten wiederzugeben, ohne Bezüge zu metatheoretischen – in meinem Falle also ritualtheoretischen – Kategorien herzustellen. Es folgt die reflektierende Interpretation, in der als erstes eine Textsortentrennung vorgenommen wird. Dabei wird zwischen erzählenden, beschreibenden und argumentativen Textsorten unterschieden (vgl. Nohl 2006: 26-28). Da das »atheoretische Wissen« der Interviewees rekonstruiert werden soll, interessieren vor allem die erzählenden und beschreibenden Passagen. Aber auch Argumentationen können für die Interpretation bedeutsam sein, denn sie geben Aufschluss darüber, auf welche Weise jemand sein Handeln rechtfertigt (vgl. ebd.: 50). Schließlich wird bei der reflektierenden Interpretation anhand verschiedener Sequenzen eines Interviews der Orientierungsrahmen des Interviewees rekonstruiert: »Wenn die dokumentarische Methode implizierte relevante andere?« (Bohnsack 2003: 116). In Gruppendiskussionen sind die Teilnehmer füreinander signifikante andere (vgl. ebd.: 115). 109
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darauf zielt, die implizite Regelhaftigkeit von Erfahrungen und den in dieser Regelhaftigkeit liegenden dokumentarischen Sinngehalt, d. h. den Orientierungsrahmen dieser Erfahrungen zu rekonstruieren, so bedeutet dies, über eine Abfolge von Handlungssequenzen oder von Erzählsequenzen hinweg Kontinuitäten zu identifizieren« (Nohl 2006: 51). In die reflektierende Interpretation gehen nun auch die metatheoretischen Kategorien ein. Als letzter Schritt folgen dann der Vergleich der Fälle und die Typenbildung. Wurde dieser Schritt in der Anfangszeit des Einsatzes der dokumentarischen Methode separat durchgeführt, so ist man heute dazu übergegangen, schon in die reflektierende Interpretation die komparative Analyse mit einfließen zu lassen. Es wird zwischen der sinngenetischen und soziogenetischen Typenbildung unterschieden, wobei die sinngenetische sich allein auf typische Orientierungsrahmen bezieht, die soziogenetische darüber hinaus nach den sozialen Zusammenhängen dieser Orientierungsrahmen fragt (vgl. ebd.: 56-62). In den Falldarstellungen gebe ich nur die reflektierende Interpretation wieder (die formulierende Interpretation ist allein ein Schritt für den Forscher und wird hier nicht dargestellt), wobei die komparative Analyse schrittweise in die Fälle eingearbeitet wird. Die Erarbeitung der Typik von Fan-Orientierungen folgt in einem gesonderten Abschnitt im Anschluss an die Falldarstellungen. Bei der reflektierenden Interpretation der narrativen Interviews verfolge ich auch Turners Ansatz der komparativen Symbologie insofern weiter, als ich versuche, Vergleiche zu ziehen zwischen dem, was sich in den Interviews rekonstruieren lässt und dem, was die Initianden entsprechend der kulturanthropologischen Forschungen in der liminalen Phase der Übergangsriten erfahren. Mein Vorgehen könnte man dementsprechend ›doppelt vergleichend‹ nennen, da es sowohl den Vergleich der einzelnen Fälle untereinander als auch von verschiedenen Kulturen einbezieht. Diese Perspektive ermöglicht meines Erachtens wichtige Aufschlüsse über die anthropologische Dimension des Rituellen. Parallel zur Durchführung der Gruppendiskussionen und Einzelinterviews besuchte ich zudem Konzerte verschiedener Rock- und Popstars, von denen ich Beobachtungsprotokolle erstellte. Diese Protokolle habe ich, so weit die Umstände es zuließen, schon während der Konzerte verfasst. Teilweise habe ich auch Gedächtnisprotokolle im Anschluss an die Konzerte erstellt. Die teilnehmende Beobachtung ist das zentrale Erhebungsverfahren in der Ethnografie – das auch in den klassischen kulturanthropologischen Studien zu Initiations- und Pubertätsritualen hauptsächlich genutzt wurde –, und es liefert andere Einsichten als die Gruppendiskussionen und Einzelinterviews (zur teilnehmenden Beobachtung vgl. Lüders 2006 sowie Knoblauch 2003: 72-109). So kam es mir bei den Beobachtungen darauf an, unabhängig von den jeweiligen Perspektiven der involvierten Fans die Dramaturgie und das szenische 110
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Arrangement der Konzerte zu rekonstruieren. Dabei legte ich mein Augenmerk weniger auf Unterschiede zwischen einzelnen Konzerten, sondern viel mehr auf deren Gemeinsamkeiten. Im Mittelpunkt stand die Frage: Welche übergreifenden Inszenierungsstrategien und Aufführungspraktiken lassen sich bei Rock- und Popkonzerten feststellen? Die Ergebnisse aus den Beobachtungsprotokollen bezog ich dann auf die Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen (die ich ja im Hinblick auf Konzerterfahrungen durchgeführt hatte), wodurch eine mehrschichtige Rekonstruktion des Rock- und Popkonzerts möglich wurde.10 Insgesamt führte ich im Zeitraum von April 2005 bis Februar 2008 fünf Gruppendiskussionen, sechs Einzelinterviews und fünf teilnehmende Beobachtungen durch, wobei meine Gesprächspartner zwischen 14 und 33 Jahren alt waren. Zusätzlich führte ich mehrere Kurzinterviews auf dem Live 8Konzert in Berlin durch, die aber letztlich keinen Eingang in meine Feinanalysen fanden. Die Zahl der Erhebungen mag gering erscheinen. Doch bei der rekonstruktiven Sozialforschung geht es nicht darum, eine statistisch repräsentative Erhebung durchzuführen, sondern bei einzelnen Fällen in die Tiefe zu gehen. Dabei tritt eine ›Sättigung‹ der Analyse mit empirischem Material ein, wenn sich durch den Einbezug weiterer Fälle keine neuen Typen mehr rekonstruieren lassen (vgl. Nohl 2006: 38). Mir war es bei der Auswahl der Fälle wichtig, dass sich die stilistische Vielfalt der Rock- und Popmusik darin widergespiegelt. Gleichzeitig wollte ich Fans von solchen Musikern auswählen, die als bekannte Stars – national oder international – angesehen werden können. Zudem wollte ich gleichermaßen Musiker einbeziehen, die in der öffentlichen Wahrnehmung als ›Popstars‹ bzw. ›Rockstars‹ gelten. So habe ich letztlich Fans von Robbie Willliams, Britney Spears und Tokio Hotel für den Bereich des ›Pop‹ sowie Herbert Grönemeyer, Nirvana und Xavier Naidoo für den Bereich des ›Rock‹ befragt. Dabei habe ich Wert darauf gelegt, sowohl männliche als auch weibliche Personen für Interviews zu gewinnen, um einen weiten Rahmen möglicher unterschiedlicher Fan-Orientierungen zu eröffnen. Alle Namen der Interviewpartner und Teilnehmer von Gruppendiskussionen wurden geändert, um die Anonymität der Probanden zu gewährleisten. Orte, die in den Interviews und Gruppendiskussionen erwähnt werden, erscheinen maskiert. Die Transkription des Materials orientiert sich an den von Bohnsack verwendeten Richtlinien.11 Zusätzlich zu den Gruppendiskussionen und Interviews habe ich Konzerte von Robbie Williams, Xavier Naidoo, Avril Lavigne und Peter Gabriel teilnehmend beobachtet.
10 Man spricht bei der Kombination verschiedener Verfahren auch von »Triangulation« (vgl. Flick 2006). 11 Vgl. die entsprechenden Angaben im Anhang. 111
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Die Auswertung der narrativen Interviews zeigte einerseits, dass die verschiedenen Fans zwar unterschiedliche Herangehensweisen an die Rock- und Popmusik – also unterschiedliche Fan-Orientierungen – haben, dass aber andererseits die Musik bei allen meinen Interviewpartnern eine Bedeutung im Zusammenhang mit der Übergangszeit der Jugend hat. Da gerade dieser Übergang aus ritualtheoretischer sowie pädagogischer Perspektive besonders interessant ist, lege ich den Schwerpunkt meiner folgenden Analysen auf die Einzelinterviews. Zudem stellte sich heraus, dass fast alle Einzelinterviewpartner dem Besuch von Konzerten hohe Bedeutung zumessen. Es erschien mir deshalb aufschlussreich, in einem gesonderten Teil das Rock- und Popkonzert aus ritualtheoretischer Sicht zu rekonstruieren. Da die narrativen Interviews allerdings auf den Verlauf der gesamten Fan-Biographien ausgerichtet sind, sind die Erzählungen der Interviewees zu ihren Konzerterfahrungen notwendigerweise relativ knapp. Die Darstellungen der Gruppendiskussionsteilnehmer, die ich direkt auf einen Konzertbesuch hin gefragt hatte, sind in dieser Hinsicht ausführlicher, so dass ich zur Rekonstruktion des Rock- und Popkonzertes Material aus zwei Gruppendiskussionen aufgreife. Hinsichtlich der Typenbildung zeigte sich, dass sich aus vier meiner Einzelinterviews bestimmte Typen von Fan-Orientierungen rekonstruieren lassen, die sich dann in den weiteren Interviews und Gruppendiskussionen wiederholen. Mit anderen Worten: Die weiteren Interviews und Gruppendiskussionen ergeben keine neuen Typen von Fan-Orientierungen, sondern lassen sich den bereits rekonstruierten Typen ›zuordnen‹. Durch diese ›Zuordnung‹ gewinnen die jeweiligen Typen allerdings wiederum an Kontur.12 Ich werde im Folgenden zunächst das Rock- und Popkonzert als rituelle Aufführung rekonstruieren, wobei sich schon hier durch den Einbezug der zwei Gruppendiskussionen unterschiedliche Fan-Orientierungen abzeichnen. Danach rekonstruiere ich die vier narrativen Interviews. Dabei werden die verschiedenen typischen Fan-Orientierungen immer deutlicher. Schließlich werde ich für die letztendliche Typenbildung noch einige Passagen aus einem weiteren Einzelinterview und der Gruppendiskussion, die ich zu Festivalbesuchen geführt habe, aufnehmen (wobei ich diese Fälle nicht en détail rekonstruiere), um einerseits die Kontur der einzelnen Typen zu schärfen und andererseits die Typenbildung empirisch zu ›sättigen‹.13
12 Die Typen von Fan-Orientierungen, die ich rekonstruiere, bleiben dabei auf der sinngenetischen Ebene, da keine klaren Zusammenhänge zwischen einzelnen Typen und sozialen Kriterien, beispielsweise dem Geschlecht, festgestellt werden können. 13 Die genannten Gründe führen dazu, dass ich mich auf die Rekonstruktion der Einzelinterviews sowie des Rockkonzerts konzentriere. Eine detaillierte Rekonstruktion von Rockfestivals muss im Rahmen dieser Studie ein Desiderat bleiben. 112
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D a s R o c k k o n z e r t a l s r i t u e l l e Au f f ü h r u n g Rock- und Popkonzerte laufen im Prinzip immer nach dem gleichen Muster ab: Zunächst kommen ein oder mehrere Vorbands, dann eine Umbaupause, dann die Hauptband, die sich nach ca. eineinhalb bis zwei Stunden mit einigen Zugaben verabschiedet. Schon angesichts dieses relativ feststehenden Ablaufmusters kann man Rock- und Popkonzerte als Rituale bezeichnen (vgl. dazu Mattig 2006). In diesem Abschnitt werde ich über diesen formalen Aspekt hinausgehen und Rock- und Popkonzerte mit Hilfe der oben erarbeiteten ritualtheoretischen Begriffe rekonstruieren. Dabei wird gezeigt, dass diese Konzerte als rituelle Aufführungen gedeutet werden können, in denen in zwei Hinsichten Differenz bearbeitet wird: Zum einen kann eine horizontale, zum anderen eine vertikale Communitas entstehen. Rock- und Popkonzerte eröffnen liminoide Erfahrungs- und Ausdrucksmöglichkeiten, erzeugen eine starfokussierte Efferveszenz und können das Publikum auf diese Weise verzaubern. Zunächst untersuche ich das spezifische szenische Arrangement und die Dramaturgie von Rock- und Popkonzerten. Ich beginne mit Auszügen aus einem Protokoll, welches ich über ein Konzert der kanadischen Sängerin Avril Lavigne angefertigt habe: Beobachtungsprotokoll Konzert Avril Lavigne, 14.06.2005 Ich bin gegen 15.30 Uhr am Einlass der Konzerthalle, wo schon ca. 50 Personen dicht gedrängt sitzen bzw. stehen […] Ich setze mich auf den Boden und warte mit. […] Viele Mädchen haben sich besonders angezogen: karierte Röcke und Krawatte, viele sind auch schwarz gekleidet (der Stil von Avril Lavigne). […] Zwei junge Mädchen (ca. 12 Jahre) haben sich mit schwarzem Stift »AL« auf die Wangen geschrieben. […] Um 18.35 Uhr wird der Eingang dann geöffnet. Ich stehe bis zum Einlass 25 Min. an. Gegen 19.00 Uhr stehe ich schließlich in einer großen Halle, die mit weißlich-gelbem Licht gedämpft beleuchtet ist. Am einen Ende der Halle ist die Bühne, die mit acht grün-blauen Strahlern beleuchtet wird. Auf der Bühne sind Verstärker und das Schlagzeugset zu sehen. Aus Lautsprechern kommt ein schneller Beat mit dunklen Melodien in gedämpfter Lautstärke. Vor der Bühne ist eine dichte Traube von stehenden Menschen, die einen Radius von ca. 50 Metern hat, der Rest der Leute verteilt sich in der Halle. An den anderen Seiten der Halle sind Imbissverkäufer und Stände, an denen man T-Shirts und Poster von Avril Lavigne kaufen kann. Mit der Zeit strömen immer mehr Menschen in den Raum.
Das gesamte szenische Arrangement ist auf den Star ausgerichtet. Schon die Stände mit den T-Shirts und Postern stellen den Star visuell in den Mittelpunkt. Der Konzertraum ist so gestaltet, dass die Bühne einen herausgehobenen Platz einnimmt. Zwar befindet sie sich meist am Rande des Konzertraums (bei dem Konzert von Peter Gabriel im Berliner Velodrom, das ich besucht 113
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habe, befand sich die Bühne sogar in der Mitte des Raums, die Zuschauer verteilten sich um die Bühne), aber sie zieht die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich, indem sie erhöht und in besonderer Weise beleuchtet ist. Auch die meisten Besucher lassen eine Fokussierung auf den Star erkennen, auch wenn dieser bisher noch gar nicht in Erscheinung getreten ist, wie sich nicht nur am ausdauernden Warten der Menschentraube, zunächst vor den Toren der Konzerthalle, dann vor der Bühne, sondern, in diesem Protokoll, auch im entsprechenden Outfit einiger Mädchen zeigt. Die Mädchen inszenieren sich hier als eine zusammengehörende Gruppe, ich möchte sagen als ein horizontale Communitas, die durch den Bezug auf den Star – also eine Form vertikaler Communitas – symbolisch zum Ausdruck kommt. Die Formulierung »dichte Traube« im Protokoll verweist darauf, dass die einzelnen Individuen für einen Beobachter nicht klar zu unterscheiden sind: es bildet sich eine Communitas der Fans, die nicht nur im symbolischen Ausdruck (Outfit), sondern auch in der körperlichen Nähe der Fans begründet liegt. Wie hoch die Spannung der wartenden Fans ist, kam auch im Forum eines Internetfanclubs von Avril Lavigne zum Ausdruck, wo das Konzert schon Tage zuvor das Hauptthema war. Das Konzert ist für die Fans die einzige Gelegenheit, mit ihrem Idol in einer Situation leiblicher Ko-Präsenz zusammenzukommen: Die normalerweise bestehende Distanz zwischen Fans und Star wird rituell aufgehoben. So stellt sich das Konzert als eine herausgehobene Zeit dar, für die die Fans auch viel Geld auszugeben bereit sind (die Karte für dieses Konzert kostete 42,75 Euro). Beobachtungsprotokoll Konzert Avril Lavigne, 14.06.2005 Um 20.00 Uhr wird der Saal abgedunkelt, nur noch die Notausgangs-Schilder leuchten und die Merchandising-Stände an den Seiten. Die Musiker der Vorband kommen auf die Bühne und fangen an zu spielen, laute, basslastige Musik. Die Farbstrahler sind auf die Musiker gerichtet […]. Nach den Liedern gibt es immer ein Schreien, Pfeifen und Klatschen aus dem Publikum. In der Traube klatschen einige Personen über dem Kopf. Vereinzelt gibt es anfangs noch Buhrufe. Der Sänger macht zwischen Liedern Ansagen wie »This is a dance song, I want to see you dance!« Um 20.15 Uhr ein Lied, an dessen Anfang der Sänger die Hände im Rhythmus über dem Kopf zusammenklatscht. Die Leute in der Traube machen mit (übrigens hat sich die Traube inzwischen deutlich vergrößert). Während des Liedes klatscht der Sänger dann nicht mehr, das Klatschen in der Traube nimmt auch ab, nach drei Minuten klatscht keiner mehr. […] Um 20.30 ruft der Sänger zwischen zwei Liedern: »Who wants to sing?« Viele schreien daraufhin, der Sänger wiederholt seine Frage, das Schreien ist diesmal lauter. Dann singt der Sänger eine kurze Melodie auf »nananananana«. Das Publikum singt die Melodie nach. […] Um 20.40 hört die Vorband auf zu spielen und verlässt die Bühne. Die Traube johlt und pfeift, die Bühne wird in lila-blaues Licht getaucht; die gedämpfte Hallenbeleuchtung geht wieder an. Es fängt wieder Hintergrundmusik an zu spielen, diesmal fröhlichere Stimmung als vorhin. 114
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Die Buhrufe machen klar, dass die Besucher nicht wegen der Vorband gekommen sind. Oftmals sind die Vorbands unbekannt. Dass auch im vorliegenden Fall die meisten Zuschauer die Band nicht kennen, kann man daraus schlussfolgern, dass niemand bei den Liedern mitsingt. Die Vorgruppe versucht über das Klatschen und einfache Call&Response-Elemente die Konzertbesucher in körperliche Bewegung zu bringen. Vor allem das Singen des Call&Response-Schemas macht deutlich, dass die semantische Ebene des Singens bei Rock- und Popkonzerten weitgehend in den Hintergrund treten kann. Wir erinnern uns hier an Durkheim, der darauf hingewiesen hatte, dass viele rituelle Handlungen keinen symbolisch kodierten Sinn haben, sondern einfach das Bedürfnis nach Handeln, Bewegen und Gestikulieren befriedigen und damit einen ästhetischen Überschuss produzieren.14 Die Bewegungen, auch die des Singens, haben weniger den Zweck, Bedeutung auszudrücken; vielmehr dienen sie dazu, eine Gemeinschaft, eine Communitas zu erzeugen, denn die Menschen singen ja zusammen. Dies gelingt der Vorband allerdings nur partiell. Denn da die Besucher sie nicht kennen, kann keine intensive (vertikale) Communitas zwischen Publikum und Musikern entstehen. Dies ist ein wichtiger Unterschied zu den eigentlichen Stars, mit deren Personen und Songs das Publikum – durch die Medien – zum größten Teil sehr vertraut ist, so dass bei deren Auftritt eine äußerst intensive Erfahrung der vertikalen Communitas entsteht, wie weiter unten noch gezeigt wird. Die Vorband hat also zwei Funktionen in der Dramaturgie des Konzerts: Zum einen kann sie als eine Art Aufwärmübung angesehen werden, mittels derer das Publikum in eine anfängliche gemeinsame Stimmung und Bewegung gebracht wird. Zum anderen dient sie aber auch dazu, die Spannung weiter zu steigern. Ich habe selten mit Personen gesprochen, die mir gesagt haben, dass ihnen die Vorband bei einem Rockkonzert gut gefallen habe. Auch als das Konzert von Avril Lavigne beendet war, kam ich mit zwei Mädchen ins Gespräch, die auf meine Frage, wie sie die Vorband fanden, sagten, sie seien froh gewesen, als die Band aufgehört hatte. Diese Bemerkung weist darauf hin, dass durch die Vorband auch Gefühle der Ungeduld in den Besuchern hervorgerufen werden (darauf lassen auch die Buh-Rufe schließen). Genau diese Gefühle werden aber von den Veranstaltern offenbar bewusst einkalkuliert, denn Vorbands sind bei den meisten Rockkonzerten im Programm. Die Vorband reizt die ohnehin schon bestehende Erwartungshaltung der Besucher weiter auf. Zieht man zusätzlich in Betracht, dass die Vorband meist mit einer weniger aufwendigen Lichtshow als der Star und einem schlechteren Sound auftritt, so zeigt sich, dass mit der Vorband gewissermaßen ein ›Dunkel‹ inszeniert wird, vor dessen Hintergrund der Star dann 14 Siehe dazu Seite 32f. 115
ROCK UND POP ALS RITUAL
umso heller erstrahlen kann. Das Aufreizen der Erwartung wird schließlich auch dadurch weiter getrieben, dass nach der Vorband wieder eine Pause kommt und niemand genau weiß, zu welchem Zeitpunkt der Star nun genau auftreten wird. Beobachtungsprotokoll Konzert Avril Lavigne, 14.06.2005 Auf der Bühne bauen einige Leute um; zwischendurch rhythmische Rufe aus der Traube: »Avril, Avril,…!« Wieder wird ein Instrument angespielt, diesmal das Schlagzeug, was wieder mit Johlen aus dem Publikum begleitet wird. Immer wieder schwillt in der Traube ein Johlen, Pfeifen und Schreien (»Avril, Avril…!«) an, um dann wieder abzuebben. Um 21.20 Uhr geht das Hallenlicht wiederum aus, auch die Bühne ist total dunkel, es kommt Musik vom Band aus den Lautsprechern. Schemenhaft ist zu erkennen, dass Musiker auf die Bühne kommen. Das Publikum schreit und pfeift, in Wellen, die immer lauter werden. Dann setzt die Band mit ihrer Musik laut ein. Avril Lavigne kommt auf die Bühne, wird von Strahlern hell beleuchtet und das Schreien, Pfeifen und Johlen erreicht einen Höhepunkt. Nun sind auch die Leinwände rechts und links neben der Bühne im Einsatz. Die Musik klingt besser als bei der Vorband, auch die Arbeit mit der Beleuchtung ist differenzierter. Z. T. gibt es Blitzgewitter mit gleißendem Licht. Auf einmal zerreißt der schwarze Vorhang, der hinter der Bühne gespannt war, und es erscheint ein anderer Vorhang, auf dem Weiß auf Schwarz »Avril« steht. Der Name ist in eine Faust geschrieben, die in weißen zackigen Linien auf dem Vorhang prangt.
Die gemeinschaftlichen – und vergemeinschaftenden – Rufe des Publikums dokumentieren dessen Fokussierung auf den Star. Die Menschen im Publikum wissen, dass es nun nicht mehr lange dauern kann, bis ihr Idol tatsächlich auf die Bühne kommt. Die aufgereizte Erwartungshaltung fängt langsam an ›überzukochen‹. Als schließlich die Musiker und auch Avril Lavigne auftreten, kann sich die seit Stunden aufgestaute Spannung dann mit einem Schlag entladen. Dabei ist auch die Inszenierung dieses Auftritts wiederum so gestaltet, dass zunächst noch weitere Spannung entsteht. Und als der Star dann auf der Bühne ist, wird geradezu ein Feuerwerk für die Sinne entzündet. Der Begriff des Stars bekommt in dieser Inszenierung somit eine konkretsinnliche Bedeutungsdimension, denn die Sängerin wird durch die Beleuchtung zum Zentralgestirn des szenischen Arrangements. Da Lavigne zudem auf der Bühne höher steht als das Publikum, schauen die Fans in einem sehr konkreten Sinne zu ihr auf. Alle von den Zuschauern mit den Händen ausgeführten Gesten wie Klatschen etc. richten sich nach oben. Die Efferveszenz des Publikums kommt also erst dann voll zur Entfaltung, als der Star die Bühne betritt und das bisherige Dunkel der Szenerie erhellt. Durch dieses Arrangement wird die Beziehung zwischen Fans und Star im Konzert als eine Form der vertikalen Communitas inszeniert.
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QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
Dabei bleibt ungeachtet der außergewöhnlichen Nähe, die hier zwischen Fans und Stars ermöglicht wird, doch eine Distanz zwischen beiden Seiten erhalten. Dies belegt ein Ausschnitt aus einem anderen Beobachtungsprotokoll: Beobachtungsprotokoll Konzert Xavier Naidoo, 14.02.2006 Direkt vor der Bühne und um den Laufsteg stehen, ziemlich unbewegt, insgesamt sechs in Rot gekleidete Männer, die in Richtung Publikum sehen.
Dieses Security-Personal, welches auf den meisten Rock- und Popkonzerten zugegen ist, bildet – zusammen mit den entsprechenden Absperrvorrichtungen – eine regelrechte Mauer zwischen Publikum und Musikern. Bevor ich näher auf die Bedeutung des Stars eingehe, möchte ich noch kurz den weiteren Verlauf der Dramaturgie des Konzerts untersuchen. Roland Hafen hat in einer quantitativ ausgerichteten, empirischen Untersuchung herausgearbeitet, dass viele Rock- und Popkonzertbesucher nach Arousal suchen, worunter er das Streben nach einem Fließgleichgewicht zwischen hemmenden und aktivierenden, spannungserzeugenden und entspannenden Erregungsvorgängen im Körper versteht. Die Inszenierung des Auftritts der Hauptband bringt einen schnellen Spannungsschub, der intensive und angenehme Erregungszustände auslöst: »Die Mischung von Vertrautheit und Überraschung, der Aktivation von Ungewißheit in einem sicheren Rahmen, steuert alle Aufmerksamkeit und ›Arousal‹-Suche in Richtung Bühne« (Hafen 1992: 192). Ab dem Zeitpunkt, an dem der Star die Bühne betritt, wird ein hohes Niveau des Arousal gehalten. Dabei kommt es, wie ich meine, in der Regel zu einer intensiv verdichteten Zeiterfahrung. Für den Beobachter ist es schwierig, nun noch einen prägnanten Verlauf des Konzerts festzuhalten. Vielmehr ist das Geschehen in hohem Maße redundant: Es folgt Song auf Song, gelegentlich von Ansagen oder Gags der Musiker zwischen den Liedern unterbrochen.15 Zwischen den Songs jubelt das Publikum. Allenfalls lässt sich eine geschickte Abfolge von aktivierenden und beruhigenden, bekannten und weniger bekannten Songs beobachten, welche die Aufmerksamkeit und das Arousal aufrechterhalten (vgl. Hafen 1992: 193). Eine Verdichtung der Zeiterfahrung habe ich in der einen oder anderen Form immer wieder auch in den Interviews und Gruppendiskussionen feststellen können. So haben viele der Interviewpartner, mit denen ich über Konzertbesuche redete, zunächst relativ ausführlich von dem langen Warten vor dem Konzert erzählt. Wenn sie in ihrer Erzählung jedoch zu dem Zeitpunkt kamen, als der top-act anfing, war die Erinnerung auf einmal relativ unklar und erst nach und nach fielen den Interviewpartnern Einzelheiten des Konzerts wieder ein. Sehr deutlich wird die in-
15 Zur Bedeutung von Redundanz in Ritualen siehe den Abschnitt »Ritual und Zauber« im Kapitel 1. 117
ROCK UND POP ALS RITUAL
tensive Verdichtung der Zeiterfahrung in folgendem Ausschnitt einer Gruppendiskussion, die ich mit Eva und Jan, zwei Besuchern eines RobbieWilliams-Konzerts, durchgeführt habe:16 GD über Robbie Williams-Konzert mit Eva und Jan, 10.04.2005 Jan: Eva: Jan: Eva: Jan: Eva:
ja (.) und dann ging’s irgendwie los, dann hat die Musik angefangen, er war noch gar nicht da, seine Band kam dann irgendwann auf die Bühne (1) └genau und dann kam Robbie und die ((Veranstaltungsort)) ist ausgeflippt, eindeutig └@genau@ und er hat auch noch Zugaben gespielt (.) ja, es ging ´ └ja ziemlich lange und danach war er dann auch ziemlich knülle, geschafft (.) ja
Die Zeitspanne vom Anfang des Auftritts Robbie Williams (der noch relativ detailliert beschrieben wird) bis zu seinen Zugaben ist gewissermaßen ausgeblendet. Das einzige, was erwähnt wird, ist eine kollektive Begeisterung (»Ausflippen«), die also den gesamten Zeitraum vom Anfang bis zu den Zugaben ausfüllt. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass Eva und Jan auch selbst »ausgeflippt« sind.17 Die Vielzahl intensiver sinnlicher Eindrücke, die auf einem Rock- und Popkonzert auf einen Besucher einströmen, ist kognitiv kaum unmittelbar zu verarbeiten. Hafen weist darauf hin, dass viele Besucher von den Eindrücken geradezu ›erschlagen‹ werden und direkt nach dem Konzert zunächst nichts über ihre Befindlichkeit aussagen können (vgl. Hafen 1992: 131). Auch dies führt zu der Verdichtung der Zeiterfahrung. Protokollausschnitte aus dem Xavier-Naidoo-Konzert machen deutlich, wie intensiv die körperlichen Erfahrungen dabei sein können: Beobachtungsprotokoll Konzert Xavier Naidoo, 14.02.2006 Bei dem Song »Himmel über Deutschland«, der schnell und rhythmisch ist, wird mit den hellen Strahlern über der Bühne ein regelrechtes Gewitter inszeniert: Die Strahler blitzen im schnellen Takt grell auf und blenden so das Publikum. Diese Kombination der lauten Musik mit den Lichteffekten überfordert mein reflexives Fassungsvermögen. Ich kann mich dem Geschehen nur hingeben ohne darüber noch nachdenken zu können. […] Die Musik ist auch in den hintersten Rängen noch sehr laut 16 Eva und Jan sind zum Zeitpunkt des Interviews am 10.04.2005 beide 23 Jahre alt. Beide sind deutscher Nationalität und haben das Abitur. Eva ist Werbekauffrau, Jan arbeitet als Projektassistent für Events. 17 Darauf deutet auch die folgende Aussage Jans an anderer Stelle der Gruppendiskussion hin: »Ganz wichtig ist Texte können, mitsingen können, mitspringen können und alle singen zusammen«. Siehe weiter unten. 118
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
und für mich (ich sitze auf dem Rang in der hintersten Reihe) an der Grenze des Erträglichen. Der Boden, auf dem meine Füße stehen, vibriert im Rhythmus, meine Füße sowie meine Beine vibrieren entsprechend mit. Auch der Sitz vibriert, so dass mein Unterleib und Bauch in Schwingung versetzt werden. Auch meine Arme, die auf den Schenkeln liegen, vibrieren in dem Rhythmus. Kurz: Mein gesamter Körper wird vom Beat der Musik erfasst. Mir fällt es angesichts dieser Stimulierung schwer, ruhig sitzen zu bleiben, es drängt mich nach Bewegung […] Nach dem Konzert habe ich das Gefühl einer leichten Betäubung in meinen Ohren.
Der Beobachter wird durch die Inszenierung radikal in das Hier und Jetzt versetzt, kann im Moment der Erfahrung nicht mehr über das, was ihm widerfährt, reflektieren.18 Hafen schreibt in diesem Kontext von einem als positiv erlebten Gefühl der Schwerelosigkeit, welches sich bei Konzertbesuchern nach dem Konzert einstellt und das kaum in Worten auszudrücken ist (vgl. Hafen 1992: 167). Auch meine Interviewpartner berichten von eindeutig positiven Eindrücken.19 Schockwirkungen wie die hier beschriebenen grellen Lichtblitze werden aber meist sparsam eingesetzt. Schon oben, bei der Betrachtung der Vorband, hatte sich angedeutet, dass die Konzertbesucher durch die körperliche Nähe untereinander zu einer Gruppe werden, in der die einzelnen Individuen für einen Beobachter kaum mehr zu unterscheiden sind. Ab dem Auftritt der Hauptband verschmilzt das Publikum dann für den Beobachter in der Regel zu einem Kollektivkörper, der auf die Bühne ausgerichtet ist und mit den Musikern interagiert. Dies ist schon rein akustisch der Fall: Beobachtungsprotokoll Konzert Xavier Naidoo, 14.02.2006 Wenn bekannte Songs gespielt werden, geht direkt nach den ersten Tönen oder Akkorden ein lautes Jubeln, Pfeifen, Schreien und Klatschen durch das Publikum. Dieser Laut braust schnell auf und ebbt dann bald wieder ab. Ich kann im Einzelnen nur die Pfiffe und das Juchzen der Leute unterscheiden, die mir am nächsten sind. Ansonsten ist es ein undifferenzierter Gemeinschaftslaut. Von hier oben auf dem Rang klingt er wie eine laute Welle. Er ertönt teilweise auch während der Songs, beispielsweise bei einer besonderen Überleitung, einem Gitarrensolo oder einem Zwischenruf von Naidoo.
Auch visuell verschmelzen die Individuen durch die zum Rhythmus der Musik gemeinsam ausgeführten Gesten miteinander:
18 Das Beobachtungsprotokoll wurde im Nachhinein verfasst. 19 So sagt Eva: »Was bei mir noch immer ist, ist dass man während des Konzertes so total euphorisch ist und dann wenn man aus dem Konzert raus ist irgendwie erstmal alles vergessen hat (.) also so das ist so ganz komisch, dass so die ganzen Erinnerungen weg sind.« 119
ROCK UND POP ALS RITUAL
Beobachtungsprotokoll Konzert Xavier Naidoo, 14.02.2006 Um ca. 21.50 wird von einem eher unbekannten Song ohne Übergang in »Ich kenne nichts« – ein großer Hit von Naidoo – übergeleitet. Mit einem Mal kommt die ganze Halle in Bewegung. Unten auf der Fläche wird gejohlt, mitgesungen, ein Meer von ausgestreckten Armen bewegt sich im Rhythmus hin und her. Neben mir springt ein junger Mann regelrecht auf und bewegt sich mit dem ganzen Körper zum Rhythmus. Viele Leute auf den Rängen sind jetzt aufgestanden und bewegen sich zu der Musik, meist die Hände über dem Kopf hin- und herbewegend, oft auch mit dem ganzen Körper wippend. Manche bewegen auch einfach im Sitzen ihren Kopf zum Rhythmus. Viele singen mit. Die meisten, die jetzt stehen, bleiben für den Rest des Konzertes stehen, auch wenn dann teilweise wieder weniger bekannte Lieder kommen.
Der Song kommt für die Menschen im Publikum unerwartet und steigert impulsartig das Arousal: es kommt zur Freisetzung einer kollektiven Energie, die von nun an im Raum zirkuliert und auf einem relativ hohen Niveau erhalten bleibt. Dabei ist es nicht allein der Rhythmus der Musik, der auf die Körper ansteckend wirkt – auch die vorher gespielten Songs waren direkt körperlich spürbar und regten zur Bewegung an. Um die Begeisterung hervorzubringen, bedarf es zudem eines Stückes, welches dem Publikum vertraut ist. Formulierungen wie »die ganze Halle in Bewegung« und »ein Meer von ausgestreckten Armen« beschreiben das Publikum als einen aufwallenden Kollektivkörper. Durch das Mitsingen, Hände schwingen und Tanzen im Rhythmus der Musik sowie die gemeinsame Ausrichtung auf die Stars auf der Bühne entsteht im Konzert eine unmittelbare Communitas der Fans im Sinne Turners als einer undifferenzierten Gruppe Gleicher. Die Besucher kommen meist als relativ unbewegte Kleingruppen und werden im Verlauf des Konzerts zu einer rhythmisch bewegten Gemeinschaft. Die Interaktionen von Publikum und Musikern verweist zudem darauf, dass auch eine vertikale Communitas entsteht. Hatte ich mich bisher vor allem auf meine eigenen Beobachtungen bezogen, so soll die Analyse nun durch weitere Passagen aus Gruppendiskussionen gestützt und auch differenziert werden. Ich gehe zunächst auf den Aspekt der Starfokussierung ein, um dann die Bedeutung des Mitsingens und der Songtexte zu untersuchen. Es ist bemerkenswert, dass bei den meisten Interviews, die ich geführt habe, der Star im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Interviewees stand. Nicht nur, dass die Gespräche sich zentral um ihn drehten, es lässt sich auch eine intensive Erfahrung der Nähe der Besucher zu den jeweiligen Stars während des Konzerts rekonstruieren. Ich zeige dies anhand zweier Ausschnitte aus zwei Gruppendiskussionen. Zunächst wieder Eva und Jan, die schon oben genannten Besucher eines Robbie Williams-Konzerts:
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QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
GD über Robbie Williams-Konzert mit Eva und Jan, 10.04.2005 Jan: Eva:
Jan:
wie ein Mensch die Massen mobilisieren kann, das ist schon der Wahnsinn └ja └und ohne irgendwelche krassen Choreographien oder so, einfach nur mit seiner Anwesenheit, so └ja, also es war sehr persönlich, ich fand es war ein sehr sehr persönliches Konzert (.) also er hat eigentlich nur für mich gesungen, aber ist egal
Die beiden Konzertbesucher sprechen hier im Grunde von drei verschiedenen Akteuren: von Robbie Williams, einer bewegten »Masse« der anderen Zuschauer und sich selbst. Die Aufmerksamkeit ist während des Konzerts vollständig auf Williams ausgerichtet. Der Begriff des »persönlichen Konzerts« lässt sich dabei zum einen darauf beziehen, dass Robbie Williams authentisch gewirkt hat. Doch darüber hinaus ist damit der von Jan ausgesprochene Eindruck gemeint, Williams habe ihn mit seinen Liedern direkt und exklusiv adressiert. Hier dokumentiert sich die Empfindung einer intensiven Nähe zum Star, die man als eine Erfahrung vertikaler Communitas bezeichnen kann. Zudem hat Willliams für Eva und Jan etwas Verzauberndes an sich, wenn er ihrer Auffassung nach allein Kraft seiner Präsenz die Zuschauer in Bewegung bringt. Das Wort »Wahnsinn« bringt dabei zum Ausdruck, dass diese Fähigkeit ihr rationales Erfassen übersteigt. Eine nur geringfügig anders gelagerte Fokussierung des Stars kommt in einem Ausschnitt einer Gruppendiskussion zum Ausdruck, die ich mit Isa und Max durchgeführt habe, einem Pärchen, das auf einem Konzert von Herbert Grönemeyer war:20 GD über Herbert Grönemeyer-Konzert mit Isa und Max, 10.09.2005 I.: Isa: I.: Isa:
Vielleicht könnt Ihr noch n bisschen was zu den anderen Leuten sagen, die dort auch mit dabei waren └die da drum rum waren? └ja, also (unverständlich) └also ich muss sagen ich hab keinen einzelnen erlebt, das war für mich halt (.) immer mehr ne Masse so um mich rum also (.) es war angenehm und man hatte so das Gefühl das ist so untereinander was heißt so so Verständnis da? aber alle haben mitgetanzt und mitgesungen, also ich hab schon sehr nur den Max und mich da wahrgenommen, alles um mich rum war zwar da, aber war halt ne große Masse, so ich hab das halt wirklich
20 Das Interview wurde am 10.09.2005 geführt. Isa ist zu diesem Zeitpunkt 30, Max 33 Jahre alt. Beide haben das Abitur und sind deutscher Nationalität. Isa studiert Psychologie, Max arbeitet als Psychologe. 121
ROCK UND POP ALS RITUAL
Max: Isa: Alle: Max: Isa: I: Max:
Isa: Max:
└ich hab jetzt auch grad so versucht zu überlegen, war da überhaupt jemand? @(2)@ └@(2)@ er hat nur für uns gespielt @(4)@ Also ich hab (.) ich hab auch kaum jemand anderes drum herum wahrgenommen, das muss ich auch sagen, wobei da war auch (unverständlich) └ja man wurde dann vielleicht auch mal angegrinst oder so, aber, nee mhm ich hab dann noch, genau, ich hab dann noch ein oder zwei gesehen, die ich kannte, aber ansonsten es war echt nicht so, dass ich da viel drauf geachtet hab wer da so um mich rum ist, also es war schon- da muss ich └es gab nur Gröni und uns @(.)@ sagen, das war schon so was Besonderes im Vergleich zu anderen Konzerten, da hab ich auch schon mal mehr geguckt oder mich auch mal unterhalten oder so und es hat wirklich so die Aufmerksamkeit auf sich gezogen das Konzert, dass es wirklich äh (.) ja wirklich alles rundherum wie weg war
Auch hier verschwimmen die anderen Besucher zu einer bewegten »Masse«, sie scheinen teilweise sogar wie ausgeblendet (»war da überhaupt jemand?«). Und auch die Formulierung »er hat nur für uns gespielt« hat eine auffallende Ähnlichkeit mit der Aussage Jans in dem obigen Ausschnitt. Der Unterschied liegt dabei vor allem darin, dass Isa und Max als Pärchen erscheinen (»für uns«), Jan dagegen als Individuum (»für mich«). Entscheidend ist meines Erachtens, dass in beiden Aussagen die Erfahrung einer exklusiven Verbindung mit dem Star zum Ausdruck kommt, eine Erfahrung von vertikaler Communitas. Es zeigt sich hier allerdings auch, dass diese Erfahrung nicht bei jedem Konzert entsteht. Für Isa und Max stellte es gerade das besondere Hocherlebnis des Konzertes von Grönemeyer dar, dass sie eine solche Nähe zu ihm wahrgenommen haben. Eine Verzauberung durch den Star ist indes, anders als bei Eva und Jan, an dieser Stelle nicht zu rekonstruieren. Weiter hinten werde ich aber zeigen, dass man bei Isa und Max durchaus eine Verzauberung durch Grönemeyer feststellen kann, diese ist aber anders gelagert als bei Eva und Jan. Weisen die beiden hier rekonstruierten Gruppendiskussionen Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Erfahrung einer vertikalen Communitas auf, so unterscheiden sie sich wiederum deutlich hinsichtlich der Bedeutung, welche den Songtexten zugemessen wird. Während Eva und Jan kaum auf die Texte der Songs von Robbie Williams eingehen, stehen für Isa und Max die Texte Herbert Grönemeyers im Mittelpunkt ihrer Ausführungen. Ich werde diesen Unterschied im Folgenden eingehender darstellen. Zunächst rekonstruiere ich einige prägnante Auszüge aus der Gruppendiskussion mit Isa und Max: 122
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
GD über Herbert Grönemeyer-Konzert mit Isa und Max, 10.09.2005 Isa:
Max: Isa:
Und vorher haben wir natürlich ne; diese ganzen neuen Texte geübt, also ich hatte auch schon vorher die CD, dass wir eben wirklich auch so mitsingen konnten, das ist einfach toll, du hörst dann so n Lied und bist └mhm voll dabei und singst dann halt auch mit
Isa und Max präsentieren sich hier nicht einfach als passive Konzertbesucher, vielmehr ist ihnen die eigene Aktivität besonders wichtig. Der Ausdruck »Mitsingen« verweist auf die vergemeinschaftende Dimension des Singens, die sich zum einen auf den auf Rock- und Popkonzerten üblichen kollektiven Gesang des Publikums, zum anderen auch auf das gemeinsame Singen mit Grönemeyer beziehen kann. Die Formulierung »du […] bist voll dabei« ist sowohl im Sinne einer Erfahrung von unmittelbarer Communitas – eine Form des Verschmelzens mit den anderen – als auch im Sinne einer sehr fokussierten Ausrichtung der Aufmerksamkeit zu verstehen. Dass Isa und Max sich auf dieses gemeinschaftliche Singen gründlich vorbereitet haben (»Üben«) – was für sie anscheinend eine Selbstverständlichkeit für einen Konzertbesuch ist (»natürlich«) – dokumentiert die hohe Bedeutung des Singens für sie. Hinsichtlich des gemeinsamen Singens auf dem Konzert liest sich folgender Auszug aus der Gruppendiskussion mit Eva und Jan ganz ähnlich: GD über Robbie Williams-Konzert mit Eva und Jan, 10.04.2005 Jan: Eva: Jan: Eva: Jan:
Ganz wichtig ist Texte können, mitsingen können, mitspringen können └ja und alle singen zusammen ähm └genau und dann an den richtigen Stellen, wo er dann irgendwie ausgesetzt hat, dann den richtigen Text zu singen └richtig
Hier wird sogar deutlich zwischen dem gemeinschaftlichen Singen des Publikums und der gesanglichen Interaktion mit dem Star auf der Bühne unterschieden. Neben dem Singen erscheint hier zudem das »Mitspringen«, also die kollektiv vollzogene, ausgelassene körperliche Bewegung als besonders bedeutend. Auch wenn hier nicht von einer gezielten Vorbereitung im Sinne des Übens gesprochen wird, ist es für Eva und Jan doch wichtig, sich die Songtexte vor dem Konzert angeeignet zu haben (was auch als ein beiläufiges Lernen denkbar ist). Ich halte also zunächst fest, dass das gemeinschaftliche Singen sowohl für Isa und Max als auch für Eva und Jan eine zentrale Dimension der Konzerterfahrung darstellt. Das gemeinsame Hervorbringen der Musik – womit nicht nur das Singen, sondern auch das »Springen« gemeint ist – erzeugt bei allen
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ROCK UND POP ALS RITUAL
vier befragten Konzertbesuchern eine Erfahrung der unmittelbaren Communitas. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen wird deutlich, wenn man fragt, welche Bedeutung den Inhalten der Songs zugemessen wird. Isa und Max gehen von sich aus lange auf die Texte auf Grönemeyers CD »Mensch« ein, die vor dem Konzert veröffentlicht worden war und in der der Sänger Erfahrungen des Verlusts und der Trauer thematisiert. Eva und Jan dagegen sprechen, abgesehen von der eben genannten Stelle, von sich aus gar nicht mehr über Songtexte. Erst auf meine Nachfrage kommen weitere Ausführungen von ihnen. Schon daran zeigt sich eine verschiedene Orientierung hinsichtlich der Songtexte. Im Folgenden rekonstruiere ich die jeweiligen Orientierungen anhand prägnanter Auszüge aus den Gruppendiskussionen. Zunächst Isa und Max: GD über Herbert Grönemeyer-Konzert mit Isa und Max, 10.09.2005 Max:
Isa: Max: Isa: Max: I.: Isa:
das find ich schon total toll, also dass jemand so seine (.) seine Traurigkeit und seine Trauer und (.) aber dann auch so die (.) ja so die die den Willen und den Mut dann halt wieder so sein Leben anzupacken und so (.) ja so in so’n Lied ähm fasst und das so rüberbringen kann, das war auch schon sehr beeindruckend, das hat mich schon auf der (.) als ich die CD das erste Mal gehört hab hab ich Gänsehaut gekriegt und wenn ich jetzt dadrüber erzähl krieg ich auch @Gänsehaut@, äh also das find ich schon Wahnsinn, also echt toll, also da hat er wirklich so sein sein └na e- mhm @Meisterstück@ abgeliefert so ne; das ich kann mir (unverst.) aber das └mhm war schon (.) also echt schon toll, muss man schon sagen mhm naja wie er das eben damit dann auch bea- verarbeitet hat für sich ne; und dass er halt sowas auch zur Sprache bringt, das ist für mich so faszinierend
Ist es bei Eva und Jan der Star selbst, der einen Zauber auf sie ausübt, so sind es bei Isa und Max die Songtexte. Der Zauber drückt sich nicht nur sprachlich aus (über Wörter wie »Wahnsinn« oder »faszinierend«), sondern vor allem auch über eine körperliche Reaktion – eine »Gänsehaut« kann nicht willentlich kontrolliert werden kann, man ist ihr ausgeliefert. Der angesprochene Song übt eine geradezu überwältigende Wirkung auf Max aus. Zudem steht die oben herausgearbeitete Erfahrung der Nähe zu Herbert Grönemeyer auf dem Konzert bei Isa und Max in enger Verbindung mit dieser Wirkung der Songtexte:
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QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
GD über Herbert Grönemeyer-Konzert mit Isa und Max, 10.09.2005 Max: Isa: Max: Isa: Max: Isa: Max:
Isa: Max:
Isa:
Max: Isa:
und da wirkt diese Lebensfreude, die er da im Konzert rüberbringt auch noch mal ganz anders, also so (.) naja dass er so durch alle Höhen und └mhm Tiefen geht also so (unverst.) das fand ich auch noch so beeindruckend (.) └also wirklich lebt, das (.) ja, mhm vielleicht kommt es deshalb auch so intensiv rüber, weil man (.) ja sozusagen von dem sozusagen ja sein Seelenleben mitbekommt und ja man └mhm ja auch weiß, dass der halt durch die tiefsten Tiefen auch gegangen ist (.) ja dass dann auch diese Lebensfreude eine ganz andere Tiefe kriegt als wenn da halt jetzt jemand kommt und sagt hey, Super-Party und wir └mhm sind jetzt mal alle fröhlich, sondern halt jemand, der halt so aus der @Tiefe@ quasi kommt und der auch alles andere durchgemacht hat, und wo das dann auch so ne ganz andere Intensität bekommt so (unverst.) └ja oder man sich selbst mit seinen eigenen Gefühlen ne? die ja auch so etwas wie Traurigkeit, Trauer, aber auch so was wie Lebenslust beinhalten, eben so verstanden fühlt, wie jemand das so in Worte fassen kann, dass man sich so └mhm wiederfindet in dem anderen so
Isa und Max sehen die Songtexte als authentischen Ausdruck der Lebenserfahrungen des Sängers an (dies ist, wie wir sehen werden, bei Eva und Jan ganz anders). Über die Texte wird es ihnen möglich, an den Gefühlen des Sängers zu partizipieren und sich dann auch im Konzert auf dessen Gefühle einzustimmen. Dabei wirkt die Begeisterung, die sie auf dem Konzert durch ihn erfahren, gerade dadurch, dass in den Songs auch Erfahrungen von Leid thematisiert werden, für sie authentisch und nicht aufgesetzt. Es sind also die Songs, welche die Erfahrung der vertikalen Communitas mit Grönemeyer während des Konzerts vermitteln. Geht Max vor allem darauf ein, dass Grönemeyer sein eigenes »Seelenleben« zum Ausdruck bringt, so fügt Isa dem eine andere Wendung zu, die eine noch stärkere Nähe zum Sänger erkennen lässt: Sie nimmt gleichsam einen emotionalen Gleichklang zwischen sich und Grönemeyer wahr. Denn sie partizipiert nicht nur an seinen Gefühlen, sondern sieht ihre eigenen Gefühle in den Texten sprachliche Gestalt annehmen. Auch in diesem Sinne lässt sich die Beziehung zwischen ihnen als eine vertikale Communitas bezeichnen. Wenn es die besondere Kunst Grönemeyers ist, das Gefühlsleben prägnant »in Worte fassen« zu können, so ist zu schließen, dass gerade dies für Isa und Max einerseits sehr wichtig, andererseits für sie selbst aber sehr schwierig ist. Grönemeyer dient ihnen als ein authentisches Sprachrohr für die eigenen Gemütsbewegungen. 125
ROCK UND POP ALS RITUAL
Ganz anders bei Eva und Jan. Meine Nachfrage, ob sie sich über die Songtexte Gedanken machten, verneinten sie (»Nee«, »weniger«). Es folgten schließlich die nachstehenden Ausführungen: GD über Robbie Williams-Konzert mit Eva und Jan, 10.04.2005 Jan:
Eva: Jan: Eva: Jan: Eva:
es ist auch nicht so dass wir (.) oder dass ich mich jetzt frage okay was hat ihn jetzt moti- motiviert, diesen Song zu schreiben oder was für ne Geschichte steht dahinter oder ist ja ganz schrecklich, was in dem Lied passiert Man muss auch immer davon ausgehen, dass die Texte nie selber geschrieben sind, sondern in Zusammenarbeit mit anderen Leuten, └das kommt noch dazu, ja die auch gerade so die Trends irgendwie abgecheckt haben und dann └mhm sagen du musst jetzt mal so’n Song und so’n Song machen, deswegen, also heute ist das ja noch mal anders als früher, heute ist wirklich alles auf den Markt gerichtet und auf die Bedürfnisse der Gesellschaft
Für Eva und Jan sind die Songtexte gerade kein authentischer Ausdruck von Lebenserfahrungen, sondern ein reines Marktprodukt.21 Sie argumentieren hier ähnlich wie kulturkritische Analysen der populären Musik, ziehen aber bemerkenswerter Weise einen anderen Schluss als jene: Für Eva und Jan ist die grundsätzliche Wertlosigkeit, die sie den Texten unterstellen, kein Grund, sich von der Musik bzw. dem Popstar abzuwenden (sie sind ja trotzdem auf sein Konzert gegangen). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die inhaltliche Ebene der Songs für sie einfach eine untergeordnete Rolle spielt. Ihr primärer Orientierungsrahmen richtet sich auf den Star und seine Fähigkeit, durch seine Präsenz die Massen und sie selbst zu verzaubern. Die Bedeutung der Songtexte liegt für sie nicht auf der semantischen Ebene, sondern auf der Ebene der Vergemeinschaftung durch das kollektive »Mitsingen«. Die primäre Orientierung von Isa und Max dagegen richtet sich auf die Songtexte, die eine emotionale Verbundenheit mit dem Sänger vermitteln. Das »Mitsingen« dient bei ihnen offensichtlich vor allem dazu, sich in die von Grönemeyer auf dem Konzert vermittelten Gefühle intensiv einzustimmen. Nach dieser Rekonstruktion möchte ich noch einmal auf die kulturanthropologischen Ritualforschungen zurückkommen. In stammeskulturellen Ritualen entsteht in der gemeinsamen körperlichen Performanz ein gegenseitiges Aufschaukeln der Gefühle der Ritualteilnehmer, es entsteht eine »kollektive Efferveszenz«. Vor allem durch rhythmische Gesten und Schreie werden dabei 21 Robbie Williams schreibt seine Songs im Gegensatz zu Herbert Grönemeyer tatsächlich nicht allein. 126
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
ein anti-strukturelles, also nicht-alltägliches Verhalten und eine Energie freigesetzt, welche die Menschen über sich selbst erheben und das gemeinsame rituelle Handeln in ein sakrales Licht tauchen. Deshalb schreiben die an den Ritualen Beteiligen den Symbolen, auf die sich die Riten beziehen, eine magische Kraft zu. Da die Symbole zwar einerseits die Verbindung mit der Totemkraft herstellen, andererseits mit Tabus umgeben sind und nur zu rituellen Gelegenheiten verwendet werden dürfen – also ein spezifisches Verhältnis von Nähe und Distanz aufweisen –, stellen die Rituale herausgehobene Situationen dar, in denen in unmittelbarer Weise sowohl eine horizontale als auch eine vertikale Communitas entsteht (vgl. auch Durkheim 1994). Das Gesagte lässt sich im Prinzip auch auf Rock- und Popkonzerte übertragen: Diese sind rituelle Aufführungen, in denen eine kollektive Efferveszenz bzw. eine umfassende Communitas erzeugt wird. Während eines Rockkonzerts werden die im Alltag geltenden Verhaltensregeln gleichsam suspendiert, es entsteht ein ritueller Raum der Anti-Struktur. Ein Rockkonzert folgt eigenen Regeln, die ein »Vergessen« des Alltags geradezu erzwingen; und es bietet einen sicheren Rahmen, innerhalb dessen die Besucher auch sich selbst vergessen und ihr Handlungsrepertoire um einen in anderen sozialen Zusammenhängen nicht geduldeten oder nicht möglichen Aspekt erweitern können (vgl. auch Hafen 1992: 232ff.). Im Mittelpunkt steht kein übernatürliches Wesen, sondern das Rockidol, welches allerdings Gemeinsamkeiten mit übernatürlichen Wesen aufweist.22 Nicht nur, dass auch der Star von einem spezifischen Verhältnis von Nähe und Distanz zu den Fans gekennzeichnet ist, er vermag auch mittels der rekonstruierten Inszenierungsstrategien die Konzertbesucher während des Konzerts über sich selbst hinauszuheben und intensive Gefühle bei ihnen zu erzeugen. Allerdings sind Stars keine Symbole in dem Sinne, dass sie etwas außerhalb ihrer selbst – z. B. eine göttliche Kraft – repräsentieren. Vielmehr verweisen sie auf nichts anderes als auf sich selbst. Dies ist der entscheidende Unterschied, den ich bei allen Gemeinsamkeiten zwischen einem ›klassischen‹ Ritual und Rock- und Popkonzerten sehe: Rock- und Popkonzerte sind nicht in einem magischen Weltverhältnis kontextualisiert. Die Fans schreiben ihren Idolen dementsprechend auch keine magische Kraft zu. Dennoch zeigt die Rekonstruktion, dass die Stars durchaus in der Lage sind, ihre Fans im Konzert rituell zu verzaubern.
