SABOTAGE!: Pop als dysfunktionale Internationale [1. Aufl.] 9783839422106

Funktionalität wird sabotiert! Dieses Buch untersucht an sieben populär- und popkulturellen Feldern, wie Sabotage entste

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German Pages 256 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
REVOLUTION DER GESTÖRTEN
Dies ist eine Störung
REVOLUTION
Mit Pop ist keine Revolution zu machen Zur Dysfunktionalität der Popularisierung von Widerstandskulturen
More Pop Politics! Dysfunktionale Medienästhetik von politischen Videoinhalten auf YouTube
GESTÖRTE
Dreck, Lärm & Gestammel
Jetzt knallts Zur disruptiven Funktion der Knallcharge – einer popkulturellen Randfigur
DIE ABWEICHUNG
Die Medienästhetik der Störung Künstliche Filmalterungsprozesse im digitalen Zeitalter oder: Auf der Suche nach dem „wahren“ Kino
Abweichung vom Selbst Entwurf eines Gesellschaftsspiels zur Identitätskonstruktion in sozialen Netzwerken
STÖRENDE UND GESTÖRTE
Widerstand und Geschlecht The Rebel Girl: I Got This Fucking Thorn In My Side
Quellenverzeichnis der Meme
Autorinnen und Autoren
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SABOTAGE!: Pop als dysfunktionale Internationale [1. Aufl.]
 9783839422106

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Marcus S. Kleiner, Holger Schulze (Hg.) SABOTAGE!

Marcus S. Kleiner, Holger Schulze (Hg.)

SABOTAGE! Pop als dysfunktionale Internationale

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld, unter Verwendung des Fotos »Max’s Cat, Ferris«, mit freundlicher Genehmigung: Natalie, the Chickenblogger, San Diego, Kalifornien/USA 15. Oktober 2010 Lektorat & Satz: Julia Krause, Holger Schulze und Marcus S. Kleiner Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2210-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

REVOLUTION DER GESTÖRTEN Dies ist eine Störung

Thomas Hecken | 11

REVOLUTION Mit Pop ist keine Revolution zu machen

Zur Dysfunktionalität der Popularisierung von Widerstandskulturen Marcus S. Kleiner | 43 More Pop Politics!

Dysfunktionale Medienästhetik von politischen Videoinhalten auf YouTube Ramón Reichert | 91

G ESTÖRTE Dreck, Lärm & Gestammel

Holger Schulze | 117 Jetzt knallts

Zur disruptiven Funktion der Knallcharge – einer popkulturellen Randfigur Thomas Düllo | 141

DIE ABWEICHUNG Die Medienästhetik der Störung

Künstliche Filmalterungsprozesse im digitalen Zeitalter oder: Auf der Suche nach dem „wahren“ Kino Marcus Stiglegger | 167 Abweichung vom Selbst

Entwurf eines Gesellschaftsspiels zur Identitätskonstruktion in sozialen Netzwerken Daniela Kuka & Klaus Gasteier | 187

STÖRENDE UND GESTÖRTE Widerstand und Geschlecht

The Rebel Girl: I Got This Fucking Thorn In My Side Marcus S. Kleiner & Holger Schulze | 229 Quellenverzeichnis der Meme | 249 Autorinnen und Autoren | 251

Revolution der Gestörten

Dies ist eine Störung T HOMAS H ECKEN

Am 30.11.1970 zeigte der ARD-Sender Südwestfunk (SWF) innerhalb der Sendung „Fernsehausstellung II, IDENTIFICATIONS“ [Fernsehgalerie Gerry Schum] u.a. einen Beitrag von Daniel Buren. Er bestand darin, das in der ARD damals zur Anzeige von technischen Problemen verwendete Bild zu verwenden, auf dem neben einigen grafischen Elementen das Wort „Störung“ zu sehen ist. Dass der Fernsehempfang gestört ist, hat der aufmerksame Zuschauer natürlich selbst längst gemerkt, die Einblendung des Senders zeigt ihm nun, dass es nicht sein Apparat ist, der repariert werden muss, sondern das Problem woanders liegt, außerhalb der Zuständigkeit, Verantwortung, Kontrolle des Empfängers. Bei Burens Beitrag handelte es sich allerdings nicht um eine Störung im technischen Sinne. Buren übernahm einfach die offizielle Einblendung, der zuständige Fernsehgalerist akzeptierte es im Rahmen seines Ansatzes, für Fernsehsendungen nicht bloß Kunstwerke in Museen, Galerien, Ateliers abzufilmen, sondern Fernsehbilder selbst als Kunstwerke zu präsentieren – und der zuständige Redakteur akzeptierte den Beitrag. Deshalb lief er in der so betitelten „Fernsehausstellung“. Der Zuschauer, der die Sendung von Anfang gesehen hatte oder durch Programmhinweise über den Zuschnitt der Sendung im Bilde war, wusste demnach recht sicher, dass es sich nicht um die Anzeige eines gerade festgestellten technischen Defekts handelte. Ganz sicher sein konnte er sich freilich nicht. Wegen der Ununterscheidbarkeit von Burens Beitrag mit der üblichen, offiziellen „Störungs“Einblendung gab es keine Möglichkeit, beide vor dem Fernsehschirm aus-

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einanderzuhalten (nur die Sendeleitung und die Techniker im Rundfunk konnten das). Selbst der Hinweis, dass es sich um eine Kunstsendung handele und die einzelnen Beiträge Kunstwerke seien, vermochte beim Zuschauer die Unsicherheit nicht aufzuheben, schließlich bestand ja die Möglichkeit, dass die Störungsmeldung eine technische Störung der Kunstsendung anzeigt. Nicht einmal ein vorhergehender Hinweis, das nächste Bild übernehme nur das übliche Störungsbild, verweise aber auf keine technische Störung, hätte dies unterbinden können, denn selbst in diesem Fall bliebe immer noch die Möglichkeit bestehen, dass in genau diesem Moment eine Störung eintritt und rasch mit dem gewohnten Hinweis offenbart wird. Mittlerweile sieht der entsprechende Hinweis längst anders aus, nicht einmal den Sender gibt es in der Form mehr (Nachfolger ist der SWR). Überdauert hat aber Burens Beitrag. Er ist nicht nur im Bestand des Centre Pompidou verzeichnet, sondern nach wie vor zu sehen. Ich habe ihn mir im November 2012 im ZKM Karlsruhe angeschaut, nach Angabe des ZKM blickte ich auf: „Untitled (Störung) von Daniel Buren S/W, Sound, 48 sek. © Collection Mnam/Cci, Centre Pompidou, Paris.“1 Verstört kann jetzt nur noch der Betrachter sein, der in Verwirrung oder Ärger darüber gerät, dass so etwas für Kunst gehalten und in einem staatlichen Museum präsentiert wird – was sogar zur Folge haben könnte, grundsätzlich an einem Staat, der so etwas fördert, oder an all den Menschen zu (ver)zweifeln, die das erdulden oder gar betreiben. Bei der Erstausstrahlung im Fernsehen Anfang der 70er Jahre hingegen blieb zusätzlich noch die Möglichkeit, an eine Unterbrechung im technischen Betriebsablauf zu glauben. Zugegeben, die Möglichkeit war klein, schließlich fand das Störbild seinen Platz in einer Sendung mit als solcher annoncierten Fernsehkunst, der informierte Betrachter wird die knapp einminütige Einblendung also unzweideutig eingestuft haben. Und selbst für die Zuschauer, die zufällig auf dem Kanal gelandet waren oder über keine Kenntnisse moderner Kunst verfügten, dürfte die Störung nicht allzu groß ausgefallen sein, nach knapp fünfzig Sekunden war die Sache schon wieder vorbei. Nachhaltig verstört waren höchstwahrscheinlich bloß diejenigen Zuschauer, denen die Einstufung des Buren-Beitrags als Kunstwerk missfiel. Da die Sendung in einer

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http://container.zkm.de/presse/special_video_vintage.html.

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Zeit ausgestrahlt wurde, als es nur sehr wenige Programme gab, wird ihre Zahl nicht gering gewesen sein. Genau darum werden ihnen jedoch auch viele Zuschauer gegenüber gestanden haben, die der Störung einiges abgewinnen konnten. Nicht nur die Freude über die wagemutige, verstörende Kunst allgemein, sondern auch über die spezielle Unterbrechung der Fernsehgewohnheiten dürfte ihnen gefallen haben: Die „Fernsehausstellung“ Burens werden sie mit großer Gewissheit als hintersinnige Aufforderung aufgefasst haben, mit dem Fernsehkonsum zu brechen. Diese „Störung“ störte sie demnach überhaupt nicht, ihre Freude darüber, dass das Bild für eine Unterbrechung sorgt und zur Verstörung anderer beiträgt, sollte oftmals mit ihrer vollen oder weitgehenden Zustimmung zur Ausstrahlung einhergegangen sein (auch dass diese von ihnen vermutete Kritik am Fernsehen im Fernsehen stattfindet, wird bei diesen Anhängern moderner, verstörender Kunst zumeist wohl nicht für Irritation gesorgt haben). Auf eine weitere Möglichkeit kann man in diesem Zusammenhang nur zu sprechen kommen, ohne sie in gleichem Maße auf den speziellen Fall der „Fernsehgalerie“ beziehen zu können. Es gibt historische, internationale Beispiele dafür, dass der Störungs-Hinweis nicht nur bei Übertragungsschwierigkeiten zum Einsatz kommt, sondern auch bei Sendungen (gerade bei Live-Sendungen), die in den Augen der Regie inhaltlich untragbar geworden sind. Der Hinweis auf die (technische) Störung, der die Sendung unterbricht oder beendet, soll den Akt des zensurierenden Eingriffs ebenso unsichtbar machen wie das anstößige Programm. Angesichts der StörungsEinblendung innerhalb der Kunstsendung wird dieser verstörende Verdacht jedoch nicht viele (vielleicht auch gar keine) Zuschauer überkommen haben.

S ABOTAGE , G UERILLA , T ERRORISMUS Wie ist es aber mit dem Verdacht, der Hoffnung oder Sorge, dass die Unterbrechung, die „Störung“, auf einen Sabotageakt zurückgeht? In kriegerischer Hinsicht konnte dieser Verdacht 1970 kaum aufkommen, ein politisches Ereignis wie die bedrohliche Kuba-Krise lag nicht vor, an die Vorbereitung eines Angriffs durch den Sowjetblock war nicht zu denken. Auch

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nicht an einen Akt der Industriesabotage; privatwirtschaftliche Konkurrenz zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk gab es noch keine. Sehr wohl aber bestand die Möglichkeit der Sabotage durch Gruppen aus dem kulturrevolutionären und linksradikalen Bereich. Entgegen des Eindrucks, der von der Angabe „1968“ leicht erweckt werden kann, ist die anarchistische und sozialistische Bewegung wider den liberalkapitalistischen Staat keineswegs in besagtem Jahr an ihrem End-, nicht einmal auf ihrem Höhepunkt angelangt, schon gar nicht was den gewaltförmigen Teil ihrer Bemühungen anbelangt. Die Distanz entsprechender linksradikaler Gruppen zur Sowjetunion war groß (das beruhte auf Gegenseitigkeit), Sabotage im Zuge von Kriegsmaßnahmen zwischen den Weltmächten, zwischen sowjetisch geführtem Warschauer Pakt und amerikanischer NATO, schied deshalb von vornherein aus. Umso größer war jedoch die Nähe wichtiger Teile der außerparlamentarischen Opposition zu revolutionären Kräften in der Dritten Welt. Ihren Niederschlag fand diese Nähe nicht zuletzt in zahlreichen Verteidigungen und analytischen Schriften westlicher Linksradikaler zum Guerillakampf. Die revolutionären Kämpfe in Ländern der Dritten Welt bildeten nicht nur einen Eckpunkt für die sozialistische Agitation in der westlichen Welt. Viele Vertreter der Neuen Linken orientierten sich direkt an Haltungen und Vorgehensweisen der Aufständischen dort. Ab 1965 fand der amerikanische SDS seine Helden in Vietnam, aber auch in Kuba. Bereits 1967 gehörten Kenntnisse der Guerillatheorie zum allgemeinen Bildungsgut dieser intellektuellen Linken. In Deutschland nicht anders: Die Schriften von Fanon, Mao, Guevara, Castro und Debray spielten im Berliner SDS eine wichtige Rolle. Entscheidend für diese Aneignung war die Überlegung, dass die Guerilla tatsächlich ihren Platz in den westlichen Ländern finden könne. Fanon etc. ließ sich das nicht unmittelbar entlehnen. Für die Aufnahme des Guerillakampfes galt z.B. in den Schriften Guevaras in markantem Kontrast zu den Bedingungen in westlichen Staaten als Voraussetzung: Wichtig für die Herausbildung der Guerilla sei vor allem, dass kleine bewaffnete Gruppen sich in ländlichen, dünn besiedelten Räumen bewegen können, in denen eine arme Bevölkerung mehr schlecht als recht abseits des Machtzentrums der Hauptstadt lebt. Dies hinderte linke Aktivisten freilich nicht daran, über eine metropolitane, westliche Guerilla ernsthaft nachzudenken.

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Wer so etwas macht, muss zwangsläufig auch über das Guerilla-Mittel der Sabotage nachdenken. Dies gilt für die westlichen Systemfeinde besonders, weil sie nicht auf den Zielpunkt der Guerilla-Bemühungen, wie sie etwa Mao postuliert hatte, hoffen konnten: Dass die Schwächung, Abnutzung der regulären Armee durch irreguläre Attentate und Angriffe bis zu einem Punkt kommt, an dem endlich eine offene Schlacht gegen den Gegner mit einiger Erfolgsaussicht durchgeführt werden kann. Da ein regulärer Krieg – nach wie langen Guerilla-Vorbereitungen auch immer – gegen die westlichen Armeen nicht im Bereich des Möglichen lag, muss theoretisch den Sabotageakten eine große Bedeutung zukommen, besonders natürlich im Bereich der Infrastruktur: Wege, Brücken, Leitungen. Das Ziel besteht dann darin, die gegnerischen Truppen zu demoralisieren und vor allem der Bevölkerung zu signalisieren, dass die staatlichen Instanzen nicht für Ordnung sorgen können, keineswegs unangreifbar sind, gegen sie breiter Widerstand also möglich und geboten sei.2 Die Sabotageakte besitzen folglich nicht nur das Ziel, durch Schädigung von Gebäuden, Maschinen, Transport- und Kommunikationswegen die gegnerischen Kampfmöglichkeiten direkt materiell einzuschränken. Sie dienen auch dem Ziel, das Bewusstsein, die Handlungsdispositionen sowohl bei den gegnerischen Truppen als auch bei Teilen der Bevölkerung, die den Saboteuren bislang feindlich oder indifferent begegneten, zu verändern.3 Geschehen solche Sabotageakte ohne jede Aussicht auf materiell bedeutsame Schäden (sprich: werden solche bloß vereinzelt ausgeführt), werden sie von Wissenschaftlern oftmals als terroristische Anschläge bezeichnet. Beim so verstandenen Terrorismus handelt es sich definitionsgemäß um einen gewaltsamen, politisch motivierten Beeinflussungsversuch, der sich nicht in der Zerstörung konkreter Dinge oder dem Mord einzelner Personen erschöpfen soll: Die glaubhafte Androhung von Gewalt oder tatsächliche Anschläge sollen Dritte – vermittelt über die mediale Berichterstattung – zu Reaktionen bewegen, die im Sinne einer längerfristigen politischumstürzlerischen Strategie vorteilhaft erscheinen. Auch die Akteure übernahmen manchmal die Bezeichnung „Terrorismus“ zur Selbstanzeige. Für die russische Sozialrevolutionäre Partei (am Beginn des 20. Jahrhunderts) zeichnete sich der terroristische Akt durch

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Vgl. Hampel 1989.

3

Vgl. Müller-Borchert 1973.

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eine Aufsehen erregende, agitatorische Qualität aus: Er stifte innerhalb des Machtapparats Angst und Chaos, was den revolutionären Geist breiterer Schichten beflügeln könne, so Anspruch und Hoffnung.4 Die derart Angegriffenen gebrauchen den Begriff „Terrorismus“ freilich nur in abwertender Absicht, um den Schreckenscharakter herauszustellen und jede politischwiderständige Qualität zu dementieren. In der breiteren Öffentlichkeit hat sich dieser Begriffsgebrauch durchgesetzt. Deshalb verwenden die so Titulierten den Begriff schon lange nicht mehr, sie bezeichnen sich spätestens seit den 1960er Jahren wesentlich lieber als Guerilla oder gar als Armee. Bekanntermaßen setzten die terroristischen Gruppierungen nach 1968 ganz darauf: Rote Armee Fraktion, Weather Brigade etc. Doch trotz dieser ambitionierten Bezeichnungen sind von ihnen Sabotageakte, die auch nur ansatzweise an die Wirkungsmacht von wenigstens einigermaßen erfolgreichen Guerilla-Organisationen (von Armeen und den ihnen assoziierten Geheimdiensten ganz zu schweigen) heranreichen, nicht zu verzeichnen, auch nicht auf dem Höhepunkt der europäischen linksterroristischen Gruppen im Verlauf der 70er Jahre.5 Anfang 1970, als das „Störungs“-Bild Burens auf dem Bildschirm zu sehen war, hatte sich die deutsche RAF ohnehin noch nicht gegründet, Zuschauer-Irritationen – ist unser Staatssender sabotiert worden? –, die 1977 bei ähnlichem Anlass sicherlich nicht ausgeblieben wären, sind zu diesem frühen Zeitpunkt nicht in gleichem Maße wahrscheinlich. Vollkommen unwahrscheinlich erscheinen sie zu Beginn der 70er Jahre in der BRD allerdings nicht, schließlich gab es in den Jahren zuvor mehr als genug Stimmen, die auf ironisch-spielerische bis agitatorische Weise für den Einsatz von ‚Gewalt gegen Sachen‘ eintraten; besonders prominent in der bundesdeutschen Geschichte die Kommune I mit ihrem Flugblatt (ironischspielerische Variante) anlässlich eines Brandunfalls in einem Brüsseler Warenhaus und – aus dem Umfeld ebendieser Kommune – Baader/Ensslin mit ihren Reden vor Gericht, nachdem sie Ende der 60er Jahre tatsächlich ein Kaufhaus angezündet hatten.

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Vgl. Hildermeier 1982.

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Vgl. Münkler 1980.

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Nun ist ein Brandanschlag gegen ein einziges Kaufhaus noch kein Sabotageakt (zumindest nicht, wenn das Wort ‚Guerilla‘ eine halbwegs ernstzunehmende Bedeutung haben soll). Dennoch ist der Verweis auf die Kommune I und die ihr lose assoziierten Baader/Ensslin nicht überflüssig, lenkt er doch den Blick auf eine Künstler- und Intellektuellenszene, der das Dichten, Malen, Theoretisieren nicht mehr genug ist und die deshalb nach Wegen sucht, ihre Betätigungen direkter, unmittelbarer mit (anderen) Praxisformen zu verbinden oder gar in ihnen aufgehen zu lassen. Geleitet werden die Künstler und Bohemiens dabei von der Absicht, die herrschenden Verhältnisse zu durchkreuzen, den Spießer zu schockieren, den Mainstream subkulturell herauszufordern, die Normalitätserwartungen zu enttäuschen, das Gewohnte zu verfremden, vom Geregelten abzuweichen, sich ins Offene zu begeben, Widerstand zu wecken, für Kontroversen zu sorgen, das Verständliche fragwürdig erscheinen zu lassen, das Natürliche als künstlich Gemachtes zu entdecken, das Selbstverständliche als zwanghafte Konvention zu entlarven, Eindeutiges durch Mehrdeutiges zu ersetzen, sich kommerziellen Anforderungen zu widersetzen, für Verwirrung zu sorgen, Fragen aufzuwerfen, keine fixen Antworten zu liefern, Muster zu zerbrechen, über sich selbst hinauszugehen, sich über Nützlichkeitserwägungen hinwegzusetzen, für Dissonanzen zu sorgen, das Unerwartete zu tun – und derlei Formeln mehr aus dem Handbuch des modernen Kreativen.6 Bei all diesen Operationen kann man an Sabotage in metaphorischem Sinn denken: Kaputt gemacht oder sonst wie außer Kraft gesetzt oder gestört werden Vorgehensweisen und Eigenschaften, die man in der jeweiligen Situation oder vom jeweiligen Produkt ausgesprochen oder stillschweigend erwartet. ‚Man‘, das sind in all diesen Fällen Personengruppen oder Institutionen, welche die modernen Kreativen als mögliche bzw. herauszufordernde Rezipienten, Kommunikationspartner oder Abnehmer im Blick haben. Dies gilt erst einmal unabhängig davon, ob solche Rezeptionen, Gespräche, Käufe, Gebrauchsweisen im Einzelnen tatsächlich stattfinden; oftmals geschieht das gar nicht. Aus Sicht aller einzelnen modernen Kreati-

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Vgl. Plumpe 1995.

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ven ist die Annahme dennoch häufig vollkommen vernünftig und sinnvoll, weil sie nicht nur eine realistische Angabe treffen wollen, sondern a) auf breite Rezeption hoffen und (noch wichtiger) b) sich von einer breiteren Erwartungshaltung, einer weithin durchgesetzten Auffassungsweise betroffen fühlen und eingeschränkt wissen. Darum tun sie ihr Mögliches, um gegen sie anzurennen und sie zu verändern. Selbst wenn sie nicht einmal die Hoffnung hegen, sie in größerem Maße oder auch nur ansatzweise verändern zu können, wollen sie sie zumindest unterlaufen und enttäuschen, um ihren eigenen Maßstäben künstlerischer Nonkonformität, kreativer Ruhelosigkeit zu genügen. Das passiert auf vielerlei Weise, wie jeder noch so flüchtige Blick in die Geschichte der Künste beweist: Durch die Hinwendung zur Abstraktion oder zum Camp-Geschmack, durch detaillierte naturalistische Beschreibungen, atonale Musik, Geräuschmusik, kühne Metaphern, Publikumsbeschimpfungen, durch den Einsatz der Sprache in ihrer Materialität als Laut oder grafisches Element (nicht zum Zwecke der bedeutsamen Verständigung), durch die Ausstellung hässlicher oder unbearbeiteter Stücke, durch Genremischungen, offene Enden, moralische Tabubrüche, subjektive oder unbewusste Expression usw. usf. All das ist von Künstlern u.a. deshalb betrieben worden, um herrschende Haltungen und Anforderungen zu verletzen. Die Sabotage (in metaphorischem Sinne) bestand darin, nicht das zu tun, was von einem direkt verlangt worden war oder von dem die jeweiligen Künstler glaubten, es werde von ihnen erwartet. Die Sabotage bestand fast nie darin, die braven, schönen, verständlichen, harmonischen, moralisch unanstößigen, genregemäßen, geschlossenen, veredelt realistischen Kunstwerke zu zerstören oder deren Produktion durch Schädigungen der Druckerpressen, Museumssäle, Verlagsräume etc. zu verhindern. Sie bestand darin, Alternativen anzubieten. Wurde das Angebot abgelehnt, ließ man nicht ab, sondern suchte nach anderen Veröffentlichungsorten und -wegen: Kam man z.B. nicht in die Akademieausstellung, stellte man in der flugs gegründeten Sezession aus. Durch diese Art der Sabotage, so hofften manche der Sezessionisten, werde der alte Geist, die alte Kunstauffassung beschädigt, damit auch auf längere Sicht die herkömmliche Kunst bzw. ihre Herstellung verringert. Die (ver-

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suchte) Sabotage galt im Regelfall nicht Dingen, sondern bis dahin durchgesetzten Kunstansichten und eingeschliffenen Verhaltensmustern.7 All dies kann in die Vergangenheitsform gesetzt werden, weil seit ungefähr einem halben Jahrhundert in den westlichen Staaten solche Sabotageakte im Kunstbereich weitgehend überflüssig geworden sind. Die Hoffnungen der Sezessionisten haben sich erfüllt. Nachdem sie manches persönliche Opfer gebracht und viele Widerstände überwunden hatten, konnten teilweise noch sie selbst und vor allem ihre Nachfolger in den westlichen Ländern enorme Erfolge feiern. Sie sitzen in den heutigen Akademien, sie werden staatlich gefördert, in öffentlich-rechtlichen Kultursendungen vorgestellt, ihre ästhetizistischen, formalistischen, naturalistischen, abstrakten, unverständlichen Werke werden an den Universitäten analysiert und in Museen, Theatern, Literaturhäusern präsentiert. Für diejenigen unter ihnen, die im Namen unbedingter Modernität, radikaler Experimentierfreude angetreten sind, muss das allerdings streng genommen ein Problem darstellen. Konsequenterweise sollten sie heute zum bürgerlichen Realismus, zum goldenen Schnitt, zur Harmonie zurückkehren (und das nicht nur in Form des Pastiche), um den ihrerseits mittlerweile zum Programm gewordenen Anschauungen der modernen Kreativen nonkonform zu begegnen. Nur so (oder auf vergleichbaren Wegen) könnte im Bereich der staatlich geförderten Kultur und der hochpreisigen Galerienkunst für Abweichung gesorgt werden. Nur so könnten die inzwischen fest institutionalisierten Erwartungshaltungen modernistischer Avantgarde sabotiert werden. Es gibt jedoch noch eine andere Möglichkeit; mit ihr kehren wir an den Beginn dieses Kapitels zurück, zu den Leuten, denen das Dichten, Malen, Theoretisieren nicht mehr genügt, die sich nicht länger darauf beschränken wollen, Werke zu verfertigen, die dann (wenn überhaupt) von anderen einzeln und still rezipiert werden. Diese Abneigung gegen Werkkunst und kontemplative Aufnahme prägt bereits alle Avantgarden zu Beginn des letzten Jahrhunderts.8 Wegen der Musealisierung und akademischen Beachtung auch ihrer Werke (selbst wenn sie mitunter als Anti-Werke konzipiert waren), wegen der überragenden Stellung der Avantgarden als Richtung und einzelner Avantgardisten (Duchamp, Breton, Majakowski etc.) als

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Vgl. Kreuzer 1968/1971.

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Vgl. Plumpe 1995.

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Autornamen, als anerkannte Genies im institutionalisierten Hochkultursektor muss sich diese Abneigung noch verschärfen. Zumindest sollte jedem heutigen Avantgardisten in der Tradition von Dadaismus, Surrealismus, Pop-Art, Fluxus usf. klar sein, dass er mit seinen Collagen, Lautgedichten, Siebdrucken nach Werbemotiven, Fundstücken, obszönen Inhalten oder immersiven Schockformen, aleatorischen Kompositionen, postmodernen Genremischungen, surrealen Erzählungen oder Traumniederschriften bei Lektoren angesehener Verlage, bei Redakteuren von Kultursendern, kulturwissenschaftlichen Professoren, Kuratoren, Galeristen, Feuilletonmitarbeitern, aber auch bei den Hören und Lesern entsprechender Sendungen, bei Museumsbesuchern und Theaterzuschauern fast nie auf Entsetzen und Verwirrung, sondern auf freundliche Resonanz oder gepflegte Langeweile stößt. Das einstmalige Anliegen, mit bestimmten Artefakten, welche die damals vorherrschenden Ansprüche an ein ordentliches Werk sabotierten, die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufzuheben, muss deshalb zumindest innerhalb des Bereichs institutionalisierter Kunst und Kunstvermittlung als gescheitert angesehen werden. Die Zufallswerke, Improvisationen, Kritzeleien, Montagen aus (anonym) Vorgegebenem, Sabotagen und Parodien von Vorlagen, Reproduktionen, Aneinanderreihungen, interaktiven Medienobjekte, Sinnesüberwältigungen, Laut- und Graphem-Materialitäten und -‚Konkretheiten‘, Collagen, Aufzeichnungen, Kollektivproduktionen, Fragmente, Dokumentarromane, Gebrauchsgegenstände, unausgeführten Konzepte, Fundstücke (also all das, was einem älteren bildungsbürgerlichen Werk-Begriff zuwiderläuft) werden innerhalb des institutionalisierten Kunstsektors mittlerweile routiniert als Kunstwerke ausgestellt und innerhalb dieses Rahmens andächtig oder beiläufig rezipiert.

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AUS AVANTGARDISTISCHEN

K REISEN

Deshalb haben einige der Nachfahren der historischen Avantgarden der 1910er und -20er Jahre darauf gedrungen, noch radikaler zu agieren. An Stelle der (einstmals) ‚unbürgerlichen‘ modern-entgrenzten Kunst, die ihren Platz mittlerweile zuverlässig in Büchern, Konzertsälen, Museen, Akademien besitzt, sollen nach ihrem Willen intensive Aktionsformen treten, die sich außerhalb der genannten Institutionen ereignen und mitunter von diesen nicht einmal im Nachhinein als Objekte dokumentiert werden können.

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Was die historischen Avantgarden bereits in Manifestform vorformuliert und zum Teil bereits auch durchexerziert haben, das soll jetzt in Reinform praktiziert werden (ohne den Fehler der historischen Avantgarden zu begehen, doch jede Menge an Zeichnungen, Partituren, Gedichten anzufertigen und zu hinterlassen). Durch solche Bemühungen bekommt die Sabotage wiederum einen hohen Rang zugewiesen – nun allerdings in materiell zerstörerischem Sinne. Die Sabotage befindet sich bei situationistisch-anarchistischen Anhängern der Futuristen, Dadaisten, Surrealisten in gewaltverherrlichenden Programmen wieder, die wie bei den Guerilleros neben der Sabotage auf (terroristische) Attacken und auf anfänglich spontane Widerstandshandlungen der breiteren Bevölkerung bauen. Die englischen „Heatwave“-Autoren z.B. werden in den 1960er Jahren nicht müde, Futurismus, Dadaismus und Surrealismus vom Ruch der Werkkunst befreien zu wollen und sie auf einen revolutionären Lebensstil festzulegen. Ganz in diesem Sinne verurteilt „Heatwave“ immer wieder die modernen Galerie-Happenings mit ihren passiven Zuschauern und stellt ihnen die Aktionen und den „künstlerischen Vandalismus“ der frühen holländischen Provos entgegen; der „Aufruhr“ (riot) ist für sie eine populäre Kunst- und Politikform zugleich, die alle Hierarchien und Vermittlungen überwindet.9 Als modernisierte Version von „DADA“ tritt eine andere situationistische Gruppierung, die amerikanischen Motherfucker, 1968 nicht nur für die freie Liebe in der Öffentlichkeit ein. Ausdrücklich betonen sie auch, dass sie die Straße nicht einnehmen wollen, um ihre liberalen Rechte der Redeund Versammlungsfreiheit auszuüben. Forderungen sollen nicht erhoben, sondern im kämpferischen Vollzug gelebt werden. Liest man solche Aussagen zur befreienden Kunst des Aufruhrs, wird man angesichts der avantgardistischen Historie sicherlich geneigt sein, sie als Übertreibungen und Angebereien bzw. als papierene Konsequenzen jener Intensitäts-Maximen aufzufassen, die zwar mit aller Macht auf eine Aufhebung des Unterschieds von Kunst und Leben abzielen – auf Exzess, Dehierarchisierung, Gegenwartserfahrung, Unvermitteltheit –, vor der revolutionär-exzessiven Ausagierung solcher Maximen letztlich aber zurückschrecken und es bei der Hoffnung auf ihre alltäglichen, von künstlerischen

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Gray/Radcliff [1966] 2000, 49.

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Techniken der Verfremdung und Bedeutungsaushöhlung bestimmten Events und Szenen belassen. Genau deshalb schreiben die Motherfucker ausdrücklich nieder, auf einen „wirklichen (nicht einen metaphorischen) Guerillakampf“ zustreben zu wollen (Übersetzung T.H.). Von anderen linken Theoretikern und Künstlern grenzen sie sich ab, indem sie sich selbst gleich als „Saboteure“ ausgeben. Und um jedem Missverständnis vorzubeugen, dass sie es ernst meinen, koppeln sie die Sabotage sogleich an den Terror: „Well, who are the saboteurs and the terrorists??? We are. All of us who will sabotage the foundations of amerika’s fucked up life; all of us who strike terror in the heart of the bourgeois honkies and all their armchair bookquoting jive-ass honky leftists/white collar radicals [...]“10

S ABOTAGE

UND

S UBVERSION

Die „armchair bookquoting jive-ass honky leftists/white collar radicals“ haben dem Furor radikaler Sabotage- und Terror-Aufrufe (die ja selbst, wie auch im Falle der Motherfucker, oftmals nur auf dem Papier und darum dem „bookquoting“ sehr nahe stehen) ein wichtiges Argument entgegenzusetzen: Dass es wichtiger sei, gegen eingeschliffene Normalitätsvorstellungen und herrschende Wertsetzungen anzugehen, als Maschinen, Leitungen, Büroräume zu beschädigen. Genau aus diesem Grund sind bereits nicht wenige der modernen Kreativen und ihrer Anhänger der Meinung gewesen, dass die künstlerischen Experimente einen hochgradig politischen Charakter besäßen: Die Enttäuschung traditioneller künstlerischer Erwartungen befördert nach ihrem Urteil bzw. ihrer Hoffnung antiautoritäre Dispositionen insgesamt. Von Anarchisten, Libertären, Linkskommunisten, Vertretern der Frankfurter Schule bis hin zu Poststrukturalismus- und Queer-Verfechtern haben vielerlei Richtungen ihre Begeisterung für Kafka, Grosz, Picasso, Warhol, Zappa, Stockhausen, Godard, Dylan, Antony Hegarty etc. nicht zuletzt aus dieser Quelle einer Politik der Form gespeist: Kunst solle gerade nicht bestimmte Botschaften verkünden, die man politisch für richtig halte; wahre antiauto-

10 Berkeley Commune, Up Against The Wall/Motherfucker 1971, 156.

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ritäre politische Kunst bestehe vielmehr darin, dank offener, experimenteller Formen freiheitliche Haltungen zu stärken oder zu schaffen. Zwar ist innerhalb der künstlerisch-experimentellen Szenen von dieser unterstellten Wirkung mitunter wenig zu merken; stattdessen trifft man dort nicht selten auf Intoleranz und Ausgrenzung, Missmut und Doktrinarismus, Eifersucht und Neid, Egoismus und Chauvinismus. Dies hat aber die Künstler selbst und vor allem ihre Anhänger nie daran gehindert, an die (mikro-) politisch vorteilhaften Züge der kreativ entgrenzten Aktionen und Werke zu glauben. Nur auf eine Politik der künstlerischen Form wollen sich die meisten der Boheme- und Akademie-Sozialisten und -Libertären dennoch nicht verlassen, auch nicht auf den avantgardistischen Totalversuch, Kunst und Leben miteinander zu verschmelzen. Ihre Absicht ist es (in Analogie zu vielen künstlerischen Grenzüberschreitungen, Sinnauflösungen, Kommunikationsverweigerungen, Verfremdungen), in speziellen, anderen alltäglichen und institutionellen Zusammenhängen hergebrachte Anforderungen zu unterlaufen. Vielerlei Handlungen und Gesten, die außerhalb der Bahnen und Orte offizieller Politik in Parlamenten und Parteibüros, in Ministerien und Botschaften erfolgen, gelten ihnen im Sinne ihres antiautoritären Ansatzes sehr wohl als politisch. Sei es Ironie oder Respektlosigkeit, die Befragung des scheinbar Selbstverständlichen oder die Antwortverweigerung, sinnliche Opulenz oder asketische Zurückhaltung, Unhöflichkeit oder überschäumende Freundlichkeit – sie alle sollen einen Beitrag dazu leisten, das jeweils Geforderte oder stillschweigend Vorausgesetzte nicht hinzunehmen und seine Macht zu brechen oder zu schwächen. In metaphorischem Sinne kann man hier wieder von Sabotage sprechen – von einer Sabotage herkömmlicher Verhaltensanforderungen und Sprachmuster. Die Metapher wird aber nicht allzu häufig dafür verwandt. Beliebter ist in diesem Zusammenhang der Begriff der ‚Subversion‘. Einstmals die Bezeichnung für politisch-revolutionäre Kräfte, die im Verborgenen auf einen gewaltsamen Umsturz hinarbeiten, ist ‚subversiv‘ mittlerweile zu einem vieles umfassenden Begriff geworden.11 In der Nachkriegszeit wurde der Ausdruck von Mitgliedern der Exekutive zwar immer noch hauptsächlich verwandt, um Leute zu bezeichnen, die im Staat oder sogar im Staatsapparat gegen die staatliche Ordnung auf (halbwegs) verdeckte Weise arbeiteten

11 Vgl. Ernst 2008.

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(‚subversive Elemente‘). Den reaktionären staatlichen Vertretern und deren Anhängern galt als subversiv nun aber bereits so ziemlich alles, was von ihren Ordnungsvorstellungen abwich. Dazu rechneten sie keineswegs nur kommunistische Umtriebe, sondern beinahe gleichrangig auch jene Bestrebungen und Handlungen, die nicht auf einen Umsturz des herrschenden Regimes hinarbeiteten: die Taten und Werke von Humanisten, Satirikern, Sonderlingen, Perversen, Avantgardisten. Das alles zählt seit den 1970er Jahren in den westlichen Staaten zur Vergangenheit. Seitdem gehört es zum guten Ton innerhalb der Führungsschichten, auch außerhalb des Kunstbereichs ein gutes Wort dafür einzulegen, nicht ganz normal, kreativ, nonkonform, abenteuerlustig, jedenfalls nicht spießig zu sein. Jetzt wird der Subversions-Begriff nur noch von den kreativen Modernen und den ihnen zugehörigen geistes- und kulturwissenschaftlichen Akademikern selbst gebraucht. Ironischerweise verwenden sie den Begriff nun auf genau dieselbe Weise wie ihr alter, kaum mehr vorhandener Kontrahent: auf möglichst weite, diffuse Weise – in der Annahme (oder mit der vagen Hoffnung), dass humanistische, sonderbare, queere, nonkonforme, spielerische Verhaltensweisen irgendwie gegen die bestehende Ordnung gerichtet seien und mithülfen, sie in größerem Maßstab zu verändern. Als subversiv (seltener als Akte der Sabotage) gelten unter den durch die Schule des Poststrukturalismus und der Cultural Studies Gegangenen auch alternative Lesarten herrschender Botschaften, unvorhergesehene Gebrauchsweisen kulturindustriell hergestellter Produkte.12 Auf einige wenige direkte Formen der Sabotage kann dieser Ansatz auch verweisen; beliebt sind besonders Verfremdungen, Umarbeitungen – aus Sicht der Werbetreibenden meistens: Verschmutzungen, Zerstörungen – von Werbebotschaften und -tafeln.13 Verklebte Sitze, verrammelte Türen, clowneske Aufführungen, Zwischenrufe und Trillerpfeifen, die dazu beitragen sollen, dass offizielle Veranstaltungen nicht durchgeführt werden können und an deren Stelle die Diskussion alternativer Entwürfe treten, kommen an der Universität und in manchen Redaktionsstuben oder Kunsträumen auch noch manchmal vor – spektakulär abgelöst mittlerweile häufig von der mit ähnlichen Zielen versehenen Variante des Hacking. All diese Sabotageakte besitzen den Vorteil, für diejenigen, die vor Ort sind oder auf

12 Siehe Ernst u.a. 2008. 13 Zur Methode vgl. Ort 2011.

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die entsprechende Website gelangen wollen, unmittelbar wahrnehmbar zu sein. Ob die Wirkungen solcher Sabotagen über den Moment hinausreichen, ist damit natürlich noch nicht gesagt. Immerhin können ihre Urheber aber sicher sein, auf Widerstand zu stoßen. Sie verstoßen gegen Strafrechtsparagrafen oder zumindest gegen die Hausordnung; Strafbefehle (manchmal auch Strafen) oder Verweise dienen als unzweideutiger Beleg für ihre Sabotagearbeit. Bei den Anhängern der Subversion hingegen gibt es nur die Hoffnung, mit dem Verstoß gegen den unterstellten hegemonialen Diskurs einen kleinen Beitrag dazu geleistet zu haben, die mit diesem Diskurs verbundene Ordnung aufzulösen.14 Das hat zwar den Vorteil der Unüberprüfbarkeit – ob die von ihren Urhebern als solche ausgegebenen ‚subversiven‘ Taten tatsächlich einen Beitrag zur Störung oder langfristig gar zur Beseitigung des bestehenden Systems leisten, ist schwerlich festzustellen –, gerade dieser Vorteil kann sich jedoch in einen schwerwiegenden Nachteil verwandeln, wenn trotz vieljähriger, besonderer subversiver Bemühungen keine Änderungen im Großen und Ganzen sichtbar werden. Enttäuschung oder die rückblickende Diagnose, im Irrtum gewesen zu sein, falsch gehandelt zu haben, bilden nicht selten das Ende der Subversionsansätze der letzten Jahrzehnte. Im Kunstbereich, aus dem heutzutage die meisten Versuche oder zumindest Absichtserklärungen stammen, subversiv oder gar sabotierend wirken zu wollen, ist solche Enttäuschung freilich oft mit beachtlichem, vorhergehendem Erfolg verbunden. Weil manchmal immer noch nicht recht erkannt wird, dass heutzutage von den Kulturinstitutionen Abweichung gerne prämiert wird, mögen die durchgeführten Subversionen und Sabotagen, die innerhalb oder in Reichweite von Akademien, Galerien, Theatersälen etc. stattfinden, gut (bzw. schlecht) gemeint sein, ihr wirklicher Status ist jedoch ein vollkommen anderer. Subversionen und Sabotagen stellen tatsächlich ein Schmiermittel des heutigen Kunstsystems dar, sie wirken weniger störend als belebend, sie tragen auf mindestens mittlere Sicht zum Funktionieren entscheidend bei. Alle signifikanten Sabotageversuche des Kunstbetriebs finden sich über kurz oder lang zuverlässig in seinem kanonisierten Bestand sowie in den Rubriken der Kunstzeitschriften und in den Schriften der Geisteswissenschaftler wieder. Für Verwirrung oder Empö-

14 Ausführlich dazu Kleiner 2005.

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rung sorgen sie momentan allenfalls noch, wenn Boulevardmagazine oder Parteiführer mit ihrem der modernen Kunst fernen Publikum sich solcher Sabotagen annehmen. Weil dies aber kaum noch geschieht, tragen sie zumeist zu gar keiner Störung mehr bei.