22 Vgl. den Abschnitt »Die liminoide Welt der Rock- und Popstars« im Kapitel 3. 127
ROCK UND POP ALS RITUAL
Vier Fan-Biographien In den folgenden Rekonstruktionen ausgewählter Einzelinterviews werden nicht nur weitere Vergleichshorizonte für eine Typik grundlegender FanOrientierungen herausgearbeitet, sondern auch die Verläufe der jeweiligen Fan-Biographien, die Bedeutung von Ritualen und rituellen Symboliken für diese Verläufe sowie die Bedeutung des Fan-Seins im weitergehenden biographischen Zusammenhang, insbesondere der Adoleszenzkrise der Fans. Bei der Darstellung der Fälle gehe ich so vor, dass ich zunächst ein Kurzportrait des jeweiligen Interviewpartners gebe und die Umstände des Interviews darstelle. Dann gehe ich kurz auf den Star ein, auf den sich das Interview bezieht. Es folgt die detaillierte Rekonstruktion der Fan-Biographie. Abschließend fasse ich die jeweilige Fan-Biographie in einem Überblick zusammen und deute diesen aus ritualtheoretischer Perspektive.
Tina, Fan von Robbie Williams Tina ist zur Zeit des Interviews 25 Jahre alt, lebt in einer deutschen Großstadt, hier D-Stadt genannt, und hat eine leitende Funktion in einem Internet-FanClub für Robbie Williams inne. Sie hat die mittlere Reife und arbeitet als Kauffrau für Bürokommunikation und Kommunikationsdesign. Sie ist deutscher Nationalität und keiner Religionsgemeinschaft zugehörig. Als Berufe ihrer Eltern gibt sie »Kaufmännische Angestellte« und »selbstständig in der Werbung« an. Nachdem ich per Post mit ihr Kontakt aufgenommen hatte, verabredeten wir uns telefonisch für den 17.10.2005 im Hauptbahnhof in D-Stadt. Ich traf sie dort mit ihrem Freund Mark an, gemeinsam fuhren wir mit der U-Bahn in die Wohnung der beiden. Tina sagte mir, dass sie noch eine Freundin für eine Gruppendiskussion eingeladen hatte und dass wir bis zu deren Eintreffen ein Einzelinterview machen könnten. Von ca. 19.00-20.00 Uhr führte ich dann ein narratives Interview mit ihr durch. Tina erzählte flüssig und teilweise sehr ausführlich, so dass ich nicht viele Nachfragen stellte. Gegen 20.00 Uhr klingelte es dann an der Tür, woraufhin Tina aufsprang und damit das Interview abrupt beendete. Tinas Freundin Ines kam herein, begrüßte mich beiläufig und begann sofort mit Tina über die in den Medien verbreitete Sex-Geschichte einer Studentin mit Robbie Williams zu sprechen. Ich führte dann noch eine Gruppendiskussion mit Tina, Mark und Ines durch, die hier aber nicht rekonstruiert werden soll. Als ich mich verabschiedete, zeigte mir Tina noch ein Foto, auf dem sie zusammen mit anderen Fans und Robbie Williams zu sehen ist.
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Bemerkungen zu Robbie Williams Der 1974 in England geborene Robert Peter Williams begann seine Karriere 1990 bei der Band Take That, die als kommerziell erfolgreichste Boygroup der 1990er Jahre gilt. 1995 verließ Williams die Band – aufgrund von Drogen- und Partyexzessen, die laut Vertrag nicht gestattet waren – und begann eine Solokarriere, mit der er nach der Veröffentlichung der eingängigen Ballade »Angels« im Jahr 1997 großen Erfolg hatte. Auch wenn Williams in Europa viele Nummer 1-Platzierungen erreichte, hat er sich bislang nicht in den USA durchsetzen können. 2001 erschien ein Album mit Swing-Klassikern, mit dem Williams auch das Interesse eines älteren Publikums weckte. Robbie Williams hat einen Titel zum Soundtrack des Films »Findet Nemo« beigesteuert, der Ende 2003 anlief. Im Jahr 2004 erschien die Biographie »Feel«, in der von seinen Drogenproblemen, Depressionen, diversen amourösen Abenteuern und nicht zuletzt seiner Einsamkeit berichtet wird (Heath 2004).
Tinas Fan-Biographie Auf meine Einstiegsfrage, ob sie mir erzählen könne, wie ihr Interesse für Robbie Williams angefangen und sich im Laufe entwickelt hat, begann Tina wie folgt: 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Also ich war dreizehn, guckte nachmittags n bisschen den Club auf ARD also mit noch Hip und Hep und @Schießmichtot@ also wirklich noch Kind, Teenager gerad dazwischen und es hieß dann plötzlich, dass so fünf Jungs aus Manchester da auftreten sollten, und da waren sie dann plötzlich Take That //mhm// haben »Could it be magic?« gesungen und ähm ich war also wirklich in dem Moment völlig baff so huh wisdis? Das is ja cool @(.)@, das sind ja nette Typen und also wirklich so mit dreizehn, wo man sich dann gerade anfängt für Jungs zu interessieren, war dann für mich dann auch so (.) ja, die nehm ich @(.)@ und dann also noch gar nicht so viel ähm dann gemacht, weil ähm also ich hatte keinen CD-Player, ich hatte irgendwie noch eine Freundin, die hatte die CD, die hat sie mir auf Kassette aufgenommen, und ähm also ganz (.) äh Poster durft ich auch nicht aufhängen //mhm// und es war einfach nur so mal da und da n Sticker irgendwo im Buch und das war’s dann auch
Tina verortet den Beginn ihres Interesses für Take That am Anfang ihrer Adoleszenz, wobei sie sich selbst mit der Formulierung »noch Kind, Teenager gerad dazwischen« (6) gewissermaßen als eine liminale Person, ein »Zwischen129
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wesen« charakterisiert. Dabei stellt sie ihr Interesse für die Band in einen unmittelbaren Zusammenhang mit einem biographischen Übergang: dem aufkeimenden Begehren (12f.). Diese Orientierung an einem Begehrensverhältnis gegenüber Robbie Williams wird im weiteren Verlauf noch eine bedeutende Rolle spielen. Ihre erste Berührung mit der Band kam über die Medien zustande und kann als eine unmittelbare Bezauberung bezeichnet werden (»völlig baff so huh wisdis?«, 10), wenn man unter ›Bezauberung‹ so viel wie ein Entzücktoder Begeistertsein versteht. Zwar passt der Songtitel »Could it be Magic« zu dieser Bezauberung, doch scheint es nicht die Musik selbst gewesen zu sein, die Tina so faszinierte. Vielmehr nahm sie die Bandmitglieder als »nette Typen« (11) wahr, was zeigt, dass die Ebene einer persönlichen Beziehung zu Take That für sie im Vordergrund stand. Ihr Interesse am anderen Geschlecht, welches damals gerade begann, hatte schlagartig ein mediales Objekt gefunden. Diesem gedachte sie nun die Treue zu halten, wie der Ausdruck »die nehm ich« (14) zeigt. Der Ausdruck mag von Tina bewusst auf den Bandnamen Take That bezogen sein; er verweist aber auch auf eine kaufhausähnliche Situation, bei der eine Auswahl an Gütern zur Verfügung steht und Tina sich für eines davon entscheidet. Sind die liminalen Wesen in traditionellen Initiations- und Pubertätsriten dazu gezwungen, mit vorgegebenen Göttern in Kontakt zu treten, so ist es ein Kennzeichen der liminoiden Genres, dass sie zwar keine Götter im eigentlichen Sinne kennen, wohl aber Idole, unter denen frei gewählt werden kann. Tinas Interesse für die Band setzte sich zunächst kaum in fanspezifische Handlungen um, was daran lag, dass sie einerseits von den ihr zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten und andererseits von ihrem sozialen Umfeld eingeschränkt war. Dabei waren es vermutlich Tinas Eltern, die ihr verboten, Poster aufzuhängen. Tina spricht drei Fan-Aktivitäten an, die in dieser frühen Phase ihres Fan-Seins von Belang waren: Poster aufhängen, Sticker aufkleben und Musikhören, wobei das Musikhören nur auf einer impliziten Ebene erwähnt wird. Poster und Sticker stellen die Band visuell dar: Tina will die »netten Typen« von Take That um sich haben und sehen können, was wiederum auf die Orientierung an einer persönlichen Beziehung verweist. Wie Tina zur Musik steht, bleibt bisher noch offen. Tinas Hinweis darauf, dass ihre Freundin eine Kassette überspielte, dokumentiert zudem, dass ihr Fan-Sein schon bald eine soziale Komponente bekam. Von ihren Eltern eingeschränkt und von der Freundin unterstützt, erweist sich die Beschäftigung mit Take That als eine Aktivität, die auf der Peergroup-Ebene angesiedelt ist. 20 21 22 130
und das kam dann alles so mit ähm also mit vierzehn (.) ja mit vierzehn war ich das erste Mal auf dem Konzert von Take That und hab dann auch Robbie äh
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kennen@gelernt, also da auf der Bühne@ und war dann doch etwas hin und weg mit vierzehn, dass ich ihn ja doch ganz nett fand also ich hab auch noch Tagebucheinträge neulich gefunden, dass ich auch reingeschrieben hab ach Robbie war bei uns auf der Seite und hat was für uns gesungen und ach ja es war ja so schön und @so toll (.)@ also so wirklich so klassisch so Boygroup- total //mhm// und dann mit fünfzehn halt nochmal gesehen
Der Besuch des Take That-Konzertes war ein entscheidender Wendepunkt in Tinas Fan-Biographie. Die Formulierung »das kam dann alles« (20f.) verweist auf eine Intensivierung ihres Fan-Seins generell und ihrer FanAktivitäten im Besonderen (sie bezieht sich ja auf das in Zeile 15 genannte »Machen«) und markiert, dass der ›eigentliche‹ Anfang ihres Fan-Seins im Konzertbesuch zu sehen ist. Das Konzert lässt sich als Initialzündung ihres Fan-Seins deuten. Was war das Besondere an diesem Konzert? Tina konnte dort Take That – und damit auch Robbie Williams – zum ersten Mal leiblich nahe kommen. Sie rahmt diese Situation als ein »Kennenlernen« (23), wobei dieser Begriff sich als eine Metapher erweist, denn Tina hat mit Williams keinen persönlichen Kontakt aufgenommen, sondern ihn lediglich aus dem Publikum heraus auf der Bühne gesehen. Die Wortwahl verweist aber wiederum auf die hohe Bedeutung, welche die Ebene der persönlichen Beziehung zu Robbie Williams für Tina einnimmt. So wie Tina schon beim ersten Fernsehauftritt von Take That entzückt war, so war sie auch während des Konzerts »hin und weg« (24) von Williams’ Präsenz. Allerdings zeigt es sich, dass Tina nicht eigentlich von Robbie Williams selbst überwältigt war, sondern von ihrer eigenen emotionalen Reaktion auf ihn (»dass ich ihn ja doch ganz nett fand«, 24f.). Dies lässt sich so lesen, dass während des Konzerts Emotionen in ihr hervorkamen, die sie bisher noch nicht gekannt hatte. Sie wurde gleichsam von ihren eigenen Gefühlen überwältigt und lernte diese damit erst kennen. Auch insofern stellte dieses Konzert eine Initialzündung für Tina dar: Sie erfuhr eine Transformation ihres Gefühlslebens, die weit über dieses eine Konzert hinaus andauerte (schließlich »kam dann alles«). Tina hatte die Veränderung ihres emotionalen Zustands nicht intendiert; vielmehr emergierte die Veränderung während des Konzertereignisses und überwältigte Tina. Dass die Konzerterfahrungen einen großen Eindruck auf Tina gemacht haben, zeigt sich auch darin, dass sie sie in ihrem Tagebuch festhielt. Der Fokus ihrer Einträge richtet sich dabei ganz auf Robbie Williams und dessen Interaktionen mit dem Publikum; die Musik erwähnt Tina gar nicht. Wieder
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steht also ihre persönliche Beziehung zu dem Star im Vordergrund ihrer Darstellung. Hatte der Fernsehauftritt von Take That Tina be-zaubert, so erweist sich das Konzert der Band als eine Ver-zauberung Tinas, wenn man unter ›verzaubern‹ nicht nur ein Entzücktsein, sondern auch eine längerfristige Verwandlung fasst. Die Grenze zwischen Bezauberung und Verzauberung ist sicherlich nicht immer eindeutig zu ziehen. Die Verwandlung Tinas kann an keiner ›objektiven‹ Statusveränderung festgemacht werden, sondern hat einen eher diffusen Charakter und bezieht sich auf Tinas Emotionen gegenüber Robbie Williams. Im Vergleich mit den im letzten Abschnitt rekonstruierten Gruppendiskussionen fällt auf, dass Tina die anderen Konzertbesucher zwar erwähnt (»für uns«, 27), sie aber nicht darauf eingeht, wie sie die Gemeinschaft mit ihnen erfahren hat. Für Tina steht – ähnlich wie für die Teilnehmer der Gruppendiskussionen – die emotionale Verbindung zwischen ihr und den Stars im Vordergrund. Diese Verbindung lässt sich auch hier als eine vertikale Communitas bezeichnen – wobei die hier rekonstruierte Form der vertikalen Communitas unter dem Vorzeichen eines Begehrensverhältnisses steht. 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51
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und dann hat er sich ja dann verabschiedet von Take That und dann war’s für mir echt klar, das war ganz egal wer von denen was macht, also ich bleib da halt dran, aber Robbie war schon immer mein Liebling, also den fand ich schon immer am besten, wobei ich auch sagen muss, dass ich eigentlich in der Zeit alle einmal @durch hatte@, also ich fand mal Mark gut, ich fand mal Howard gut, ich fand mal Jason gut //mhm// (.) nee, Howard fand ich nie gut, nee ich @nehm das zurück (.)@ aber die anderen, also die fa- ich fand alle irgendwie irgendwann mal gut, aber Robbie war immer der, der irgendwie so n bisschen so einen Platz in meinem Herzen hatte (.) und dann hat er halt irgendwann dann »Freedom« dann 1996 rausgebracht und da war für mich dann selbstverständlich, dass ich ihn unterstütze und damals mit sechzehn habe ich auch noch nicht so ähm realisiert, dass er jetzt total auf Drogen war, weil das war er zu der Zeit total (.) alkoholabhängig war, //mhm// das war für mich absolut nicht relevant, weil ich es nicht kannte, ich wusste es auch nicht, //mhm// ähm und war für mich einfach das ist Robbie, er ist von Take That, das Lied ist (.) er macht eigentlich wieder neue Musik, die Musik war damals auch noch nicht so interessant
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Die Intensivierung von Tinas Gefühlen für die Bandmitglieder durch das Konzert hielt über das Konzert hinweg an, denn für Tina war es selbst nach der Trennung der Band keine Frage, dass sie weiterhin Fan blieb. Es zeigt sich eine Bindung Tinas an die Bandmitglieder (»ich bleib da halt dran«, 32), die in Bezug auf Robbie Williams einen besonders emotional-begehrenden Charakter hatte (»Liebling«, 33; »Platz in meinem Herzen«, 40f.). Ihr war es offenbar nicht nur »ganz egal, wer von denen etwas macht« (32f.), sondern auch, was die einzelnen Bandmitglieder machten. Hier zeigt sich schon ziemlich deutlich, dass das musikalische Werk für Tinas Fan-Sein irrelevant ist. Endgültig klar wird dies, als Tina Williams’ damalige Musik zwar explizit als »nicht so interessant« (51) bewertet und trotzdem berichtet, dass sie sich nicht etwa von ihm abwendete, sondern »selbstverständlich« (43) Fan von ihm blieb. Interessant ist das Wort »Unterstützung« (43). Es wird hier noch nicht deutlich, worauf es sich bezieht. An einer späteren Stelle wird sich zeigen, dass Tinas »Unterstützung« darin besteht, dass sie Williams helfen wollte, Erfolg zu haben. Auch wenn der Bezug des Wortes hier noch unklar bleibt, so verweist doch das Wort selbst darauf, dass Tina versuchte, in ihrer Beziehung zu Williams Reziprozität herzustellen: Hatte er ihre Emotionen in einer Weise geweckt, dass sie »hin und weg« war, so wollte sie ihm nun mit ihrer Unterstützung etwas (zurück-)geben. Offen bleibt auch, weshalb Tina unmittelbar nach der Darstellung ihres Vorhabens, Williams zu »unterstützen«, auf dessen Probleme mit Rauschmitteln zu sprechen kommt. Wäre dieses Thema in irgendeiner Form für sie »relevant« (47) gewesen, wenn sie davon gewusst hätte? Wir wollen den Punkt ›Drogen‹ in Erinnerung behalten; an späterer Stelle sagt Tina noch mehr dazu. 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63
und ähm dann hab ich ihn das erste Mal halt getroffen in England und wollte mir eigentlich nur sein Haus mal angucken, also einfach nur mal um zu sehen wie wohnt der, //mhm// und hab ne Freundin besucht und wir sind halt da an dieser Straße halt rumgelaufen und ich dreh mich halt um und er kam mir entgegen also es war nicht geplant, es war also wirklich, ich wollte nur das Haus an@gucken@ und er stand dann wirklich vor mir und ich bin (.) ja, umgekippt @(1)@ also meine Knie haben versagt und ich lag dann so ihm zu Füßen sozu@sagen (.)@ //mhm// °das ist mir heute tierisch peinlich°, aber naja und dann hat er halt n Foto mit mir gemacht und dann ist er auch wieder gegangen und dann war’s das auch
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Tina »bleibt« auch auf der körperlichen Ebene an Robbie Williams »dran« (32): Sie hält Nähe zu ihm und versucht, Einblicke in sein privates Leben zu erhalten. Im hier erzählten Fall kam sie ihm allerdings zu nahe, wie aus der Darstellung ihres Umfallens hervorgeht. In ihrer Erzählung dieses Erlebnisses – bei der sie auch während des Interviews noch emotional involviert ist – ist nicht, wie bei ihrer Beschreibung des Konzertes, von einer Begeisterung ihrerseits die Rede. Weshalb ist sie »umgekippt«, wenn nicht vor Begeisterung? Ihre Darstellung des Ereignisses lässt darauf schließen, dass es gerade die Aufhebung der Distanz zu Robbie Williams war, denn sie ist gerade in dem Moment zu Boden gegangen, als Williams »wirklich« (58) vor ihr erschien. Seine Präsenz und die Nähe, die plötzlich zwischen ihr und ihm entstanden war, übermächtigten sie körperlich (ihre »Knie haben versagt«, 59). So dokumentiert sich in Tinas Handeln einerseits ein Streben nach körperlicher Nähe zu Williams, das aber andererseits, auf die Spitze getrieben, »umkippte«, so dass ihr Körper sich in der Situation größter Nähe von alleine wieder von Williams entfernte (er »stand«, 58; sie »lag«, 59). Die Formulierung »ich lag dann so ihm zu Füßen« (59f.) ist dabei einerseits ganz konkret zu verstehen, doch Tinas lachend nachgeschobenes »sozu@sagen (.)@« (61) zeigt, dass sie auch die metaphorische Bedeutung bewusst zum Ausdruck bringt. Die Metapher verweist auf Bewunderung, Hingabe und die Bereitschaft zur Unterordnung. Auch hier kann man von einem Zauber sprechen, der von Williams auf Tina ausging: Es scheint eine Art Bannkreis um ihn herum gewesen zu sein, so dass Tina macht- und willenlos war, ihm auf Augenhöhe nahe zu kommen. Durch ihren Besuch bei Williams’ Haus hat Tina das Autoritätsbzw. Unterordnungsverhältnis, welches die vertikale Communitas prägt, gleichsam gebrochen: Williams stand »vor« (58) ihr, nicht über ihr (wie im Konzert). Tinas Umkippen sehe ich daher als eine selbstregulierte (Wieder-) Herstellung der Vertikalen in der Beziehung zwischen ihr und Williams. Tina rahmt diese Erzählung als ein erstes Treffen (51f.), stellt also die persönliche Beziehung zwischen sich und Williams wieder in den Vordergrund. Das Foto, welches sie hat machen lassen, festigt einen Eindruck, der in allen bisherigen Ausschnitten zu gewinnen war: Tina hält (Robbie Williams) fest. Und das Foto gibt genau Tinas zentrale Fan-Orientierung einer persönlichen Beziehung zum Star wieder, wenn es sie und Williams gemeinsam zeigt. Schließlich zeigt sich an dieser Stelle wieder, dass das Fan-Sein für Tina eine Peer-Aktivität ist, denn sie war mit einer Freundin bei Williams’ Haus. Allerdings steht Williams eindeutig im Zentrum ihrer Erzählung, die Freundin bleibt eine Nebenfigur. 65 66 67 134
und dann kam halt 97 sein Album raus und ähm da hab ich dann schon gemerkt oh das ist Brit-Pop, das gefällt mir musikalisch, //mhm// ähm und ja, ich möchte ihn auch auf
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Konzerten sehen und es ge- ähm ich weiß nicht also, ich weiß nicht ob das irgendwie war weil andere Leute das gemacht haben oder ob ich selber auf die Idee kam einfach mal ne Tour mitzumachen, einfach mal mehrere Konzerte hintereinander anzugucken, hinterher zu fahren, in den Hotels dann halt zu sein, ähm das weiß ich gar nicht genau, ob das jetzt meine Intention war oder die von anderen Leuten, wo ich einfach gesagt hab och wenn die das machen, kann ich das auch mal machen äh und ich weiß nicht, das hat sich dann so entwickelt, dass die Musik mir sehr sehr gut gefallen hat und er natürlich auch immer (.) er hat dann abgenommen, sah dann einfach sehr gut aus @(1)@ //mhm// ähm und ähm dann weiß ich nicht also dann das (.) 97 ja da kam das Album dann kam das nächste Album, und die Musik wurde irgendwie ähm also schon wichtig, aber es war natürlich immer es war für mich immer Robbie jetzt ge- äh gehört irgendwie zu mir dazu //mhm, mhm// also es ist halt irgendwie weiß ich nicht, er ist so Teil meines Lebens oder wie man das nennen will
Erst jetzt bekundet Tina explizit Gefallen an Williams’ Musik; in der Zeit vor dem 97er Album war sie lediglich an seiner Person interessiert. Im Grunde bleibt es aber auch weiterhin so: Die Musik ist eine (jetzt angenehme) Nebensache. Dies zeigt sich in dem vorliegenden Ausschnitt gleich mehrfach: Zwar gefällt ihr die Musik, aber sie will ihn auf Konzerten »sehen« (68) und nicht etwa hören; nicht nur die Musik hat ihr gefallen, sondern auch sein Aussehen (77-79). In Tinas Vorhaben, Robbie Williams eine ganze Konzerttournee lang zu begleiten, zeigt sich wieder ihr Streben nach körperlicher Nähe zu ihm. Denn Tinas Beschreibung dessen, was sie darunter versteht, eine »Tour mitzumachen« (71) macht deutlich, dass es ihr nicht eigentlich um das Musik-Ereignis während der Konzerte geht. Vielmehr beinhaltet eine Tour für sie genauso auch das Hinterherfahren (das, wie weiter unten deutlich wird, ganz konkret gemeint ist) und den Aufenthalt in den Hotels, in denen Williams während der Tournee unterkommt. Es ist bemerkenswert, dass Robbie Williams Tina erst jetzt auch ästhetisch gefiel. Ihre schon vorher entstandene emotional-begehrende Bindung an ihn hatte also weder mit seiner Musik noch mit seinem Aussehen etwas zu tun. In der theoretischen Selbstthematisierung (82-85), in der Tina darzulegen versucht, was das Wesentliche ihrer Beziehung zu Robbie Williams ausmacht (wenn es weder die Musik noch sein Aussehen sind), kann sie keine überzeugende Erklärung liefern. Es ist aber interessant, dass sie hier über den Rahmen ihrer Fan-Biographie hinausgeht und Robbie Williams zu einem festen Be-
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standteil ihrer Gesamt-Biographie erklärt, was zeigt, dass das Fan-Sein eine identitätsstiftende Funktion für sie hat. 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105
und ich hatte dann auch Phasen wo ich halt dann ähm also bei einem Ex-Freund von mir ein Jahr lang, also da hatte ich fast gar nichts mit ihm zu tun, //mhm// also da hab ich mal seine CDs gehört, das war’s aber auch, weil er da total gegen war, und das war für mich in dem Moment auch okay. //mhm// Weil ich dann auch zurückgesteckt hab und ähm dann hab ich glücklicherweise Mark kennengelernt, der glücklicherweise Robbie ja auch @gut fand@ oder findet und ähm das war halt natürlich alles wesentlich einfacher, weil man dann einfach gucken kann, dass man auf Konzerte geht, zusammen geht und einfach nicht das Problem hat dass er zu Hause, was ich von vielen kenne, sitzt //mhm// und irgendwie weiß oh mein Gott mein Freund sitzt da zu Hause und würd mich am liebsten lynchen dass ich jetzt bei Robbie bin //mhm// also wir haben auch teilweise (.) äh ich kenn ne Freundin von mir die darf ihrem Mann gar nicht sagen, dass sie irgendwie zu Robbie fährt, die muss sich immer Ausreden suchen, weil ihr Mann dann total eifersüchtig ist (.) und ähm das ist natürlich angenehmer, wenn man da jemanden hat, der da @(1)@ //mhm, mhm// einen unterstützt
Im Rahmen ihrer Gesamt-Biographie ist das Fan-Sein für Tina aber der partnerschaftlichen Beziehung nachgeordnet: Im Zweifelsfall entscheidet Tina sich für ihren Freund. Dass die Vereinbarkeit von Fan-Sein und Partnerschaft überhaupt als ein Problem gesehen werden kann, was offensichtlich eine konjunktiv geteilte Erfahrung unter ihren Fan-Freundinnen ist, geht nicht von Tina selbst aus, sondern wird von den männlichen Partnern an sie und ihre Freundinnen herangetragen. Aus Tinas Darstellung geht aber hervor, dass die Männer irren, wenn sie Williams als einen Konkurrenten empfinden (»total eifersüchtig«, 104f.), denn auch wenn Tina Williams als ihren »Liebling« (33) bezeichnet, so unterscheidet sie doch implizit zwei Formen der Beziehung: Die partnerschaftliche und die Fan-Star-Beziehung. Beide Formen scheinen verschiedene Funktionen für sie zu erfüllen, wobei aus Tinas Ausführungen allerdings nicht eindeutig zu rekonstruieren ist, wie diese Funktionen genau zu beschreiben wären. Es liegt aber die Vermutung nahe, dass die Bedeutung der Fan-Star-Beziehung in deren Verbindung mit den Peer-Aktivitäten liegt: die Fan-Beziehung zu Robbie Williams kann Tina mit ihren Freundinnen teilen, die zu ihrem Partner nicht. Mit anderen Worten: Die vertikale Communitas mit dem Star enthält die Möglichkeit zur Bildung einer horizontalen FanCommunitas. 136
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Bettina Fritzsche rekonstruiert in ihrer Untersuchung junger weiblicher Fans von Boy-Groups, dass das Fan-Sein für die Mädchen die Funktion der Einübung in das Geschlechterverhältnis hat. Denn die Fans können in eine äußerst intime Beziehung zu ihrem Star eintreten, ohne dabei die Verbindlichkeiten und Risiken einer ›echten‹ Partnerschaft eingehen zu müssen (vgl. Fritzsche 2003). Das hier dargestellte Interview mit Tina ist vergleichbar mit Fritzsches Arbeit, da Tina doch Fan eines (ehemaligen) Boy-Group-Stars ist und ihre Beziehung zu Robbie Williams als Begehrensverhältnis charakterisiert werden kann. Allerdings wird an diesem Punkt des Interviews deutlich, dass es bei Tinas Fan-Sein durchaus um mehr geht als um die Einübung in das Geschlechterverhältnis. Denn wäre dies die Hauptfunktion ihres Fan-Seins, so hätte Robbie Williams für sie an Bedeutung verlieren müssen, als sie eine ›reale‹ Partnerschaft einging. Doch gerade dies ist hier nicht der Fall. Tinas Hinweis auf das Hören der CD könnte in dem Sinne gedeutet werden, dass ihr die Musik doch wichtiger ist, als es zunächst scheinen wollte. Doch aus dem Zusammenhang geht hervor, dass Tina nicht eigentlich an der Musik interessiert war; vielmehr ist die Musik als ein Medium zu sehen, über das Tina mit Robbie Williams »zu tun« (88) haben und ihm damit also – trotz der vom Freund verordneten Distanz – nahe sein konnte. 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128
ich hab ja jetzt das neue Album gehört und das ist schon (.) es ist die Musik, es ist das ganze Drumherum wobei es mir persönlich inzwischen fa- alles zu fast ein bisschen zu viel ist, also ich würd mir ähm heutzutage einfach wünschen dass das alles wieder n bisschen runter geht, n bisschen kleiner, n bisschen sutcher wird, er vielleicht mal wieder Clubkonzerte gibt, //mhm// eben nicht mehr so bekannt ist und dass einfach nicht dieses (.) weil momentan hab ich das Gefühl, dass alle Welt (.) dass es cool ist, Robbie Williams toll zu finden, es ist einfach in, das ist so n Modebegriff, Robbie Williams-Fan, jeder nennt sich Robbie Williams-Fan und ähm (1) ich weiß nicht das ist dann einfach für mich so, dass ich dann denke wo waren die denn als er schlecht (.) Scheißmusik gemacht hat, wo @er@ scheiße aussah, wo er Drogen genommen hat, die sind alle da gekommen, wo er halt es dann geschafft hat, //mhm// so und jetzt ist natürlich schön Wetter, der Schön-Wetter-Robbie sozusagen, wie man @so sagt@ also er macht halt jetzt TopMusik, er hat Erfolg mit seiner Musik, er er sieht verdammt gut aus, er hat halt sein- seine ganze MarketingMaschinerie läuft, die Leute lassen sich davon berieseln und beeinflussen ähm und das ist halt einfach das was mich momentan also jetzt gerade wo auch sein neues Album 137
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rauskommt einfach °tierisch ankotzt° @(.)@ //mhm// dass ich mir echt so sage so nö also das ist (.) nö @(1)@ also weil das äh also ich mein wir haben ihn das ist jetzt total egoistisch aber wir haben ihn dahin gebracht wo er ist //mhm// und jetzt haben wir nichts mehr davon, natürlich wollten wir, dass er so viel Erfolg hat, natürlich //mhm// nur ist es halt jetzt so, dass ähm (.) letztendlich haben wir nur das Nachsehen, weil irgendwie alle Leute nachkommen und es immer mehr werden und es immer schwieriger wird irgendwie auf Konzerten in die erste Reihe zu kommen oder mal irgendwie einen Tag zu überleben ohne etwas über Robbie Williams in der Presse zu lesen @(.)@ und also da wünsche ich mir schon manchmal die älteren Zeiten auch zurück joa
Mit dem Hinweis auf das Album, welches kurz vor dem Interview veröffentlicht wurde, ist Tinas Erzählung in der Gegenwart angekommen. Zum Anstieg von Williams’ Berühmtheit hat Tina eine ambivalente Haltung. Einerseits ist sie frustriert darüber, dass Williams nun so viele Fans hat, denn dadurch entsteht eine Situation der Konkurrenz auf den Konzerten. Tina kann aufgrund des großen Andrangs ihr Streben nach Nähe zu Williams (»erste Reihe«, 138) kaum realisieren. Das massenhafte Streben der Fans, auf Konzerten möglichst weit vorne zu sein – welches auch der Grund dafür ist, dass viele Fans sich oft Stunden vor Einlass vor dem Eingang der Konzerthalle oder des Stadions einfinden –, führt zu einer bemerkenswert auf den Kopf gestellten Form von Communitas: Turner hatte doch Aspekte wie Harmonie, Frieden und Verbundenheit zwischen den Menschen in einer Communitas betont und soziale Struktur gerade im Hinblick auf deren prinzipielle Konkurrenzsituation gegen Communitas abgegrenzt. Zwar handelt es sich bei der Fan-Gemeinschaft um eine Gruppe von Menschen, die nicht durch institutionalisierte Statusunterschiede gekennzeichnet ist, so dass man von einer Fan-Communitas sprechen kann. Doch die spezifische Orientierung an körperlicher Nähe zum Star lässt das Moment der Konkurrenz gleichsam durch die Hintertür auch in diese Gemeinschaft eintreten. Tinas Ausführungen lassen eine Differenzierung der Fan-Gemeinschaft zwischen alten und neuen Fans erkennen. Den neuen unterstellt Tina, nur ein kurzlebiges und einseitig auf den Glanz ausgerichtetes Interesse an Williams zu haben (»Modebegriff«, 116; »Schön-Wetter-Robbie«, 122). Demgegenüber rechnet sie es sich selbst als Verdienst an, Williams auch in schlechten Zeiten, als er z. B. Drogen nahm, beigestanden zu haben – was allerdings stutzig macht, hatte sie doch oben behauptet, damals nichts von Williams’ Drogenpoblemen gewusst zu haben. Die Differenzierung der Fans in alte und
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neue kann auf der Ebene von Tinas argumentativer Logik nicht überzeugen.23 Allerdings verweist Tinas Differenzierung meines Erachtens auf einer anderen Ebene darauf, dass sie eine biographische Verbindung zwischen sich und Williams zieht, welche bei den neuen Fans nicht gegeben ist – sie und Williams sind gleichsam gemeinsam durch ›dick und dünn‹ gegangen, haben eine gemeinsame Geschichte – und daraus ein exklusives Anrecht auf ihn gegenüber den neuen Fans ableitet. An dieser Stelle wird auch klarer, was Tina in Zeile 43 damit gemeint hatte, sie wolle Robbie Williams »unterstützen«: Durch ihr Fan-Sein wollte sie Williams zu Ruhm verhelfen.24 Man könnte hier von einem Dienst am Idol sprechen. Für Tina steht es denn auch fest, dass sie tatsächlich für Williams’ momentanen Erfolg verantwortlich ist, wenn sie sagt: »wir haben ihn dahin gebracht wo er ist« (132). Dabei dokumentiert sich auch hier wieder Tinas Streben nach Reziproziät in der Beziehung zu Williams, denn sie hat den Anspruch, für diese Leistung noch immer etwas zurückzubekommen, nämlich auf Konzerten ganz vorne zu sein. Tinas Beziehung zu Williams enthält also ein Moment der Efferveszenz, der gegenseitigen Steigerung: er steigert ihre Gefühle, sie seinen Ruhm. Unter Rückgriff auf Durkheims Ausführungen zum Kultbegriff lässt sich hier durchaus von Star-Kult sprechen: Durkheim hatte als Merkmal des TotemKults in Australien herausgestellt, dass die Aborigines mit ihren Riten bezwecken, das Totem ihres Klans zu stärken, um dann wiederum selbst an der gestärkten Kraft des Totems teilhaben zu können. »Kult« lässt sich dementsprechend als ein ritueller »Austausch von Diensten« begreifen.25 Die Idee eines Austausches von Diensten lässt sich auch in Tinas Beziehung zu Robbie Williams rekonstruieren. So wie die Australier in ihren Riten immer wieder neue Lebenskraft tanken, scheint auch Tina Kraft aus den Konzerten von Williams zu ziehen (sonst würde sie nicht mit auf Tour gehen). Darüber hinaus hat das Totem auch eine identitätsstiftende Funktion für die Klanmitglieder – stürbe das Totem, so stünde auch der Klan vor der Auflösung, denn den Mitgliedern wäre ein zentrales Identifikationssymbol abhanden gekommen. Auch in diesem Sinne lässt sich die Parallele zu Tina ziehen. Denn 23 Allerdings wird hier, auch durch Tinas Wortwahl, noch einmal ganz deutlich, dass sie am Anfang ihrer Fan-Biographie keinerlei Wert auf die Qualität von Williams’ Musik oder sein Aussehen gelegt hatte (»Scheißmusik«; »scheiße aussah«, 119f.). 24 Aus einer anderen Stelle des Interviews geht hervor, dass Tina auch Williams’ Musik gekauft hat, um ihm zum Erfolg zu verhelfen (219-224): »Es war halt alles einfach zu groß, also gerade so Stadionkonzerte und so was, also wirklich, das freut mich ja für ihn, das ist ja nicht die Frage, das ist ja auch das, warum man seine CDs gekauft hat damals und ihn unterstützt hat, //mhm// das war ja damals eigentlich das Ziel, warum man das gemacht hat.« 25 Siehe dazu auch die Ausführungen auf Seite 58. 139
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für Tina hat Robbie Williams, wie bereits dargelegt, ebenfalls eine identitätsstiftende Funktion. Und hier wird schließlich ganz deutlich, welche Gefahr die neu hinzukommenden Fans für Tina darstellen: Ihre (massenhafte) Anwesenheit auf Konzerten droht, die gemeinsame Geschichte von Tina und Williams zu beenden. So ist es nur verständlich, dass sie sich nach den »älteren Zeiten« (141) sehnt. Am Ende ihrer Anfangserzählung kommt Tina schließlich noch auf den Internet-Fanclub zu sprechen, den sie zusammen mit einer Freundin gegründet hatte und in dem sie zur Zeit des Interviews noch immer eine leitende Position innehatte: 143 144 145 146 147 148 149 150 151
also bei mir ist es sicherlich jetzt mit dem Fanclub ((Schlucken)) einfach auch so, dass ich da eine Verantwortung sehe für mich also weil ähm einfach ich weiß dass tä- tagtäglich hunderte von Leuten bei uns auf der Seite sind //mhm// ähm und es natürlich schon schwierig ist, dass ähm dass man sich halt irgendwie informiert, und dass das jetzt alles aktuell bleibt und das Forum nicht unübersichtlich wird und so weiter und so fort
Es wirkt zunächst paradox, wenn Tina sich kurz zuvor über die Masse der anderen Fans geärgert hat und sich im nächsten Atemzug dann als um eben jene Masse von Fans bemüht darstellt. Der Schlüssel zur Deutung liegt meines Erachtens in dem Begriff der »Verantwortung« (145), der darauf verweist, dass Tina sich nicht einfach nur als ein Fan unter all jenen anderen sieht, die im Konzert um die »erste Reihe« konkurrieren, sondern darüber hinaus eine übergeordnete Funktion in der ›Organisation‹ der Fans für sich wahrnimmt. Tina ist innerhalb der Fan-Gemeinschaft in eine Position hineingewachsen, die ich als Elder-Fan bezeichnen möchte (auf den Prozess des Hineinwachsens gehe ich weiter unten noch näher ein). Als Elder werden hinsichtlich stammeskultureller Gemeinschaften diejenigen Personen bezeichnet, welche einen Initiations- oder Pubertätsritus durchlaufen haben und nun Verantwortung gegenüber jüngeren Individuen übernehmen, vor allem bei nachfolgenden Initiationen mitwirken (vgl. z. B. LaFontaine 1985: Kapitel VII). In dieser Position als Elder-Fan kann Tina nicht mehr so wie am Anfang ihre unmittelbaren Emotionen ausleben; der Begriff der Verantwortung verweist auf ein bestimmtes Maß an Disziplin (»schwierig...«, 148ff.) und damit auch an emotionaler Distanz gegenüber Themen, die auf Robbie Williams bezogen sind. Der Begriff der »Verantwortung« macht also darauf aufmerksam, dass Tina zur Zeit des Interviews emotional nicht mehr so sehr in ihr Fan-Sein für Robbie Williams involviert ist, wie sie es am Anfang ihrer Fan-Biographie war. 140
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Das Paradox löst sich also in der Vermutung auf, dass nicht mehr nur Robbie Williams eine identitätsstiftende Funktion für Tina hat, sondern auch ihre Arbeit als Elder-Fan im Fanclub. In dieser Einstiegspassage kann also bereits eine Entwicklungslinie in Tinas Fan-Biographie rekonstruiert werden, die vom emotional affizierten JungFan zum verantwortungsbewussten Elder-Fan verläuft. Im Folgenden soll dieser Verlauf noch weiter differenziert werden. Eine meiner immanenten Nachfragen an Tina bezog sich auf ihren Hinweis, sie habe sich auf »Tour« auch in den Hotels aufgehalten, in denen Williams jeweils übernachtete. Ich fragte Tina, ob sie mir davon noch mehr erzählen könne, woraufhin sie eine ganze Reihe von detaillierten Episoden berichtete, aus denen ich jene rekonstruiere, die sich auf ihren »Wunsch« beziehen, ein Autogramm von Williams zu erhalten. Denn hier kommen weitere Aufschlüsse über den Verlauf ihrer Fan-Biographie hervor. Vorweg fasse ich aber noch eine längere Erzählung zusammen, die Tina als ihr »absolutes Horrorerlebnis« (714) mit Robbie Williams rahmte: Als sie 1998 zum ersten Mal mit dem Auto dem Tourbus von Robbie Williams hinterherfuhr, ist sie so »dicht aufgefahren« (720), dass sie auf einer Raststätte schließlich nicht nur vom Busfahrer des Tourbusses, sondern auch von einem »Bandkollegen« und schließlich von Robbie Williams selbst »zusammengeschissen [wurde] vom Allerfeinsten« (728f.): »Also da ging dann gar nichts mehr, also da (.) ich saß nur noch im Auto und hab geheult, war völlig fertig, meine Freundin hat geheult, meine andere Freundin hat geheult, wir saßen wirklich nur (.) drei heulende Gören im @Auto@, völlig fertig, weil Robbie Williams uns zusammengeschissen hat.« Ich werte diese Erzählung nicht in voller Länge aus, weil es mir hier lediglich darauf ankommt, noch einmal zu vergegenwärtigen, was bereits weiter oben deutlich wurde: Tina ging während der Anfangszeit ihrer Fan-Biographie in ihrem Streben nach körperlicher Nähe zu Robbie Williams mitunter so weit, dass sie von ihm persönlich zu mehr Distanz aufgefordert wurde. Nicht nur, dass sie vor seinem Haus »umgekippt« war, sie wurde auch von Williams »zusammengeschissen«, was einen emotionalen Schockzustand bei ihr auslöste. Über die Jahre aber lernte sie sich gegenüber Robbie Williams zurückzuhalten, wie im Folgenden rekonstruiert wird. 765 766 767 768 769 770 771
ich hatte ihn dann ab und zu am Hotel, wenn er rausgekommen ist und so ähm //mhm// gesehen, in C-Stadt zum Beispiel, also da bin ich auch fast, ähm also wenn man mich da ge, also da war ich auch (.) nee da war ich noch @siebzehn@, muss ich zu meiner Verteidigung sagen und es war halt vor’m YZ-Hotel, da am X-Markt, und da gab’s halt, auf beiden Seiten standen Fans (.) und auf 141
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der einen Seite hat er Autogramme gegeben und auf der anderen nicht und ich stand natürlich auf der anderen Seite, wo er keine Autogramme gegeben hat. Und es war halt immer mein Ziel, ein Autogramm von ihm, also ich hatte ja schon n Foto mit ihm schon, und ich wollte halt immer ein Autogramm von ihm haben, unbedingt, von ihm. Und er kam halt partout nicht auf unsere Seite und ich bin also wirklich ((sie atmet tief durch)) ja, ein wenig durchgedreht, ich habe dann nachher noch n Laternenmast @umgetreten@, nein also der war (.) ich hab da so gegengetreten und der ist ein bisschen schief gegangen
Der Wunsch, ein Autogramm zu bekommen, hatte für Tina eine existentielle Bedeutung (»unbedingt«, 777) und war mit starken Emotionen besetzt, wie ihr Frust über das entgangene Autogramm zeigt. Das tiefe Durchatmen (778f.) verweist darauf, dass Tina auch während der Interviewsituation noch immer emotional in den Vorfall involviert ist. Andererseits bringt sie mit ihrem Lachen, aber auch mit ihrer »Verteidigung« (769) eine gewisse Distanz dazu zum Ausdruck, die darauf hinweist, dass sie sich jetzt nicht mehr so verhalten würde. Wie ist dieser hohe Stellenwert des Autogramms für Tina zu verstehen? Ich denke, der Wunsch nach einem Autogramm passt zu Tinas bisher rekonstruierter Fan-Orientierung, denn Tina geht es um die Person des Stars, körperliche Nähe zu ihm und eine Bindung an ihn. Ein Autogramm entspricht genau dieser Orientierung: Es ist sehr persönlich, es wird vom Star-Körper selbst hergestellt und man kann es behalten. Durch das Autogramm wird die Präsenz des Stars gleichsam eingefangen und festgehalten. Wenn Tina also in den Besitz eines Autogramms von Williams käme, könnte sie ihn in dieser Form ständig in ihrer Nähe haben. Etwas später fährt Tina fort, vom Autogramm zu erzählen, wobei sie in ihrer Fan-Biographie einen Zeitsprung von etwa vier Jahren macht (ich gebe allerdings erst die ›Vorgeschichte‹ wieder, in der noch nicht vom Autogramm die Rede ist): 793 794 795 796 797 798 799 800 801 142
aber das hab ich dann (.) haben wir dann auch entschädigt gekriegt als ich so 2001, das war so meine Abschlusstour, da war er halt in in A-Stadt, sind nach BStadt gefahren und von B-Stadt dann nach C-Stadt gefahren //mhm// und da dann immer die Konzerte gemacht und sind hinterher dann, abends halt weitergefahren und wir waren halt in C-Stadt und ähm da haben wir dann halt ähm nach dem Konzert sind wir dann hingefahren zu seinem Hotel, da waren wir auch schon den ganzen Tag gewesen und er kam halt an mit
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802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815 816 817
dem Tourbus und ähm wir waren da ne Truppe von dreizehn, vierzehn Leuten, und ähm äh ja alles irgendwie Fans, aber auch irgendwelche Leute, die da einfach hinterhergefahren waren und irgendwie //mhm// ja so ne gemischte Truppe also und er kam halt raus und plötzlich fingen die halt an zu laufen und ich rief dann nur Leute bleibt mal ruhig bleibt mal ruhig stehen, weil dann passiert ja auch was //mhm// weil wenn wenn man Robbie zu nahe kommt, dann macht er dicht, geht ins Hotel und dann war es das //mhm// ähm das haben die halt mitbekommen, sind alle stehengeblieben, ganz brav, ganz lieb, haben auf mich gehört ich war ganz baff @(.)@ ähm und er ist dann halt zu uns gekommen //mhm// und hat halt jedem die Hand geschüttelt, hat sich bedankt, gefragt wie wir das Konzert fanden und hmhm und dann hat irgendjemand gefragt ja können wir nicht n Gruppenfoto machen? Und dann haben wir n Gruppenfoto gemacht mit ihm
Tina stellt die Erzählung in den Zusammenhang ihrer »Abschlusstour« (795), und weist damit schon im Vorfeld auf eine kommende Veränderung ihrer Handlungspraxis hin. Ihr Begriff der »Entschädigung« (794) bezieht sich zwar noch auf den Frust über das entgangene Autogramm, doch Tina geht zunächst nicht auf das Autogramm ein, sondern erzählt von einer aufkommenden Efferveszenz unter Fans vor einem Hotel. Bemerkenswert ist dabei, dass Tina diese Efferveszenz selbst beruhigte. Und in dem, was Tina dabei den anderen Fans zurief, zeigt sich, dass sie über die Jahre ein bestimmtes Verhalten gegenüber Williams erlernt hat: Hatte sie anfangs zu wenig Distanz zu ihm gehalten, so war ihr inzwischen bewusst, dass zu viel Nähe genau zum Gegenteil dessen führt, was sie eigentlich wollte: »wenn man Robbie zu nahe kommt, macht er dicht« (809f.). Aufgrund dieser Einsicht disziplinierte sie nun ihren Körper (»ruhig stehen«, 808), über den sich vorher ihre Emotionen spontan ausgedrückt hatten (»umgekippt«, 58). Tina hatte also gelernt, ihrem Idol gegenüber Distanz zu halten. Mit diesem Wissen übernahm Tina in der geschilderten Situation Verantwortung unter den Fans, womit sie in doppelter Hinsicht Erfolg hatte: Erstens hörten die anderen Fans auf sie. Ihre Beschreibung des Verhaltens der Fans als »ganz brav, ganz lieb« (811f.) lässt diese wie Kinder oder Schüler erscheinen, die Tinas Autorität anerkannten. Tina hatte mit ihrem Verhalten also spontan eine neue Position unter den Fans eingenommen, die ich oben schon als Elder-Fan bezeichnet hatte. Diese Position war damals allerdings noch so neu für sie, dass sie selbst erstaunte. Zweitens behielt Tina Recht mit ihrer Prognose »dann passiert ja auch was« (808), denn Williams kam tatsächlich zu ihnen. Tina hatte es erreicht, durch das Einhalten einer gewissen Distanz Nähe zu Robbie Williams herzustellen. 143
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Nun kommt Tina wieder auf das Autogramm zurück: 830 831 832 833 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860 861
und am nächsten Tag war dann halt eben das, wo ich dann halt (.) wieviel Jahre meines Lebens? (.) acht Jahre meines Lebens drauf gewartet @hab (.)@ ähm da waren wir halt draußen, wir standen Spalier, wir waren halt nur fünf Leute, vier Freundinnen also ich und drei Freundinnen und noch n Koch aus’m Hotel @(1)@ wo wir waren, wir standen da wirklich Spalier vor dieser Tür und er kam raus, wir hatten jeder was in der Hand weil er halt drinnen schon was signiert hatte bei so’m äh Hausmädchen und dann haben wir gesungen wenn du uns heute kein Autogramm gibst dann gibt’s richtig Ärger //beide @(1)@// und dann hat halt jeder was in der Hand gehabt und dann jetzt muss er ja, er kann ja nicht Nein sagen //mhm// und dann kam er halt raus, kam sofort und fing sofort an zu signieren und es war echt so (.) das ist jetzt nicht wahr, oder? @(.)@ oh mein Gott @(.)@, das geht ja gar nicht, oh Gott, er signiert, er gibt Autogramme, weil Robbie und Autogramme, das passt eigentlich nicht so zusammen //mh// und ähm da haben wir dann alle unsere Autogramme gekriegt und bei mir war’s so, ich hatte halt das Foto von mir und ihm, was ich in E-Stadt damals gemacht hatte damals in 96 dabeigehabt und hatte glücklicherweise noch n zweites dadrunter, und das Problem war halt damals 96, was ich nicht wusste, zu dem Zeitpunkt, also jetzt im Nachhinein natürlich wusste ich es schon, war er total auf Drogen, war total auf Alkohol, war total aufgedunsen, das sieht man auf dem Foto auch, so’n bisschen sehr proper (.) praktisch, kompakt, prpraktisch gut, //mh// und er wollte es halt nicht signieren, weil es halt ne Zeit in seinem Leben war, wo er gesagt hat nee, möchte ich keine Erinnerung dran haben, möchte ich auch keine Fotos von sehen, und dann hab ich halt gesagt ja okay, darunter ist noch n anderes Foto
Die aus einem rituellen Kontext stammende Metapher des Spalierstehens verweist darauf, dass Tina die Szene als ein herausgehobenes Ereignis mit festlichem Charakter in Erinnerung hat.26 Tina war wieder einmal bezaubert von Robbie Williams. Diesmal, weil sie das langersehnte Autogramm tatsächlich 26 Dass sie beim Spalierstehen davon gesungen haben, dass es »richtig Ärger« (840) gibt, wenn er nicht signiert, verkehrt allerdings den Sinn des Spaliers – einer aus Menschen gebildete Gasse, durch die eine zu ehrende Person hindurchschreitet – insofern, als hier sie mit einem Autogramm beehrt werden wollen und ihn mit einer spielerischen Drohung dazu auffordern. 144
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bekam. Sie hielt dies gewissermaßen sogar für ein Wunder: Zweimal ruft sie Gott an (845, 846) und zweimal drückt sie aus, dass dies »nicht wahr« (845) sein könne bzw. dass das »gar nicht« ginge (845f.). An dieser Stelle des Interviews löst sich nun auch die Frage, weshalb Tina in Zeile 43-48 so unvermittelt auf Williams’ Rauschmittelsucht zu sprechen kam, betonend, dass sie von dieser Sucht nichts gewusst habe. Das Foto, welches sie von sich und Williams vor seinem Haus hat machen lassen, hat für sie eine große emotionale Bedeutung, wenn sie es von ihm signiert haben möchte. Die Tragik ist, dass dieses Foto Williams’ Ansicht nach genau jenes Problem offenbar macht, von dem sie damals noch gar nichts gewusst hatte, nämlich seine Sucht. Seine damalige Sucht, die damals »absolut nicht relevant« (47) für Tina war, bekam im Nachhinein und über einen Umweg zentrale Relevanz. Ihren emotional hoch besetzten Wunsch, genau dieses Foto unterzeichnen zu lassen, konnte sie nämlich wegen der Sucht nicht realisieren.27 861 862 863 864 865 866 867 868 869
und ähm es ist eigentlich immer noch mein Wunsch, dass ich irgendwann dieses Foto, dieses was ich von ihm das allererste (.) da noch’n Autogramm so als Abschluss, also das wär dann so die (.) Anfang und Ende //mhm// und das wär’s dann einfach //beide @(.)@// dann wär’s vorbei mit Robbie @(.)@, was ich mir einbilde aber was auch nicht geklappt hat weil ich mir auch gesagt hab auch wenn ich mein Autogramm hab ist alles vorbei, aber es ist nix vorbei
Tinas Wunsch, ein Autogramm zu bekommen, ist eigentümlicherweise mit dem Wunsch verbunden, ihr Fan-Sein für Robbie Williams zu beenden. Es scheint, als ob Tina inzwischen ihrer Bindung an Williams überdrüssig sei. Die Formulierung »nicht geklappt« (867) verweist auf eine gewisse Enttäuschung darüber, dass sie mit dem Autogramm auf dem alternativen Foto keinen »Abschluss« (864) ihres Fan-Verhältnisses zu Williams erreichen konnte. Ihre theoretischen Ausführungen hierzu lassen Ansätze eines magischen Weltverhältnisses erkennen.28 So schreibt Tina dem Autogramm eine kausale Wirkmächtigkeit zu, denn dieses soll in der Lage sein, sie von Williams loszubinden. Dabei wäre das Foto, trüge es tatsächlich Williams’ Unterschrift, symbolisch hoch beladen: In ihm wäre festgehalten, dass der Kreis von Tinas Fan-Biographie sich gleichsam geschlossen hätte und damit rund, vollkom-
27 In Tinas Beschreibung von Robbie Williams mit dem (leicht abgewandelten) Slogan eines Schokoladenherstellers (»kompakt, praktisch, gut«, 856) kommt noch einmal ihre Orientierung an einer begehrenden Beziehung zu ihm zum Ausdruck – Williams sieht für sie zum ›vernaschen‹ aus. 28 Vgl. den Abschnitt »Ritual und Magie« im Kapitel 1. 145
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men wäre (»Anfang und Ende«, 865). Da es Tina darum geht, Robbie Williams zu »nehmen«, ihn gewissermaßen in ihren Besitz zu bringen, so gibt ihr das Autogramm der Idee des pars pro toto entsprechend die Möglichkeit dazu: Es steht für den ganzen Robbie Williams. Die Idee, dass ein Teil für ein Ganzes steht, lässt sich auf das »Gesetz der Ideenassoziation« im magischreligiösen Denken zurückführen. Durkheim schreibt dazu: »Die Gefühle, die uns eine Person oder eine Sache vermitteln, breiten sich ansteckend von der Idee dieses Dinges oder dieser Person auf die Vorstellungen aus, die damit verbunden sind und damit folglich auf die Gegenstände, die diese Vorstellungen ausdrücken. Der Respekt, den wir für ein heiliges Wesen empfinden, geht auf alles über, was dieses Wesen berührt, auf alles, was ihm ähnlich ist und an es erinnert« (Durkheim 1994: 435).
Und nach Cassirer kennt das magische Denken nicht das Prinzip der symbolischen Stellvertretung, vielmehr sind Teil und Ganzes wesensgleich (vgl. Cassirer 1954: 39-78). Das Autogramm würde also Robbie Williams nicht nur repräsentieren, sondern sein ›Wesen‹ enthalten. Mit dem Autogramm wäre Tina in den Besitz des ›Wesens‹ von Robbie Williams gekommen, sie könnte ihn also jederzeit in ihrer Nähe haben – und bräuchte folglich nicht mehr hinter ihm her zu fahren. Es lassen sich also Ansätze eines magischen Weltverhältnisses bei Tina rekonstruieren. Gleichwohl gibt es auch einen gewichtigen Unterschied zur ›reinen‹ Magie. Dieser liegt darin, dass Tina sich nicht auf mystische Kräfte oder Wesen bezieht; das Autogramm enthielte zwar das ›Wesen‹ von Robbie Williams, hätte aber keinen Bezug zu einer transzendenten Welt. Statt von Magie zu sprechen, ziehe ich deshalb auch hier wieder den Begriff des Zaubers vor: Tina wünscht, sich mit einem Zaubermittel – dem Autogramm – von Robbie Williams loszubinden. Dieser Wunsch lässt aber auch den Umkehrschluss zu, dass Tina durch einen Zauber an Williams gebunden ist: Sie steht unter seinem Bann. Diese Überlegungen finden ihre Bestätigung in Tinas folgenden Ausführungen. Denn auch wenn Tina ihr eigentliches Ziel (die Signierung des ersten Fotos) nicht erreicht hatte, so ergab sich doch eine Veränderung ihres Handelns, nachdem sie das Autogramm bekommen hatte: 870 871 872 873 874 875 876 146
da hab ich dann irgendwie auch gemerkt, als ich das Autogramm hatte und d- da in C-Stadt war, das war für mich dann einfach so, mir war dann eigentlich (.) n ich selber war mir eigentlich relativ egal, sondern es war dann so (.) ich hab ja auch Mark dann kennengelernt und ähm, kurz danach, und hab einfach gemerkt dass meine Prioritäten sich verschoben haben, also mir war wichtig dass meine Freunde
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877 878 879 880 881 882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903 904
irgendwie, mir war auch wichtig Mark, als wir in K-Stadt waren, bei (.) im Stadion, wir waren halt in einem völlig anderen Hotel, normalerweise hätten wir uns in Robbies Hotel eingemietet, //mhm// wir haben uns dann in einem anderen Fünf-Sterne-Hotel eingemietet und hatten dann so’n sehr geiles Wochenende da, einfach so Luxus pur //beide @(.)@// ähm und ich hab halt nicht ich (.) wir saßen da den einen Abend an der Bar und haben auch mal die Band gesehen, aber Robbie halt nicht und ich wollte einfach nur dass Mark ihn mal kennenlernt, dass er das mitbekommt wie äh wie, also was mich ausmacht, wie verrückt ich bin oder wie bekloppt ich bin oder wie auch immer, was er dann natürlich auch so sagt //beide @(.)@// und ähm also wir sind dann auch den nächsten Tag, als wir dann, wir wussten, ne Freundin von mir rief dann an, ja Robbie fährt in ner halben Stunde weg, ich so ja ich sitz hier grad frühstücke, wir frühstücken erstmal und wir kamen an und alle waren weg schon, also wir waren halt zu spät, aber da hab ich halt gemerkt, also dieses K-Stadt-Konzert mit Mark war für mich schon so der Wendepunkt was das Hinterherfahren und so angeht, //mhm// also mal irgendwie mehr zu machen als ins Hotel zu gehen weil irgendwie weil ähm es war mir gar nicht wichtig, es war mir eigentlich völlig egal und ähm (.) es war mir egal, ob er weg war es war (.) ja schön und ich hatte n schönes Frühstück im XY-Hotel, ja toll, war viel besser @(.)@, und ich musste nicht um sieben aufstehen und mich da fünf Stunden in der Lobby hinsetzen und drauf warten dass irgendwas passiert
Tina argumentiert hier selbst, dass ihr Handeln sich verändert hat, wenn sie davon spricht, dass ihre »Prioritäten sich verschoben haben« (875f.) und dass hier ein »Wendepunkt« (895) ihrer Fan-Biographie zu sehen ist. Diese Argumentation korrespondiert mit dem, was sich aus ihrer Erzählung über ihr Handeln rekonstruieren lässt. Zwar bleibt sie Williams insofern treu, als sie weiterhin sein Konzert besucht. Doch Veränderungen zeigen sich darin, dass sie jetzt ihren neuen Freund dabei hat, und dass sie nicht in Williams’ Hotel wohnt. Und auch, wenn sie – zusammen mit dem Freund – an der Bar des Hotels war, so ging es Tina diesmal nicht darum, Williams nahe zu sein, sondern gewissermaßen sich selbst ihrem neuen Freund vorzustellen (»dass er das mitbekommt ... was mich ausmacht«, 886f.). Diese Stelle macht wieder die identitätsstiftende Funktion von Tinas Fan-Sein für Robbie Williams deutlich.29 29 Das, was sie »ausmacht«, versucht Tina in den Worten »verrückt« und »bekloppt« (887) zu fassen, was auf den irrationalen Charakter ihres Fan-Seins 147
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In der Erzählung vom gemeinsamen Frühstück mit Mark zeigt sich, dass Tina nun eine neue innere Freiheit in ihrem Verhältnis zu Williams erlangt hat. Sie ist in der Lage, sich Zeit für das Frühstück zu nehmen, ohne dem Zwang ihres Strebens nach Nähe zu Williams zu erliegen. Ich denke, dass sie ihrem vormaligen Verhalten im Nachhinein tatsächlich einen Zwangs- bzw. Suchtcharakter zuschreibt, wenn sie von »müssen« (902) spricht und das Sitzen in der Lobby zwar als ein erregtes Warten mit unbestimmtem Ausgang, aber vor allem als eine entbehrungsreiche (früh aufstehen) und unproduktive Tätigkeit (fünf Stunden sitzen) kennzeichnet.30 Hier bestätigt sich das oben Gesagte, nämlich dass Tina vorher von Williams verzaubert war, unter seinem Bann stand. Wie ist es aber zu dieser Befreiung von dem Bann gekommen? Tinas Darstellung verweist darauf, dass das Autogramm hier eine wichtige Rolle spielt, denn es markiert den Anfang eines Veränderungsprozesses: Erst bekam sie das Autogramm, dann lernte sie Mark kennen, dann veränderten sich ihre Fan-Praktiken. Dies lässt den Schluss zu, dass die Transformation, die Tina hier beschreibt, durch das Autogramm gleichsam ›ausgelöst‹ wurde. Im Rückbezug auf die vorangegangene Rekonstruktion wird nun deutlich, dass der Erhalt des Autogramms tatsächlich als eine Art Zauber-Akt zu bezeichnen ist, denn Tina wurde dadurch emotional von Williams losgebunden. Diese Losbindung ist allerdings unvollständig: Tinas Fan-Sein ist ja nun nicht völlig vorbei, sie geht weiterhin auf Konzerte, leitet den Fan-Club etc. Und doch hat sich ihr Fan-Verhalten entscheidend verändert. Es dürfte nun klar geworden sein, wie groß die Bedeutung von rituellen Handlungen für den Verlauf von Tinas Fan-Biographie ist: Sind ihre Emotionen für Robbie Williams durch die rituelle Aufführung des ersten Take ThatKonzerts wachgerufen worden, so sind sie durch den rituellen Akt des Signierens des Fotos wieder zurückgegangen. In beiden Fällen wurde also eine entscheidende affektive Transformation durch Rituale bewirkt. Da ich den Besuch des Take That-Konzerts als eine Ver-zauberung Tinas bezeichnet habe,
verweist, diesen aber der Common-Sense-Meinung von hysterischen Fans entsprechend abwertet, denn gerade der Begriff »bekloppt« hat eine abschätzige Konnotation. Tina übernimmt für sich diese Orientierung. Dass auch Mark »natürlich« (888) sagt, dass sie »bekloppt« ist, dokumentiert, dass diese CommonSense-Meinung sowohl von Tina als auch von Mark geteilt wird. 30 An anderer Stelle charakterisiert Tina auch das frühe Anstellen vor der Konzerthalle ganz ähnlich (271-278): »dass ich einfach entspannter werde, zum Beispiel in E-Stadt ich hätte mich locker nachts anstellen können, ich war nachts da //mhm// und hätte mich da hinstellen können und ich bin wieder ins Hotel gegangen, hab ausgeschlafen, hab gemütlich irgendwo im Hotel gesessen, bin irgendwann um vier Uhr da hingegangen //mhm// weil ich wenn ich eins nicht mehr ab kann ist das Stress...«. 148
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muss der Erhalt des Autogramms folglich als Ent-zauberung benannt werden: Tina hat sich dem Bann, unter dem sie lange Zeit stand, entziehen können.31 Bedenkt man, wie zentral Tinas Orientierung an einem Begehrensverhältnis gegenüber Robbie Williams war, so erscheint es geradezu folgerichtig, dass auf ihre Entzauberung von Williams der Beginn einer Liebesbeziehung folgt, für die Tinas Fan-Sein kein Problem darstellt. Sie musste sich erst von dem Star losbinden, um eine tragfähige ›reale‹ Beziehung eingehen zu können. An einer anderen Stelle des Interviews zeigt sich auch, wie Tina selbst merkte, dass sich ihr Begehrensverhältnis gegenüber Robbie Williams mit der Zeit aufgelöst hatte. Sie erzählt dort von einem Konzertbesuch im Jahr 2003: 205 206 207 208 209 210 211 231 232 233 234 235
ich war halt auch ähm (1) 2003 auf der Tour auf m Konzert und ich hab wirklich nach dem Konzert gesessen und hab geheult //mhm// weil für mich einfach der Funke nicht übergesprungen war (.) also ich stand halt auf diesem Konzert, ich stand erste Reihe, und eigentlich hatte man alles, was man haben wollte, Robbie direkt vor der @Nase@ und es war für mich wirklich (.) ich hab mich gelangweilt auf diesem Konzert […] ich glaub ich hab in dem Moment dann einfach auch gemerkt okay, du bist erwachsen geworden (.) es gehört dazu, @(.)@ also dass es eben jetzt nicht mehr der Mann Robbie Williams ist, wo du stehst und denkst oh mein Gott ich sabber mir jetzt hier die Seele aus dem Leib und denk oh mein Gott, das ist der geilste Mann von der Welt
Der Konzertbesuch löste bei Tina eine Krisenerfahrung aus, in deren Folge sie, wie sie »glaubt« (231), über die Veränderung ihrer eigenen Fan-Orientierung reflektierte. Es soll hier nicht interessieren, ob sie damals tatsächlich in der hier dargestellten Form über sich nachdachte. Entscheidend ist vielmehr, dass sie in der Rückschau eine Veränderung in ihrem Begehrensverhältnis gegenüber Williams feststellt, welche sie an der Krisenerfahrung des Konzerts festmacht. Hatte Tina den Anfang ihres Fan-Sein auf den Beginn ihrer Adoleszenz gelegt (»noch Kind, Teenager gerad dazwischen«, 6), so markiert das hier angesprochene Konzert gleichsam das von ihr bewusst wahrgenommene Ende der Adoleszenz (»du bist erwachsen geworden«, 232). Die Worte, die sie hier wählt, machen dabei noch einmal in drastischer Weise ihr damaliges Begehren gegenüber dem Star deutlich (234f.). Abschließend gehe ich noch einmal auf Tinas Fan-Orientierung ein, wie sie sich zur Zeit des Interviews zeigt. Hatte Tina in der Anfangserzählung lediglich im Zusammenhang mit der Internet-Seite von ihrer Verantwortung gegenüber anderen Fans gesprochen, so kommt diese Verantwortung im 31 Der Begriff der Entzauberung meint hier allerdings etwas ganz anderes als bei Max Weber. 149
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Nachfrageteil aus einer weiteren Perspektive in den Blick. Sie berichtet hier von einem Konzert, welches kurz vor dem Interview stattgefunden hatte. 422 423 424 425 426 427 428 429 430 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442
als wir in in F-Stadt warn auf dem Konzert, hatten wir halt so Pässe und so Armbänder verteilt und ich hab dann nachher dann bei »Angels« haben wir halt gesagt dann macht diese (.) also so Knicklichter //mhm// halt macht die an und dann stand halt vorne in der ersten Reihe stand dann so’n Trüppchen von fünf sechs Leuten //mhm// und ich hab wirklich Gänsehaut gekriegt weil ich wirklich dann dachte oh mein Gott (.) die sind also (.) das ist dein Werk //beide @(.)@// so mal krass gesagt //ja// und es war halt auch so bei »Findet Nemo« da standen wir dann halt also wir hatten dann so Schilder für Robbie immer, wo dann drauf stand ((Name des Fanclubs)) und wir standen halt bei (.) in F-Stadt bei »Findet Nemo« bei der Premiere und hatten diese Schilder halt und wir waren halt, wir durften halt rein und es war wirklich so wie Stars auf’m roten Teppich sind wir da längsgegangen und die standen halt da mit diesen Schildern und ich hab also wirklich (.) ganz arg äh also Herz in die Hose und äh Tränen in die Augen und es war wirklich total krass, weil also dieses Gefühl einfach, dass du weißt, das was du gemacht hast wird so angenommen
Diese Erzählung dokumentiert eine gewandelte Fan-Orientierung bei Tina, die ganz ihrer Rolle als Elder-Fan entspricht. Tina ist auf dem angesprochenen Konzert zwar wieder auf spontane Weise emotional involviert (»Gänsehaut«, 428), doch ihre Emotionen werden nun nicht mehr von Robbie Williams hervorgerufen, sondern durch die Reflexion über ihr eigenes »Werk« (430). Dieser Begriff kann dabei auf zwei Ebenen gedeutet werden: Zum einen kann die weithin sichtbare Performance der Fans ihres Fanclubs direkt als ein »Werk« angesehen werden. Da diese Aufführung eine Performance (des Fanclubs) in der Performance (aller Teilnehmer) ist, gestaltet sie das Konzert mit – Tina leistet also, vermittelt über die Fans ihres Fanclubs, einen Beitrag zu dem Gesamt-»Werk« des Robbie Williams-Konzertes. Zum zweiten kann aber auch der Fanclub selbst als ein »Werk« gedeutet werden. Aus dieser Perspektive vergegenwärtigte die Fanclub-Performance Tina ihre soziale Wirkung: durch ihre Aktivität im Fanclub hat sie andere Fans zusammengeschweißt und damit eine Gemeinschaft bzw. Communitas geschaffen. Der Begriff »Truppe« bzw. »Trüppchen« (427) verweist auf einen engen Zusammenhalt in einer Gruppe von Menschen, was den Begriff der Communitas durchaus rechtfertigt. 150
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
Tina stand offensichtlich nicht in der ersten Reihe bei dem Konzert, sonst hätte sie das Schauspiel ihres eigenen »Werks« (430) gar nicht haben können (an anderer Stelle sagt sie, sie sei auf dem Rang gewesen). Dass sie sich weiter hinten befand und damit auch körperlich Distanz zu Williams hielt, ist für sie nicht mehr problematisch, weil sie inzwischen einen anderen Aufmerksamkeitsfokus hat: Nicht mehr Williams, sondern ihr Fanclub ist von zentralem Interesse. In der anschließenden Erzählung von der Premiere des Films »Findet Nemo« richtet Tina sich dann auf die privilegierte Stellung des Fanclubs (»wir durften halt rein«, 436). Tinas Vergleich der Fanclubmitglieder und ihrer selbst mit »Stars auf’m roten Teppich« (436f.) verweist dabei auf eine herausgehobene, rituelle Situation: Der Fanclub hat Zutritt zum Allerheiligsten bekommen. Der rote Teppich kann als ein sakraler Ort angesehen werden, den Uneingeweihte nicht betreten dürfen. Auch diese rituelle Handlung bewirkt wieder eine starke Intensivierung von Tinas Gefühlen, wobei Tinas Aufmerksamkeit auch hier wieder auf den eigenen Fanclub ausgerichtet ist: Tina wurde in diesem Moment der Erfolg ihrer Tätigkeit im Fanclub bewusst. Zudem machte ihr die Situation deutlich, dass sie von den Fanclubmitgliedern als Elder-Fan anerkannt wird. In einer weiteren immanenten Nachfrage bat ich Tina, mir noch mehr von Fantreffen zu erzählen, die sie im Rahmen ihres Fanclubs durchgeführt hatte. Sie ging dann näher auf ein Treffen ein: 552 553 554 555 556 557 558 559 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571
also ähm wir haben letztes Jahr in B-Stadt das erste große gemacht, wir haben schon kleinere gemacht, mal in AStadt getroffen, mal hier in D-Stadt haben wir uns getroffen, //mhm// und da haben wir halt irgendwann mal gesagt wir müssen uns einfach mal deutschlandweit treffen und haben uns dann halt in G-Stadt getroffen und haben halt nen (.) so ne Bar gemietet oder halt einfach reserviert gehabt so für’n ganzen Abend, haben halt DVDs laufen lassen, ähm hatten ganz viel netterweise super superviele Sachen von der Plattenfirma gekriegt, //mhm// von Postern über Pappaufsteller, über (.) also diese Bar war Paris- das Paradies eines Robbie-Fans, //@(.)@// ähm und haben dann halt, also da haben sich alle getroffen und dann haben wir halt alle noch ihr Nickname gekriegt, so’n Pass, und dann hat jeder noch ne (.) weil wir so verschiedene Sachen gekriegt hatten von der Plattenfirma so ne Promo-CD bekommen und ne Promo-Mappe und noch noch Postkarten, also wirklich die war ausgestattet bis zum Umfallen und ähm dann haben wir wie gesagt die DVD geguckt und dann gab’s halt n Menü, also ich hab von dem Abend auch nicht viel mitbekommen, weil ich 151
ROCK UND POP ALS RITUAL
572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590
so aufgeregt war, ich war so °cho° ich war völlig fertig mit den Nerven, das ging @alles an mir vorbei@ //mhm// und dann haben wir irgendwann ne Tombola gemacht, auch alle getan oh mein Gott, und ja tolle Sachen und och wie schön ((hoch gesprochen)) und das sind also (.) dann warn wir irgendwann um der harte Kern irgendwann um drei oder so glaub ich sind wir dann gegangen //mhm// ein Abend mit sehr viel Alkohol //(beide) @(.)@// und das war das war schon echt cool, also weil da halt auch ältere warn und das war auch schon interessant die die ähm Person hinter dem Nickname zu sehen //mhm// weil also das ist teilweise schon so wo du halt denkst okay, die heißt jetzt so und so, da muss die ja ungefähr so und so aussehen, und dann siehst du sie und denkst so okay, sie sieht überhaupt nicht so aus, //mh// wie du dir @vorgestellt hast (.)@ ähm und das ist halt schon ganz witzig so also wie du (.) wie die Leute halt drauf sind und das ist also und man merkt halt richtig es haben sich Freundschaften gebildet auch //mhm// und das ist halt etwas, was ich auch echt superklasse finde
Tina erzählt hier von einem (be-)rauschenden Fest, dessen explizites Ziel es war, die Internet-Gemeinschaft körperlich zusammenzubringen. Die Metapher: »das Paradies eines Robbie-Fans« (562f.) verweist auf eine Erfahrung der Vollkommenheit des Festes. Darüber hinaus bringt der Begriff des Paradieses die Vorstellung von Communitas als einer sozialen Welt ohne Konflikte zum Ausdruck (vgl. Turner 1974c: 237). Interessanterweise kennzeichnet Tina gerade eine Situation mit dieser Metapher, in der sich zwar alles um Robbie Williams drehte, dieser aber nur durch mediale Repräsentationen anwesend war. Dagegen kam in Situationen, wo Williams körperlich anwesend war, diese Communitas-Vorstellung bei Tina nicht zum Ausdruck. Ich denke, dies lässt sich darauf zurückführen, dass viele Fans eine Orientierung haben, die auf die körperliche Nähe zu Williams ausgerichtet ist. Ist Williams also selbst anwesend – z. B. im Konzert –, so werden andere Fans zu potentiellen Konkurrenten um diese Nähe. Ist er nur indirekt, durch Repräsentationen anwesend, so entfällt diese Situation der Konkurrenz und es kann ein »Paradies« entstehen. Es ist bemerkenswert, dass Tina ausschließlich von weiblichen Personen spricht, die an dem von ihr geschilderten Treffen teilgenommen haben. Männliche Fans kommen in ihrer Darstellung gar nicht vor, so dass darauf zu schließen ist, dass entweder nur wenige oder keine Männer dort waren oder, wenn welche dort waren, diese für sie keine Bedeutung hatten. Da sie aber in anderen Passagen auch nur von Freundinnen berichtet und ihrer Darstellung nach Männer eher ein problematisches Verhältnis zu Robbie Williams haben, 152
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ist davon auszugehen, dass tatsächlich vor allem Frauen dort waren. Das FanSein für Robbie Williams erscheint hier als eine rein weibliche Kultur (vgl. dazu auch Fritzsche 2003). Nun noch einmal zu Tinas Perspektive: Sie trug Verantwortung für das Treffen und war dementsprechend »völlig fertig mit den Nerven« (572f.). Wieder zeigt sich also ihre Position als Elder-Fan. Und in diesem Sinne kann sie es sich wiederum als ihr »Werk« anrechnen lassen, dass »Freundschaften« (589) unter den Fans entstanden sind, dass sich also während des Festes eine Fan-Communitas gebildet hat.
Tinas Fan-Biographie im Überblick Nachdem ich nun Tinas Fan-Biographie en détail rekonstruiert habe, werde ich im Folgenden deren Verlauf im Überblick rekapitulieren und aus ritualtheoretischer Perspektive reflektieren. Tinas Interesse für Robbie Williams bzw. Take That begann im Alter von 13 Jahren mit einer Bezauberung durch einen Fernsehauftritt der Band. Es folgte mit 14 Jahren der erste Konzertbesuch, bei dem Tina eine Verzauberung erfuhr. Mit 16 Jahren besuchte sie Williams’ Haus, wobei sie »ihm zu Füßen« fiel. Ein Jahr später begann sie dann, Robbie Williams auf Touren zu folgen, wobei sie noch im selben Jahr vor Wut, dass sie kein Autogramm bekommen hatte, gegen einen Laternenmast trat. Wiederum ein Jahr später, Tina war 18, fand das »absolute Horrorerlebnis« statt, als Tina zu eng auf den Tourbus von Williams auffuhr. Als Tina schließlich 21 Jahre alt war, erfuhr sie durch den Erhalt des Autogramms eine Entzauberung. Ab dieser Zeit übernahm sie dann vermehrt Verantwortung als Elder-Fan in der Fan-Gemeinschaft. Es bietet sich an, diesen Verlauf in verschiedene Phasen zu teilen: Als erste Phase kann die Zeit vom ersten Fernsehauftritt, den Tina gesehen hatte, bis zum ersten Take That-Konzert, das sie besuchte, gesehen werden. Tinas eigener Aussage folgend »kam dann alles« mit diesem Konzert: Ein exzessives Fan-Leben mit Besuchen beim Haus des Stars etc., das erst endete, als Tina das Autogramm erhielt. Die Zeit vom ersten Konzertbesuch bis zum Erhalt des Autogramms sehe ich deshalb als eine zweite Phase an. Es folgt schließlich die dritte Phase, in der Tina sich aus Williams’ Bann gelöst hat und ihre Aufgabe als Elder-Fan im Fanclub sieht. Diese Phase reicht bis zum Zeitpunkt des Interviews. Wenn man nun noch bedenkt, dass entscheidende Wendepunkte in Tinas Fan-Biographie durch rituelle Handlungen hervorgebracht wurden – das erste Konzert und das Autogramm –, so bietet es sich an, van Genneps Drei-StufenModell der Übergangsriten auf Tinas Fan-Biographie zu übertragen (wobei
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ROCK UND POP ALS RITUAL
das Modell etwas modifiziert werden muss):32 Die Verzauberung Tinas entspricht dabei den Trennungsriten bei van Gennep, die Entzauberung den Angliederungsriten. Die Zeit dazwischen bezeichne ich als liminoide Phase, weil sie an die liminale Phase in traditionellen Jugendritualen erinnert: Dort geht es um die Einführung der Jugendlichen in die traditionelle geschlechtliche Rolle, wobei zeitweilige sexuelle Zügellosigkeiten erlaubt sind – bei Tina geht es um das aufkeimende Begehren, wobei sie sich in ihrer Beziehung zu Williams »die Seele aus dem Leib sabberte«; dort entsteht eine horizontale Communitas der Initianden – Tina erfährt eine horizontale Communitas der Fans; dort wird auf magische Weise eine vertikale Communitas mit ihren Idolen hergestellt – Tinas Beziehung zu Williams kann als eine säkulare Form vertikaler Communitas bezeichnet werden. Wenn man nun noch bedenkt, dass Tina vor der Verzauberung eine mediale Bezauberung erfuhr, so lässt sich die Fan-Biographie im Anschluss an das oben dargestellte Modell von van Gennep wie folgt abbilden:
t
Bezauberung Verzauberung █ █
Alter:
13
liminoide Phase
14
Entzauberung █ 21
Es ist deutlich geworden, dass Tinas Fan-Biographie eng mit der Adoleszenzthematik verbunden ist: Begehren und Ablösung von den Eltern bzw. Suche nach einer Peergroup. Das Fan-Sein ist also insofern funktional, als Tina ihre Adoleszenz-Entwicklung damit (rituell) bearbeiten kann. Oder, wie Ralf Bohnsack es in der Forschungswerkstatt sinngemäß sagte: Es ist hier mitnichten so, dass der Star den Fan funktionalisiert, wie hinsichtlich der Fan-StarBeziehung vielfach behauptet wird; vielmehr ist es umgekehrt: Tina funktionalisiert Robbie Williams für ihre eigenen Entwicklungsschritte.
Sarah, Fan von Kurt Cobain Sarah ist zur Zeit des Interviews am 10.02.2006 26 Jahre alt. Sie hat Theaterwissenschaften studiert und arbeitet als freiberufliche Regisseurin. Sie ist deutsch und evangelisch, als Berufe der Eltern gibt sie »Dipl. Mathematiker« sowie »Steuerberatergehilfin und Sekretärin« an. Ich hatte Sarah auf einer kleinen privaten Party kennen gelernt, bei der ich mit ihr ins Gespräch kam und sagte, dass ich Interviews mit Fans von Rockund Popstars mache, woraufhin sie gleich zu erzählen begann, dass sie Fan von Kurt Cobain gewesen sei und sein Selbstmord sie damals sehr betroffen gemacht habe. Zehn Jahre nach Cobains Tod habe sie eine Theateraufführung 32 Vgl. Seite 47. 154
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über ihn inszeniert, was für sie sehr wichtig gewesen sei; seitdem könne sie auch erst wieder offen mit anderen über das Thema reden. Sie erklärte sich bereit, ein Interview mit mir zu machen, so dass wir uns knapp zwei Wochen später bei ihr zu Hause verabredeten. Auf meine Eingangsfrage, ob sie mir erzählen kann, wie ihr Interesse für Kurt Cobain bzw. Nirvana angefangen und sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, begann Sarah zwar immer wieder mit Pausen zum Nachdenken, aber doch so flüssig zu erzählen, dass ich nicht viele Nachfragen stellte. Das Interview dauerte etwas mehr als 90 Minuten.
Bemerkungen zu Kurt Cobain Die aus Seattle stammende Gruppe Nirvana mit ihrem Leadsänger Kurt Cobain (1967-1994) gilt als eine der führenden Bands des Anfang der 1990er Jahre entstandenen Musikstils »Grunge«. Diese Richtung verband Elemente des Punk und der Rockmusik der 1970er Jahre und brachte einen damals verloren geglaubten rebellischen Impuls in die populäre Musik zurück: »Grunge war zum einen Reaktion auf die in langweiligen Posen erstickte Rockmusik und die Überpräsenz elektronischer Musik in den 80er Jahren und zum anderen eine Reaktion auf die sich verschlechternden Lebensbedingungen in den USA« (Huppert 2005: 72). Das rebellische Image kultivierte die Band nicht nur mit ihrer rohen Musik, sondern auch durch ihr provozierendes Auftreten. So zerschlugen sie bei zahlreichen Konzerten ihre Instrumente und drückten immer wieder ihre Verachtung gegenüber der Musikindustrie und dem Publikum aus. Cobain versuchte, sich gegen die ihm von den Fans entgegengebrachte Starverehrung zu wehren, allerdings ohne Erfolg. Das 1991 veröffentlichte Album »Nevermind« mit dem Hit »Smells like Teen Spirit« brachte der Band den internationalen Durchbruch. Im April 1994 allerdings erschoss sich der schwer drogenabhängige Cobain mit einer Schrotflinte, was einerseits die Hochzeit des Grunge beendete, zum anderen aber auch zu einer verklärenden und idealisierenden Mythenbildung um Cobain führte (zu Nirvana und Cobain siehe auch Cross 2002).
Sarahs Fan-Biographie In ihren Ausführungen, die direkt auf die Einstiegsfrage folgen, geht Sarah nicht streng chronologisch vor, sondern ›springt‹ teilweise zwischen verschiedenen Zeitphasen. Ich werde dieser Darstellung weitgehend folgen. Sarah beginnt ihre Erzählung wie folgt: 5 6 7
Angefangen hat es ähm (3) keine Ahnung, da war ich dreizehn oder vierzehn und ähm es gab dies- dieses Lied, was halt irgendwie megabekannt war, 155
ROCK UND POP ALS RITUAL
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»Smells like Teen Spirit« und dann weiß ich noch, war ich mit meiner Schwester, die sechs Jahre älter ist im Karstadt und wir haben das Album gekauft auf äh Vinyl. //mhm// Und dann bin ich auch total stolz damit nach Hause gelaufen; und (.) so richtig Fan konnte man ja von denen erstmal nicht sein, weil keiner wusste was über die und dann waren die ja auch irgendwie so ungewaschene Jugendliche so (.) und dann habe ich aber immer diese Platte gehört, und hab mir aber nicht mehr wirklich viele Gedanken dadrüber gemacht (.)
Wie Tina verortet auch Sarah den Anfang ihres Interesses für die Rockstars in der Zeit ihrer Adoleszenz. Und wie Tina kommt Sarah medial mit der Band in Kontakt. Allerdings ist für Sarah dabei nicht das Fernsehen, sondern der Tonträger das zentrale Medium. Bezüglich des musikalischen Werkes zeichnet sich bereits hier bei Sarah eine andere Orientierung ab als bei Tina: War für Tina die Musik im Grunde egal, so bedeutet Sarah schon allein der Besitz der Platte sehr viel (sie ist »total stolz« darauf, 11). Zudem dokumentiert sich, dass die Praxis des Musikhörens für Sarah zentral war – von der war bei Tina überhaupt nicht die Rede. Während Tina ihr Interesse für Take That im Rahmen der Peergroup mit jemand anderem teilt (die Freundin überspielt ihr eine CD), ist bei Sarah, zumindest anfänglich, ein familiärer Bezug zu erkennen (ihre Schwester geht mit ihr die Platte kaufen). In der unvermittelt auftauchenden Argumentation (11-14), in der Sarah die Möglichkeit in Frage stellt, dass man zum damaligen Zeitpunkt »richtig Fan« (12) von Nirvana sein konnte, dokumentieren sich weitere Unterschiede zwischen Sarahs und Tinas Fan-Orientierungen. Schon dass Sarah überhaupt über dieses Thema reflektiert, unterscheidet sie von Tina, die sich diese Frage gar nicht gestellt hatte. Bei Sarah deutet sich hier ein gebrochenes Verhältnis zum Fan-Sein an, das im weiteren Verlauf des Interviews noch klarer hervortreten wird. Zudem: War für Tina die attraktive äußere Erscheinung der »netten Typen« von Take That wichtig gewesen, so hebt Sarah genau das Gegenteil hervor, wenn sie Nirvana als »ungewaschene Jugendliche« (14) bezeichnet. Die Band Nirvana wirkt, indem Sarah gerade deren ungepflegte äußere Erscheinung erwähnt, wie ein Gegenmodell zu Take That, zumindest so wie Tina diese darstellt. Dieser Charakter des Gegenmodells, den Nirvana in Sarahs Darstellung bekommt, wird aber auch schon in der Unmöglichkeit, Fan sein zu können, deutlich: Die Common Sense-Vorstellung von Rock- und Popbands beinhaltet ja die ›Fan-Gemeinden‹, die zu den Bands gewisserma-
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ßen untrennbar dazugehören. Sarah verweist aber gerade darauf, dass Nirvana dieser Vorstellung nicht entsprachen.33 17 18 19 20 21 22
ich weiß es gab dann diese Tour, da wollte ich unbedingt hin, aber war ja eigentlich noch viel zu klein um irgendwie allein auf so’n Konzert zu gehen von Leuten, die irgendwie ständig ihre Gitarren zertrümmern und so @(.)@ und ich hab halt unheimlich viel MTV geguckt und da waren die eben //mhm// die ganze Zeit (.) ja (.)
Das Konzert kommt bereits jetzt, als ›zweite Station‹, in Sarahs Erzählung über die Entwicklung ihres Interesses für Nirvana zur Sprache, was auf den hohen Stellenwert des Konzerts für Sarah hinweist. Das Wort »unbedingt« (17) bestärkt diese Deutung; zudem bekommt der Wunsch, Nirvana live zu sehen, durch dieses Wort eine existenzielle Dimension. Im Vergleich mit Tina wird deutlich, dass der Konzertbesuch für beide eine zentrale Rolle spielt. Allerdings deutet sich schon hier an, dass Sarah Nirvana nicht live gesehen hat. Deshalb kann das Konzert für sie letztlich auch nicht wie bei Tina eine Verzauberung hervorrufen. Zwar hat Sarah Nirvana auch medial rezipiert, dieser Rezeptionsform kommt jedoch ein geringerer Stellenwert zu als dem Wunsch, die Band live sehen zu können. Mehr noch: Indem Sarah den Hinweis auf das Fernsehen dem nicht erfüllten Wunsch, auf das Konzert zu gehen, direkt nachschiebt, wirkt es so, als sei die mediale Rezeption ein Ersatz für die eigene Teilnahme am Konzert. In der Hintergrundkonstruktion, in der Sarah den Grund dafür angibt, weshalb sie nicht auf dem Nirvana-Konzert war, dokumentiert sich wieder der Gegenmodell-Charakter der Band, denn Sarah hebt die von Nirvana auf Konzerten demonstrativ zur Schau gestellte, aggressive Destruktivität hervor (»Gitarren zertrümmern«, 20). Für Sarah lag das Faszinierende der Band also darin, dass diese, indem sie das Rohe, Destruktive und Ungepflegte inszenierte, ein Gegenmodell zur bürgerlichen Welt zum Ausdruck brachte. Im Vergleich von Sarah und Tina kann nun eine wichtige Unterscheidung getroffen werden (wobei nun auch hinsichtlich Tinas sozialer Orientierung eine Differenzierung möglich wird). Als ich bei Tina den Begriff der Communitas verwendete, so bezog sich dieser auf die unmittelbare Erfahrung von Gemeinschaft, beispielsweise im Konzert oder beim Fantreffen. Sarah dagegen orientiert sich primär an der von Nirvana in den symbolischen Inszenierungen 33 Dieser Unterschied wird, unabhängig von den Aussagen der beiden Interviewees, auch in den Namen der Bands deutlich. Bei »Take That« geht es darum, etwas zu nehmen, also als Fan die Stars zu nehmen. Das »Nirvana« hingegen lässt sich nicht nehmen, es ist vielmehr als das Gegenmodell zur Existenz schlechthin anzusehen. 157
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ausgedrückten gegenbürgerlichen Welt. Für sie hat die soziale Haltung, für die Kurt Cobain steht, zentrale Bedeutung. Insofern bezieht sich Sarahs soziale Orientierung auf eine ideelle Communitas. Die Band Nirvana passt hier durchaus in das Bild, welches Turner schon Anfang der 1970er Jahre von der Rockmusik gezeichnet hatte.34 Im Gegensatz zu Sarah spielt die soziale Haltung für Tina keine Rolle. Sie orientiert sich nicht an einer ideellen, sondern an einer unmittelbaren Communitas. In diesem Sinne repräsentiert Nirvana für Sarah Anti-Struktur. Die von der Band aufgeführten Aggressionen kontrastiert Sarah damit, dass sie selbst »noch viel zu klein« (18) dafür gewesen sei. Worauf sich dieses »klein« genau bezieht, wird an dieser Stelle allerdings nicht deutlich. Da Sarah hier nicht weiter auf die angesprochene Tour bzw. das Konzert von Nirvana eingeht, sich aber bereits gezeigt hat, wie wichtig dieses Thema für sie ist, werde ich eine Passage aus dem Nachfrageteil einfügen, die sich auf den Konzertbesuch bezieht. Auf meine immanente Nachfrage, ob sie schon mal auf einem Konzert der Band gewesen sei, antwortete Sarah: 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559
Nee, das ist n ganz schlimmes Thema auch. Also es gab ja diese Tour //aha// wo die dann in Rom waren und wo das dann da schon irgendwie abgebrochen wurde das Konzert, also er ist dann ins Krankenhaus und dann sollte das in Deutschland n Konzert geben //mhm// es sollte ein Konzert geben, in Berlin. Und ich kenne zwei Leute, die besitzen Karten dafür, //mhm// und diese Karten sind aber nie benutzt worden, weil er sich dann nämlich (.) von Rom aus ist er nach Seattle geflogen und hat sich erschossen. //mhm// und ähm (3) ich war zu jung, meine Eltern haben halt gesagt du fährst nicht nach Berlin
Die Nachfrage weckt unangenehme Assoziationen bei Sarah. Dabei ist ihre Äußerung, dies sei ein »ganz schlimmes Thema« (551), homolog zu der Äußerung zu lesen, dass Sarah »unbedingt« (17) zum Konzert wollte, denn in beiden dokumentiert sich der existentielle Charakter ihres Wunsches, auf das Nirvana-Konzert zu gehen. Es zeigt sich, dass Sarah nicht eigentlich »zu klein« (18) war, um das Konzert zu besuchen, sondern »zu jung« (558), und dass ihre Eltern ihr den Besuch verboten hatten. Im Zusammenhang mit der Passage 17-20 erscheinen Sarahs Eltern so zugleich als Repräsentanten und Hüter der bürgerlichen Welt, oder, ritualtheoretisch gesprochen, von Struktur;
34 An dieser Stelle lohnt es sich, ein oben bereits wiedergegebenes Zitat zu wiederholen. Turner sagt: »Rock is clearly a cultural expression and instrumentality of that style of communitas which has arisen as the antithesis of the ›square‹, ›organization man‹ type of bureaucratic social structure of mid-twentieth-century America« (Turner 1974c: 262). 158
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denn sie verwehren Sarah den ersehnten Zugang zur Welt der Anti-Struktur. Sarahs Interesse für Nirvana war also nicht einfach mit dem Gefallen an der Musik verbunden, sondern bedeutete für sie auch den Anfang der Ablösung von ihren Eltern – und das Verbot der Eltern, das Konzert zu besuchen, machte ihr schmerzhaft klar, dass diese Ablösung in der konkreten Praxis noch nicht erfolgt war: Die Zeit ihrer ›Initiation‹ war noch nicht gekommen. Allerdings hätte Sarah auch dann das Konzert nicht besuchen können, wenn es ihr von ihren Eltern erlaubt worden wäre, denn Kurt Cobain hatte inzwischen Selbstmord begangen. Insofern bekommt der Umstand, dass sie nicht auf das Konzert gehen konnte, eine tragische Dimension. Ihr war nun endgültig die Möglichkeit genommen, jemals auf ein Konzert von Nirvana gehen zu können, auch wenn sie älter gewesen wäre. Diese Tragik dokumentiert sich auch in Sarahs Ausführungen zu den Karten ihrer beiden Bekannten: Die Karten erscheinen hier als bleibende Symbole für eine tragische Leerstelle, für eine auf immer verpasste Möglichkeit. Zusammenfassend wird deutlich, dass sich sowohl bei Tina als auch bei Sarah eine zentrale Bedeutung des Konzertbesuchs rekonstruieren lässt. Entsprechend haben auch beide noch klare Erinnerungen an die Umstände des ersten Konzerts ihrer jeweiligen Stars, welches sie besuchten bzw. besuchen wollten. Während das Konzert bei Tina allerdings eine ihre adoleszenten Emotionen aufschließende und ihre Fan-Begeisterung voll entfaltende Wirkung hatte, lässt sich etwas Analoges bei Sarah – natürlich – nicht finden. 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34
und dann so richtig gemerkt, was mir das bedeutet hat, habe ich glaub ich als er dann gestorben ist. //mhm// So nach dem Motto man merkt erst was man hatte wenn es weg ist. So das war (.) ja. Also ich fand’s halt auch cool, dass man kein Fan sein durfte so richtig, wenn man ihm gerecht werden wollte, weil das ja (.) also ihm, Kurt Cobain, weil er ja immer gesagt hat er will das nicht (.) und das fand ich halt auch cool im Gegenzug zu diesen Mädels in meiner Klasse die dann auf die New Kids on the @Block standen@ oder so, das war natürlich super; ich konnte jemanden anhimmeln, und das war aber irgendwie legitim, weil das war ja gar kein Fantum, das war sehr praktisch.
Hier deutet sich ein Wandel in Sarahs Orientierung bezüglich Nirvana an, der mit dem Tod von Kurt Cobain einsetzt. Hatte sie bis dahin die Musik und die Videos nicht-reflexiv rezipiert, so beginnt Sarah mit Cobains Tod über ihr eigenes Verhältnis zu Nirvana nachzudenken. Dementsprechend schließt sie eine Argumentation an, in der die Argumentation aus Z. 11-14 weiter ausgeführt und differenziert wird: Laut Sarah war es generell nicht möglich, »so 159
ROCK UND POP ALS RITUAL
richtig Fan« (12) von Nirvana zu sein, weil Cobain kommunizierte, er wolle keine Fans haben. Es zeigt sich, dass Sarah eine ambivalente Haltung zum Fan-Sein hat, weil sie Cobain zwar auf der einen Seite verehrte (dies zeigt sich darin, dass sie ihn »anhimmelte«, 32 und ihm »gerecht werden wollte«, 27), auf der anderen Seite aber ›offiziell‹ kein Fan war und dies auch nicht sein wollte. So kann Sarah als ein ›Undercover-Fan‹ charakterisiert werden: Zwar ist sie, ihrer emotionalen Hingabe nach, Fan von Kurt Cobain, sie weist sich aber auf den Wunsch Cobains hin nicht als ein solcher aus. Es fällt auf, dass diese Ambivalenz eine Strukturanalogie zu der StarHaltung aufweist, die Sarah Kurt Cobain zuschreibt, denn danach ist Cobain zwar einerseits ein internationaler Star, will aber andererseits nicht als ein solcher deklariert werden. Dabei war Sarah von seiner ambivalenten Haltung fasziniert (»Also ich fand’s halt auch cool, dass man kein Fan sein durfte«, 25f.), woraus ihre eigene Haltung als logische Konsequenz erwuchs: Wenn sie ihn gerade deshalb »cool« fand, weil er genau dies nicht wollte, so mündet dies geradewegs in die rekonstruierte Ambivalenz von Sarahs Fan-Orientierung. Diese Fan-Orientierung hatte Sarah auch deshalb gefallen, weil ihr dadurch die Distinktion von denjenigen Klassenkameradinnen ermöglicht wurde, die ›offizielle‹ Fans von Boy-Groups waren (Sarahs Distanzierung von diesen Fans zeigt sich auch in ihrem Lachen in Z. 31.). Somit eröffnet Sarah bezüglich der Fan-Orientierung einen negativen Gegenhorizont, auf dem ohne große Mühe Tina zu verorten ist. Denn Tina war von Anfang an ganz offen Fan von einer Boy-Group (und später von einem ehemaligen Mitglied dieser Gruppe). Bezüglich des ›offiziellen‹ Status ihres Fan-Seins unterscheiden sich also Sarah und Tina im Sinne einer expliziten Abgrenzung seitens Sarah. Es zeigt sich, dass Cobain für Sarah wiederum ein Gegenmodell anbietet, in diesem Fall zu dem Kult, der um die Person vieler Stars inszeniert wird. Dies kann wiederum im Zusammenhang mit der bereits herausgearbeiteten Symbolik der ideellen Communitas gedeutet werden: Das von Cobain kommunizierte Modell kann als bewusst inszenierter Gegenentwurf zu den etablierten Strukturen der Rock- und Popmusik verstanden werden. Denn es ist die in dem Verhältnis zwischen Star und Fan zum Ausdruck kommende Rollenstruktur der Rock- und Popmusik, gegen die Cobain sich Sarah zufolge richtet. Die Symbolik der (ideellen) Communitas, von der Sarah bei Nirvana fasziniert ist, richtet sich also nicht nur gegen die Strukturen der bürgerlichen Welt, sondern auch gegen die der Rock- und Popmusik. 34 35 36
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Ja und dann wurde es ja irgendwie erst krude als er sich umgebracht hat (.) eigentlich wenn ich so richtig überlege habe ich auch gar nicht so viel Zeit mit
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»Nirvana« verbracht, mehr Zeit eigentlich ohne (.) aber halt immer dran gedacht so (.)