S ABOTAGE

UND

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Deshalb ist es nicht vollkommen verwunderlich, wenn künstlerisch inspirierte Saboteure auf die Idee verfallen, ihre subversiven oder militant störenden Aktionen im Feld der medialen Massenkommunikation und insbesondere im Pop-Bereich durchzuführen.15 Gerade der Pop-Sektor zeichnet sich dadurch aus, zwar häufig Publika abseits der offiziellen Kunst zu erreichen, aber dennoch nicht vollständig konforme, hegemonial gänzlich durchdrungene Schichten zu versammeln (um einmal den begriffsgeschichtlichen Unterschied aufzunehmen, der darin besteht, in und ab den 50er Jahren angesichts von Elvis, Brando, Science-Fiction-Heften, bunten Illustrierten, Imagewerbung nicht mehr nur von „popular culture“, sondern auch von „pop“ zu sprechen). Der frühe Akzent von Pop auf Jugendlichkeit macht die mögliche Differenz von Pop zu den erwachsenen Hütern der Routine und der institutionell durchgesetzten und befestigten Anschauungen deutlich. Auf die konservative Sorge vor den Halbstarken der 50er Jahre folgt die politische Hoffnung der Kulturrevolutionäre der 60er und 70er Jahre: Dass die Jugendlichen die erwachsene Ordnung nachhaltig sabotieren. Ihre Macht reicht z.B. für den Manager/Sprecher der MC5 an diejenige heran, die aus den Gewehrläufen kommt: „We don’t have guns yet – not all of us anyway – because we have more powerful weapons: direct access to millions of teenagers is one of our most potent, and their belief in us is another. But we will use guns if we have to – we will do anything – if we have to.“16

15 Vgl. Marcus 1989. 16 Sinclair [1968] 1972, 104f.

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Bereits am Ende der 1960er Jahre bemerkt aber eine Reihe der Sabotagewilligen, dass es mit dem Rebellentum in der jugendlichen Popkultur nicht weit her ist: Rebellion dürfe nicht mit einem Freizeitvergnügen, einem Samstagnachtphänomen und auch nicht mit einer Liberalisierungswelle verwechselt werden, die wohl überkommene konservative Werte beseitige, die Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse jedoch befördere. Auf die Kritik am Kommerzialismus und Konsum folgt rasch die Kritik an solchen Formen der Popkultur, die mit ihrer Lebendigkeit und ihrem flexiblen Abweichlertum als Blaupause für neoliberal entgrenzte Arbeitsverhältnisse dienten. Im vorliegenden Band werden die Argumente mit vielen Hinweisen auf die aktuelle Situation von Marcus S. Kleiner zuverlässig ausgebreitet und zugespitzt. Das größte Augenmerk gilt – wie früher bei manchen neulinken Theoretikern und Sprechern der außerparlamentarischen Opposition – dem Umstand, dass der Gegensatz von Mainstream und Underground nicht mit dem von Kapitalismus und einer irgendwie gearteten sozialistisch/ anarchistisch/radikaldemokratisch, in jedem Fall latent oder manifest antikapitalistischen Bewegung zusammenfällt. „Oppositionelle Haltungen werden nicht verfolgt, sondern vermarktet. Erst, wenn sie nicht mehr vermarktbar sind, wären sie wirklich subversiv bzw. gegenkulturell“, hält Kleiner fest. Ob dieser Kritikpunkt ins Schwarze trifft, ist teilweise zweifelhaft. Erstens muss Kommerzialisierung nicht automatisch Verwässerung bedeuten. Anders als über den Markt (zumal den Medienmarkt) lassen sich heutzutage auch zutiefst oppositionelle Kritikpunkte nicht verbreiten; dass Unternehmer damit Geld verdienen (wollen), bedeutet keineswegs, dass die von ihnen einer breiteren Konsumentenöffentlichkeit bekannt gemachten und zum Erwerb bereitgestellten Gegenstände und Botschaften dadurch ihre Kraft verlieren. Im Gegenteil, erst dadurch können sie in demokratischer Hinsicht an Impetus gewinnen. Dies kann man gerade an der 68erBewegung studieren, die als kleiner Zirkel von sektiererischen Studenten begann und in kurzer Zeit nicht zuletzt mithilfe dieser Popmedien und in Warenform angebotenen Produkte eine eindrucksvolle, beinahe hegemoniale Wirkung erlangte. Zweitens spricht gegen die allzu schnelle Verabschiedung der Pop-Rebellionen, dass die neoliberalen Politiker und Intellektuellen im Zuge ihrer machtvollen Wiedergewinnung öffentlicher Meinungsführerschaft – bei ihrer erfolgreichen Kampagne für den Abbau des Sozial-

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staats und die Deregulierung des Arbeitsmarktes – kaum Pop-Bezüge ins Feld führten. Richtig bleibt aber natürlich der Befund, dass den hedonistischen, zerstreuten oder intensiven Pop-Ansätzen zur Sabotierung des ordentlichen Betriebs in Schulen und Betrieben keine entscheidende politische, verändernde Kraft innewohnte. Nicht wenige der Künstler, Theoretiker und feuilletonistischen Propagandisten der Pop-Subversion – die im Unterschied zu Kleiner den beachtlichen reformistischen Liberalisierungen, die mit den Pop-Rebellionen untrennbar verbunden sind, keinen Wert zubilligen – haben sich deshalb vom großen Pop-Bereich wieder verabschiedet (oder ihn erst gar nicht betreten). Stattdessen bauen sie bloß auf Formen, Gruppen und Szenen im Pop-Sektor, die einigermaßen avantgardistische Züge tragen – die auf autorlose Reproduzierbarkeit oder auf hoch originelle Abweichungen setzen, auf Atonalität oder extreme rhythmische Wiederholung, auf ausgetüftelte Hybridität oder forcierte Glätte und Oberflächlichkeit. Mit dieser Konzentration können sie zwar häufig tatsächlich einen sehr starken kommerziellen Zugriff und den Erfolg bei einem großen Publikum, das standardisiertere (oder anders standardisierte) Werke erwartet, verhindern, nicht vermeiden können sie jedoch, dass sie dadurch in die Nähe des institutionalisierten Kunstbereichs mit seinen anderen Erwartungen des Nonkonformen, Experimentellen, Störenden rücken – womit alle Hoffnungen auf eine größere, umwälzende Wirkung von Sabotagehandlungen schon wieder gegenstandslos sind. Damit wären wir wieder beim Problem der subversiv wirken wollenden, sabotierenden Kunst angelangt – bei der heutigen Schwierigkeit, ja tendenziell Unmöglichkeit, im Feld der westlichen Kunst für erkennbare oder nachhaltige Störungen zu sorgen. Selbst im Falle, dass Zuschauer bei einer Performance nicht nur brav herumstehen und ruhig zugucken, es bleibt doch immer ein Kunstereignis, spezielle Räume, besondere Reihen, besondere Privilegien, sogar (Verfassungs-)Rechte, mittlerweile auch gepaart mit weitgehender Ignoranz vonseiten jenes tendenziell kunstfeindlichen, antimodernen Publikums, das sich noch über Aktionen in solchen Kunsträumen empören könnte und dadurch erst den Titel „Störung“ oder gar „Sabotage“ rechtfertigte. Erst von dem Augenblick an, wo man Arbeitsteilung und Redeordnung aufheben würde, ergäbe sich eine – freilich tendenziell totalitäre – Belastung der Liberalität und ein Ende der Toleranz oder Ignoranz: als Staatsan-

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walt in der Klageschrift dichten; der Metzger, der aktionistisch agiert; als Versicherungsmathematiker dem Prinzip der Aleatorik folgen; die Magisterarbeit nach expressionistischen Kriterien beurteilen. Auch wenn solche Konsequenz oft wohl kaum wünschenswert scheint, es bleibt die Schlussfolgerung, dass jeder, dessen Arbeit einer Verwirrung der Ordnung gilt, prinzipiell nicht unter der Berufsbezeichnung ‚Künstler‘ auftreten sollte. Nach der Logik (einer vielleicht doch witzigen Alltagskomödie) müsste er in die Rolle des Staatsdieners, des Angestellten nicht nur zeitweise schlüpfen; es wäre interessant zu beobachten, wie lange man ihn gewähren ließe und was es für Folgen hätte. Die Hinwendung zu Pop-Formen geschah und geschieht teilweise aus dieser Absicht heraus: mit modernen künstlerischen Mitteln und Zielen in einen öffentlichen Bereich hineinzukommen, der kein Kunst-Reservat bildet. Sie fand und findet ihren Grund auch in der Absicht, mit ihrer Hilfe in die Kulturstätten einzudringen und ihre Abläufe durcheinanderzubringen: Dass Lärm vom Tanzschuppen oder dem Motorradclub in die Oper hineinschallt, in abstrakte Malerei Werbeflächen fremd hereinragen, traditionell als hoch erachtete Literatur sich ein Beispiel an den Vertüfteltheiten mancher Science-Fiction-Hefte nimmt, Filmnarration von Videoclipmontagen zerschnitten wird usf. Nun ist auch das seit den Tagen der Pop-Art und Postmoderne schon wieder längst Geschichte und nach wie vor gängige Praxis, deshalb kann auf breiter Grundlage Bilanz gezogen werden. Sie fällt, gemessen an den Ansprüchen der Störung und Sabotage, wiederum negativ aus. Die Kunstinstitutionen haben das alles bestens verkraftet, ohne auch nur ansatzweise von ihrer Fixierung aufs Werk und auf die passive, kontemplative Rezeption abzurücken. Und eine Änderung kapitalistischer Ordnung oder eine Erweiterung der Demokratie in Richtung allgemeiner Partizipation und größerer Gleichheit kann man nach solchem ‚Angriff‘ des Poppigen auf die hergebrachte Kunst wirklich nicht verzeichnen. Deshalb bleibt es für jene Verfechter der Sabotage, die endlich von den Pseudo-Sabotagen innerhalb des Kunstbereichs wegkommen wollen, hochgradig attraktiv, in Sendungen und Arenen des Pop- und Massenkommunikationssektors – wenn sie denn von massenkultureller Bedeutung sind – mit Störungen publik zu werden.17 Das wichtige Meisterschaftsspiel unterbre-

17 Siehe: Autonome A.F.R.I.K.A.-Gruppe u.a. 2001.

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chen, indem beim Pfostenschuss die vorher manipulierten Tore zusammenfallen; das Gerücht in den Medien streuen, Trinkwasser sei mit LSD angereichert worden; das Playback der Lady-Gaga-Show nutzen, um ihre Abertausenden Fans mit Nonsense-Gedichten zu beschallen; in der Live-TVShow jede Antwort verweigern und lange Schweigemomente entstehen lassen – das mögen solche Aktionen sein, die größere Wirkung zeigen und nicht gleich als Kunstexperimente wegerklärt werden können; noch eindeutiger technische Sabotagen, die das Konzert, die Übertragung oder die‚ ganze kulturindustrielle Maschinerie‘ zum Abbruch, zum Stillstand bringen. Daniel Buren war mit seinem „Störungs“-Bild zumindest vom Prinzip her schon recht nah an solchen Sabotagen. Die Ausstrahlung im ARDProgramm bescherte der „Störung“ ein immenses Publikum. Die verbleibende Unsicherheit, ob die Einblendung der offiziellen „Störungs“Bekanntmachung auf einen künstlerischen Pop-Art-Urheber verwies oder auf einen technischen Defekt oder gar auf einen Anschlag zurückging, blieb trotz des Rahmens der Kunstsendung für den Betrachter unumgänglich erhalten. Als kurzes, für sich allein stehendes Intermezzo konnte die „Störung“ dennoch keinerlei Kraft entfalten. Mit dem gewonnenen Status als Kunstwerk, von dem bis heute die Archivierung und Ausstellung in Museen zeugt, mag sie allenfalls als Ansporn für Künstler und Kunstrezipienten dienen, es nächstes Mal besser zu machen. Die Irritationslosigkeit solch potenziell radikaler Kunstfreunde, ihr Einverständnis mit der „Störung“, wäre dann, leicht paradox, die Voraussetzung dafür, die anderen, die es mit ihren Ordnungssystemen zu sabotieren gilt, in Zukunft zu irritieren und aufzustören.

W ISSENSCHAFTLICHE B ETRACHTUNG DER S ABOTAGE IN DIESEM B AND Die Wissenschaften führen selber keine Sabotagen durch, sie können jedoch sehr viel zu ihnen beitragen, sei es nun, dass sie Computerviren entwickeln, die Zentrifugen zerstören, oder sei es, dass sie empirische oder strategisch-taktische Untersuchungen zu den Bedingungen und Erfolgschancen von Guerillaaktionen anstellen.

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Im weicheren Sinn von ‚Sabotage‘ überlassen sie die Anwendung ihrer Ergebnisse allerdings nicht Technikern, Militärs, irregulären Kämpfern oder Geheimdienstleuten. Wenn man das überhaupt noch Sabotage nennen möchte, besteht sie darin, mit ungewohnten Beobachtungsperspektiven Denkkonventionen zu stören. Solche Verfremdungsleistungen und Angriffe auf etablierte Sprachspiele, Klassifikationsweisen und/oder Mythen nehmen die meisten Wissenschaftler ganz bewusst vor. Hier ist die Veröffentlichung der Ergebnisse bereits ein Teil der Sabotage (entscheidend ist natürlich, dass die Ergebnisse, Begriffe und Perspektiven von NichtWissenschaftlern übernommen und verbreitet werden, sonst bleibt es beim ‚Sabotage‘-Versuch). Auffällig am vorliegenden Band ist die überwiegende Konzentration auf Sabotageakte im sehr weiten, metaphorischen Sinn. Etwas kaputt gemacht, eine Leitung gekappt, eine Seite gehackt wird in ihm selbstverständlich nicht – dazu eignen sich Bücher schwerlich, auch wenn dieses Buch ja wohl von einem Künstler/Grafiker ‚sabotiert‘ werden soll, wie man mir vor Manuskriptabgabe mitteilte (ich wusste also, worauf ich mich einließ, hoffe dennoch, mein Beitrag ist davon verschont geblieben, kann es allerdings nicht kontrollieren; auf die Integrität und Geschlossenheit meines Beitrags lege ich Wert, bei diesem Punkt bin ich vollkommen altmodisch). Es ist aber nicht einmal die Rede von solchen Sabotageakten, die eine Zerstörung oder Blockade von Dingen und Infrastruktur bewirken. Es scheint so, als ob die heutigen Kultur- und Medienwissenschaftler (wenn sie auch, vertraut man der Auswahl in diesem Band, dieselben antiautoritären, machtkritischen Haltungen kultivieren wie ihre Vorgänger der 1960er und 1970er Jahre) der Verbindung von Sabotage und Guerilla nicht mehr nachgehen wollen – bzw. ihnen der Gedanke ganz fremd geworden ist. Wie zum Ausgleich dafür hegen sie jedoch keinen Zweifel mehr (der ihre Vorgänger noch oft beschlich), dass es sich bei kreativen Abwandlungen, einigermaßen unkonventionellen Aneignungsweisen, humanistischen Soll-Hinweisen, medialen Fiktionen um wirklichkeitsmächtige, im Sinne einer tiefergreifenden Änderung bestehender Verhältnisse mittelfristig, kumuliert wichtige Akte handelt. Deshalb nennt man sie gerne ‚subversiv‘. Die Begründung ist von in dieser Szene hoch anerkannten, regelmäßig und pflichtgemäß zitierten Großtheoretikern wie Judith Butler und Homi Bhabha geliefert worden. Ramón Reichert fasst sie in seinem Beitrag zusammen: Damit die Bedingungen der Macht gelten, müssen sie von den

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Subjekten inkorporiert und stetig wiederholt werden, dadurch können sie aber als veränderbar und endlich kenntlich und sogar travestiert und in der Abwandlung beschädigt und umgewidmet werden. YouTube-Taggings z.B. gelten demnach als subversiv, weil (und wenn) sie ihr Potenzial ausspielen, die evidenzstiftende Macht des Videobilds zu unterminieren, ein Potenzial, das ihnen im „offenen und unabgeschlossenen Bedeutungsprozess“ grundsätzlich zuerkannt wird, wenn auch Reichert nicht vergisst, darauf hinzuweisen, dass YouTubes „infrastrukturelle Rahmenbedingungen“ und „technische Vorgaben“ dieses Potenzial einschränkten und es ohnehin fragwürdig sei, „politische Widerständigkeit“ auf (Re-)Signifikationsprozesse zu beschränken. Nicht fragwürdig ist jedoch, dass kultureller (und irgendwie damit verbunden auch politischer) Widerstand gegen die „Macht“ geleistet werden soll. Dem äußerst ausgeweiteten Begriff der Macht und ihrer Subversion entsprechend ist auch das Ziel der Machtkritik und des potenziellen Widerstands von großer Allgemeinheit bzw. äußerster Besonderheit: Wider den Identitätszwang, wider die Bedeutungsfestsetzung, wider das Hierarchische. Zumeist wird es nicht ausführlich erläutert – und schon gar nicht wird über die Konsequenzen für die Organisation einer machtloseren Gesellschaft nachgedacht, nicht einmal eine Anknüpfung an die älteren anarchistischen Modelle findet zumeist statt, in dieser Hinsicht macht sich der Vorrang der Kultur doch bemerkbar. Bei Reichert heißt es (mit Rekurs auf Deleuze/Guattari) abschließend: „Die asignifikanten Diagramme können von den Zeichenregimen zwar verarbeitet, aber nicht integriert werden, weil sie nicht-narrative und asubjektive Repräsentationen darstellen.“ Hier ist anzuerkennen, dass mit solcher Praxis, mit solcherart erreichtem Ziel tatsächlich eine nachhaltige Sabotage üblicher Kommunikation einträte, wenn sie nur von genügend Internetnutzern geteilt würde. Es bleibt allerdings die Frage, wer den Zusammenbruch herkömmlicher Kommunikation außerhalb eines speziell dafür hergerichteten künstlerischen Bereichs tatsächlich will. Es besteht eine eigentümlich große Weite (um nicht zu sagen Leere) zwischen der Maximalforderung aufgelöster Narration und Bedeutung auf der einen und dem aus Sicht der Cultural Studies obligatorischen Hinweis auf der anderen Seite, das „Verhältnis von sozialer Software (YouTube) und Selbstpraktiken (User)“ solle nicht als determinierende Beziehung verstanden werden“, sondern als eine „strategi-

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sche Machtbeziehung, die offen bleibt für ihre Abweichungen oder Veränderungen“ (wiederum Reichert). Letzteres ist nichts anderes als das, was, mit anderem Vokabular, in jedem Verfassungsgerichtsurteil zu Demokratie und Öffentlichkeit auch steht: Partizipation und demokratische Willensbildung ist und muss möglich sein. Ersteres, mit seiner Hervorhebung von „Aneignungspraktiken“, die „sich der Symbolisierung in einem gegebenen Zeichenregime entziehen“, ist dann gleich ganz woanders. Diese Spanne zwischen dem üblichen Aneignen und Herumbasteln und der künstlerisch inspirierten Sinnverweigerung ist nur dann auszuhalten, so meine Vermutung, wenn die Anhänger der radikalen Deterritorialisierung, Dezentrierung, Dekonstruktion selbst nicht ernsthaft annehmen, dass aus Ersterem Letzteres erwachsen könne. Unter anderem deshalb sind diese ‚Asignifikations‘-Formeln empirisch gesehen bislang bloß Topoi, die für Künstler und im Kunstbereich allgemein von Bedeutung sind. Selbst wenn sie oder in ihrem Geist entstandene Werke und Spiele mit der Absicht hervorgebracht werden, über die philosophische Diskussion und den Kunstsektor hinaus zu wirken, ziehen die heutigen Beiträger wesentlich seltener aus dem Scheitern des Versuchs jene Konsequenz, die vor dreißig, vierzig Jahren noch ihre Vorgänger manchmal bestimmte: Den Kunstsektor zu verlassen, die wohlgesetzte Formulierung von Sabotagehoffnungen zu beenden. Darum können heute die Analysen und/oder Hochwertungen der Sabotage und Subversion ganz unbefangen auch an Phänomenen demonstriert werden, die mit der politischen oder aggressiv zerstörerischen Dimension der Begriffe wenig oder gar nichts zu tun haben. Marcus Stiglegger verwendet die Begriffe der ‚Störung‘, ‚Schädigung‘ und sogar der ‚Sabotage‘, um jene zielgerichtete Praxis von Filmemachern, zur Beglaubigung historischer Authentizität ihr modernes Material hinter den Stand heutiger Technik zu bringen, zu kennzeichnen und minutiös zu schildern. Und – weiteres Beispiel aus dem vorliegenden Band – Thomas Düllo hält für „Knallchargen“ wie Theo Lingen die Auszeichnung ‚Sabotage‘ parat, weil für ihn besagte Typen fremd in den Filmen ihrer Zeit stehen (wenn auch das „Chaos und die Leere“, die sie anrichten, nur zwischenzeitlich entsteht, wie Düllo anmerkt, und keineswegs den kompletten Film auszeichnet). Das überzogene, groteske Spiel der Knallchargen sabotiert mit seinem Verfremdungseffekt das auf Expression und Natürlichkeit ausgerichtete Agieren der anderen Schauspieler ebenso wie das narrativ-

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funktionale Gefüge des psychologischen Realismus. Heute seien die Knallchargen „das einzig Erträgliche in diesen Filmen“, hält Düllo fest. Ich kann das und seinen Aufsatz insgesamt nur unterschreiben; die ‚Sabotageakte‘ der Knallchargen, die als komische Effekte in den Filmen der Abwechslung halber fest eingeplant waren, haben demnach für uns auf eine Weise gewirkt, die sich gegen den Rest jener Filme wendet. Aber was folgt daraus? Dass man jetzt die anderen Schauspielarten und Plots nicht mehr sehen möchte, sondern nur noch Knallchargen und Filme, die keiner Realismuskonvention mehr unterliegen? Wohl kaum. Oder anders, weniger normativ klingend, sondern mit Blick auf die Empirie gesagt: Bereits die Tatsache, dass die Knallchargen eine feste Größe in konventionellen Filmen darstellen, zeigt, wie wenig ‚sabotierend‘ sie wirken. „Kaputte Menschen“, unter ihnen sicherlich einige gefallene Knallchargen, rückt uns Holger Schulze eindrucksvoll vor Augen. Vom Penner, Gammler, Hustler, Hippie, irren Weisen, Theken-Philosophen bis hin zum „skurril-kaputten Dandy“ zieht sich die Reihe der „Kaputten“. Sie seien „allesamt Gestalten des Dysfunktionalen, der Disruption und Erratik in einer Welt, die als überfunktionalisiert, als rundlaufend, gutgeschmiert und sinnloses Getriebe gesehen wird.“ Auch Schulze sieht die moderne Welt offenkundig so. Vorstellungen „eigener Ganzheit und gedanklich-körperlicher Integrität“ sind für ihn lediglich „Illusionen“, funktionierende Abläufe bloß Projektionen narzisstischer Machtmenschen, die zwanghaft ihre eigenen Schwächen überdecken und darum die „Kaputten“, denen sie begegnen, gewaltsam verfolgen bzw. zuvor alles tun, um sie von öffentlichen Plätzen auszuschließen, damit solch eine Begegnung sich erst gar nicht ereignet. Schulze plädiert deshalb dafür, die „Kaputten“ auf der öffentlich-medialen Bühne zuzulassen, um bei der (nicht voyeuristischen) Begegnung mit dem kaputten Anderen die eigenen Allmachts- und Reinheitsgelüste zu verlieren: „Die Zerstörung und Ruiniertheit soll bleiben, sie soll sich ausbreiten und tatsächlich als ausweglose gegenwärtig sein: ein ausgehaltener, ein nicht zu heilender Schmerz, eine offene Wunde.“ Sie birgt die Erkenntnis „der eigenen Zerstörtheit, der Desintegration aller idealen und gelingenden Selbstbilder“: „Wir sind ganz Schmerz.“ Die Sabotierung der eigenen abgedichteten Existenz durch die Kaputten wäre dann keine mehr; die Begegnung mit dem Kaputten wäre vielmehr Teil einer Art paradoxen Heilung, die in der Annahme der eigenen Fehlbarkeit bestünde.

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Die Sabotage ist demnach für Schulze kein Wert an sich, wohl aber das Kaputte. Um eine Verringerung des Kaputten geht es ihm gerade nicht. Dass eine noch besser funktionierende Exekutive den Kaputten zumindest mehr Möglichkeiten bieten würde, sich zu versorgen, kommt ihm darum nicht in den Sinn. Dennoch arbeitet Schulze solcher Exekutive ungewollt zu: Aussagen wie die, dass wir hienieden alle gestört und Schmerzens Kreaturen seien, werden in der modernen Ämterwelt, Sozialpolitik und (Pseudo-)Wissenschaft sehr zuverlässig nicht als christliches Bekenntnis aufgefasst, sondern als Aufforderung, mehr psychosoziale Dienste und Inspektionen einzurichten und durchzuführen. Inspektionen, die von der privaten Netzwirtschaft organisiert werden, möchten Daniela Kuka und Klaus Gasteier durchkreuzen. Sie stören sich daran, dass Onlinefirmen einem mithilfe der Auswertung von Klicks auf der Basis algorithmischer Berechnungen sagen, was man wohl für ein Typ ist, welche anderen Gegenstände einem vermutlich gefallen würden und wie man seine Popularität steigern könne. „Wie können wir Meinungen, Präferenzen und Geschmack überhaupt noch ausbilden“, fragen sie besorgt, „wenn uns die Rezeptionsangebote immer schon einen Schritt voraus sind und zu denen wir uns nur noch zustimmend oder ablehnend, love it or ban it, verhalten können? Wie kann noch Neues entdeckt und Abwegiges ausprobiert werden, wenn jede Handlung erfasst, interpretiert und sozial bewertet wird?“ Die Frage ist bereits die Antwort. Sie glauben, man könne dies nicht, der Konformismus werde einem als Maßgabe der Selbstoptimierung erfolgreich nahegelegt. Sie selbst sind natürlich die Ausnahme vom Konformen, deshalb können sie noch Gegenmaßnahmen einleiten. Um die gängige Netzpraxis zu sabotieren, planen sie keine Angriffe auf Rechenzentren, seien es nun Hackeroperationen oder Anschläge auf Server, Ingenieursbüro, Firmenzentralen. Stattdessen haben sie eine Versuchsanordnung entwickelt, in der man spielerisch erlernen soll, in welchen Zwangsapparat die Algorithmisierung des eigenen Lebens führt, und sogleich erproben kann, sich auf eine Weise zu verhalten, auf die die formalisierten Deutungsmuster keinen rechten Zugriff haben: „Interessen simulieren, strategische Freund- und Feindschaften knüpfen, über Umwege (z.B. Freundesfreunde) Nähe zum Feind aufbauen, Handlungen tarnen, Geheimcodes für die Distanzierung vom Selbst etablieren, durch kritische Massenbildung neue Kategorien provozieren, durch diffuses inkohärentes Verhalten Einordnung verunmöglichen“ – das sind eini-

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ge solcher Taktiken einer „Abweichung vom Selbst“, die Kuka/Gasteier „als Sabotage der Struktur des medialen Systems, ohne sie zu verändern oder gar zu zerstören“, empfehlen. Auch dieser Ansatz wird äußerst scharfsinnig begründet und dargelegt, ja, er wird ebenfalls vollkommen kohärent entfaltet; von einem „inkohärenten Verhalten“, zu dem sie den Internetnutzern raten, sehen die Autoren und Autorinnen im Rahmen ihres Aufsatzes vollständig ab. Darin kommen sie mit jenen anderen Beiträgern dieses Bandes überein, die bei aller Sympathie für das Asignifikante, Kaputte, Knallchargenhafte in der Art ihrer Sympathieerklärungen selbst keine Neigung dazu zeigen. Trotz solch argumentativer Kohärenz kann man dennoch über die Erklärungen streiten – vor allem über den Ausgangs- und Zielpunkt der Überlegungen. Wie offenbar nicht unüblich unter den von Foucault, Butler etc. herkommenden Theoretiker und Theoretikerinnen, werden die Gefahren, die von den ungreifbaren Mächten herrühren (auf Militär, Polizei, Richter, Minister, Direktoren stößt man bei ihnen nicht mehr), genauso stark dramatisiert, wie die Hoffnungen, ihnen zu entgehen, vage, gesellschaftsfern oder euphorisch ausfallen: „Was als einfacher neuer Button (oder die Entfernung desselben) in mittlerweile vertrauten Interfaces sozialer Plattformen daherkommt, kann vielleicht der Klick in eine neue Gesellschaftsform sein“, schreiben Kuka/Gasteier nicht zuletzt mit Blick auf ihre eigene „Mischung aus Sozialexperiment, Gesellschaftsspiel und Alternate Reality Szenario“. Nun, denkbar mag das sein, wesentlich wahrscheinlicher ist allerdings, dass es sich um den Schritt in eine Galerie oder einen kulturwissenschaftlichen Sammelband handelt.

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Revolution

Mit Pop ist keine Revolution zu machen Zur Dysfunktionalität der Popularisierung von Widerstandskulturen M ARCUS S. K LEINER „Aber das Wesentliche ist ja, dass diese Demokratie genannte Struktur alles, jeden Widerstand, verarbeiten kann und eigentlich alles essen kann. Sie kann alles essen und stärkt sich durch jede Opposition. Dadurch gibt es vielleicht auch eine Chance. Utopien können nur in Demokratien entstehen.“ HEINER MÜLLER

1. K EIN AUSSEN ( MEHR ) Seit den 1960er Jahren sind politische Widerstandskulturen grundlegend mit den Zeichensystemen, Kommunikationskanälen und Inszenierungsformen von Popkulturen verbunden.1 Politische Widerstandskulturen, die im Geschichtszeichen 1968 kulminieren, intendieren die aktionsbasierte Störung gesellschaftlicher und kultureller Kommunikationsprozesse sowie von alltäglichen Medieninszenierungen. Hierbei erheben sie Einspruch gegen gesellschaftliche, kulturelle und mediale Hegemonie. Von Widerstand

1

Vgl. Kleiner 2008, 2011.

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spricht man, wenn der Widerstand-Leistende die Gefahr einer Benachteiligung oder Bestrafung bewusst in Kauf nimmt und sich in seiner Weigerung auf eine höhere Idee oder ein höheres Recht beruft. Das Widerstandsrecht ist in Demokratien verfassungsrechtlich abgesichert, in Deutschland etwa im GG Artikel 20 (Abs. 4), und stellt eine legitime Interventionsform in demokratisch legitimierte, rechtsförmige Entscheidungsprozesse dar (gewaltfreier Widerstand bzw. ziviler Ungehorsam). Popkulturen sind effektive Aufmerksamkeitsökonomien, die Widerstand als Jugendbewegungen und Jugendkulturen inszenieren, durch die das Andere der (Alltags-)Wirklichkeit ansichtig und als real lebbare Utopie performativ wird. Dies gilt zunehmend auch generationsübergreifend als (nostalgische) Erinnerungskultur an die eigene Jugend. Zitat, Neukombination und Neuinterpretation dominieren hierbei gegenüber einem rebellischen Gestus der Authentizität. Aktion wird durch Fiktion ersetzt, die an Aktionen erinnern soll, an denen die meisten Nutzer dieser Popkulturen des Widerstandes niemals aktionistisch partizipiert haben. Die Geschichte dieser Popkulturen des Widerstandes ist immer auch eine „Geschichte des Spiels mit Gesten des Rebellischen.“2 Populäre Kulturen, Popkulturen sowie Populäre Medienkulturen wurden hierbei zu Motoren der Metaphorisierung, Symbolisierung, Ikonologisierung, Stichwortgebern und Inszenierungsräumen des politischen Geistes der 1960er Jahren. Die 1960er, besonders aber 1968, besitzen hierbei v.a. einen Bildwert und sind zu populärund popkulturellen Medienprodukten geworden. Die Revolution wird Bild und bleibt Bild. Die Funktion dieser Bildwerdung, also der medialen Performativität von Pop-Revolutionen besteht darin, spektakuläre Erinnerungskulturen und Gedächtnismedien an eine andere Wirklichkeit darzustellen, ist dabei aber niemals selbst revolutionär geworden, d.h. sie hat nicht zur grundlegenden Umgestaltung der politischen Institutionen mit einem Austausch der Machteliten geführt, also eine dauerhafte strukturelle Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse bewirkt. Revolution war 1968 immer auch ein Medienprodukt und ist es nach 1968 immer umfassender geworden. Insofern zieht Badiou3 in seiner Revision der Ideen und Ereignis von 1968, des Kommunismus und von internationalen Revolutionsbewegungen

2

Misik 2005, 96.