Der Ausdruck »krude« (35) verweist darauf, dass der Tod von Kurt Cobain auf Sarah einen starken Eindruck gemacht haben muss, wobei sie dies hier noch nicht weiter konkretisiert. Allerdings zeigt sich wiederum, dass Cobains Tod einen Wandel in ihrer Orientierung hervorgerufen haben muss, denn sie bezeichnet die Zeit seit dessen Tod als eine Zeit »ohne« (37) Nirvana. Doch auch was dies genau bedeutet, führt sie hier noch nicht weiter aus. Schließlich zeigt sich hier noch ein weiterer Aspekt des Wandels von Sarahs Fan-Orientierung: Hatte sie sich zu Beginn ihres Interesses für Nirvana kaum »Gedanken dadrüber gemacht« (16), so hat das Reflektieren nach Cobains Tod zugenommen (»immer dran gedacht«, 38). In ihrer Erzählung springt Sarah nun aber zunächst wieder zurück in die Zeit vor Cobains Tod: 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58
also ich hatte mal ne Zeit, das war sehr lustig, ich hatte ne Klassenkameradin aus Spanien, Marisa, die hatte so ähm dunkelbraune Locken und die war immer der Meinung, sie sieht aus wie Eddie Vedder, der Sänger von Pearl Jam und ähm sie sah natürlich überhaupt nicht aus wie Eddie Vedder @vielleicht so’n bisschen die Haare@, aber nicht wirklich und ähm sie war der Meinung ich hätte irgendwie ich sähe irgendwie aus wie Kurt Cobain, und wir haben uns nur so genannt, also //mhm// sie war immer Eddie und ich Kurt, was eigentlich total hohl ist, wenn man sich das mal überlegt; und dann habe ich mich auch mal geweigert ne Zeitlang, @das ist super@, da hab ich mich geweigert ne Zeitlang meine Haare schneiden zu lassen und habe die dann so selber geschnitten und ich hatte auch so ne Strickjacke wie ähm Kurt Cobain in dem »Unplugged« auf MTV anhatte, da war ich auch sehr stolz ja und Marisa hat mir dann mal ein T-Shirt geschenkt, wo er drauf ist, das ist auch wirklich so das einzige so richtig Merchandising-Ding was ich (.) und das war auch noch selber gemacht. Es war auch alles anders als heute wo man alles kaufen kann von denen (4) genau
Hier wird deutlich, dass Sarah mit ihrem Interesse für die Musik nicht allein stand, sondern es zumindest mit einer Schulfreundin teilte. Dabei kommt mit Pearl Jam auch eine andere Band zur Sprache, was zeigt, dass Sarah mit ihrer Freundin nicht das spezifische Interesse an Nirvana teilte, sondern an einer bestimmten musikalischen Stilrichtung, dem Grunge. War Sarah ganz am Anfang ihrer Fan-Biographie noch mit ihrer Schwester die Platte kaufen gegan161
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gen, so hat das Fan-Sein inzwischen eine Bedeutung auf der Peer-Ebene für sie erhalten. Aus ritualtheoretischer Perspektive ist an diesem Ausschnitt des Interviews besonders bemerkenswert, dass Sarah und ihre Freundin in ein mimetisches Verhältnis zu ihren Stars traten, wenn man unter Mimesis das Empfinden von Ähnlichkeiten zwischen sich und seiner sozialen Umwelt sowie die »Anähnlichung« an diese Umwelt versteht: »Im mimetischen Handeln erzeugt ein Individuum seine eigene Welt, bezieht sich dabei aber auf eine andere Welt, die es – in der Wirklichkeit oder in der Vorstellung – bereits gibt« (Gebauer/Wulf 1998: 7). Bei Sarah und ihrer Freundin gründeten die mimetischen Bezüge auf vermeintlichen Ähnlichkeiten im Aussehen zwischen ihnen und den Musikern, wobei Sarahs mimetische Bezugnahme über das bloß passive Erkennen von Ähnlichkeiten mit Kurt Cobain hinausging, denn sie stellte über den Haarschnitt und die Strickjacke auch aktiv Ähnlichkeiten her. Am Haarschnitt und dem T-Shirt zeigt sich, dass Sarah mit dem mimetischen Bezug auf Cobain auch die Symbolik des Widerstands (»Weigerung«, Z. 49, 50 – hier vermutlich Widerstand gegenüber den Eltern) und des Alternativen (das T-Shirt war selbstgemacht und stellte damit ein Gegenmodell zum Pop-Kommerz dar) selbst zum Ausdruck bringen konnte. Diese Anähnlichung der Mädchen an die Stars lässt Parallelen zu religiösen, mimetischen Riten erkennen, wie Durkheim sie bei den Aborigines untersucht hat: »Der Australier versucht, seinem Totem ähnlich zu sein, wie der Gläubige weiter fortgeschrittener Religionen seinem Gott ähnlich zu werden versucht. Für den einen wie den anderen ist das ein Mittel, um mit dem heiligen Wesen zu kommunizieren, d. h. mit dem kollektiven Ideal, das das heilige Wesen symbolisiert« (Durkheim 1994: 482). Analog dazu eignet sich Sarah durch die Anähnlichung an Cobain das Ideal an, welches er für sie repräsentiert. Und dieses Ideal ist nicht individuell – sie teilt es nicht nur mit der hier angesprochenen, sondern auch mit weiteren Freundinnen, wie aus einer anderen Stelle des Interviews hervorgeht. Dort sagt sie: »Wir waren die Ungewaschene-Haare-Fraktion« (590). Dieser Bezug auf ein Ideal macht wieder deutlich, dass es Sarah um eine ideelle Communitas mit ihren Freundinnen ging. Der mimetische Bezug der beiden Mädchen auf die Musiker ging so weit, dass die Mädchen in gewisser Weise nicht mehr sie selbst waren, sondern sich in ihre Idole verwandelten: »Sie war immer Eddie und ich Kurt« (46f.). Die gegenseitige Anrufung mit den Namen der Stars erinnert aus einer ritualtheoretischen Perspektive an die Umwandlung der sozialen Identität der Initianden in traditionellen Initiationsriten, denn »[o]ftmals beginnt die neue Zeit, die neue Identität – analog zur Geburt des Menschen – mit der Verleihung des vollen Namens« (Zirfas 2004c: 53).
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Auch sind hier wieder Parallelen zum Totemismus zu sehen, denn die Mitglieder eines Klans identifizieren sich – auch über den Namen – mit ihren Totems: »Die Männer, die sich zu diesen Riten versammeln, glauben wirklich, Tiere oder Pflanzen von der Gattung zu sein, deren Namen sie tragen« (Durkheim 1994: 482). Allerdings ist der Identitätswechsel der Mädchen bei weitem nicht so umfassend und auch nicht so unumkehrbar wie bei den Initianden traditioneller Initiationsriten. Sarah erzählt schließlich nur, dass sie in dieser Zeit von ihrer Freundin »Kurt« genannt wurde – für die anderen Mitschüler, für ihre Eltern und Lehrer war sie wohl immer noch Sarah. Ihre Identität als »Kurt« hat ihren sozialen Ort also nur innerhalb der Fan-Gemeinschaft mit ihrer Freundin. Zudem hat die Übernahme der Identität der Musikstars einen eher spielerisch-ausprobierenden Charakter, so dass man hier mit Bohnsack von einer experimentellen Suche der Mädchen nach habitueller Übereinstimmung sprechen kann. Indem Sarah mit Kurt Cobain ›verschmilzt‹ – wobei sie sich selbst gleichsam auflöst und sich ihm somit unterordnet –, stellt sie eine Beziehung der vertikalen Communitas zu ihm her. Auch bei Tina hatte ich schon die FanOrientierung an vertikaler Communitas rekonstruiert. In dieser Gemeinsamkeit zwischen Sarah und Tina zeigen sich allerdings auch Unterschiede: Während Tina die Nähe zu Robbie Williams in Situationen der leiblichen KoPräsenz sucht, stellt Sarah die Nähe zu Kurt Cobain durch ihre mimetische Identifizierung mit ihm her.35 Wie Tina orientiert sich also auch Sarah an der Person des Stars; im Unterschied zu Tina sieht Sarah in ihrem Star allerdings vor allem ein Symbol, welches ein bestimmtes Ideal verkörpert. Aber auch hier wieder gehen horizontale und vertikale Communitas Hand in Hand. Dies verdeutlicht vor allem der Satz »Wir waren die Ungewaschene-HaareFraktion«, in dem sowohl der mimetische Bezug der Fans zu den Stars als auch die dadurch entstehende Gemeinschaft der Fans angesprochen sind. In ihren argumentativen und evaluativen Stellungnahmen dieser Passage zeigt sich, dass Sarah aus heutiger Sicht eine distanziert-belustigte Haltung zu diesen mimetischen Bezugnahmen einnimmt. Denn sie bezweifelt die tatsächliche Ähnlichkeit ihrer Freundin mit Eddie Vedder und spricht der gegenseitigen Anrufung mit den Namen der Stars jegliche Rationalität ab (»total hohl«, Z. 47). Diese rational geprägte Orientierung korrespondiert mit dem Wandel, der sich in Sarahs Haltung seit Cobains Tod dokumentierte: Seitdem hat sie angefangen zu reflektieren.
35 Wie ich im Abschnitt »Liminalität und Transzendenz: Der Kontakt mit dem Heiligen« im Kapitel 2 zeige, kann eine vertikale Communitas in traditionellen Jugendritualen auch auf verschiedenen Wegen hergestellt werden. Auch dort gibt es ein körperliches Nahebringen der Initianden mit den Idolen sowie eine mimetische Identifikation der Initianden mit den Idolen. 163
ROCK UND POP ALS RITUAL
Hier zeigt sich aber auch, dass Sarah, wenn sie – aus heutiger Sicht – irrational handelte, gleichsam verzaubert war. Wir erinnern uns, dass Tina durch den ersten Besuch eines Konzerts von Take That eine rituelle Verzauberung erfuhr, so dass sie für längere Zeit unter dem Bann von Robbie Williams stand. Auch Sarah erfährt eine rituelle – weil symbolisch inszenierte – Verzauberung: nicht durch einen Konzertbesuch, sondern durch ihre schrittweise Verwandlung in Kurt Cobain, mittels derer sie in eine vertikale Communitas mit ihrem Idol eintrat. Ein weiterer Vergleich zeigt, dass bei Tina in keiner Passage des Interviews mimetische Bezugnahmen auf Robbie Williams rekonstruiert wurden. Dies lässt sich m. E. auf Tinas Orientierung an einem (geschlechtlichen) Begehrensverhältnis gegenüber Williams zurückführen (»Liebling«). Denn dieser Orientierung entsprechend ist gerade die geschlechtliche Andersartigkeit des Idols von Bedeutung. Eine Anähnlichung an Williams hätte diese verschwinden lassen. In diesem Zusammenhang ist es durchaus bemerkenswert, dass Sarah sich einem Mann anähnelte: Durch ihre mimetische Bezugnahme auf Cobain experimentierte sie also auch im Bereich ihrer geschlechtlichen Identität. Wie oben rekonstruiert wurde, ermöglichte das Fan-Sein für Cobain ihr die Abgrenzung von den Boy-Group-Fans aus ihrer Klasse. An einer anderen Stelle des Interviews wird noch deutlicher, welche Bedeutung das Thema der Geschlechtsidentität dabei für Sarah hatte: 500 501 502 503
ich fand das halt toll, dass er [Kurt Cobain] irgendwie gekrischen hat und äh dass das halt auch nicht typische Mädchenmusik war, weil ich Mädchen völlig Scheiße fand
Sarah grenzte sich also nicht eigentlich von den Boy-Groups ab, sondern von deren Fans, die für sie eine von ihr vehement abgelehnte Geschlechtsidentität als »Mädchen« zum Ausdruck brachten. Es zeichnet sich hier ab, dass Sarah sich mit der Aufgabe – oder soll man sagen: Zumutung? – konfrontiert sah, sich einem sozialen Geschlecht zuzuordnen, was bei ihr eine Krise auslöste (dies macht die Formulierung »völlig Scheiße« (502) deutlich). Ihr Fan-Sein für Kurt Cobain ermöglichte es ihr in diesem Zusammenhang, sich einer klaren Zuordnung zu einem sozialen Geschlecht zu entziehen. Das ›Spiel‹ mit der eigenen Geschlechtsidentität hat für Sarah im biographischen Kontext also einen ernsten Hintergrund. Die Ambiguität, die entsteht, wenn ein Mädchen sich einem Mann anähnelt, erinnert dabei an die Ambiguität der liminalen Phase in traditionellen Jugendritualen, in denen weibliche Initianden oft männliche Kleidung tragen (und umgekehrt).
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QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
Eine interessante Paradoxie ist darin zu sehen, dass Sarah, deren Orientierung ich als ›Undercover-Fan‹ bezeichnet hatte, gerade durch ihr Aussehen ihre Verehrung für Kurt Cobain öffentlich zum Ausdruck brachte. Sie wollte zwar ›offiziell‹ kein Fan von Kurt Cobain sein, kennzeichnete sich aber durch ihre mimetische Bezugnahme offensichtlich als ein solcher. Bei Tina hingegen, die keinen Hehl aus ihrem Fan-Sein machte, gibt es keine Hinweise darauf, dass sie von ihrer äußerlichen Erscheinung her als Fan von Robbie Williams zu erkennen war. Dieser Widerspruch in Sarahs Fan-Orientierung lässt sich darauf zurückführen, dass es Sarah explizit darum ging, ihr (wie gezeigt wurde: illusionäres) Nicht-Fan-Sein in Abgrenzung von den Boy-GroupFans darzustellen, wobei sie diese Distinktion gerade über symbolische Inszenierungen herstellte. Schon im bisherigen Verlauf von Sarahs Erzählung hatte sich angedeutet, dass Kurt Cobains Tod einen starken Eindruck auf Sarah gemacht haben muss. Sie fing zwar, meiner Einstiegsfrage nachkommend, mit dem Anfang ihres Interesses zu erzählen an und brachte dann einzelne Beschreibungen und Erzählungen aus der Anfangszeit, kam aber schon hier mehrfach auf den Selbstmord von Cobain zu sprechen (22-25 und 34-38). Nun geht sie ausführlicher darauf ein, wie sie Cobains Tod erfahren hat: 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80
(5) ja und dann hat er sich umge@bracht@, und das war (.) das war im April ja; also am achten April kam das ja irgendwie in den Nachrichten und ich weiß genau, dass ich ziemlich lang dachte, das ist n Witz. //mhm// Hab (.) weil ich das ja auch nicht so verfolgt hab, also als der gestorben ist war ich völlig schockiert, wie Scheiße es dem ging, was irgendwie so um mich rum alle schon wussten weil es ständig in der Zeitung stand //mhm// der war ja irgendwie zwei Wochen vorher da in Rom glaub ich in so nem äh in so ner Ausnüchterungskrankenabteilung gewesen, was weiß ich, und da, ich war völlig schockiert dass der sich jetzt umgebracht hatte und mein ganzes Umfeld war so häh wieso, das hat sich doch schon angekündigt; wo ich mal so dachte hm (.) so richtig Fan von der Figur war ich eigentlich nicht, ich hab halt irgendwie ich mochte auch die Texte, so was man davon verstehen kann, ist ja relativ schwer //mhm// und ich mochte halt diese Wut, und das hat sich natürlich dann potenziert, als er sich umgebracht hat. Ja und das hab ich ja eben erzählt, dass ich dann irgendwie angeblich, woran ich mich ja nicht mehr erinnere, zwei Wochen in tiefes Brüten verfallen bin, //mhm// ich weiß nur noch halt, wie ich das gehört hab halt im Fernsehen und irgendwie im Wohnzimmer stand und aus dem Fenster gestarrt hab und ich 165
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weiß genau, ich kam halt vom (Name eines Sees), wo meiner besten Freundin ihre Eltern ein Haus hatten, da waren wir halt am Wochenende und dann kam ich zurück und meine Eltern waren nicht da, °genau° (1) ja und dann hab ich eben (1) aufgehört, Nirvana zu hören.
Die Nachricht von Cobains Selbstmord warf Sarah in eine existentielle Krise. Die große Bedeutung, welche Sarah der Nachricht heute noch beimisst, wird schon darin deutlich, dass sie sich an deren Datum erinnern kann. In der Hintergrundkonstruktion verweist dann der zweimal gebrauchte Ausdruck »völlig schockiert« (63 und 68) auf eine Krisenerfahrung, wobei in diesem Zusammenhang deutlich wird, dass ihre bisherige Konstruktion der Realität mit der Nachricht zusammenbrach. Hier zeigt sich zudem, dass Sarah sich in der Zeit vor Cobains Tod offenbar mit niemandem über Nirvana ausgetauscht hatte. Sie hatte mit ihren Vorstellungen über Nirvana in ihrer eigenen Welt gelebt und trat erst nach dem Selbstmord von Cobain mit ihrem »Umfeld« (69) in eine Auseinandersetzung darüber. In der anschließenden biographischen Orientierungstheorie erörtert Sarah, dass sie aufgrund dieses fehlenden Informiertseins damals kein allzu starkes Interesse an der Person Kurt Cobains gehabt haben kann und für sie mehr die Texte und ein bestimmtes, von der Band vermitteltes Grundgefühl der Aggression (»diese Wut«, 74) im Mittelpunkt standen. Diese Selbsteinschätzung korrespondiert einerseits mit der bereits rekonstruierten Faszination Sarahs von der antistrukturellen Symbolik, die Nirvana in ihren Inszenierungen zum Ausdruck brachten. Andererseits lässt vor allem die oben rekonstruierte mimetische Bezugnahme Sarahs auf Cobain darauf schließen, dass die Person Cobains durchaus eine zentrale Bedeutung für sie hatte – allerdings im Sinne eines Symbols. Wie kann die Schwere dieses Schocks erklärt werden? Zum Beginn meiner Interpretationen tendierte ich dazu, Trauer als ausschlaggebendes Moment anzusehen. Doch ich bin schließlich zu der Auffassung gelangt, dass hinter Sarahs Krise mehr steckt als bloßes Trauern über einen Verlust. Als Schlüssel für die Interpretation dient die oben rekonstruierte mimetische Bezugnahme von Sarah auf Kurt Cobain: Sarah hat nicht nur ein Idol verloren, sondern starb dessen Tod gleichsam mimetisch mit ihm mit. Zwar starb sie nicht in einem physischen Sinne, doch sie verfiel in einen todesähnlichen Zustand. Dies zeigt sich schon in ihrer ausgelöschten Erinnerung an die zwei Wochen nach Cobains Tod. Zudem deutet das wenige, woran sie sich noch selbst erinnern kann, auf eine körperliche Starre hin (80). An einer anderen Stelle des Interviews wird deutlich, dass Sarah zur Rekonstruktion dieser Zeit sogar auf die Darstellungen anderer angewiesen ist:
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Meine Mutter beschreibt es halt wirklich so, dass ich halt zwei Wochen lang überall saß und stand und ging und man halt irgendwie das Gefühl hatte ich bin nicht mehr da sondern ich hab nur vor mich hingestarrt //mhm// und die sich auch richtig Sorgen um mich gemacht haben, weil die gesagt haben man kam halt gar nicht mehr an mich ran, wenn ich irgendwas (.) wenn man mich halt gefragt hat, was denn jetzt tatsächlich los ist oder wie wie ich mir jetzt vorstelle irgendwie äh ob ich jetzt immer so @bleiben möchte@ ((Räuspern)) da ((Husten)) da hab ich dann auch irgendwie gar nichts mehr zu gesagt //mhm// und war halt nur noch auch aggressiv und meinte halt die sollen mich alle in Ruhe lassen
Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang zudem die Metapher des »tiefen Brütens« (77f.). Sie verweist auf eine liminale Situation: Rückzug (nach Innen), embryonaler Zustand, Umwandlung. Sarah sonderte sich vom sozialen Leben ab, ging in die innere Seklusion. Der Anklang auf einen embryonalen Zustand deutet darauf hin, dass für sie ein radikaler Neuanfang notwendig war. Und um weiter am Leben zu bleiben, blieb Sarah gar nichts anderes übrig, als eine Umwandlung zu durchlaufen, denn bis zum Zeitpunkt seines Todes »war« sie ja Kurt Cobain. Nachdem er sich getötet hatte, war dies nicht mehr möglich – um weiterhin Cobain »sein« zu können, hätte auch sie sich oder den Kurt Cobain in sich töten müssen. Wenn wir an das »klassische«, von Eliade herausgearbeitete Initiationsszenario denken, in dem die Initianden einen symbolischen Tod sowie einen regressus ad uterum erfahren um dann verwandelt wieder aufzuerstehen (vgl. Eliade 1989), so lässt sich die Erfahrung, von der Sarah hier erzählt, als ein unbeabsichtiges Hineingeraten in eine initiationsähnliche – oder auch: liminoide – Situation rekonstruieren. Sarah geriet in eine »Zwischensphäre«, einen »embryonalen Zustand«, sie gehörte weder zu den Lebenden noch zu den Toten und stand vor der Aufgabe, eine Umwandlung (»Brüten«) zu durchlaufen. Die enge vertikale Communitas, die Sarah zwischen sich und Cobain hergestellt hatte, ließ sich nach dessen Tod offensichtlich nicht so leicht wieder lösen, was den todesähnlichen Zustand Sarahs nach sich zog. Sarah hatte also nicht nur den Verlust eines ihr ›bekannten‹ Menschen zu betrauern. Vielmehr war ihr zentrales Idol gestorben, welches ihr bis dahin eine neue (und damit auch fragile) Orientierung im sozialen Raum gegeben hatte: hinsichtlich ihrer Gruppenzugehörigkeit, ihrer geschlechtlichen Identität und ihrer sozialen Ideale. Wieder drängt sich der Bezug zum Totemismus auf: In totemistischen Gesellschaften geht die mimetische Identifikation – oder auch: vertikale Communitas – der Menschen mit ihren Totems oft so weit, dass sie meinen, sie 167
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seien in Gefahr, wenn ihrem Totem etwas zustößt. Dies lässt sich mit Durkheim dadurch erklären, dass das Totem den Zusammenhalt eines Klans symbolisiert und jedem Individuum seine soziale Identität verleiht. Der Tod eines Totems bedeutet damit auch den Tod des Klans und den Verlust der Identität für die Individuen.36 Sarahs Abschluss dieser Erzählung, nach der sie »aufgehört [hat], Nirvana zu hören« (85), lässt sich denn auch im Sinne van Genneps als eine Art Trennungsritus lesen: Sarah trennte sich von der Nirvana-Musik. Es wird klar: Der Suizid von Kurt Cobain war nicht nur eine existentielle Krisenerfahrung für Sarah, sondern auch ein entscheidender Wendepunkt in ihrer Fan-Biographie: Sie lebte ab jetzt »ohne« (37) Nirvana. 99 100 101 102 103 104 105 106
da war das ja eigentlich so, dass es ja eigentlich schon unnatürlich war, nicht zu heulen, dass er tot ist, also nicht irgendwie Selbstmordversuche zu unternehmen, was ich auch so n bisschen krude fand, //mhm// da gab’s ja irgendwie in Seattle dann so Gatherings, wo die sich dann auf den @Marktplätzen@ getroffen haben und weiß ich was irgendwie sich in die Arme geritzt und so, also (2) so war das irgendwie nicht.
Sarah gibt ihren Emotionen keinen Ausdruck, sondern verfällt, wie bereits rekonstruiert wurde, in eine Starre. Ihr eigenes Zurückhalten der Emotionen bezeichnet sie zwar als »unnatürlich« (100), doch es passt zur Logik ihrer FanOrientierung: Da sie ›eigentlich‹ kein Fan von Kurt Cobain war, »durfte« sie auch ihre Bestürzung über dessen Tod nicht zeigen. Weiterhin zeigt sich in dieser Passage, dass Sarah ihre Betroffenheit nicht mit anderen Fans teilte, so wie diejenigen, die sich auf den »Gatherings« (103) in symbolischen Inszenierungen selbst verletzten und damit ihre Betroffenheit zum Ausdruck brachten. Auch von ihrer spanischen Freundin oder evtl. weiteren Personen, mit denen sie sich gemeinsam mit Cobains Tod hätte auseinandersetzen können, erzählt Sarah nicht mehr. Sarah wurde also im Zuge von Cobains Tod ganz auf sich selbst zurückgeworfen und war, zumindest hinsichtlich ihres FanSeins, für eine bestimmte Zeit vom sozialen Leben isoliert. Waren bisher bereits Unterschiede zwischen Tina und Sarah bezüglich ihrer Fan-Orientierungen festzustellen, so schlägt an dieser Stelle auch der Verlauf von Sarahs Fan-Biographie eine ganz andere Richtung ein als bei Tina. Hatte nämlich das Konzert von Take That für Tina eine aufschließende Wir36 »Wir können in der Tat sagen, daß sich der Gläubige keinen Täuschungen hingibt, wenn er an die Existenz einer moralischen Kraft glaubt, von der er abhängt und von der er den besten Teil seiner selbst bezieht: diese Macht existiert; es ist die Gesellschaft« (Durkheim 1994: 309). 168
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kung – sowohl bezüglich spezifischer Emotionen als auch ihres generellen Fan-Seins –, so führt Cobains Suizid dazu, dass Sarah sich verschließt. Zudem trennt sie sich von Nirvana, ist also nicht mehr Fan wie vorher. Man könnte also annehmen, dass das Interview mit Sarah beim jetzt erreichten Punkt bereits beendet sei. Es wird aber im weiteren Verlauf des Interviews deutlich, dass Sarahs Trennung von Cobain zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig vollzogen war. 152 153 154 155 156 157 158 159
(4) Und dann war ich lang von nichts mehr Fan, dann hab ich Hardcore gehört und bin am Wochenende auf irgendwelche Hardcore-Konzerte und hab mich geboxt mit Leuten und hab irgendwie Pogo gemacht, hatte auch keine Band mehr, das waren so lokale //mhm// Bands von Leuten, die wir kannten und (.) die haben niemals ne CD oder ne Kassette aufgenommen (.) oh doch, von einer @gab’s mal ne Kassette, die warn dann aber schon richtig groß@ //@mhm@//
Die Passage dokumentiert zwei verschiedene Entwicklungen, die Sarahs Interesse an Rockmusik im Anschluss an Cobains Tod kennzeichneten. Einerseits ist ein krasser Wandel in Sarahs Fan-Orientierung zu erkennen. Sie ging nun auf Konzerte von lokalen Bands, interessierte sich nicht mehr für internationale Stars, wie Nirvana es gewesen waren. Sarahs vorherige Begeisterung für Stars scheint wie ausgelöscht zu sein, worauf die Wortwahl »von nichts mehr Fan« (152f.) hindeutet. Sie war auch kein Fan einer bestimmten Band mehr, sondern ging eher wahllos auf »irgendwelche« (153) Konzerte. Zudem war Sarah mit den Bandmitgliedern bekannt, was insgesamt auf einen Rückzug Sarahs aus der Welt der internationalen Rock- und Popmusik und der Stars hinweist. Andererseits behielt Sarah ihr Interesse für Rockmusik bei. Dabei bleibt auch ihre Orientierung an aggressiver Musik erhalten: Der Bezug auf Hardcore-Musik sowie der Begriff »geboxt« (154) lesen sich homolog zu der vorherigen Äußerung, nach der ihr vor allem die »Wut« von Nirvana gefallen hatte. Auch wenn sie nicht weiter auf die »Leute« (155) eingeht, mit denen sie zusammen auf den Konzerten war, lassen sich ihre Konzertbesuche als eine Suche nach habitueller Übereinstimmung im gemeinsamen Ausagieren der Musik, nach unmittelbarer Communitas, interpretieren – wobei auch hier Sahras grundlegende Orientierung an einer sozialen Haltung, also einer ideellen Communitas, zu erkennen ist.37 Im Vergleich mit Tina fällt auf, dass für beide, sowohl für Tina als auch Sarah, der Besuch von Rock- bzw. Popkonzerten einen hohen Stellenwert
37 Unmittelbare und ideelle Communitas schließen sich nicht gegenseitig aus. 169
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einnimmt. Beide erzählen von regelmäßigen Konzertbesuchen während einer bestimmten Lebensphase. Während Tina dabei aber ihr Fan-Sein auf den Konzerten und in den Hotels, wo sie Robbie Williams nahe sein kann, in vollen Zügen auslebt, ist Sarah gerade dies nicht möglich. Nie konnte sie Kurt Cobain auf einem Konzert sehen und nun, da er tot ist, meidet sie die großen Stars. 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170
und ähm (3) dann hatte ich eine Freundin, die war ganz schlimmer »Guns-n-Roses«-Fan, und das fand ich auch (.) da wollt ich noch mal (.) da hab ich noch mal @versucht@, mich hinreißen zu lassen, mir einen von denen auszusuchen, von dem ich dann Fan war, aber das hat auch nicht so funktioniert °irgendwie° (1) da war da (.) da war echt der Ofen aus dann, dann hatte ich keinen Bock mehr, weil //mhm// also wie gesagt ich hab natürlich verstärkt dann dadurch dass Nirvana weggefallen ist diese anderen Bands gehört, (4) aber eben also ich mein das war eher dann so ne Musikrichtung und kein Fantum mehr
Es zeigt sich, dass Sarah durch Cobains Suizid einen doppelten Verlust erfuhr: Nicht nur hat sie Kurt Cobain verloren, sondern auch ihre Fähigkeit, sich für einen Star zu begeistern. Sarahs Versuch, sich »hinreißen zu lassen« (163) birgt allerdings schon in seiner Anlage einen unlösbaren Widerspruch in sich; denn die bisherigen Ausführungen sowohl zu Sarah als auch zu Tina zeigten, dass das Fan-Sein nicht als bewusste Entscheidung, sondern in Form einer Bezauberung durch die Stars oder die Musik anfängt, deren Kennzeichen ist, dass sie nicht willentlich hergestellt wird. Dies bringt der Begriff des ›Hinreißen-Lassens‹, den Sarah hier verwendet, eben gut zum Ausdruck. So erscheint ihr Ansinnen, durch einen bewussten Entscheidungsakt hingerissen zu sein, als paradox. Sarah hatte zwar noch das Bedürfnis, Fan zu sein, war jetzt aber nicht mehr in der Lage, sich bezaubern zu lassen. Also gab sie es frustriert auf (164f.). Die Metapher »da war echt der Ofen aus« verweist in diesem Zusammenhang auf ein emotionales Erkalten und damit auch, im Rückblick auf das Vorangegangene, wieder auf den mimetischen Tod, den Sarah erfahren hatte. Auch wenn Sarah also nicht mehr starr vor Schock war, befand sie sich weiterhin in einem todesähnlichen Zustand, einer liminoiden Situation. Es wird deutlich, dass der Tod von Kurt Cobain langfristige Folgen für Sarahs Fan-Orientierung hatte. Hatte Sarah bisher immer darauf verwiesen, dass sie ›eigentlich‹ kein Fan von Kurt Cobain war, so sieht sie sich im Nachhinein – an diesem fortgeschrittenen Punkt ihrer Erzählung – doch als Fan an: »dann war ich lang von nichts mehr Fan« (152f.), »kein Fantum mehr« (170).
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Im Vergleich mit Tina fällt in dieser Passage Sarahs Äußerung auf, sie habe sich vorgenommen, sich einen Star »auszusuchen« (162). In homologer Weise dazu hieß es bei Tina »die nehm ich« (wobei Tina dabei tatsächlich hingerissen war). Sowohl Sarah als auch Tina bringen damit eine Orientierung zum Ausdruck, die den Stars einen Warencharakter zuschreibt. Dies bringt eine weitere Paradoxie in Sarahs Fan-Orientierung zum Vorschein; denn sie war ja gerade vom Alternativen fasziniert, das Nirvana für sie symbolisierte – auch im Hinblick auf Kommerz und Vermarktung. Zwei Jahre nach Cobains Tod fand dann ein weiterer Wechsel in Sarahs Musik-Orientierung statt: 172 173 174 175 176
Und dann gab’s irgendwie so, wie alt war ich, als er gestorben ist, also da war ich 15, genau //mhm// und ähm dann gab’s halt irgendwie so mit 17 den absoluten Abbruch und dann hab ich halt irgendwie nur noch so Elektro gehört.
Und nun macht Sarah einen großen Zeitsprung ins Jahr 2004, der zeigt, dass ihre Fan-Biographie bis dahin doch noch nicht vollständig abgeschlossen war: 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200
ja und dann hab ich mich halt eben zu seinem Todestag nochmal damit beschäftigt, zu seinem zehnten //mhm// (3) weil ich ne Hommage machen wollte (.) wie ich da drauf kam das weiß ich irgendwie auch nicht. Also verrückterweise, ist sehr praktisch, kann ich mir nämlich gut merken wann sein Todestag ist, weil das nämlich die Nacht von dem Hochzeitstag meiner Eltern war. //mhm// also immer noch ist @deswegen@ kann ich mir das gut merken. //mhm// Genau, das war dann halt letztes, nee vorletztes Jahr 2004 //mhm// auch schon lange her (.) und da hab ich mir halt überlegt ich mach halt irgendwie so einen Gedenkabend (.) und dafür hab ich mir alles noch mal angucken müssen. (1) Und das war ja total verrückt. Also erstens weil ich ja auch diese Kassetten, diese Videokassetten auf denen ich irgendwelche Unplugged und Konzerte und sowas aufgenommen hatte, die hab ich immer mit umgezogen, //mhm// also ich bin häufig umgezogen in den letzten sechs Jahren, und immer habe ich diese VHS-Kassetten mit umgezogen //mhm// total behindert, weil ich sie mir ja nie angeguckt hab und die CDs, ich hab immer so’n (.) ganz unten im CD-Regal gibt’s so die NirvanaAbteilung. Ich hör die CDs überhaupt nicht und trotzdem hab ich alle von denen //mhm// genau und dann hab ich halt irgendwie das alles angehört und angeguckt und das war 171
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wahnsinnig anstrengend, da hab ich auch erstmal echt zwei Tage nur geheult und alle haben mich @ausgelacht@, was ich denn jetzt plötzlich hätte, //mhm// und das wär ja schon so lange her und warum mich das denn immer noch aufregen würde und irgendwie so (7)
Auch wenn Sarah seit zehn Jahren keine Musik von mehr Nirvana hörte, so zeigt sich jetzt, dass sie noch keineswegs mit der Band bzw. Kurt Cobain abgeschlossen hatte. Die Begriffe »Hommage« (180) und »Gedenkabend« (188) verweisen, genau wie das Datum des zehnten Todestages, auf eine herausgehobene, rituelle Inszenierung der Ehrung Kurt Cobains, die Sarah plante – sie ver-ehrte Cobain also durchaus noch. Allerdings kann sie keine Rechenschaft darüber geben, wie sie »da drauf kam« (180), was als ein Hinweis darauf gelesen werden kann, dass die Idee zu dem Abend sie gewissermaßen ›überkam‹, eine Lesart, die sich in Bezug auf die sie überwältigenden Gefühle, von denen sie im weiteren Verlauf der Passage spricht, noch festigen wird. Dass Cobains Todestag mit dem Hochzeitstag ihrer Eltern zusammenfällt, ist für Sarah ein Zufall, der das rationale Erfassen übersteigt (»verrückterweise«, 181) und damit eine schicksalhafte Bedeutung für sie erlangt, gleichzeitig aber ganz nüchtern-pragmatische Konsequenzen hat, indem sie sich das Datum seines Todes »gut merken« (185) kann. Die Vorbereitung des Abends war für Sarah keine freudige Angelegenheit, sondern mit Arbeit verbunden (»Beschäftigung«, 179; »wahnsinnig anstrengend«, 201) und kostete Überwindung (sie hat sich »alles noch mal angucken müssen«, 189), als ob sie sich mit der Idee, den Abend zu veranstalten, selbst unter Zugzwang gesetzt hätte, sich noch einmal auf Nirvana einzulassen. Ihre Auseinandersetzung mit Nirvana kann damit als eine Erinnerungsarbeit charakterisiert werden. Während dieser Erinnerungsarbeit geschah es, dass Sarah wieder emotional hingerissen wurde (was ihr bei Guns’n’Roses ja gerade nicht mehr gelungen war): Ihre Bezeichnung der Vorbereitungen als »total verrückt« (190) verweist eben darauf, dass etwas passierte, was sie rational nicht fassen kann: Sie wurde von tiefen Emotionen überwältigt. Das »Verrückte« daran ist, dass Sarah nicht damit gerechnet hatte – und gleichsam von sich selbst überrascht war –, solche Emotionen zu durchleben. Im Vergleich mit der Schilderung ihrer Krise zehn Jahre zuvor fällt auf, dass sie jetzt ihren Emotionen freien Lauf lässt, während sie sich damals, ganz im Gegenteil, verschlossen hatte. Es scheint, als habe die oben als todesähnlicher Zustand rekonstruierte Krise nicht nur die zwei Wochen des gänzlichen Verschließens gedauert, sondern als habe sie in einer latenten Form die gesamten zehn Jahre fortbestanden. Dies zeigt sich schon in dem materiellen Arrangement, das Sarah beschreibt: Sie hat ständig die »Nirvana-Abteilung« 172
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(197f.) mitgeführt, ohne je etwas davon zu rezipieren. Nirvana bzw. Kurt Cobain waren die ganze Zeit über in Sarahs Zuhause ›anwesend‹, Sarah hat auch »immer dran gedacht« (38), sie hat die Musik aber nicht ertönen lassen. Somit hatte Sarah die oben rekonstruierte Trennung von Nirvana nicht vollständig vollzogen. Vor allem kommt Sarahs unverarbeitete Loslösung von Cobain in dem Moment zum Ausdruck, als ihre »Nirvana-Abteilung« wieder zu hören und sehen ist: Jetzt denkt Sarah nicht mehr nur an Nirvana, sondern nun brechen auch ihre Gefühle hervor. Der latente todesähnliche Zustand beginnt erst jetzt, sich aufzulösen. Es kommt, im Hinblick auf Nirvana, wieder Leben in sie. Im Gegensatz zu der Zeit vor über zehn Jahren kann sie jetzt allerdings keinen Genuss aus der Musik und den Videos mehr ziehen. Sie »heult« (202) also nicht etwa vor Freude. So wie Sarah sich damals, im Zuge von Cobains Tod, von ihrer sozialen Umgebung abgekapselt hatte (sie hatte nicht an entsprechenden »Gatherings« teilgenommen), so war sie auch während der Erinnerungsarbeit noch allein mit ihren Emotionen, fühlte sich von anderen Personen nicht verstanden (»alle haben mich @ausgelacht@...«, 202ff.).38 Die Krise, die Sarah vor zehn Jahren bereits radikal auf sich selbst zurückgeworfen hatte, wies auch jetzt noch einen individuellen Charakter auf. Doch auch dies sollte sich schließlich beim »Gedenkabend« ändern. Wie aber sah dieser konkret aus und wie wirkte er auf Sarah? Im Folgenden rekonstruiere ich zunächst Sarahs Erzählung, die sie auf meine immanente Nachfrage »Was war das noch mal für ein Abend genau?« hin gab, und die ich hier in Auszügen darstelle: 252 253 254 255 282 283 284 285 286 287
Das war halt eben (.) wir hatten halt wie so ne Zusammenstellung gemacht aus diesem (.) ach genau, oh Gott, da gibt es ja dieses verrückte Tagebuch, was die da irgendwie abgedruckt haben //mhm// von ihm (…) und solche Texte haben wir dann halt laut gelesen und dann (.) genau und haben halt so ne Zusammenstellung an diesem Abend gemacht aus Texten von ihm, Texten von anderen Leuten über Nirvana //mhm// und halt eben Liedern ähm haben aber auch immer so die Videomitschnitte gezeigt, wo er dann halt zu sehen war oder irgendwelche Konzerte zu sehen waren
Zum »Gedenkabend« selbst: Dieser war ganz auf Kurt Cobain und Nirvana bezogen. Insofern dort Videos und Musik von Nirvana gespielt wurden, erinnert Sarahs Beschreibung an das Fan-Treffen, von dem Tina berichtet hatte. 38 Das »Verrückte« der überwältigenden Gefühle ist wohl auch darin zu sehen, dass Sarah gegenüber den rationalen Argumenten anderer keine Antwort geben konnte (sie schweigt für mehrere Sekunden, Z. 205). 173
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Bei Tina war allerdings nicht davon die Rede, dass Texte vorgelesen wurden. Dies steht mit den bisher rekonstruierten Passagen in Einklang, in denen für Sarah die von Nirvana bzw. Cobain zum Ausdruck gebrachten Ideen von großer Bedeutung waren; für Tina dagegen war die inhaltliche Seite von Williams’ Werk nicht von Belang. In dieser Passage zeigt sich zudem in dreifacher Hinsicht, dass Sarah auf dem »Gedenkabend« einen Wandel durchlief. Erstens: Im Vergleich mit Sarahs Darstellung der Vorbereitung des Abends, bei der sie noch allein mit ihren Gefühlen war, fällt in dieser Passage der Begriff »wir« (252, 282) auf, der eben nicht auf eine einsame Erfahrung verweist, sondern auf Sarahs Einbindung in eine Gruppe während des Abends. Es deutet sich hier eine Veränderung in Sarahs sozialer Orientierung an, die in den folgenden Passagen noch deutlicher werden wird. Zweitens: Hatte Sarah den Tod von Kurt Cobain vor zehn Jahren lediglich erlitten, so deutet ihre gesamte Darstellung des »Gedenkabends«, ganz besonders aber der Begriff »gemacht« (253, 284) auf eine Gestaltung ihrerseits hin. Sarah geht nun nicht mehr passiv, sondern aktiv mit Kurt Cobains Tod um. Drittens: Indem Sarah mit anderen gemeinsam in der Öffentlichkeit39 einen Abend für Kurt Cobain aufführt – eben eine Art Fan-Treffen –, inszeniert sie sich als jemand, dem Cobain wichtig ist: Sie zeigt sich als Fan. Gegenüber ihrer Darstellung der Anfangszeit fällt auf, dass nun keine Problematik des Fan-Seins mehr zu erkennen ist: Sarahs Fan-Orientierung im Hinblick auf Cobain hat sich gewandelt. 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296
es gibt so ein ganz großartiges äh großartigen Konzertmitschnitt, wo ähm der @Bassist seinen Bass hochwirft@ und eigentlich glaub ich das so geplant hatte dass der Bass ins Schlagzeug fällt und dann wieder so ne Karambolage, //mhm// leider leider fällt der Bass ihm genau auf den Kopf, //beide @(.)@// das war so groß, da haben wir auch sehr gelacht dadrüber also dann, als ich dann drüber weg war mir das anzugucken und alles ganz schrecklich zu finden, da konnte ich auch sehr drüber lachen, so wow, die waren echt ganz schön durch
Auch hier zeigt sich eine Veränderung bei Sarah. Zum einen haben sich ihre Gefühle gegenüber Nirvana transformiert. Hatte sie bei der vorbereitenden Auseinandersetzung mit dem Nirvana-Material noch »geheult« und »alles ganz schrecklich« (295) gefunden, so kann sie nun, während der öffentlichen 39 Dass der Abend öffentlich war, geht aus Sarahs Antwort auf meine Frage »Und ähm das war (.) war ein öffentliches Theaterstück, was ihr da gemacht habt, ja?« hervor: »Ja, richtig mit auch Eintritt bezahlen und so von @fremden Leuten@«. 174
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Aufführung, über die Missgeschicke der Band »sehr« (293) lachen. Sarah hat also Distanz zu Nirvana gewonnen. Dabei fällt auf, dass sich das Lachen gerade auf die inszenierte Destruktivität Nirvanas bezieht, welche Sarah am Anfang ihrer Fan-Biographie so fasziniert hatte. Zum zweiten ist Sarah nun nicht mehr allein mit ihren Gefühlen, sondern sie lacht mit anderen gemeinsam, wie wiederum das Wort »wir« (293) zeigt. Die Formulierung »das war so groß« (292f.) kann einerseits auf den Konzertmitschnitt bezogen werden (den sie ja auch schon vorher als »großartig« (288) bezeichnet), andererseits leitet die Formulierung geradewegs zur Darstellung des gemeinsamen Lachens über, so dass man sagen kann, dass gerade das gemeinsame Lachen »groß« war, also eine stark positive Erfahrung für Sarah bedeutete. 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250
Ja und den Abschluss gefunden hat das halt quasi, dass ich ein Lied von ihm gesungen habe vor Leuten, //aha//, was ich immer noch nicht raffe, dass ich das wirklich gemacht hab, halt im Rahmen von diesem Abend haben halt zwei Schauspieler und ich haben halt zwei Lieder gesungen und eins haben wir halt am Ende zusammen gesungen und (.) genau und dann hab ich halt (.) ich hab noch nie in meinem Leben vor Publikum gesungen, geschweige denn irgendeinen Laut //mhm// außer im Auto, ich war auch nie im Chor @oder sonst irgendwas@, Singen war immer etwas, das machen andere Leute //mhm// und dann hab ich halt eben für diesen Abend mich entschieden, das äh zu singen
Sarah durchlebte während des Abends ein für sie nicht fassbares Über-SichHinauswachsen. Dies kommt in der Weise zum Ausdruck, wie Sarah ihren Gesangs-Auftritt darstellt. Die Praxis des Singens hat demnach so gut wie keinen Platz in ihrem Leben (»außer im Auto«, 246f.). Dieser Ausschluss des Singens aus ihrem Leben geht so weit, dass sie im Hinblick auf diese Praxis sogar eine klare Abgrenzung zu anderen Menschen konstruiert: »Singen war immer etwas, das machen andere Leute« (248). Die Verwandlung zeigt sich darin, dass sie sich diese Praxis auf dem »Gedenkabend« für Kurt Cobain dann aber doch zu Eigen machte. Allerdings ist ihr das Singen, zumal vor Publikum, in einer so radikalen Weise fremd, dass sie sich durch ihren Auftritt selbst fremd wurde: »was ich immer noch nicht raffe, dass ich das wirklich gemacht hab« (240f.). In diesem Sinne ist sie während des Abends über sich hinausgewachsen, hat sie sich selbst transzendiert. Wodurch aber wurde Sarah sich selbst fremd? Durch die mimetische Anähnlichung an den Sänger Kurt Cobain! Auch wenn Sarah hier also ihr schon eingangs rekonstruiertes mimetisches Verhältnis zu Cobain wieder aufleben lässt, zeigt sich doch eine entscheidende Veränderung. Denn in der Anfangs175
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zeit war es ganz unproblematisch für sie, Cobain zu werden – sie ließ einfach die Haare wachsen, zog die Strickjacke an, und schon »war« sie »Kurt«. An dieser Stelle war von Selbst-Fremdheit nichts zu erkennen. Die Verwandlung, die Sarah dagegen beim »Gedenkabend« durchleben musste, um in Cobains Rolle zu schlüpfen, macht nun deutlich, dass sie gerade nicht Kurt Cobain ist, ja, dass Cobain ihr im Hinblick auf das Singen sogar äußerst fremd ist. Bei Sarahs Gesangs-Auftritt zeigt sich also, dass Sarah die – für ihr Überleben notwendige – Identitäts-Umwandlung inzwischen vollzogen hatte. Ein weiterer Wandel ist darin zu sehen, dass Sarah während des »Gedenkabends« ihre Starre, in die sie unmittelbar nach Cobains Tod verfallen war, auflöste. Nicht nur kamen ihre Gefühle in Bewegung, das Singen verweist auch auf einen bewegten Körper. Gerade diese Bewegtheit macht deutlich, dass sie mit dem »Gedenkabend« den todesähnlichen Zustand, in den sie seit Cobains Suizid zumindest latent verfallen war, beenden konnte und eine neue Belebung erfuhr. Ein Punkt, der in dieser Passage besonderer Aufmerksamkeit bedarf, ist Sarahs Formulierung »...und den Abschluss gefunden hat das...« (239). Was hat hier einen Abschluss gefunden? Eine zunächst naheliegende Interpretation kann sich auf den Zeitpunkt des Singens im Verlauf des Abends beziehen. Zwar geht aus Sarahs Erzählung die Reihenfolge, in der die verschiedenen Gesangsteile dargeboten werden, nicht klar hervor, aber es wird deutlich, dass zumindest ein Lied, welches sie mit anderen gemeinsam gesungen hat, »am Ende« (244) des Abends zum Vortrag gekommen ist und damit den Abend beschlossen hat. Allerdings verwendet Sarah den Begriff des »Abschlusses« nur in Bezug auf ihr eigenes, nicht auf das gemeinsame Singen: »...dass ich ein Lied von ihm gesungen habe...« (239f.). Dies klingt, als hätte sie ein Lied alleine gesungen. Es kann aber nicht das Abschlusslied des Abends gewesen sein, denn dieses war eben ein gemeinsames. Nun geht aus ihrer Erzählung aber auch nicht deutlich hervor, ob sie überhaupt ein Lied allein vorgetragen hat, oder ob sie alle Lieder, bei denen sie beteiligt war, zusammen mit anderen gesungen hat. Die Interpretation, die den Begriff des Abschlusses auf das Ende des Gedenkabends bezieht, ist vor dem Hintergrund dieser Überlegungen nicht stimmig. Plausibler wird die Deutung, wenn der Abschluss nicht im Hinblick auf den Abend, sondern auf Sarahs todesähnlichen Zustand verstanden wird. Es geht ihr darum, dass sie ein Lied gesungen hat, und dieses Singen für sie etwas beendete. Wenn in Betracht gezogen wird, welche Bedeutung der Abend für sie hatte: dass bei der Vorbereitung ihre stille Krise wieder aufbrach, sie dann während des Abends aber einen Wandel erfuhr, so ist es durchaus folgerichtig, dass das Singen des Liedes schließlich ihre Krise zu einem Ende brachte. Für diese Interpretation spricht auch, dass Sarah, nachdem sie davon berichtet, ein Lied gesungen zu haben, zunächst nicht auf die konkreten Um176
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stände des Singens eingeht, sondern darüber reflektiert, dass sie ihr Handeln noch immer nicht versteht. Kurz, mit dem Akt des Über-Sich-Hinauswachsens beendete Sarah ihre latente Krise, ihren todesähnlichen Zustand. Dabei sieht sie sich selbst allerdings nicht als aktiv an, sondern als jemanden, dem etwas geschieht, denn sie sagt nicht etwa, sie habe durch das Singen etwas beendet. Wieder scheint es so, als sei sie von dem, was während des Abends passierte, überwältigt und damit verzaubert worden. Halten wir zunächst fest, dass Sarahs Krise durch diese öffentliche Veranstaltung beendet wurde. Hier lässt sich ein Bezug zu van Genneps Abfolgeschema der Übergangsriten herstellen. Auch wenn ich meine, dass Sarahs Krise, die durch Cobains Selbsttötung hervorgerufen wurde, nicht ausschließlich als Trauer interpretiert werden kann, lohnt doch ein Blick auf van Genneps Ausführungen zu Trauerriten: Jede Kultur kennt die Trauerzeit, die allerdings je unterschiedlich lang dauern und verschiedene Stufen beinhalten kann. »Immer aber kommt der Augenblick, in dem die Verbindung abreißt, nachdem sie Schritt für Schritt gelockert worden ist. Die letzte Gedenkfeier oder der letzte Besuch bringen die Trennungsriten und die Neuordnung der Gesellschaft der Lebenden insgesamt bzw. einer bestimmten Gruppe zum Abschluß« (van Gennep 2005: 157). Es fällt auf, dass Sarah fast dasselbe Wort wie van Gennep wählt, um ihre Aufführung zu bezeichnen (»Gedenkabend«/»Gedenkfeier«). Zudem lässt sich bei Sarah auch die Betonung rekonstruieren, die van Gennep darauf legt, dass es sich eben um den letzten Abschied handelt; denn auf meine Frage, ob sie mehrere solcher Abende veranstaltet habe, antwortete sie: 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366
Es war wirklich nur der Abend, vom siebten auf den achten April. //ja// Wo er sich halt umgebracht hat. //mhm, ah ja// Das war auch wirklich so, es haben dann n paar Leute zu uns gesagt ja das war das war voll der schöne Abend und den könntet ihr auch in irgendwelchen Kneipen aufführen und so, da war ich echt völlig (.) nee, ich führ’s auch nie wieder auf, ich sing auch nie wieder vor Publikum irgend’n Nirvana-Song, das war einmal und das war in dieser Nacht weil ich das für ihn haben wollte //mhm// aber das war eher wie ne Totenwache noch mal
Sarahs Fassungslosigkeit angesichts des Publikums-Wunsches nach Wiederholung resultiert daraus, dass sie den Abend eben nicht für die Unterhaltung von Zuschauern inszeniert hatte, sondern ihn als ihren endgültigen Abschied von Kurt Cobain ansah. Darauf verweist der Begriff der »Totenwache« (366). Dementsprechend bedeutete Sarah das positive Feedback der Zuschauer auch nichts. Der Charakter der Endgültigkeit des Abschiedes von Kurt Cobain
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kommt aber nicht nur in Sarahs Ablehnung zum Ausdruck, den Abend zu wiederholen, sondern auch in der Formulierung »das war einmal« (364), die auf eine in der Vergangenheit liegende, abgeschlossene Zeit verweist. Zudem zeigt ihre klare Ablehnung, jemals wieder ein Lied von Nirvana zu singen, dass sie auch das mimetische Verhältnis, welches sie einst zu Kurt Cobain eingegangen war, nun abschließend beendet hat. Bemerkenswert ist hier zudem Sarahs Formulierung, sie habe den Abend »für ihn« (365) und eben nicht für das Publikum veranstaltet. Die »Totenwache« kann somit wiederum als eine Form des Starkults, des »Austausches von Diensten« (Durkheim) angesehen werden, wie ich ihn in anderer Form auch schon bei Tina rekonstruiert hatte. Im Vergleich mit Tina zeigt sich darüber hinaus, dass sowohl für Tina als auch Sarah eine Art Trennungsritus einen entscheidenden Wendepunkt in den Fan-Biographien darstellt. Bei Tina war es der Erhalt des Autogramms, der sie aus dem Bann, der von Robbie Williams auf sie ausging, befreite. Der Erhalt des Autogramms stellte sich als eine rituelle Handlung heraus, mittels derer Tina gleichsam ent-zaubert wurde. Ähnlich sieht es auch bei Sarah aus: Der »Gedenkabend« kann ebenfalls als eine rituelle Handlung interpretiert werden, die Sarah von ihrer mimetischen Bindung an Cobain löste und sie damit ebenfalls ent-zauberte. Gleichzeitig zeigen sich aber auch Unterschiede zwischen Tina und Sarah: Während der Gedenkabend für Sarah den »Abschluss« ihres Fan-Seins bedeutete, war für Tina mit dem Erhalt des Autogramms »gar nix vorbei«. Tina blieb Fan von Williams, hatte jetzt allerdings als Elder-Fan, der sie inzwischen geworden war, eine veränderte Fan-Orientierung. Bei Sarah könnte es zunächst so scheinen, als ob auch sie die Rolle eines Elder-Fans angenommen hätte, schließlich inszenierte sie in eigener Verantwortung den Fan-Abend für Kurt Cobain. Allerdings hat die Rolle als Elder-Fan für Tina eine identitätsstiftende Funktion. Dies ist bei Sarah nicht der Fall. Sie hat den Abend nicht primär für die anderen Fans veranstaltet, sondern für ihre eigene Beziehung zu Cobain, die durch den Abend endgültig aufgelöst wurde.