3

Badiou 2011, 36.

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zunächst eine pessimistische Schlussfolgerung – ich diskutiere im Fazit seine optimistische: „Heute kann man des Mai 68 gedenken, da man sicher ist, dass er tot ist. Vierzig Jahre danach bewegt sich nichts mehr. [...] Wir gedenken des Mai 68, weil das wirkliche Ergebnis, der wirkliche Held des Mai 68 der selbst-entfesselte liberale Kapitalismus ist. Die libertinären Ideen von 68, der Sittenwandel, der Individualismus, die Vorliebe für das Genießen, werden im postmodernen Kapitalismus und seinem mit jeglichem Konsum bunt kolorierten Universum verwirklicht.“4

Die große Attraktivität der Gleichsetzung von Pop und Politik in den ausgehenden 1960er Jahren, in denen Jugend und Rebellion noch konstitutiv zusammen gedacht wurden bzw. Pop ein Medium außerparlamentarischer Opposition darstellte, wird seitdem als Versprechen und Forderung an je verschiedene Segmente der Popkultur formuliert, die von jeder kommenden Generation immer wieder politisch aufgeladen wird: „Mit jener Zeit, den ausgehenden Sechzigern, als Pop noch von vielen als direkter Soundtrack zum Umbruch empfunden wurde, begann sich die Popkultur so auszudifferenzieren, dass jede theoretische Klammer, die Pop generell als reaktionär, prokapitalistisch oder aber generell als progressiv und links fassen möchte, der Komplexität des Systems Pop nicht nur nicht mehr gerecht werden können, sondern sie fundamental verfehlen.“5 Dennoch bleibt Pop für die Redaktion der testcard, wie für viele andere sich als Pop-Linke verstehenden auch, bis zur Gegenwart, entgegen aller Ernüchterungsrhetorik sowie Betonung der dysfunktionalen Gleichsetzung von Pop und Widerstand, ein linkes Projekt, dessen längst verloren geglaubten subkulturellen sowie subversiven Potentiale immer noch an aktuellen Erscheinungen der Popkulturen erlebbar und erfahrbar werden.6 Die Gleichsetzung von Links-sein und Revolution-Können findet sich aktuell auch im deutschen Musikjournalismus. In der Ausgabe 208 vom

4

Badiou 2011, 36.

5

Büsser/Behrens/Neumann/Plesch/Ullmaier 2003, 2.

6

Das Themenheft „#12: linke Mythen“ des Magazins testcard. Beiträge zur Popgeschichte (2003) diskutiert diese These materialreich – mit Blick auf Musik, Film, Radio, Kunst, Literatur und die linke politische Szene in Deutschland.

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Februar 2012 des deutschen Rolling Stone liest man auf der Titelseite: „Revolution jetzt! Oder doch lieber erst später?“

Cover Rolling Stone, Februar 2012

Ausgelöst von Texten zur Occupy-Bewegung, die im Suhrkamp Verlag erschien,7 wird ein reality check des Linken-Projekts intendiert. In kurzen Texten u.a. von Sarah Wagenknecht („Wer Verantwortung lebt, muss links sein“), Andrea Nahles („Links sein muss Freiheit bedeuten“), Günür Yasemin Balci („Vergesst Biosiegel, schafft Gerechtigkeit!“) oder Robert Wyatt („Demokratisiert die Demokratie!“) bleibt aber letztlich alles Linke beim Alten, die linke Realität so, wie man sie nach 1968 kennt: die Grundlagen des Linken-Projekts, ihre Urtexte, sind auch heute noch zeitgemäß und der intellektuelle Schlüssel zur Veränderung des status quo; das verheißungsvolle, linke Projekt von Widerstand, Subversion und Revolution ist zur Unterhaltung geworden, zu sehr langweiliger; die Linke ist der größte Kritiker der Linken; viel ist schief gelaufen, aber nur Links hat Zukunft; alles, was heute widerständig ist, wird in das linke Projekt vereinnahmt und so weiter und so weiter. Was deutlich wird ist, dass man als Linker entweder zum PR-Agenten des Linken-Projekts werden muss oder zum fiktionalen Medienproduzenten linker Mythen, weil sich dieses Projekt seit über vierzig Jahren nur noch zu samplen und zu musealisieren scheint. Was ist und bleibt: Revolutionsmarketing und Linkollywood.

7

Vgl. Blumenkranz/Gessen/Glazek/Greif/Leonhard/Ross/Saval/Schmitt/Taylor 2011.

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Das Vermarktungskonzept Jugend ist und bleibt bis zur Gegenwart hierbei Indikator für die Kraft des Neuen, des Anderen und des Alternativen, zugleich aber ein Kontrollinstrument für die Darstellung dieser anderen Wirklichkeiten bzw. der richtigen Leben in sowie diesseits der Falschen: Ansicht und/als Aufruf bzw. Einspruch. Timothy Leary (1976) bezeichnete dieses Phänomen bereits in den 1970er Jahren als OutlawIndustrie.8 Die Kommerzialisierung des Jugendalters und der Jugend, ebenso wie die Mythologisierung von Popkultur als widerständig und revolutionär, nahmen ihren gemeinsamen Ausgang von der kommerziell organisierten, medienvermittelten Massenkultur Rock’n’Roll ab Mitte der 1950er

8

Die Diskrepanz zwischen politischem und popkulturellem Widerstand beschreiben Heath/Potter (2005, 76f.) pointiert: „Die kommunistische Bewegung hatte ganz klare politische Ziele: die Abschaffung des Privateigentums und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Die gegenkulturelle Kritik ist demgegenüber so allgemein und umfassend, dass man sich irgendwelche ‚Reparaturen‘ kaum vorstellen kann. Was nach dieser Auffassung unsere Freiheit einschränkt, ist nicht ein bestimmtes System von Institutionen; es ist die Existenz von Institutionen an sich. Die gesamte Kultur musste abgelehnt werden. Die 60er-Ikone Abbie Hoffman wandte sich verächtlich gegen die ‚politische Revolution‘, weil Politik nur ‚Organisatoren züchtet‘. Die Kulturrevolution ‚bringt Outlaws hervor‘. Natürlich hört sich dann ‚Kulturrevolution‘ viel aufregender an. [...] Die Outlaw-Existenz verhält sich in vieler Hinsicht parasitär zur bestehenden Gesellschaft. Was wäre, wenn wir nun alle Outlaws wären? Wie sähe eine Gesellschaft aus, die keine Institutionen, Gesetze und Strukturen kennt? [...] Der Widerstand gegen die bestehende Gesellschaft wurde häufig als eine Befreiungstherapie für den Einzelnen betrachtet und in diesem Sinne auch propagiert. Das Ziel, die Verhältnisse in der Gesellschaft allgemein zu verbessern oder soziale Gerechtigkeit herzustellen, geriet dabei aus dem Blick.“ Die hier herausgestellte Diskrepanz hilft zu verstehen, dass die Performativität von Widerstandskulturen und Widerstandssubjekten in Populären Medienkulturen aus der Perspektive der Unterhaltungsindustrie, v.a. als sexualisierte Begehrenskulturen und -subjekte, inszeniert wird, und nicht primär als genuin politische Kulturen und Akteure. Mit dem Resultat, dass Widerstandskulturen als populäre Egokulturen erscheinen, aus denen Ego-fokussierte Kollektivrezeptionen entstehen (sollen), weil sie in das Starsystem der Medienkulturindustrie integriert werden. Widerstand ist somit bestens vermarktbar, wie jede andere Egokultur auch.

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Jahren. Rock-Revolutionäre besitzen hierbei immer den Charme von Outlaws, denn, wie die Band „Rose Tattoo“ in ihrem Song „Nice Boys“ (1978) betont: „Nice Boys don’t play Rock’n’Roll.“ Die Popularisierung von Widerstandskulturen in Form von sozialrevolutionären Bewegungen, Ideen und Akteuren wird in der Medienkulturindustrie allerdings zur Störung der Störung, macht aus der Funktionalität von Störungen eine dysfunktional-mediale (Re-)Inszenierung von Störungen: „Wo sich Dissidenz einmal des Konsums bediente, so bedient sich nun der Konsum der Dissidenz.“9 Dies behindert die Möglichkeit von realpolitischem Widerstand und die Wiederanknüpfung an sozialrevolutionäre Bewegungen durch populär- und popkulturelle Widerstandsinszenierungen sowie -aneignungen. Fraglich ist, ob es seit den 1960er Jahren jemals reale Möglichkeit einer Revolution mit und durch Pop gab oder sogar eine PopRevolution. Die Verbindung von Pop und Widerstand, die zum Gründungsmythos der Popkultur gehört, Mitte der 1950er Jahre ästhetisch durch die Musikkultur Rock’n’Roll und seit den 1960er Jahren zunehmend auch politisch, hat diskursive und lebensweltliche Wurzeln: sie verbindet den Kampf um Bedeutung im Alltag mit dem Kampf um Lebensstile. Eine Befreiung von traditionellen sowie Formierung von neuen Denkstilen einerseits und eine Neuorientierung von alternativen Lebensstilen andererseits. Mein Erkenntnisinteresse besteht in der Beantwortung der Frage, in welchem dysfunktionalen Verhältnis real-historische Widerstandskulturen zu ihrer (Re-)Inszenierung in Pop-Revolutionen, ihren Medien, Bilderwelten, Begehrensmaschinen und zu ihrem Starsystem stehen. Die Funktionalität dieses Verhältnisses wird hingegen grundsätzlich problematisiert. Zur Beantwortung dieser Frage werde ich zunächst den begrifflichen Referenzrahmen meiner Überlegungen skizzieren: Pop und Politik (Kap. 2) sowie Pop zwischen Markt und Rebellion (Kap. 3). Daran anschließend wird der Zusammenhang von Pop, Widerstand, Revolution und Kommerzialisierung diskutiert, also der anti-kapitalistische Turbo-Kapitalismus der Popkulturindustrie (Kap. 4). Abgeschlossen werden meine Überlegungen durch die kurze Diskussion aktueller philosophisch-politischer Reflexionen

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Agentur Bilwet 1997, 6. Heath/Potter (2005, 15) betonen entsprechend: „Die Gegenkultur war von Anfang an durch und durch unternehmerisch.“

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zu noch verbleibenden realen Möglichkeiten von Widerstand in der Gegenwart und der Bedeutung von Populär- und Popkulturen in diesem Kontext (Kap. 5).

2. G ET UP , S TAND UP ! P OP UND P OLITIK „Musik kann zur gemeinsamen Waffe werden, wenn Du auf der Seite der Leute stehst, für die Du Musik machst. Wenn Du mit Deinen Texten etwas sagst und eine Situation nennst, die zwar alle kennen, die aber jeder vereinzelt in sich hineingefressen hat, dann werden alle hören, dass sie nicht die einzigen sind, die damit noch nicht fertig geworden sind, und Du kannst ihnen eine Möglichkeit zur Veränderung zeigen. Musik kann also zur Waffe, wenn Du mit ihr die Ursachen für Deine Aggressionen erkennst. Wir wollen, dass Du Deine Wut nicht verinnerlichst, dass Du Dir darüber klar wirst, woher Deine Unzufriedenheit und Deine Verzweiflung kommen. Wir wollen die Feinde unseres Volkes nennen. ,Macht kaputt, was Euch kaputt macht – zerstört das System, das Euch zerstört!‘“ RIO REISER

Der Zusammenhang von Pop und Politik, der den ersten Bezugsrahmen für die Diskussion des Zusammenhangs von Pop und Widerstand darstellt, wird im Pop-Diskurs10 erstmals durch die Wertungen von Pop als subversiv, gegenkulturell, revolutionär, rebellisch, sozialkritisch, widerständig

10 Pop kann nur über Diskurse und deren permanente Aktualisierungen kulturell sowie gesellschaftlich existieren. Unter Pop-Diskurs verstehe ich Schreibverfahren über und mediale Inszenierungen von Pop und Pop-Kultur aus akademischen und pop-kulturell bzw. pop-spezifisch geprägten Milieus sowie deren Grenzen, Interferenzen und Überschneidungen: Pop-Journalismus (z.B. Magazine, Fanzines, Feuilleton), Pop-Theorie (d.h. wissenschaftliche Pop-(Kultur-) Forschungen), Pop-Geschichtsschreibung (etwa Lexika, Künstler-Biographien oder Pop-Listen) und Pop-Literatur.

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usw. zum Thema. Anfang der 1980er Jahre bezeichnet Combs11 den Zusammenhang von Politics and Popular Culture als PolPop: „(P)opular culture both shapes and reflects our ideas, therefore affecting our perceptions and actions about politics“. Ausgehend von dieser Grundüberlegung untersucht er das Spannungsfeld von „politics in popular culture and politics as popular culture [Hervorhebung im Original – MSK].“12 Genau in diesem Spannungsfeld diskutiere ich die dysfunktionale Verbindung von Pop und Widerstand. Street13 ergänzt diese Perspektive in den 1990er Jahren durch den Hinweis, dass das Politische in Populären Kulturen nicht mit Populismus zu verwechseln sei. Zur Bedeutung von Popkultur für das Politische bemerkt Street: „Popculture does not substitute for politics, it becomes instead a way we experience our feelings and passions, a way, we identify ourselves.“14 Diese Spur greife ich auf, indem ich im Fazit (Kap. 5) frage, in wie weit politisierende Popkultur als Medium der politischen Meinungsbildung und der Formierung real-politischer Widerstandskulturen fungieren könnte. Kellner15 sieht Anfang der 2000er Jahre, Bezug nehmend auf die Arbeiten von Debord,16 den Zusammenhang von Pop und Politik vor dem Hintergrund des Übergangs der postmodernen Gesellschaften in Spektakelgesellschaften als problematisch an – durchaus in Opposition zu den Ansätzen von Combs und Street. Politik, ebenso wie politische und politisierende Haltung in Populären Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen, wird zum integralen Bestandteil der Spektakelgesellschaft – der für Kellner zentrale Begriff (nicht nur) für die US-amerikanische Gegenwartsgesellschaft der 1990er und beginnenden 2000er Jahre: „[T]hese dramatic media passion plays define the politics of the time, and attract audience to their programming, hour after hour, day after day.“17

11 Combs 1984, 3. 12 Ebd. 16. 13 Street 1997. 14 Ebd. 167. 15 Kellner 2002. 16 Debord 1996. 17 Kellner 2002.

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Wie Nieland18 betont, ist Politik in drei Bereiche untergliedert: • • •

„Polity bezeichnet die formale Dimension (also das Normen- und Institutionengefüge) und versteht Politik als Rahmen. Politics erfasst die verfahrensmäßige Dimension, also den Prozess und die Konfliktaustragung und versteht Politik als Prozess. Policy meint die inhaltliche Dimension, somit die Be- und Verarbeitung von gesellschaftlichen Problemen und versteht Politik als Inhalt [Hervorhebung im Original – MSK].“

Daran orientiert bezieht sich die politische Auseinandersetzung mit den politisierenden und politischen Potentialen der Popkultur auf die Ebene der Policy, also das Politische und Politisierende im Pop. Lietzmann19 sieht Politik und Musik in einem reziproken und komplementären Verhältnis: „Sie ergänzen sich und sind doch unterschiedlich gepolt; sie setzen unterschiedliche Akzente und repräsentieren unterschiedliche Pointen und stehen doch in einem allerengsten Ergänzungsverhältnis.“ Politik und Musik gemeinsam ist, dass sie einerseits ihre Bedeutung nur im gesellschaftlichen Kontext entfalten und andererseits als kollektive Kommunikationsprozesse beschrieben werden können – das gilt für Populäre Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen insgesamt. Unterscheidbar werden sie unter anderem mit Blick auf ihr Selbstbild: Politik versteht sich als rational und entscheidungsbasiert, Musik als emotional und unterhaltungsbasiert. Politik und Musik werden, wie Lietzmann20 betont, immer dann besonders stark kritisiert, wenn Politik zu unterhaltendemotional21 und Musik zu rational und politisch-interventionistisch wird. Unter politischer bzw. politisierender Popkultur verstehe ich grundsätzlich eine kulturelle Perspektive auf und eine entsprechende Reflexion von Politik. John22 hebt weiterhin hervor, dass politische Musik grundsätzlich kritisch und nicht affirmativ sein darf, d.h. aus politischen und politisierenden

18 Nieland 2009, 33. 19 Lietzmann 2005, 47. 20 Ebd. 58; 60. 21 Vgl. zum Politainment, Dörner 2001. 22 John 1997, 16.

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Botschaften einen Soundtrack zur Unterhaltung macht: „You Gotta Fight For Your Right (to Party)“ (Beastie Boys).

3. P OP P ING P ONG . M ARKT UND R EBELLION „Brothers and sisters, I wanna hear some Revolution out there, brothers. Brothers and sisters, the time has come for each and every one of you to decide whether you gonna be the problem or whether you gonna bet the solution. You must choose, brothers, you must choose. It takes five seconds, five seconds of decision. Five seconds to realize your purpose here on the planet. Brothers, it’s time to testify and I want to know, are you ready to testify? I give you a testimonial…“ MC5 – KICK OUT THE JAMS

Grundsätzlich wird die Auseinandersetzung mit Pop und Popkultur von zwei Perspektiven bestimmt, in denen sich die grundlegende Ambivalenz der Popkultur bzw. popkulturindustrieller Güter, in Diskursen und als lebensweltliches Phänomen, widerspiegelt: Pop als Rebellion und Pop als Markt. Aus dieser Perspektive lassen sich zwei semantische Felder, mit denen das Phänomen Pop belegt wird, unterscheiden: Einerseits wird Pop als authentisch, grenzüberschreitend, umstürzlerisch, subkulturell, provokant, sozial- und sprachkritisch bezeichnet, ist in diesem Sinne ein Medium der Rebellion, der Revolution, des Widerstandes, des Protests und ein Gegenentwurf zur Entfremdung des Menschen in der Gesellschaft bzw. eine Art Zusatzleben. Letztlich gelebte Aufklärung und autonome Selbstkonstitution, ein programmatisches Konzept für kulturellen Wandel sowie ein Einspruch gegen die Ordnungs- und Ausschlusssysteme der Dominanzkultur. Pop wird hier mit Konfrontation und Subversion gleichgesetzt, ist, im Sinne von Diederichsen,23 „Pop I (60er bis 80er, spezifischer Pop)“ und wendet sich gegen etablierte Kunst-, Kultur- und Politikbegriffe. Dieses Verständnis von Pop wird v.a. in Subkulturen verortet, für die Abweichung

23 Diederichsen 1999, 275.

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und Eigensinn primär für die Kultur- und Identitätsbildung in dieser Kultur sind. Magazine, wie etwa testcard. Beiträge zur Popgeschichte (seit 1995), und Autoren aus deren Umfeld, so z.B. Martin Büsser,24 halten bis zur Gegenwart an der Schimäre einer authentischen und widerständlerischen Popkultur fest, letztlich an der Macht des Pop-Subkulturellen und PopSubversiven. Zumeist wird hierzu ein dritter Pop-Ort diesseits der Unterscheidung von „Pop I“ und „Pop II“ konzipiert, so etwa in Büssers Rede25 von „Anti-Pop“ oder im an Marcel Duchamp orientierten Konzept des „APop“ bei Chlada/Kleiner.26 Für Chlada/Dembowski/Ünlü besitzen diese Diskurskulturen kein politisch subversives Potential bzw. rekonstruieren es nicht ausgehend von einer realen Lebenspraxis, sondern inszenieren dieses lediglich im Spannungsfeld von Fiktion und Fiktionalisierung als Ton-, Text-, Bild- und Modekulturen: „Die Bemühung um die Abgrenzung immer feiner differenzierter Rezeptions- & Kommunikationsmilieus endet kalkulierter Maßen in reiner ‚Medienfiktion‘. Minoritäre Versuche jene Definitionsmonopole zu durchbrechen werden so schnell in die neue Dissonanz integriert, wodurch sich der Mainstream immer mehr minderheitlich organisiert. Worauf diese ‚minoritären Versuche‘ allerdings rekurrieren, bleibt zumindest offen, wenn ihnen nicht gar das einseitig ‚Gute‘ von vornherein bzw. aus einer persönlichkeitssozialisatorischen Ausnahme vorschnell bzw. befangen aufgesetzt wird.“ 27

Abweichung verstehe ich mit Bourdieu (1987) gedacht als fremdreferenzielle Distinktionsbewegung, die durch Geschmacks- und Stilbildungen, ein gemeinsames (sub-)kulturelles Milieu konstituieren, in dem (sub-)kulturelles Kapital erworben werden kann und das sich in Opposition zum Alltag und zur Dominanzkultur bzw. dem Mainstream bildet, in für diese (Sub-)Kulturen signifikanten Praktiken und Kommunikationen. (Sub-)Kultur entsteht aus

24 Vgl. Büsser u.a. 1998. 25 Büsser 1998. 26 Chlada/Kleiner 2001, 2002. 27 Chlada/Dembowski/Ünlü 2003, 23

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dieser Perspektive immer durch die Bezugnahme, den Vergleich und das Verhältnis von einer Kultur zu einer anderen bzw. zu vielen anderen.28 Andererseits wird Pop mit Konsum, Party, Profit, Unterhaltung, Lifestyle, Mainstream assoziiert und als Marken- bzw. Warenartikel deklariert. Pop wird in diesem Verständnis als Affirmation aufgefasst und von Diederichsen als „Pop II (90er, allgemeiner Pop)“ bezeichnet, womit gemeint ist, dass alles Pop sein kann, „vom Theatertreffen bis zur Theorie, von der sozialdemokratischen Kandidatenkür bis zur Kulturkatastrophe.“29 Dennoch schlummert in „Pop II“ für Diederichsen und viele andere noch immer das emanzipatorische Potential von „Pop I“, als eigentlicher Inbegriff popkultureller Subversion. Die Selbstbeschreibung von Pop im Spannungsfeld von Affirmation („Pop II“) und Subversion („Pop I“) ist bereits in der Wortbedeutung von Pop enthalten: In der Herkunft des Wortes Pop aus dem Englischen bedeutet Pop einerseits populär und könnte im Sinne dieser binären Opposition auf seine konsumistischen, affirmativen Tendenzen verweisen. Andererseits bedeutet Pop Stoß und Knall, womit seine subversiven Tendenzen angedeutet werden könnten. Das subversive Potential von Popkulturen wird bis heute konstatiert, aktuell etwa bei Wicke,30 der die Geschichte der Rock- und Popmusik als Geschichte von Revolutionen und Revolutionssimulationen schreibt. Rock’n’Roll als Be-

28 Hall (1978, 2) bemerkt hierzu entsprechend: „The term [Popular Culture – MSK] only exists and has descriptive significance because it helps us to identify one part of a field and thus, by implication, to contrast or seperate it out from another.“ 29 Vgl. zu dieser Unterscheidung als Beschreibungsformel für Popkulturen und Populäre (Medien-)Kulturen aktuell z.B. Jacke (2004); Bonz (2008); Ernst/ Cantó/Richter/Sennewald/Tieke (2008). Vgl. zum Verständnis von Populärer Kultur und Popkultur unter der Perspektive von Subkultur und Subversion grundsätzlich die frühen Studien der Birminghamer Cultural Studies (s. u.a. Hall/Jefferson 1976; Willis 1979, 1981; Clarke/Hall 1979; Hebdige 1979). Vgl. hierzu auch die Ansätze der Post-subcultural Studies (vgl. Muggleton/Weinzierl 2003; Bennett/Kahn-Harris 2004). 30 Vgl. Wicke 2011.

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ginn einer ästhetischen Revolution31 wird stets auf seine mögliche gesellschaftspolitische Relevanz befragt und dabei zugleich auf das Paradox hingewiesen, dass gesellschaftliche Subversion in einer kulturellen Form organisiert werden soll, die durch ihre kommerzielle Form zumeist das Gegenteil von (politischer) Veränderung erreicht.32 „Die musikalischen Guerillakämpfer der diversen Subkulturen haben die Wertschöpfungskette lediglich fantasievoller bedient, diese abzuschaffen oder auch nur das Diktat von Chartpositionen, Einschaltquoten und Verkaufszahlen zu relativieren, vermochten sie nicht. Im Gegenteil, der Gestus der Rebellion und die Attitüde des Revolutionärs erwiesen sich lange Zeit als eines der wirkungsvollsten Marketingkonzepte der Branche. Aber gerade weil die Form der Ware ihrem Inhalt gegenüber gleichgültig bleibt, ist in dieser Form letztlich alles zu haben, selbst der Zündstoff für ihre eigene Negation.“33

31 Eine markantes Beispiel hierfür ist die Schuluniform des AC/DC-Gitarristen Agnus Young: „Für eine ganze Generation wurde die Schuluniformen zum Symbol für alles Seelenzerstörende in der modernen Gesellschaft. Ihre Entweihung wurde zu einem der mächtigsten Bilder der Jugendrebellion. Der uralte AC/DC-Gitarrist Agnus Young tritt immer noch in seiner markanten Schuluniform auf – eine nahezu religiöse Beschwörung des anarchistischen Geistes von Rock’n’Roll, weit wirksamer als der rigorse Ikonoklasmus von Madonna oder Sinead O’Connor.“ Wicke 2011, 32. 32 Auch Büsser diskutiert Popmusik im Zusammenhang mit Widerstand und Revolution. Das kontinuierliche Wechselspiel von popkulturellem Ausverkauf und subkultureller Erneuerung bringt eine subversive Lebendigkeit mit sich, die beständig verändernd in die jeweilige soziokulturelle Situation eingreift, ohne diese allerdings grundsätzlich politisch zu verändern, sondern wesentlich ästhetisch: „Pop will als dynamisches Modell immer einen Schritt weiter als die etablierte Kultur dieser Gesellschaft sein. [...] Popmusik ist ihrem Wesen nach frech und trotzig, entzieht sich ständig der Einteilbarkeit und Zuordnung. Trotz dieses sehr freiheitlichen Grundelements ist die Popmusik allerdings nicht besser oder ,weiter‘ als die Gesellschaft, sondern spiegelt vielmehr gesellschaftliche Prozesse wider. [...] Pop befreit nicht die Gesellschaft, höchstens unsere Ohren. Immerhin“ Büsser 2002, 88f. 33 Büsser 2002, 11.

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Diese Rekonstruktionsformel von Rock- und Popgeschichte stellt eine wesentliche Traditionslinie in der Auseinandersetzung mit Populärer Musik im 20 Jahrhundert dar, einsetzend in den 1960er Jahren, in denen Rock’n’Roll als Beginn der popkulturellen Revolution betrachtet wird:34 „Vater Rock, Sohn Rebellion, Heiliger Geist Revolution, so lautete einmal die heilige dreifaltige Einheit. Die optimistische Linke vermutete noch bis in die 70er, dass in jedem Rockmusiker ein Umstürzler schlummere.“35 Aber nicht nur die Popmusik bindet sich an Widerstandskulturen und Revolutionsbewegungen, sondern auch diese brauchen Musik, v.a. in Form von Hymnen, um Vergemeinschaftungen zu erleichtern und Wiedererkennbarkeit zu erhöhen. „Die Internationale“ – Text 1871 von Eugene Pottier, Musik 1888 von Pierre Degeyter –, das weltweit am weitesten verbreitete Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung, dass sich dem proletarischen Internationalismus verpflichtet sieht, veranschaulicht diese These. Der Song „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ der deutschen Polit-RockBand Ton, Steine, Scherben aus dem Jahr 1972, kann als popkulturelle Internationale aufgefasst werden, und verbindet die Ideologie proletarischer Revolutionsbewegungen mit dem Pathos der Popmusik und der Inszenierungslogik der Popkultur. Der Song beschreibt die legitime Ordnung der (deutschen) Gesellschaft als dominante Parallelwelt, die an der Bevölkerung und ihren spezifischen Bedürfnissen sowie ureigensten Interessen vorbeiläuft, diese aber dennoch repressiv reguliert, wenngleich der Mensch frei geboren ist und doch überall in Ketten liegt. Gegen diese soziale und kulturelle Hegemonie helfen zum einen nur solidarisch-soziale Netzwerke unterschiedlichster Akteure, in denen die demokratische Veränderung der Gesellschaft gemeinsam zu einer gemeinsamen Sache gemacht wird. Zum anderen sind aber nur radikale Taten dazu geeignet, dieses System noch zu ändern: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ (Ton, Steine, Scherben – 1972). In den 1970er Jahren wurde die Musik der Ton, Steine, Scherben daher häufig auch als RAF-Soundtrack aufgefasst. Popmusik (Ästhetik) und Widerstandsbewegungen (politische Agitation) Seite an Seite.36 Der Traum,

34 Vgl. u.a. die frühen popmusikhistorischen Arbeiten von Shaw 1969; Rubin 1970. 35 Schuster 2003, 12. 36 Ton, Steine, Scherben setzen mit ihrer Musik, ihrem Lebensstil und ihrem politischen Engagement eine Differenz zur musikalischen Widerstandsbetroffenheit

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mit der Gitarre in der Hand die Welt zu verändern, gehört zu den Geburtsszenen der Popmusik seit Mitte der 1950er Jahre – als Vorläufer dieser Haltung kann v.a. Woddy Guthrie genannt werden. Als Problem hierbei erscheint die Unbestimmtheit von Widerstand und Revolution im Pop, durch die Pop zu einem Behälter wird, der beliebig und widersprüchlich gefüllt werden kann, alles und daher nichts Bestimmtes meint. Widerstand und Revolution werden so entgegen ihrer spektakulären Performativität37 letztlich zum relativ folgenlosen popkulturellen common sense bzw. zu einer willkürlich leeren Geste. Diese Unbestimmtheit, Austauschbarkeit, Willkür und Beliebigkeit zeigt die Dysfunktionalität von Widerstand und Revolution im Pop an. In der zuvor zitierten Diktion von Diederichsen handelt es sich um ein Beispiel für „Pop I“ – ein gutes Beispiel für „Pop II“ stellt der Song „Rock’n’Roll“ (1987) von „Motörhead“ dar. Dieser Song steht stellvertretend für die hedonistische Internationale in der Popmusik, also die ausschließliche Fokussierung von Popmusik als Lebensstil (Ästhetik der Existenz) und als Sex & Drugs & Rock’n’Roll-Phantasie. Aber auch durch kreativen Konsum und eigensinnige Lebensführung konnte die kulturindustrielle Konstellation bisher nicht subvertiert werden. Das Problem besteht in der Aufrechterhaltung des Gegensatzpaares von „Pop I“ und „Pop II“. Diese Differenz ist erst im Kontext der medialen Popularisierung von Pop und Protest entstanden, als ein Produkt populärmedialer Diskursivierung und Fiktionalisierung. Diese Differenz hat es niemals in dieser Form gegeben, wenngleich sie für wirklich bzw. gültig gehalten wurde und im Pop-Diskurs eine große Wirkmächtigkeit erzielte – zumindest im Deutschen. Dies kann als dysfunktionale Diskursivierung und Historisierung von Pop beschrieben werden. Festgehalten werden kann, dass die Popkultur seit ihren Anfängen von ihren mythisch-verklärten Legenden und Heroen sowie deren permanenter Reproduktion lebt und der Pop-Diskurs seit seiner Politisierung in den

und Widerstandsdidaktik in Deutschland der 1960er und 1970er Jahre, wie sie etwa Wolf Biermann mit seinen Liedern „Warte nicht auf bessere Zeiten“ (1963) und „Commandante Che Guevera“ (1973) präsentiert, das er nach dem Gedicht und Lied von Carlos Puebla „Hasta Siempre, Comandante“, einer weiteren berühmten Widerstandshymne aus dem Jahr 1965, verfasste. 37 Vgl. Kleiner/Wilke 2013.

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1960er Jahren selbst zum Mythos geworden ist, dessen theoriepolitische Positionierung sich zwischen Gut (Subkultur) und Böse (Kulturindustrie) bewegt. Hierbei werden Mainstream und Subkultur, Major- und IndieLabel oder Over- und Underground gegeneinander ausgespielt, wobei die Wahrheit des Pop, seine kulturelle Opposition, sprich, das Gute, im Underground oder in den Subkulturen verortet wird. Dort wird den religiösen, ethnischen und sexuellen Minderheiten ästhetischer Ausdruck verliehen und der Boden für Widerstandskulturen bereitet, welche das subversive Potential besitzen, die Kulturindustrien zu unterwandern. Mit Jacob38 kann man zusammenfassen: „Der ‚Underground‘ wird uns darüber auch deshalb erhalten bleiben, weil die Kulturindustrie viel Geld in diesen Mythos investiert hat & die Yuppie-Kultur ihn als unterhaltenden Lifestyle & pseudo-subversiven Gestus aufgesogen hat. Pop-Subkultur ist heute ein Industrieprojekt. Die Underground-Mainstream-Dichotomie wird von der Kulturindustrie als unverzichtbares Identifikationsangebot gesponsert. Wer daher Pop als Subversionsmodell konservieren will, bejaht auch den Erhalt seiner kapitalistischen Voraussetzungen.“ Stellt sich die Frage: Würden Pop und Popkultur verboten, wenn sie tatsächlich subversiv, widerständig oder revolutionär wären? 39 Die Erschöpfung des Subversionsmythos Pop bzw. der Opposition von Mainstream und Underground wird gegenwärtig ausführlich in den skandinavischen Misanthropien40 des norwegischen Schriftstellers Matias Faldbakken behandelt. In „Macht und Rebel“41 etwa wird das Gefühl beschrieben, heute gegen nichts mehr sein zu können, weil jede Haltung akzeptiert ist, Abweichung und Affirmation letztlich Symbole für die Redundanz sowie Opazität des Realen sind. Daraus resultiert die Ununterscheidbarkeit von Kunst und Kommerz, Original und Kopie, Macht und Widerstand, Mainstream und Underground, Hoch- und Popkultur. Alles erscheint gleichwertig und gleichgültig. Alles ist Wahrheit und Lüge zugleich. Die ästhetischen Figuren Rebel und Macht symbolisieren zwei Handlungsstrategien, die gleichermaßen in der Ausweglosigkeit enden und keine utopi-

38 Jacob 1995, 2. 39 Vgl. Chlada/Demobwski/Ünlü 2003, 24. 40 Hierzu zählen „The Cocka Hola Company“ (Faldbakken 2005), „Macht und Rebel“ (Faldbakken 2007) und „Unfun“ (Faldbakken 2010). 41 Faldbakken 2007.

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schen oder revolutionären Potentiale mehr besitzen. Rebel verlebt sein Leben ziellos hedonistisch, bis er seine Begeisterung für Hitlers „Mein Kampf“ entdeckt. Macht arbeitet für einen internationalen Großkonzern und vermarktet dort erfolgreich die Subversion.

Charles Paul Wilps Afri-Cola-Kampagne

Die Subkultur und der Subversionsmythos Pop sind gut verkäufliche Waren, die massenhaft Distinktionsgewinne für Massen suggerieren und dabei nicht unterscheidbar von anderen Waren der Medienkulturindustrie sind: „Das Unbehagen und die Revolte sind, wenn man so will, die nobelsten Produkte des Kapitalismus.“42 Ein aktuelles deutsches Wirtschafts- und Lifestylemagazin, dass das Motto „work hard, play hard“ hat und seit 2009 erscheint, hat sich entsprechend den Namen „Business Punk“ gegeben.43 Oppositionelle Haltungen werden nicht verfolgt, sondern vermarktet. Erst, wenn sie nicht mehr vermarktbar sind, wären sie wirklich subversiv bzw. gegenkulturell.

42 Misik 2005, 16. 43 Revolutionsbewegungen und Widerstandskulturen als Marketingtool, hier den gegenkulturellen Geist von 1968, hatte schon Charles Paul Wilp in seiner AfriCola-Kampagne aus dem Jahr 1968 genutzt, auf dem junge, lassiv geschminkte und schauende Models, die als Nonnen verkleidet sind, den Softdrink anpreisen. Die beiden Slogan dieser Kampagne lauten: „1968 im Afri-Cola Rausch“ und „Super-sexy-mini-flower-pop-op-cola – alles ist in Afri-Cola.“ Vgl. Hofmann 2008, 34ff.

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Mit ihrer Kritik an der dysfunktionalen Verbindung von Populär-/ Popkultur und Widerstand sowie von Konsum und Konsumkritik versuchen Heath/Potter den Mythos Gegenkultur in vergleichbarer Weise zu entzaubern. Aus ihrer Perspektive sind es gerade die Gegenkulturen, die die – politischen, ethischen, ästhetischen etc. – Systeme, die sie zu subvertieren versuchen, mit ihren Widerstandsdiskursen sowie -praktiken affirmieren: „Die Revolution bedroht nicht das System, sie ist das System [Hervorhebung im Original – MSK].“44 Der Mythos Gegenkultur stellt dabei kein Außen oder kein utopisches Anderes bzw. Alternatives zum System dar, weil ihre Kritik grundsätzlich auf einer simplen Zwei-Welten-Theorie beruht: ein hegemoniales System, etwa die Politik oder die Kulturindustrie, das alles beherrscht und unterdrückt; und ein widerständiges System, z.B. Subkulturen oder politische Bewegungen, das allerdings noch kein System, sondern primär eine Haltung und/oder ein Interaktionsgefüge ist, dass das herrschende System umstürzen will. Die entscheidenden Gesellschaftsveränderungen seit den 1960er Jahren sind, wie Heath/Potter45 betonen, nicht von außen durch Revolutionen bewirkt worden, sondern von Innen durch Reformen. Durch Revolutionen, wie etwa bei denen in Europa des 18. und 19. Jahrhunderts, sind herrschende Klassen nicht abgeschafft, sondern eine herrschende Klasse durch eine andere ersetzt worden.46 Gegenkulturelle Ästhetiken, Medienproduktionen und Lebensstile haben die bestehenden kulturellen Ordnungen nicht grundlegend verändert, sondern durch sie sind konsumistische Marktlücken entstanden. Die gegen- bzw. subkulturelle Kritik am Konformismus der Gesellschaft und des Marktes übersieht, wie Heath/Potter47 betonen, dass Konsumkultur nicht mit Konformismus identifiziert werden kann:48 „Und so entgeht ihnen, dass der Markt schon seit Jahrzehnten nicht dem Konformismus gehorcht, sondern der Rebellion. In den letzten fünfzig Jahren haben wir den Siegeszug der Konsumwirtschaft erlebt, während der ,Markt

44 Heath/Potter 2005, 215. 45 Ebd. 46 Vgl. Ebd. 32. 47 Heath/Potter 2005, 126. 48 So lautet etwa ein populärer Werbeslogan des Multimediaunternehmens Apple: „Think Different“.

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der Ideen‘ vom Gegenkulturdenken beherrscht wurde“ – hier treffen sich Heath/Potter und Faldbakken. Die gegenkulturelle Perspektive auf diese Opposition ist demokratiekritisch: jeder Widerstand gegen das herrschende System wird in Demokratien vereinnahmt und assimiliert, also zum Teil des Systems gemacht und ist Ausdruck kultureller Hegemonie bzw. repressiver Toleranz49 Gegen diesen Unterdrückungs- und Verblendungszusammenhang muss rebelliert werden. Die entgegen gesetzte Perspektive von Heath/Potter50 stellt hingegen heraus, dass sub- bzw. gegenkulturelle Revolutionen nicht vereinnahmt, sondern der jeweiligen Gesellschaft angepasst werden. Ihre Ideen, Praxen, Stile und Ästhetiken, etwa von Punks, werden nach und nach zu festen Bestandteilen der Gesellschaften, in denen sie stattfinden, und partizipieren an der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit. An die Stelle der Rebellion tritt hier die Reform, denn für Heath/Potter stellen sub- bzw. gegenkulturelle Regelverstöße zumeist nur Selbstzwecke dar, die in ihrer Radikalität und Anti-Institutionalität in der Wirklichkeit nie durchsetzbar sind. Bemerkenswert bleibt dennoch, dass der Mythos Gegenkultur bis zur Gegenwart große Attraktivität besitzt und vor allem in Populären Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen immer wieder neu aufgelegt wird, dort seine eigentlichen und konstanten Wirkungen hat.51

49 Vgl. u.a. Marcuse 1965; Roszak 1969; Gramsci 1986, 1987, 1991f. 50 Heath/Potter 2005, 122f. 51 Die in diesem Kontext bedeutsame Kritik der Country-Band Dixie Chicks an George W. Bush und die des Künstlerkollektivs Pussy Riot! an Wladimir Putin diskutieren Holger Schulze und ich in unserem Ausblick.

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4. M C R EVOLUTION . D IE P OP -I NTERNATIONALE : B RANDING THE R EVOLUTION ! „So join the struggle while you may | The Revolution is just a T-Shirt away.“ BILLY BRAGG

Der lange und beharrliche Traum von der Revolution und Subversion der Verhältnisse, nicht zu vergessen, der Mythos 1968, modern spätestens seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und dem Verschwinden von großen, revolutionären Sozialutopien oder wegweisenden Zukunftsbildern als konkreten Handlungsoptionen, auf dem Müllhaufen der Geschichte. Maresch52 deutet diese Entwicklung mit Blick auf Europa: „Als die Mauer fiel, ein utopischer Megatraum zerbarst und seine Trümmer vor Ort studiert werden konnten, meinten Kommentatoren und Meinungsmacher, darin sogar das ,Ende des utopischen Zeitalters‘ […] schlechthin zu erblicken. Die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei, das utopische Denken habe ausgeträumt, die Geschichte sei am Ende, sie habe ihr Ziel – die globale Ausbreitung des Marktes – erreicht, von sozialphilosophischen Entwürfen habe man sich deshalb schleunigst zu trennen. So oder so ähnlich tönte es allerorten, vornehmlich von konservativer und liberaler Seite, während der Großteil der politischen Linken in eine bislang nie gekannte Sprach- und Hoffnungslosigkeit verfiel. […] Die Gründe, warum Europa apathisch, leer und ausgebrannt wirkte, ohne Frische, Zuversicht und Unbeschwertheit; warum es im Zustand der Lähmung und großer Müdigkeit verharrt, liegen auf der Hand. Zwei blutige Weltkriege, Völkermord, Vertreibung und Gulags, die Erfahrung von Totalitarismus, Rassismus und der Wirkung von Massenvernichtungswaffen, haben Zweifel an der menschlichen Gestaltungskraft gesät und jede ,utopische Schwärmerei‘ abkühlen lassen.“ Andererseits werden Sozialutopien und Revolutionsphantasien im Kontext von Populären Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen kontinuierlich recycelt und konsumiert – Revolutionsmarketing des radical

52 Maresch 2004, 11ff.

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chic (vgl. Wolfe 2001) für jedermann; „riskante Phantasie“53 qua Buch- und CD-Kauf sowie Film- und Ausstellungsbesuch oder durch unterschiedlichste Spielarten des Differenzkapitalismus und self-fashoning: „Das Grundproblem ist, dass die Rebellion gegen ästhetische und modische Normen nicht wirklich subversiv ist. Ob man gepierct oder tätowiert ist, welche Kleidung man trägt oder welche Musik man hört, kann dem kapitalistischen System schnurzegal sein. Unternehmen sind grundsätzlich neutral, ganz gleich, ob es um graue Flanellanzüge oder Bikerjacken geht. Für jede Mode wird es auch einen Lieferanten geben. Und jede erfolgreiche Rebellenmode, mit der man sich unterscheiden kann, wird automatisch Nachahmer finden. Weil damit keine richtige Subversion verbunden ist, wird sich auch niemand davon abhalten lassen, die Mode mitzumachen. Jeder kann sich piercen oder lange Haare tragen. Alles, was ‚alternativ‘ oder ‚cool‘ ist oder irgendwie danach aussieht, wird damit unweigerlich zur Massenmode.“54 Linke Kritik und rebellische Gesten in Populären Kulturen bleiben in populären Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen sowie für ihre Nutzer hip: in Deutschland z.B. im Film („Die fetten Jahren sind vorbei“, 2004) oder politisch („Die Linke“, seit 2007). International wird etwa die angewandte Dissidenz eines Michael Moore gefeiert oder die TheorieBestseller Empire und Multitude von Antonio Negri/Michael Hardt (2001, 2004). Nicht zuletzt können in diesem Kontext die Haltungs- und Widerstandsmode, etwa in Form von War is not the answer!-T-Shirts, die nicht nur von Medienpersönlichkeiten bedeutungsschwanger aufgetragen werden, genannt werden. Che Guevara, Fidel Castro oder Andreas Baader sind auch längst schon zu „Posterboys der Revolution“55 geworden – Popstars der Widerstandskulturen und Revolutionsbewegungen. Dieses Popstar-sein von Revolutionären und (selbstverstanden) Widerstandskämpfern bzw. Terroristen wird in aktuellen Filmproduktionen anschaulich: The Motorcycle Diaries (2005); Der Baader-Meinhoff-Komplex (2008); Che – Teil 1: Revolution (2008) und Che – Teil 2: Guerilla (2008); oder Carlos der Schakal (2010).

53 Misik 2005, 8. 54 Heath/Potter 2005, 186f. 55 Misik 2005, 122.

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Es handelt sich hierbei um Pop-Revolutionsmärchen und Heldengeschichten,

Andreas Baader; Moritz Bleibtreu als Andreas Baader in „Der Baader-MeinhoffKomplex (2008); Marlon Brando in „The Wild One“ (1953)

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die Montagen aus ikonischen Revolutionsbildern aufführen bzw. diese nachbilden (Bildwert); Widerstand als Sex‘n‘Drugs‘n‘Rock‘n’Roll-Geschichte inszenieren (Pop-Soundtrack & Lebensstil); in denen Mode eine große Rolle spielt, häufig eine Verbindung aus Che-Chic und Rock’n’Roll-Kleidung bzw. zeitgenössischer Pop-Mode (Stilgemeinschaft); die Darsteller der Revolutionäre zumeist sehr attraktiv sind, wodurch der Persönlichkeit und dessen Handlungen Sympathie verschafft, Begehren auslöst und der Zuschauer verführt wird (Sexualisierung des Revolutionärs bzw. Widerständlers, vergleichbar der von Musikern oder Filmstars); in denen die zentrale Bedeutung von Medien-/PR-Arbeit56 (Gegeninformation, Kommunikationsguerilla; vgl. Kleiner 2005), die Imitation

56 Die Vorliebe der RAF für den BMW als Fluchtfahrzeug resultierte in ihrer Neuübersetzung als „Baader-Meinhof-Wagen“. Ein weiteres Beispiel für den Stilwillen der RAF nennt Hofmann (2008, 142f.): „[...] Holm von Czettritz, ein alter Freund Baaders aus Schwabinger Tagen und prominenter Grafiker berichtete, dass ihm sein Kumpel, nachdem er schon längst in den Untergrund abgetaucht war, einmal überraschend besucht hatte. Er habe sich in den Fauteuil gelümmelt, die Knarre auf den Tisch gelegt und ihn gebeten, das provisorische RAF-Logo, den fünfzackigen Stern mit der Maschinenpistole, gewissermaßen auf die Höhe des zeitgenössischen Designs zu bringen. Von Czettritz hat das mit dem Hin-

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der Werbung und des Starsystem, etwa in Form von Ruhmsucht, herausgestellt wird: „Über mich wird man noch viel reden. Ich bin Carlos“ (Carlos der Schakal, 2010); die suggerieren, dass die Revolutionsbewegungen und Widerstandskulturen mit Che Guevara sexy und massenkulturell vermarktbar für Populäre Kulturen, Popkulturen und Populäre Medienkulturen wird; in denen Andreas Baader zum Rocker der Revolution wird, der, wie wiederum Moritz Bleibtreu in seiner Rolle als Andreas Baader in „Der Baader-Meinhoff-Komplex“ (2008), Marlon Brando in seiner Rolle als Outlaw in „The Wild One“ (1953) imitiert; Carlos der Schakal als Dandy der Revolution gezeigt wird; und Che Guevara als das role model des Revolutionsmarketing bzw. der „Revolutions-GmbH“ (Flottau et al. 2005).

Mit Misik57 kann man zusammenfassen: „Die Dissidenz wird zur Ware und produziert Bilder, die von Befreiung erzählen und irgendwie wie Werbung aussehen.“ Die Automobilwerbung hat hierzu ein instruktives Beispiel geliefert. In einer Fernsehwerbung für den Dacia Logan werden u.a. Fidel Castro, Mao Tse Tung, Lenin, Che Guevara, Marx, Ghandi und Martin Luther King in einer Art Altersresidenz von Revolutionären in einem unbestimmten südlichen Land vorgeführt, die apathisch und letargisch vor sich hin zu leben scheinen, sich von kulturindustriellen Produkten ablenken lassen. Vor dem Aufdecken des Films als Werbung für den Dacia Logan und seinen revolutionär-günstigen Kaufpreis von EUR 8400, verbunden mit dem Werbetext „Der erste Kombi, den sich jeder leisten kann“, sitzen Marx und Che Guevara auf der Veranda und führen folgenden Dialog. Sie sind die einzigen, die noch an die Revolution zu glauben scheinen, wenngleich nicht mehr als Aktivisten – während ihres Gesprächs kommt Fidel Castro zu ihnen, der gerade in diese Altersresidenz eingezogen ist: „Che: It’s time for another revolution. Marx: A revolution is about what people needs.“ Schwarzblende und Einblendung des neuen VW Kombi.

weis abgelehnt, das Kartoffel-schnittartige des ,provisorischen‘ Logos entspreche der ,Corporate Identity‘ der RAF besser, als das jedes Design vermocht hätte. ,Das sag ich dir als Markenartikler‘ – mit diesen Worten von Czettritz’ war die ,Relaunch‘-Idee vom Tisch.“ 57 Misik 2005, 14.

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Hofmann58 hat zahlreiche dieser Beispiele in seiner Studie „Mindbombs“ zusammengetragen, die unter dem Motto „Branding the revolution!“ firmieren. Ein weiteres sei an dieser Stelle aufgeführt: Die serbische Volksbewegung Otpor (bedeutet Widerstand), die durch friedlichen Protest, symbolischen Widerstand und zivilen Ungehorsam maßgeblich zum Sturz von Milosevic beigetragen hat. Erfolgreich wurde Otpor durch seine groß angelegte Widerstand-Marketingkampagne, bei der sich einerseits die Werbepraktiken sowie Marketingtechniken von Weltfirmen, wie etwa Coca Cola, Nike oder von Microsoft, angeeignet und diese mit gegen- bzw. subkulturellen Ideen, Zeichensystemen, Lebens- sowie Aktionsformen verbunden wurden. Es ging Otpor darum, überall ihre Widerstandsmarke zu platzieren. Heute ist Otpor eine Art Beratungs- und Brandingagentur für gesellschaftliche Widerstandsbewegungen. Hofmann59 fasst die Grundzüge der Marketingkampagne in sieben Punkten zusammen: „Widerstand müsse erstens zu einem kollektiven Lebensstil werden, der Spaß mache, der schick sei und auf diese Weise helfe, die unvermeidbaren Gefahren einer Revolte in Kauf zu nehmen. [...] Zweitens benötige man einen prägnanten Namen, der kurz und griffig transportiere, um was es gehe. [...] Drittens sei ein aufmerksamkeitsstarkes Markenzeichen notwendig, wie das Otpor-Logo [...]. [...] Viertens brauche man einen einschlägigen Slogan mit hohem Identifikationswert [...]. [...] Fünftens müsse eine solche Kampagne dezentral organisiert sein – ähnlich dem Organisationsprinzip des World Wide Web. [...] Sechstens könne eine solche Kampagne nicht ohne ein klar definiertes Ziel und eine durchdachte strategische Planung funktionieren. [...] Damit wird ein letztes – unausgesprochenes – Grundprinzip deutlich: die nicht zu unterschätzende Kraft von Humor und Ironie.“

58 Hoffmann 2008. 59 Ebd. 46f.

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Otpor-Logo; Banksy – Che Guevara

Besonders pointiert bringt den Sieg des Marketing über die Revolution bzw. ihre Interdependenz der Street-Art-Künstler Banksy in einem seiner Che Guevara-Graffitis zur Ansicht – mit viel Humor und Ironie. Selbst Che Guevara trägt das Logo der Revolution auf seinem T-Shirt, also sich selbst, und ist PR-Manager und Werbeikone seiner selbst als Marke bzw. Imageprodukt. Widerstand und Revolution, verkörpert in der Abbildung der Widerstands-Super-Ikone Che Guevara, der selbst, wie Mao oder Lenin, dezidiert Anti-Pop war und keine populärkulturellen Selbstinszenierungsformen gewählt hat, im Gegensatz etwa zu Andreas Baader, Ilich Ramirez Sánchez (Carlos der Schakal) oder Subcommandante Marcos, die populär-/ popkulturelles self fashoning und Selbstmarketing sowie professionelles Medienmarketing betrieben, und dabei besonders Che Guevara popularisiert bzw. verpoppt, also im Kontext von Populären Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen verdoppelt und partiell neu erfunden haben – mit Blick auf die historische Persönlichkeit Che Guevara. Die neuen Revolutionäre sind nicht die Erben der Scherben, sondern die Kinder von Gandhi, Gates und Coca Cola: pragmatische Träumer und idealistische Realos. Populäre Kulturen, Popkulturen und Populäre Medienkulturen erscheinen hierbei als genuine kulturelle Orte des Links-Seins, von Subversion, Gegenkultur Widerstand und Revolution bzw. als Leitmedien dieser. Es scheint fast so, als ob die Linke Pop exklusiv für ihre Zwecke vereinnahmt, so massiv ihre Pop-Kritik auch ist. Die Linke war eben schon immer der

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größte Kritiker der Linken. Die grundlegende Perspektive, dass ein anderes Leben möglich ist, teilen sie dabei wiederum mit der Werbung: „Denn ‚anders leben zu wollen ist der traditionelle Einspruch gegen Ideologie und gleichzeitig das Kernstück ihrer heute dominanten Versionen‘. Das ‚andere Leben‘ ist auch das Versprechen des Marlboro-Mannes: Weites Land, echte Menschen, echte Gefühle und das Motto des subversiven Mainstreams – ‚Die Freiheit nehm ich mir.‘“60 Der Unterschied zwischen Revolutionär und Werbung besteht allerdings darin, dass das andere Leben in der Unterhaltungsindustrie nur konsumiert werden kann, die anderen politischen Wirklichkeiten aber erkämpft werden müssen, auch durch den Einsatz des eigenen Lebens. Längst vergessen scheint hierbei, dass noch vor einigen Jahren alle Weltverbesserer bzw. Weltveränderer als anachronistische und hoffnungslose Retro-Aktivisten belächelt wurden. Wirklichkeitssinn bewiesen hingegen vermeintlich die, die auf Kapitalismus, freie Marktwirtschaft, Zukunftsoptimismus und die Feste der Erlebnisgesellschaft setzten, sich also in der Wirklichkeit in ihrem status quo einrichteten. War dies noch signifikant für die Generation Golf,61 das sind die zwischen 1965 und 1975 Geborenen, und ihr Verständnis von Politik, so nimmt heute der Junge seine Gitarre und singt wieder: „Hallo! Worum geht’s? Ich bin dagegen!“ (gleichnamiger Song von Der Junge mit der Gitarre, 2002). Frei nach dem Motto: „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ (Holloway 2002). Und damit zu versuchen, inmitten des kritisierten Systems temporäre autonome Zonen zu schaffen, in denen dem Kapitalismus in, mit und durch ihn selbst, Einflusszonen abgerungen werden können. Misik62 liefert für diesen Trend folgende Erklärung: „Die neue linke Welle ist zunächst ein Symptom. Symptom einer Sehnsucht nach starken politischen Alternativen und nach einer unbestimmten ,Ernsthaftigkeit’; eine Sehnsucht, die von der breiten Lawine kapitalistisch-kommerzieller Geistlosigkeit wohl selbst produziert wird. Hier kommt die Hoffnung auf eine ,Echtheit‘ die Echtheit des erfüllten Lebens, wirklicher Gefühle, sinnvoller Tätigkeiten – zum Tragen, die natürlich sofort wieder unterlaufen wird. Denn wer wüsste besser als der Kapita-

60 Misik 2005, 93. 61 Illies 2001. 62 Misik 2005, 13ff.

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lismuskritiker – und der Marktstratege –, dass mit jeder Sehnsucht ein Geschäft zu machen ist, also warum nicht auch mit dieser. Die Dissidenz wird zur Ware und produziert Bilder, die von Befreiung erzählen und irgendwie wie Werbung aussehen. […] Gewiss hat der Kapitalismus mit den Rebellen gut zu leben gelernt. Aber es sind doch auch diese rebellischen Impulse, die ihn verändern. Er hat die Einsprüche zu integrieren gelernt; das ist seine große Stärke. Aber, wer weiß, womöglich gibt es doch auch subversive Energien, denen der paradoxe Raum der herrschenden Ordnung nicht die Spitze zu nehmen vermag.“

Seit Ende der 1980er Jahre wird also einerseits immer wieder auf die Erschöpfung linker politischer Praxis und das Ende der Utopien bzw. großen Erzählungen, andererseits auf die Notwendigkeit zum Neuentwurf und dessen konkrete Möglichkeiten hingewiesen. Dieser Neuentwurf wird gegenwärtig weniger als ein Kampf der Ideologien konzipiert, sondern vielmehr als ein Gestalten von anderen Räumen, Heterotopien, in denen neue Ausdrucksformen der Kritik und Produktion sowie zeitgemäße Agitations- und alternative Lebensformen entworfen werden – Beispiele hierfür sind etwa die Anti-Globalisierungsbewegung oder die Revolutionen in Osteuropa. Die Rede vom Gestalten alternativ-politischer Wirklichkeits- und Kommunikationsräume hat zudem eine (aktuelle) Implikation, denn sie weist einen Weg, der gegenwärtig immer notwendiger zu sein scheint, nämlich das Aufzeigen von Alternativen in vermeintlich alternativlosen Zeiten,63 von Wegen, Zukunft zu denken,64 neuen Gemeinschaftsformen, die sich unabhängig von herkömmlichen Zuschreibungssystemen wie Nationalität, Religion, Geschlecht usw. bilden65 oder anderer Demokratieformen.66

63 Vgl. u.a. Nolte 2004. 64 Vgl. etwa Merkur 2001; Maresch/Rötzer 2004. 65 Vgl. z.B. Agamben 2003. 66 Vgl. Derrida 1992; 2003.

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5. (N O ) E XIT ? „Lieber peinlich als authentisch | Authentisch war schon Hitler | Jetzt wollt ihr wieder Klarheit | So was wie ‘ne Wahrheit | Eine Coca-Cola-Wahrheit | echt und real | the real thing | Bilder explodieren [...] Es gibt kein Außer mehr | kein Drinnen und Draußen mehr | Hier kommt eine Lüge mehr | Und Opa skatet wieder | Oma hat jetzt noch ein Tattoo | Und ich mag den Gedanken | an etwas zu glauben nur: | Ich bin nicht gläubig | Es gibt kein Außer mehr | kein Drinnen und Draußen mehr [...].“ KETTCAR

Was ist bisher geschehen? Revolution und Pop, Kritik und Kommerz – Schulter an Schulter. Hierbei wurden die Umschreibungen sowie Umbildungen von Revolutions- und Widerstandsgeschichten in Pop-Phänomene und Marketingstrategien deutlich. Pop-Mythen und Pop-Politik sind seit den 1950er Jahren zunächst und zumeist Designerwaren, Modeartikel, Jugend- und Lebensstile. PopRevolution werden v.a. als Oberflächenästhetik; (mediale) Alltagskultur, die keine revolutionären Handlungen bewirkt; Zeichenregime, das primär andere Zeichensysteme zitiert bzw. auf diese verweist; als Identitätsmarkt, also Medium der Selbstbildung bzw. als individuelle Revolution der Selbstgestaltung; als ein vielfältiges Kommunikationsmedium und eine ausdrucksstarke Bilderwelt; letztlich als ein generationenübergreifendes und -umfassendes Modephänomen präsentiert: Prada Meinhof, MaoFashionMovement, Red Label, Che-Brands. Ikonen der Revolution als Ikonen der Popkultur sind Kapitalanlagen. Kapitalismus und Kapitalismuskritik, Hegemonie und Widerstand bedingen sich also im Pop immer wechselseitig. Sie lassen eine beschleunigte Produktion von (Waren-)Zeichen und (Waren-)Bedeutungen entstehen. Zeichen sind die konstitutiven sozialen Bedeutungsträger und primären Medien politisch-ökonomischer Hegemonie, nicht mehr, marxistisch gedacht, die materiellen Produktionsverhältnisse. Erfahrungswirklichkeiten sind demnach wesentlich Zeichenwirklichkeiten,

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d.h. Codierungen/Decodierungen, Gestaltungs-, Aneignungs-, Entwendungs-, Umgestaltungsprozesse.67 Es bleibt, wie es seit den 1960er Jahren war! Revolution und Pop: Image, Lifestyle, Self-fashoning, riskant-konsensuelles Denken. Pop, als temporäre Wahlgemeinschaft, kann individuelle Lebenswelten zeitbedingt verändern, aber ohne kollektive Bindungskraft. Mit Revolutionen wollen politische Systeme grundlegend verändert bzw. subvertiert werden, es werden verpflichtende Entscheidungen und politische Agitation gefordert. Die Radikalität und Unbedingtheit dieser Forderung nach Veränderung wird hierbei häufig zur Dysfunktionalität von Widerstandskulturen und Revolutionsbewegungen. Revolutionäre Mythenbildung findet zunächst und zumeist in Populären Medienkulturen statt, in denen die Differenz zwischen Fiktion und Wirklichkeit häufig überformt wird. Populäre Kulturen, Popkulturen und Populäre Medienkulturen haben, wie an zahlreichen Beispielen gezeigt, u.a. das Verlassen des Mythos 1968 nicht mitgemacht, recyceln 1968ff. und seine Revolutionshelden permanent, wodurch sie Ikonen und Waren, aber keine politischen Handlungsalternativen schaffen. Hierin besteht die dysfunktionale Verbindung von Pop und Widerstand bzw. Revolution: Mit Pop ist keine Revolution zu machen und wird keine gemacht! Haltung, auch eine politische, wird konsumiert und gekauft, angezogen und ausgezogen – sozialisierende und bildende Selbstgestaltungsprozesse oder politische Kollektivbildungen resultieren daraus zumeist nicht. Handlungsalternativen kommen traditionell immer noch aus dem Feld politischer Agitation sowie aus deren Texten, Manifesten etc., die dezidiert nicht populär- und popkulturell sind.68 Diese Idee des Anderen und Neuen ermöglicht bzw. könnte andererseits gerade populär- und popkulturelle Mediengedächtnisse ermöglichen, weil sie seduktive Kulturen sind, die

67 Der Versuch der Erneuerung linker politischer Praxis im Kontext der Kommunikationsguerilla will hieraus eine neue Widerstandskultur konstituieren (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001; Vgl. Kleiner 2005). 68 Vgl. aktuell v.a. Unsichtbares Komitee 2010.

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Phantasieproduktionen auslösen, durch die die Gestaltung von Lebenswelten angeregt werden kann. Aus der Individualität dieser popkulturellen Selbstbildungsprozesse, ebenso aus der popkulturellen Bildung kontingenter Wahlgemeinschaften, führt kaum ein Weg zur dauerhaften politischen Gemeinschaftsbildung. Der Wahlspruch der Popkultur, „Come together“ (Beatles, 1969); ebenso wie deren Forderung nach radikaler Befreiung und transformatorischer Selbstbildung, also nach dem „Break On Through (To the Other Side)“ (The Doors, 1967); und dem bedingungslosen Frei-und-Anders-sein-Können im „Born to Be Wild“ (Steppenwolf, 1968) bleiben zumeist individuell und hedonistisch: „Sex & Drugs & Rock’n’Roll“ (Ian Dury, 1977) eben. Das hieraus real-politische Aktionen folgen, also ein „Get up, Stand up“ (Bob Marley & The Wailers, 1973), ist gegenwärtig noch viel unwahrscheinlicher als in den vorausgehenden (Pop-)Jahrzehnten.69 Kommt noch etwas? In den und aus den Populären Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen ist also wenig real-revolutionäre Bewegung bzw. Mobilmachung zu erwarten. Diese samplen und mixen Widerstand und Revolution immer weiter, simulieren Bewegung, die grundlegend bewegungslos ist. Etwas mehr Bewegung ist in einigen Diskurskulturen und politischen Be-

69 Mit Blick auf die Popkultur Rock’n’Roll bedeutet dies: „Da die erhoffte gesellschaftsverändernde Kraft der Musik recht schnell an Grenzen stieß, kam es immer wieder zu einer Neuauflage derartiger Revolutionsmythen. Dennoch verkörpert die Popmusik nicht bloß eine folgenlose Rebellion auf der profitablen Spielwiese des Marktes. Die kulturelle Prägung von Subjektivität und Individualität durch Musik, die hier zirkulierenden Wertmuster und Sinnkonstrukte haben in allen Industriegesellschaften des Westens ihre Spuren hinterlassen. [...] Eines haben die ,Revolutionen‘, die die Musikentwicklung der letzten sechs Jahrzehnte mal mehr, mal weniger politisch, mal im vollen Ernst und mal voller Ironie, mal als modischer Schick und mal als glühende Utopie durchziehen, auf jeden Fall bewirkt: Sie haben sich mit den Songs, die sie hervorgebracht haben, in jeder Biografie als erinnerungswürdige Momente des Heranwachsens verewigt. Das aber hat, wenn auch auf eine eher unspektakuläre Weise, vielfach mehr bewirkt als so mancher Barrikadenkampf“ Wicke 2011, 7f., 11.

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wegungen zu finden, wenngleich auch diese keinen dritten Raum öffnen. Abschließend möchte ich fünf dieser Diskurse und Wege kurz aufführen:

W EG 1 (O LIVIER R OLIN & ALAIN B ADIOU ) 1968 lebt und soll leben – große Ideen braucht jede Zeit, um ihre Zeit zu gestalten Produktive Nostalgie – deren Bedeutung und Funktion Jahrzehnte, Generationen, Gesellschaften und Kulturen überdauert und umfasst, anschlussfähig für Anschlüsse, Modifikationen und Neuanfänge bleibt. Für Badiou70 ist dies auch in der Gegenwart das Gesichtszeichen 1968 mit allen seinen Implikationen: „Sagen wir es in einem Satz: wir müssen den Mut aufbringen, eine Idee zu haben. Eine große Idee. Seien wir überzeugt, dass eine große Idee zu haben weder lächerlich noch kriminell ist. Die Welt des verallgemeinerten und arroganten Kapitalismus, in der wir leben, bringt uns in die 1840er Jahre zurück, zum aufkeimenden Kapitalismus, dessen durch Guizot formulierter Imperativ lautet: ,Bereichert Euch!‘ Das übersetzen wir: ,Lebt ohne Idee.‘ Wir müssen sagen, dass man ohne Idee nicht lebt. Wir müssen sagen: ,Habt den Mut, die Idee zu unterstützen, die nur die kommunistische Idee sein kann, in ihrem generischen Sinn. Deshalb also bleiben wir Zeitgenossen des Mai 68. Auf seine Weise hat er deklariert, dass das Leben ohne Idee unerträglich ist.“

Diese Haltung findet sich auch in der selbstironischen Reflexion auf 1968 im Roman „Die Papiertiger von Paris“ von Olivier Rolin71. Hier wird der knapp sechzigjährige ehemalige Linksradikale Martin – stellvertretend für den Autor, der in den 1960er und frühen 1970er selbst Links-militant war – auf die Suche nach der/seiner verlorenen Zeit geschickt. Die Koordinaten der Zeitreise: der Autobahnring um Paris an einem der ersten Tage des 21.

70 Badiou 2010. 71 Rolin 2003.

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Jahrhunderts. Martin erzählt von 1968. Er war Mitglied in einer militanten linksradikalen Gruppe in Paris, der maoistischen „La Cause“. Das persönliche Schicksal entspricht dabei der Unfruchtbarkeit der Revolte selbst: „Am Ende lagen unsere Glaubenssätze in Trümmern, aber es waren sehr sperrige Trümmer, auf denen nichts Neues gewachsen, nichts Neues aufgebaut worden war.“ Und: „Im Grunde genommen waren wir auch Papiertiger.“ Den Wunsch allerdings, Held zu sein und eine (politisch-subversive) Idee Wirklichkeit werden zu lassen, findet Rolin nach wie vor attraktiver als den herrschenden Zynismus des gegenwärtigen hedonistisch-egoistischen Lebensstils. Aus der Dysfunktionalität von Widerstand, Revolution und Populären Kulturen/Popkulturen/Populären Medienkulturen könnte aus dieser Perspektive eine bedingte Funktionalität gemacht werden: Diese Kulturen sind die einflussreichsten und umfassendsten Erinnerungsmedien und (Wieder-) Aufführungsorte der Idee 1968 und damit von Widerstand und Revolution, also von Wegen, die Gesellschaft grundlegend zu verändern. Mehr kann man von Populären Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen nicht verlangen – ihre Erinnerungsarbeiten sind aber häufig, wie gezeigt, dysfunktional.

W EG 2 (K OMMUNIKATIONSGUERILLA & M INDBOMBS ) Widerstands- und Revolutionsmarketing kann funktional sein Hofmann72 hat, ausgehend von den Greenpeace-Gründern Bob Hunter und Rex Weyler, die mit Slogan wie „Rettet die Wale!“ oder „Eine andere Welt ist möglich!“ und medial erfolgreichen bzw. medial erfolgreich konzipierten Aktionen, aus Greenpeace die weltweit bekannteste Öko-Marke gemacht. Dies beschreibt Hofmann mit dem Begriff „Mindbombs“. Hiermit zeigt er an, wie Gesellschaftskritik sowie gegenkulturelles Denken durch gezielte Markenstrategien, also in Form von Guerilla-Marketing, erfolg-

72 Hoffmann 2008.

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reich sein und gesellschaftskritische Ideen international etablieren kann, wodurch diese potentiell gesellschaftsfähig, also handlungsleitend und Politik mitbestimmend werden können: „‚Einfache Bilder für komplexe Zusammenhänge, die durch die Medien transportiert werden und in den Köpfen der Leute eine emotionale Wirkung entfalten – sprich: explodieren. Das Ganze in das Korsett einer internationalen Kampagne gepackt, umrahmt von griffigen Slogans und später sogar eigenen Merchandising-Produkten.‘“73

Diese Form nachhaltiger Gesellschaftskritik könnte nicht nur vom Marketing, von Werbung und PR lernen, sondern die Performativität von populärund popkulturellen Mythenbildungen für ihre Zwecke nutzen, um ihre Ideen in einer aufmerksamkeitsökonomisch erfolgreichen und ästhetisch seduktiven Gestalt zu präsentieren. Hierdurch könnte ebenso aus der dysfunktionalen Verbindung von Pop, Widerstand und Revolution eine bedingt funktionale gemacht werden.

W EG 3 (G OODBYE T RISTESSE ?! – C AMILLE

DE

T OLEDO )

Temporäre Autonome Zonen Demokratien integrieren alles – auch jede Form von Kritik, Subversion, Widerstand und Revolution. Populäre Kulturen, Popkulturen und Populäre Medienkulturen machen aus politischen Kulturen reine Unterhaltungskulturen, aus denen nichts folgt und die keine mobilisierende Kraft besitzen. Darüber hinaus haben sich alle traditionellen Formen von Widerstand und Revolution erschöpft, v.a. die aktionistischen Formen. Die Welt kann heute, wenn überhaupt noch, nur noch auf der Ebene ihrer Zeichensysteme subvertiert werden: „‚Wenn das so ist‘, sagte sich der Mann, der keine Luft bekommt, ,wenn das Kapital alles, auch seine größten Kritiker in sich auffangen kann, worauf kann man dann

73 Ebd. 18.

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noch bestehen? Wir werden uns also von allem Widerstand, Protest, Umschwung, der Revolte und dem Aufstand verabschieden. Sie gehören der Vergangenheit an.‘“74

Die Gegenwart erscheint somit für Toledo nur noch als eine Gesellschaft und Ästhetik der Resignation, die zu einem zynischen Leben und Massendandyismus führt. Die Konstruktion anderer Orte innerhalb hegemonialer gesellschaftlicher Verhältnisse erscheint für Toldeo75 als einzig verbleibender Ausweg: „Konstruktion eines provisorischen Außerhalb durch die Einführung Temporärer Autonomer Zonen im Gegensatz zur geschlossenen Welt der Handelsströme. [...] Wiederbelebung des poetischen Menschen im Gegensatz zum Marktmenschen, Ausweitung der aufständischen Sprache in den Raum der Ströme hinein, Übergang von einer bewaffneten zu einer semantischen Guerilla. [Hervorhebung im Original – MSK].“76 Hierzu ist der Auszug aus Populären Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen, weil sie das Ende traditioneller Widerstandskulturen verpasst haben und die Neuen Verhältnisse nicht in ihre Produktionslogik integrieren können, d.h. der (mediale) Konsumismus ist mit dem neuen Kommunismus nicht vereinbar. Aus dieser Haltung resultiert die Frage: Besteht die Aussicht, sich in diesem Rahmen selbstbestimmte Orte zu schaffen, „temporäre autonome Zonen,“77 in denen die gesellschaftlichen Regeln zumindest zeitweise außer Kraft gesetzt (bzw. noch gar nicht verbindlich formuliert) sind? Fraglich bleibt hier, ob Toledo nicht die gestalterische Kraft Populärer Kulturen und von Popkulturen, etwa hinsichtlich von Subkulturen, übersieht, d.h. ihre Produktivität immer wieder andere Orte in vermeintlich gesellschaftlich regulierten Orten zu schaffen, ein anderes Denken sowie Leben anzuregen und sich durch keine Vereinnahmung umfassend vereinnahmen zu lassen – dies ist wiederum ein Beispiel für das bedingt Produktive und Funktionale der Verbindung von Pop, Widerstand und Revolution.