Sarahs Fan-Biographie im Überblick Nun geht es wieder darum, die im Vorangegangenen rekonstruierte Fan-Biographie zusammenzufassen und ritualtheoretisch zu reflektieren. Sarahs FanBiographie begann im Alter von 13 oder 14 Jahren. Es folgte eine Verzauberung in Form der mimetischen Identifikation, die allerdings zeitlich nicht genau eingeordnet werden kann. Als Sarah 15 war, erfuhr ihre Fan-Biographie mit Cobains Selbstmord einen jähen Bruch, der zu dem rekonstruierten todesähnlichen Zustand des »Brütens« führte. Sie ging dann auf Konzerte von lokalen Hardcore-Bands. Mit 17 Jahren löste sie sich auch von dieser Musik 178
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und hörte nur noch Elektro. Das nächste relevante Datum in ihrer Erzählung ist der »Gedenkabend« für Kurt Cobain, an dem sie dann schon 25 Jahre alt war und mit dem sie eine Entzauberung von dem Nirvana-Sänger erreichen konnte. Auch wenn Sarahs Fan-Biographie nicht so ›glatt‹ verläuft wie die von Tina, hat sie doch Gemeinsamkeiten mit jener: Auch Sarah erfährt eine rituelle Ver- und Entzauberung. Entsprechend kann man Sarahs Fan-Biographie auch analog zu Tinas in Phasen einteilen, wobei die liminoide Phase, die zwischen Ver- und Entzauberung liegt, bei Sarah durch Cobains Selbstmord zweigeteilt erscheint: Im ersten Teil geht Sarahs Fan-Sein mit den liminoiden Themen der Auseinandersetzung mit dem sozialen Geschlecht sowie der Herstellung vertikaler und horizontaler Communitas einher. Im zweiten Teil, nach dem Tod Cobains, war mit dem »Brüten« und dem darauf folgenden latenten todesähnlichen Zustands weiterhin ein liminoides Thema wichtig, das erst durch den »Gedenkabend« beendet wurde. Auch bei Sarah wurden, analog zu Tina, entscheidende fan-biographische Wendepunkte durch rituelle Handlungen – die Verwandlung in »Kurt« sowie der »Gedenkabend« – hervorgebracht, so dass auch hier van Genneps Drei-Phasen-Modell der Übergangsriten in der oben modifizierten Form anwendbar ist.
t
Alter:
Verzauberung █ █ ca. 14
liminoide Phase
Cobains Tod 15
Entzauberung █ 25
Auch Sarahs Fan-Biographie ist wie Tinas eng mit der Adoleszenzthematik verbunden. Über das Fan-Sein kann Sarah die Adoleszenzkrise, die bei ihr durch die Zumutung, sich dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen, sowie der Ablösung von den Eltern gekennzeichnet ist, bearbeiten. In dieser Hinsicht ist also auch für Sarah das Fan-Sein für die Übergangszeit der Adoleszenz funktional.
Timo, Fan von Xavier Naidoo Timo ist zum Zeitpunkt des Interviews 26 Jahre alt und lebt in einer Großstadt, hier D-Stadt genannt. Er hat die Realschule abgeschlossen, Industriekaufmann gelernt und macht gerade auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur. Sein Vater ist Lehrer, seine Mutter war früher Lehrerin und arbeitet jetzt als Kinesiologin und Lerntherapeutin. Timo ist deutsch und keiner Religionsgemeinschaft zugehörig. Ich bekam Timos E-Mail-Adresse von einem Xavier Naidoo-Fan, mit dem ich bereits ein Interview durchgeführt hatte. In unserer Mail-Korres179
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pondenz vor dem Interview erkundigte sich Timo, ob ich das Interview im Auftrag der Musikindustrie mache. Als ich dies verneinte, willigte Timo in das Interview ein. Schließlich verabredeten wir uns telefonisch für den 07.09.2005 in seiner Wohnung. Schon am Telefon sagte er mir, dass er nicht nur Fan von Xavier Naidoo sei, sondern auch von anderen Musikern, und dass er mir gerne zusätzlich zu dem Interview einige Songs vorspielen würde. Das Interview dauerte insgesamt gute 1½ Stunden. Nachdem das Aufnahmegerät ausgeschaltet war, bat er mich noch zu notieren, dass ihm die Texte von Xavier Naidoo sehr gut gefallen, vor allem die schöne Sprache und die inhaltlichen Mehrdeutigkeiten. Anschließend spielte Timo mir noch zwei Lieder von Xavier Naidoo sowie ein Video der Gruppe »Ich und Ich« vor, wobei wir anschließend über die Texte der Songs sprachen. Außerdem zeigte er mir zwei seiner selbstgeschriebenen Gedichte. Im Gespräch sagte er mir dabei, dass er glaube, die Welt sei momentan in einem großen Prozess der Veränderung und dass eine Zeit kommen werde, wo jeder sich entscheiden müsse, wozu er stehe.
Bemerkungen zu Xavier Naidoo Xavier Naidoo, der 1971 in Mannheim geborene Sohn eines deutsch-indischen Vaters und einer südafrikanischen Mutter, war zunächst als Background-Sänger bei dem Musikproduzenten und Rapper Moses Pelham, der das Label 3p (Pelham Power Productions) betreibt, engagiert, bevor 1998 sein erfolgreiches Solo-Debut »Nicht von dieser Welt« erschien. 2000 trennten sich Naidoo und Pelham im Zuge eines Rechtsstreits. Naidoo veröffentlichte weitere, von Soul, Gospel und Hip Hop beeinflusste Solo-Alben, spielte aber immer wieder auch mit anderen Musikern zusammen, unter anderem mit den »Söhnen Mannheims«. Mediale Berichterstattungen über Naidoo heben oft die tiefe Religiosität hervor, die er in seinen Songtexten zum Ausdruck bringt. Ein Blick auf Aussagen von Naidoo zeigt, dass diese Religiosität den oben dargelegten Kennzeichen der Pop-Religiosität entspricht.40 So geht Naidoo deutlich auf Distanz zur institutionalisierten Religion und bringt eigenwillige Deutungen der Bibel. In einem Interview sagt er: »Und ich hab nie Gott gespürt in der ganzen Zeit, in der ich in die Kirche gegangen bin. […] Ich bin mir nur sicher, daß Gott sich nicht da finden lassen wird, wo die Kirche das vermutet« (Schröder 2001: 116 u. 132). Viele seiner Songtexte lassen sich aus ritualtheoretischer Perspektive als Ausdruck von Communitas-Vorstellungen und Einforderung von Communitas-Werten – also als ideelle Communitas – deuten. Eine Textstelle aus dem Titel »Bist du am Leben interessiert« vom Album »Telegramm für X« (2005) dokumentiert dies beispielhaft: 40 Vgl. dazu Seite 100f. 180
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»Du spürst das tief in dir drin, wenn die Melodien dieser Lieder erklingen, deine Seele umarmen und die Tränen der Wahrheit zu fließen beginnen siehst du den Sinn, ob alt oder jung, ob blind ob stumm, die ohne Zeit oder die mit Geduld, sieh dich an, schau dich um, auch du bist ein Mensch aus Fleisch und Blut, aber auch wie das Küken aus der frischen Brut, spürt er wie der Krieg uns nicht gut tut, eine ganze Generation schöpft Mut, die ganze Generation einer Nation, setzt sich den Frieden wie auf einen Thron, die ihr den Krieg liebt, was wisst ihr schon?«
Frieden, nach Turner ein Synonym für Communitas, gilt hier als höchstes Gut. Soziale Differenzen wie »alt oder jung« etc., welche soziale Struktur kennzeichnen, werden mit dem Hinweis auf die universelle Verbundenheit von Menschen (»Mensch aus Fleisch und Blut«) relativiert und transzendiert. In der Durchsetzung von Communitas hofft Naidoo vor allem auf Gott, wie das folgende Beispiel aus dem Titel »Abgrund« vom selben Album deutlich macht: »Werd meine Hände falten, mit der Kraft von Urgewalten, denn wir sind keine Terroristen, brauchen keine Revolution, denn unser Mann an der Front der regelt alles schon.« Vor allem seine religiösen Aussagen brachten Naidoo allerdings verschiedentlich den Vorwurf des Fundamentalismus ein.41
Timos Fan-Biographie In Timos Ausführungen finden sich, im Vergleich zu den beiden bisher rekonstruierten Einzelinterviews, relativ viele argumentative Passagen; die Erzählungen und Beschreibungen fallen dagegen meist recht knapp aus. Meine Einstiegsfrage bezog sich, der Vergleichbarkeit wegen, darauf, wie Timos Interesse für Xavier Naidoo angefangen und sich entwickelt hat, auch wenn Timo mir ja schon gesagt hatte, dass er nicht allein von Naidoo Fan sei. Auf die Einstiegsfrage hin begann Timo mit folgenden Ausführungen: 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Ja das war so, dass ich eigentlich schon bevor ich auf Xavier Naidoo an sich aufmerksam wurde Fan seines ehemaligen Labels sprich 3p war, also das Rödelheim Hartreim Projekt, Sabrina Setlur etcetera gehört habe, wobei mich da eher die tiefsinnigeren Texte interessiert haben als die aggressiven und nachdem Xavier dann da als Backgroundsänger immer weiter in den Vordergrund langsam getreten ist fand ich ihn eben (.) ist er mir als sehr interessant aufgefallen, sowohl stimmlich als auch textlich //mhm// das erste Mal bewusst also richtig bewusst gesehen habe ich ihn bei
41 Aus theologischer Perspektive liegt eine Studie über Xavier Naidoo von Ganster (2003) vor. 181
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einer Live-Sendung, das war VIVA-Overdrive mit äh Sabrina Setlur, das muss etwa 1997 gewesen sein, und zwar bei dem Track »Glaubst Du mir?«, wo er den Refrain gesungen hat. //mhm// Und seitdem hab ich also auch seine Karriere so so von Anfang an verfolgen können und hab mir eben die die Singles und Alben alle gekauft und mich eben auch sehr mit der Musik beschäftigt
Wie Tina und Sarah wird auch Timo über die Medien mit der Musik bzw. den Musikern bekannt. Schon an dieser Stelle des Interviews mit Timo zeigen sich aber auch deutliche Unterschiede sowohl zu Tina als auch zu Sarah. Ein Unterschied zu Sarah ist darin zu sehen, dass Timo das Aggressive, welches für Sarah bei Nirvana ja zentral war, tendenziell von sich weist, obwohl es von dem Label 3p, als dessen »Fan« (7) er sich bezeichnet, mit abgedeckt wird. Und im Gegensatz zu Tina legt Timo sehr großen Wert auf die Musik. Dabei betont er die sprachlich-inhaltliche Seite der Songs, welche wiederum weder bei Tina noch bei Sarah besonders relevant war. In Timos Bevorzugung von »tiefsinnigeren« (10) Songtexten dokumentiert sich ein kontemplativer, reflexiver Zugang zur Musik: Timo dient die Musik zum (ernsthaften) Nachdenken. Auch der Begriff des »Interesses« (11, 14) verweist darauf, dass Timo eine kognitive sowie distanzierte Haltung gegenüber der Musik hat. Von einer emotional-involvierten Identifikation mit den Stars von 3p kann bei Timo also keine Rede sein. Seine primäre Fan-Orientierung ist nicht wie Tinas und Sarahs personbezogen (hinsichtlich des Stars); vielmehr lässt sie sich als werkbezogen charakterisieren, weil Timo die Musik in den Mittelpunkt stellt. Auch die Formulierung, nach der Timo sich mit Naidoos Musik »beschäftigt« (23) hat, zeigt, dass Timo sich der Musik weniger emotional hingibt, als dass er sich mit einer gewissen Distanz kognitiv damit auseinandersetzt. Anders als Tina und Sarah gibt Timo keine konkrete Altersangabe für die Zeit des Anfangs seines Interesses für den Musikstar an. Das von ihm erwähnte Datum 1997 lässt aber darauf schließen, dass er ca. 18 Jahre alt war, als er auf Naidoo aufmerksam wurde, also deutlich älter als Tina und Sarah zu Beginn ihrer Fan-Biographie. Allerdings darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass Timo vorher schon Fan von anderen Musikern war und nicht als ›reiner‹ Naidoo-Fan angesehen werden kann. Wann sein Interesse für populäre Musik begann, lässt sich hier nicht rekonstruieren. Unmittelbar anschließend an diese Einstiegserzählung verlässt Timo den erzählenden Modus und beginnt theoretisch zu kommentieren, was ihm an Xavier Naidoos Musik gefällt: 24 25
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dass er n stimmliches Talent ist, das steht @(.)@ glaub ich außer Frage, aber das ist eben auch sehr
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interessant, was er da in seinen Texten zu vermitteln versucht, was seine Philosophie ist, //mhm// sprich mmh er sagt ja von sich selbst, dass er die äh die Bibel in modernes Deutsch übersetzt, was natürlich zwar etwas gewagt ist, weil er da ja, sehr viel reininterpretiert, sprich Mannheim ist das neue Jerusalem und so, (.) also das ist nicht so, dass ich da jetzt alles, was er da so sagt beziehungsweise singt so auch glaube, //mhm// aber ich finde das auf jeden Fall interessant und ich denke, was das Wichtigste ist, ist dass er in einer Zeit, wo eigentlich viele so traditionelle Werte wie die Familie und der Beruf so am Wegbrechen sind, dass er da den Leuten eine Perspektive gibt und eigentlich so speziell die jüngeren Leute aber auch ältere und vor allem aus verschiedenen Schichten wieder für (.) ja für Gott interessiert macht
Dass Timo nur kurz auf die musikalische Seite der Songs eingeht und schnell wieder auf die Texte zu sprechen kommt, kann nicht in dem Sinne gedeutet werden, dass er der musikalischen Seite weniger Bedeutung zumisst. Denn er stellt Naidoos »stimmliches Talent« (24) als eine feststehende Tatsache dar, über die dann natürlich nicht weiter gesprochen werden muss. Zunächst mag es begrifflich etwas verwirren, dass Timo Naidoo eine »Philosophie« (27) unterstellt, diese sich dann aber als Religion entpuppt, denn Timo bezieht sich dabei auf Naidoos Auseinandersetzung mit religiösen Themen in den Songs. Ich denke, der Begriff der Philosophie kann so gelesen werden, dass er wieder auf Timos nachdenkliche Haltung und sein kritischdistanziertes Interesse an den Inhalten von Naidoos Musik verweist. Denn in Timos Erörterungen zu Naidoos Deutungen der Bibel dokumentiert sich auch wieder seine reflexive Orientierung: Er setzt sich mit den Themen der Songs auseinander, bewahrt dabei aber insofern seine Autonomie, als er sich die Inhalte nicht ungefragt aneignet, sondern sich seine eigene, unabhängige Meinung dazu bildet. Insofern kann die Unklarheit, die zunächst bezüglich der Begriffe Religion und Philosophie entstanden ist, aufgelöst werden: Timo hat einen philosophischen Zugang zu Xavier Naidoos religiösen Äußerungen. Die Frage, ob Timo Naidoos Aussagen glaubt oder nicht, tritt in den Hintergrund gegenüber dem, was für Timo »das Wichtigste« (35) ist: dass Naidoo es seiner Auffassung nach schafft, Menschen Halt zu geben. Auch hier wird wieder Timos kognitiv-distanzierte Orientierung deutlich, erscheint allerdings auf einer anderen Ebene. Es geht nicht mehr um Timos eigenes Interesse, sondern um das Interesse anderer Menschen. Timo reflektiert hier über Naidoos gesellschaftliche Bedeutung und nimmt damit gewissermaßen eine so183
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ziologische Perspektive ein. Die zwei Punkte, die er dabei hervorhebt, entfalten eine Variante von Victor Turners ritualtheoretischem Konzept, auch wenn Timo keine Begriffe der Ritualforschung verwendet. Denn zum einen beschreibt Timo die moderne Gesellschaft als eine, die sich in einer Situation des Umbruchs, gleichsam in einer liminalen (bzw. liminoiden) Phase, befindet. Die »Leute« (40), über die Timo nachdenkt, sind in einer ungewissen Übergangsphase, in der ihnen wichtige Orientierungspfeiler gesellschaftlicher Struktur (Familie, Beruf) »wegbrechen« (38). In dieser Situation lenkt Xavier Naidoo Timos Ansicht nach den Blick vieler Menschen auf das Sakrale, was eben einen Ausweg aus dem Zustand der Unsicherheit bedeute. Ganz ähnlich hat Turner die Liminalität in Übergangsriten beschrieben: In der Phase des »betwixt and between« findet die Begegnung der Initianden mit Gott oder den Göttern statt, wird die vertikale Communitas hergestellt. Zum anderen ist es Timos Interpretation zufolge von besonderer Bedeutung, dass sich alle Menschen unterschiedslos von Naidoo angesprochen fühlen können. Soziale Differenzen, die aufgrund des Alters oder der Schichtzugehörigkeit zwischen Menschen existieren, gelten dabei nicht. Unschwer ist hier die Idee der horizontalen Communitas nach Turner zu erkennen. Hatte Timo bis zu dieser Stelle des Interviews zwar immer wieder sein Interesse an Xavier Naidoo und dessen Musik formuliert, dieses aber durch die rekonstruierte Distanznahme relativiert, so dokumentiert sich hier schließlich der eigentliche Punkt, der ihn vorbehaltlos an Naidoos Musik fasziniert: Timo geht es um die Idee der Communitas, sowohl in horizontaler als auch vertikaler Ausrichtung. Dies ist für ihn »das Wichtigste«, und es wird von ihm auch nicht relativiert. Hier lässt sich also eine Orientierung an ideeller Communitas bei Timo rekonstruieren. Im Anschluss an den vorangegangenen theoretischen ›Exkurs‹ machte Timo eine Pause, in der ich ihn schließlich anregte, seine Erzählung wieder aufzunehmen. Daraufhin fuhr Timo wie folgt fort: 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 184
Er hat ja dann sein Album »Nicht von dieser Welt« herausgebracht //mhm// und (1) da: gab’s ja auch ne Reihe von Konzerten zu, wo ich auch auf einem Konzert war in A-Stadt und das ganze war halt auch in einer Zeit, in der bei mir so ne Art äh so ne Art Selbstfindungsphase angefangen hat, das heißt, ich war halt am Ende so meiner Ausbildung und hatte da eigentlich so meine meine Schwierigkeiten, so diesem diesem Druck irgendwie standzuhalten und hab auch angefangen, oder verstärkt einfach zu hinterfragen was mir da so meine meine Umwelt, nicht nur jetzt die Eltern oder die Vorgesetzten sondern eigentlich so die Gesellschaft an sich, was die mir so erzählen möchte, ob
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das denn alles so gut und richtig ist, //mhm// und äh da hat mir seine Musik auf jeden Fall sehr bei geholfen
Timo erwähnt zwar das Konzert, geht aber im Unterschied zu Tina und Sarah nicht weiter darauf ein. Dennoch hat das Konzert, genau wie das im gleichen Atemzug erwähnte Album, eine wichtige Bedeutung für ihn, denn er bezieht beides sowohl zeitlich als auch inhaltlich auf den gesamtbiographischen Kontext seiner »Selbstfindungsphase« (52), die – dem Erscheinungsjahr des Albums (1998) entsprechend – begann, als er ungefähr 19 Jahre alt war. In seiner abstrahierenden Erzählung über diese Zeit zeigt sich dann, dass Timo jene soziale Bedeutung, die er Naidoo bisher nur verallgemeinernd zugeschrieben hatte – nämlich Menschen aus einer Situation der Verunsicherung herauszuhelfen –, in leicht abgewandelter Form bereits selbst erfahren hat. Schon der Begriff »Selbstfindungsphase« verweist auf eine liminoide Zeit der Veränderung. Timo befand sich kurz vor einem biographisch bedeutsamen Übergang (Ende der Ausbildung), der oft mit Krisenerfahrungen verbunden ist. Zudem sind auch Timo in gewisser Weise (genau wie er es oben den »Leuten« unterstellt hatte) der Beruf und die Familie »weggebrochen«, als er, ausgehend von leidvollen Leistungsanforderungen in der Ausbildung, anfing, an den von seinen Eltern und Vorgesetzten vertretenen Werten zu zweifeln.42 Ähnlich wie Sarah, die zu ihren Eltern und den Boygroup-Fans in ihrer Klasse auf Distanz gegangen war, grenzte sich Timo also von den Werten anderer Menschen ab. Wenn Timo die Autorität seiner Eltern bzw. Vorgesetzten in Zweifel zog, so allerdings lediglich in Gedanken, von konkreten symbolischen Inszenierungen des Widerstands, die ich bei Sarah rekonstruiert hatte, erzählt Timo nichts.43 Auch hier zeigt sich wieder seine reflexive Orientierung. Doch weiter: Timo ging es nicht eigentlich um konkrete Menschen wie seine Eltern oder Vorgesetzten; bei ihm ging die Distanzierung viel weiter und richtete sich verallgemeinernd auf die »Gesellschaft an sich« (59). Fragt man, was er mit dieser Formulierung meinen könnte, so ist der Kontext, in dem sie steht, aufschlussreich: Zum einen hatte Timo vom negativ erfahrenen »Druck« (54) in der Ausbildung gesprochen, was auf ökonomische und soziale Zwänge verweist. Zum zweiten bezieht Timo sich auf Hierarchieverhältnisse (Eltern, Vorgesetzte), die er in Frage stellt. Nun sind nach Turner aber gerade Ökonomie und Hierarchie zwei entscheidende Merkmale von Sozialstruktur.44 So zeigt die Rekonstruktion, dass Timo damals anfing, die von ihm wahrgenommenen Werte der Sozialstruktur abzulehnen, was dem Beginn einer Orientierung an ideeller Communitas gleichkommt. Die »Selbstfindungsphase« er42 Sein Beruf ist ihm insofern weggebrochen, als er ihn letztendlich, allerdings erst nach Beendigung der Ausbildung, aufgegeben hat. 43 So hatte Sarah sich z. B. »geweigert«, ihre Haare schneiden zu lassen. 44 Siehe dazu auch die Ausführungen auf Seite 49f. 185
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weist sich somit als eine Zeit der Transformation von Timos sozialer Orientierung. Bei der Aneignung dieser für ihn neuen sozialen Orientierung erhielt Timo nun Beistand von Xavier Naidoos Musik. Der Begriff »geholfen« (61) verweist dabei darauf, dass Timo alleine keinen Ausweg aus der Krise fand und sich als hilfsbedürftig erfuhr. Dies deutet an, dass er die Autonomie, die er für sich in Anspruch nimmt (bezüglich der Interpretation der Songtexte), während der Krisenphase verloren hatte. Zwar geht Timo nicht direkt darauf ein, in welcher Weise ihm die Musik genau eine Hilfe war. Der Kontext seiner Darstellung weist aber darauf hin, dass die Musik ihm mittels der Songtexte neue Werte erschloss – denn es ging darum, neu zu definieren, was für ihn »gut und richtig« (60) ist. Die Musik war gleichsam in der Lage, die inhaltliche Lücke zu schließen, die durch seine Zweifel entstanden war – denn es ist nur ein erster Schritt, bestimmte Werte in Frage zu stellen, der zweite besteht darin, alternative Werte zu finden und zum Ausdruck zu bringen. Da Timo, wie sich bereits gezeigt hatte, von der Idee der Communitas bei Naidoo fasziniert ist, lässt sich schließen, dass sich die Werte, welche er sich während der Krise durch die Musik aneignete, an der in den Songtexten von Naidoo ausgedrückten ideellen Communitas orientierten. Bevor ich im Interview fortfahre, sei noch festgehalten: Die weiter oben rekonstruierte Passage, in der Timo erzählt, für ihn sei das »Wichtigste« (35), dass Naidoo mit seiner Musik anderen Menschen in Krisensituationen zu helfen vermöge, erscheint nun in einem anderen Licht. Timo ist dort nicht allein deshalb so uneingeschränkt involviert, weil er sich für die anderen Menschen freut, sondern vor allem, weil er einmal selbst einer jener »Leute« (40) war, über die er in dieser Passage spricht. 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71
das war halt auch so die Zeit (.) das war so um Ostern 99 rum, wo ich dann auch selbst angefangen habe Gedichte zu schreiben, hin und wieder, wenn mir einfach danach war, wenn ich was zu verarbeiten hatte und ich diese Gedichte dann seinerzeit ins 3p-Forum gestellt habe und da dann halt auch (.) ja, Seelenverwandte gefunden habe //mhm// und ich dann so feststellen konnte dass ich mit äh (.) ja, meinen Ansichten und Einstellungen doch nicht so allein war, wie ich es zuerst geglaubt habe.
Es zeigt sich hier, dass nicht nur die Musik Timo in der Krise geholfen hat, sondern auch das Internet-Forum des Labels 3p: Mit ungefähr 20 Jahren begann sich seine soziale Isolierung aufzulösen, als er eine Einbindung in die virtuelle Gemeinschaft der 3p-Fans erfuhr. Dass er Gedichte schrieb, um sich
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auszudrücken und nicht, wie z. B. Sarah, sich von der äußeren Erscheinung her dem Star anähnelte, lässt wieder seine kognitiv-reflexive Orientierung erkennen, die auch schon in vorherigen Passagen rekonstruiert wurde. Nicht nur, dass er an »tiefsinnigeren« Songtexten interessiert war, er ging auch selbst kreativ mit Sprache um. Der Begriff der »Seelenverwandten« (67) verweist hier auf die Empfindung einer außergewöhnlichen, emotionalen Verbindung mit den anderen Fans, die er im Forum antraf. Diese Verbindung rührte daher, dass Timo nun genau diejenigen Gedanken, die ihn von seiner bisherigen sozialen Umwelt entfremdet hatten, mit anderen teilen konnte. Die Formulierung »Ansichten und Einstellungen« (69) bringt dabei nicht nur Timos Reflexivität, sondern auch seine Orientierung an ideeller Communitas zum Ausdruck. Timo stand nun nicht mehr alleine in Opposition zur »Gesellschaft an sich«, sondern hatte sozialen Anschluss gefunden, ohne seine kritische Haltung aufgeben zu müssen. Gerade die Tiefe der Verbindung, die im Begriff der »Seelenverwandten« zum Ausdruck kommt, verweist dabei auf eine Erfahrung von unmittelbarer Communitas, die in der virtuellen Gemeinschaft der 3p-Fans für ihn möglich wurde. 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82
ja und die Ausbildung hab ich dann so mit Ach und Krach beendet, habe noch ne Weile in dem Beruf gearbeitet, aber hab auch praktisch (.) was so interessant war, ich hab immer so die die Zeiten, in denen ich gearbeitet habe auch so n bisschen abgesteckt, äh verglichen mit den, mit der Zeit was wann für Alben raus kamen, //mhm// und (2) zum Beispiel, wo das Xavier-Album raus war da wusst ich halt, das war noch ja im zweiten oder mmh in der zweiten Hälfte meiner Ausbildung und später kam dann halt n Moses-Album raus und da dachte ich ho ich mach ja jetzt die Buchhaltung @und so //beide @(1)@// und so was eben
Wieder zeigt sich, dass Timo sich, ganz seiner reflexiven Orientierung entsprechend, lediglich gedanklich gegen den »Druck« auflehnte; sein kognitiver Widerstand schlägt sich nicht im Handeln nieder (dann hätte er die Ausbildung konsequenterweise nicht abschließen, sondern abbrechen müssen). Und doch hat die Krise auf lange Sicht Spuren bei ihm hinterlassen, die sich insofern in seinem Handeln dokumentieren, als er den gelernten Beruf später dann aufgab. Seine Gewohnheit, die einzelnen Phasen seiner Ausbildung mit den jeweils neu erschienenen Alben »abgesteckt« (75) zu haben, zeigt ein Zeitverständnis, das einzelne Lebensphasen mit Musik in Verbindung setzt und damit voneinander abgrenzt. Vor diesem Hintergrund wird auch der in 187
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Z. 47ff. bemerkte gedankliche Sprung verständlich, der in Timos Erzählung von Naidoos Album »Nicht von dieser Welt« über den Konzertbesuch direkt zu seiner Adoleszenzkrise geführt hatte: Der Gedanke an bestimmte Musik weckt Assoziationen zu den biographischen Phasen, in denen Timo sich befand, als diese Musik aktuell war. Dass er gerade seine ungeliebte Ausbildung mit der Musik in Verbindung bringt – zu der er ein besonders positives Verhältnis hat – zeigt, dass die Musik ihm auch hier wiederum eine Hilfe ist. Sie dient dazu, den Arbeitsalltag qualitativ aufzuwerten. Die Musik hat also für Timo die Funktion, seine Biographie zu strukturieren – die Ausbildung bzw. die Arbeit vermögen es nicht, eine Strukturierung seiner Biographie zu leisten. 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111
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ja, dann hab ich da noch ne Weile gearbeitet und hab eben auch immer weiter die Projekte von von Xavier als auch von 3p an sich verfolgt, eben auch diesen ganzen Streit mit seinem Produzenten Moses, den ich eigentlich als sehr traurig empfand, weil das schon ein ein sehr kreatives Duo war //mhm// und ich eigentlich finde, dass seine also Xaviers Musik, seitdem er nur noch von Michael Herberger und DJ äh Billy Davis produziert wird, musikalisch auf jeden Fall nachgelassen hat, das heißt die Musik hat sich insofern verändert, als dass sie weniger hiphopig ist von den von den Bässen her, es ist rockiger geworden und was mich auch stört ist, dass die die einzelnen Textpassagen, die Refrains sich viel stärker wiederholen und ich finde dass er damit vielleicht insofern Erfolg hat als dass eben die Tracks eingängiger fürs Publikum sind, die Leute viel leichter im Gedächtnis behalten, dann auch eher kaufen, aber ich finde, dass es qualitativ auf jeden Fall ne Einbuße ist, //mhm// was ich schade finde, aber ja, ich verfolge schon so alle möglichen Projekte, finde das interessant, was er alles macht (.) so einerseits was mit Snap, dann wieder mit André Heller, also den verschiedensten Künstlern, aber ich finde ne Zeitlang hat er es auch arg übertrieben //mhm// dass er wohl irgendwie dachte so (.) ich kann alles und alles was ich mache, äh alles was ich anfasse wird zu Gold, so ungefähr, womit er vielleicht auch gar nicht so Unrecht hat, aber ich finde eben er hat das ja, vielleicht ein bisschen ausgenutzt oder eben äh er hat eben Masse statt Klasse dann irgendwann gemacht
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
Mit dieser Passage beendet Timo seine Anfangserzählung: Er ist gewissermaßen in der Gegenwart angekommen. Es zeigt sich hier, dass Timos Verhältnis zu Xavier Naidoo seit dessen Trennung von dem Produzenten Moses Pelham einen Bruch erfahren hat. Im Jahr dieser Trennung war Timo ungefähr 21 Jahre alt, der Rechtsstreit zog sich aber noch über mehrere Jahre hin. Seine emotionale Betroffenheit (»sehr traurig«, 86) erklärt Timo zunächst mit dem von ihm wahrgenommenen Rückgang der ästhetischen Qualität von Naidoos Musik (87-95). Hier dokumentiert sich also wieder Timos reflexiver Zugang zur Musik. Anschließend nimmt er, wie schon vorher einmal und ganz seiner reflexiven Orientierung entsprechend, wieder die distanzierte Position des Soziologen ein, wenn er in gewissem Sinne sogar Verständnis für die nachlassende Qualität der Musik zeigt: Naidoo komme damit dem Publikum entgegen. Allerdings wird deutlich, dass der Bruch in Timos Verhältnis zu Xavier Naidoo weit über die ästhetische Dimension hinausgeht. Darauf verweist schon der Begriff »Streit« (85): Streit ist der Idee der Communitas, die ja eben Frieden und Harmonie betont, entgegengesetzt. Wenn also Naidoo, in Timos Augen bis dahin ein Fürsprecher von Communitas, sich mit seinem Produzenten streitet, so verrät er damit gleichsam den Gedanken der Communitas. Zudem macht Timo Naidoo den Vorwurf, er habe die musikalische Kreativität dem wirtschaftlichen Erfolg untergeordnet. Sein Talent, »Gold« (107) zu machen, also finanziellen Reichtum durch seine Musik zu erwerben, habe Naidoo »ausgenutzt« (110) und in »Masse statt Klasse« (110f.) umgesetzt. Eine solche Orientierung aber ist mit Timos Orientierung an ideeller Communitas nicht zu vereinbaren. Die Tiefe des Bruchs zu Xavier Naidoo ist auch hier darin begründet, dass Naidoo, der mit seiner Musik für Timo die Idee der Communitas zum Ausdruck bringen konnte, aus Timos Perspektive nach der Trennung von Moses Pelham eben genau diese Idee verraten hat. Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu Tina: Tina legte mit ihrer personbezogenen Fan-Orientierung kaum Wert auf die Produkte von Robbie Williams und blieb ihm auch dann noch treu, als er »Scheißmusik« machte. Timo orientiert sich dagegen primär an den Werken bzw. den über die Werke vermittelten Inhalte und hält diesen die Treue, auch dann noch, als sich der Sänger Timos Auffassung nach von diesen Inhalten abwendete. Timos Enttäuschung ist aber nicht absolut. Vielmehr erscheint seine momentane Haltung zu Xavier Naidoo als ambivalent. Denn er hat noch immer »Interesse« (102) an Naidoos musikalischen Aktivitäten und kauft auch weiterhin dessen CDs, wie aus seiner CD-Sammlung hervorgeht. Darüber hinaus klingt in dem Satz, in dem er zum Ausdruck bringt, Naidoo mache alles, was er berühre, zu Gold, auch Bewunderung an. Die Metapher des ›Goldmachens‹ lässt Naidoo sogar als einen modernen Alchemisten erscheinen, als eine Person, die gleichsam magische Fähigkeiten besitzt, indem sie alles, was sie be189
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rührt, in etwas Wertvolles verwandeln kann. Es dokumentiert sich hier also auch, welch einen hohen Wert Naidoos Musik nach wie vor für Timo besitzt: Sie ist für ihn mit Gold zu vergleichen. Es stellt sich die Frage, weshalb Timo Naidoo die Treue hält, wenn ihm dessen Musik und Haltung ›eigentlich‹ nicht mehr zusagen. ›Rational‹ ist sein Verhalten nicht verständlich. An dieser Stelle lässt sich meines Erachtens zeigen, dass Timo durch die Musik eine Verzauberung erfuhr. Um dies plausibel zu machen, ziehe ich noch eine Passage aus dem Nachfrageteil hinzu, in der Timo argumentativ darlegt, weshalb er Musik kauft und nicht aus dem Internet herunterlädt: 722 723 724 725 726 727 728
ich bin auf jeden Fall jemand, der auch viel Musik kauft, weil ich einfach das Gefühl habe, dass es unterstützungswürdig ist, wenn Künstler etwas schaffen, was andere Menschen berührt und sie zusammenbringt und den Menschen hilft mit ihren Problemen zurecht zu kommen //mhm, mhm// und sie zu trösten
Zwar gibt Timo sich auch an dieser Stelle distanziert – er spricht davon, dass die Musiker »die Menschen« (726f.) ansprechen –, doch die bisherige Rekonstruktion zeigt ja, dass in derartige Ausführungen durchaus auch seine eigenen Erfahrungen einfließen können. Aus der vorliegenden Stelle lässt sich schließen, dass Timo sich wiederum auf seine »Selbstfindungsphase« bezieht, denn damals hatte er genau die »Probleme« (727), von denen er hier spricht. Diese Phase erweist sich somit als Schlüsselzeit seiner Fan-Biographie, denn sie stellt argumentativ den Grund dafür dar, dass Timo noch immer Musik kauft und nicht etwa aus dem Internet herunterlädt. Timo hat während dieser Zeit durch die Musik Hilfe erfahren und möchte den Musikern gleichsam seine Dankbarkeit dafür erweisen, auch noch zum Zeitpunkt des Interviews. Auch hier dokumentiert sich also, wie schon bei Tina, die Herstellung von Reziprozität gegenüber den Musikern. Das Kaufen der Musik stellt für Timo eine Gegenleistung für erfahrene Hilfeleistungen dar. Wir erinnern uns zudem, dass sich Timos soziale Orientierung während der Krise transformiert hatte: In einer Situation großer Einsamkeit und Hilflosigkeit brachte ihm die Musik nicht nur die Ideen und Werte der Communitas näher, sondern eröffnete ihm auch einen für ihn emotional bedeutsamen sozialen Zufluchtsort in der von ihm als Communitas erfahrenen virtuellen Fan-Gemeinschaft. Nun haben die Ideen der Communitas schon von sich aus einen Zauber an sich, wie Turner gezeigt hatte, u. a. da sie die Transzendierung sozialer Schranken zum Ausdruck bringen. Und bezieht Timo sich immer wieder auf diese Idee des Überwindens von sozialen Differenzen (»jüngere Leute aber auch ältere«, 40; 190
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»aus verschiedenen Schichten«, 40f.; »zusammenbringt«, 726), was dokumentiert, dass er vom Zauber der Communitas durchaus fasziniert ist. Zudem kam Timo mit diesen Vorstellungen gerade in einer schwerwiegenden Krise in Berührung, womit der Zauber der Communitas für ihn eine hohe biographische Relevanz erhält. Durch den Begriff des »Tröstens« (728) erhält die Musik aus Timos Perspektive die Funktion eines emotionalen Beistands. Insofern Timo in seiner Auseinandersetzung mit der Musik emotionale Wärme und die Verwandlung seiner sozialen Orientierung durch den Zauber der Communitas erfuhr, hat er während seiner »Selbstfindungsphase« also eine Verzauberung durchlaufen. Die Zeit seit dem Rechtsstreit zwischen Naidoo und Pelham lässt sich dann als ein Prozess der Entzauberung Timos hinsichtlich Xavier Naidoo lesen. Denn Naidoo hat ja aus Timos Sicht die Werte der Communitas verraten. Dass Timo ihm trotzdem die Treue hält, lässt sich meines Erachtens als eine Erinnerung in Dankbarkeit an die Verzauberung während der damaligen Krise verstehen. Aus dem Nachfrageteil ergeben sich weitere Aufschlüsse über Timos Orientierung an Communitas und den Verlauf seiner Fan-Biographie, die in der folgenden Rekonstruktion deutlich werden. Timo erzählte mir, dass er auf »Supporter-Partys« des Labels 3p gehe – das sind Veranstaltungen, die von dem Label für die Fans organisiert werden, und auf denen die Musiker Konzerte geben. Ich rekonstruiere hier Timos Erzählung von der ersten SupporterParty, die er 1999 besucht hatte, als er also ungefähr 20 Jahre alt war: 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204
es war eigentlich ne ne sehr schöne Stimmung, ((Räuspern)) das heißt man ist da in B-Stadt zum Gesellschaftshaus, hat sich da vor (.) davor ist so’n Park mit nem Brunnen, da hat man sich irgendwie versammelt, man hatte die Leute eigentlich schon mehr oder weniger an den verschiedenen T-Shirts so erkannt und (.) ja, ich hab mich dann auch da mit n paar Leuten unterhalten, n paar (.) bei n paar kam dann raus, dass ich die vom Forum her irgendwie schon kannte, //mh// einige waren überhaupt nicht so im Internet unterwegs, was aber nicht heißt, dass das weniger interessante Menschen waren, und (.) ja, das war dann eigentlich auch so die die Zeit, wo ich äh die ersten Leute dann so persönlich über die Musik kennengelernt habe und die hab ich eigentlich noch so als eine der schönsten Supporter-Partys in Erinnerung weil es war eben neu, man kannte ein ein (.) vor allem über den Sinn des Konzerts, sozusagen, das heißt alle seinerzeit bei 3p stehenden Künstler (.) unter Vertrag stehenden Künstler sind dort aufgetreten, 191
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205 206 207 208 209 210 211 212 213
//mhm// ((Räuspern)) haben da neue und bekannte Sachen präsentieren können und was eben auch entscheidend war, wofür 3p auch stehen möchte, ist eine gewisse Nähe zwischen Künstlern und Fans, //mhm// das heißt die Leute sind dann da eben anschließend auch rumgelaufen und man konnte sich mit ihnen unterhalten (.) was ich dann ein bisschen schade fand, war dass dass es eben halt sehr viele Autogrammjäger gab, //mhm// und da eben so n bisschen das das Menschliche hinter zurück geblieben ist, fand ich.
Diese Passage lässt als einzige eine unmittelbare emotionale Involviertheit bei Timo erkennen, denn er beschreibt die Party nicht nur relativ detailliert, sondern spricht zum Teil auch mit erhöhter Lautstärke und Geschwindigkeit, wobei er allerdings auch hier durch das unpersönliche »man« teilweise eine Distanzierung aufrechterhält. Vor allem als er erzählt, wie er leiblich auf die anderen Fans traf, wird deutlich, wie involviert er ist (190f.). Hatte er bis zu dieser Party nur virtuellen Kontakt zu anderen Fans gehabt, so wurde dieser Kontakt nun durch das leibliche Zusammentreffen deutlich intensiviert – im Grunde kam der Kontakt jetzt erst richtig zustande, wie die Formulierung »persönlich […] kennengelernt« (198f.) zeigt. Seine Hervorhebung der T-Shirts, dieser körperlich-materiellen Erkennungszeichen der Gemeinschaft der Fans, dokumentiert, wie wichtig ihm gerade das körperliche Zusammensein mit den »Seelenverwandten« aus dem Internet war. So war es gerade diese für ihn neue Erfahrung der leiblichen Ko-Präsenz mit den Fans, welche die Party in seiner Erinnerung zu einer »der schönsten« (200) hat werden lassen. Man könnte also von einer Erfahrung unmittelbarer Communitas sprechen, wären unter den Fans nicht auch »sehr viele Autogrammjäger« (211f.) gewesen. Denn diese Fans beeinträchtigten für Timo offenbar eine ungetrübte Erfahrung von Communitas. Gerade die Formulierung, »das Menschliche« (213) sei durch das Verhalten dieser Fans in den Hintergrund getreten, markiert dies. Mit »das Menschliche« wird in der Regel vage und universalisierend eine tiefe Verbundenheit zwischen Menschen bezeichnet – eben Communitas. Aber auch die Verwendung des Begriffs im Zusammenhang der Erzählung verweist auf Communitas. Timo geht es nämlich um »das Menschliche« in der »Nähe zwischen Künstlern und Fans« (207f.). Für Timo scheint sich dieser Kontakt nicht wesentlich von demjenigen zwischen den Fans selbst zu unterscheiden, denn ihm geht es in beiden Situationen darum, sich zu »unterhalten« (193, 210). »Das Menschliche« findet sich für Timo also in einer kognitiv-distanzierten Kommunikation, die nicht von sozialen Unterschieden – wie der zwischen Star und Fan – beschränkt wird. Es dokumentiert sich hier also auch in Timos Handlungspraxis die Orientierung an der Gleichheit aller Menschen, eine Orientierung, die für Communitas so charakte192
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ristisch ist. Die Fans dagegen, die von den Musikern Autogramme wünschen, verhalten sich aus Timos Perspektive eben nicht dieser Orientierung an Gleichheit entsprechend. Durch ihr Verhalten bringen sie einen Statusunterschied zwischen sich und den Stars hervor; wären nur Fans wie Timo dort gewesen, wäre das Zusammentreffen von Musikern und Fans eine zumindest formal-strukturell gleichberechtigte »Unterhaltung« geblieben. So zeigt sich, dass die Supporter-Party für Timo auf der einen Seite die Möglichkeit bietet, sich in die Fan-Gemeinschaft von 3p leiblich zu integrieren. Auf der anderen Seite markiert Timo aber einen Riss zwischen sich und bestimmten anderen Fans. Dieser Riss erinnert an den Anfang des Interviews, als Timo durch die Unterscheidung in »tiefsinnigere« (10) und »aggressive« (11) Musik eine Grenzlinie im Programm des Labels 3p gezogen hatte. In diesem Zusammenhang verweist der Begriff »Autogrammjäger« wieder auf Aggressivität, von der Timo sich distanziert. Es wirkt geradezu tragisch, dass gerade Timos Orientierung an der Idee der horizontalen Communitas (die eben von Gleichheit und »Menschlichkeit« geprägt ist) dazu führt, dass er auf der Supporter-Party letztlich nur eine gebrochene Erfahrung von unmittelbarer Communitas machen konnte. In vergleichender Hinsicht ist hier noch auffällig, dass Timo mit dem Begriff der »Autogrammjäger« einen negativen Gegenhorizont eröffnet, der sogleich an das Interview mit Tina denken lässt, hatte doch das Autogramm von Robbie Williams eine enorme Bedeutung für Tina. Hier zeigen sich wieder zwei verschiedene Fan-Orientierungen. Tina ist ganz auf den Star ausgerichtet, während für Timo das Inhaltliche (die Kommunikation) im Vordergrund steht. Nachdem Timo von den Supporter-Partys erzählt hatte, fragte ich ihn, ob er die Fans, die er auf den Partys kennenlernt, auch bei anderen Gelegenheiten trifft. Daraufhin erzählte er mir von einem Treffen, das in der unmittelbaren Vergangenheit stattfand: 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272
Manchmal schon, ja, also es war jetzt erst vor zwei oder drei Wochen der Fall, dass eine Supporterin aus äh M-Stadt für’n paar Tage in D-Stadt zu Besuch war und (.) dann eben auch hat sie halt praktisch mehrere Leute in Deutschland besucht, alle möglichen Freundschaften, //mhm// und eben in D-Stadt einige, die eben auch über ja, die sie über 3p kennen gelernt hat, speziell dann eben über das Forum und (.) ja, wir haben dann eben hier abends gesessen, mit (.) neben mir drei andere D-Städter, und eben dieses Mädel aus M-Stadt und haben nett getrunken, uns unterhalten, Musik gehört, philosophiert //mhm// und, ja, ich find das sehr schön
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Das private Treffen einiger Fans, von dem Timo hier erzählt, lässt sich als eine ›philosophische Gesprächsrunde‹ charakterisieren. Damit ist eine Form menschlichen Zusammenkommens bezeichnet, die Timos reflexiver FanOrientierung entspricht. Mit seiner Bewertung solcher Treffen als »sehr schön« (272) zeigt Timo, wie wichtig ihm die Einbindung in die Gemeinschaft der Fans im Sinne einer leiblichen Ko-Präsenz nach wie vor ist. Es zeigt sich aber auch, dass Timo sich inzwischen aus der großen Gruppe der Fans diejenigen Fans ausgesucht hat, die seinem Interesse am »Philosophieren« entsprechen. Damit hat er eine Wahl getroffen, aufgrund derer bestimmte Fans, z. B. »Autogrammjäger«, ausgeschlossen werden. Es zeichnet sich hier also eine Art Suchprozess ab, in dem Timo mit der Zeit diejenigen Fans gefunden hat, die mit ihm in habitueller Übereinstimmung sind. Mit diesen Gleichgesinnten trifft er sich dann exklusiv. Ein ähnlicher Prozess lässt sich auch im Hinblick auf seine Nutzung des Internets rekonstruieren. Die folgende Passage stellt Timos Ausführungen auf meine Frage dar, wie viel Zeit er im Internet-Forum verbringe: 616 617 618 619 620 621 622 623 624 625 626 627
also ich denke schon, dass ich da schon vor einigen (.) ja, doch vor einigen Jahren schon täglich oder fast täglich (4) ich weiß nicht genau wie lange unterwegs war, auf jeden Fall schon ne längere Zeit (2) ne Stunde oder länger oder da eben auch auf der Label-eigenen auf dem Label-eigenen Chat mich da eingeloggt habe, mit den Leuten geredet habe, ich denke, was mich davon abgebracht hat, war dass da eben auch äh nicht nur unbedingt gute Seelen unterwegs waren, sondern eben auch viele Lästermäuler und (.) oder eben einfach Menschen, die das Ganze offensichtlich anders verstanden haben als ich
Der Grund, den Timo für den Rückgang seiner Präsenz im Internet-Forum angibt, ist nicht etwa schwindendes Interesse an der Internet-Kommunikation, sondern die Tatsache, dass er auch im Forum Aggressivität erfährt. Dabei geht es diesmal nicht, wie bei der Supporter-Party, um ein körperliches Verhalten anderer Fans, sondern um Aggressivität in der Kommunikation (»Lästermäuler«, 625), also jener sozialen Praxis, die für Timo einen zentralen Stellenwert hat. Die anfangs im Internet erfahrene Communitas, die in dem Begriff der »Seelenverwandten« (67) fokussiert zum Ausdruck kam, konnte auf Dauer nicht bestehen, weil Timo auch auf »Seelen« (624) stieß, denen er sich nicht verwandt fühlte. Auch hier markiert er also wieder einen Riss zwischen sich und bestimmten anderen Fans. Timo behält im Laufe der Zeit seine Orientierung an ideeller Communitas bei, erkennt aber, dass er in der großen Gemeinschaft der Fans aufgrund eben jenes Risses keine wirkliche Communitas 194
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erfahren kann. Dies ist der Grund, weshalb er sich letztlich vom InternetForum abwendet. An anderer Stelle erzählt Timo, dass er inzwischen nicht mehr über das Forum, sondern über Instant Messenger oder das Telefon mit anderen Fans kommuniziert. Bezüglich der medialen Kommunikation zeigt sich also ein analoges Bild wie beim körperlichen Zusammenkommen mit anderen Fans: Da Timo bei der Kommunikation, bei der potentiell alle Fans teilnehmen können, auf »Lästermäuler« stößt, zieht er sich aus dieser Kommunikation zurück und beschränkt sich auf exklusive Formen des Kontakts. Bezogen sich die vorangegangenen Passagen auf horizontale Communitas, so geht aus den folgenden Passagen Timos Haltung zur vertikalen Communitas hervor. Auf meine immanente Nachfrage nach Timos Glauben antwortete er: 384 385 386 387 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405
Ja, also ich denke wahrscheinlich hauptsächlich durch meine Mutter inspiriert ist das bei mir so, dass ich auf jeden Fall an Gott glaube, nicht unbedingt aber an die Kirche oder (.) ich bin auch keiner bestimmten Religion irgendwie oder keiner Glaubensgemeinschaft anhängig das heißt ich versuche einfach (2) mir Gedanken zu machen, über meine Umwelt, über mich selbst, wie ich sie verändern, verbessern kann //mhm// und um da vielleicht als Beispiel Kant anzuführen, der ja auch sagt, dass man sich so verhalten sollte oder versuchen sollte, sich so zu verhalten, dass ((Räuspern)) seine Verhaltensweisen als allgemeingültiges Gesetz erklärt werden könnten, was natürlich schon ein äh ein sehr hohes Ziel ist, aber ((Räuspern)) ja, ich denke einfach man sollte schon irgendwie versuchen, sich um seine um seine Mitmenschen zu kümmern, auf sie aufzupassen, ihnen zu helfen, wenn sie ((Räuspern)) in Not sind und (.) ja, ich denke eben nicht, dass jetzt unbedingt eine Kirche oder sonst eine Institution notwendig ist, um äh um gläubig zu sein //mhm// beziehungsweise um einen einen sag ich mal Draht zu Gott zu haben //mhm// (2) °ja°
Timo bekennt sich klar zu einem religiösen Glauben, bewahrt aber eine institutionelle Unabhängigkeit: Die Kirche als traditionelle Gemeinschaft Gläubiger spielt keine Rolle für ihn. Die einzige reale Person, die im Kontext einer positiven Beziehung genannt wird, ist Timos Mutter. Ganz im Einklang mit seiner bisher rekonstruierten Orientierung ist sein Zugang zum Glauben ein reflexiver und nicht etwa ein rituell-handelnder. Darauf weist nicht nur die 195
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Formulierung »Gedanken zu machen« (390) hin, sondern vor allem auch die Tatsache, dass er zur Exemplifizierung seines Glaubens wiederum mit Kant einen Philosophen zitiert (schon oben hatte Timo Naidoos religiöse Aussagen als »Philosophie« bezeichnet, 27). Der Glaube an Gott bedeutet für Timo keine personale Beziehung zu einer transzendenten Macht, sondern stellt sich als Glauben an die Gültigkeit moralisch-ethischer Grundprinzipien heraus. Diesen Prinzipien ordnet er sich selbst unter, (»ich«, 391), sieht sie aber darüber hinausgehend auch als eine für alle Menschen gültige caritative Forderung an. In Timos Vorstellungen, wie man die in dieser Hinsicht als defizitär angesehene soziale Welt »verbessern« (392) könnte, dokumentiert sich dann wieder die Idee der horizontalen Communitas: Allen Menschen solle es gut gehen, niemand solle »Not« (401) leiden. Der Begriff der »Mitmenschen« (399) verweist dabei auf eine grundlegende Verbindung zwischen Menschen, welche die Differenzierungen sozialer Struktur transzendiert – Timo geht es nicht um das Wohlergehen einer besonderen sozialen Gruppe, sondern der Menschen im Allgemeinen. Nach Turner tendiert die Idee der Communitas genau in diesem Sinne zur Verallgemeinerung: Die Grenzen der Communitas decken sich idealerweise mit denen der Menschheit (vgl. Turner 1989a: 129). Timos Glauben kann demnach als Orientierung an ideeller Communitas bezeichnet werden. Die Orientierung an horizontaler Communitas ist dabei durch den Bezug auf Gott eng mit einer Orientierung an vertikaler Communitas verbunden: Gottesnähe (»Draht zu Gott«, 404) ist für Timo gleichbedeutend mit einer sozialen Welt, die nach der Idee der Communitas gestaltet ist. In diesem Zusammenhang kann die Bedeutung seiner Mutter für seinen Glauben noch deutlicher werden. An anderer Stelle sagt Timo: 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473 474 475 476
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es war halt so, dass meine Mutter sich auch viel mit Glaubensdingen beschäftigt hat und ich denke die Zentralfrage bei der sie mit der Kirche aneinander geraten ist, war ist Gott zu- äh ist Jesus zur Vergebung unserer Sünden gestorben? und konnte sie eben nicht mit sich vereinbaren und hat dann wohl seinerzeit den ortsansässigen Priester beziehungsweise Pastor da zu Rate gezogen, inwiefern das denn äh ihre Kirchenmitgliedschaft oder so oder ihren Glauben noch mit der Kirche vereinbaren lässt und konsequenterweise ist sie dann eben ausgetreten, ((Räuspern)) hat sich sehr viel mit äh Religionen denk ich mal diverser Art, aber eben eigentlich auch allein mit nicht nur mit Religion, sondern eben mit allem Möglichen beschäftigt, so mit (.) äh wo eben so die normale Gesellschaft häufig an ihre Grenzen stößt, sprich
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477 schw- schwere bis unheilbare Krankheiten und 478 alternative Heilmedizin und so weiter
Es zeigt sich, dass die Mutter genau wie Timo einen Glauben vertritt, der von institutionellen Strukturen abgelöst ist. Dies weist, genau wie der synkretistische Zug, der in der Auseinandersetzung seiner Mutter mit »Religionen diverser Art« (472f.) anklingt, sowie der Bezug auf die »alternativen Heilmethoden« (478) auf eine anti-strukturelle Haltung hin, die Timo bei seiner Mutter wahrnimmt. Die Orientierung seiner Mutter hinsichtlich des Glaubens steht also im Einklang mit seiner eigenen Orientierung an Communitas-Ideen. Insofern ist es verständlich, dass Timo seiner Mutter Autorität in religiösen Fragen zugesteht.45 Neben der Mutter spielte aber auch die Rock- und Popmusik eine wichtige Rolle hinsichtlich Timos Haltung zur Religion. Dies geht aus seinen Ausführungen hervor, die er auf meine anschließende Frage, welche Bedeutung die Musik für seinen Glauben habe, gab: 409 410 411 412 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
ich denke die Musik ist auf jeden Fall eine Inspiration, das heißt nicht unbedingt dass alles was äh da gesungen wird oder da erzählt wird, dass ich das so annehme, aber […] es ist eben halt einfach interessant sich dann damit zu beschäftigen, zum Beispiel jetzt im im deutschen HipHop oder auch im deutschen Reggae kommen immer wieder Begriffe wie Babylon vor (.) hab ich halt mal n bisschen nachgelesen und auch ((Räuspern)) meine Mutter befragt (.) hab eben erfahren so hier, Babylon, Turm zu Babylon, und die die Menschen, die eben einen hohen Turm bauen wollten, um (.) ja, nicht unbedingt um, wie es bei der Kirche ist, um Gott möglichst nahe zu sein, sondern eher um zu zeigen, dass sie Gott nicht brauchen //mhm// und es gibt ja auch das Söhne- Mannheim- (.) Söhne-Mannheim-Lied »Babylon-System« und ich denke eben (.) ich hab halt lange darüber nachgedacht, was eigentlich, wie es von Xavier oder anderen Künstlern heute verwendet wird, was mit Babylon gemeint ist und ich denke einfach, dass eben die Art von Gesellschaft beziehungsweise die Wirtschaft, in der wir leben, sprich (.) Ausbeutung von (.)