74 Toledo 2007, 11. 75 Ebd. 193. 76 Ebd. 77 Hakim Bey 1991.

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Aus der Perspektive sind diese Kulturen zutiefst poetisch, besitzen die von ihm geforderte „Romantik der offenen Augen.“78

W EG 4 (U NSICHTBARES K OMITEE – D ER KOMMENDE AUFSTAND ) Mikrophysik des Widerstands Toledo bleibt aber letztlich sehr vage hinsichtlich der Projektion dieser temporären autonomen Zonen und alternativer Lebensentwürfe – abgesehen von der Nähe seiner Überlegungen zum „Multitude“-Konzept von Hardt/Negri.79 Einen deutlichen Schritt weiter geht das vermeintlich radikalste Dokument des Widerstandes in der Gegenwart. Die Rede ist vom Manifest „Der kommende Aufstand“ des Unsichtbaren Komitees (2010), das von der französischen Regierung als „Handbuch des Terrorismus“ beschlagnahmt wurde und Analysen der Reaktionen von Regierungen auf die verschiedenen Unruhen und Volksaufstände der letzten Jahre enthält – verbunden mit umfassenden, auch gewaltbereiten, Handlungsanweisungen zum Aufbau einer anderen Wirklichkeit und mit Ratschlägen, wie der kurz bevorstehende Zusammenbruch der westlichen Demokratien weiter voran getrieben werden kann, denn es gibt kein richtiges Leben im Falschen, allerdings ein richtiges Leben in einer richtigen Gesellschaft, die allein durch eine neue Form des Kommunismus möglich wird – ein Leben ohne Zentren,80 ohne Anführer, ohne Forderungen, ohne Organisationen, aber mit Komplizenschaften, Kommunen und Unsichtbarkeit. Das Unsichtbare Komitee bietet aber keinen Musterplan hierzu an – das Manifest endet mit folgender Bemerkung:

78 Ebd. 79 Hardt/Negri 2004. 80 „Der Dezentralisierung der Macht in unserer Zeit entspricht das Ende der zentralistischen Revolutionen“ Unsichtbares Komitee 2010, 108.

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„Wie wird die Situation verallgemeinerter Unruhen zu einer aufständischen Situation? Was tun, wenn die Straße einmal erobert ist, weil die Polizei dort auf Dauer besiegt wurde? Sind die Parlamente es noch wert, erstürmt zu werden? Was heißt es praktisch, die Macht lokal abzusetzen? Wie sollen wir uns entscheiden? Wie können wir uns am Leben halten? WIE WERDEN WIR UNS WIEDERFINDEN [Hervorhebung im Original – MSK]?“81

Es geht also nicht mehr um die Konstitution temporärer autonomer Zonen, sondern um ein dauerhaft autonomes, freies und alternatives Leben. Die Aktionen, die im Text des Unsichtbaren Komitees dokumentiert werden, ebenso wie diese Texte selbst, können als temporäre autonome Szenen beschrieben werden, als Durchgangsstationen zu dieser anderen Gesellschaftsform: „Es geht nicht mehr darum zu warten – auf einen Lichtblick, die Revolution, die atomare Apokalypse oder eine soziale Bewegung. Noch zu warten ist Wahnsinn. Die Katastrophe ist nicht das, was kommt, sondern das, was da ist. Wir befinden uns schon jetzt in der Untergangsbewegung der Zivilisation. Das ist der Punkt, an dem man Partei ergreifen muss.“ Die Nähe zwischen Toledo und dem Unsichtbaren Komitee besteht aber darin, dass beide die Unmöglichkeit hervorheben, die Gesellschaft zu reformieren, sondern Gesellschaft und Kultur müssen, wie auch die herrschenden Vorstellung über das Menschliche, umfassend subvertiert werden – der Einsatz von Gewalt82 wird hier als Widerstandsrecht und damit legitim aufgefasst. Auch dieser Aufstand ist v.a. ein Aufstand der Jugend – wie dies bei der Einführung der Popkultur in den 1950er Jahren auch galt: „Es gibt kaum noch Zweifel, dass es die Jugend ist, die als Erste die Macht wild angreifen wird.“ 83 Fraglich ist, ob diese Jugendfixierung nicht ebenso kontraproduktiv für den skizzierten Aufstand ist, wie der Jugendwahn im Kontext der Populären Kulturen, von Popkulturen und Populären Medienkulturen – zumal er auch nicht mehr zeitgemäß ist. Das Anliegen, alles Kulturelle und Gesellschaftliche zum Einsturz zu bringen, um Leben zu können, alternativ

81 Hardt/Negri 2004, 124. 82 „Es gibt keinen friedlichen Aufstand. Waffen sind notwendig: Es geht darum, alles zu tun, um ihren Gebrauch überflüssig zu machen“ Unsichtbares Komitee 2010, 105. 83 Hardt/Negri 2004, 122.

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und selbstbestimmt, gehört wiederum zum Gründungsakt der Popkultur in den 1950er Jahren. Funktionen und Bedeutungen der Popkultur, die sich mit denen des Unsichtbaren Komitees treffen. Popkulturen gehen hierbei einen konsumistischen Weg, der Gesellschaft und Kultur aus sich heraus verändern will und dabei mit ihnen in einen, häufig auch konfliktreichen, Dialog tritt – das Unsichtbare Komitee geht den umgekehrten, den kommunistischen Weg. Welcher Weg auch in Zukunft Gesellschaft und Kultur produktiver transformieren kann, bleibt abzuwarten. Beide Ansätze leben vom Mythos (Rebellion, Revolution) und produzieren neue Mythen (der Rebellion und Revolution).

W EG 5 (M ICHEL F OUCAULT ) Widerstandsheterotopien Mit einer Konzeption von Foucault84 werden die Intention der vier zuvor skizzierten Wege zusammengeführt: „Es gibt […] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Platzierungen und Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien [Hervorhebung im Original – MSK].“

Zentral für die anvisierten Handlungsdimensionen und Heterotopien ist die These, dass zur umfassenden Ausbildung einer Kreativität des (politischen) Handelns Möglichkeitswelten (diskursiv) eröffnet werden müssen, in denen sich Kreativität, Emanzipation, Kritik, Veränderung, Gestaltung usw. in alternativen Formen konkret abspielen bzw. allererst ereignen können. Hierzu müssen herkömmliche Denk-, Handlungs-, Produktions- und Interaktions-

84 Foucault 1999, 148f.

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gewohnheiten problematisiert werden bzw. als problematisch erscheinen. Damit diese Forderungen auch sozial wirksam werden, müssen Diskurs-, Kreations- und Praxis-, Widerstands-Heterotopien, also letztlich, im Sinne Foucaults85, Imaginations- und Gestaltungsarsenale, entworfen werden, die „sich von jenen Ufern lös[en], die [sie] […] einst bewohnte[n].“86 Ausgehend von Foucaults Konzept der Heterotopien könnte über die Gestaltung von Möglichkeitswelten nachgedacht, die sich als Alternativen zu den aktuellen Wirklichkeiten (kommunikativer) politischer Praxis verstehen. Hierbei sollen Gestaltungsspielräume geöffnet werden, in denen praxisbezogene Veränderungen vorbereitet und (potentiell) auch umgesetzt werden können. Mit der Rede von Widerstands-Heterotopien, die sich diesseits von Revolutionsphantasien bewegen, soll einerseits die Überzeugung geäußert werden, dass die Zeiten für große und umfassende Erzählungen, Zukunftsentwürfe sowie Sozialutopien vorbei sind. Somit wird der Blick andererseits auf zahlreiche kleine, lokale Veränderungen und Utopien sowie auf Mikroerzählungen gerichtet, die sich u.a. als Herausforderungen, Verunsicherungen, Irritationen, Kritik oder Dekontextualisierungen gesellschaftlicher und medialer Wirklichkeiten in ihrem status quo verstehen. Damit man dieses Ziel erreichen kann, braucht man einerseits eine Basis, muss also von der Guerilla zu einem dauerhaft gegenhegemonialen Block oder zu einer Reformbewegung werden, die konstitutiv mit den gesellschaftlichen Machtzentren interagiert. Umfassende Nachhaltigkeit kann Kritikkommunikation gleichwohl nur durch die kollektive Arbeit von sozialen, (medien-)politischen, wissenschaftlichen, künstlerischen, populär-/popkulturellen usw. Netzwerken erzielen. Ziele hierbei wären •

einerseits einen möglichst großen öffentlichen Druck auf jene Institutionen, die gesellschaftliche Wirklichkeit maßgeblich produzieren und regulieren, wie z.B. Politik, Medien, Unterhaltungsindustrie, Wissenschaft, Wirtschaft usw., zu erzeugen,

85 Foucault 1999, 156f. 86 Foucault 1997, 269.

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• •

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durch den die jeweiligen Themen öffentlich diskutiert werden müssten. Andererseits in Kooperation mit gesellschaftlichen Machtzentren kollektive Reformkonzepte zu entwickeln.

Diese Ziele könnten durch die folgenden diskursiven und aktionsbasierten Praktiken erreicht werden: Erstens, durch das Aufgeben binärer Optionen, die zu Denkblockaden bzw. in Sackgassen führen: weder innerhalb des Systems vs. außerhalb des Systems; weder links vs. rechts; weder sozialrevolutionärer/-utopischer Sisyphus vs. kapitalistischer Narziss; weder Empire vs. Multitude; weder falsch links (SPD, Grüne) vs. richtig links (Die Linke); weder Spektakel vs. ihre Entdecker; weder Simulation vs. Realität; weder Guerilla vs. Machtblock; weder „Pop I“ vs. „Pop II“ usw. Demgegenüber müssten vielmehr • • •

die Fähigkeiten eines DJ’s (Sampling/Mixing usw.), collageartiges Denken und netzwerkorientiertes Handeln als flexible Grundkompetenzen erlernt werden.

Grundkompetenzen hierzu können in popkulturellen Produktions- und Handlungspraxen erlangt werden. Collagenartiges Denken ist zudem eine Kernkompetenz der Pop-Art in ihren unterschiedlichen Darstellungsformen. Nicht zuletzt stellen Popkulturen mit Blick auf Szene- und Stilbildungen spezifische Kompetenzen bereit, Gemeinschaften zu erzeugen, die etwas gemeinsam zu einer gemeinsamen Sache machen. Auch aus dieser Perspektive kann die Verbindung von Pop, Widerstand und Revolution bedingt funktional werden. Zweitens sollte Kritikkommunikation in ihren unterschiedlichen Spielarten zunehmend als Kampagne angelegt werden. Drittens, kann und muss nicht gegen alles (permanent) protestiert werden. Widerstand, Protest, Gesellschaftskritik usw. dürfen nicht noch mehr zu einem Massenartikel werden, sondern sie brauchen gegenwärtig ein eigensinniges und zeitgemäßes Diskurs-Design sowie die Konzeption alternative Protest-Räume. Viertens, muss Kritikkommunikation in einer Mediengesellschaft, um Bildwert zu erreichen, im Feld visueller Kommunikation situiert sein, d.h. mit den professionellen Mitteln des Designs gestaltet werden. Design Politics sind ge-

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fragt, um Gestaltung mit Haltung zu verbinden. Fünftens müssen, um öffentliche Sichtbarkeit zu erlangen, kreative Aktionsformen bzw. Aktionskonzepte entworfen werden (Kreative Protestkultur: online/offline). Sechstens muss das Internet als Aktions- und Kommunikationsmedium verstärkt genutzt werden, ebenso wie als transnationales Widerstandsnetzwerk. Was tun? Go/See! Stop/Think! Act/Create!

U ND

DIE

M ORAL

DES

D ISKURSES ?

Der von Combs87 herausgestellte Zusammenhang von „politics in popular culture and politics as popular culture [Hervorhebung im Original – MSK]“ findet sich im Kontext von Pop, Widerstand und Revolution im Zusammenhang medialer Politisierungsinszenierungen: Politische Positionierungen werden in Populären Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen kontinuierlich zum Ausdruck gebracht und fordern ihre Nutzer potentiell zu Nachträgen heraus. Politische und politisierende Populärkulturen, Popkulturen und Populäre Medienkulturen können also als Interdependenz von Gesellschaft (politische Positionen in Populären Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen) – Populären Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen (Medialisierung der Politik der Gesellschaft) – Gesellschaft (Auseinandersetzung mit politischen und politisierenden Inhalten der Populären Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen) beschrieben werden. Diese politischen und politisierenden Potentiale bestehen v.a. auf vier Ebenen: 1. 2.

3.

Populäre Kulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen sind grundsätzlich politisch aufgrund politischer Aussagen. Diese Kulturen nützen die Potentiale kulturindustrieller Medienlogiken durch Verknappung und Plakativität, um unmittelbar anschlussfähig zu sein. Diese Unmittelbarkeit nimmt in Kauf, durch De-Kontextualisierung populistisch zu wirken, ein Meinungsklima zu erzeugen bzw. jede

87 Combs 1984, 16.

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Form von Politik und des Politischen in Unterhaltung und Konsum aufzulösen. Populäre Kulturen, Popkulturen und Populäre Medienkulturen sind letztlich keine politischen Bildungsmedien, sondern direkte Aufforderung zur Meinungsbildung.

Diese vier Ebenen spielen v.a. im Kontext von individuellen Aneignungsund Auseinandersetzungsprozessen eine Rolle. Die Bedeutung vom politischen und politisierenden Populärkulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen besteht in der spezifischen Perspektive auf politischen Themen und Ereignisse, nicht im primären Fokus auf die Objekte selbst. Dadurch fungieren sie, wie ich verdeutlicht habe, v.a. seit den 1960er Jahren als Medium politischer Meinungsäußerung und Meinungsbildung, wenngleich sie dabei zumeist dysfunktionale Wirkungen erzeugten.

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More Pop Politics! Dysfunktionale Medienästhetik von politischen Videoinhalten auf YouTube R AMÓN R EICHERT

Das im Februar 2005 gegründete Internet-Videoportal YouTube mit Firmensitz in San Bruno, Kalifornien, ist innerhalb weniger Jahre zu einem der einflussreichsten Medienphänomene der Gegenwart aufgestiegen.1 Dieses neue Medienparadigma prägt das kulturelle Erinnern,2 firmiert als ein Ort der audiovisuellen Ermächtigung und der politischen Gegenöffentlichkeit, bildet einen Schauplatz sozialer Transformationsprozesse und kann als ein Umschlagplatz medienkultureller Umarbeitung und dysfunktionaler Medienästhetik gesehen werden. Da auf YouTube grundsätzlich alle Nutzerinnen und Nutzer eigene Inhalte publizieren können, fördern seine medialen Bausteine die Ausweitung und Steigerung von Beteiligungschancen und stehen stellvertretend für die Internetkultur der sozialen Medien und einen radikalen Umbau von Öffentlichkeit und Beteiligung.3 Die hohe Popularität von YouTube verdankt sich dem Umstand, dass Nutzerinnen und Nutzer („User“) kostenlos und mehr oder weniger uneingeschränkt Film- und Fernsehaufzeichnungen, Musik-

1 Vgl. zur Unternehmensgeschichte: www.youtube.com/t/company_history. 2

Hilderbrand 2007, 48-57.

3

Vgl. Burgess/ Green 2009.

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clips und selbstgedrehte Videos ansehen, hochladen, bewerten und kommentieren können.4 Bereits wenige Monate nach seiner Gründung entwickelte sich youtube.com zum Marktführer bei Internetvideos,5 bis schließlich am 16. Mai 2010 der offizielle YouTube-Blog 2 Milliarden Aufrufe pro Tag bejubeln durfte.6 In technischer Hinsicht stellt das OnlineVideoportal bloß eine Webseite mit zugehöriger Serverinfrastruktur dar, das als Host (Datenbankanbieter) Videodateien im Format Flash-Video7 der Firma Adobe per Stream sendet und unterschiedliche Suchvorgänge im Videoarchiv mittels Schlagworten ermöglicht. YouTube ist Ausdruck eines mediendemokratischen Öffentlichkeitswandels und des vorherrschenden Entertainisierungstrends, der auch die mediale Darstellung des Politischen erfasst hat. Mit „dem Aufstieg der Medienunterhaltung zum Sinn- und Identitätszentrum der modernen Gesellschaft“8 und der damit verknüpften kulturellen Aufwertung des Entertainments wird die Unterhaltungsöffentlichkeit ein zunehmendes Element der Politikdarstellung. Die Unterhaltungsangebote der populären Medienkultur sind öffentliche Kommunikationsräume, die der Fragmentierung politischer Diskurse entgegenwirken und eine gemeinsame Zeichenwelt zur Verfügung stellen, „die einzelne Spezialdiskurse überschreitet und so eine Infrastruktur für das gemeinsame Gespräch zur Verfügung stellt. Die Bildwelten und einfachen Geschichten der Unterhaltungskultur bieten einen solchen anschaulichen Interdiskurs.“9 Für das politische Agenda Setting firmieren Unterhaltungsformate in erster Linie als relevante Einflussgrößen zur Bewirtschaftung von kollektiv geteilter Aufmerksamkeit. Diese Dominanz der Unterhaltungsinhalte und -formate auf YouTube hat dazu geführt, dass die auf dem Onlineportal zirkulierenden Videos mit politischen Inhalten versu-

4

Mit der Übernahme von Google am 9. Oktober 2006 konnte sich YouTube endgültig als weltweiter Marktführer publizierter Video-Dateien im Internet etablieren.

5

Gill et.al. 2007, 15-28.

6

Vgl. youtube-global.blogspot.com/2010/05/at-five-years-two-billion-views-per-

7

Aufgrund des Erfolgs von YouTube hat sich inzwischen das Videoformat Flash

8

Dörner 2001, 45.

9

Ebd. 98.

day.html. bei der Videonutzung im Internet als ein Standardformat etablieren können.

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chen, politische Inhalte mit Unterhaltungselementen zu überlagern, um damit eine doppelt motivierte Dysfunktionalität in Gang zu setzen, die auf die genrespezifische Unsicherheit und inhaltliche Dissonanz der Kommunikation von politischen Themen abzielt. Das subversive Spielen mit der Überlagerung von dokumentarischer Evidenz, politischer Aufklärung, Fiktion, Unterhaltung und Inszenierung geht von der Grundannahme aus, dass nicht nur mediale, sondern auch politische Prozesse erst in ihrem NichtFunktionieren überhaupt erst ermöglicht und damit reflektierbar werden.

D YSFUNKTIONALITÄT ZWISCHEN M ARKETING UND E NTERTAINMENT Schon die durch die drei traditionellen Medien Print, Hörfunk und Fernsehen geprägte Massenkommunikation hat dazu geführt, dass Bürgerinnen und Bürger politisches Handeln und politische Entscheidungen fast ausschließlich in Form medialer Vermittlungsprozesse rezipierten. Heute durchdringt die politische Kommunikation und Meinungsbildung sämtliche Bereiche der Unterhaltungskultur. Diese Tendenz macht auch vor YouTube nicht Halt. Hier zeigt sich, dass sich die dem Videoportal eigene Medienpraxis des zivilgesellschaftlichen Dokumentarismus, der auf das unverfälschte Zeigen abzielt, sich vor „gegnerischen“ Aneignungen nicht schützen kann. Dieser grundsätzlich objektivierende Zeigegestus kommuniziert ein bestimmtes Rollenverständnis, da er mit dem Anspruch auftritt, ein Fenster zur Welt und ein – gegebenenfalls medial ausgegrenztes, sozial unterdrücktes – Abbild der politischen Realität zu sein. Der dokumentarisierende Wahrheitsanspruch kann aber nicht gegenkulturell verwahrt und beschützt werden, sondern wird in einem Aneignungsspiel von der „Gegenseite“, nachgeahmt, die in ihren politischen Kampagnen die dokumentarisierende Videoästhetik zur Authentifizierung der Inhalte instrumentalisiert. Im Jahr 2004 waren Internetvideos noch keine politische Einflussgröße in Wahlwerbungen, „da die langsamen Modemverbindungen und Grafikkarten der Heimcomputer mit der Datenmenge überlastet waren. Im Kongresswahlkampf 2006 änderte sich das: Der mächtige Senator George Allen aus Virginia wurde gefilmt, als er einen Amerikaner indischer Abstammung – in Anlehnung an eine in Asien lebende Primatengattung – als „Macaca“ bezeichnete. Das Video landete auf YouTube, sorgte für negative PR und

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kostete Allen wohl seinen Posten im Senat. […] Auch John McCain kämpft noch immer gegen die Folgen eines unvorteilhaften Videos an, das ihn bei einem Wahlkampfevent zeigt, während er zur Melodie des Beach-BoysSongs Barbara Ann, Bomb, Bomb, Bomb Iran singt.“10 Die vorherrschende Anzahl und die größte inhaltliche Kategorie der bei YouTube hochgeladenen Clips bezeichnet Birgit Richard als „Ego-Clips.“11 Mit „Ego Clips“ bezeichnet sie eine Clipsorte der „exzessiven narzisstischen Selbstdarstellung“, in der eine „große Bandbreite von schüchternen Talks bis hin zur visuellen Prostitution zu beobachten“12 ist. Die auf dem Aufmerksamkeitsmarkt von YouTube dominierende Stellung der Ego-Clips ist für die strategische Planung politischer Kommunikation von höchstem Interesse und hat dazu geführt, dass politische Inhalte überwiegend von Personen in Szene gesetzt werden. Die erste virale Videobotschaft im US-amerikanischen Wahlkampf von 2008 mit dem Titel „Dear Mr. Obama“ stammt aus dem Lager von Präsidentschaftskandidat John McCain und zeigt einen Soldaten in halbnaher Einstellung, der frontal in die Kamera blickt und seine Rede in Form einer direkten Adressierung vorträgt. Damit reproduziert das Video die wichtigsten Bestandteile des Ego-Clips: personalisierendes Affektbild in naher Einstellung, das Publikum soll direkt als Subjekt, das heißt als Adressat des Videos angesprochen werden. Mit dieser ästhetischen Inszenierung versucht „Dear Mr. Obama“, die Aufmerksamkeit des Publikums zu binden und Identifikation, Empathie und Sympathie bei den Zuschauerinnen und Zuschauern zu wecken. In der Folge wurde der „Dear Mr. Obama“-Clip in hundertfachen Reenactements (Nachahmungen) nachgestellt, persifliert und weiterentwickelt. Beinahe alle Videoblogs operierten dabei mit dem Stilmittel der direkten Adressierung und einem gedoppelten Adressaten: Die Videoansprache der „einfachen“ Bürgerinnen und Bürger richtete sich gleichermaßen an den Präsidenten und an die Öffentlichkeit (das Publikum). Videoclips wie das „Dear Mr. President“-Genre operieren mit einer Reihe von Darstellungskonventionen, mit denen sich das bekennende Selbst durch „spontane Natürlichkeit“ und „unverfälschte Ungezwungenheit“ als möglichst authentisch präsentiert. Nach Michel Foucault ist das

10 Ebd. 11 Richard 2009, 225-246. 12 Ebd. 228.

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Geständnis, der produktive Zwang des „Sprechen-Machens“, die höchstbewertete Technik bei der Produktion von Wahrhaftigkeit.13 Der spezifische Zusammenhang von Macht, Wahrheit und Subjektwerdung ist hier also weniger das Ergebnis repressiver Unterdrückung, sondern vielmehr in einer immer intensiver werdenden Diskursivierung (hier: das politische Sprechen, das seinen Ausgangspunkt im Individuum sucht) begründet. Neben den dominierenden Ego-Clips der politischen Selbstdarstellung hat sich auf YouTube – wie bereits angesprochen – ein weiteres Format herausgebildet, das mit dem Zeigegestus, dem dokumentarisierenden Showing (versus: Telling) operiert. In ihrer Ausgabe vom 5. Mai 2009 bezeichnet die Süddeutsche Zeitung die Digitalkameras der „Bürgerjournalisten“ als unbestechliche Aufzeichnungsmedien, denen die Aufgabe zugeschrieben wird, die Mächtigen der Welt zu kontrollieren. Den Beweggrund für diese Lobeshymne über den „Bürgerjournalismus“ bot ein YouTube-Video, das anlässlich eines Besuches von Condoleezza Rice an ihrer ehemaligen Arbeitsstätte, dem konservativen Hoover Institut an der Stanford Universität, entstand. Während eines Empfangs in der Eingangshalle des Studentenheims befragten am 27. April 2009 die Studenten Jeremy Cohn, Sammy Abusrur und Rayna Garcia die ehemalige US-Außenministerin der BushRegierung zur Folter. Anfänglich antwortete Rice professionell unverbindlich, schließlich verlor sie jedoch die Beherrschung und beschimpfte den Studenten mit den Worten: „Mach erst mal deine Hausaufgaben!“. Dieses siebenminütige Gespräch wurde von Reyna Garcia, mit ihrer Digitalkamera aufgenommen, später unter dem lakonischen Titel „Condoleezza Rice meets with some students“ ins Internet gestellt. Innerhalb weniger Stunden war es einer der meist gesehenen Filme auf YouTube. Die Tatsache, dass „Condoleezza Rice meets with some students“ auch in den traditionellen Medien besprochen wurde, zeigt deutlich die Tendenz auf, dass das zivilgesellschaftliche Agenda Setting mittlerweile nicht nur die neuen, sondern auch die alten Medien erreicht hat. In der jüngsten Vergangenheit generierten YouTube-Videos, die politische Ereignisse dokumentieren, regelmäßig Medienberichterstattungen in den Printmedien und im Fernsehen. Wie das Fallbeispiel des Condoleezza Rice-Videos zeigt, wird in diesen sekundären Mediensystemen der Videoinhalt oft mit zusätzlichen Bedeutungsfeldern angereichert, um tagesaktuelle Ereignisse mit

13 Foucault 1983, 22f.

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politischen Zeitdiagnosen zu verknüpfen. So die Süddeutsche Zeitung: „Was Obama nicht kann, was Gerichte nicht schaffen werden, das ist Reyna Garcia und YouTube gelungen: Condoleezza Rice steht mitsamt der alten Regierung am Pranger. Mit diesem Video hat Reyna Garcia einen größeren Beitrag zur Demokratie geleistet, als George W. Bush mit seiner ganzen Amtszeit. […] Gegen diese pragmatische Entscheidung hilft nur eins, der moderne Pranger, also das Internet. Das indiskrete Video stellt wenigstens ansatzweise wieder die demokratische Gewaltenteilung her, die bei Bush, Cheney, Rumsfeld und Rice systematisch außer Kraft gesetzt wurde. Condoleezza Rice ist inzwischen ähnlich bloßgestellt wie die Ehebrecherin in dem Roman Der scharlachrote Buchstabe von Nathaniel Hawthorne.“14 Die hier ausgiebig zitierte Rezension des YouTube-Clips kann als Versuch gewertet werden, die Deutungshoheit über das Videoereignis wieder an das Printmedium zurückzubinden, macht aber unter dem Strich klar, dass Videoinhalte immer auch in spezifische Mediendiskurse eingebettet sind, die versuchen, das Temporäre und das Singuläre des Medienereignisses in einen ordnenden Deutungszusammenhang zu stellen. In beiden Kontexten dient das Videobild zur Wahrheitskontrolle: Historische Begebenheiten, politische Ereignisse, geheime Machenschaften und persönliche Geständnisse werden vermittels eines eigentümlichen LowTech-Dokumentationsstils (wackelige Handkamera, grobkörnige Bilder) authentifiziert. Auch wenn sogenannte „Wahrheitsbilder“ gerne als Fenster zur Welt angesehen werden, weisen sie doch eine bestimmte ästhetische Qualität auf, die sie von inszenierten Bildern unterscheiden sollen. Diese ästhetische Komponente wird oft aus den Wahrheitsdiskursen, welche die Videos im öffentlichen Räsonieren begleiten, ausgeblendet. Da aber YouTube im Ruf steht, eine digitale Öffentlichkeit der Gegenwartsgesellschaft abzubilden, die sich mit der Demokratisierung des Wissens und dem Ideal der Aufklärung weitgehend decken soll, ist auf der Videoplattform ein regelrechter Kampf um authentische Bilder entbrannt. Die Authentifizierung der Videobilder wird jedoch nicht nur von den engagierten Amateuren vorangetrieben, sondern auch zur Orientierungshilfe für die strategische Arbeit am Bild genutzt, wie Florian Rötzer ausführt: „Seit kurzem hat das Pentagon, das sich allerdings hinter den Koalitionstruppen im Irak und der Operation Iraq Freedom versteckt, das Videoportal

14 Süddeutsche Zeitung, 5. Mai 2009.

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YouTube für sich entdeckt und versucht dort, gewissermaßen unter der Hand und irgendwie viral, Videos zu verbreiten, die man wohl angemessen findet und die der eigenen Sache dienen sollen.“15 In diesem Gebrauchszusammenhang werden spezifische Authentizitätsmarker zur visuellen Evidenzkonstruktion eingesetzt.16 „Evidenz“ bezeichnet in diesem Zusammenhang das dem ersten Augenschein nach Unbezweifelbare, das durch unmittelbare Anschauung einleuchtend sein soll. Den Soldaten selbst ist es nicht gestattet, mit Hilfe ihrer digitalen Kameras den Krieg selbst zu filmen. Die Medienabteilung des Pentagon benutzt im Gegenzug die Soldaten als Schauspieler, um authentisch und spontan wirkende Aufnahmen von den Kriegsschauplätzen auf YouTube zu verbreiten. Damit sollen kriegerische Handlungen unvermittelter und glaubwürdiger erscheinen. Diese von der Operation Security hergestellten Wirklichkeitsbilder des Krieges sollen nicht nur den voyeuristischen Schauwert erhöhen, sondern in erster Linie dem Community-Building und CommunityBranding (zielt auf die enge Koppelung von Produkt, Marke und Konsument) auf selbstverwalteten YouTube-Channels dienlich sein. Hierzu erneut Rötzer: „Was dem gemeinen Army-Soldaten verboten ist, kann aber die Medienabteilung durchaus in YouTube stellen. Man will zwar Niederlagen und Opfer auf der eigenen Seite nicht zeigen, wohl aber unterhaltsame Einsätze, bei denen der Gegner unterliegt. Vielversprechend heißt es denn auch auf YouTube, dass der geneigte Zuschauer in den kommenden Monaten Folgendes zu sehen bekommt: Kampfszenen, interessante, die Aufmerksamkeit erregende Aufnahmen, Interaktion zwischen Koalitionstruppen und der irakischen Bevölkerung, Teamarbeit zwischen Koalitionstruppen und irakischen Soldaten im Kampf gegen den Terror.“17 Mit diesen vier Kategorien sind bereits die einschlägigen Genres der offiziellen YouTube-Videos der US-Army beschrieben. Fraglich bleibt hier, ob die Medienstrategen der US-Militärs die Partizipationskultur auf YouTube verstanden haben, da der televisuelle Medienkrieg nicht einfach auf die sozialen Netzwerkseiten im Web 2.0 übertragbar ist. Die Army-Channels auf YouTube werden schlichtweg von der YouTube-Community ignoriert, da ihre Cross-Promotionsstrategie zu offensichtlich ist und keine organische Partizipation

15 Rötzer 2007. 16 Christensen 2009, 204–217. 17 Rötzer 2007.

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ermöglicht. In den Kommentaren wird etwa vermerkt, dass Channels wie der „Multi-National Force Iraq“18 bloß Branding-, also Markenbildungsstrategien in eigener Sache verfolgen würden und sprechen von einer „corporate colonization of authentic YouTube participation“. Dennoch gilt Authentizität als zentrales Merkmal zur Herstellung von Aufmerksamkeit bei YouTube.19 Zu den auf YouTube beliebten Authentizitätsmarkern (dient der Beglaubigung von bestimmten Inhalten) gehören der Low-Tech-Dokumentationsstil, eine private Aufnahmesituation, der Verzicht auf ein Fotostudio und die Verwendung handelsüblicher Consumer Hardware. Insgesamt sollen die Videobilder eine ungezwungene Visualität, die auf eine amateurhafte Unmittelbarkeit abzielt, erzeugen. Neben der Erzeugung von Aufmerksamkeit firmiert auf YouTube Authentizität ebenso als ein relevantes Merkmal zur Stärkung der Wahrnehmungsimmersion – ein Begriff, der das Eintauchen (lat. immersio „Eintauchen“, „Einbetten“) in eine künstliche, fiktionale Welt durch Auflösung der räumlichen Grenzen bezeichnet. Dieses Konzept wurde 1938 von Béla Balász in den film- und medienwissenschaftlichen Diskurs eingeführt: „Der Film hat dieses Prinzip der alten räumlichen Künste – die Distanz und die abgesonderte Geschlossenheit des Kunstwerkes – zerstört. Die bewegliche Kamera nimmt mein Auge, und damit mein Bewusstsein, mit: mitten in das Bild, mitten in den Spielraum der Handlung hinein. Ich sehe nichts von außen. Ich sehe alles so, wie die handelnden Personen es sehen müssen. Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und dadurch verwickelt in seine Handlung. Ich gehe mit, ich fahre mit, ich stürze mit – obwohl ich körperlich auf demselben Platz sitzen bleibe.“20 In diesem Sinne zielt die gängige Clip-Ästhetik der Personalisierung und des lebensechten Realismus auf eine möglichst ungebrochene Immersionserfahrung bei der Rezeption ab.

18 http://www.youtube.com/MNFIRAQ 19 Simanowksi 2008, 55-74. 20 Balázs 1995, 215.

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P OLITICS

ON

Y OU T UBE

Um die politische Dimension von YouTube als Medium beschreiben zu können, muss die Art und Weise, wie die Videoplattform ihre Produktionsund Rezeptionskontexte mit Hilfe wechselnder Softwarearchitekturen organisiert, erörtert werden. Diese Perspektive beinhaltet eine gewichtige Verschiebung der Problemstellung, indem sie die Frage nach dem Politischen nicht nur auf den jeweiligen nutzergenerierten Content bezieht, sondern versucht, die binnenpolitischen Verhältnisse der Plattform selbst zu thematisieren. Die hiervon abgeleitete These geht davon aus, dass ein Verarbeitungs-, Darstellungs- und Kommunikationsmedium wie YouTube immer auch neue macht-, wissens- und subjekttechnologische Formationen erstellt. Kurz gesagt: YouTube sendet nicht nur politische Inhalte, sondern sorgt für neue infrastrukturelle Rahmenbedingungen politischer Kommunikation, die sich oft der Einflussnahme durch die User entziehen. Mit seiner Art und Weise der Gestaltung, Organisation und Aufbereitung seiner Daten und Informationen setzt das Videoportal immer auch bestimmte medienästhetische Standards, Normen und technische Vorgaben, die auf ein spezifisches Wahrnehmen, Erinnern und Kommunizieren abzielen. Diese Annahme berücksichtigt, dass die Standardisierungen und Normierungen der grafischen Benutzeroberfläche einen konjunkturellen Einfluss auf die Partizipationskultur bei YouTube ausüben, weil sie mit ihrer einfachen Bedienbarkeit (usability) die Interaktion erhöhen. Die interaktive Teilhabe der Beiträgerinnen und Beiträger ist eingebunden in Machtverhältnisse und Wissensbeziehungen, innerhalb derer sie von anderen und sich selbst geformt werden bzw. zur Formung ihres Selbst erst befähigt werden. Sie werden von einer Reihe externer Techniken ergriffen, geformt und kontrolliert, sind jedoch auch imstande, sich diesem normalisierenden Zugriff zu entziehen, um widerspenstige Aneignungspraktiken zu generieren. Wenn folglich das Verhältnis von sozialer Software (YouTube) und Selbstpraktiken (User) nicht als determinierende Beziehung verstanden werden soll, sondern als strategische Machtbeziehung, die offen bleibt für ihre Abweichungen oder Veränderungen, dann müssen die Beiträge, welche die User selbst entwickeln, auch dementsprechend differenziert werden. Denn wenn seitens der Theoriebildung des „emanzipierten Zuschauers“21

21 Ranciere, 2009.

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der Anspruch besteht, Subjektivierung nicht als bloße Ausführung überindividueller Technologien oder als passive Aneignungspraxis zu verstehen, ist es infolgedessen notwendig, einen differenzierten Begriff sozialer Praxis zu entwickeln, um nach dem Mediengebrauch fragen zu können, der in der Praxis der Userinnen und User gemacht wird. Dieser taktische Gebrauch von Medien, die man selbst nicht hervorgebracht hat, derer man sich aber zu bedienen weiß, soll im Folgenden am Beispiel des Social Tagging aufgezeigt werden. Das kollaborative Erschließen und Verwalten von unterschiedlichen Webinhalten nimmt im Web 2.0 einen großen Raum ein. So beschränkt sich die politische Kommunikation bei YouTube nicht nur auf den Videoinhalt im engeren Sinne, sondern umfasst eine Reihe weiterer Praktiken und Verfahren, mit denen das Video mit zusätzlichen Informationen und Wissensbeständen verknüpft wird. Eine dieser Verfahrenstechniken, das Video zusätzlich zu signifizieren, stellt das Social Tagging (dt. „mit einem Etikett versehen“) dar. Hierbei können registrierte Mitglieder ihre Videos hochladen, diese mit Hilfe von „Tags“ (Schlagwörter) kennzeichnen und für weitere Nutzerinnen und Nutzer verfügbar machen, die selbst wiederum weitere Tags oder auch Bewertungen vergeben können. Es handelt sich dabei um ein Verfahren der kollaborativen Verschlagwortung, das zu den charakteristischen Anwendungen der sozialen Software zählt und nicht automatisch oder mit Hilfe eines kontrollierten Vokabulars (Schlagwortkatalog), sondern individuell erfolgt. Im Rahmen dieser freien und kollaborativen Verschlagwortung digitaler Ressourcen können die User die von ihnen frei gewählten Tags dem Videomaterial ohne feststehende Regelstruktur zuordnen. Mit dem Social Tagging entstehen instabile (Bedeutungs-)Netze, mit denen das Video zwar zusätzliche Meta-Informationen erhält, aber dennoch einem offenen und unabgeschlossenen Bedeutungsprozess überantwortet wird. So entstehen fluide und sich permanent erweiternde Taxonomien (Klassifikationsschema), die sich durch Hyperlinks (elektronische Verweise zu einem anderen Dokument) und Social Bookmarking (kollektive Linksammlungen) vernetzen und im relationalen Gefüge der wechselseitigen Bezugnahmen nur eine Momentaufnahme abbilden. Mit der prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Social Tagging wird das Video mit einer zusätzlichen interpretativen Kodierung seitens der Produzenten und Produzentinnen versehen. Indem die Tags im Videobild selbst sichtbar werden und oft weggeklickt werden müssen, besitzen sie die Fähigkeit, die evidenzstiftende Macht des Videobilds zu unterminieren.

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Fasst man YouTube als eine soziale Institution auf, die durch eine Geschichte von Praktiken, Ritualen, Gewohnheiten, Fähigkeiten und Techniken konstituiert wird, dann kann das Videoportal nicht mehr länger auf einen indifferenten Informations- und Distributionskanal reduziert werden, der Botschaften „neutral“ und „interesselos“ übertragen würde. Diese Sichtweise stärkt die theoretische Aufwertung der Handlungsfähigkeit (Agency) der YouTube-Community. Vor diesem Hintergrund geht es weniger um die Frage, ob die Videoclips inszeniert oder die Selbstdarsteller nicht doch Schauspieler sind, die gecastet wurden, da sich die genauen Produktionsbedingungen der anscheinend im Selfmade-Modus hergestellten Videos oft nicht mehr rekonstruieren lassen. Entscheidend ist vielmehr die Fragestellung, wie es zu dieser Macht des authentischen Bildes in der gegenwärtigen Medienkultur kommen konnte, die alle Medien auf eine gewisse Weise durchdringt. Auf welche Art und Weise affiziert das authentische Bild des Alltäglichen und Gewöhnlichen auch das Politische? Befindet sich die Wahrnehmbarkeit des Politischen in Abhängigkeit von einer Ästhetik des Authentischen? Der Stellenwert der usergenerierten Videos zur Verhandlung politischer Inhalte und politischer Handlungsfähigkeit (agency) zeigt sich folglich nicht nur alleine auf der Ebene der Repräsentation (die eine filmwissenschaftliche Analyse nahe legen würde), sondern auch darin, wie in der Zirkulation der Videos durch Feedback, Approbiation und Hyperlinks Bedeutungsproduktionen des Politischen hervorgebracht werden, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, welchen Stellenwert ein spezifisches Video innerhalb der Rezeptionskontexte einnehmen kann. In diesem Sinne verändert sich der Rezeptionskontext der Videos andauernd und bleibt innerhalb kulturell heterogener Diskurse und Praktiken offen und unabgeschlossen. Somit befinden sich die Produzentinnen und Konsumentinnen der YouTube-Clips grundsätzlich in einer offenen und unabgeschlossenen Austauschbeziehung der gegen- und wechselseitigen Konstitution. Obwohl die Repräsentationspraktiken politischer Videoinhalte die auf YouTube gängigen Darstellungs- und Wahrnehmungskonventionen verfestigen, die zur kulturellen und medialen Konstruktion von individuellen und kollektiven Identitäten beitragen, ermöglichen sie den beteiligten Subjekten immer auch Spielräume abweichender Bedeutungsproduktionen. In diesem Sinne muss der Aufführungscharakter des Politischen im Social Net weiter gefasst werden. Denn im Unterschied zum einseitigen Medienkanal anderer

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Massenmedien wie dem Fernsehen oder dem Radio sind Online-Videoinhalte immer auch ein diskursiver Kommunikationsraum produktiver Feedbackschleifen zwischen Produktion und Rezeption. In diesem Sinne bleiben die Videos im Aggregatzustand unterschiedlicher Verhandlungsprozesse und Mitbestimmungsmöglichkeiten uneindeutig, ephemer und umkämpft. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung ging es dieser Analyse der Herausbildung eines zivilgesellschaftlichen Mediengebrauchs von YouTube darum, den Raum der digitalen Öffentlichkeit für widerstreitende Handlungsspielräume und ambivalente Selbstpraktiken offen zu halten. Um die Handlungsspielräume im Vermittlungsverhältnis zwischen Sozialität und Subjektivität genauer zu fassen, wurde hier versucht, die befreienden wie auch einschränkenden Möglichkeiten, welche die Subjekte in den sozialen Medien des Web 2.0 zum Ausgangspunkt ihrer widerspenstigen Praktiken zu nehmen, aufzuzeigen.

AGENCY ! Es ist für die Ausbildung einer kulturwissenschaftlichen Perspektive im Bereich der neueren Rezeptions- und Wirkungsforschung zu „interaktiven“ Kommunikationsmedien von entscheidendem Vorteil, einen erweiterten Begriff von produktiver Medienaneignung zu gebrauchen,22 denn intermediale Formate, Appropriationen, Evidenzstrategien, Fakes und Wahrheitsdiskurse haben im Netz eine hybride Wahrnehmungskultur und soziale Spielregeln einer neuen Repräsentationspolitik entstehen lassen. Im Rahmen der Theorie institutioneller Mechanismen ging man bisher jedoch davon aus, dass deutungskulturelle Aneignungspraktiken den symbolischen Repräsentationen eine institutionelle Relevanz verleihen. Nach diesem Ansatz stabilisiert das aneignende Handeln die Bedingungen der herrschenden Repräsentationspolitik. Konzediert man hingegen den Videoproduzentinnen und Videoproduzenten eine aktive, kontingente und produktive Handlungsfähigkeit zu, dann erscheinen ihre diskursiven Praktiken befähigt, den Weg für die Verschiebung und Umkehr der kulturellen Hegemonie und der ihr korrespondierenden politischen Institutionalisierungen zu bahnen. Ihre Praktiken bezeichnen eine spezifische Art und Weise der Aneignung mög-

22 Vgl. Göttlich 2006; Winter 1995.

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licher Bedeutungen, welche ihre grundsätzliche Wiederholbarkeit (Iterierbarkeit) aufzeigt, denn jede „Iteration kann mit dem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen.“23 Die Modi der Vervielfältigung neuer Kontexte ist jedoch davon abhängig, inwiefern es den sogenannten „Enduserinnen“ und „Endusern“ gelingt, zu Medienpraktikern zu werden und mediale Darstellungsräume zu generieren, in welchen Medialität und Wissen in einem ständigen Gleiten einer Repräsentation unter die andere unentscheidbar werden. Die damit in Gang gesetzte Iterierbarkeit der Bedeutungen hat schließlich zur Folge, dass die medialen Repräsentationsräume und Darstellungstechniken ihre „ursprüngliche“ Referenz verlieren und ihren Sinn als Abbildung unterlaufen. OnlineFormate wie das Videoportal YouTube können demzufolge als ein mediales Aggregat diskursiver, medialer, visueller und technischer Verfahrensweisen aufgefasst werden. Letztlich tangiert die datentechnische Wissensverarbeitung alle Enduserinnen und Enduser gleichermaßen und führt zur Angleichung der Praxisfelder von „Amateuren“ und „Profis“. Um zu vermeiden, dass kollektive Totalitäten in die Kulturanalysen eingehen, gilt es, die Totalitätsperspektive „Kultur“ zu verlassen und den Bezugsrahmen ihrer Bedeutungsebenen auszuweiten.24 Der Untersuchung der Medienaneignungsprozesse der Youtuberinnen und Youtuber liegt daher ein erweiterter Begriff von Medienaneignung zugrunde. Die Annahme, dass weitverzweigte Stildiskurse und Aneignungspraktiken vorgegebene politische Kodierungen legitimieren, unterstellt den Praktiken der Youtuberinnen und Youtuber eine temporalisierte Passivität grundsätzlicher „Nachträglichkeit“, als ob ihre Handlungen immer schon im Voraus domestiziert worden wären. Diese Totalitätsperspektive der Mediennutzungsanalyse muss zwangsläufig quere Interventionen der Youtuberinnen und Youtuber verkennen und aus der Praxisanalyse ausblenden. Die jeweiligen Aufmerksamkeitsmärkte parodierend durchkreuzen sie die Logik technischer Bedienbarkeit und produzieren aktiv ihre eigenen politischen Kodierungen und erzeugen damit ein bewegliches Verhältnis zwischen den Bedingungen der Macht und den Wirkungen subjektiver Aneignungspraktiken. Judith Butler macht in ihrer „Theorie der Subjektivation“ auf die Re-Iteration der

23 Derrida 1988, 302. 24 Vgl. Hall 1999, 124.

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Macht als ihre notwendige strukturelle Bedingung aufmerksam: „Die Bedingungen der Macht müssen ständig wiederholt werden, um fortzubestehen, und das Subjekt ist der Ort dieser Wiederholung, einer Wiederholung, die niemals bloß mechanischer Art ist. Die Erscheinung der Macht verschiebt sich von der Bedingung des Subjekts hin zu seinen Wirkungen [...]. Die Reiteration der Macht verzeitlicht nicht nur die Bedingungen der Unterordnung, sondern erweist diese Bedingungen auch als nichtstatisch, als temporalisiert – aktiv und produktiv. Die Perspektive der Macht verändert sich: Sie wird aus dem, was von Anfang an und von außen auf uns einwirkt, zu dem, was in unserem gegenwärtigen Handeln und seinem in die Zukunft ausgreifenden Wirkungen unseren Sinn für die Handlungsfähigkeit ausmacht“.25 Somit speisen sich die Potenziale der widerspenstigen Praktiken aus dem Inneren der Repräsentationspolitik selbst. So ist es kein Zufall, dass sich im Internet die Konflikte und Auseinandersetzungen im Bereich der audiovisuellen Medien bündeln, insofern den Medien Foto, Film und Video ein Darstellungsmonopol auf „Evidenz“, „Wahrheit“ und „Identität“ zugeschrieben wird. Als widerständige Handlung ermöglicht die Aneignung den Youtuberinnen und Youtuber vorerst, sich dem Assimilationsdruck der kulturellen Hegemonie zu entziehen. Die Aufwertung produktiver Aneignungsstrategien verändert also in gewisser Weise die Perspektive der Macht. Versteht man Aneignung als ein die gesamte Rezeption und ihre Folgehandlungen durchkreuzenden Prozess, dann können folglich auch die Aspekte der produktiven Medienaneignung aufgewertet werden.26 In dieser Hinsicht ist die von den Youtuberinnen und Youtuber vollzogene Fluchtlinie taktischen Handelns nicht mehr als ein Ausdruck eines autonomen und individuellen Befreiungsaktes zu begreifen, sondern verweist vielmehr auf das instabile Selbstverhältnis von Subjektivierung und Entsubjektivierung. Die mittels der Youtuberinnen/Youtuber vollzogene Re-Iteration der Macht, reproduziert weder direkt noch indirekt die Bedingungen der majoritären Repräsentationspolitik, sondern transformiert ihre Repräsentationselemente. Aus dieser Transformation hervorgehend kristallisieren sich unterschiedliche Redepositionen heraus, die in genauen Untersuchungen zu klären sind (z.B.

25 Butler 2001, 21. 26 Vgl. Winter 1995.

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der digital divide zwischen digital natives und digital immigrants). Die programmatischen Thesen der kulturellen „Assimilation“ und der kulturellen „Emanzipation“ müssen folglich in ihrer Einseitigkeit revidiert werden, um die medienspezifischen Prozeduren sozialer Normalisierung und Subjektkonstitution im Spannungsfeld zwischen „begeisterter“ Selbstdarstellung und „verinnerlichten“ Kontrolldiskursen aufzeigen zu können. Eine weiterführende Perspektive eröffnet die vom Postkolonialismustheoretiker Homi K. Bhabha entwickelte Analyse der „Hybridisierungsprozesse.“27 In seiner Theorie der „kulturellen Hybridität“ macht er darauf aufmerksam, dass die Durchsetzung kolonialer Herrschaft von der Übernahme ihrer Autoritätsdiskurse durch die Unterworfenen abhängig ist. Die im Akt der Unterwerfung vollzogene Wiederholung (Reiteration) kolonialer Autoritätssymbole unterwandert die Darstellungsstrategien herrschaftlicher Repräsentation. Die Praktiken der Wiederholung führen eine Differenz in die gesellschaftlichen Verhältnisse ein, die sich sowohl auf die koloniale Autorität als auch auf die unterdrückte Gesellschaft auswirkt. Die Repräsentationspolitik der Kolonialmacht wird destabilisiert, transformiert – die Symbole der Autorität „hybridisieren“ in Zeichen der Differenz. Das Konzept der kulturellen Hybridisierung macht die Produktion kultureller Differenzierung als einen Effekt diskriminierender Praktiken sichtbar und verhindert dadurch, die Aneignungspraktiken der Videoproduzentinnen und Videoproduzenten voreilig mit der Technikutopie herrschaftsfreier Kommunikation gleichzusetzen. Diese Homogenisierungsstrategie verkennt das ungeordnete Zusammenspiel unterschiedlicher und teils konfligierender Praktiken im Netz, die sich mehr oder weniger als Anfechtung normativer Zurichtungen verstehen. Seit dem Aufstieg der Massenmedien im Laufe des 19. Jh.s sind die Erfindung und Verbreitung der Medien mit ökonomischen Interessensgemengen eng verflochten. Die kommerzielle Verwendung der Medientechnik richtet sich auch heute noch gegen die Autonomisierung und Spezialisierung der Elitenkunst und definiert Medien als Instrumente zur Befriedigung einer ästhetischen Nachfrage einer möglichst großen Anzahl von Menschen. Diese marktkonforme Kodierung der Mediennutzung ist Bestandteil popularisierender Meistererzählungen seit der Aufklärung und findet ihre vorläufig letzte Version in den Manifesten zum Web 2.0. Doch Medien ent-

27 Vgl. Bhabha 1994, 102-122.

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stehen nicht bloß aus technischen und ökonomischen Motiven heraus, sondern verändern sich aus ihrem Gebrauch heraus. Der Gebrauch der Medien erschöpft sich nicht darin, dass Technik nur benutzt, sondern auch hinsichtlich ihrer veränderten Wahrnehmungsweisen auch künstlerisch modifiziert und weiterentwickelt wird. Die Youtuberinnen und Youtuber erarbeiten sich die Technik selbst und experimentieren mit ihr, indem sie sie modifizieren, eigene Inhalte produzieren und ihre technischen Grenzen auslotsen. Dieter Daniels schreibt über die diesbezüglichen Fähigkeiten dieser Medienamateure: „Amateure greifen aktiv in den Produktionsprozess ihres Mediums ein. Sie bedienen nicht nur vorhandene Apparate, sondern Herstellung und Einrichtung dieser Geräte sind ein ganz wesentlicher Faktor ihrer Leidenschaft“.28 Eine Repräsentationspolitik wird erst dann institutionell wirkmächtig, wenn sie in ein Netz diskursiver Praktiken eingebettet ist und deutungskulturell verstärkt wird. Andererseits muss berücksichtigt werden, dass kulturelle Hegemonien grundsätzlich instabile, kontingente und in sich widersprüchliche Formationen darstellen, die zahlreiche Ansatzpunkte für ihre eigenen Selbstdestabilisierungen liefern. Dementsprechend verliert die Repräsentationspolitik und ihre diskursiven Hegemonien, die beeinflussen, welche soziale Praktiken in einer Gesellschaftsformation als erstrebenswert und alternativlos gelten, ihre vorgebliche kulturelle Dominanz und kann jederzeit unterwandert werden. Es ist also der Prozess des Wiederholens und der Nachahmung (ReIteration), durch den sowohl das Subjekt als auch kulturelle Signifikation entsteht. Die Hegemonie medialer Repräsentationen wird nicht einseitig von Institutionen, Medienkanälen oder „frei“ entscheidenden Individuen determiniert, sondern gehen aus relationalen Verhältnissen hervor, so wie umgekehrt Beziehungsgefüge und Machtbeziehungen geschaffen werden. Die Annahme einer Überlagerung von kultureller Signifikation und Machtverhältnissen nimmt Kenneth Gergen zum Anlass, seine These der kontextgebundenen Verhandelbarkeit und Veränderbarkeit sozialer Relation und kultureller Signifikation zu formulieren: „If others do not treat one‘s utterances as communication, if they fail to coordinate themselves around the offering, such utterances are reduced to nonsense.“29 Die Annahme der bis-

28 Daniels 2002, 185. 29 Gergen 1991, 265.

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herigen Konzepte, dass Medien zur Legitimation von Machtverhältnissen und Subjektkonstitution benutzt werden, gewinnt eine neue Dimension, wenn berücksichtigt wird, dass Medien erst im Prozess ihrer Aneignung entstehen, nämlich im Prozess des relating und constructing von diskursiven Netzen. Diese Vorstellung von Medienaneignung als konstruktiver Prozess wirft die Frage auf, welche diskursiven Wiederholungen es konkret sind, mit denen Auslassungen und Beschränkungen hegemonialer Medienkultur sicht- und sagbar werden können. Die Untersuchung der politischen Dimension der Medienaneignung setzt bei den kulturellen Praktiken der Youtuberinnen und Youtuber an und versucht herauszufinden, inwiefern sie politisch transformative Praktiken des Selbst generieren können. Dieser Ansatz der kritischen Wiederaneignung einer hegemonialen Kultur zählt freilich zu den zentralen Anhaltspunkten in den Cultural Studies und wurde als kulturelles Empowerment emanzipierter Subjektpositionen aufgewertet.30 In seinem Aufsatz „Putting Policy into Cultural Studies“ thematisiert Tony Bennett das Verhältnis der transformativen Praktiken des Selbst zu politischen Projekten von Kollektiven und fragt nach den Perspektiven einer kulturellen Politik.31 Dabei geht es ihm vorrangig um den Nachweis, dass bereits der Kulturbegriff in der theoretischen Kulturanalyse eine bestimmte politische Markierung aufweist. Er weist darauf hin, dass der Begriff der Kultur überwiegend im Praxisfeld der Signifikationsprozesse (signifying practices) verortet wird und damit für eine bestimmte Idee von Politik steht.32 Vor diesem Theoriehorizont erweist sich das Kulturelle zwar als ein Effekt sozialer Unterscheidbarkeit, markiert jedoch die politische Veränderung ausschließlich auf der Ebene der Signifikation. In dieser Vorstellung firmiert Kultur als ein privilegiertes Feld des Ringens um Hegemonie, dessen Organisation durch Bildungsprozesse über die Bedingungen, Möglichkeiten und Wirkungen widerspenstiger Artikulationen entscheiden. Damit wird eine Deckungsgleichheit von politischen und diskursiven Praktiken behauptet. Die Reduktion politischer Widerständigkeit auf Artikulationsformen der Signifikation und Resignifikation hat dazu geführt, dass in den jüngsten Theoriedebatten der Cultural Studies die Aufmerksamkeit auf

30 Vgl. Hall 1999, 102. 31 Vgl. Bennett 1992, 24. 32 Vgl. Bhabha 1994, 102-122.

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die ökonomische Kontextualisierung der kulturellen Praktiken gelegt wurde und mittlerweile sogar ein „economic turn“ für die Kulturstudien ausgerufen wurde.33 Nimmt man diesen Einwurf ernst, dann muss die Frage nach den institutionellen Bedingungen, welche die verschiedenen Felder der Kultur regulieren, erhoben werden. Die vorliegende Untersuchung verortet die institutionelle Rahmung des Mediengebrauchs in den Wissenstechniken der sozialen Software, die wirtschaftlichen Anwendungskontexten entstammen. Verschiebungen von Machtverhältnissen können so an die Praktiken kultureller Resignifikationen delegiert werden. In dieser Sichtweise erscheint Kultur als Differenzial der Macht und repräsentiert nicht nur deren Nicht-Identität mit sich selbst, sondern partizipiert auch auf eine gewisse Weise an den Ausprägungen herrschender Medien- und Repräsentationspolitik, unter deren Bedingungen kulturelle Praktiken ihre konkrete Gestalt und Verhältnisbestimmungen verändern. Die sich auf diese Weise formierenden Praktiken der Resignifikation kultureller Artefakte sind allerdings gezwungen, sich im Rahmen einer gewissen Komplizenschaft mit der Macht, gegen die sie opponieren, zu artikulieren: „Im Akt der Opposition gegen die Unterordnung wiederholt das Subjekt seine Unterwerfung.“34 Der Befund, dass die kulturellen Praktiken der Medienaneignung geeignet sind, die Machtstrukturen und Aufmerksamkeitsmärkte der Medienkanäle zu transformieren und zu verschieben, trifft keine Aussage über den politischen Stellenwert der kulturellen Signifikationen und Resignifikationen. Die entscheidende Frage bleibt daher, ob die Verfahren der Kontextmodifizierung, der Dekonstruktion oder das Hypertextifizieren in den signifying practices ausreichen, um die intrinsischen Widersprüche von Machtkonstellationen derart zu dynamisieren, damit kulturelle Produktionen nicht erneut den Funktionsweisen bestehender Machtverhältnisse untergeordnet werden können. In den Kulturwissenschaften hat sich mit dem sogenannten spatial turn ein Ansatz herausgebildet, der über eine bloße Diagnose raumgeprägter Sozialverhältnisse hinausgehend eine Produktion neuer Raumdifferenzen und somit eine Ausprägung eines kritischen Raumverständnisses postuliert. Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Raumrepräsentationen und

33 Vgl. Tonkiss 2007, 214. 34 Butler 2001, 16.

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mit dem kulturwissenschaftlich adaptierten Begriff des „Mapping“ geht von einer sozialen Produktion von Raum aus. Raum wird als ein vielschichtiger und oft widersprüchlicher gesellschaftlicher Prozess angesehen und meint eine spezifische Verortung von kulturellen Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit von Raum hindeuten. Die „Verortung“ der kulturellen Praktiken operiert mit einer bestimmten Vorstellung von Kartografie. Die Karte funktioniert als ein Medium, das von vornherein lesbar und sichtbar ist und wie ein nicht-mimetisches Bild funktioniert. Auch widerständige Praktiken sollen mit der Methode der Karte sichtbar gemacht werden. In seinem Kommentar zu René Magrittes „Dies ist keine Pfeife“ (1997) beharrt Michel Foucault jedoch auf der strikten Trennung von Sichtbarem und Lesbaren und macht uns darauf aufmerksam, dass der Annahme eines einzigen Machtraums die ontologische Problematik der Totalität, Metaphysik und der Identität inhärent ist. Mit ihrer Analyse der signifying practices verorten die Kulturwissenschaften die widerständigen Praktiken im Bereich des enduser interface. Diese Aufmerksamkeit gegenüber den Praktiken der kulturellen Resignifikation blendet jedoch den Bereich der formalen Modellierung von Dienst Architekturen für Multimediadienste aus. Im Unterschied zum Begriff des kartografischen Raums, der damit von den Kulturwissenschaften offensichtlich bevorzugt wird, operieren technologische und mathematische Wissenstechniken und -medien hingegen mit formalen Modellierungen und diskreten Kodierungen des Raums. Dieser digitale Raum mathematischer Operationen ist für die Anwenderinnen und Anwender weder lesbar noch sichtbar. Das Sichtbare und das Lesbare bleiben auf das Spiel raumzeitlicher Metaphern der Datennavigation beschränkt. Geläufige 3D-Simulationen konfigurieren räumliche Metaphern für die kartografische Navigation im Anwenderbereich und bilden somit einen Gegensatz zur topologischen Operativität der digitalen Kalkulation, die im Rahmen der Anwendung unbemerkt abläuft. Eine Möglichkeit, Youtuberinnen und Youtuber als radikale Akteure zu denken, entwerfen Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem 1980 veröffentlichten Werk „Mille Plateaux“, das in der Folgezeit für viele Theoretiker zum Inbegriff der Netztheorie avancierte. Zur Bestimmung kontrasignifikanter Praktiken haben Deleuze und Guattari den Begriff des „asignifi-

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kanten Diagramms“ geprägt.35 Dieser Begriff unterscheidet sich von den retroaktiven Konzepten der Differenzproduktion in der Medienaneignung (Resignifikation, Reframing, Rekontextualisierung). Im asignifikanten Diagramm werden nicht zwei konfligierende Formen des Zeichengebrauchs aufeinander bezogen, da jenseits des herrschenden Zeichenregimes ein neues Regime im Entstehen ist, das aber nicht das gleiche Territorium wie das dominante Zeichenregime für sich beansprucht. Ein solches Diagramm ermöglicht es, Aneignungspraktiken anzuzeigen, die sich der Symbolisierung in einem gegebenen Zeichenregime entziehen, den Bruch mit der dominanten Segmentierung vollziehen und somit ein künftiges Potential andeuten: „Asignifikante Diagramme enthalten Knoten der Koinzidenz, die jederzeit Zentren der Signifikanz und virtuelle Subjektivierungspunkte bilden können.“36 Hier entstehen keine defizitär motivierten Konflikte um das Zeichen, sondern „Fluchtlinien, die primär sind, die in einem Gefüge keine Phänomene des Widerstands oder Gegenangriffs sind, sondern Punkte der Schöpfung und der Deterritorialisierung.“37 Den im Netz produzierten asignifikanten Verknüpfungen und Überlagerungen kann kein eindeutiger Ort in einem Zeichenregime zugewiesen werden. Die asignifikanten Diagramme können von den Zeichenregimen zwar verarbeitet, aber nicht integriert werden, weil sie nicht-narrative und asubjektive Repräsentationen darstellen. Eine Dynamisierung der inneren Widersprüche der hegemonialen Medienkultur könnte also darauf hinauslaufen, die Konstitutionsbedingungen gesellschaftlicher Ordnung und die Bedingungen der Subjektivitätskonstitution durchgreifend zu erschüttern.

35 Vgl. Deleuze/Guattari 1997, 191. 36 Ebd. 37 Ebd. 194.

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Gestörte

Dreck, Lärm & Gestammel H OLGER S CHULZE

Ein Mensch tritt zu uns. Er zittert, fliehender Blick; borstige Haare auf der Lippe, aus Warzen und auf den Ohren. Er oder sie ist umrundet von einem Geruch eingetrockneten Schweißes und Blutes. Sie oder er, schwer das zu sagen, geht auf uns zu – schrecken wir zurück? Was will er von mir? Warum steht er oder sie so nah bei mir. Es bedrängt mich. Ich ertrage die Gerüche, die Ausdünstungen, die schiere Nähe und Wucht dieses Körpers nicht; fühle ich mich nicht sogar angegriffen, in meinem geduschten und gereinigten Selbst? Befürchte ich nicht, selbst von diesem Schmutz, diesem Dunst eingefangen zu werden, der von nun an mich umgibt? Fürchte ich, vielleicht grundlos, eine Infektion? Je länger eine solche subjektiv erfahrene Bedrängung andauert, umso mehr frage ich mich: Wie lange dauert das noch? Werde ich unversehrt, nicht-infiziert diese Situation verlassen können? Und: Was, wenn er oder sie mich womöglich noch anspricht, den Blick auf mich richtet, mich touchiert, gar anfasst? Was dann? Soll ich mich losreißen, wegblicken, umdrehen und davonstürmen? Soll ich mich ihr oder ihm zuwenden? Was soll ich tun? Eine bettelnde Hand, eine gekrümmte Geste, fahrige, undeutliche Haltung. Es ist eine Situation der ungewollten und willkürlichen Verstrickung, in der wir uns in solchen Momenten wiederfinden. Wir fühlen uns hineingezwungen in einer art sensorischer Gemeinschaft mit einem Menschen, welchen wir offenbar sensorisch abstoßend empfinden. Wir fragen uns

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dann: Werden wir die Nähe zu dieser Person jemals wieder abschütteln können? Es scheint, dass das Kaputte nur aus der räumlichen oder historischen Ferne für uns erträglich ist. Kaputte Menschen in unserer Nähe dagegen erfahren wir mitunter als einen Angriff, einen Zerstörungsversuch, der sich durch die schiere Anwesenheit schon gegen uns persönlich richtet. Die Angst vor Ansteckung ist maßlos: als könnte das Kaputte, Zerstörte, Vernichtete und Erschöpfte, das Ausgehöhlte und Verrottete dieser Person auf uns übergreifen? Das Kaputte sabotiert uns. Es entwertet unsere eigene Existenz allein durch sein Dasein. Wenn Die Kaputten vom Görlitzer Bahnhof1 beschrieben werden, dann zumeist als Kolorit oder abschreckendes Beispiel, allerhöchstens als pervers romantisierte Gruppe von Nischenexistenzen. Wer kaputt ist, der ist am Ende. Unbrauchbar; nutzlos; nichtswürdig. Der kriegt nichts mehr gebacken. Wandert durch die Stadt, suchender Blick. Redet vor sich hin. Sucht Essen, Trinken, Drogen, geduldige Zuhörer. Verloren und hilflos. Schimpft und klagt, brabbelt und geißelt alles um sich rum – zumindest sprachlich: „Mich macht nachdenklich, wie streng es verboten ist über die Gegenwart nachzudenken. Überall, ich hab' das immer wieder erfahren. Mich widern die Kulturkritiker an, die Literaturkritiker, mich widern diese ganzen Kritiker an, diese Arschlöcher zweiten Ranges. Ich bin so oft auf das Wort Besprechung gestoßen. ‚Machen Sie eine Besprechung!‘ Besprechen. Als ob man irgendeine Krankheit bespricht. Man bespricht irgendwas. Be-sprechen. Warum könnt Ihr denn alle nicht mehr richtig genau sehen? Mit all Eurem ganzen Körper. Warum könnt Ihr das denn nicht mehr? Frauen. Ärzte. Priester. Politiker. Soziologen. Psychologen. Alles dieselbe Mischpoke. Dazu kommen noch Rockmusiker und Filmstars. Die gleiche Mischpoke. Alles ein einziges Vormachen. Und was machen sie vor? Fummel. Fummel und Fetzen.“2

Die verlorenen Wanderer – wie ihn Rolf-Dieter Brinkmann hier gibt – werden als Projektionsfläche gern gewählt in der Pop- und der Hochkultur. Sie dienen vor allem als Träger einer Rollenprosa des radikal subjektivisti-

1

Goetz 1998, 57.

2

Brinkmann 2005, CD5, Track 8, 0:00 – 1:33.

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schen, weltverachtend-nihilistischen Blicks auf gesellschaftliche Normen; sowie als Verkörperung des Widerstandes – wie immanent auch immer – genau dagegen: Der Penner. Der Gammler. Der Hustler oder Hippie. Der irre Weise. Der Theken-Philosoph, vegetierend am Existenzminimum. Bis hin zum skurril-kaputten Dandy – zwischen luxurierender Hochstapelei und schicksalshaft-spielerischer Verarmung. Sie sind allesamt Gestalten des Dysfunktionalen, der Disruption und Erratik in einer Welt, die als überfunktionalisiert, als rundlaufend, gutgeschmiert und sinnloses Getriebe gesehen wird. Ich frage mich in diesem Beitrag: Was richten solche Gestalten des Dysfunktionalen an, wenn sie auf den öffentlichen, den medialen Bühnen dieser Gesellschaft sichtbar werden? Wie sabotieren solche Wesen und Kreaturen den Betrieb der medialen Produktion und Aussendung? Wenn sie nicht in Suppenküche, Hartz IV oder Nachtasyl versteckt bleiben – sondern unter uns wandeln? Mein Zugang ist dabei der einer Anthropologie der Medien. Als kritische und symmetrische Kulturanthropologie befragt sie die medial kursierenden Darstellungsformen und Genres auf Menschenbilder und Lebenskonzeptionen, Denkmuster und Handlungsnormen hin; und sie erkundet, welche Haltungen von Menschen sich auf welche Weise medial repräsentieren lassen. Die Beispiele, die ich in diesem Artikel erwähne oder andeute, sind dabei kennzeichnend für die besondere medienkulturelle Repräsentation dieses Gegenstandes, des Kaputten, in der Gegenwart eines kleinen Ausschnitts westlicher Kultur: im wiedervereinten Medienkontinuum der Bundesrepublik Deutschland des beginnenden 21. Jahrhunderts. Das kaputte Reale wird – wenigstens in diesem Medienkontinuum – bemerkenswert selten abgebildet; und wenn, dann geschieht dies zumeist auf eine unangenehme Weise, es geschieht voyeuristisch, voller Angstlust (auf die ich später zurückkommen werde). Aus Pietät vor dem und all den Kaputten der Gegenwart und der Geschichte, vor allem auch in nicht-westlichen Kulturen und devianten Subkulturen wähle ich im Folgenden darum vor allem stilisierte Darstellungen aus, die kaputtes in den Kokon der Medien hineintragen; diese aber verweisen auf Reales. Es sind Mängelanzeigen – wie so viele Artikulationen der Kunst.

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W AS HEISST KAPUTT ? O DER GENAUER : W ER

IST KAPUTT ?

Bevor ich diese Frage auch nur annäherungsweise zu beantworten versuche, muss ich die umgekehrte Frage mit stellen: Was ist überhaupt nichtkaputt? Was ist ganz? Gesund? Heil? Ich möchte an dieser Stelle nicht unzulässig vereinfachend deduzieren und so beginne ich mit einer kleinen Kasuistik: essayistisch-persönlich und genau darum auch repräsentativ und für diese Gegenwart der 2010er Jahre auch höchst charakteristisch. Welche kaputten Existenzen kennen wir? Wie betreten kaputte Figuren überhaupt noch den Kokon medialer Darstellung – aus geskripteten Artefakten in Film, TV, Games und Websites? Sind diese Räume nicht durchweg narrative gated communities? Erzeugen die Fokusgruppen einerseits sowie die Produktionsgesellschaften und ihre Bewertungskataloge für gelingende Produktionen nicht einen selbstähnlichen und auf sich selbst eingekrümmten Strom nahezu identischer Produktionen, narrativer Bögen und charakterlicher Stereotypen, aus dem kaum auszubrechen ist? In welchen Erscheinungsformen und Rollenklischees dürfen kaputte Existenzen unser mediales Kontinuum entern? Wenn ich an kaputte Existenzen denke, dann denke ich an Drogenwracks, an Verstrahlte und Hängengebliebene, Stupor und Hospitalismus. Einen Persönlichkeitstypus, der vermutlich charakteristisch urban und metropol ist, da er in eher dörflich-traditionalen Soziotopen dazu angehalten und konditioniert wird, sich zu camouflieren. In einer Epoche, in der aber metropole Praktiken und Habitusformen weit in die Winkel des Landes gesendet und angeeignet werden, in einer solchen Epoche der Gegenwart ist diese Unterscheidung in Auflösung begriffen. Die von Drogen zerstörten Persönlichkeiten können nun zunehmend überall sich zeigen. Ihr Hospitalismus und Stupor durchzieht die Gesellschaften der Gegenwart, die begründeterweise als genuin von Rauschmitteln geprägte und von Suchtverhalten geformte angesehen werden müssen.3 Ich denke an Karriereverlierer, an sogenannte loser und Opfer. An Personen, Persönlichkeiten, die – mit Talent ausgestattet – nicht die Leistungen erbrachten, die von ihnen erwartet worden waren. Oder die dazu nie eine Chance hatten, geknechtet in sozialen Abhängigkeitsverhältnissen der

3

Schulze 2004.

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wechselseitigen Erniedrigung und sozialer Deklassierung. Je näher uns solche Personen einmal waren, umso größer kann das Unbehagen, die Peinlichkeit, die unerträgliche Nähe sein, die uns anspringt, sind diese Personen so offensichtlich an ihren eigenen Ambitionen und deren der anderen gescheitert. Es betrübt uns nicht nur, es ist eine Ermahnung und Warnung vor dem eigenen möglichen Scheitern nicht die Augen zu verschließen. Auch Du wirst scheitern! Bald sogar. Ich denke schließlich auch an Kriegsopfer: an seelisch oder körperlich verkrüppelte Soldaten und Zivilisten. An jene, die mit hohen Hoffnungen, wehenden Fahnen, eintrainiertem Feindeshass und tiefem Vertrauen in die Rechtlichkeit der eigenen Armee und womöglich Republik loszogen; und im Kampf, im Lazarett und Schützengraben, in aufgeheizten Panzern in der Wüste, nur die Unmenschlichkeit, die Nutzlosigkeit und Ziellosigkeit – die Vergeblichkeit der eigenen Tätigkeit erfuhren. Eine Erfahrung, die historisch nachwirkend wohl an den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts beispielhaft kulturell implementiert wurde und die in den späteren Kriegen Supermacht Vs. Guerillaarmee (Vietnam, Afghanistan, Afghanistan, Iran) immer wieder durchgemacht, artikuliert und warnend propagiert wurde. Können wir uns gegenwärtig eine Form des Krieges (abseits des technologischen Dronenkrieges) vorstellen, die nicht in einer Ausbeutung der energiegeladenen Hoffnungen junger Kämpferinnen und Kämpfer für eine vermeintlich gute Sache bestünde? Die sich am Ende als blutiges Machtspiel plutokratischer Eliten entpuppt? Es fällt schwer, dieses durchaus populistische Ressentiment von sich zu weisen. Schließlich denke ich auch an Kreaturen – dies vermutlich der unmerklichere, der gewöhnlichere Fall in unserem täglichen Leben –, Kreaturen, die zerstört und gebrochen wurden im Normalismus der Berufswelt und des Beziehungs- oder Familienlebens: zwischen unerfüllbaren Ansprüchen, Bewerbungsmappen-Optimierung und Schönheitswettbewerben, lookism und recht eigentlich inhumanem Lebenslaufs-Perfektionismus, Institutionen-, Projekt- und Arbeitgeber-hopping im Jahresrhythmus. Die leicht gesellschaftskritisch geprägte Belletristik, Dramatik und Essayistik der Angestelltengesellschaft ist voll davon, zwischen Arthur Millers Death of a Salesman und Don DeLillos Cosmopolis. Es ist normal, so scheint es, von den machtvollen Dispositiven der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie aufgerieben zu werden. Es ist zu erwarten, dass jeder, der sich darin hoffnungsfroh und ambitioniert hineinbegibt, um sein Glück zu suchen, genau

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darin umkommt: vernichtet und zerschreddert, entkräftet, erschöpft und ausgebeutet bis nur noch eine fahle, graue, sterbliche Hülle bleibt, am Ende des rat race.