45 Oben hatte ich rekonstruiert, dass Timo sich während seiner »Selbstfindungsphase« von den Werten seiner Eltern – und da ist auch die Mutter eingeschlossen – distanzierte. Es wäre aufschlussreich zu wissen, wann Timos Mutter den beschriebenen Wandel hinsichtlich des Glaubens vollzogen hat. Dies geht aber aus meinem Datenmaterial nicht hervor. 197
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431 432 433 434 435
Ausbeutung sowohl von Arbeitern als auch von Kunden durch durch Wirtschaftsmächte und Banken und so weiter ((Räuspern)), die nicht eben nur freundlich den Menschen zur Verfügung stellen, was sie benötigen, sondern sie eben ausnutzen und für ihre Zwecke manipulieren wollen
Der Begriff der »Inspiration« (410) markiert wieder Timos kognitiv-distanzierte Orientierung und betont die eigene Unabhängigkeit und Kreativität. Wie es sich auch schon weiter oben gezeigt hatte (32-34), legt Timo Wert auf seine Autonomie bei der Interpretation der Songs. Seine Ausführungen zu dem Begriff »Babylon« verweisen ein weiteres Mal auf seine reflexive Fan-Orientierung sowie seine Unabhängigkeit und Selbstständigkeit beim Interpretieren (wie die Formulierungen »nachgelesen«, »befragt« (418) und »nachgedacht« (426) dokumentieren). Zudem erscheint wieder seine Mutter als wichtiger Bezugspunkt bezüglich seiner Fragen zu religiösen Inhalten. Schließlich dokumentiert sich eine klare Absage an eine Gesellschaft, in der die (Sozial-) Struktur sich zum Negativen entwickelt hat: Timo wendet sich gegen »Wirtschaftsmächte« (432), welche die Menschen »ausbeuten« (430), »ausnutzen« und »manipulieren« (435). Die derart beschriebenen Verhältnisse kann es nur in (destruktiv entwickelter) sozialer Struktur geben, die nach Turner eben prinzipiell von sozialen und ökonomischen Ungleichheiten zwischen Menschen geprägt ist. Hatte Timo oben einen Zusammenhang zwischen Gottesnähe und horizontaler Communitas hergestellt, so zieht er in der vorliegenden Passage eine Verbindung zwischen Gottesferne und sozialer Struktur. Die Art von Communitas, die Timo in der Musik von Naidoo und anderen Musikern ausgedrückt findet, ist derjenigen ähnlich, die Turner schon bei den Hippies der 1960er Jahre festgestellt hatte: »Flower Power«, schreibt Turner, »was opposed to military strength and business aggressiveness« (Turner 1974c: 244). Timo beantwortet hier auch die entscheidende Frage, der sich jede Communitas-Bewegung letztlich stellen muss: wie denn die »Brüderlichkeit« zwischen den Menschen angesichts knapper materieller Ressourcen zu gewährleisten sei. Für Timo gilt es nicht, die »Wirtschaftsmächte« abzuschaffen; vielmehr sollten diese sich »freundlich« (433) verhalten und jedem geben, was er brauche. Diese Lösung des Problems steht im Einklang mit Timos oben rekonstruierter ethisch-caritativer Forderung, die er ja als allgemeingültig – und damit auch als gültig für »Wirtschaftsmächte« – ansieht. Insofern Timo an Gott glaubt und ihm die Nähe zu Gott wichtig ist, hat er durchaus eine Orientierung an vertikaler Communitas. Solch eine Orientierung hatte ich auch schon bei Tina und Sarah rekonstruiert. Allerdings sind diesbezüglich wichtige Unterschiede festzustellen. Bei Tina und Sarah stand die Verbindung zum Star im Vordergrund. Timo dagegen orientiert sich nicht 198
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primär am Musikstar, sondern an den Inhalten der Musik, die ihm eine (reflexive) Verbindung mit einem nichtpersonalen, als ethisches Prinzip aufgefassten Gott vermitteln. Timo geht also keine Communitas mit dem Star selbst ein – der Star dient ihm vielmehr als Vermittler der vertikalen Communitas mit Gott.
Timos Fan-Biographie im Überblick Timos Fan-Biographie weist deutliche Unterschiede zu denen von Sarah und Tina auf. Zunächst einmal beginnt sie später. Während bei Sarah und Tina das Interesse für die Stars mit ca. 13 Jahren anfing, wurde Timo erst mit ungefähr 18 Jahren auf Naidoo aufmerksam. Allerdings war Timo auch schon vorher Fan von anderen Musikern, was hier aber nicht weiter betrachtet werden konnte. Als Timo dann ca. 19 Jahre alt war, begann seine »Selbstfindungsphase«. Im folgenden Jahr nahm Timo Kontakt mit anderen Fans auf, zunächst über das Internet-Forum, dann auch auf der »Supporter-Party«. Die für Timo enttäuschende Trennung von Xavier Naidoo und Moses Pelham fand statt, als Timo dann ca. 21 Jahre alt war. Zeitlich kann nicht genau eingeordnet werden, ab wann Timo sich schließlich von der Internet-Kommunikation mit anderen Fans im Chat distanzierte. Ein weiterer Unterschied zu Tina und Sarah liegt darin, dass rituelle Handlungen bei Timo keine fan-biographischen Wendepunkte hervorbrachten. Zwar ging Timo auf Konzerte und auf Fan-Treffen, er nahm also an rituellen Handlungen teil, diese standen aber nicht wie bei Tina und Sarah mit deutlichen Veränderungen im Verlauf der Fan-Biographie im Zusammenhang. Entscheidende Veränderungen kamen bei Timo vielmehr durch Reflexionsprozesse in Gang: Die Musik von Naidoo bedeutete ihm besonders viel, als er begann, an den gesellschaftlichen Werten zu zweifeln. Und er war von Naidoo wiederum enttäuscht, als er meinte, dass dieser nicht mehr den eigenen Maximen entsprechend handelte. Van Genneps Modell der Übergangsriten ist in Timos Fall also nicht so ohne weiteres anzuwenden wie bei Sarah und Tina. Allerdings kann die »Selbstfindungsphase« durchaus als eine liminoide Zeit der Verzauberung angesehen werden, denn Timos soziale Orientierung verwandelte sich hier. Er eignete sich die Communitas-Werte an, erfuhr emotionalen Beistand durch die Musik und fand eine reale Communitas der Fans. Bei der Suche nach der Fan-Communitas waren dann auch rituelle Handlungen von Bedeutung für ihn. Die Communitas-Thematik spielte auch bei Tina und Sarah eine wichtige Rolle während der liminoiden Phase. Im Gegensatz zu Tina und Sarah wurde allerdings Geschlechtlichkeit in Timos FanBiographie nicht thematisiert. Im Zentrum von Timos Fan-Biographie steht also wie bei Tina und Sarah eine liminoide Phase, deren Anfang und Ende al199
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lerdings nicht durch rituelle Handlungen, sondern durch Reflexionsprozesse markiert ist. Die zentralen Wendepunkte in Timos Fan-Biographie lassen sich auf einem Zeitstrahl wie folgt abbilden: Anfang der Verzauberung t
Alter:
│
liminoide Phase
ca. 19: »Selbstfindungsphase«
Anfang der Entzauberung │
ca. 21: »Streit« zwischen Naidoo u. Pelham
Die Wendepunkte sind dabei nicht wie bei Tina und Sarah durch Balken, sondern durch Striche gekennzeichnet, um deutlich zu machen, dass die Wendepunkte bei Timo nicht durch rituelle Handlungen markiert sind. Es bleibt wiederum hinzuzufügen, dass das Fan-Sein auch bei Timo funktional für die Bearbeitung der Adoleszenzkrise ist. Diese Krise ist bei ihm durch die Ablösung von gesellschaftlichen Werten sowie die Suche nach Communitas in einer Peergroup geprägt.
Edgar, Fan von Britney Spears Edgar ist zum Zeitpunkt des Interviews am 15.08.2006 22 Jahre alt und studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt für das Gymnasium. Er ist Deutscher, evangelisch und wohnt in einer Großstadt im Südwesten Deutschlands. Als Berufe seiner Eltern gibt er Bankkauffrau und Einzelhandelskaufmann an. Edgar habe ich über eine Britney Spears-Fanseite im Internet kennengelernt. Ich hatte an den Administrator der Fanseite geschrieben und gefragt, ob ich ein Interview mit einem der Fans machen könnte, worauf mir dann Edgar schrieb, dass er zu einem Interview bereit sei (Edgar ist aber nicht der Administrator). Wir verabredeten uns in einem kleinen, ländlich gelegenen Ort, wo er den Sommer bei seinem Freund verbrachte. Das gut 1½-stündige Interview führten wir dort in einem Café durch.
Bemerkungen zu Britney Spears Die 1981 im US-Bundesstaat Mississippi geborene Britney Spears hatte 1999 mit ihrem Debut-Album »… Baby One More Time« einen weltweiten Erfolg, an den sie auch mit den folgenden Alben anknüpfen konnte, die alle auf Platz eins der amerikanischen Charts standen. Stilistisch ist ihre Musik dem Pop zuzuordnen, wobei sie ab dem Album »In the Zone« (2003) auch Einflüsse aus Rhythm&Blues und Hip Hop aufnahm. Der Zungenkuss von Britney Spears mit Madonna bei den MTV Video Music Awards 2003 sorgte für gro200
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ßes mediales Aufsehen. In den ersten Jahren ihrer Karriere galt sie noch als all-american-girl, doch seit 2006 mehrten sich Schlagzeilen über Alkoholmissbrauch und Eskapaden, in deren Folge gerichtlich darum gestritten wird, ob ihr das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen wird.
Edgars Fan-Biographie Auf meine Eingangsfrage, ob Edgar mir erzählen könne, wie sein Interesse für Britney Spears angefangen und sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, begann Edgar wie folgt zu erzählen: 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Also angefangen hat das alles so (.) ich glaub das war Frühjahr 99, als sie so mit ihrem ersten Hit aufkam, den hörte ich dann so im Radio und eigentlich dachte ich erst das sei irgendwie ne Girlieband oder so weil sie ja mal höher singt und mal tiefer, dachte ich das sind zwei verschiedene Personen. Und so (.) ja ich hab nicht rausbekommen, wer diesen Song jetzt singt //mhm// es war schrecklich und irgendwann lief auf MTV mal das Video und ich so boah das ist das Lied, das ich die ganze Zeit meine und äh ja dann stand da dran Britney Spears und dann hab ich halt die Single gekauft und war von dieser Aufmachung des Videos und der Frau so fasziniert, dass ich dann auch das Album gekauft hab ohne mal @reinzuhören@ //mhm// und ja war ich eigentlich sogar ganz zufrieden damit und so fing das dann alles an, dann hab ich so die Bravos mal gekauft wenn Poster von ihr drinne warn und mich mehr mit Musikindustrie beschäftigt
Edgars Fan-Biographie begann, als er ungefähr 15 Jahre alt war. Auch bei Edgar stand ein medienvermittelter Kontakt mit der Musik bzw. dem Star am Anfang. Die Darstellung der anfänglichen Unklarheit über die Sängerin des Songs macht dabei einerseits Edgars ästhetischen Zugang zur Musik deutlich (er achtete auf die Stimmführung des Songs), was auf eine Gemeinsamkeit mit Timo hinweist. Gleichzeitig war es Edgar aber auch wichtig zu wissen, welche Person hinter der Musik steht, gleichsam das Auditive mit einem Gesicht verbinden zu können. Dies zunächst nicht zu können, stellte eine kaum erträgliche Spannung für ihn dar (»schrecklich«, 11). In der gehobenen Lautstärke, mit der er spricht, als er davon erzählt, wie er schließlich herausbekam, wer das Lied singt – und dem Ausdruck »boah« (12) –, zeigt sich bereits eine Bezauberung Edgars durch die Musik von Britney Spears. Doch Edgar war nicht nur von der Musik, sondern auch vom Visuellen beeindruckt. Er differenziert diesbezüglich zwischen der »Aufma201
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chung des Videos und der Frau« (14f.), ist also sowohl von der Film-Ästhetik als auch vom Aussehen Britney Spears’ begeistert. Auch sein Hinweis, dass er das Album gekauft hat ohne es vorher anzuhören – was die Vernunft ›eigentlich‹ gebieten würde –, verweist auf eine Bezauberung Edgars, hier durch Musik, Star und Video. Allerdings lässt die eher nüchterne Formulierung, Edgar sei »sogar ganz zufrieden« (17) mit dem Album gewesen, die Vermutung zu, dass das Album seine durch den Song geweckten Erwartungen nicht ganz erfüllt haben könnte. Die folgende abstrahierende Beschreibung verweist wieder auf Edgars Orientierung an Spears’ visueller Erscheinung (Poster) und deutet knapp auf die ritualisierte Praxis des Posteraufhängens hin. Der Hinweis auf seine »Beschäftigung« mit der »Musikindustrie« ist dann so kurz, dass es schwer fällt, ihn abschließend zu verstehen. Dass Edgar hier so knapp bleibt, deutet allerdings darauf hin, dass er dem wirtschaftlichen Aspekt der Musik nicht kritisch gegenübersteht. Hier kann bereits ein Kontrast zu Timo und Sarah vermutet werden, der im weiteren Verlauf des Interviews klarer zu erkennen sein wird. 20 21 22 23 24 25 26 27 28
so richtig los gings eigentlich 2000 als dann das Folgealbum kam, da gefiel mir die Musik noch viel besser //mhm// als schon das erste und (.) ja da hab ich mich dann noch mehr mit ihr beschäftigt (.) dieses Album, also »Oops!…I did it again« //mhm// ist eigentlich immer noch so das zweitliebste in meiner ganzen Britney-Sammlung bisher und ja (.) hat mich durch die Schulzeit begleitet. Dann kam ja 2001 wieder ein Nachfolger //mhm// da war ich dann in der zwölften Klasse
Die Formulierung »so richtig los gings…« (20) erinnert an Tinas Ausführung »das kam dann alles…« (Tina, 20) und verweist auf den definitiven Anfang von Edgars Fan-Interesse. In diesem Zusammengang ist das Vorangegangene dementsprechend eher als ein Übergang zu verstehen. Dass seine Fan-Biographie erst jetzt »so richtig losging« bekräftigt die Deutung, dass das erste Album ihn nicht vollends überzeugen konnte. Zudem dokumentiert Edgars Verweis auf die Musik, die ihm beim zweiten Album besser gefiel, wiederum seine auf das Ästhetische ausgerichtete Fan-Orientierung. Während bei Tina die Live-Erfahrung des Take That-Konzerts den definitiven Anfang der Fan-Biographie markierte, so ist es bei Edgar die durch Tonträger vermittelte Musik. Der Kontrast liegt hier in der Thematik der körperlichen Nähe bzw. Distanz zu den Stars. Edgar ›reicht‹ es, sich über die Medien mit Britney Spears auseinanderzusetzen. Damit in Einklang steht auch die Formulierung »beschäftigt« (23), die auf eine gewisse Distanz in dieser Auseinandersetzung verweist. Weiterhin fällt auf, dass die Musik Ed202
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gar genau wie Timo dazu dient, seine biographische Entwicklung zu strukturieren. 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
und ja die Musik hat mir einfach immer gefallen, die Texte haben mich irgendwie angesprochen obwohl viele Menschen eigentlich immer sagen boah was will man mit diesem Bubblegum-Pop, da steht doch nix drinne oder da kann man doch gar nichts rausholen von, und ich find eigentlich, das ist ne Sache der Interpretation //mhm// dass du da einfach dich in die Texte reinversetzen kannst (.) oder sie schafft es irgendwie auch immer genau meinen Nerv der Zeit zu treffen, dass sie immer davon singt, was mich gerade berührt, also keine Ahnung //mhm// (.) @Schicksal@ (.)
Edgar verlässt hier den erzählenden Modus und geht argumentativ auf die Musik ein, wobei er zwischen der musikalischen Ästhetik und der Bedeutung der Texte differenziert, die ihm beide zusagen. Edgars Überlegung zu dem Vorwurf, die Texte seien künstlerisch wertlos, macht zweierlei deutlich: Zum einen legitimiert Edgar hier vor dem Interviewer sein Fan-Sein für Britney Spears. Dies verweist nicht nur darauf, dass er sich mit den angesprochenen Vorwürfen bereits verschiedentlich konfrontiert sah, sondern auch, dass er die Vorwürfe als ein Common-Sense-Wissen ansieht, das auch dem Interviewer bekannt sein dürfte. Edgar grenzt sich hier also gewissermaßen von der gesellschaftlichen Mehrheit, von den »vielen Menschen« (30) und der (von ihm unterstellten) Common-Sense-Meinung ab, indem er sich mit den Texten von Britney Spears identifiziert. Zum zweiten wird in Edgars Argumentation sein Zugang zur Musik bzw. den Texten noch deutlicher als bisher. Für sein Urteil über die Texte setzt er keine ›objektiven‹ ästhetischen Maßstäbe an, sondern sein subjektives Erleben: Was Britney Spears in den Songs zum Ausdruck bringt, passt immer genau zu seiner je zeitspezifischen subjektiven Empfindung (»meinen Nerv der Zeit«, 36; »was mich gerade berührt«, 37). Edgar stellt hier über die Inhalte der Texte eine Verbindung zwischen sich und Spears her. Schon hier deutet sich dabei an, was sich im weiteren Verlauf des Interviews noch prägnanter zeigen wird: dass diese Verbindung einen verzaubernden Charakter für Edgar hat. So ist die Formulierung »meinen Nerv der Zeit« durchaus bemerkenswert, denn der Ausdruck »den Nerv der Zeit treffen« wird im allgemeinen Sprachgebrauch hinsichtlich kollektiver Phänomene verwendet. In Edgars eigentümlicher Wendung dieses Ausdrucks ins Individuelle wird die Verbindung zwischen Edgar und Spears als eine den Raum übergreifende Synchronisation der beiden konstruiert. Und durch den Begriff »Schicksal« (38) rückt die Verbindung in den Bereich einer rational nicht zugänglichen, transzendenten Fügung. 203
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Allerdings zeigt sich diesbezüglich auch, dass Edgar sich von seiner Aussage in gewisser Weise distanziert: Er weiß nicht genau, wie er sich ausdrücken soll (»keine Ahnung«, 37) und spricht das Wort »Schicksal« mit einem Lachen aus. Wie aus weiteren Passagen des Interviews hervorgehen wird, distanziert sich Edgar hier aber nicht von dem Inhalt des Gesagten. Seine Distanzierung wird verständlicher, wenn man sie vor dem Hintergrund seiner gerade rekonstruierten Legitimierungsstrategie deutet: Wenn man nämlich unterstellt, dass Edgar davon ausgeht, dass der Glaube an Schicksal von seinem wissenschaftlichen Interviewer, dem Common-Sense der Wissenschaft entsprechend, nicht geteilt wird, so kann die Distanznahme als eine Unsicherheit hinsichtlich der Legitimierung des Inhalts seiner Aussage interpretiert werden. Diese Unsicherheit ist durchaus nachvollziehbar, denn der Glaube an Schicksal ist rational nicht erklärbar und kann damit vor einem Wissenschaftler auch nicht abschließend begründet werden. Auch wenn hier noch eine Distanzierung festzustellen ist – die im Laufe des Interviews zurückgehen wird – kann an dieser Stelle schon konstatiert werden, dass Edgars Faszination an Britney Spears über das rein ästhetische Interesse an der Musik hinausgeht und sich auf eine subjektiv empfundene Verbindung zwischen sich und dem Star bezieht. 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 204
und ja, nach dem Abi kam auf mei- auf unserer Seite ((Name der Internetseite)) so ne Anzeige, sie suchen ne Urlaubsvertretung für den Sommer, dacht ich ja bewirbst du dich mal //mhm// dann war so vier Wochen so ne Art Ausscheid wo ganz viele Bewerber sich profilieren konnten, News schreiben und so auf ner Probeseite, die da extra für eingerichtet wurde und da hat man die dann gepostet und unsere Bosse, damals war das noch also der, der jetzt auch die Seite leitet und seine damalige Freundin, haben das dann ausgewertet und drei Leute ausgewählt, unter denen war ich dann @glücklicherweise@ //beide @(.)@// da hab ich mich gleich mal sehr gefreut, ja und dann hab ich drei Monate mit dem Newsmaster und zwei drei anderen Leuten die News geschrieben, der eine ist dann abgesprungen, ich glaube der wurde aus dem Forum gefeuert, weil er irgendwie Scheiß gebaut hat oder so, das weiß ich jetzt nicht mehr so genau //mhm// und ähm der zweite ging dann auch irgendwann stillschweigend und dann war nur noch ich übrig und da hat sich die Arbeit immer mehr verlagert, also ich war dann eingeführt und hatte immer mehr Übung und so, und dann mein Vorgänger hat sich immer mehr zurückgezogen, und keine Ahnung sagte dann irgendwie boah du machst das so toll @also@ mach das doch du und ich vertrete
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dich dann nur noch und so bin ich eigentlich zu der Seite dann gekommen //mhm// und hab immer mehr Arbeit dann bekommen, immer mehr Bereiche, das wurde dann ausgebaut, und jetzt bin ich […] //mhm// so für alles Mögliche zuständig […]
Diese Darstellung ist die bisher ausführlichste Erzählung Edgars und auch eine der ausführlichsten im gesamten Interview. Dies verweist auf die hohe Bedeutung, die die Mitarbeit bei der Fan-Seite im Allgemeinen und der Einstieg in diese Mitarbeit im Besonderen für ihn haben. Der Einstieg selbst war nicht lang geplant, sondern trägt den Charakter einer experimentellen, spontanen Suche (»dacht ich ja bewirbst du dich mal«, 41). Edgar wird zu diesem Zeitpunkt ungefähr 18 Jahre oder etwas älter gewesen sein. Seine Ausführungen machen dann deutlich, dass er sich nicht an einer wie auch immer gearteten Gemeinschaftlichkeit von Fans orientiert (der Selektionsprozess, den er schildert, betont sogar die Konkurrenz unter Fans); vielmehr stellt er seine eigene Leistungsbereitschaft und -fähigkeit in den Vordergrund: Durch seinen Einstieg in die Mitarbeit an der Fan-Seite hat Edgar einen umfassenden (»sämtliche Bereiche«, 66) Verantwortungsbereich übertragen bekommen. Wie Tina wurde Edgar so zu einer Art Elder-Fan. Und da er sich auf diesem Wege täglich mit Britney Spears’ Person auseinandersetzt, kann seine Mitarbeit als ein Dienst an seiner Beziehung zu dem Star bzw. als Dienst am Idol interpretiert werden. Es deutet sich hier an, dass Edgar – ähnlich wie Tina, Sarah und Timo – Reziprozität in seinem Verhältnis zu Spears herstellt: Sie schafft es, davon zu singen, »was mich gerade berührt«, er übernimmt im Gegenzug Verantwortung im Internet-Fanclub. Für diese Deutung werden noch weitere Passagen sprechen. 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81
und jetzt müssen wir die Zeit überbrücken, in der sie jetzt zum zweiten Mal schon schwanger ist //beide @(1)@// aber irgendwie, diese Frau polarisiert also ich weiß es auch nicht wie sie das (.) oder wie sie das macht, sie eckt einfach so n bisschen an //mhm// und die halbe Welt liebt sie, die andere Welt hasst sie, wahrscheinlich irgendwie wir sagen immer so sie ist der meistgeliebte und gleichzeitig meistgehasste Popstar auf der Welt //mhm// weil es gibt da nicht so viele Negativschlagzeilen über andere eigentlich (.) vielleicht noch die Königshäuser oder so, aber da ist ja die @Zielgruppe ganz anders@ //mhm// ja, ein Phänomen ist sie @auf jeden Fall@ (5) Ja, das ist jetzt mal so ein kurzes (.) ein kurzer Überblick
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Dies ist der Abschluss von Edgars Anfangserzählung, was zum einen daraus hervorgeht, dass er in der Gegenwart angelangt ist (»jetzt«, 69) und mit einer Erzählkoda endet. An dieser Stellt relativiert sich die in der vorangegangenen Passage rekonstruierte soziale Orientierung Edgars teilweise, denn er sieht sich durchaus als Teil der Fan-Gemeinschaft. Hatte Edgar bis hierhin von sich allein gesprochen (»ich«, »mir«, etc.), so verwendet er jetzt die Pluralform (»wir«, 69, 75) und übernimmt damit gewissermaßen die Perspektive eines Gemeinschaftsmitglieds, das für die Gemeinschaft spricht. Dies verweist auch in sozialer Hinsicht auf eine Veränderung in seiner Fan-Biographie durch seine Mitarbeit bei der Fan-Seite. Allerdings bleibt seine primäre Orientierung auf Britney Spears gerichtet, denn er geht auch hier wieder vor allem auf den Star ein. Die Schwangerschaft des Stars wird von der Fan-Gemeinschaft nicht positiv aufgenommen, denn sie hat zur Konsequenz, dass die Fans auf Neues von Spears warten müssen. Dabei muss das Interesse an dem Star künstlich hochgehalten werden, wie der Begriff des »Überbrückens« (69) zeigt. Edgar geht nicht explizit darauf ein, wie dieses »Überbrücken« bewerkstelligt wird, doch sein unvermittelter Übergang in den argumentierenden Modus lässt auf folgendes schließen: Das Interesse an Britney Spears wird durch das »Polarisieren« (71) und entsprechende mediale »Negativschlagzeilen« (77) wach gehalten. Dabei zeigt sich eine Differenz zwischen Edgar und Timo: Ging es Timo darum, dass Xavier Naidoo prinzipiell alle Menschen erreichen kann, womit Timo die Einheit der Fans trotz sozialer Unterschiede betonte, so ist Edgar davon fasziniert (»ein Phänomen«, 79f.), dass Spears seiner Ansicht nach die Welt spaltet, womit er die Differenz hervorhebt. Allerdings schreibt er Spears gleichsam eine manipulatorische Macht zu, über die wiederum eine übergreifende globale Einheit zwischen den Menschen geschaffen wird: Edgar stellt Spears so dar, als könne sich niemand aus ihrem Einflussbereich fernhalten (»die halbe Welt liebt sie, die andere Welt hasst sie«, 73f.). Doch dieses Argument führt Edgar nicht an, um auf eine Einheit in der Differenz aufmerksam zu machen, sondern um den seiner Ansicht nach überragenden Status von Spears unter den Popstars dieser Welt hervorzuheben (75ff.). Dies zeigt auch sein Vergleich mit den »Königshäusern« (78): Spears ist für Edgar gleichsam die Königin unter den Popstars. Der Vergleich mit den Königshäusern verweist dabei auch auf die hohe Verehrung, die Edgar Spears entgegenbringt. Edgar setzt hier also deutlich eine Differenz zwischen der Wir-Gruppe der Spears-Fans und den anderen. Der Begriff der »Zielgruppe« (79), ein Wort aus der Sprache des Marketings, verweist, ähnlich wie der Begriff der »Musikindustrie« (19) wiederum auf eine affirmative Einstellung gegenüber der Kommerzialisierung der Rockund Popmusik, die einen Kontrast zu Timo wie zu Sarah darstellt.
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Eine meiner immanenten Nachfragen bezog sich auf den Stellenwert, den Edgar den Songtexten beimisst. Hatte Edgar im Bisherigen bereits gesagt, dass die Texte genau das zum Ausdruck bringen, was ihn zu einer jeweiligen Zeit gerade »berührt«, so führt er dies im Folgenden detaillierter aus. Auf meine Frage, ob er mir erzählen könne, welcher Text ihm besonders gut gefalle, gab Edgar eine längere Antwort, in der er sich auf mehrere Songs und Alben bezieht. Ich werde diese Ausführungen schrittweise rekonstruieren: 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159
also mein Übersong sag ich ist immer so »Oops!… I did it again« //ja// also damals naja fings so n bisschen an, in diesem Lied geht’s so n bisschen drum dass man Menschen betrügt oder halt allen gefallen möchte und so tut einfach als ob man mit ihnen zusammen sein möchte, mit ihnen gehen möchte, und einfach versucht, vielen den Kopf zu verdrehen und das eigentlich gar nicht ernst meint //mhm// @ich muss jetzt gestehen@, dass ich das auch manchmal so gemacht habe, einfach dann die Leute hingehalten //mhm// gesagt hab ach, mal sehen, vielleicht, in Zukunft mal und nicht klipp und klar gesagt nee du mit uns wird das nichts //mhm// so immer so n bisschen warm halten oder Reserve //@(.)@// oder so, ist zwar nicht ganz nett, aber so war ich (.) aber das wurde mir damals noch gar nicht so bewusst, damals (.) also 2000 als das aufkam, da fand ich einfach die Melodie dieses Liedes toll, diese charakteristischen Beats //mhm// von ihrer Musik, also diese ganzen Plastik-Pop-Beats wie man das manchmal bezeichnet, ich hab das mal Beat-Pop genannt oder so //mhm// das fand ich toll und halt das Wort, dass @dieses Wort Oops in irgendwie in einen Song eingebaut wurde@, hat mich irgendwie fasziniert, ich weiß gar nicht warum, aber das kam so und (.) ja nach und nach, als man sich dann auch mit äh den Texten auch beschäftigt hat und so //mhm// kam dann eben das Bewusstsein, hey du, die singt ja da eigentlich das, was du auch machst und das ist ja eigentlich gar nicht nett, aber die hat Recht, das machst du so
Zur Erinnerung: Das Album, auf dem sich der hier in Frage stehende Song befindet, war jenes, mit dem Edgars Fan-Biographie »so richtig losging« (20). In der hier vorliegenden abstrahierenden Erzählung wird deutlich, dass Edgars Faszination für seinen »Übersong« im Laufe der Zeit eine Entwicklung durchgemacht hat, auch wenn nicht klar wird, welche Länge der angesprochene Zeitraum genau hatte. Anfangs war Edgar unmittelbar vom Musikalischen begeistert (»toll«, 148 u. 152.), den Text rezipierte er dabei nur frag-
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mentarisch und ohne weiter über den Inhalt zu reflektieren (»dieses Wort Oops…«, 152ff.). Erst nach wiederholtem Hören des Songs setzte die Reflexion über den Text ein, durch die er sich schließlich persönlich von dem Song angesprochen fühlte. Dieses persönliche Angesprochensein ist in der Hinsicht zu verstehen, dass Edgar sich auf eine eigene Verhaltensweise aufmerksam gemacht sah, die ihm vorher nicht bewusst gewesen war, und die er daraufhin als ein moralisches Fehlverhalten bewertete. Edgars Darstellung in der Vergangenheitsform lässt vermuten, dass er dieses Verhalten dann geändert hat: »so war ich« (144f.). Die Formulierung »Ich muss jetzt gestehen…« (140) verweist zudem auf einen der Beichte ähnlichen Charakter der Selbstreflexion. Der Song gab Edgar also eine neue moralische Orientierung im Hinblick auf sein Sozialverhalten. Es ist aber nicht so, dass Edgar seine Rezeption des Songs so darstellt, als lese er aus dem Song ›lediglich‹ ihm Bedeutsames heraus. Vielmehr erscheint es in seiner Formulierung so, als ob Spears den Song direkt für ihn geschrieben habe: »die hat Recht, das machst du so« (159). Dabei wird auch hier wieder der Aspekt der raumübergreifenden Synchronisation zwischen Spears und Edgar deutlich, der schon oben rekonstruiert wurde: Wenn Spears, seiner Formulierung entsprechend, über etwas singt, was Edgar »auch« (158) macht, so stellt Edgar gleichsam einen Gleichklang in Gedanken und Handlungen zwischen sich und ihr her. Wir finden hier also, ähnlich wie bei Sarah, wieder einen Fall von mimetischer Identifikation mit dem Star vor. In dem Satz »die hat Recht, das machst du so« dokumentiert sich zudem, dass Edgar dem Star eine moralische Autorität ihm gegenüber zuerkennt. Aus Edgars Erzählung ergibt sich also, dass er durch die Reflexion über den Songtext zunehmend in eine Beziehung der vertikalen Communitas mit Spears eintrat. Wie bei den anderen Interviewees zeigt sich auch bei Edgar eine Orientierung an vertikaler Communitas, die wie bei Tina und Sarah auf den Star selbst und nicht wie bei Timo auf ein übernatürliches Wesen gerichtet ist. Die hier vorliegende mimetische Identifikation hat durchaus einen wundersamen Charakter: Edgar und Spears scheinen da wie durch ein unsichtbares, mystisches Band miteinander verbunden zu sein. Dies hatte sich auch schon oben in dem Begriff »Schicksal« (38) angedeutet – und hier gibt es im Gegensatz zu oben keinen Hinweis mehr auf eine Distanzierung Edgars. Im Gegenteil, das Eingeständnis einer charakterlichen Schwäche in der Interviewsituation verweist klar auf seine ernsthafte Involvierung. Diese Rekonstruktion zeigt, dass Edgar durch den Song »Oops!… I did it again« verzaubert wurde. Durch das Lied entstand nicht nur Edgars Empfindung einer unsichtbaren Beziehung zwischen sich und dem Star, das Lied bewirkte zudem eine moralische Veränderung bei ihm. Das bedeutet aber wiederum, dass der ›eigentliche‹ Anfang seiner Fan-Biographie – mit diesem Album ging es »so richtig los« – mit seiner Verzauberung durch die Musik zusammenfällt. 208
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Dies erinnert an die Verzauberung Tinas, bei der mit dem ersten Konzert von Take That, welches Tina besuchte, »alles kam«. Und der Aspekt der neuen moralischen Orientierung durch den Songtext erinnert an das Interview mit Timo. Auch Timo erhielt durch die Reflexion über die Texte eine neue Orientierung, diese war aber weniger auf sein eigenes moralisches Verhalten als auf die Idee der Communitas bezogen, welche wiederum bei Edgar keine Rolle spielt. 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182
dann kam das Album »Britney« //mhm// das auch eigentlich eher so ihre (.) ihr Inneres thematisiert so der Übergang vom Teenager zum Erwachsenen oder so //mhm// und das hat ja genau meinem Alter dann damals auch entsprochen, sie eben sich überbehütet fühlte von den Eltern, @ging mir genauso@ dass sie irgendwie in so einer Zwischenstation ist, kein Kind mehr aber auch kein Erwachsener, ging mir auch so, obwohl sie natürlich singt kein (.) also ich bin kein Mädchen mehr aber noch keine Frau //mhm// das kann man ja trotzdem irgendwie übertragen, dass man eben noch nicht erwachsen ist, dass man einfach rausgehen möchte, mal alleine was unternehmen, das hat mich dann auch sehr berührt
Edgar konstruiert hier eine parallele biographische Entwicklung zwischen sich und Britney Spears: In dem Album »Britney« fand Edgar genau die Themen angesprochen, die seine damalige Situation prägten. Die Begriffe und Formulierungen, die Edgar verwendet, um diese Situation zu charakterisieren, könnten auch aus einem Text über Initiationsriten stammen: »Übergang« (171) »Zwischenstation«, »kein Kind mehr aber auch kein Erwachsener« (175f.). Edgar befand sich zum damaligen Zeitpunkt subjektiv in einer Situation des »betwixt and between«.46 Diese Situation empfand er als eine Krise, denn sie war geprägt von einer beginnenden Ablösung von den Eltern (174) und einem Ringen um Autonomie (180f.). Im Hinblick auf seine Darstellungsweise ist es auffällig, dass Edgar genau genommen nicht von seinen eigenen Erfahrungen erzählt, sondern von denjenigen, die Spears in ihren Texten anspricht (wie vor allem das zweimalige »ging mir genauso« (174 u. 176) zeigt). Dies könnte zum einen darauf zurückzuführen sein, dass meine Nachfrage ja auf die Texte und nicht auf seine Erfahrungen abzielte. Doch bedenkt man in diesem Zusammenhang die vo46 Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Edgar diese Begriffe verwendet, um damit meinem Forschungsinteresse entgegenzukommen. Zwar hatte ich ihm vor dem Interview gesagt, dass ich zum Thema Rituale forsche; doch über Initiationsoder Übergangsriten und deren spezifische Kennzeichen hatten wir nicht geredet. 209
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rangegangene Interviewstelle, in der deutlich wurde, dass der Song »Oops!... I did it again« Edgar zur Reflexion über sich selbst anregte, so zeichnet sich hier ein Muster ab: Für Edgar hat die Musik eine Art Spiegelfunktion, denn sie zeigt ihm, wer er ist und in welcher Situation er sich gerade befindet. Dient Timo die Musik zur Reflexion über die Gesellschaft, so dient sie Edgar zur Reflexion über sich selbst. Beiden gemeinsam ist dabei eine primäre Orientierung an den musikalischen Werken der Stars. 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203
und dann kam ja »In the Zone«, das bis jetzt ihr letztes Studioalbum war und eigentlich auch mein allerliebstes von allen ist //ja// also da ist sie schon ein bisschen erwachsener und auch so n bisschen verrucht und sexy und singt dann auch eben von diesen Themen, die einen so bewegen //mhm// von Liebeskummer, von °Sex°, von Liebe an sich //mhm// und ja auf »In the Zone« war zum Beispiel »Everytime« ein Song, der mich auch zu dieser Zeit wirklich, der war wie wenn er direkt aus meiner Seele kam //mhm// also das war so total immens, glorios, ich weiß gar nicht, wie ich das sagen soll, wie die das schaffen konnte, weil das Lied hat sie auch nach der Trennung von Justin Timberlake //mh// selbst geschrieben und dass ein Lied, das sie selbst schreibt, mir so aus der Seele sprechen konnte, war echt krass //beide @(.)@// weil das war auch zu dieser Zeit (.) keine Ahnung, wie @viel man da@ jetzt aus dem Nähkästchen plaudern soll, aber da war auch so ne Beziehung am Scheitern gewesen //mhm// und da hab ich dann auch stark hinterhergetrauert und da war dieser Song @Balsam für meine Seele@, sollte man nicht glauben
Hier ist die Spiegelfunktion, die die Musik für Edgar hat, wieder zu erkennen. Dabei entsprachen die Liedtexte von »In the Zone« wieder Edgars damaligem Entwicklungsstand. Und hier zeigt sich wiederum, dass Edgar eine parallele Entwicklung zwischen sich und Britney Spears sieht (»erwachsener« wurden, 187), wobei Spears die jeweils anstehenden Themen zur Sprache brachte. Wieder stellt Edgar eine Verbindung zwischen sich und Spears her, die das rational Fassbare übersteigt (190ff.). Die häufige Verwendung des Begriffs »Seele« verweist dabei darauf, dass diese Verbindung nicht einfach nur eine gedachte ist, sondern im Sinne einer erfahrenen Wesensverwandtschaft verstanden werden muss. Vor allem der Hinweis, der Song komme »wie (…) direkt aus meiner Seele« (192), macht die mystische Verbindung deutlich, die Edgar zwischen sich und Britney Spears herstellt. Darüber hinaus schreibt Edgar auch der Musik selbst eine Zauberkraft zu, was sich in der wundersamen Heilung, welche der Song »Everytime« bei ihm in einer Krisenzeit 210
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hervorzurufen vermochte, zeigt (202f.). Hier klingt allerdings Verwunderung bei Edgar an: »sollte man nicht glauben« (203). Dies dokumentiert, dass Edgar keine Erklärung, keine ›Theorie‹ für die Verbindung zwischen sich und Spears hat, weshalb ich den Begriff des Zaubers dem der Magie vorziehe.47 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Edgar sich an einer Beziehung der vertikalen Communitas mit Britney Spears orientiert, die hinsichtlich der mimetischen Identifikation Ähnlichkeiten mit Sarahs Fall aufweist. Während die Rekonstruktion von Sarahs Fan-Biographie allerdings Sarahs Orientierung an ideeller Communitas deutlich machte – Cobain brachte für sie wichtige Ideale zum Ausdruck – so zeigt sich bei Edgar die Orientierung an einer unmittelbaren Communitas mit dem Star: Spears sprach ihm gleichsam aus der »Seele«. Und in dieser Hinsicht sind wiederum Gemeinsamkeiten mit Tina sowie den Gruppendiskussionen über die Konzerte von Robbie Williams und Herbert Grönemeyer zu sehen. Vor allem bei Isa und Max (die beiden, die von dem Grönemeyer-Konzert erzählten) war davon die Rede, dass der Sänger das eigene »Seelenleben« zum Ausdruck bringen könne und dass eine Art emotionaler Gleichklang zwischen Isa und Grönemeyer entstünde. Auch bei Isa und Max hängt diese Erfahrung einer unmittelbaren vertikalen Communitas eng mit ihrer auf das musikalische Werk bezogenen Orientierung zusammen, denn die enge Beziehung zum Sänger wird bei ihnen vor allem über die Songtexte hergestellt. Etwas anders stellt sich die Orientierung an unmittelbarer Communitas bei Tina sowie Eva und Jan dar. Bei allen dreien ist die Orientierung an den musikalischen Produkten sekundär, sie stellen die Erfahrung der Präsenz des Sängers, in diesem Falle Robbie Williams, in den Vordergrund. Doch weiter in dem Interview mit Edgar. Edgar war zum Zeitpunkt des Interviews noch nie auf einem Konzert von Britney Spears gewesen und ging von sich aus auch nicht auf diese Frage ein (im Gegensatz zu Sarah, die zwar ebenfalls kein Konzert von Nirvana besucht hatte, aber dies schon sehr bald in ihrer Erzählung thematisierte). Auf meine exmanente Frage, ob er Britney Spears schon einmal auf einem Konzert gesehen habe, antwortete Edgar wie folgt: 340 341 342 343 344 345 346
Das ist ja der Überwitz, ich war auf keinem Konzert und hab sie nicht live gesehen weil (.) unglückliche Umstände @wollten es immer irgendwie nicht@ also //mhm// ich weiß gar nicht bei »Baby one more Time« war sie glaub ich gar nicht in Europa, da war sie immer nur, also nicht auf Tour, soweit ich weiß, ich bin mir aber nicht mehr sicher //mhm// und dann kam 2000 die »Oops!… I did it again«-Tour und da wär
47 Siehe meine Ausführungen in den Abschnitten »Ritual und Magie« sowie »Ritual und Zauber« im Kapitel 1. 211
ROCK UND POP ALS RITUAL
347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358
sie an meinem Geburtstag in E-Stadt gewesen //ja// und da wollte ich eigentlich dass meine Eltern mit mir dahingehen ah die so das ist dein Geburtstag und deine Familie, was wird die sagen wenn du nicht deinen Geburtstag feierst (schnell und hauchend gesprochen) und ja (.) das sind manchmal so ein bisschen altmodische Ansichten, und dann konnte ich da nicht hin @(.)@ //ja// blöderweise und dann hab ich halt mit meinen Klassenkameraden (.) Kamera- ja mit meinen Mädels reingefeiert und hab dann ähm das Konzert im Radio ange@hört@ also das war irgendwie so n bisschen LiveÜbertragung //mhm// oder immer so ähm Mitschnitt und das hab ich dann gehört
Mit dem Begriff »Überwitz« (340) stellt Edgar es als ungewöhnlich heraus, dass ein so begeisterter Fan wie er noch nie auf einem Konzert war. Mit dem anschließenden Verweis auf die »unglücklichen Umstände« (341) ordnet er diese Tatsache wiederum in einen schicksalhaften Zusammenhang. Zudem deutet der Verweis darauf hin, dass Edgar im Grunde schon auf Konzerte hätte gehen wollen, wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Das Schicksalhaft-Tragische liegt, wie seine Erzählung deutlich macht, darin, dass der Termin des Konzerts einerseits genau auf seinem Geburtstag lag, was für ihn besonders positiv war (betonte Aussprache von »meinem«, 347). Andererseits konnte er aber nicht auf das Konzert gehen, eben weil es an diesem Tag stattfand, denn seine Eltern drängten ihn, diesen Tag der rituellen Tradition entsprechend zu »feiern« (350). Interessant ist dabei, dass Edgar sich zwar reflexiv von den »Ansichten« (352) seiner Eltern distanziert, sie aber, was seine Handlungspraxis angeht, als gültig anerkannte: Es ist von keiner Auseinandersetzung zwischen ihm und seinen Eltern die Rede, vielmehr folgte aus deren Einspruch für Edgar wie selbstverständlich die Konsequenz: »und dann konnte ich da nicht hin« (352f.). Edgar ordnete sich also zu diesem frühen Zeitpunkt seiner Fan-Biographie der Autorität seiner Eltern unter. Dies passt zu der schon oben rekonstruierten Passage, nach der Edgar sich erst mit dem Album, welches auf »Oops!… I did it again« folgte, von seinen Eltern zu lösen begann (als er anfing, sich »überbehütet« (174) zu fühlen). Edgars Wunsch, mit den Eltern zu dem Konzert zu gehen (347f.), zeigt zudem, dass der soziale Ort von Edgars Fan-Sein zu dieser Zeit noch nicht primär die Peergroup, sondern die Familie war. Aus weiteren Passagen geht hervor, dass Edgars Fan-Sein sich mit der Zeit aus dieser engen Bindung an die Familie löste und in anderen sozialen Zusammenhängen Bedeutung erlangte. Schon weiter oben hatte sich angedeutet, dass die Internet-Fanseite dabei eine wichtige Rolle spielte, denn über diese Seite fand Edgar die Einbindung in die Gemeinschaft der Spears-Fans (dies wurde aber nur am Rande, in Edgars Verwendung des »wir«, deutlich). Nach212
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dem Edgar an anderer Stelle erzählt hatte, dass über die Internet-Fanseite auch Freundschaften zwischen Fans entstehen, fragte ich ihn, ob die Fans sich auch treffen. 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301 302 303 304 305
Also jetzt Forum-Treffs waren schon mal n Thema, aber es kam irgendwie nicht zustande und ähm ich persönlich hab mich jetzt schon mit paar wenigen getroffen oder auch telefoniert oder so und ähm zu unserer Seite gehört ja auch ein Chat //mhm// und über diesen Chat bin ich eigentlich @hier her gekommen@, das ist ja schon wie mein zweites Zuhause //mhm// da hat mich so mein Freund angechattet und (.) ja erst dachte ich was will diese Nervensäge jeden Tag von mir und dann entstand dann irgendwie doch mehr, dann unterhält man sich eben über den Tagesablauf und irgendwann kommen dann Vorschläge soll man sich mal treffen oder so und das hatten wir dann auch gemacht und (.) ja, so entsteht dann @ganz viel@ und jetzt verbringe ich meinen Sommer hier ähm er war einen Sommer bei mir unten und das geht jetzt schon so eineinhalb Jahre
Dass ein Forum-Treff noch nicht realisiert wurde, deutet auf einen geringen Stellenwert hin, den ein leibliches Treffen für die Spears-Fans, die auf der Internetseite zusammenkommen, einnimmt. In Tinas Fan-Gemeinschaft war das anders. Dort wurden zunächst mehrere kleine Treffen und schließlich auch ein großes durchgeführt. Die individuellen Fan-Orientierungen von Edgar und Tina können hier durchaus auch auf die Fan-Gemeinschaften, denen sie angehören, übertragen werden: Tina bewegte sich in einer auf körperliche Nähe ausgerichteten Fan-Kultur (mit einem rauschenden Fest als Höhepunkt), Edgar in einer reflexiv ausgerichteten, die zum Chat im Internet zusammenkommt. Zwar hat Edgar sich bereits mit anderen Fans leiblich getroffen, doch seine Erzählung dazu ist sehr knapp, was nahe legt, dass diese Treffen eine geringe Bedeutung für ihn hatten (zudem hat er nur mit »paar wenigen« (293) Kontakt außerhalb des Internet aufgenommen). Im Weiteren erzählt Edgar in ausführlicherer Weise nicht von größeren Gemeinschaftsveranstaltungen, sondern von einer intensiven Freundschaft, die über die Internet-Fanseite zwischen ihm und einem anderen Fan entstanden ist. Das Interview mit Edgar fand dort statt, wo sein Freund wohnte (was seine Formulierung verständlich macht, er sei »hier her gekommen«, 295f.). Der Begriff »zweites Zuhause« (296) macht dabei deutlich, dass Edgar hier einen sozialen Ort fand, der ihm ein wichtiges Gefühl der Milieuzugehörigkeit gibt. Aus Edgars Erzählung geht hervor, dass er nicht aktiv nach der Beziehung mit seinem Freund gesucht hat, sondern sie sich gleichsam von 213
ROCK UND POP ALS RITUAL
außen aufdrängte: Zunächst gab er sich verschlossen (»was will diese Nervensäge«, 298), dann aber öffnete er sich immer weiter gegenüber dem Freund. Über das Fan-Sein ging Edgar also eine enge Beziehung zu einem anderen Fan ein, und eine enge Freundschaft ist sicherlich eine sehr unmittelbare Form der Communitas. Auch hier zeigt sich also Edgars Orientierung an unmittelbarer Communitas, die schon in seinem Verhältnis zu Britney Spears rekonstruiert wurde. An einer anderen Stelle des Interviews zeigt sich, dass das Fan-Sein aus Edgars Sicht auch eine Bedeutung hinsichtlich seiner beruflichen Entwicklung erlangt. Um dies zu rekonstruieren, muss ich zunächst noch einmal eine Passage zitieren, in der Edgar auf sein Interesse für Königshäuser eingeht: 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448
Dadurch, dass ich da jetzt arbeite kann ich dann wenn in der Bild-Zeitung oder in irgendeinem Klatsch-Heftchen irgendwas über Popstars steht oder auch über die europäischen Königshäuser oder was auch immer //mhm// äh bisschen differenzieren, dass ich dann sage das ist jetzt wieder mediengemacht oder die brauchen jetzt wieder unbedingt ne Story oder haben irgendwas aufgebauscht //mhm// weil oft wird einfach mehr aus ner Mücke n Elefant gemacht und die Medien wollen ja auch ihr Geld verdienen //ja// und dadurch vermitteln sich natürlich wieder ganz andere Bilder über diese Stars (.) manchmal n bisschen schlecht, aber dazu sind ja zum Beispiel @wir wieder da, damit wir dann@ das relativieren können
Edgar nimmt hier für sich in Anspruch, durch die Arbeit bei der Fanseite die Kompetenz erworben zu haben, Medienberichte kritisch sichten zu können. Diese Kompetenz stellt er wiederum in den Dienst der Fanseite, deren eine Aufgabe er darin sieht, eine Art Gegenpol zu den großen Medien zu bilden. Im Weiteren berichtete Edgar von seinem Interesse an Marie-Antoinette, der Königin von Frankreich (1755-1793). Ich überspringe diesen Teil seiner Ausführungen und gehe nun auf eine Erzählung über seine Erfahrungen als angehender Lehrer ein: 482 483 484 485 486 487 488 489 214
und da hab ich neulich auch so ne Unterrichtsstunde vorbereitet und da hab ich versucht, meine beiden Interessen Britney und Marie-Antoinette zusammenzubringen //ja// und ähm ja so ne Stunde vorbereitet in der man einfach Quellen, also so Bildzeitung oder so über heutige Popstars analysieren soll //mhm// und herausfinden soll, was da nicht stimmt und (.) ja, @das@ kam bei meinem Lehrer sehr gut an, der war sehr begeistert
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
Edgar trägt sein privates Fan-Interesse in das berufliche Leben hinein, wenn er versucht, die bei der Fanseite erworbene Kompetenz der Medienkritik an seine Schüler weiterzugeben und auf die Quellenkritik im Geschichtsunterricht zu transferieren. Dieser Versuch ist für ihn auch insofern erfolgreich verlaufen, als Edgar überdurchschnittliche Anerkennung durch seine berufliche Autoritätsperson erhielt (»sehr gut«, 488; »sehr begeistert«, 488f.). Hier drängt sich der Vergleich mit Timo auf, denn Timo konnte sich mit seiner beruflichen Laufbahn nicht identifizieren, und die Musik stellte für ihn eine vom beruflichen Leben getrennte, gewissermaßen bessere Welt dar. Für Edgar sind Ausbildung und Musik keine getrennten Welten, vielmehr stellt er für sich eine befruchtende Verbindung zwischen beiden her. Zudem wird Edgars Handlungsweise durch das Lob des Lehrers bestätigt und damit auch ›legitimiert‹. Ganz anders war es bei Timo, der die Autorität seiner »Vorgesetzten« grundsätzlich in Frage stellte und dabei von der Musik Hilfe erhielt. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen kommt Edgar schließlich zu folgendem Ausruf: 495 496 497 498 499 500 501 502 503
@Was ich Britney nicht alles zu verdanken habe@ //@(.)@// ich bin hier wegen ihr, ich hab im Studium Erfolg wegen ihr oder so oder indirekt halt wegen ihr, das ist schon krass, auch meine Eltern sind mit den Eltern meines Freundes sehr sehr gut befreundet //ja// und meine Mutter auch so das ist echt krass, was du schon alles nur weil du für die arbeitest schon erlebt hast, da sollte man eigentlich mal einen Dankesbrief schreiben, was die schon alles geleistet hat für dich und (.) sollte man echt mal tun hat sie gesagt
Die Reflexionen in der Situation des Interviews vergegenwärtigen Edgar die große Bedeutung, die Britney Spears für ihn hat, was zu dem begeisterten Ausruf führt. Das Wort »Verdanken« (495) verweist darauf, dass Edgar etwas Wertvolles von Spears bekommen zu haben meint. Und tatsächlich schreibt er ihr die als positiv erfahrenen biographischen Entwicklungen im Hinblick auf Freundschaft und Ausbildung direkt zu (»wegen ihr«, 496f.). Auch hier dokumentiert sich wieder die mystisch anmutende Beziehung, die Edgar zwischen sich und Spears herstellt, scheint es doch so, als habe Spears die Beziehung zu seinem Freund gleichsam gefügt. Edgars Erzählung über die Auffassung seiner Mutter macht dann deutlich, dass das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber Spears nicht allein eine theoretische Argumentation ist, die sich im Laufe des Interviews einstellte. Denn seine Mutter teilt die vorgetragene Ansicht, Edgar habe etwas Wertvolles von Spears bekommen. Es ist nicht nachzuvollziehen, ob Edgar seine Mutter wortwörtlich zitiert; aus seinen Formulierungen kommt aber wieder die mystische 215
ROCK UND POP ALS RITUAL
Form der Verbindung hervor, die er zwischen sich und Britney Spears zieht: zum einen sieht er sich wie einen Angestellten von Spears (»weil du für die arbeitest«, 500), zum anderen scheint es, als mache Spears etwas für ihn persönlich (»was die schon alles geleistet hat für dich«, 502f.). Die Formulierung »echt krass« (500) deutet auf ein Übersteigen des rational Fassbaren hin. Und auch die Vorstellung von einem Dankesbrief verweist auf eine direkte Beziehung zwischen Edgar und dem Idol, die in Form eines rituellen Tauschverhältnisses gedacht wird. Auch wenn dieser Brief bisher nicht geschrieben wurde, sieht Edgar doch seine tägliche Arbeit für die Internet-Fanseite gleichsam als eine Gegenleistung an, über die er Reziprozität in seinem Verhältnis zu Spears herstellen kann, wie aus der folgenden Stelle des Interviews hervorgeht: 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337
@unser@ Chef sagt immer mach das bloß für immer, ich krieg niemand besseres als dich, wenn du aufhörst hör ich auch auf //wow, mhm// das ist dann auch so ein schönes Kompliment, das man dann da kriegt //mhm// und mit natürlich auch ne Motivation weiterzumachen, aber das ist jetzt nicht vordergründig so dass man da Lob kriegt //mhm// das ist schön, wenn da mal irgendwie Lob angebracht wird, aber da kommt natürlich auch Kritik, aber vordergründig möchte ich das einfach für mich tun oder auch für Britney @(1)@ weil so kann ich sie dann auch unterstützen //mhm// und wenn man sie unterstützt und quasi weiter promotet, dann hat sie ja hoffentlich auch weiter Erfolg und wenn sie Erfolg hat macht sie Musik weiter und das kommt ja dann mir wieder zugute, weil ich mich ja dann wieder durch ihre Musik entspannen kann oder da meine Ratschläge finde, komischerweise //mhm// die ich mal so brauchen kann und das ist irgendwie so n Kreislauf, gegenseitiges Geben und Nehmen, oder @Symbiose@ kann man so sagen
Aus der Argumentation, die Edgar an die Darstellung seiner Freude über die Anerkennung seiner Leistungen durch den »Chef« (319) anschließt, wird wieder Edgars mystische Form der Beziehung zu Britney Spears deutlich. Vor allem der Begriff der »Symbiose« (336) verweist auf die Empfindung einer sehr engen Beziehung zum Star. Das eingeschobene Wort »komischerweise« (335) zeigt dabei wieder, dass Edgar sich nicht erklären kann, wie es kommen kann, dass Spears ihm, seiner Wahrnehmung nach, ganz persönliche »Ratschläge« (334) gibt. Und die Formulierung »Geben und Nehmen« (336) schließlich lässt Edgars Beziehung zu Britney Spears als eine Form des Star-
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QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
kults erscheinen, besteht ein Kult doch in einem »Austausch von Diensten« (Durkheim). Die Darstellung seiner eigenen Tätigkeit im Fanclub erinnert an das, was Tina sagte: Beiden geht es um die »Unterstützung« (329) ihres Stars, sie wollen, dass ihre Stars »Erfolg« (331) haben. Der von Edgar verwendete Begriff der »Promotion« (330) verweist dabei auf einen Erfolg sowohl im ökonomischen Sinne als auch im Sinne der Bekanntheit. Beide Interviewpartner wollen ihre Stars durch ihre Mitarbeit im Fanclub ›ganz nach oben‹ bringen, um dann wiederum am diesem Erfolg teilhaben zu können. An dieser Stelle möchte ich die bei Edgar rekonstruierte, mystisch anmutende Beziehung zu Britney Spears aus kulturanthropologischer Sicht reflektieren. Ich hatte bei der Darstellung der liminalen Phase von Jugendritualen herausgearbeitet, dass die Herstellung einer magischen Verbindung zu transzendenten Mächten eine zentrale Dimension dieser Riten ist. Hier möchte ich noch einmal auf die Riten indianischer Stämme in Nordamerika zurückkommen, deren spezifisches Merkmal die Erlangung eines Schutzgeistes durch den Initianden ist. Während der rituellen Absonderung und der dabei durchgeführten Übungen offenbart sich dem Initianden in einer Vision ein Wesen, meist in Gestalt eines Tieres, welches ihm Lieder und Tänze gibt und für den Rest seines Lebens mit Ratschlägen und magischem Schutz zur Seite stehen wird.48 Zugegebenermaßen ist es ein weiter Weg von den nordamerikanischen Indianerstämmen zu einem deutschen Popfan. Doch abgesehen von allen Unterschieden, die keinesfalls geleugnet werden sollen, bietet das Schutzgeistkonzept durchaus einen Anhaltspunkt, um Edgars Aussagen zu interpretieren. Britney Spears, so meine ich, hat für Edgar einen Schutzgeistcharakter. Denn er fühlt sich ihr auf eine mystische Weise verbunden, sie begleitet ihn in seiner Entwicklung, gibt ihm moralische Orientierung und lässt ihm Heilung in Krisen angedeihen. Edgar ›erhält‹ von Britney Spears auch Lieder, die sich, wie gezeigt wurde, gerade dadurch auszeichnen, dass sie, in Edgars Wahrnehmung, genau auf ihn gemünzt sind. Zwar hat Edgar sich nicht auf eine Schutzgeistsuche begeben und keine rituellen Handlungen durchgeführt, um Spears als ›Schutzgeist‹ zu erlangen. Insofern kann man hier nicht von einer Initiation sprechen. Aber Edgar hat eine Erfahrung gemacht, die derjenigen der nordamerikanischen Initianden ähnelt, nämlich die Erlangung eines ›transzendenten‹ Wesens, dem er sich tief verbunden fühlt. Spears ist in gewissem Sinne tatsächlich eine transzendente Macht für Edgar: Er hat sie noch nie leiblich gesehen, sie ist nur in Symbolen für ihn präsent, und doch fühlt er sich ihr äußerst nah und durch sie gekräftigt. Edgar macht allerdings auch keine visionäre Erfahrung. Ich denke aber, man kann sagen, 48 Vgl. den Abschnitt »Liminalität und Transzendenz: Der Kontakt mit dem Heiligen« im Kapitel 2. 217
ROCK UND POP ALS RITUAL
dass sich bei ihm während der Reflexion über die Songtexte eine Intuition über die enge Verbindung zwischen ihm und Spears entwickelt hat.49 Ich werde abschließend versuchen, den Verlauf von Edgars Interesse für die Musik bzw. den Star weiter auszuarbeiten. Ausgehend von meiner Frage, ob er auch Poster von Spears habe, entfaltete Edgar eine längere Antwort, in der es dann nicht nur um Poster ging, und aus der Veränderungen von Edgars Fan-Orientierung über die Zeit sichtbar werden: 472 473 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500
Der Hype wächst mal und geht wieder zurück und meine absolute Hochzeit war würd ich sagen 2000, 2000, so Anfang 2001 //mhm// da hatte ich mein Zimmer, ich hab mir da mit meiner Freundin so n Battle geliefert, @(.)@ wer die meisten Poster in seinem Zimmer unterbringen kann, eigentlich total unsinnig, aber wir hatten echt sämtliche Zeitschriften, die wir gefunden haben, wo sie drin war Jam, Bravo, irgendwelche, weiß ich nicht, Hefte, wo wir nie was davon gehört haben, wo aber Poster drinne waren, haben wir alle @gekauft, eigentlich total idiotisch@ und haben dann die Poster ins Zimmer gehängt. Bei mir waren’s dann fünfzig, also das war immer so ein Kopf-an-Kopf-Rennen, mal war sie vorne, dann hab ich wieder zwei Poster gekauft und hatte sie dann überholt und irgendwann hatte sie vierundvierzig und ich war glaub ich, da war sie schon richtig davongezogen, ich so neunundreißig oder so und dann hatte ich einen Kalender und den hatte ich dann auseinandergenommen @(.)@ das Jahr war um und @dann@ jede Seite rausreißen und dann @hatte@ ich zwölf neue Poster und dann war das bei fünfzig und @die so toll, mein Zimmer ist jetzt voll, ich kann jetzt nichts mehr aufhängen, du hast gewonnen@ und ja (.) seitdem wird es eigentlich immer weniger und jetzt hab ich noch so die Überbleibsel, die tollsten Poster, das sind zehn Stück glaub ich, noch in meinem Zimmer (.) so ein Cover von der »Oops… I did it again!«-Single, vom Album, von der »Stronger«-Single, das »Britney«-Album, das mir sehr gut gefällt als Cover //mhm// und so kleine, eins ihrer allerersten Poster aus der Bravo, wo sie noch so richtig schööön, nieeedlich, unschuldig und ähm braunhaarig ist
49 Natürlich ist Spears kein Schutzgeist im eigentlichen Sinne für Edgar. Aber das Schutzgeistkonzept war mir eine wichtige Hilfe, um Edgars Aussagen interpretieren zu können, ohne ihm, wie es hinsichtlich Rock- und Popfans viel zu oft geschieht, einfach Irrationalität zu unterstellen. 218
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
Auch wenn Edgars anfängliche theoretische Aussage darauf schließen lässt, dass seine Fan-Biographie gleichsam einen wellenartigen Verlauf mit mehreren Hochphasen hat (472), geht aus seiner dann folgenden Erzählung eher ein Verlauf hervor, der einen »absoluten« (473) Höhepunkt aufweist. Der Begriff »Hype« (472) verweist dabei auf eine überschießende Begeisterung Edgars für Britney Spears, welche sich dann in seiner Erzählung auch auf der handlungspraktischen Ebene dokumentiert. Denn das »Battle« (475), welches er mit der Freundin austrug, erweist sich als eine exzessive gegenseitige Steigerung bei der Praxis des Posteraufhängens: die Bilder wurden wahllos genommen und es gab kein Ziel außer ›immer mehr Poster im Zimmer‹. Dementsprechend fand das »Battle« auch nur aufgrund der begrenzten Räumlichkeiten ein Ende. An dieser Stelle zeigt sich zudem, dass Edgars Fan-Sein schon zu diesem frühen Zeitpunkt einen sozialen Ort in der Peergroup hatte: In der gegenseitigen Steigerung fand Edgar eine horizontale Communitas mit einem anderen Fan. Hinsichtlich des Wunsches, mit den Eltern auf das Konzert zu gehen, hatte sich dagegen eine primäre Familienorientierung in dieser frühen Zeit gezeigt. Edgar erzählt diese Episode belustigt und mit Einwürfen, die eine gewisse Verständnislosigkeit seinem damaligen Handeln gegenüber zum Ausdruck bringen (»eigentlich total unsinnig«, 476f.; »eigentlich total idiotisch«, 481); sein damaliges Handeln entbehrt aus seiner heutigen Sicht einer rationalen Grundlage, was wiederum dokumentiert, dass er in dieser Anfangszeit seiner Fan-Biographie von Britney Spears verzaubert war. Wenn er inzwischen eine Distanz zu diesem Handeln einnimmt, so zeigt dies, dass seine Fan-Begeisterung zum Zeitpunkt des Interviews nicht mehr so überschießend ist wie damals und er einen Prozess der Entzauberung durchlaufen haben muss. Und auch der Fortgang der Erzählung dokumentiert eine Veränderung in Edgars Handlungspraxis nach diesem »Battle«. Zwar hatte Edgar weiterhin Poster in seinem Zimmer hängen, was zeigt, dass sich seine Orientierung diesbezüglich nicht grundlegend wandelte; doch Edgar wurde wählerischer, sortierte mit der Zeit immer mehr Poster aus, so dass er zum Zeitpunkt des Interviews nur noch solche Poster besitzt, die er als ästhetisch besonders hochwertig einschätzt. Bemerkenswert sind die Kriterien, die dieser Auswahl offenbar zugrunde liegen: Zum einen sind es Poster, die auf bestimmte Lieder oder Alben verweisen, also einen Bezug zu Spears’ musikalischem Werk herstellen. Zum anderen repräsentieren die Poster Stationen in Spears’ StarBiographie, angefangen vom »allerersten Poster« (499) bis zu den verschiedenen Albencovers, und verbinden diese gleichsam mit Edgars Fan-Biographie, denn jenes »allererste Poster« ist vermutlich eines von denen, die er sich ganz am Anfang seines Interesses für Britney Spears besorgt hatte (1819). Die Posterauswahl symbolisiert somit eine gemeinsame Geschichte von
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ROCK UND POP ALS RITUAL
Edgar und Britney Spears (die auch durch die Rekonstruktion der biographischen Bedeutung der einzelnen Alben sichtbar wurde). 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516 517 518
Um noch mal auf diesen Hype zurückzukommen, also 99 war ja schon mal mit diesem @gigantischen@ »Baby one more Time«-Song //ja// ein toller Einstieg, aber da war ich von der Person jetzt noch gar nicht so fasziniert, oder noch nicht so drinne, ich fand die halt schön in ihrem Videoclip und in ihrem nächsten und dann kam »Crazy«, noch mal so ne Hymne, die mich total gefesselt hat und seitdem gings eigentlich dann so, war das Interesse auch geweckt, beim ersten Mal denkt man so toll, das ist dann vielleicht wieder so n One-Hit-Wonder das eh bald wieder weg ist //ja// lass das mal auf dich zukommen und je länger sie dann im Geschäft war, um so mehr war dann meine Faszination //mhm// wie gesagt, dann kam »Oops!... I did it again«, auch ein Lied, das mich dann @noch mehr umgehauen@ hat als die anderen davor und dann fings so an diese Postersammlerei und der Erfolg war ja auch da
Zunächst einmal kommt hier sowohl auf der inhaltlichen als auch der performativen Ebene Edgars überschäumende Begeisterung für die Songs zum Ausdruck (»gigantisch«, 504; »total gefesselt«, 509; »umgehauen«, 516). Der Begriff »Hymne« (509) dokumentiert darüber hinaus den weihevollen, bezaubernden Charakter, den die Songs für Edgar haben. Zudem erweist es sich hier, dass die Musik die primäre Bezauberung auslöst – Spears’ Aussehen ist ihm zwar auch wichtig, aber gegenüber der Musik nachrangig, was wiederum seine werkbezogene Fan-Orientierung dokumentiert. Es ist interessant, dass Edgar am Anfang seines Interesses für Spears trotz seiner Bezauberung durch die Songs eine abwartende Distanz zu ihr einnahm. Erst als sie sich längerfristig »im Geschäft« (513) hielt und »Erfolg« (517) hatte, löste sich dieser Abstand auf. Hier kommt eine Variation seiner bereits rekonstruierten wirtschaftsaffirmativen Haltung zum Ausdruck: Edgar reichte die Begeisterung für die Musik allein nicht aus, es bedurfte auch der »Faszination« (514) über eine nachhaltige wirtschaftliche Leistung, um sich ganz auf das Fan-Sein einzulassen. Erst als Spears ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt hatte, war er auch von ihrer Person fasziniert. Und dies schlug sich dann auch in dem oben rekonstruierten »Hype« der »Postersammlerei« (517) nieder. Es zeigt sich hier wieder, dass Edgar zwar durchaus ein großes Interesse an der Person des Stars hat (was sich im Sammeln der Poster dokumentiert), seine primäre Orientierung aber auf das musikalische Werk des Stars ausgerichtet ist. 220
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
Eventuell war die Skepsis gegenüber einem »One-Hit-Wonder« darin begründet, dass Edgar, bevor er auf Britney Spears aufmerksam wurde, gerade einen anderen Star verloren hatte und nicht noch einmal einen schmerzhaften Verlust durchleben wollte. Ich füge an diesem Punkt eine Stelle aus einem anderen Teil des Interviews ein: 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421
Ich sag immer so meine Ikone vor Britney war Steffi Graf @(.)@ //ach so?// @das passt mal gar nicht zusammen, aber@ so war das irgendwie //ja// weil irgendwie diese Frau fasziniert auch weil sie so einen starken Willen hat und sich immer wieder neu motivieren konnte obwohl sie auch vieles erreicht hat //mhm// und einfach diese Disziplin, die sie an den Tag gelegt hat, war sehr bewundernswert //mhm// und vielleicht, weiß ich nicht, bin ich deshalb auch so auf Britney Spears gekommen, weil immer Steffi Graf so ein Idol war wo man menschlich aufblicken konnte und dann 99 Wumm war sie auf einmal weg und hat von heute auf morgen aufgehört, das war schon schrecklich, aber dann war da @Britney@ und das war dann ein willkommener Ersatz
Insofern Steffi Graf nichts mit Musik zu tun hat, war Edgars ›Sprung‹ von Steffi Graf zu Britney Spears, also vom Tennis zur Musik, sehr groß. Die Gemeinsamkeit der beiden Stars liegt für Edgar aber woanders, nämlich eben in dem Erfolg, den beide haben. Die Begriffe »starker Wille« (412), »neu motivieren« (413) und »Disziplin« (414) verweisen dabei auf das Vermögen zum Durchhalten und Hocharbeiten. Steffi Graf und dann auch Britney Spears verkörpern dieses Vermögen für Edgar. Die Formulierung »menschlich aufblicken« (418) dokumentiert dabei Edgars Suche nach Vorbildern und Autoritätspersonen. Und in den Begriffen »Ikone« (409) sowie »Idol« (417) deutet sich ein religiöser Charakter dieser Suche an. Autorität erkennt Edgar aber nur Personen zu, die einen nachhaltigen Erfolg haben. Angesichts dieser Orientierung ist es verständlich, dass Edgar sich nicht gänzlich auf ein »One-HitWonder« einlassen kann, denn einem solchen mangelt es ja gerade am Durchhaltevermögen. Um ein ›richtiger‹ Fan von Spears sein zu können, musste für Edgar also beides stimmen: die Musik und der nachhaltige Erfolg. Ich setze nun wieder in Edgars Erzählung über die Entwicklung seiner »Faszination« für Britney Spears ein: 520 521 522 523 524
dann kam das »Britney«-Album und ich möchte jetzt nicht sagen, dass ich ihr diese Experimente nicht verziehen habe, aber so was wie »I’m A Slave 4 You« oder »Boys« ähm ja, fand ich jetzt eher nicht so gelungen und muss sie meinetwegen auch nicht mehr 221
ROCK UND POP ALS RITUAL
525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541
machen //mhm// auch die Art der Neptunes, wie die produzieren, dieses sehr amerikanisch hiphopmäßige, kann ich jetzt nichts damit anfangen //mhm// fand ich jetzt nicht so toll, muss sie auch nicht mehr machen, da hat das dann auch, naja, das Fan-Dasein nicht unbedingt bisschen abgenommen, aber es war gestoppt //mhm// und gut, das Album hatte @zum Glück@ auch noch diese Popsongs und so R&B-Lieder, also sie hat viel dort experimentiert, das war dann okay //mhm// da war ich dann auch erleichtert, dass sie nicht ganz so diese »I’m A Slave 4 You«-Schiene machte, dann @wär ich wahrscheinlich gestorben@ und ähm als dieses Album rauskam hatten wir ja dann auch Internet und deshalb (.) also die musik- der musikalische Höhenflug war dann bisschen gebremst //mhm// der Erfolg war ja dann auch mit diesen Liedern nicht mehr so, weil sie eben diese ganzen kleinen Fans dann verloren hat //mhm// und viele andere Teenager, die so eher auf HipHop-Schiene sind, dazugewonnen hatte
Mit dem Album »Britney« erfuhr Edgars Fan-Biographie einen Dämpfer, den er in Begriffen der fehlenden Dynamik ausdrückt (»gestoppt«, 530; »gebremst«, 538). Von einem »Abnehmen« (530) des Fan-Seins, wie es bei Tina und Timo rekonstruiert werden konnte, will Edgar dagegen nichts wissen (Tina ging nicht mehr auf Tour, nachdem sie das Autogramm hatte; Timo war von Naidoos »Masse statt Klasse«-Produktionen enttäuscht). Bei Edgar ist nur eine Stagnation des »musikalischen Höhenfluges« (537) zu erkennen. Welche Gründe lassen sich für diese Unterbrechung rekonstruieren? Zunächst einmal zeigt sich wieder Edgars Orientierung am musikalischen Werk: Spears’ »Experimente« (522) im HipHop-Stil gefielen ihm nicht. Ihm war es insofern wichtig, dass Spears stilistisch nicht zu sehr von den anderen Alben abweicht. Wie wichtig ihm das Ästhetische ist, kommt fokussiert in der Aussage »dann wär ich wahrscheinlich gestorben« (534f.) zum Ausdruck. Es ist auch tatsächlich nur das Musikalische, was Edgar missfällt, nicht die Songtexte. Auf die geht er an dieser Stelle nämlich gar nicht ein. Weiter oben (170182) hatte er dagegen noch davon gesprochen, dass die Texte auf »Britney« ihn »sehr berührt« hatten. Das Erscheinen dieses Albums kann als der Zeitpunkt angesehen werden, an dem die Entzauberung Edgars begann, denn er distanzierte sich damals (teilweise) von Spears. Edgar geht nicht nur auf die Musik ein, sondern auch wieder auf die Erfolgsthematik (538ff.). Zwar begründet er die »Bremsung« des »musikalischen Höhenfluges« nicht direkt mit dem Rückgang von Spears’ Erfolg; doch dass er beides in einem Atemzug nennt, lässt den Schluss auf eine Verbindung beider Aspekte für ihn zu. Eine explizite Verbindung ist allerdings in dem »auch« (538) gegeben, das sich wohl auf den »Höhenflug« bezieht: so222
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wohl Spears’ Musik als auch ihre Karriere hatten einen Höhepunkt überschritten. Diese Verbindung steht auch im Einklang mit der bisher rekonstruierten Bedeutung von Spears’ Erfolg für ihn. Riskant interpretiert kann man eine Verbindung zwischen Edgars musikalischem Geschmack und seiner Orientierung am Erfolg vermuten: Vielleicht gefiel ihm HipHop auch deshalb nicht, weil Spears damit weniger erfolgreich war. 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558
dann kam das andere Album und das hat mich dann wieder überzeugt, eben von den Texten und vor allem von der Songstärke, von der Melodie, das war jetzt nicht mehr dieses HipHop-Experiment und das ist eigentlich noch bis heute mein liebstes Album eben weil fast jeder Song ganz anders ist, so die ersten Alben hatten immer so ne klare Linie, das dritte Album da wurde das dann so’n bisschen aufgebrochen eben mit diesen HipHop-Sachen //mhm// und das vierte Album das hat irgendwie schon eine klare Linie weil das so so ein (.) manche nennen das TripHop oder Dance-Album eben ist, aber jedes Lied für sich hat eigentlich so viel Hitpotential, dass es als Singleauskoppelung getaugt hätte und ist trotzdem verschieden, also kein Lied hört sich an wie das andere
Die Unterbrechung des »Höhenfluges« war mit dem letzten bisher erschienenen Album vorbei. Wieder kommen Edgars Orientierungen am Musikalischen und an der Erfolgsthematik sowie deren enge Verbindung hervor. Auch wenn Edgar keinen HipHop mag, legt er doch Wert auf Abwechslung in der Musik: »kein Lied hört sich an wie das andere« (558). Dabei ist ihm aber auch wichtig, dass die Songs in ihrer Verschiedenheit die Gemeinsamkeit aufweisen, »Hitpotential« (556) zu haben, also nicht nur gut zu klingen, sondern auch Kassenschlager werden zu können. Der Verlauf von Edgars Faszination lässt sich insgesamt also folgendermaßen rekonstruieren: Anfangs war er von der Musik unmittelbar bezaubert. Er kam auf einen »musikalischen Höhenflug«, der durch zunehmende Reflexion über die Songtexte auch zu einem »seelischen« Höhenflug – zu einer Verzauberung – wurde. Allerdings hatte er zunächst noch abgewartet, ob Spears’ anfänglicher Erfolg auch nachhaltig sein würde. Beim dritten Album, das Edgar musikalisch weniger gut gefiel und das seiner Ansicht nach auch weniger erfolgreich war, gab es dann eine Unterbrechung des »Höhenfluges«, der dann beim vierten Album, welches für Edgar sowohl musikalisch attraktiv als auch kommerziell vielversprechend war, gleichsam fortgesetzt wurde. In Bezug auf diesen Verlauf fallen sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zu Timo ins Auge. Der Verlauf von Timos Interesse für Xavier Naidoo wurde auch entscheidend durch seine Orientierung an den musikalischen 223
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Werken geprägt – als Xavier Naidoos Musik sich veränderte, war Timo enttäuscht. In dieser Orientierung liegt also eine Gemeinsamkeit zwischen Edgar und Timo. Allerdings stehen beide in einem starken Kontrast bezüglich der Orientierung am Erfolg (Edgar) bzw. an der ideellen Communitas (Timo): Timo hatte, im Gegensatz zu Edgar, eine tiefe Skepsis gegenüber der Musikindustrie und kritisierte an Xavier Naidoo nicht nur das »Nachlassen« im ästhetischen Bereich, sondern auch dessen von Timo so wahrgenommene Hinwendung zum Kommerz. Bei Edgar ist es umgekehrt: Er legt gerade auf den kommerziellen Erfolg von Britney Spears Wert und »stoppte« zwischenzeitlich sein Fan-Sein, als der Erfolg ausblieb.
Edgars Fan-Biographie im Überblick Im Überblick ergibt sich folgender Verlauf von Edgars Fan-Biographie: Als Edgar ca. 15 Jahre alt war, wurde er von dem ersten Album Britney Spears’ bezaubert. Mit ca. 16 Jahren, als das zweite Album herauskam, begann dann der »Hype«: das exzessive Postersammeln, welches schätzungsweise ein Jahr dauerte (bis das Kalenderjahr vorbei war). Mit zunehmender Reflexion sah Edgar sich von dem Song »Oops!... I did it again« direkt angesprochen und erfuhr so eine Verzauberung durch die Musik. In diesem Jahr wollte Edgar auch auf das Konzert von Britney Spears, durfte es aber nicht. Es folgte wiederum ein Jahr später, Edgar war ca. 17, das Album »Britney«, welches ihn einerseits musikalisch so enttäuschte, dass sein Fan-Sein »gestoppt« war und er teilweise entzaubert wurde. Aber eben nur teilweise, denn andererseits ermöglichten die Texte dieses Albums eine mimetische Identifikation Edgars mit Spears, denn sie spiegelten seine Krisenzeit der beginnenden Ablösung von den Eltern wieder. In die Zeit, in der Edgar zwischen 17 und 19 Jahren alt war, fielen sein Abitur und der Einstieg in die Mitarbeit bei der InternetFanseite, bei der er gleichsam als Elder-Fan Verantwortung für die Fan-Gemeinschaft übernehmen und vor allem Dienst am Idol leisten konnte. Im Jahr 2003, als Edgar ca. 19 Jahre alt war, wurde das bis zum Zeitpunkt des Interviews letzte Album von Spears veröffentlicht, welches Edgar musikalisch wieder gut gefiel und ihm »Balsam für die Seele« in einer Beziehungskrise war. Wiederum ein bis zwei Jahre später lernte Edgar über das Internet seinen jetzigen Freund kennen. Die letzte Station der Fan-Biographie (»neulich«) ist schließlich die Unterrichtsvorbereitung über den Vergleich von Britney Spears und Marie-Antoinette. Wodurch werden nun die entscheidenden Wendepunkte in dieser FanBiographie hervorgerufen? Ich meine, dass es, wie bei Timo, die reflexivästhetische Auseinandersetzung mit den musikalischen Werken ist. Denn Edgar wurde vor allem von der Musik bzw. den Texten bezaubert, verzaubert und, zumindest teilweise, wieder entzaubert. Zwar zeigte sich seine Verzau224
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berung auch in der Praxis des Posteraufhängens; doch diese kann nicht eigentlich als Auslöser der Verzauberung, sondern muss als deren Folge oder auch Ausdruck angesehen werden. Auch in Edgars Fan-Biographie zeigt sich wie bei den anderen Fällen eine liminoide Phase. Deren Beginn fällt mit Edgars Verzauberung zusammen, weil Edgar damals in die Beziehung der vertikalen Communitas mit Britney Spears eintrat. Das Ende der liminoiden Phase ist meines Erachtens mit dem Einstieg in die Mitarbeit bei der Fanseite gegeben, denn ab diesem Zeitpunkt kann er als Elder-Fan gelten.
t
Alter:
Bezauberung
Verliminoide zauberung Phase
ca. 15
ca. 16
│
│
teilweise ElderEntzauberung Fan │
ca. 17
│
zw. 17-19: Anfang der Mitarbeit im Fanclub
Wie auch bei Tina, Sarah und Timo hat auch für Edgar das Fan-Sein eine wichtige Funktion bei der Bearbeitung der Adoleszenzkrise. Bei Edgar besteht diese Krise in der Ablösung von den Eltern, im aufkeimenden Begehren und in der Beziehungsproblematik.
D i e R e k o n s t r u k t i o n u n t e r s c h i e d l i c h e r F a n - T yp e n Nach dieser Analyse einzelner Interviews und Gruppendiskussionen werde ich, aufbauend auf der bereits vorgenommenen komparativen Analyse, Typen von Fan-Orientierungen herausarbeiten. Bei der Typenbildung geht es darum, »die in einem Fall rekonstruierten Orientierungsrahmen zu abstrahieren und mit den Orientierungsrahmen anderer Fälle typisierend zu kontrastieren« (Nohl 2006: 88). Wenn im Material bestimmte Themen identifiziert werden, die bei allen Fällen eine Rolle spielen – wenn man also eine grundlegende Gemeinsamkeit rekonstruiert –, so besteht die Typenbildung darin, in dieser Gemeinsamkeit auch Unterschiede aufzuweisen: »Der Kontrast in der Gemeinsamkeit ist fundamentales Prinzip der Generierung einzelner Typiken« (Bohnsack 2003: 143). Die Kontraste sind allerdings nie absolut. In den Einzelfällen lassen sich meist auch Orientierungen rekonstruieren, die dem Gegentypus entsprechen. Unten werde ich z. B. die typischen Fan-Orientierungen ›auf den Star gerichtet‹ und ›auf das musikalische Werk gerichtet‹ unterscheiden. Nun sind z. B. für Edgar sowohl die Musik als auch der Star wichtig. Allerdings entsteht bei Edgar die zauberhafte Verbindung zu Britney Spears erst durch seine Auseinandersetzung mit den Songs. Er orientiert sich primär an der Musik. Es ist also in jedem Einzelfall zwischen dem primären und dem sekundären Orientierungsrahmen zu unterscheiden. In die Typenbildung gehen dann die primä225
ROCK UND POP ALS RITUAL
ren Orientierungen ein. Diese primären Orientierungen beziehen sich bei der folgenden Typenbildung darauf, von welchen Aspekten der Rock- und Popmusik meine Interviewpartner verzaubert wurden. Zunächst werde ich zwei grundlegende Typiken erarbeiten, die aus allen hier rekonstruierten Fällen – also sowohl den Gruppendiskussionen zur Konzerterfahrung als auch den Einzelinterviews – abstrahiert werden. Die aus dem Material hervorgegangenen Vergleichsdimensionen sind dabei zum einen die jeweilige Schwerpunktsetzung der Fans bei ihrer Auseinandersetzung mit dem ›Produkt‹ Rock- und Popmusik, zum anderen die Orientierung der Fans an bestimmten Formen der Vergemeinschaftung. Bei beiden Typiken arbeite ich dabei je zwei Fantypen heraus. Wie ich zeigen werde, überlagern sich diese beiden Typiken, so dass letztendlich eine zweidimensionale Typik grundlegender Fan-Orientierungen rekonstruiert werden kann. Eine solche Überlagerung von Typiken ist notwendig, um valide Typen zu generieren. »[D]ie Generierung einer Typik [gelingt] in valider Weise nur dann […], wenn sie zugleich mit den anderen, auch möglichen – d. h. an der Totalität des Falles mit seinen unterschiedlichen Dimensionen oder Erfahrungsräumen gleichermaßen ablesbaren – Typiken herausgearbeitet wird, so dass sich am jeweiligen Fall unterschiedliche Typiken überlagern. […] Die Typenbildung ist also umso valider, je klarer am jeweiligen Fall auch andere Typiken aufgewiesen werden können« (Bohnsack 2003: 143).
Die Überlagerung verschiedener Typiken führt zudem dazu, dass jeder einzelne Typus sowohl an Kontur als auch Facettenreichtum gewinnt. Um die hier zu erarbeitende zweidimensionale Typik mit empirischer Substanz zu ›sättigen‹ und so deren Validität weiter zu erhöhen, werde ich im Folgenden Auszüge aus einem Einzelinterview und einer Gruppendiskussion, die beide bisher nicht dargestellt wurden, mit einbeziehen, so dass letztlich acht Fälle in die Bildung dieser grundlegenden Fantypen eingehen. Anschließend werde ich aus der Analyse der vier Einzelinterviews eine Entwicklungstypik ableiten. Dabei gehe ich wiederum erst auf die übergreifenden Gemeinsamkeiten der Fälle ein, um dann zwei Typen hinsichtlich entscheidender fan-biographischer Wendepunkte zu abstrahieren.
Typik 1: Star versus Musik Die erste grundlegende Typik von Fan-Orientierungen bezieht sich auf die Herangehensweise der Fans an das ›Produkt‹ Rock- und Popmusik. Die Interviews und Gruppendiskussionen zeigen, dass sich die Fans auf vielfältige Weise mit der populären Musik auseinandersetzen: Sie hören Musik, gehen auf Konzerte, beschäftigen sich mit den Musikern, singen selbst, treffen sich 226
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mit anderen Fans, schreiben Gedichte etc. Aber welche Aspekte der Rockund Popmusik sind den Fans dabei wichtig? In meinem Material lassen sich diesbezüglich zwei Fan-Typen voneinander unterscheiden. So gibt es auf der einen Seite die Fans, für die die Stars im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Auf der anderen Seite sind die Fans, die sich primär für die musikalischen Werke interessieren.
Der am Star orientierte Fantypus Es gibt Fans, die sich bei ihrer Auseinandersetzung mit der Rock- und Popmusik primär am Star orientieren, während die Musik für sie in den Hintergrund rückt. Dies kann sich wie bei Tina, Eva und Jan in der Faszination, welche die körperliche Präsenz des Stars auf der Bühne auf die Fans ausübt, zeigen. Bei Tina wurde dabei deutlich, dass die Präsenz des Stars ein Begehren des Fans auslösen kann. Die Faszination des Stars kann aber auch von den Idealen ausgehen, die er aus Sicht der Fans verkörpert. Dies ist bei Sarah der Fall. Auf der handlungspraktischen Ebene kann die Orientierung dieses Fantypus’ in einem Streben der Fans nach körperlicher Nähe zum Star (Tina), einem Interesse an persönlichen Informationen über ihn (Tina) sowie eine mimetische Identifikation mit ihm (Sarah) zum Ausdruck kommen. Diese Bestimmung des Fantypus »Orientierung am Star« lässt sich auch aus dem narrativen Interview mit Eliah, das ich hier und im Folgenden ausschnittweise hinzuziehe, rekonstruieren. Eliah ist Fan von Xavier Naidoo. Er ist zum Zeitpunkt des Interviews am 29.08.2005 28 Jahre alt, hat das Abitur und studiert. Als Berufe der Eltern hat er »Verwaltungsangestellte« eingetragen. Er ist deutsch und konfessionslos. Auf meine Eingangsfrage, wie sein Interesse für Xavier Naidoo angefangen und sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, antwortete er: 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
So die ersten Male gesehen oder mitbekommen habe ich durch die Charts, obwohl ich sehr sehr wenig MTV und VIVA verfolge, ähm hatte eigentlich eher ne Abneigung diesem Menschen gegenüber, weil ich dachte so ach ne neue Masche, dass man hier ähm Religion verkauft oder Glauben, und so, dass man da halt auf Kommerz macht, und irgendwie war er mir zu schleimig und dann hab ich durch Zufall irgendwann abends so ne Zimmerfrei-Sendung gesehen und da kam er halt doch authentisch rüber, menschlich und man hat auch viele Gemeinsamkeiten festgestellt, ob das jetzt so was (.) Unwichtiges war wie oäh, dass er keinen Käse mag, er sollte da irgendwas was kochen, was vorbereiten, weil er halt mal so Koch gelehrt hat äh ähm, lernen wollte, hat er abgebrochen die Ausbildung und er sagte oah das Zeug fass ich noch nicht mal an, das erinnert mich so 227
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an an (.) ja das ist halt bei mir genauso, in meiner Kindheit, ich kam in so’n so’n Einkaufswagen, an der Käsetheke, ich hab da immer geschrieen ne, und (.) fand ich ganz witzig. Und dann hat er auch so von seiner Erziehung erzählt, das war bei mir ähnlich autoritär, also von meinem Vater und, sein Vater ähnliche Wurzeln wie meiner, und d da dacht ich och macht n netten Eindruck, wirkt authentisch, ehrlich, kannst Dir ja mal die Platte @holen@
Im Vordergrund dieser Erzählung steht nicht die Musik von Xavier Naidoo, sondern der Musiker selbst. Die Auseinandersetzung mit der Person des Stars zeigt sich dabei zum einen auf einer emotionalen Ebene, bei der es um die Frage der Sympathie gegenüber dem Star geht, welche sich erst im Laufe der Zeit entwickelte (»Abneigung«, 6). Zudem ist für Eliah die Thematik der Authentizität bzw. des authentischen Ausdrucks von Glauben durch den Star wichtig. Hier geht es also um die Ideale, für die der Star steht (7-11). Weiterhin zeigt sich Eliahs Interesse an Informationen über persönliche Vorlieben und biographische Entwicklungen des Stars (12-23). Dass er dabei »Gemeinsamkeiten« (13) zwischen sich und dem Star herstellt, verweist schließlich auf sein mimetisches Verhältnis zu Naidoo. Zusammenfassend ist festzustellen, dass dieser Fantypus sich primär auf den Star richtet, wobei hinsichtlich des Interesses am Star aber unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden können.
Der am musikalischen Werk orientierte Fantypus Von dem Fantypus, der sich primär an den Stars orientiert, lässt sich ein anderer Fantypus unterscheiden, bei dem das musikalische Werk (womit Musik und Songtexte gemeint sind) im Mittelpunkt steht. Bei Fans dieses Typus’ dienen die Songtexte als Anregung zur Reflexion über sich selbst (Edgar) oder über gesellschaftliche Ideale und die eigene soziale Haltung (Timo), wobei die Fans in den Texten die eigenen Gefühle (Edgar, Isa und Max) und Probleme (Timo, Edgar) wiederfinden können. Die Reflexion über die Songtexte kann zu einer Empfindung intensiver emotionaler Nähe zu den Musikern führen (Edgar, Isa und Max). Zudem dient die Musik den Fans dazu, ihre biographische Entwicklung zu strukturieren: Bestimmte Lebensphasen werden mit den entsprechenden, in dieser Zeit veröffentlichten Alben in Verbindung gebracht (Timo, Edgar). Weiterhin wird dieser Fantypus durch die Songs zur musikalisch-ästhetischen Reflexion angeregt (Timo, Edgar), welche wiederum dazu führen kann, dass das Fan-Sein bei Nichtgefallen der Musik »gestoppt« wird, wie Edgar es ausdrückte. Dabei kann sowohl die Kommerzialisierung der Musik auf ästhetischem Gebiet als problematisch empfunden
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werden (Timo), als auch das Gegenteil, also eine fehlende Ausrichtung am kommerziellen Erfolg (Edgar). Alle Interviews und Gruppendiskussionen, die ich bisher rekonstruiert habe, waren schon von meiner Fragestellung her auf einen bestimmten Musiker hin ausgerichtet. Im Folgenden stelle ich einen Ausschnitt aus einer Gruppendiskussion dar, in der es nicht um das Konzert eines Stars, sondern um den Besuch eines Rockfestivals geht. Rockfestivals sind, anders als Rockkonzerte, von ihrer rituellen Gestaltung her nicht auf einen bestimmten Star fokussiert; vielmehr treten dort verschiedene, teilweise auch weniger bekannte Bands auf. In der folgenden Rekonstruktion zeigt sich, dass die Festivalbesucher, die an der Gruppendiskussion teilnahmen, eine dementsprechende Orientierung haben, die nicht auf die Person eines Stars, sondern auf das musikalische Werk gerichtet ist. Die Diskutanten sind Studenten, die zur Zeit der Gruppendiskussion fast alle gemeinsam in einer Wohngemeinschaft wohnten. Es nahmen teil: Maren (26), Hanna (21), Klaus (28), Stefan (24) und Federicia (22 Jahre). Sie waren gemeinsam auf dem Festival »Fusion«, um sich als Mitbewohner gegenseitig besser kennenzulernen, wie sie während der Gruppendiskussion sagten. Auf meine Einstiegsfrage, ob sie erzählen können, wie das Festival abgelaufen ist und wie sie es erlebt haben, sind die Diskutanten zunächst darauf eingegangen, dass einige von ihnen schon auf einem anderen Festival waren, welches ihnen aber nicht gefallen habe. Wie Hanna es sagt: »das ist halt sehr sehr Kommerz so, also ganz schlimm, du machst da so irgendwie Checks, wenn du auf das Festivalgelände willst, wirst kontrolliert, überall Werbestände (…)«. Das Festival »Fusion« dagegen sei aus einem »autonomeren oder sehr linken Kontext sozusagen entstanden« und sei sehr viel freier gestaltet gewesen. Am Anfang der Diskussion geht es also weder um Stars noch um Musik, sondern um rituelle Rahmenbedingungen von Festivals, wobei sich hier eine Orientierung an nichtkommerzialisierten, »autonomen« Bedingungen zeigt. Im Laufe der Diskussion kommen sie aber auch auf die Musik und die Bands des Festivals zu sprechen. Aus diesem Zusammenhang stammt die folgende Passage: GD über Festival-Erfahrungen mit Maren, Hanna, Klaus, Stefan und Federicia, 06.02.2008 Maren:
Klaus: Maren:
die Fusion war das erste Festival für mich, wo ich wusste (.) du konntest ja (.) die haben einen ganz großen Internetauftritt, ne; und da konntest du so ein bisschen gucken schon irgendwie welche Bands spielen da? Und da hab ich mir @echt die Mühe gemacht@, ähm zu wie hieß das, myspace? └mhm zu gehen und dann da einfach mal reinzuhören, was gibt’s für Bands, was spielen die, da hab ich jetzt zum Beispiel diese »Orange« nicht gehabt aber
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Klaus: Maren:
Me: Hanna: Stefan: Maren: Me: Stefan: Maren: Stefan: Maren: Me: Stefan: Hanna: Klaus: Maren: Stefan: Maren: […] Hanna: Stefan: Klaus: Stefan: Klaus:
Stefan: Klaus: Stefan:
Du hast dir so einen Stundenplan gemacht, ne └@(unverständlich) dass ich mir so’n Stundenplan gemacht hab und dann irgendwie noch dazu geschrieben hab, was die für ne Mucke machen@ @(2)@ └ja bei deinem @Organisationstalent@ (unverständlich) Vorbereitung Ich muss sagen, davon haben wir alle profitiert, Maren was kommt denn jetzt, ah jetzt kommt doch gerade (hoch gesprochen) ja, genau, ich hab mir aufgeschrieben, die machen so ein bisschen @(unverständlich)@ └@(1)@ Ich war echt (unverständlich) └oder weeßt du noch wie ich geschrieben hab bei der eenen Band, die haben gesungen dieses »Beeeerlin stinkt, Berlin └Berlin ist dreckig, Berliiiin ((gesungen)) stinkt« ((rhythmisch gesprochen)) irgendwie und dann hab ich dahinter geschrieben fragwürdig Fragezeichen @(2)@ └@(2)@ └die waren wirklich gut (unverständlich) Beeerlin stinkt, Berlin ist dreckig ((rhythmisch gesprochen)) └die waren richtig cool └das war das erste, was ich gehört hab, als ich angekommen bin »Punk, keine Angst vor Punk« haben die glaub ich auch gesungen Das war ein anderer Song, »Angst vor Punk« hieß der Song Ah ja, »Angst vor Punk«, genau »Du hast Angst vor Punk« Ich fand »Leningrad« glaub ich am coolsten Bei mir war’s eindeutig »Alec Empire«, und das war echt umwerfend Ich fand »Urlaub in Polen« cool, so da Sachen zu entdecken, └die war’n auch gut die man vorher noch gar nicht so gehört hat und die man auch noch gar nicht so in Verbindung gebracht hat, also »Urlaub in Polen« das war so Elektromusik und da dazu äh drauf wurden dann E-Gitarren gelegt, ne; so ja und wieder umgekehrt, die E-Gitarre hatte noch einen └ja riesigen Effektturm, wo man alle möglichen elektronischen Effekte noch drüber gelegt hat
Die Diskutanten sind nicht auf das Festival gegangen, um dort eine bestimmte Band oder einen Star zu sehen. Es machte schon »Mühe«, sich zu informieren, welche Gruppen dort überhaupt auftreten. Schon dies zeigt, dass die Aufmerksamkeit der Festivalbesucher nicht auf die Person eines oder mehrerer 230
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Stars gerichtet ist. Die »Mühe« machte Maren sich auch nicht, um sich über die Bands selbst zu informieren; vielmehr ging es ihr darum »was die für ne Mucke machen«. In den »Stundenplan«, den sie erstellte, gingen dementsprechend ihre Beurteilungen der Musik der Bands ein. Im weiteren Verlauf des Ausschnitts zeigt sich dann, dass die Musik sowohl hinsichtlich der Texte als auch der musikalischen Ästhetik reflektiert wird. Bezogen auf die Texte der Songs lässt sich hier die Orientierung an einer bestimmten sozialen Haltung, die sich kurz als »Punk« bezeichnen ließe, rekonstruieren. Dies geht schon direkt aus dem Titel des einen der angesprochenen Lieder hervor. Aber auch das andere Lied (»Berlin stinkt, Berlin ist dreckig«) drückt nicht nur eine kritische Haltung, sondern auch den für Punk kennzeichnenden Bezug auf Ekelerregendes aus. Diese Haltung steht auch im Einklang mit der oben dargestellten Orientierung an einer »autonomen« Gestaltung von Festivals. Bezogen auf die musikalische Ästhetik dokumentiert sich in der vorliegenden Passage zudem ein Interesse an Kreativität. Es geht darum, »Sachen zu entdecken, die man vorher noch gar nicht so gehört hat«. Das Festival dient hier nicht dazu, die bereits bekannte, evtl. auch schon eingeübte Musik eines Stars zu hören und mitzusingen (Isa und Max), sondern sich neue rockmusikalische Klangräume zu erschließen. Die verschiedenen Fälle zeigen also, dass dieser Fantypus auf das musikalische Werk der Rock- und Popmusiker ausgerichtet ist, dass dabei aber unterschiedliche Relevanzsetzungen zu rekonstruieren sind.