D AS

NORMALISTISCHE

B EGEHREN

Doch wie normal ist dies wirklich? Die Theorie des Normalismus ist hier vergleichsweise eindeutig: Normalismus wird darin definiert als ein letztlich pathologisches Streben einer Person nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit zur mittleren, der mehrheitlichen Zone einer statistisch ermittelten Gaußschen Kurve. Normalismus gilt somit als das Streben nach Mehrheitszugehörigkeit. In seinem Standardwerk hierzu von 1996 definiert der Diskursanalytiker Jürgen Link denn auch den Diskurs des Normalismus als eine „homöostatische Vorstellung auf der Basis von Homogenisierung, Kontinuierung und Eindimensionalisierung.“4 Normal in diesem Sinne ist ein objektives Leben, ein gegenständlich beobachtbares und in Leistungsgraden messbares Artefakt. Ein Leben, das von anderen potenziellen (Mit-) Beobachtern und (Mit-)Beobachterinnen als ebenso richtig, relevant, gültig und normal angesehen wird. Es ist eine Sehnsucht, die sich darauf richtet. Um dieses erstrebte Verbleiben auf der mittleren, normalisierten Ideallinie sicherzustellen, so konstatiert Link, wird gesellschaftlich eine „SignalOrientierungs- und Kontrollebene“5 etabliert: sie ist die einzig gültige Referenz des normalistischen Begehrens. Erst eine solche Verdatung des Lebens in objektiv aufzuzeichnenden, vergleichbaren und speicherbaren Statistiken, Normalverteilungen, Gaußschen Kurven und Graphen erlaubt es überhaupt einen normalistischen Diskurs gesellschaftlich als maßgeblich zu etablieren. Epochen vor dieser Verdatung konnten dies lediglich anstreben, aber nur punktuell erreichen und implementieren. Die dadurch ermöglichte Funktionalisierung im Sinne einer normalisierenden Gleichschaltung fasst Link wie folgt zusammen:

4

Link 1997, 358.

5

Ebd. 360.

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„In ständigem Kreislauf werden also Verhaltensweisen zu ‚Fakten‘, ‚Fakten‘ zu ‚Signalen‘, ‚Signale‘ zu Verhaltensweisen usw. Die Transformation von Verhaltensweisen in ‚Fakten‘ und ‚Signale‘ tendiert zur Funktionalisierung aller mit den Verhaltensweisen womöglich verbundenen Intensitäten auf den Signal Charakter hin.“6

Normalismus ist somit das ideologische Fundament einer sehr gewöhnlichen Kaputtheit der Gegenwart: der Untertanengeist des Jetzt. Das phantasmatische Ideal, eine überfunktionale Kreatur zu werden. Zurück zu der Frage des Anfangs:

W ER

IST KAPUTT ?

Es waren vier Typen, die ich eingangs – eher kasuistisch-essayistisch – versammelt und erinnert habe: Drogenwracks, Verstrahlte und Hängengebliebene; Karriereverlierer, Loser und Opfer; seelisch oder körperlich verkrüppelte Soldaten und Zivilisten als Kriegsopfer; sowie Existenzen, die vom Normalismus der Berufswelt und des Beziehungs- oder Familienlebens gebrochen und vernichtet wurden. Nicht wenige kaputte Kreaturen, die uns begegnen, entsprechen nicht nur einem dieser Typen: die Zerstörungen und Kaputtheiten suchen einander, steigern sich wechselweise und die Soziologie des Abstiegs kann wiederum charakteristische Abstiegsgeschichten erzählen, in denen die eine Zerstörung, die andere ergibt, in ihr sich weiter steigert und die Zerstörung schließlich zur unumkehrbaren, endgültigen werden lässt. Diese Zerstörungen nun, diese zerstörten Kaputten – es muss in dekadenten Zeiten ausdrücklich gesagt werden – sie sind weder schick noch glamourös; sie bieten keinen wirklichen Schauwert und sie sind vor allem ganz ungeeignet, sich geschmäcklerisch damit zu schmücken. Tatsächlich sind sie dysfunktionale Kreaturen in einem umfassenden Sinne. Ihre fundamentale Dysfunktionalität unterscheidet sie damit von einem weiteren Typus, den ich hier zunächst umgangen habe – und der in normalistischen Gesellschaften immer wieder als ein abgrenzungsgeeignete Referenz dient.

6

Ebd. 362.

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Dieser fünfte Typus wäre der letztlich selbstbestimmt abweichende Lebenskünstler, der seine Niedergeschlagenheit, sein beat sein, sein Leben einer lost generation, zelebriert, ausstellt, sich damit schmückt und als Faktor der Distinktion gebrauchen kann. Ein Szeneoriginal oder Faktotum, eine undurchschaubare Existenz, von der niemand so ganz genau weiß, wovon sie nun eigentlich wirklich lebt? Was sie eigentlich tatsächlich beruflich so macht, for a living? Und wie sie wohl von Tag zu Tag lebt? Wovon lebt eigentlich Peter? Zu diesen Kaputten aus Distinktionsgründen müssen wir auch Figuren zählen, die in medialen Skripten als Kaputte und underdogs inszeniert und hingerichtet werden – zum Nutzen einer beeindruckend wuchtigen Aufstiegs- oder Absturz-Erzählung. Beispielhaft für diesen Untertypus ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts wohl die kaputte, zerstörte, hoffnungslose Teilnehmerin einer Castingshow, die sich erst im letzten plot point der Serie offenbaren darf: erst an diesem dramaturgisch wichtigen Punkt darf sie (seltener: er) ihre großartig ausgebildete Stimme im alten faltig-ruinierten Leib erblühen lassen. Alternative, ebenso dramaturgisch inszenierte Narrationen des genialen Kaputten finden sich etwa im wissenschaftlichen oder künstlerischen Genie, das horribile dictu im behinderten oder geistig verwirrten Körper steckt. Der Weise im Kranken. Diesem letzten, dem fünften Typus – in all seinen Untertypen und geskripteten oder anderweitig medial inszenierten Varianten –, diesem Typus des nur vermeintlich Kaputten möchte ich mich hier nicht zuwenden. Ist er doch für den medialen Raum der Produkte und Narrationen keine wirklich erratische oder inkommensurable Herausforderung: solche Kaputten aus Distinktionsgründen lassen sich hervorragend dramaturgisch einpassen als überraschend bitter-süße Geschmacksrichtung in einem ansonsten homogenisierten Mediennarrativ. Im eigentlichen Sinne sind solche inszenierten underdogs tatsächlich keine kaputten Existenzen; allein ihr schierer Aufenthalt auf den materiellen Bühnen medialer Großproduktionen zeigt an: diese Menschen werden immerhin noch als hinreichend akzeptable Kreaturen angesehen, die sich einigermaßen stimmig in die gesamte Produktion einfügen lassen. Kaputt ist also nicht eine Kreatur, die sich als solche große inszeniert oder groß als solche inszeniert wird: die Größe der Inszenierung widerlegt alle Kaputtheit und Zerstörung. Sie ist dann eben eine groß Person und keine kleingemachte Kreatur. Solche Menschen als kaputt zu bezeichnen ist

DRECK, LÄRM & GESTAMMEL | 125

eher Ausdruck eines kunstvollen Understatements oder einer biografischen Scheu, die schon kleinste Mängel hochjazzt zu radikalen Irritationen: allein, um die Makellosigkeit als noch gewöhnlicher und normalistischer erscheinen zu lassen. Ich möchte dagegen bei den Kaputten bleiben, die kaputt bleiben. Deren Zerstörung des Denkens, des Körpers, ihres Habitus und ihrer eigenen Persona, in Biographie und Laufbahn sich nicht am Ende einer Erzählung oder einer Situation dann doch noch glücklich zurechtbiegen lässt im normalistischen Sinne. Die kaputte Figur, die durchgängig als kaputt figuriert – und darin auch untergeht, unbeschrieben. Nichts als kaputt. Diese Kreatur möchte ich im Folgenden näher betrachten und bedenken. Es ist keine Motivgeschichte des Kaputten, keine Parade semantischer Parallelen und Analogien des Kaputten; es geht mir tatsächlich um eine physische, physiologische, schier materielle Kaputtheit. Die Konkretion der Zerstörung ist zu erkunden.

D IE

KAPUTTE

P ERSONA

Die kaputte Person ist eine Figur, selbstverständlich. Eine Figur – verstanden im Sinne der commedia dell'arte oder des Manga –, die sich als Person tatsächlich fraglos glaubwürdig verkörpert. Sie ist, an jedem öffentlichen Ort, zugleich eine mediale Persona: Sie ist kaputt und sie stellt dies zugleich überzeugend dar auf medialer Bühne – ebenso wie der Harlekin tatsächlich Harlekin ist auf der Bühne des Marktplatzes. Die mediale Persona7 bildet sich im Laufe des Umgangs mit und des Handelns auf medialen Bühnen. Wie sie sich ausbildet ist von Protagonisten oder Protagonistinnen selbst nur schwer zu kontrollieren, sie sind nicht die Autoren ihrer eigenen Persona – die vielmehr vom Publikum und Auditorium erzeugt wird in Reaktionen und nachholenden Gerüchten und Ausdeutungen. Die tatsächlich soziale Konstruktion einer solchen medialen Persona kann von der empirischen Person, die sie darstellt, lediglich punktuell unterstützt oder torpediert werden: durch die konkreten medialen Handlungen und wie überzeugend diese jeweils dargestellt werden. Ängstliches Herumdoktern an der eigenen Persona oder gar flehentliches Rufen –

7

Schulze 2003, 2004, 2005, 2008, 2012.

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Man sei doch gar nicht so! Keiner würde einen verstehen! – all das trägt höchstens zur Ausbildung einer medialen Persona als flehentliche, hilflos getriebene und ängstliche Person bei. Das mediale Kontinuum erzählt sich seine Protagonistinnen und Protagonisten so, wie sich deren Auftritte auf medialer Bühne am einfachsten und publikumsträchtigsten miteinander verknüpfen lassen. Der Begriff der medialen Bühne wird somit – in Anschluss an Untersuchungen der Theateranthropologie8 und Forschungen der historischen Anthropologie9 – im weiten Sinne einer Medienanthropologie10. Weit über erschreckend kontrovers diskutierte, grundlegende Fragen der Performativität menschlichen Handelns in täglichen Situationen11 hinausgehend, löst sich der Begriff der medialen Bühne gänzlich vom europäischen Theaterbau und seinen historisch spezifisch gewordenen Schauspieltheorien; in einer umfassend globalisierten und mediatisierten Epoche des beginnenden 21. Jahrhunderts ist endlich anzuerkennen: die Situationen medialer Bühnenhaftigkeit übersteigen in allen ihrem Myriaden von Erscheinungsformen jedwede denkbare, womöglich nicht-mediale und damit nicht-öffentliche Situation. Ein Audio- oder Videopodcast ist heute ebenso eine 20, 30 Minuten lange Bühne – wie etwa eine simple, zweidimensional durchklickbare Website mit ihren statischen oder bewegten Portraitfotos darin. Ein twitterAccount als Strom einzelner Äußerungen, Aphorismen, Links und Fotos ist ebenso eine sprachlich-grafische Bühne – wie natürlich jeder Facebookoder Google Plus-Account. Und nach wie vor sind auch die großen, massenmedial ausgestrahlten Sendungen – Samstagabend-, Talkshow, Preisverleihung – die mitunter bedeutendsten medialen Bühnen der Gegenwart. Unser tägliches Leben bewegt sich nicht nur auf den medialen Bühnen des physischen Lebens – Einkaufsstraße, Bushaltestelle, U-Bahn, Konferenzraum, Kantine, Spielplatz, Restaurant, Kneipe – sondern ebenso umfassend und weitreichend auf den medialen Bühnen der digitalen Netzwerke. Was ist nun diesen Bühnen gemeinsam? Diese Bühnen ändern sich, in ihrer materiellen Verfasstheit und ihrer personalen Konstellation, wenn eine Person nun quer zu diesen Bühnen handelt – oder handeln muss. Denn je-

8

Schechner 1990.

9

Serres 1985; Kamper und Wulf 1984; Wulf 1997, 2009.

10 Schulze 2012. 11 Goffman 1959.

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der Auftritt auf medialer Bühne verwandelt – wiederum in Übereinstimmung mit performance studies und Theateranthropologie – die empirische Kreatur, den Menschen, den wir näher kennen in eine reduziert und zugespitzt geformte, charakteristisch stilisierte mediale Persona: Maskenspiel unserer selbst. Wir sind stets stilisiert, wenn wir in der Öffentlichkeit sind, ob wir dies wollen oder nicht, durch Fremdzuschreibungen und Selbststilisierungen. Wir werden zur Maske, mitunter auch zur Fratze, zum Zerrbild unserer selbst gemacht: „Der Witz der Zugriffsweise auf die mediale Persona ist die Perspektive des INADÄQUATEN. Nicht wie es gemeint ist, will man verstehen, sondern ganz brutal schaut man darauf, wie es WIRKT. Von ganz aussen aus gesehen. Nicht was jemand leistet zählt, sondern der diffuse Eindruck, den er hinterlässt, den sein Act hervorruft.“12

Jede empirische Kreatur wird zu solch einer Wirkungsfigur, einer medialen Persona eben – zumal im Eintritt in eine schon gegebene Situation, die nun auch von dieser neuen Person bevölkert und geteilt werden muss. Sie begibt sich in ein Ensemblespiel. Ein Spiel, das nicht nur intersubjektiv, sondern auch interobjektiv13 entsteht aus der Physis und Inszenierung eines Raumes, der Konstellation, dem spacing14 der Dinge in diesem Raum den Habitusformen der Personen, ihrer situativ durchaus sprunghaften Handlungs- und Interaktionsdynamik sowie dem Eintauchen in ein geteiltes oder vielfach zersplittertes Anliegen. Solches Darstellungsspiel der Dinge und Wesen wertet nicht nur um, allein durch die schiere Bühnenhaftigkeit der Situation, sondern es intensiviert und spitzt auch zu, was ein Ding oder eine Person ausmacht. Keiner handelt hier allein – Jeder steht in Bezug zu allem und allen anderen: Mediale Personae auf medialen Bühnen. Was geschieht aber, wenn einer der Ensemblespieler nun nichts anderes artikulieren und performieren kann als seine eigene, faktisch tabuisierte Devianz? Wenn eine der medialen Personae nur ihre Kaputtheit zeigt und ist? Er oder sie entblößt damit ganz die illusio (Bourdieu) des jeweiligen gesellschaftlichen Feldes, das auf der medialen Bühne sich hier aufführt.

12 Goetz 1999, 307. 13 Latour 2001. 14 Löw 2001.

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Das Stammeln, das Herumlärmen oder Verdrecken, das Stottern oder Geifern, Zittern oder Zögern, Schwitzen und verwirrte Hetzen, all diese kaputten Handlungen einer medialen Person sind nichts anderes als eine Nestbeschmutzung in actu: die kaputte Person beschmutzt die jeweils dargestellten Reinheits- und Ganzheitsillusionen, die jedes Feld prägen. Der kaputte Mensch verletzt durch seine Kaputtheit alle Beteiligten auf der medialen Bühne persönlich und unmittelbar. Sein Kaputtsein macht alle(s) kaputt. Körperliche Devianz, sprachliche Ticks, über- oder unterspannte Habitusformen sind unmittelbar Anklage und Kritik an allen anderen Auftretenden. Die Kaputtheit des Einzelnen (sowie sein Zerstören) zerstört die Ganzheit der anderen. Die kaputte Person demontiert und sabotiert sich somit, willentlich oder unwillentlich, selbst. Damit aber sabotiert sie nolens volens auch die gesamte Ensembleleistung. Ein beleidigender Ausfall, der in Protagonisten des zuvor erwähnten Normalismus die typische, durchaus als existenzgefährdend empfundene, Denormalisierungsangst weckt: Muss ich auch so werden? Steckt mich sein/ihr Handeln etwa gleich an? Was, wenn ich dort hineingezogen werde? Tiefe, momenthaft intensiv erlebte Angst, die psychodialektisch gebunden bleibt an lustvolle Denormalisierungssehnsucht:15 Will ich nicht gerne so werden? Möge mich sein/ihr Handeln doch anstecken! Würde ich nicht gerne dort hineingezogen werden? Wir meiden das Kaputte. Wir ersehnen es. Wir fürchten die Ansteckung, das physische, psychische Überspringen der Infektion: die Pathologie des Normalismus. Ein machtvoller Glaube und Aberglaube an situative Übertragung, an determinierende Empathie und Mimesis beherrscht unser Leben auf medialen Bühnen der anwesenden und der übertragenen Welt: Je länger ich mit einem Menschen umgehe, sie/ihn um mich habe – umso mehr werde ich so wie er oder sie. Am Ende ist es genau das trotzige, männerphantasiehafte16 Festhalten an Illusionen eigener Ganzheit und gedanklich-körperlicher Integrität, trotz alle der Realität, die nie ganz und integer/integral ist; es ist diese Wut auf die Wirklichkeit des Zerstörten, des Unfertigen, Unvollkommenen, Imperfekten, die tatsächlich einen zerstörerischen, gewalttätigen und desintegrierenden, alles kaputthauenden Gegenzauber gebiert: Krankheitshass und

15 Link 1997, 362. 16 Theweleit 1977/1978.

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Schwächeverachtung, pathologische Sucht nach Makellosigkeit, Geradheit und Ungebrochenheit, Lob der stets gewalttätigen Klarheit und Verachtung aller Komplexität, Verfältelung und Subtilität, Verflechtung und Vermischung, Verwaschenheit und Amalgamierung. Eine totalitäre Anti-kaputtheitsphantasie.

D IE

ÖFFENTLICHE

W UNDE

Im Jahr 2000 produzierte und moderierte Christoph Schlingensief eine achtteilige Fernsehserie namens U300017. Diese Serie nahm Bezug auf seine Wahlaktion Chance 2000 und seine Talkshowserie Talk 2000 – Verhöhnung auch aller Millenniums-Selbsterhöhungsprojekte. U3000 war eine typische Musikfernsehsendung, auf MTV – und sie spielte in einem Zug der Berliner Untergrundbahn U7 Britz-Süd nach Berlin-Spandau; U3000 behielt dabei seinen Anklang an die Bezeichnungen von U-Booten, besonders im 2. Weltkrieg: U1, U47, U4870. Der Krieg sollte, ganz schlingensiefsch, nun aber im Musikfernsehen ausgefochten werden, in den lichtarmen Schläuchen der U-Bahn, mitten im öffentlichen Personen-Nahverkehr. Alte Celebrities, ausgewählte Prolls und ein Stammpersonal an körperlich und geistig Behinderten auf medialer Bühne. Kaputte Menschen und ihr Leben sind stetes Anliegen im Werk von Schlingensief; ich schreibe bewusst nicht, dass sie ein Gegenstand seines Werkes wären. Schlingensief arbeitete nicht über kaputte Menschen, eine solche Vergegenständlichung wäre exakt das Gegenteil von seinem Anliegen, sie stellt er dagegen als falsch aus. Wären sie Gegenstände, dann würde nur ihre Kaputtheit wiederum voyeuristisch ausgestellt, sie selbst kämen nicht vor, nur ihr gesellschaftlicher Makel als isolierter Schauwert. Was Schlingensief aber tut ist, dass er diese Menschen – in all ihrer medialen Inkommensurabilität, ihrer mutmaßlichen Peinlichkeit und beschämenden Nicht-Passung zu medialen Bühnenformaten –, dass er mit diesen Menschen arbeitet und sie darin auch unterstützt, sie befähigt, zumindest hinreichend unterhaltsam und wirksam sich zu zeigen. Dies machte er durchgängig, in vielen Filmen, Theaterproduktionen, öffentlichen Aktionen und Interventionen und eben auch in seinen Fernsehproduktionen: auch in

17 Schlingensief 2000/2001.

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U3000. In der ersten Folge vom 30. November 200018 (mit dem Thema: Diederichsen sowie ausführlicher Marcuse-Rezitation) wird auch das Prinzip vorgestellt, nach dem gealterte Prominente auf sozial bedürftige Familien in Notfällen treffen – eine Konfrontation, die schmerzhaft vor allem für die vermeintlichen Stars ist. Christoph Schlingensief beginnt die erste Konfrontation mit den folgenden Worten: „Und jetzt machen wir Folgendes: Frau Abels und Herr Abels, Sie erzählen bitte Familie Hellwig in einer Minute Ihre Probleme, Ihr Leben. Sie sagen mir nachher: Glauben Sie das? – Oder glauben Sie das nicht? Achtung, das Mikrophon – für Sie; den Gong bitte!“19

Woraufhin, beklommen aber flüssig Herr Abels erzählt von den Krankheiten, der ruinierten Wohnung, der mangelnden Unterstützung durch Behörden und Gerichte: eine tatsächlich beeindruckende, zu Herzen gehende und beklemmende Erzählung von Leid und Scheitern, wie sie in einem Menschenleben sich ereignen kann. Drastisch aber letztlich wenig überraschend oder ungewöhnlich; ungewöhnlich peinlich und tatsächlich ausgestellt wird dagegen das Verhalten der alternden Prominenz in Gestalt der Volksmusiksängerinnen Maria und Margot Hellwig. Hilflos nehmen sie sich der weinenden Frau Abels an, es ist offensichtlich, dass sie tatsächlich in einem Dilemma sind: einerseits ihre mediale Persona als frohgemute Volksmusiksängerinnen nicht aufzubrechen – andererseits aber gegenüber diesen leidenden Menschen nicht als ungehobelte und arrogante, selbstbezogene Klötze daherkommen. Und dieses Dilemma medialer Selbstdarstellung in Konfrontation mit der Kaputtheit anderer Protagonisten auf medialer Bühne, genau dieses Dilemma stellt Schlingensief aus. Darum spricht er: „Das ist, wissen Sie, wissen Sie, was jetzt passiert ist? Sie haben, Sie haben geweint; und bei einem Meiser, bei einer Schäfer wäre das jetzt eben so, dass man sagt: ‚Da hat jemand geweint in meiner Sendung; da kann ich aber stolz sein.‘ Dann kämen die Leute nachher und sagen zu mir ‚Christoph, Du bist so toll! Dass Du das machst; und dass Du so, so lieb bist zu den Leuten.‘ Wissen Sie: und ich kassier’ nachher

18 Vgl. Schlingensief, U3000 – Folge 1, 2000 sowie die Transkription in: Thurmann 2001, 25. 19 Ebd.

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zwanzig-, dreissigtausend Mark. Und Sie weinen in meiner Sendung. Das ist genau das System, was nicht stimmt. Das ist genau der Punkt, der nämlich nicht stimmt in unserer Fernsehkultur: Da laufen diese größten Arschlöcher über den Sender und die kriegen zwanzig-, dreissigtausend Mark dafür, damit Sie nachher in deren Sendung weinen. Das will ich nicht.“20

Anders als gerne interpretiert werden hier also gerade nicht die sozial Benachteiligten durch Schlingensief bloßgestellt, sondern tatsächlich das TVFormat und die Existenz von TV-Prominenz. Und so ist es auch das Volksmusikduo, dass gameshowartig die beschämende Frage beantworten muss, ob das Leid des Ehepaars auch tatsächlich Wirklichkeit sei; selbstverständlich kann hier nur mit Ja geantwortet werden – zumal Schlingensief vor dieser Frage noch sich selbst als besonders gutmeinender Moderatorenmessias stilisiert, indem er ebenso emphatisch wie übersteigert skandiert: „Das ist nämlich nicht die Zukunft von Deutschland! Das ist nicht die Zukunft von Deutschland! Da müssen wir gegen ankämpfen! Und wir werden dagegen ankämpfen! Halleluja! Halleluja! Halleluja!“21

Was an dieser kleinen Szene, wenige Minuten lang, deutlich wird, ist vor allem eines: Die kaputte Person ist eine Wunde. In der Epidermis gemeinschaftlicher Selbstdarstellung – etwa auf einer TV-Bühne – ist sie aufgerissen und bietet offenen Durchblick in das unangenehme Innere: das Andere des öffentlichen Lebens. Ein Anderes, das nicht nur einvernehmliches Ensemblespiel ist, nicht nur geschmackvoller Umgang unter Hochwohlgeborenen, respektvoll in professioneller Distanz; dieses Andere ist der Schmerz, das Leiden, das im gesellschaftlichen Status- und Erwerbskampf einander unaufhörlich beigebracht wird. Kalten Auges. Opfer, die uns (auch die anwesende mediale Prominenz) an unsere eigene Opferhaftigkeit erinnern. Doch sie erfüllen auch eine Funktion, eine bannfluchartige Funktion eben in dieser Opferhaftigkeit, die Schlingensief ebenfalls herausstellt, wenn er später sagt:

20 Ebd. 21 Ebd.

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„Sie müssen immer nur weinen, Sie müssen immer nur traurig sein, immer runtergehen, immer runtergehen; dann wird plötzlich gesagt: ‚Ja, okay, dann geb’ ich Dir ne Mark.‘ Und das glaub’ ich eben nicht. Man darf auch lachen zwischendurch. Man darf auch mal über seine Krankheit lachen.“22

Einerseits können sich, nach Schlingensief, solche kaputten Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse kaum zeigen – und andererseits sollen sie aber, sobald sie sich zeigen, sich möglichst nur in Demutspose unaufhörlichen, ununterbrochenen Leids zeigen. Allein das kann dann Almosen und Mitgefühl bewirken. Die schwarze Magie des Kaputten, des Zerstörten, sie muss unbedingt abgewehrt werden – auch indem ihm kein Ausweg, keine Freude noch im Geringsten zugestanden wird. Es ist mediale Überlebensstrategie. Eine Strategie, die Schlingensief in einer weiteren Drehung wiederum gegen sich selbst wendet, wenn er in einer sogenannten Selbstbezichtigung zu dieser Sendung schreibt: „Ich spür nichts mehr. Ich habe den Schmerz verloren. Ich muß es von außen nach innen hämmern. Foucault sagt: ‚Für einen solchen Kampf sind Übungen nötig. Die Metapher des Zweikampfs, des sportlichen Wettbewerbs oder der Schlacht soll nicht nur die Natur der Verhältnisse bezeichnen, die man zu den Begierden und Vergnügungen hat, zu ihrer jederzeit aufständischen und aufbegehrenden Kraft.‘ Das geht nur von außen. Zu wenig geschrien! Xenophon sagt: ‚wenn man seinen Körper nicht übt, kann man die Funktionen des Körpers nicht erfüllen. Ebenso kann man, wenn man die Seele nicht übt, die Funktionen der Seele nicht erfüllen: man ist dann unfähig, zu tun, was man tun soll, und sich dessen zu enthalten, was man vermeiden muß.‘ Ich muß mich zerstören oder zumindest das Bild, daß ich von mir haben soll.“23

Die Konfrontation dem Kaputten ist damit auch ein gezielter Weg der Selbstzerstörung und zur Übung in ‚Funktionen der Seele‘, vielleicht auch in Empathie, Mitgefühl und Gespür für das Leiden der Anderen.

22 Ebd. 23 Schlingensief, Selbstbezichtigung, 2000.

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G ENERATIVITÄT

AUS

K APUTTHEIT

Das Kaputte, das Dysfunktionale, soll also – zumindest für Schlingensief, im eben untersuchten Beispiel – eine Funktion übernehmen können. Aber ist das nicht viel zu gewitzt und überclever dialektisch gedacht? Ist es nicht mehr eine schicke rhetorische Figur als tatsächlich real? Denn: Welche Generativität kann das Kaputte überhaupt besitzen? Außer als schickes Beispiel in solch einer Analyse und ihrer Argumentation zu dienen? Hat das Kaputte denn überhaupt eine hinreichende Kraft, neue Handlungsweisen, andere Denkweisen anzuregen – oder ist es nicht am Ende doch nur Symptom der Erschöpfung; Erschöpfung am Ende aller Kräfte, gerade noch am Selbsterhalt, dem Vegetieren und Ringen um weitere Existenz interessiert – egal um welchen Preis? Ich möchte darum am Ende eine Denkfigur einfügen, die hier womöglich hilfreich sein kann – auch um die Anregungskraft der Sabotage allgemein zu bestimmen. Es handelt sich um die Denkfigur der Generativität des Handelns. Der Begriff der Generativität hat eine doppelte Quelle und erlaubt den längst zur blasierten Billigdistinktionsphrase und toten Metapher herabgesunkenen Begriff der Kreativität (inklusive dessen erschreckend funktionalisierende und demütigend utilitaristische Entstehungszusammenhänge in der Arbeitspsychologie der Fließbandproduktion24) wirkungsvoll zu ersetzen. Der Begriff der Generativität, wie ich ihn hier verwende, hat in Kürze zwei maßgebliche Quellen: eine komparatistische und eine soziologische. Einerseits wurzelt er in der generativen Produktionstheorie der (literarischen) Artefakte, wie sie seit den 1970er Jahren der französische Komparatist Louis Haye in seiner critique génétique höchst einflussreich vorgeschlagen hatte25. Neben dieser Betonung der Sprünge, Diskontinuitäten und Brüche im Handeln und Hervorbringen von Artefakten ist andererseits ein soziologisch und psychologisch26 fundierter Begriff der Generativität relevant: dieser Begriff beschreibt ein individuelles Handeln – auch biografisch

24 Vgl. die überzeugende implizite Kritik am Aufstieg des Kreativitäts-Diskurses durch die Aufwertung von Emotionalität, Individualität und Autonomie als Werkzeuge einer Psychologisierung in Management-Theorien seit den 1920er Jahren in: Illouz 2006, 22-30. 25 Haye 1979, 1981, 1982, 1985, 2002. 26 Kahlert 2012.

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verankert –, das nicht nur auf Selbsterhalt in einem gegenwärtigen steady state gerichtet ist, sondern zum Ziel hat weiter zu wirken, andere anzuregen, mitzuprägen und dazu beizutragen, dass neue und weitere Ideen, Vorhaben, Unternehmungen und Institutionen sich bilden können. Darum ist es als psychosoziales Konzept mit dem Hervorbringen und Verfertigen von Artefakten und Anschlusshandlungen eng verbunden – jedoch vermittelt durch andere Akteure, Kollegen und Kolleginnen, Freunde und Freundinnen, Verwandte, Kinder. Eine generative Persönlichkeit (die englische Sprache kennt hierfür den Begriff der prolificality) gelingt es durch ihr eigenes Handeln – womöglich nur ihr Sprachhandeln oder ihre vermeintlich schiere Anwesenheit und ihren affirmativen oder kritischen Gestus – andere Menschen zu wiederum generativem Handeln anzuregen und sowohl kritisch als auch bestärkend zu begleiten. Die schiere physische Präsenz eines Menschen kann so generativ wirken. Generativität in diesem Sinne verbietet eine pauschal nobilitierende und moralisierende Zuschreibung. Generativ können nur konkret zu benennende Handlungen und Handlungsweisen, Situationen und Dispositionen sein; der Charakter der Generativität erweist sich jedoch erst im Anschluss in den daraus sich ergebenden Handlungen und Wirkungen anderer, entäußerter. Was löst dieser Entwurf aus? Wie reagieren andere darauf? Was entsteht durch diese Situation? Kaputtheit, selbst in ihrer radikalsten, erratischen und unheilbaren Form, kann die Funktion einer solchen Generativität einnehmen – gerade durch ihre radikale und unhintergehbare Dysfunktionalität. Das mag im ersten Moment wie eine allzu clevere Dialektik scheinen, die der Autor nur einführt, um zu einem guten Ende dieses Artikels zu finden. Und vielleicht ist es dies sogar. Doch ist es zuvor nötig, die Unhintergehbarkeit des Kaputten tatsächlich in ihrer Tragweite und Drastik sich vor Augen zu führen: Die Ganzheitsillusion ist aufzugeben. Die Zerstörung und Ruiniertheit soll bleiben, sie soll sich ausbreiten und tatsächlich als ausweglose gegenwärtig sein: ein ausgehaltener, ein nicht zu heilender Schmerz, eine offene Wunde. Ein Unwohlsein und Unbehagen, die dieser Schmerz auslöst. Der kaputte Mensch, der auf uns zukommt ist Teil meiner Welt. Die Kaputtheit ist genau dieser Schmerz, dieses Begreifen der eigenen Zerstörtheit, der Desintegration aller idealen und gelingenden Selbstbilder. Dieser Schmerz der Kaputtheit ist nicht zu heilen. Punktum. Der Schmerz ist auszuhalten und immer weiter schmerzhaft sich ausdehnen zu

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lassen, in alle Weiterungen unseres individuellen Lebens, in die fernsten Extremitäten unseres realen oder imaginierten Leibes. Wir sind ganz Schmerz. Diese Ausdehnung erst, ihre Ubiquität und ihre Erratik, sie kann es möglich machen, dass ein unangemessen idealisiertes, hochstilisiertes oder schlicht lügnerisches Selbstbild umgewandelt wird. Wir kommen nicht mehr umhin, im Angesicht unserer eigenen Kaputtheit (oder auch der eines anderen Menschen), unser Selbstbild und so auch unsere mediale Persona zu biegen, auszubeulen, auszudehnen und zu wandeln. Das Kaputte kann ein Gegengift sein gegen den natürlichen, medial geforderten Narzissmus, gegen die üblichen Omnipotenzphantasien und Egozentrismen von Protagonisten auf medialen Bühnen. Dort sollte jeder einmal kaputtgehen, von Zeit zu Zeit. Es wäre eine heilsame Therapie, eine demutsvolle Kur. Das Publikum befördert sie in seiner Häme und Vernichtungslust, die es gerne auf die ehedem hochgejubelten Heldinnen und Heroen richtet: eine durchaus tödliche Waffe. Doch wenn Kaputtes nicht einmal mehr im Ansatz und in Andeutung erscheinen darf; wenn es zugunsten harmonisierender Rhetorik und zwanghaften Konsensdenkens ausgesperrt und angstvoll verdrängt wird; wenn es nur noch in stilisierten Schwundformen und inszenierten Problemlösungsshows auf mediale Bühnen darf: dann ist Ganzheit und Ungebrochenheit für jeden die einzige Option. Das Andere wird verschluckt. Die Hölle des Alternativlosen breitet sich aus: der stets richtigen Lösung für jeden Handlungsmoment. Der wahre Zynismus, denn: Zynismus ist staatsstabilisierend.27 Das Feld ist dann bereit für gewalttätige Sabotage, für stichprobenartige Eingriffe des Terrors. Das Kaputte sucht sich seine Wege. Jede Perfektion ist illusionäre Lüge. Zerstörung ist die einzige gesellschaftliche Realität. Scham und Fremdscham.

27 Vgl. Schlingensief, U3000 – Folge 1, 2000 sowie die Transkription in: Thurmann 2001, 25.

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Jetzt knallts Zur disruptiven Funktion der Knallcharge – einer popkulturellen Randfigur T HOMAS D ÜLLO

P ASST NICHT ZUSAMMEN , KNALLT P OPART UND K NALLCHARGEN

ABER BEIDES :

Solange wir uns immer noch an Klärungsversuchen abarbeiten, was denn überhaupt Pop – oder wahlweise Popkultur, Populärkultur, Popular Culture, Pop I, II oder III – sei, solange muss einem nicht bange werden, dass dieses kulturelle Kampfterrain sich komplett erledigt hätte oder dieses Feld überhaupt noch identifizierbar sei. Akademisierung des Pop, zu der wir ja alle beitragen, oder virale Verbreitung und Übernahmen der Pop-Haltungen und Pop-Praktiken in fast allen anderen gesellschaftlichen Feldern sowie der universelle Bannstrahl von Retro-Manie scheinen ja ein Verschwinden der Unterscheidung von Pop und Nicht-Pop oder des Pop-Diskurses nahe zu legen. Doch die Rhetorik des Verschwindens wird zumeist durch Phänomene des Wiederauftauchens ausgekontert, und besagte Persistenz der Klärungsversuche, was Pop denn sei, hält die Herausforderung wach, da lebe noch etwas und sei nicht völlig markiert und konsensuell kodifiziert. Solche Bestimmungsversuche haben immer noch Kon-

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junktur1 und vor allem in der Zeitschrift „POP. Kultur & Kritik“, die im Herbst 2012 gestartet ist. Im Zuge der Diskursschwankungen und der Herausforderungen zu neuen Pop-Bestimmungen und -Beschreibungen wandelt sich auch der Blick auf vermeintlich längst Vertrautes oder Ausgesondertes. So fremdelte im Kontext des deutschsprachigen Pop-Diskurses, der lange primär musik- und lebensstilorientiert war, als auch im Umfeld der Cultural Studies die Einbeziehung der Pop-Art und galt eher als kunstwissenschaftlich randständig oder legitimatorisch, weil Pop-Art längst zum museal praktizierten Hochkulturschema gehörte. Ähnliches, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, galt weitgehend auch für die Auseinandersetzung mit der deutschen Unterhaltungskultur und ihren Formaten und Genres (wie Komödie, Schlager-, Heimat- oder Ferienfilm), wo sie offensichtlich als Produkte der Kulturindustrie und verlogenen Massenkultur zu identifizieren waren. Das sei nicht Pop, das habe kein Identifikationspotenzial, da verändere sich nichts, das verkörpere den falschen Schein. Stimmt schon, und über Pop-Art und den Mainstream der Nachkriegsunterhaltung habe auch ich stets in dieser Weise gedacht. Vielleicht ist der Blick aber zu drehen und neu einzustellen. Ein Versuch, der gleichwohl von einem Verständnis von Pop geprägt ist, der nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ unterfüttert ist und damit Pop nicht auf Populärkultur reduziert.2 In der Retrospektive umreißt der Pop-Art-Künstler Ed Ruscha (geb. 1937) noch einmal sein Programm: „Mein Thema war der Alltag, die Banalität des kommerziellen Lebens, das sich auf der ganzen Welt ausbreitete. Zum ersten Mal gab es eine populäre Kultur, die den Menschen all diese Farben und Waren bot und so zu einer bestimmenden Lebensenergie wurde. Das interessierte mich, die Essenz dieser Macht. 1962 stellte ich zusammen mit Warhol, Roy Lichtenstein und Wayne Thiebaud im Pasadena Museum aus, ich zeigte auch mein Gemälde ‚Standard Oil‘. Es war die erste größte Schau zur Pop-Art, aber kaum jemand nahm Notiz von ihr. Fast niemand verstand, dass wir versuchten, den Trivialglamour der Konsumwelt um uns herum in die Kunst einzuschleusen.“3

1

Exemplarisch nachzulesen bei Bonz 2002; Grasskamp et al. 2004; Huck/Zorn

2

Vgl. Hecken 2012, 99.