Typik 2: Unmittelbare versus ideelle Communitas Aus dem empirischen Material geht hervor, dass das kulturelle Feld der Rockund Popmusik für die Fans eine soziale Funktion hat: die Herstellung von Communitas. Bei allen Interviewees waren sowohl die horizontale Communitas mit anderen Fans sowie die vertikale Communitas mit den Idolen (bzw. bei Timo mit Gott) von Bedeutung. Dabei sind die horizontale und die vertikale Communitas in allen Fällen eng aufeinander bezogen. Auch wenn sich also alle untersuchten Fans an Communitas orientieren, wurden in dieser übergreifenden Gemeinsamkeit doch auch Unterschiede rekonstruiert. So lässt sich eine Orientierung an unmittelbarer von einer Orientierung an ideeller Communitas unterscheiden.
Der an unmittelbarer Communitas orientierte Fantypus Primär an unmittelbarer Communitas orientiert sind Eva und Jan, Isa und Max (Gruppendiskussionen) sowie Tina und Edgar (Einzelinterviews). Diesen Fans geht es um eine direkte Beziehung zum Star und zu anderen Fans, nicht um eine mit den anderen geteilte soziale Haltung. 231
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Ich gehe zunächst auf die vertikale Communitas ein. Diese kann sich darin zeigen, dass die Fans eine seelische Nähe zu dem Star empfinden, einen emotionalen Gleichklang zwischen sich und dem Musiker (Edgar, Isa und Max). Dabei ist eine gewisse Unterordnung der Fans unter den Star rekonstruiert worden, die sich darin äußert, dass der Star in einer Weise Gefühle zum Ausdruck zu bringen vermag, die den Fans selbst nicht gelingt (Isa und Max) und dass der Star dem Fan moralische sowie biographische Entwicklungslinien vorzeichnet (Edgar). Die Orientierung an unmittelbarer Communitas der Fans mit den Stars kann sich auch in der Faszination an der körperlichen Präsenz des Stars zeigen (Tina, Eva und Jan). Die Präsenz der Stars löst bei den Fans überwältigende Gefühle aus und vermag es, die Fans in ihren Bann zu schlagen, teilweise sogar für mehrere Jahre (Tina). Es entsteht dabei ein Streben danach, diese Präsenz immer wieder zu erfahren, wobei auch hier eine Unterordnung des Fans unter den Star zu erkennen ist, allerdings auf der Ebene der körperlichen Nähe (Tinas spontaner »Umfaller« und ihre anschließende Selbstdisziplinierung). In horizontaler Hinsicht zeigt sich die Orientierung an unmittelbarer Communitas darin, dass dieser Fantypus großen Wert auf rituelle Handlungen legt, in denen eine gegenseitige Steigerung, eine kollektive Efferveszenz, entsteht. Eine solche Situation kann das gemeinsame Hervorbringen der Musik (»Singen« und »Springen«) sein, welches ein unmittelbares Verschmelzen der Menschen zu einem Kollektivkörper ermöglicht (Isa und Max, Eva und Jan). Auch beim Battle des Posteraufhängens unter Fans (Edgar) und dem Feiern rauschender Feste mit anderen Fans (Tina) können eine kollektive Efferveszenz und damit eine unmittelbare Communitas entstehen. Freundschaften unter Fans sind bei diesem Typus nicht auf eine gemeinsam geteilte soziale Haltung ausgerichtet, sondern definieren sich vor allem durch den gemeinsamen Bezug auf einen Star (Tina, Edgar).
Der an ideeller Communitas orientierte Fantypus Der Fantypus »ideelle Communitas« ist nicht primär an einer direkten, unmittelbaren Beziehung zu anderen Personen orientiert, sondern an einer mit anderen Personen geteilten sozialen oder religiösen Haltung (Sarah, Timo). In vertikaler Hinsicht kann sich diese Orientierung dabei durch eine enge Beziehung des Fans zum Star (Sarah) oder eine durch den Star vermittelte Beziehung des Fans zu Gott (Timo) ausdrücken. Sowohl der Star als auch Gott stehen dabei aus Sicht der Fans für eine anti-strukturelle soziale Haltung bzw. für anti-strukturelle Werte (Sarah, Timo). Auch hier kann eine Unterordnung des Fans unter den Star bemerkt werden, die sich in einer mimetischen Identifikation des Fans mit dem Star ausdrückt (Sarah). Durch die Aneignung der anti-strukturellen Werte, die der Star oder Gott für die Fans rep232
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räsentieren, können die Fans ihre Ablehnung der Werte und Anforderungen der bürgerlichen Welt (Timo) und sogar ihren Widerstand und Protest dagegen zum Ausdruck bringen (Sarah). Die Orientierung an ideeller Communitas bedeutet also nicht nur eine Verbindung mit anderen, sondern auch eine Abgrenzung von anderen Menschen und Vorstellungen. Auf der horizontalen Ebene orientiert sich dieser Fantypus an einer gemeinsam geteilten sozialen Haltung mit anderen Fans. So kann die Herstellung einer habituellen Übereinstimmung in der Fan-Gemeinschaft dazu dienen, einer gesellschaftskritischen Haltung Ausdruck geben und sich von anderen sozialen Gruppen abgrenzen zu können (Sarah). Dieser Fantypus sucht sich aus der großen Gruppe von Fans einer Band oder eines musikalischen Stils diejenigen Fans heraus, die der eigenen sozialen Haltung entsprechen (Timo, Sarah). Auch hier zeigt sich also, dass die Orientierung an ideeller Communitas sowohl zu einer Verbindung mit anderen Menschen als auch einer Abgrenzung von jenen, die die jeweilige soziale Haltung nicht teilen, führt. Eine Orientierung an ideeller Communitas lässt sich auch in dem narrativen Interview mit Eliah sowie der Gruppendiskussion zum Fusion-Festival rekonstruieren. Ich beginne mit zwei Ausschnitten aus dem Interview mit Eliah: 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137
einmal war das so, dass ne Freundin einen eingeladen hat und gesagt hat ja er [Xavier Naidoo] ist hier in einem ganz kleinen Club, //mhm// da war das total vertraut, keine keine Absperrungen, man hätte ihm quasi so das Mikro wegnehmen können, so weit vorne standen wir dann auch, das war halt ähm familiärer als so wie es jetzt ist und äh dieser Backstagebereich, Umkleide oder wie auch immer, das das war da (.) das war da gar nicht richtig äh vorhanden, sondern er war da mehr oder weniger im hinteren Toilettenbereich quasi und dann diese Bühne und so konnte man auch so mit ihm reden also ich hab jetzt nicht mit ihm gesprochen, sondern eher mitbekommen wie da so ne (1) äh @(.)@ wie da so ne so ne Esoterik-angehauchte Frau mit ihm ins Gespräch kommen will und und er da n bisschen aggressiv aber auch logisch äh äh gekontert hat und und gesagt hat wofür brauchst du des, also er hat auf ihre Kette gezeigt //mhm// wofür brauchst du diese Symbole und und sei dir erstmal der Bedeutung bewusst und wofür überhaupt Symbole da sind und und es gibt auch so viele Bibelstellen also das sag ich jetzt auch, da wird halt gewarnt vor vor Symbolen und dass es dem Herrn ein Gräuel ist sowohl der der das Holz anfertigt als auch der der es anbetet, so das muss man jetzt nicht nur auf Holz beziehen, vielleicht auf Steine, auf alles 233
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ähm (.) ja es gibt auch ne Passage über über Steine, vielleicht ist da auch die Klagemauer mit gemeint @(.)@ ja, da war dis, da ähm hab ich auch mitbekommen, wie er wie er halt ähm so ner Mutter gesagt hat so äh, dein Sohn, hängt er sich n Autogramm von seinem Vater auf? und eigentlich sollte der Vater sollte sein Vater sein Vorbild sein und nicht Xavier Naidoo (.) und dann halt auch so Äußerungen wie ähm dass er auch gegen das Kreuz ist ähm zum einen (.) wäre Jesus hier gestorben äh jetzt gestorben in den Staaten, würden wir uns einen elektrischen Stuhl umhängen? wahrscheinlich nicht und äh halt sehr provozierend aber irgendwie für mich logisch und und (.) fand ich gut, hat mich geprägt, ist nach wie vor meine Meinung
Hier zeigt sich, wie bei Eliah die Orientierung an der Person des Stars mit der Orientierung an ideeller Communitas verbunden ist. Bei dieser Erzählung von einem Konzert berichtet Eliah nicht von der Musik, sondern vor allem von den expliziten religiösen Ansichten Xavier Naidoos. Naidoo erscheint dabei als ein Vorbild, das Eliahs Gedankenwelt »geprägt« (148) hat. Im Zentrum der Überlegungen steht dabei das ›richtige‹ Verhältnis der Menschen gegenüber Gott und die Frage, wie dieses Verhältnis zum Ausdruck gebracht werden kann. Eliah eignet sich dabei die von ihm wahrgenommene Haltung Naidoos an, die sich gegen traditionelle christliche Symbole wie das Kreuz – und damit auch gegen die Institution Kirche – richtet. Naidoo bringt somit für Eliah »provozierende« (147), anti-strukturelle Ansichten zum Ausdruck. Xavier Naidoo wirkt hier also, ähnlich wie bei Timo, als ein Vermittler der vertikalen Communitas zwischen Fan und Gott. In horizontaler Hinsicht geht Eliahs Orientierung an ideeller Communitas aus dem folgenden Ausschnitt hervor, der Eliahs Antwort auf meine Abschlussfrage, ob er noch etwas sagen möchte, was bisher nicht angesprochen wurde, darstellt. 553 554 555 556 557 558 559 560 561 562 563 564 234
Nichts speziell, außer dass ich halt schon mitkriege, dass viele (.) ja auch erwachsene Fans, oder eigentlich Menschen, die im normalen Leben stehen, ähm Xavier-Fan sind, nicht weil sie jetzt die Texte hundertprozentig verstehen, also behaupte ich jetzt einfach mal, sondern weil es halt (.) der Optik halt halber, weil es für sie eher hübsch ist der Mann und tralala, und das krieg ich halt von einer relativ guten Freundin dauernd zu hören, dass es (.) dass sie da so (.) das kann ich halt nicht verstehen, ich kenne sie eigentlich als einen Menschen, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht und äh und äh (.) wenn man dann halt so aber auf das Thema kommt @(.)@ dann ist sie wirklich (.) ja dann sind
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
565 halt auch viele fanatisch oder mit Scheuklappen oder extrem 566 halt so auf ihn fixiert
Bei der Beurteilung anderer Fans geht es Eliah um die Haltung, welche sie Xavier Naidoo gegenüber einnehmen. Dabei hat Eliah eine Abneigung gegenüber solchen Fans, die nicht die Inhalte der Songtexte, sondern das Aussehen des Musikers in den Mittelpunkt stellen. Die Haltung solcher Fans ist seiner Ansicht nach »erwachsenen« (554) Menschen, die »im normalen Leben« (555) stehen, nicht angemessen. Hier zeigt sich also, dass Eliah hinsichtlich anderer Fans nicht an einer unmittelbaren, sondern einer ideellen Communitas orientiert ist, wobei diese Orientierung wiederum klare Grenzen gegenüber Personen setzt, die eine andere Haltung haben als er selbst. In der Gruppendiskussion mit den Festivalbesuchern hatte sich schon oben abgezeichnet, dass den Diskutanten eine soziale Haltung – die des »Punk« – wichtig ist, was auf eine Orientierung an ideeller Communitas hinweist. Im folgenden Ausschnitt der Gruppendiskussion lässt sich diese Orientierung besonders prägnant rekonstruieren, sowohl in horizontaler als auch vertikaler Hinsicht. Bei diesem Ausschnitt geht es allerdings nicht um die Erfahrungen auf dem Festival. Vielmehr entspinnt sich unter den Diskutanten im Laufe der Gruppendiskussion ein Gespräch darüber, dass Stefan in einer Band mitspielt, die christliche Lieder singt (unter anderem covert die Band auch einen Song von Xavier Naidoo). GD über Festival-Erfahrungen mit Maren, Hanna, Klaus, Stefan und Federicia, 06.02.2008 Maren: Stefan: Maren:
Stefan: Maren: Stefan:
Und ihr spielt hauptsächlich dafür, dass du deinen Glauben ausleben kannst? Also weil └hm wir machen das mit unserer Musik, also wir reflektieren halt unseren Glauben Genau (.) aber da geht’s nicht so wie im typischen Sinne wie wenn man jetzt also so (.) also ich mein also (.) also Bands geht’s ja auch unter anderem um die Zielgruppe, oder, also die Menschen zu erreichen, und wenn ich dich so richtig verstanden hab dann geht’s dir so eher in erster Linie dein (.) dass du deinen Glauben irgendwie ausleben kannst aber oder geht’s schon auch darum, andere Menschen zu erreichen, im Sinne von guck mal ich kann dir auch zeigen dass es andere Möglichkeiten gibt, deinen Glauben auszuleben und Ja, also es passiert auf jeden Fall auch, das merk ich schon, es gibt auch └mhm irgendwie Leute, die dann irgendwie E-Mails schreiben und ihnen das total gut tut irgendwie (.) wir haben auch so Christen getroffen, die uns erzählt haben, dass man halt, dass Rockmusik vom Teufel ist und dass wir so was auf keinen Fall machen können 235
ROCK UND POP ALS RITUAL
Me: Hanna: Stefan:
Me: Stefan:
Maren: Stefan: Me: Stefan:
Me: Stefan:
Hanna:
Stefan: Klaus: Hanna: 236
mhm Dass was? Dass Rockmusik vom Teufel ist und dass man Gitarren auch nicht anschlagen darf, sondern nur zupfen, weil alles andere viel zu aggressiv ist (.) und wir setzen da halt unsere Musik dagegen (.) und das finde ich dann └mhm auch immer total schön, wenn wir dann so Feedback kriegen, wenn Leute sagen, dass es ihnen total gut tut unsere Musik zu hören, weil sie irgendwie sich darin auch wieder finden können und irgendwie Gott darin finden können, das ist irgendwie (.) ich mein es gibt viele Bands die sagen sie sind Christen von daher ist alles was sie machen auch christlich, so weil es ein Teil von ihnen ist und wir haben halt gesagt wir wollen halt irgendwie direkt Lieder an Gott schreiben und sozusagen (.) um die Leute also (.) ist ja auch ein klassisches Element irgendwie im Gottesdienst, irgendwie halt Lieder gemeinsam zu singen, die an Gott gerichtet sind und wenn wir Gottesdienst machen, machen wir das halt auch manchmal dann, dass wir halt als Band irgendwie auftreten und solche Lieder singen (.) und d- haben wir uns halt ausgesucht, weil wir uns halt gesagt haben wir wollen nicht berühmt werden, wir wollen keine Merchandise-Sachen verkaufen, und ich mein ich kann (.) manchmal denk ich mir auch das └mhm, das war meine Frage, mhm wär ja vielleicht ganz angenehm, berühmt zu werden und zu sagen wir wollen auch unseren verdienten Luxus haben, aber wir haben uns halt └@(.)@, mhm dafür entschieden einfach, egal wo wir sind irgendwie machen wir unsere Musik und loben Gott damit und wir machen teilweise auch auf’m (Platz in einer Stadt) und im vorletzten Sommer sind wir durch ganz Deutschland gefahren, alle möglichen Leute haben uns eingeladen, haben wir ne Tour gemacht, und da haben wir mit Stromgenerator auf Parkplätzen gespielt und haben manchmal auch nur für uns irgendwie im └@(.)@ Wald, auf so’m Feldweg, und dann haben wir auch an einem Baggersee mal gespielt und dann auch in irgendwelchen Klubs und Kneipen und auf so Festivals, war total witzig. Was mir gerade so kommt, ist irgendwie dass das so ehrlich ist, ne, weil also weil weil ist ja jetzt nicht gelogen oder dass man so sagt es gibt Menschen die denken durch gute Taten, weil sie eben ner alten Oma zur S-Bahn-Tür raushelfen oder reinhelfen, dann hat das sofort was mit ihrem Glauben zu tun, und dann sind sie (.) dann werden sie halt auch in den Himmel kommen irgendwie und was weiß ich jetzt so weitergesponnen, und das ist auch so ganz oft dieses Unehrliche, was so dann dahinter steht (.) oder eben diese Verpflichtung ich muss jetzt beten, ich muss zur Kirche └mhm └mhm gehen und dann hat das halt viel mit Heuchelei zu tun und das ist jetzt so
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
Me: Hanna:
Stefan:
Klaus: Hanna: Stefan:
Me: Stefan:
└mhm was du grad beschreibst, das ist eher ich bin ehrlich, ich bin so wie ich bin und so ich bin authentisch und jetzt hab ich gerade in diesem Moment haben wir Bock, jetzt singen wir irgendwie oder, also das ist cool einfach nur, finde ich Also man (.) ja, andersrum ist noch viel schlimmer, wenn Leute denken sie kommen nicht in den Himmel weil sie jetzt der alten Frau nicht aus der S-Bahn geholfen haben ja also ich glaub in dem Sinne wünschen wir uns └@(1)@ └ja genau schon,dass unsere Musik etwas von unserem Glauben rüberbringt und auch (.) ich mein mir ging’s ja auch so, ich war auch irgendwie total erstmal überrascht, als ich das erste Mal Christen kennengelernt habe, die nicht sonntags in die Kirche gehen und (.) also ich mein für mich war bevor ich mal alternative Christen kennengelernt habe, war für mich (.) Glauben war für mich einzig und allein sonntags in die Kirche zu gehen └@(.)@ und meistens eine recht langweilige Predigt anhören, dann nach Hause gehen und ähm den nächsten Sonntag @wieder in die Kirche gehen@ und als ich zum ersten Mal mitgekriegt hab dass es Menschen gibt, die die gleiche Musik hören wie ich, die gleichen Klamotten anziehen wie ich, und die an Gott glauben, dann hab ich (.) da war das erste Mal, dass ich über Glauben ganz neu nachgedacht habe und wo ich das dann auch dann zum ersten Mal für mich selber entdecken konnte (.) und so’n bisschen wünsche ich mir manchmal auch irgendwie, dass die Leute vielleicht dann auch (.) auch die, die nicht an Gott glauben, dass die ((unverständlich, da Knacken im Hintergrund)) ne andere Art und Weise über Gott nachzudenken, vielleicht festzustellen, dass so wie sie sich Gott immer vorgestellt haben, dass vielleicht sie falsch liegen, dass Gott vielleicht ganz anders ist
In dieser Passage wird Stefans Musikpraxis sowohl gegen auf Kommerz und Ruhm ausgerichtete Musikpraktiken als auch gegen traditionelle religiöse Praktiken abgegrenzt. Für Stefan hat das Musikmachen die Funktion, sowohl eine vertikale als auch eine horizontale Communitas herzustellen (»direkt Lieder an Gott schreiben«, »gemeinsam zu singen«). Dies hat für ihn einen höheren Stellenwert als kommerzieller Erfolg, Ruhm und ein Leben im »Luxus«. Zentral erscheint darüber hinaus die von der ganzen Gruppe der Diskutanten geteilte Einschätzung traditionell religiöser Praktiken als unehrlich (»Heuchelei«) und rigide (»Verpflichtung«). Traditionelle Religiosität stellt hier einen negativen Gegenhorizont dar, sie repräsentiert eine von den Diskutanten abgelehnte soziale Haltung, der das »Authentische« und Spontane entgegengesetzt wird (nach Turner ist gerade das Spontane ein Kennzeichen von Communitas und Anti-Struktur). In diesem Zusammenhang zeigt die kurze 237
ROCK UND POP ALS RITUAL
biographische Erzählung von Stefan, dass er sich seinen jetzigen Glauben erst über die Zusammenkunft mit »alternativen Christen« aneignete, wobei hier auch die Musik eine wichtige Rolle spielte: Über die Musik und die Kleidung konnte er eine habituelle Übereinstimmung bzw. eine Communitas mit anderen Gläubigen erfahren. Die Abgrenzung von religiösen Traditionen und die Hinwendung zum »Alternativen« zeigt dabei die Orientierung an Werten und Idealen der Anti-Struktur.
Die Überlagerung von Typik 1 und Typik 2: Grundlegende Fan-Orientierungen In den Typiken 1 und 2 sind grundlegende Typen von Fan-Orientierungen herausgearbeitet worden, die sich sowohl auf die Gruppendiskussionen als auch die narrativen Interviews beziehen. Da beide Typiken sich überlagern, lassen sich die Typen und die jeweiligen Fälle wie folgt darstellen: Typik 2 Ideelle Communitas
Unmittelbare Communitas
Starbezogen Typik 1
Sarah/Eliah-------------------------Tina/Eva und Jan || || Musikbezogen Timo/Maren, Hanna, ---------------Edgar/Isa und Max Stefan, Federicia, Klaus
Die verschiedenen Fälle stellen je bestimmte Knotenpunkte innerhalb dieser zweidimensionalen Typik dar. Aus den Fällen Sarah, Eliah, Tina sowie Eva und Jan habe ich den Fantypus rekonstruiert, der sich primär am Star orientiert. Davon lassen sich Timo, die Besucher des Festivals, Edgar sowie Isa und Max unterscheiden, für die nicht die Person des Stars, sondern das musikalische Werk im Mittelpunkt steht. Bezogen auf die Vergemeinschaftung wurden allerdings Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen rekonstruiert, die gleichsam quer zur Typik 1 liegen. So habe ich herausgearbeitet, dass sich Sarah, Eliah, Timo sowie die Festivalbesucher an ideeller Communitas orientieren. Tina, Edgar, Eva und Jan sowie Isa und Max orientieren sich dagegen an unmittelbarer Communitas. Die Unterschiede, die sich innerhalb eines einzelnen Fantypus rekonstruieren lassen, sind auf diese Überlagerung der grundlegenden Typiken zurückzuführen.
238
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
Typik 3: Ritual versus Reflexion Bei der nun folgenden Typik stütze ich mich nicht mehr auf die Gruppendiskussionen, sondern nur noch auf die Einzelinterviews. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen Zugang zu den Entwicklungen und Verläufen der jeweiligen Fan-Biographien eröffnen. Um diese Verläufe geht es in Typik 3. Alle Fan-Biographien können in mehrere Phasen eingeteilt werden: eine erste Phase des Interesses (Timo, Sarah) bzw. der Bezauberung (Tina, Edgar), auf die dann die zweite Phase folgt, die ich bei allen als liminoide Phase der Verzauberung bezeichnet hatte und schließlich eine dritte Phase der Entzauberung. Mit dem Begriff der Verzauberung kann dabei ein einzelnes rituelles Ereignis gemeint sein, welches eine Verwandlung des Fans hervorruft (wie bei Tina das erste Take That-Konzert). Die liminoide Phase schließt dann an dieses Ereignis an. Verzauberung kann aber auch eine längere Zeit des Reflektierens und Suchens bedeuten, womit die liminoide Phase und die Verzauberung gleichsam zur Deckung gelangen (wie bei Timo). Auch der Begriff der Entzauberung kann sich entsprechend auf ein punktuelles rituelles Ereignis oder auf einen Reflexionsprozess beziehen. Im Mittelpunkt des typischen fan-biographischen Verlaufs steht also die liminoide Phase. In dieser Phase finden sich die Fans durch experimentelle und spontane Suchprozesse in eine intensive vertikale und horizontale Communitas ein (mit der bereits rekonstruierten Unterscheidung zwischen einer Orientierung an unmittelbarer bzw. ideeller Communitas). Typik 3 überlagert sich hier also mit der oben herausgearbeiteten Typik 2. Nun fallen folgende Punkte ins Auge: Bei allen meinen Interviewpartnern spielen rituelle Handlungen eine zentrale Funktion bei der Realisierung von Communitas. Bei Tina sind das etwa die Konzertbesuche, das Auf-TourGehen sowie das Fan-Treffen, von dem sie erzählt; bei Sarah ist es die Verwandlung in »Kurt«; bei Timo der Besuch der »Supporter-Party«; und bei Edgar schließlich das exzessive Aufhängen von Postern. Weiterhin zeigen die Rekonstruktionen, dass dem Fan-Sein bei allen Interviewpartnern eine wichtige Funktion zur Bewältigung bzw. Bearbeitung der Adoleszenzkrise zukommt. Zentral ist auch hier wiederum das Sich-Einfinden der Fans in eine vertikale bzw. horizontale Communitas, die sowohl durch rituelle Handlungen als auch Reflexionsprozesse erreicht wird. Bei Tina dient das Fan-Sein vor allem der Bearbeitung ihres aufkeimenden Begehrens und der Ablösung von ihren Eltern. Sarah kann über das Fan-Sein die Zumutung, sich dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen, sowie die Ablösung von den Eltern bewältigen. Timo findet eine Möglichkeit, sich von der »Gesellschaft an sich« zu distanzieren und eine neue soziale Orientierung anzueignen. Und Edgar schließlich ermöglicht das Fan-Sein, die Ablösung von den Eltern, das aufkeimende Begehren und die Beziehungsproblematik zu bearbeiten. Typik 2 überlagert sich also 239
ROCK UND POP ALS RITUAL
genau an dem Punkt mit Typik 3, an dem ein wichtiger biographischer Übergang – die Adoleszenzkrise – über die rituelle oder reflexive Bearbeitung sozialer Differenzen bearbeitet wird. Abstrahierend lässt sich diese Entwicklungstypik in Anlehnung an van Genneps Ablaufschema der Übergangsriten und in ihrer Überlagerung mit Typik 2 wie folgt darstellen (ich verwende dabei Balken, um den Bezug zu van Gennep herauszustellen): t
█ Interesse/ Bezauberung
█ Verzauberung
█ liminoide Phase Entzauberung (= rituelle und reflexive Suchprozesse zur Herstellung von vertikaler und horizontaler Communitas)
Unterschiede in diesen Gemeinsamkeiten habe ich hinsichtlich der entscheidenden Wendepunkte, mit denen die liminoide Phase jeweils eingeleitet bzw. beendet wird, rekonstruiert. Auch hier leite ich aus dem Material zwei Typen von Fan-Orientierungen ab: Beim einen Typus werden die entscheidenden fan-biographischen Wendepunkte durch rituelle Handlungen markiert und hervorgebracht, beim anderen durch Reflexionsprozesse. Wenn ich im Folgenden also einen Typus ›Rituelle Handlungen‹ rekonstruiere, dann heißt das allerdings nicht, dass für jene Fans, die diesem Typus nicht entsprechen, Rituale unbedeutend wären. Ich hatte ja gerade auf die Bedeutung hingewiesen, die rituellen Handlungen für das Sich-Einfinden in Communitas für alle interviewten Fans zukommt. Die hier folgende Typik bezieht sich allein auf die Hervorbringung von entscheidenden Wendepunkten im Verlauf von FanBiographien.
Die Erzeugung von fan-biographischen Wendepunkten durch rituelle Handlungen Bei diesem Fantypus wird sowohl die Verzauberung als auch die Entzauberung durch rituelle Handlungen hervorgerufen (Tina, Sarah). Rituelle Handlungen erzeugen dabei vor allem nachhaltige affektive Transformationen. Der Fan wird durch diesen Zauber der Rituale wie durch einen Bann emotional an den Star gebunden und auch wieder entbunden. Dieser Bann kann in einem Begehrensverhältnis gegenüber dem Star (Tina) oder einer mimetischen Identifikation mit dem Star (Sarah) zum Ausdruck kommen. Über die rituellen Handlungen ist es diesem Fantypus auch möglich, seinen Protest gegenüber der bürgerlichen Welt auszudrücken (Sarah). Da die liminoide Phase bei diesem Fantypus gleichsam von rituellen Handlungen eingerahmt ist, kann hier 240
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
das modifizierte van Gennep’sche Schema der Übergangsriten, wie ich es schon bei den Fallrekonstruktionen entwickelt habe, angewendet werden.50
Die Erzeugung von fan-biographischen Wendepunkten durch Reflexionsprozesse Davon lässt sich ein Fantypus abgrenzen, bei dem die liminoide Phase primär durch Reflexionsprozesse eingeleitet und auch wieder beendet wird. Hier ist es die durch die Musik angeregte Reflexion des Fans über sich selbst und seine Verbindung zum Star (Edgar) sowie über die »Gesellschaft an sich« (Timo), welche die Verwandlung hervorbringt. Diese Verzauberung kann in einer intensiven emotionalen Bindung an den Star (Edgar) oder in der Aneignung einer neuen sozialen Orientierung, die den Werten der Communitas entspricht (Timo), zum Ausdruck kommen. Das Ende der liminoiden Phase wird hier dadurch erzeugt, dass die Musik ästhetisch und inhaltlich nicht mehr den Vorstellungen des Fans entspricht. Dabei kann es sein, dass die Musik zu kommerziell wird (Timo) oder nicht mehr kommerziell genug ist (Edgar). Beim Fantypus »Reflexion« lassen sich die Wendepunkte, anders als beim Typus »Rituelle Handlungen«, zeitlich nicht so genau fassen. Sind das erste Take That-Konzert oder der Erhalt des Autogramms klar markierte Zeitpunkte, so laufen die Reflexionsprozesse eher in Phasen ab, welche auch von den Biographieträgern zeitlich nicht so eindeutig abgegrenzt werden. Weist also der Verlauf der Fan-Biographien beim Typus »Rituelle Handlungen« recht klare Einschnitte oder Wendepunkte auf (auf die van Genneps Schema in seiner Modifikation anwendbar ist), so sind die Veränderungsprozesse beim Typus »Reflexion« eher fließend: Reflexive Prozesse, die eine bestimmte Zeit dauern können, markieren hier die Übergänge.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Nun gilt es wiederum, die Ergebnisse dieses Kapitels vor dem Hintergrund der vorangegangenen Kapitel zu betrachten. Im dritten Kapitel hatte ich die liminoide Qualität der Rock- und Popmusik aus einer Außenperspektive herausgearbeitet. Dabei wurde deutlich, dass sich der Zauber der Rock- und Popmusik auf drei wesentliche Punkte zurückführen lässt. Zum einen auf die Kraft der Rock- und Popmusik, Communitas zu erzeugen, zum zweiten auf 50 Es muss in diesem Zusammenhang allerdings betont werden, dass nicht jede rituelle Handlung eine nachhaltige affektive Veränderung hervorruft: Nachdem Tinas Begeisterung für Williams im ersten Take That-Konzert geweckt worden war, blieb diese für lange Zeit auf hohem Niveau. Auch wenn Tina weiterhin auf Konzerte ging, ließ sich in diesem Zusammenhang keine weitere Transformation ihres affektiven Zustands mehr rekonstruieren. 241
ROCK UND POP ALS RITUAL
die liminoide Qualität der Musik selbst und zum dritten auf den Idolcharakter der Rock- und Popstars. Die nun vorgenommenen qualitativ-sozialwissenschaftlichen Analysen, die einen Zugang zur Innenperspektive eröffnen, zeigen, dass diese drei bereits herausgearbeiteten Aspekte der Rock- und Popmusik auch für involvierte Fans zentrale Bedeutung haben. Dabei lassen sich hinsichtlich der Schwerpunktsetzung der Fans unterschiedliche Typen rekonstruieren. Die verschiedenen Fans orientieren sich nicht gleichermaßen an allen drei Aspekten, sondern stellen je bestimmte Aspekte in den Vordergrund. In diesem Zusammenhang konnte eine zweidimensionale Typik grundlegender Fan-Orientierungen rekonstruiert werden. Das Konzept des Liminoiden erweist sich also auch als geeignet, um die Perspektiven der Fans zu untersuchen. Das Konzept des Liminoiden bewährt sich insbesondere auch bei der Rekonstruktion der narrativen Interviews. Auch wenn die jugendlichen Fans kein explizites Übergangsritual durchlaufen, übernimmt die Rock- und Popmusik doch eine bedeutende Funktion bei der Bearbeitung ihrer Adoleszenzkrisen. Die Auseinandersetzung mit der Rock- und Popmusik hilft, einen Übergang in der Biographie der jugendlichen Fans zu ermöglichen. Ich spreche hier in Anlehnung an den Begriff der Liminalität von der liminoiden Phase. Damit wird deutlich gemacht, dass es sich bei dem in Rede stehenden Übergang nicht um eine explizit inszenierte Statusveränderung handelt, sondern um eine implizite Bearbeitung der Adoleszenzkrise. Während dieses Übergangs spielt das Thema der Geschlechtlichkeit eine wichtige Rolle, wobei hier wie in der Liminalität die beiden Aspekte der Ambiguität sowie der Zügellosigkeiten zu erkennen sind. Auch finden sich die jugendlichen Fans in eine unmittelbare Fan-Communitas ein und eignen sich die Werte einer ideellen Communitas an. Zudem finden sich die Fans in der Auseinandersetzung mit der Rock- und Popmusik in eine vertikale Communitas ein. Diese kann zum einen in der Fan-Star-Beziehung, zum anderen in der Beziehung des Fans zu einem transzendenten Wesen (Gott) bestehen. Allerdings sind nicht bei allen Fans diese verschiedenen Dimensionen der Differenzbearbeitung von gleicher Bedeutung. Auch gibt es Unterschiede hinsichtlich des Alters der Fans während der liminoiden Phase sowie der Dauer dieser Zeit. Der Anfang dieser Zeit liegt in den rekonstruierten Fällen zwischen vierzehn und neunzehn Jahren. Die liminoide Phase kann dabei zwischen ungefähr einem und zehn Jahren dauern. Es zeigt sich also, dass das Konzept des Liminoiden einen Rahmen bereitstellt, mit dem die verschiedenen Fälle interpretiert werden können, wobei jeder Fall einen individuellen Platz innerhalb dieses Rahmens einnimmt. Meine Untersuchungen machen darüber hinaus nicht nur deutlich, wie wichtig rituelle Handlungen während der Jugendzeit sind, sondern dass rituel-
242
QUALITATIV-SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN
le Handlungen bei bestimmten Personen langfristige affektive Transformationen hervorrufen können. In diesem Zusammenhang wurde der heuristische Begriff des Zaubers inhaltlich erweitert und differenziert. Im ersten Kapitel hatte ich unter Bezug auf ritualtheoretische Arbeiten ›Zauber‹ vor allem auf Inszenierungen und Aufführungen bezogen. Mit dieser Begriffsbestimmung lassen sich alle Erzählungen der Fans interpretieren, bei der es um Performances geht. So kann gerade die Präsenz von Rock- und Popstars auf der Bühne einen Zauber auf die Fans ausüben. Meine Analysen der Interviews ergeben darüber hinaus, dass auch von den Songtexten ein Zauber ausgehen kann. So vor allem, wenn die Fans das Gefühl haben, dass die Songs ihnen gleichsam »aus der Seele« sprechen, wie Edgar es formuliert. Gerade bei Edgar zeigt sich, dass über die Songtexte die Empfindung einer wundersamen, mystisch anmutenden Verbindung zwischen Fan und Star entstehen kann. Zudem zeigt sich, dass auch die horizontale Communitas eine gleichsam zauberhafte Qualität besitzt (vor allem bei Timo). In der Rekonstruktion der Verläufe der Fan-Biographien wurde der Begriff des Zaubers zudem in die Dimensionen »Be-«, »Ver-« und »Entzauberung« differenziert. Mit Bezauberung ist dabei ein Entzückt- und Begeistertsein gemeint, welches allerdings keine längerfristige Verwandlung der Person hervorruft. Diese Verwandlung kommt dann in dem Begriff der Verzauberung zum Ausdruck. So vermögen einzelne rituelle Handlungen oder auch Reflexionsprozesse eine Transformation der Individuen zu erzeugen, welche in einer emotionalen Bindung an einen Star oder der Aneignung der Communitas-Werte bestehen kann. Als Entzauberung schließlich bezeichne ich die Lösung dieser Bindung an den Star, die wiederum durch rituelle Handlungen oder Reflexionsprozesse hervorgebracht werden kann. Traditionelle Jugendrituale finden zyklisch statt, so dass es immer nur bestimmte Zeiten gibt, in denen die Erfahrung von Liminalität möglich ist. Das kulturelle Feld der Rock- und Popmusik besteht dagegen permanent, so dass es jederzeit möglich ist, es zu ›betreten‹ und Erfahrungen zu machen, die eine liminoide Qualität haben. Zudem ist das kulturelle Feld der populären Musik enorm vielgestaltig. Anders als in traditionellen Übergangsriten sind die Erfahrungen hier nicht von außen vorgeschrieben, sondern gleichsam auf die Vorlieben und Bedürfnisse von verschiedenen Zielgruppen zugeschnitten. Auch ist die Umwandlung der jugendlichen Fans nicht wie in vielen traditionellen Übergangsriten unumkehrbar – schließlich können sich die Fans von ihren Stars und ihrem bevorzugten Musikstil auch wieder lösen. Die Rockund Popmusik kann also dazu dienen, die Adoleszenzkrise produktiv zu bearbeiten, ohne die Jugendlichen dabei in eine vorgegebene rituelle Struktur zu zwängen.
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Au sblick
Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln die Rock- und Popmusik aus ritualtheoretischer Perspektive untersucht wurde, soll der Blick abschließend wieder geweitet und in pädagogischer Hinsicht auf den Zusammenhang von Jugend und Ritual gerichtet werden. Wie gezeigt wurde, lässt sich die Jugendphase aus ritualtheoretischer Sicht als eine Zeit des »betwixt and between« begreifen. Dabei befinden sich die Jugendlichen nicht einfach nur innerpsychisch in einer »Zwischensphäre«; vielmehr ist es erforderlich, dass diese Phase durch rituelle Handlungen und »proto-philosophische Spekulationen« (Turner 1974c: 253) kulturell gestaltet wird. Der Zustand des »betwixt and between« bedarf also der Inszenierung von Anti-Struktur, um fruchtbar bearbeitet werden zu können. Wie meine Untersuchungen zeigen, stellt die Rockund Popmusik ein kulturelles Feld dar, welches die Erfahrung von AntiStruktur ermöglicht: Die Rock- und Popmusik ist gerade deswegen bei Jugendlichen so beliebt, weil sie dem Zustand des »betwixt and between« eine kulturelle Gestalt gibt. Pädagogisch motivierte Arbeiten haben die Rock- und Popmusik jahrzehntelang vehement abgelehnt. In der Verehrung von Stars durch jugendliche Fans wird eine vermeintliche Irrationalität und emotionale Abhängigkeit der Heranwachsenden gesehen, welche dem Ziel einer Erziehung zur Mündigkeit entgegengesetzt zu sein scheint. Auch sehen viele Autoren die »Kulturindustrie« (Adorno/Horkheimer 1989: 139-189) als reine Manipulation der Jugend an. Allerdings unterliegt die Pädagogik aus der hier eingenommenen ritualtheoretischen Perspektive einem Denkfehler, wenn sie Mündigkeit und Emanzipation allein in Begriffen der Rationalität und Aufklärung konzeptionalisiert. Gemäß Turners Modell, nach dem sich das menschliche Leben sowohl in individueller als auch kollektiver Hinsicht erst in einer je angemessenen Balance zwischen Struktur und Anti-Struktur voll entfalten kann, bedürfen Menschen nicht nur der Rationalität und Logik, die für Struktur kenn-
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ROCK UND POP ALS RITUAL
zeichnend sind, sondern sie brauchen auch das Ekstatische, vermeintlich Irrationale, Unlogische und Unvernünftige der Anti-Struktur.1 Hier ergibt sich die Forderung, dass die Pädagogik sich dem Bereich der Anti-Struktur gegenüber öffnen muss. Zentrale pädagogische Begriffe wie Emanzipation und Mündigkeit müssen aus dieser Perspektive in ihrer Bedeutung erweitert werden und sich auf die umfassende Fähigkeit beziehen, nicht nur rational denken und handeln, sondern auch, sich dem Anti-Strukturellen hingeben zu können – ohne dabei die Balance zwischen Struktur und Anti-Struktur zu verlieren. Es ergibt sich also die Forderung nach einer Form von Rationalität, die auch das vermeintlich Irrationale zu integrieren in der Lage ist. Die enorme Popularität der Rock- und Popmusik bei Jugendlichen und die gleichzeitige Abwehr dieser Musik durch die Pädagogik lassen darauf schließen, dass in unserer Gesellschaft gewissermaßen eine pädagogische Lücke hinsichtlich des Bereichs der Anti-Struktur besteht. So ließe sich sagen: Da die Phase des »betwixt and between« der kulturellen Gestaltung bedarf, die Pädagogik Anti-Struktur aber weitgehend ablehnt, wird dieser Bereich durch liminoide Kulturfelder, wie die Rock- und Popmusik es darstellt, gewinnbringend abgedeckt. Gewinnbringend nicht nur für die Musikkonzerne, sondern auch für Jugendliche, weil die Jugendlichen eine Möglichkeit zur Bearbeitung ihres Zwischenzustandes erhalten.2 An diesem Punkt stellt sich allerdings die Frage, welche Konsequenzen aus diesen Überlegungen für die Pädagogik zu ziehen sind. Ist es vertretbar, dass der liminoide Erfahrungs- und Lernbereich zu einem großen Teil dem Markt überlassen wird? Tatsächlich lassen sich die in meinen Untersuchungen gewonnenen Ergebnisse aus pädagogischer Sicht auch kritisch betrachten. Ich habe dies bisher kaum getan, vor allem um die Perspektive der Interviewees so ›neutral‹ wie möglich zu rekonstruieren. Die empirischen Phänomene sollten ernst genommen und nicht verurteilt werden. Aber es ist beispielsweise 1
2
Das magisch-symbolische Denken ist nicht eigentlich irrational, sondern folgt einer eigenen Logik, die gleichsam »quer« zur traditionellen Logik steht (vgl. dazu Mattig 2003 sowie Gloy/Bachmann 2000). Diese zuspitzende Darstellung soll nicht den Eindruck erwecken, als ob die Pädagogik gar keine Gedanken und Praktiken zur Gestaltung von Anti-Struktur entwickelt hätte. Gerade reformpädagogische Ansätze eröffnen Zugänge zum Anti-Strukturellen, wie in der Berliner Ritualstudie gezeigt wurde (vgl. v. a. Mattig 2004). Und in der pädagogischen Arbeit vieler Jugendklubs hat auch die populäre Musik einen wichtigen Stellenwert, sei es dass Konzerte veranstaltet werden oder Jugendliche Musik-Unterricht erhalten. Allerdings findet das produktive Potential der populären Musik in der pädagogisch orientierten Literatur zur Rock- und Popmusik relativ geringe Anerkennung. Zudem ist die Rock- und Popmusik nicht das einzige liminoide Kulturfeld, das heutigen Jugendlichen zur Verfügung steht. Vor allem durch den Computer und das Internet ergeben sich viele neue liminoide Kulturfelder (vgl. z. B. Bausch/ Jörissen 2004).
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AUSBLICK
durchaus fraglich, ob die intensive emotionale Bindung von Fans an einen Star die freie Entwicklung der Persönlichkeit fördert. Ich habe ja explizit von einem Bann gesprochen, unter dem die Fans teilweise stehen. Auch habe ich bei Tina und Sarah das Gefühl einer Befreiung rekonstruiert, als dieser Bann schließlich aufgelöst wurde. Es kann also durchaus eine Abhängigkeit der Fans zu den Stars entstehen. Und viele Stars sind anscheinend selbst süchtig (bzw. selbstsüchtig), so dass sie als recht zweifelhafte Idole angesehen werden müssen. Das kulturelle Feld der Rock- und Popmusik kann also mit Recht kritisch betrachtet werden. Doch was folgt daraus für die Pädagogik? Mir scheint es jedenfalls am Kern der Thematik vorbeizugehen, wenn man beispielsweise fordert, Jugendliche über die versteckten Botschaften in Popsongs durch pädagogische Reflexionen aufzuklären. In diese Richtung gehen die Vorschläge von Flender und Rauhe. Schüler sollen danach zur Intention bzw. »Ideologie« von Popsongs vordringen lernen – »trotz des artifiziellen Klangraumes und seiner suggestiven, oft vernebelnd-narkotisierenden Wirkung«, wie die Autoren sagen (Flender/Rauhe 1989: 174). Ein solches Vorhaben versucht gleichsam, die Anti-Struktur mit den Mitteln der Struktur zu bewältigen, was einer Verdrängung der Anti-Struktur gleichkommt. Will die Pädagogik sich der Jugend annehmen und sie nicht weiterhin sich selbst und dem Markt überlassen, muss sie also selbst Anti-Struktur gestalten. Nur so kann sie der Phase, in der sich die Heranwachsenden befinden, gerecht werden. Das grundsätzliche Problem dabei ist, dass die Pädagogik aus den oben skizzierten Gründen kaum über ein Wissen über das Anti-Strukturelle verfügt. Sie müsste also zunächst selbst über diese Dimension des menschlichen Lebens genug lernen, um dann gestaltend mitwirken zu können. Anregungen hierzu bieten unter anderem theaterwissenschaftliche, ethnologische, historisch-anthropologische und religionswissenschaftliche Untersuchungen, die sich mit Themen wie dem Körperlich-Sinnlichen, dem Performativen, dem Heiligen und der Verwandlung des Menschen in rituellen Prozessen befassen. Will die Pädagogik das polyphone Wesen des Menschen verstehen und auch produktiv gestalten lernen, so gilt es also, gleichsam die Zwischentöne – und damit den Zauber – des menschlichen Lebens zu entdecken.
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Litera turverzeichnis
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260
Richtlinie n der Transkription
└ (.) (2) nein nein °nee° . ; ? , viellei((stöhnt)) @nein@ @(.)@ @(3)@ //mhm// I.: Me:
Überlappung bzw. direkter Anschluss beim Sprecherwechsel Pause bis zu einer Sekunde Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert betont laut (in Relation zur üblichen Lautstärke der Sprechenden) sehr leise (in Relation zur üblichen Lautstärke der Sprechenden) stark sinkende Intonation schwach sinkende Intonation stark steigende Intonation schwach steigende Intonation Abbruch eines Wortes Kommentare bzw. Anmerkungen zu parasprachlichen, nicht-verbalen oder gesprächsexternen Ereignissen lachend gesprochen kurzes Auflachen 3 Sek. Lachen Hörersignal des Interviewers, wenn das »mhm« nicht überlappend ist Interviewer Mehrere Personen gleichzeitig
Maskierung: Alle Ortsangaben (Städte, Straßen, Plätze etc.) werden maskiert. Dabei bestehen keine Zusammenhänge der Maskierung zwischen den verschiedenen Interviews. Namen, die im Interview genannt werden, werden durch erdachte Namen ersetzt. Darstellung: Im Text wird das Transkript nicht durchgehend dargestellt, sondern in thematische Passagen unterteilt, an die dann die Interpretation angefügt ist. Da die Trennung der Passagen meist mitten in einer Zeile liegt, ist die Anfangszeile bei den meisten Passagen kürzer als die nachfolgenden Zeilen. 261
Pädagogik Kathrin Audehm Erziehung bei Tisch Zur sozialen Magie eines Familienrituals 2007, 226 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-617-5
Johannes Giesinger Autonomie und Verletzlichkeit Der moralische Status von Kindern und die Rechtfertigung von Erziehung 2007, 218 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-795-0
Fabian Lamp Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis 2007, 258 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-662-5
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3) ANZ1094.p 201744186152
Pädagogik Antje Langer Disziplinieren und entspannen Körper in der Schule – eine diskursanalytische Ethnographie 2008, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-932-9
Paul Mecheril, Monika Witsch (Hg.) Cultural Studies und Pädagogik Kritische Artikulationen 2006, 322 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-366-2
Christiane Thompson, Gabriele Weiss (Hg.) Bildende Widerstände – widerständige Bildung Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie 2008, 228 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-859-9
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Pädagogik Autostadt GmbH (Hg.) DENK(T)RÄUME Mobilität Bildung – Bewegung – Halt 2005, 176 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-89942-357-0
Thomas Brüsemeister, Klaus-Dieter Eubel (Hg.) Zur Modernisierung der Schule Leitideen – Konzepte – Akteure. Ein Überblick 2003, 426 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-120-0
Wiltrud Gieseke, Steffi Robak, Ming-Lieh Wu (Hg.) Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens Mai 2009, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1056-7
Felicitas Lowinski Bewegung im Dazwischen Ein körperorientierter Ansatz für kulturpädagogische Projekte mit benachteiligten Jugendlichen 2007, 242 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-726-4
Christian Schütte-Bäumner Que(e)r durch die Soziale Arbeit Professionelle Praxis in den AIDS-Hilfen 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-717-2
Ellen Schwitalski »Werde, die du bist« Pionierinnen der Reformpädagogik. Die Odenwaldschule im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 2004, 394 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-206-1
Britta Hoffarth Performativität als medienpädagogische Perspektive Wiederholung und Verschiebung von Macht und Widerstand April 2009, ca. 236 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1095-6
Peter Kossack Lernen Beraten Eine dekonstruktive Analyse des Diskurses zur Weiterbildung 2006, 218 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-294-8
Thorsten Kubitza Identität – Verkörperung – Bildung Pädagogische Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners 2005, 352 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-318-1
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