3

Ruscha 2012, 152.

2007; Adam et al. 2010; Jacke et al. 2011; Hofacker 2012.

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Das Markenzeichen Ruschas wurde eine Text-Bild-Strategie, die „Wörter, die auf Verpackungen zu lesen waren“, zu isolieren und so „Buchstaben als Formen“ und „Worte als Bildelemente“4 sowohl ikonisch werden zu lassen als auch sie zu entsemantisieren. Seine Wortfavoriten waren Palindrome wie Pep oder Pop, die vor- wie rückwärts gleich geschrieben werden. Pop verfolgt hier durchaus die textbildliche Cartoon-Taktik von es poppt, es knallt und schmeckt süß wie auf der ikonisch gewordenen Collage Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing? (1957) von Richard Hamilton.5 Gleichzeitig – also Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre – wird Pop-Art auch im westdeutschen Kunstraum kaum so verstanden wie von Ruscha und seine Mitstreitern intendiert, und in der Jugendkultur gibt es zwar ein paar Beatniks, auch nicht wenige Rock’n’Roller und Halbstarke6, aber der Mainstream wird dominiert vom Schlager, von Revue, Heimat- oder Ferienfilmen. Und doch verstecken sich in diesen, nein, keine Protagonisten der Pop-Art, wohl aber Figuren, die es ebenfalls knallen lassen. Figuren, die eigentümliche Fremdkörper in diesen Filmen bleiben, die mal weggeschoben, mal integriert werden. Deren humoreske Knalleffekte und soziokulturell nur leicht begründete Störmanöver erhalten ihre Funktion aber nicht nur als Erfüllungshilfen des narrativen Vorankommens und Konfliktlösens, sondern besitzen eine grundsätzliche entbergende Aufgabe durch ihre Sabotagen. Dem Sprachfundus des Theaters entlehnt, werden diese Figuren zumeist Knallchargen genannt, überwiegend im pejorativen Sinn. Allein diese Bewertung lässt aufhorchen und sollte geprüft werden. Vielleicht liegt hier ein Missverständnis vor. In Metaphern – wie Pop im Sinne von platzen – liegen bekanntlich Konzepte verborgen.7 So auch in der Metapher der Knallcharge. Ihre Auftritte sind Knaller und Brüller; ihre Winkelzüge hinterlassen oft Trümmerhaufen, Chaos und Leere – freilich nur zwischenzeitlich, mehr lassen die Genres nicht zu, in denen sich Knallchargen tummeln. Und oft sind sie auch durchgeknallt, überschreiten und ignorieren die Grenzen von Anstand, Konvention und ausgehandelten Codes. Knallend fällt auch ihr Wortgebrauch aus, der – wie beim Pop-Artisten Ruscha – Worte isoliert

4

Ebd. 153.

5

Vgl. Schneider 2004, 143f.; Walter 2004, 45f.

6

Vgl. Krüger 1986, 269-274.

7

Vgl. Lakoff/Johnson 1980.

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und überbetont oder sie, in einer weiteren Variante, verstottert ausstößt. Ein Rückgriff auf die Wortzerstörungen des Dadaismus. In der Metapher des Chargierens liegt dagegen etwas zugleich Dienerisch-Erniedrigendes als auch etwas Übertreibendes. Im schallenden Auftritt der Knallchargen aus dem Unterhaltungsfilm um 1960 ist jedenfalls mehr vom Geist des Pop verborgen als es der Zeitgenossenschaft zu bemerken vergönnt war. Ihre Sabotageakte gilt es, sichtbar zu machen und zu kommentieren. Und genauso gilt es, wie immer im Spiel von Pop und Nicht-Pop, Unterscheidungen zu treffen.8 Es gibt halt solche und solche Knallchargen, mit mehr oder weniger Proto-Pop-Attitüde, mit mehr oder weniger Sabotage-Potenzial. Das freilich hängt weniger vom Knalleffekt ab als von den Gesten, Haltungen und Masken dieser Nebenfiguren, hinter denen Anderes und Verborgenes ausagiert und verhandelt wird. Somit werden Knallen und Chargieren, Disruption und Dysfunktion hier auch und vor allem als technische Begriffe gehandhabt. Sie kommen aus einem technischen Umfeld, und als solche sind diese Praktiken und Haltungen auch beobachtbar, wenn Szenen mit Knallchargen memoriert und neu gesichtet werden.

8

Vgl. Hecken 2012, 102.

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Im Uhrzeigersinn: Peter Rosendal Trio: CD-Cover von Old Man’s Kitchen (2012): Track 6: Sabotage Richard Hamilton: Collage Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?, Ausstellung This is Tomorrow (1956) Knallcharge Jim Carrey in der Rolle des grotesken Andy Kaufman in Man on the Moon (1999) Rabelais’ karnevalesker Gargantua (Stich von Gustave Duré, 1879)

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M ECHANISCHES S PIEL VS . N ATÜRLICHKEIT – MECHANISCHE D ISRUPTION Beginnen wir nicht beim Was, sondern beim Wie. Denn auffällig werden Knallchargen nicht als inhaltliche Funktionsträger einer Handlung, wie banal sie auch angelegt sein mag. Das Spiel der Theo Lingens, Hubert von Meyerincks, Rudolf Vogels, Hans Mosers, Grete Weisers, Georg Thomallas, Trude Herrs, Karl Valentins, Jerry Lewis, Tony Randells, Jack Lemmons, Peter Sellers, Herbert Loms, Jim Carreys, John Goodmans, Steve Buscemis und anderer mehr fällt auf, weil es nicht natürlich ist. Es wird die Doktrin der Schauspieler-Schule von Stanislawski und Lee Strassberg sabotiert, die auf der Identifikation des Spielers mit seiner Rolle und des Zuschauers mit der Film-Figur oder dem Schauspieler beruht. Also auf dem, was wir bei Marlon Brando, Marilyn Monroe, James Dean, Paul Newman oder Robert de Niro so kennen an Sich-voll-in-eine-Figur-Werfen. Und auch der deutsche Heimat- oder Schlager- oder Ferienfilm zwischen 1950 und 1965 unterliegt dieser Norm, ihre Protagonisten konnten das nur nicht sich so gut wie Brando, Monroe oder Dean. Aber „natürlich“ wollten auch sie wirken, und eben nicht „künstlich“ wie die zeigenden Figuren der Brecht-Schule. Will man ohnehin so etwas wie einen Pop-Schauspiel-Stil typologisch verorten, dann wäre dieser womöglich zwischen dem Sein der StanislawskiStrassberg-Schule und dem Zeigen der Brecht-Schule zu verorten. Und dies vielleicht in zwei Varianten: in der ikonischen Variante und in einer distanzierenden, mal Coolness oder Ironie ausstellenden Variante. Wenn es also so etwas wie eine popartige Weise des Schauspielens gibt, dann drängen sich als Beispiele das lakonische und unbeteiligte Spiel Cary Grants auf (der gerade in den frühen Filmen sich manchmal auch nicht scheut zu chargieren) – oder von David Hemmings (in Blow Up) oder von vielen Akteuren bei Tarantino oder von einigen James-Bond-Darstellern, die immer auch Pop-Art sind, oder natürlich das Spiel von Patrick Macnee (als John Steed) und vor allem Diana Rigg (Emma Peel) in der Serie Mit Schirm, Charme und Melone/The Avengers oder von George Clooney und teilweise Jeff Bridges, die in unmittelbarer Linie von Cary Grant stehen (und nicht von James Dean oder Robert de Niro). Diese alle sind stets nicht engagiert, liefern eigentlich kein Identifikationsangebot durch ihr ausstellendes, ikonisches oder nicht-natürliches Spiel. Freilich agieren sie nicht als Knallchar-

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gen, auch wenn in den Filmen von Billy Wilder oder Tarantino es nur so von Knallchargen wimmelt. Aber hier, in diesem popartigen Schauspielen eines Cary Grant oder George Clooney möchte ich auch einen Teil des Knallchargen-Spiels einreihen, wenn auch längst nicht von der Reichweite der aufgezählten Darsteller. Ihnen gemeinsam ist nämlich, dass ihr Spiel nicht auf Natürlichkeit angelegt ist, sondern zutiefst künstlich ist und sein soll, und das ist auch erkennbar. Insofern verwandelt sich der Vorwurf des Overactings in ein Kompliment, wenn man den Gestus des Ausstellens einer Haltung und Rolle in Rechnung stellt. Der Eindruck des Nicht-Natürlichen rührt sowohl von der Körper- als auch der Sprechmechanik her. Mechanisches Körperspiel hat etwas Marionetteshaftes, Puppenhaftes, Automatisches und Technisches. Wie aber Kleist um 1800 bemerkte, ist „in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten [...] als im Bau des menschlichen Körpers.“9 Man denke nur an Peter Sellers, Jerry Lewis, Karl Valentin oder Hubert von Meyerinck. Mechanisches Gestulieren, Körperdrehen und Sprechen entlarven die vermeintliche Natürlichkeit der Anderen als Fiktion und sind doch Resultat extremer Körperkontrolle im Spiel. Entsprechend wird das Spiel eines Theo Lingen charakterisiert: „Ein mechanischer Schauspieler, ein Techniker [...] spielt wie am Schnürchen, eine Marionette gleichsam, doch er war auch sein eigener Puppenspieler. Er kontrollierte die Mechanik und das Körperspiel – und die Sprache, die er oft als Näseln gab. Kontrolle war sein Steckenpferd“10. Schauspieler dieser Couleur sprechen aber auch der Individualisierung Hohn, die die Hauptfiguren und die ganze Schar derer, die die Knallchargen umgibt, für sich beanspruchen. Die übertriebene und manieristische Motorik und das maschinenartige Sprechen verorten die Chargen als Nicht-Individuen und damit als Typen. Häufig nicht in einem gesellschaftlichen Sinn. Wofür sollten auch Peter Sellers oder Jerry Lewis in repräsentierenden Sinn in vielen ihrer Rollen stehen? Allenfalls für Randständige, Narren, Loser oder Nicht-Integrierbare, obwohl sie wie alle Knallchargen nichts mehr wollen, als sich zu integrieren, und wenn auch nur als tolerierbare Käuze, der harmlosen wie der bösen Art. Ihr Scheitern schreibt das Skript des Normalismus fort. Zumeist eines vorschreibenden

9

Kleist 1977, 342.

10 Aurich/Jacobsen 2009, 8.

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„Proto-Normalismus“11 der Nachkriegsära, weniger eines dehnbaren „Flexibilitäts-Normalismus“ seit Mitte Ende der sechziger Jahre. Unnatürliches Körperspiel und Sprechen geben den mechanischen Auftritten, sie haben ja nicht viel Zeit zu glänzen, etwas Groteskes. Umso grotesker, wenn die Genreumgebung (also nicht Komödie, sondern Krimi wie bei Edgar Wallace oder Heimat- und Ferienfilm) gar nicht auf Groteske angelegt ist. Es geht nicht einfach um Humor, der den ermüdenden Zuschauer bei der Stange hält oder Löcher im Skript stopft. Die Groteske zersetzt vielmehr den Kitt, der in den Unterhaltungsfilmen den Riss in den Biografien, Lebensentwürfen, Machtmanövern, in den akzeptierten Diskursen und Ideologien notdürftig verbergen soll. Und die Groteske, die ein Klaus Kinski in den Edgar-Wallace-Filmen (wie in Neues vom Hexer) oder selbst der Harmlosling Hans Moser in seinen Kleinbürgerapologien liefert, steht in einer Tradition, die nach Michail Bachtins Studien über das Karnevaleske von Spätmittelalter und Renaissance (Rabelais, Cervantes, Shakespeare) bis zur Romantik (Hoffmann, Arnim, Brentano) reicht und im Film der neunziger Jahre eine neue Konjunktion erfahren hat (wie bei den Coen-Brothers etwa). Der exzessive Karneval, auf den die Fastenzeit folgt, lässt sich „sowohl als Form des Ausagierens einer gemeindebezogenen Buße wie auch als Form eines Überbordens der verschwenderischen Gaben des irdischen Daseins in einem destruktiven Erneuerungsritual“ begreifen.12 Das Arbeiten mit dem Körper, der im Spiel der Chargen als unfertig erscheint, der nicht tut, was man will, der sabbert, kiekst, furzt, ausdünstet und (angedeutet) ausscheidet, dies gehorcht einem grotesken Körpermodell der Renaissance und des Barock, an das der Film des 20. Jahrhunderts immer wieder anknüpft, gerade in popaffinen Filmen. Dieses Modell „besteht darin, zwei Körper in einem zu zeigen, einen, der gebiert und abstirbt, und einen, der empfangen, ausgetragen und geboren wird. Man trifft immer auf den dickbäuchigen oder zumindest zu Empfängnis und Zeugung bereiten Körper, an dem Phallus oder Scheide deutlich hervortreten. Aus jedem Körper tritt in der einen oder anderen Weise ein anderer, neuer heraus.“13 So sind selbst die Knallchargen im züchtigen Unterhaltungsfilm der Nachkriegszeit mal extrem keusch, mal notgeil – wie beispielsweise Peter Alexander im Over-

11 Link 1999. 12 Sabean 1993, 39. 13 Bachtin 1995, 76f.

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acting-Part von Charleys Tante, beglaubigt und motiviert durch das Crossdressing.

G ROSTESKE

UND KARNEVALESKE HUMORESKE D ISRUPTION

K OMIK –

Bachtin leitet die Lachkultur aus der gegenkulturellen Volkskultur des Karnevals ab. Innerhalb des Wandels und der Verbürgerlichung der karnevalsken Narrentums und des „grotesken und folkloristischen Realismus“14 bewegen sich die grotesken Narren und Wahnsinnigen vom ganzen Menschen, dessen verdeckte oder unterdrückte Seiten sich im Karneval artikulieren lassen, zu „purer Gattungs-Traditionspflege“15 seit dem 17. Jahrhundert: „Das Resultat ist eine verstümmelte Groteske, ein Fruchtbarkeitsdämon mit abgeschnittenem Phallus und plattgedrücktem Bauch; hier entstehen all diese unfruchtbaren Charaktere, all diese Berufsklischees von Advokaten, Kaufleuten, Greisen und Greisinnen etc., all diese Masken eines verflachten und entarteten Realismus. Der groteske Realismus kannte diese Typen auch, aber für ihn stellten sie nicht die ganze Welt dar, sondern nur den absterbenden Teil des gebärenden Lebens.“16 Und genau diese Ambivalenz zeigen die Knallchargen des Nachkriegskinos. Einerseits halten sie am Sabotagecharakter des außeralltäglichen Karnevals fest, der die Welt auf den Kopf stellt, andererseits sind sie als typische Diener, Amtsschimmel, Gerichtsvollzieher oder Hochstapler ledig – sie gebären allenfalls stotternd ihre Worte und Sätze – wie Hans Moser, Theo Lingen, Rudolf Vogel, Jerry Lewis, Steve Buscemi. Aber sowohl für die volkstümlich-realistische Version der Groteske als auch für die typenhafte Verstümmelungsvariante gilt: „Tatsächlich präsentiert die Groteske [...] die Ausprägung einer anderen Welt, einer anderen Ordnung und Lebensweise.“17 Deshalb hinterlässt die Knallcharge die bestehende Ordnung und Lebensweise erst mal in Trümmern: wie nach den Abgängen von Karl Valentin, Laurel and Hardy, Peters Sellers im Pink Panther oder von Jerry Lewis und Hubert von Meye-

14 Ebd. 104. 15 Ebd. 103. 16 Ebd. 104. 17 Ebd. 99.

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rinck – wenn auch oft nur vorübergehend. Im Wirklichkeitsmodell der Renaissance bis zur Romantik hat dies reinigenden Charakter. Die „Karnevalswahrheit“ lautet deshalb: „Der Mensch findet zu sich selbst zurück, die Welt geht zu Bruch, um sich zu erneuern, und sterbend gebiert sich Neues.“18 Im restaurativen Mief der fünfziger und frühen sechziger Jahre wurde dieses Zu-Bruch-gehen delegiert an das groteske Tun der Knallchargen, aber letztlich durch eine universelle Affirmation überwölbt. Wenn auch das so ganz für die Filmklamotten der Nachkriegszeit nicht stimmt, denn am Ende der Filme zeigt sich: Immerhin ist der Umbau „also in ökonomischer, erotischer und technologischer Hinsicht gelungen. Und gleichzeitig ist alles beim Alten geblieben“, wie Seeßlen wohl zutreffend für das Gros des deutschen Unterhaltungsfilm der Adenauer-Ära konstatiert,19 denn die „Komödie [...] wird das Drama denunzieren“, das in den Filmhandlungen angelegt ist.20 Maskiert kann sich im künstlichen Spiel der Knallchargen etwas entbergen, was im auf Authentizität, Natürlichkeit und Zuschauer-Identifikation angelegten Spiel der anderen kaum oder nie sichtbar wird. Hinter der Gentleman- und Ordnungsmaske, unter der viele Chargen agieren, bahnt sich ein destruktiver Trieb. Getarnt unter ihrer Tölpelhaftigkeit, über die sich der Zuschauer zu erheben weiß, und ihrer Nicht-Zugehörigkeit, die der Zuschauer bemitleiden darf, legen die maskierten Chargen wenn nicht die ganze Welt, so doch die komplette Welt der sie umgebenden Interieurs und Ideologiegebäude in Schutt und Asche. Als Peter Sellers als Trottel vom Dienst bereits mit dem Pink Panther in Serie ging und wiederholt eine Nebencharge, Herbert Lom als sein neurotischer Vorgesetzter Charles Dreyfus, bekam, wird ihre Komik noch dadurch bizarr gesteigert, dass Inspektor Clouseau alias Peter Sellers unter der Maske eines Zahnarztes den längst zu seinem Feind gewordenen und ihm nach dem Leben trachtenden Dreyfus aufsucht. In dieser Szene, in der Clouseau sich selbst und Dreyfus steigernd Lachgas verabreicht, was dazu führt, dass seine Maske mit überdimensionierter Nase zerfliest, in dieser Szene der Körperauflösung malträtiert Clouseau seinen ehemaligen Vorgesetzen und zieht ihm – natürlich – einen falschen Zahn. Beide aber steigern sich in eine kakophonische Lachsalve, die alles auflöst: die

18 Ebd. 99. 19 Seeßlen 1989, 155. 20 Ebd. 147.

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Maskierung, die Worte, den Sinn. Der Zuschauer erlebt reinen disruptiven Nonsens, bis Dreyfus erkennt, dass nur ein Clousau einen falschen Zahn ziehen kann. Dann befiehlt er seinen Spießgesellen: „Tötet ihn!“ Varianten des Agierens unter einer Maske finden sich bei Theo Lingen, Hubert von Meyerinck, Rudolf Vogel oder Jerry Lewis in Unzahl. Das Agieren unter der Maske ist längst ein lieb gewonnener Topos der Pop-Deskription geworden, für Bob Dylan, Madonna oder die Residents und andere in Anschlag gebracht. Kaltes und uneigentliches Spiel desavouiert gemäß Plessners für die zwanziger Jahre ungleichzeitige und gleichnamige Schrift Grenzen der Gemeinschaft.21 Der Humor mag manchmal schenkelklopfend daherkommen, zumeist tritt er aber technisch-kühl auf. Die Verhaltenslehren der Kälte, zu denen Lethen Plessners Schrift zählt,22 arbeiten mit einem Humorkonzept, das auf Mechanik, groteske Übertreibung, aber auch kühlem Spiel und Künstlichkeit beruht. Wir befinden uns im Bezirk von Ornament und Arabeske. Bezeichnender Weise wird von Peter Sellers berichtet, dass er bei einem Auftritt in der Muppets-Show, zu deren Commitment es stets gehört, dass die Gaststars als Privatperson auftreten, Zuschauer und Mitarbeiter dadurch irritierte, dass Sellers genau dies verweigerte und als Clouseau sprach. Solche Maskierungen können bisweilen aber auch zu bösartig-sadistischen Varianten führen, wo die Masken die Mr. Hide-Seite hinter Dr. Jekyll freilegen und einen sinisteren Dämon in einem zuvor marginalisierten Angestellten hervorzaubern, der nun die Gesetze der Physik sabotiert – wie Zungenmann Jim Carrey in Die Maske. Dieses Humorkonzept setzt einen Zuschauer voraus, der als abwesender Dritter im Bund adressiert ist.23 Das Bündnis von Knallchargen und Zuschauer ist eines des doppelten Dritten: beide sind Dritte gegenüber dem eigentlichen Protagonisten, die vom Humor ausgeschlossene Opfer oder Ahnungslose bleiben, denn auf der Ebene der Diegese und der Immanenz der Handlung machen die grotesken Disruptionen der Chargen ja gar keinen Sinn. In diesem Bündnis konnten dann die Deplatziertheit ihre Wahrheitsmomente kreieren, näm-

21 Plessner 2001. 22 Lethen 1994, 75ff. 23 Esslinger 2010.

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lich „zum rechten Zeitpunkt am falschen Ort den richtigen Gedanken zur falschen Sache zu äußern.“24

H OCHSTAPLER , UNCOOLE D ANDYS , WILDE S PIESSBÜRGER : DER FIGURATIVE S TACHEL IM W IRTSCHAFTSWUNDER -N ARRATIV – SOZIOKULTURELLE D ISRUPTION Das, was die auf Touren laufende Kulturindustrie des Nachkriegsunterhaltungsfilms für die hier herangezogenen Darsteller, die durchweg Schauspieler waren, die entweder vor oder nach ihrer Knallchargenkarriere sich den ernsten Rollen (Rudolf Vogel, Hubert von Meyerinck) oder der Regie (Boy Gobert; Theo Lingen, Peter Vogel – der Sohn von Rudolf Vogel) zuwendeten, parat hatte, waren in erheblichem Umfang Rollenmuster, die einen Cocktail aus Fake, Dandyismus (von der Grandezza bis zum trashigen Camp) und wildem Spießbürger mixen. Als soziale Figuren sind soziografisch gar nicht im Panorama der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu verorten – so wenig wie die Figuren von Jerry Lewis oder Peter Sellers. Sie sind also synthetische Figuren, künstlich und mehrere unvereinbare Merkmale verkörpernd. Sie sind keine Repräsentationen, wohl aber mit Berufen oder Berufskopien versehen, die ihnen eine solche Synthetik erlaubt. Als Diener, als Hochstabler, als Trickster, als leitende Angestellte. Sie sind stets kleinbürgerlich, im Wunsch, gesellschaftlich zu arrivieren, aber auch unseriöse Semi-Bohemiens, die mehr wollen als den gemütlichen Wohlstand und Feierabend der prosperierenden Bundesbürger. Was ihnen gemein ist: eigentlich sind sie von gestern und drängen ins Heute und wollen dabei sich und die anderen überholen. Was sie zu überspringen trachten, ist Arbeit und Aufwand, Schweiß und Langeweile. Es muss schnell gehen und tunlichst elegant, wenn auch von geborgter Herkunft. Die junge Bundesrepublik beheimatet mit der Knallchargen-Figuration den Stachel ihres schnellen Vorankommens. Im Unterhaltungsfilm gebiert sie Hochstapler, Heiratsschwindler und Trickster, die in der Zwischenlage von kleinbürgerlichem Aufstiegstrieb und gespielt-geborgter Feine-Leute-Noblesse sich verheben.

24 Aurich/Jacobsen 2009, 8.

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Sprachlich, taktisch und körpergestisch. Die Knallchargen sind alles Schnellsprecher bis zur Unverständlichkeit (Theo Lingen, Hans Moser, Hubert von Meyerinck, Karl Valentin), wo der Darsteller „um den Preis der Verständlichkeit sinngebende Interpunktion wegätzt“ und den Dialog killt.25 Nicht-Verstehen und Dialogverweigerung passen freilich zum hochstaplerischen Tun, das Rückfragen meidet. Dann lieber Textmaschine bis zur Sinnfreiheit, bis zu Dada. Mit ihrem Fälschertum, das kontrastiv zur Flottheit der Schlagerhelden oder Berufsaufsteiger so gar nicht in die Zeit zu passen scheint, offenbaren die Knallchargen freilich ihre eigentliche Modernität. Ihre Kunst des Fälschens antizipiert den jüngeren Fakediskurs rund um die Fakepraktiken als Formen der Intervention und der Entlarvung der erschütterten Originalitätsidee.26 Diese jüngere Diskursentwicklung im Rücken sind die Hochstapler nicht nur als Emporkömmlinge mit kriminellen Mitteln zu identifizieren, sondern auch als Einzelgänger, Doppelgänger und Künstler.27 In dieser Lesart fahren die Hochstapler und Schwindler „mit dem Nichts durch die Geschichte“ und sind „Marionetten des Status quo“, aber eben auch „leichte kriminelle [...] Begleiter der Moderne.“ 28 So kann man Boy Gobert, den späteren Leiter des Hamburger ThaliaTheaters und Generalintendant an die Staatlichen Schauspielbühnen Berlin, erleben, wie er häufig einen leicht campen, sogar etwas queeren, immer jedoch dandyesken, sehr glatten Hochstapler um 1960 gibt – beispielsweise in der Nebenrolle eines Bonvivant in Monpti (1957) an der Seite von Horst Buchholz und Romy Schneider. Oder Hubert von Meyerinck: agiert wie Gobert gerne als Hochstapler, erweitert seinen Feminismus zum Schurken und militärischen Ordnungsfetischisten – sein schneidiges „Zack Zack“ (Das Wirtshaus im Spessart) überpinselt sowohl seine Fakes als auch die latente Homosexualität seiner Rollen. Eine stille Knallcharge gibt dagegen immer wieder Günter Lüders, aber auch er ist ein „Trickster.“29 Als Komponist ohne Ideen stiehlt er in Liebe auf krummen Beinen (1959) Walter Giller die Kompositionen. Eine Knallchargenfigur zwischen Plagiator und Loser. Damit ist einzige Wahrheit des Films aufgetischt, nämlich die Nicht-Originalität der

25 Ebd. 61. 26 Vgl. Reulecke 2006. 27 Vgl. Stahl2009, 34f. 28 Ohl 2009, 70f. 29 Schüttelpelz 2010, 208ff.

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stereotypen und wiederholten Schlagermuster, immerhin darf sie durch den Schwindler offenbar und dieser schließlich erlöst werden. Interessant zu beobachten ist, dass zum Mitte der sechziger Jahre hin eine derartige Inflation an Knallchargen den deutschen Unterhaltungsfilm bevölkert, dass man in ihnen, diesen Nebendarstellern, ein Erfolgsrezept sah – in Neues vom Hexer (1965) wetteifern gleich zu Beginn Hubert von Meyerink (als Richter), Eddi Arent (als Diener vom Hexer), Klaus Kinski (als psychopathischer Nerd) und Siegfried Schürenberg (stets in der Rolle der trotteligen Scotland Yard-Vorgesetzten Sir John – die Blaupause für viele Tatort-Chefs) um den Knallchargenpreis. In Pension Schöller (1962) stapeln sich die chargierenden Rudolf Vogel, Theo Lingen, Boy Gobert und Ursula Herking geradezu. Zugleich zeigt diese Besetzungspraxis, dass die Knallchargen die ausgedienten Heldenfiguren in Frage stellen. Ihre unheroischen Taten und Handlungen tragen ein ausgedientes Heldenmodell im deutschen Film zu Grabe. Der Neue Deutsche Film wird dann postheroisch ausfallen. Die Inflation der Knallchargen bedeutet aber auch ihr eigenes Ende. Sie zittern noch einmal auf in den Pauker-Filmen um 1970, aber da knallt nichts mehr, da wird auch nichts sabotiert und destruiert. Auch New Hollywood braucht die Knallchargen von Billy Wilder nicht mehr. Dem in Serie gehenden Rosarote Panther ergeht es wie vielen Sequels: Nach dem dritten Aufguss ist der Humor nicht mehr scharf und die Mechanik der Marionetten nur noch albern. Erst in den neunziger Jahren erneuert sich die interessante Knallcharge im amerikanischen Film bei den Coen-Brothers und Tarantino. Die Renaissance des Overactings von Nebenfiguren geht mit der Nobilitierung von Pulp-Narrationen und -Haltungen einher. Alle genannten Schauspieler sind im Übrigen anderer Gesinnung als ihre Rollen, wenn man mal ein biografistisches Argument vorbringen darf. Als Knallchargen jedoch sind sie Rhetoriker, Übertreibende, zutiefst künstlich. Sie agieren unter Masken. Und haben doch als Schauspieler ganz andere Meriten als die meisten anderen Mitspieler des deutschen Unterhaltungsfilm der fünfziger und sechziger Jahre.

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D RIFTENDE D RITTE Die – vermeintliche – Dysfunktionalität der Knallchargen spiegelt sich in der Kunst der Abschweifung. Das gilt für ihre Sprechakte wie für das, was sie im Gefüge des Plots darstellen. Sie sabotieren im Grunde den Plot und degradieren ihn als langweilig. Das Credo des psychologischen Realismus, nämlich den Zuschauer einzuspinnen in die Beantwortung der Fragen „Wer tut was aus welchen Motiven?“ oder „Wann küssen Sie sich endlich?“, dies interessiert die Knallchargen gar nicht. Über dieses Einverständnis zwischen Diegese und Zuschauererwartung bürsten sie schlichtweg drüber, indem sie entweder das Gebotene und Erwartbare übertexten oder in ihren Handlungen nur Fehler produzieren. Das gilt auch für die Erneuerung der Knallcharge im amerikanischen Kino. Wenn John Goodman als reaktionärer, kryptofaschistischer Vietnamveteran Walter Sobchak in The Big Lebowski zusammen mit Jeff Bridges als „Dude“ ihrem verstorbenen Freund „Donny“ (Steve Buscemi) die letzte Ehre erweisen wollen, indem sie seine Asche in den Pazifischen Ozean streuen wollen, dann sieht das so aus: Erst hält Goodman eine überlange, sinnfreie und in sich zusammenstürzende Rede über den toten Freund, als sei dieser im Krieg gefallen. Dann öffnet Goodman die Urne, die eher wie eine große Kaffeedose aussieht, schüttet die Asche aus, die aber, anstatt sich über dem Ozean zu verstreuen, dem hinter ihm stehenden „Dude“ ins Gesicht bläst. Der Wind bläst den Knallchargen stets ins Gesicht und bringt sie nicht voran. Damit verweigern sie sich aber der Funktionalität eines Plots, der auf Funktionalität, Lernen und Fortschritt angelegt ist. So haben sie ständig irgendwelche Projekte im Sinn, denen sie nachgehen. Sie sind Proto-Bricoleure und gehen zwischendurch gerne mit dem Geld der anderen stiften – wie Hubert Meyerinck als Tourmanager einer Tanz-Revue in der Der bunte Traum (1952), die in Süditalien zu scheitern droht. Mit ihren Projekten und ihrem Austesten von Rollen sind sie ganz bei sich, aber nie bei der Sache des Plots. Sie driften mit ihren Obsessionen weg. Sie sind Situationisten ihrer Digression und Projektemacherei. Wie auch Peter Sellers, der im Laufe der Pink Panther-Serie ein Nebenziel verfolgt, nämlich seine Fehlerquote als Tolpatsch zu kompensieren. Dafür hat er sich einen Bediensteten geleistet, den asiatischen „Cato“, der ihn ständig in seiner eigener Wohnung überfällt und damit in diversen Kampftechniken trainiert. In The Pink Panther Strikes Again (1976) gibt es eine lange

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Kampfszene, die nicht nur die Wohnung von Clouseau zerlegt, sondern bei denen er sich mit seinem Diener Cato in einen Schreirausch steigert, der ihresgleichen sucht. Wieder: komplette Disruption, Entsemantisierung und Digression. Für den Zuschauer können diese desintegrierten Auftritte zwar eine Verschnaufpause im Hinterherhecheln des Erzähltakts bedeuten, aber auf den zweiten Blick leisten sie mehr. Die Knallcharge wird durch ihre Driften und ihre dysfunktionalen grotesken Reden zu „Figur des Dritten.“30 Diener, Parasiten, Hochstapler, Trickster, Projektemacher oder Boten sind solche Figuren des Dritten. Mit ihren „dirty practices“31 verschieben sie die dualen Grenzen Mann/Frau, Natürlichkeit/Künstlichkeit, Arbeit/Bühne oder Normalität/Abweichung und leben beide Pole gleichermaßen – darin oft scheiternd. Für den Zuschauer können sie aber, wie im Abschnitt 3 expliziert, durch ihr uneigentliches Sprechen ein Wissenspartner sein. In Szenen, wo Knallchargen mit ihrer ironisch-kryptischen Rede ihre normalen Partner verwirren, ist der Zuschauer der Adressat und Verbündete. Dort wird er, viel stärker als in den anderen Szenen der Plots, zum Dritten. Das ist die Funktion jedweder ironischen Rede: den abwesenden Dritten zu adressieren beziehungsweise zu produzieren.32 So funktioniert dann auch Billy Wilders Ost-/West Farce Eins, Zwei, Drei (1961), ein Kompendium von Knallchargen, uneigentlichen Reden und Exklamationen der Zahl „Drei“.

S EKUNDÄR - OBJEKTIVE Z WECKMÄSSIGKEIT UND ENTBERGENDE AFFIRMATION : ZUR F UNKTIONALITÄT VON S ABOTAGE UND D YSFUNKTIONALITÄT IM K NALLCHARGEN -F ILM In Charleys Tante (1963 mit Peter Alexander in der Titelrolle), diesem immer jungen Farce-Stoff von 1892, der Anlässe zu Crossdressing und Queering bietet, hat der uns nun schon mehrmals begegnete Rudolf Vogel einen seiner späteren Auftritte. Wieder einmal Abkömmling einer gefakten Welt, übernimmt er hier als ein geldgieriger Hochstapler eine narrative Strategie.

30 Esslinger 2010. 31 Koschorke 2010, 19. 32 Vgl. aus linguistischer Perspektive Gießmann 1977.

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Erst seine Geldsucht und Peter Alexanders Spaß am Queering lösen die Verwicklungen in eine grundsätzliche Affirmation auf. In der totalen Affirmation, die den bundesdeutschen Unterhaltungsfilm der Nachkriegszeit dominiert, bleibt das Deviante temporär. Immerhin wird es nicht integriert, auch in Charleys Tante nicht, sondern behält seinen situativen und disruptiven Stachel. Die Driften, Störmanöver und windschiefen Projekte werden also befriedet in einer „sekundär-objektiven Zweckmäßigkeit“, wie man es im Jargon der anthropologischen und institutionsethischen Philosophie ausdrücken könnte.33 Die grundsätzliche Dysfunktionalität der Knallchargen verleiht ihnen somit eine Funktionalität zweiter Ordnung. Zu beschreiben war diese popkulturelle Randfigur einerseits von ihrem Kontext her (des kulturindustriellen Unterhaltungsfilm der Nachkriegszeit), andererseits in ihrer internen Konstruktion und ihrer narrativen Funktion. Dann wird sichtbar: Knallchargen betreiben Subversion durch Mechanik und Automatik. Ihre Zum-rechten-Zeitpunkt-am-falschen-Ort-den-richtigen-Gedanken-zurfalschen-Sache-Äußerungen, von der Aurich/Jacobsen34 in ihrem Buch über Theo Lingen gesprochen hatten, erfüllen ihre Störungen im narrativen Kalkül einen disruptiven Sinn: Sie führen ungewollt Lösungen hervor und offenbaren andererseits Verschiebungen und Devianzen im sauberen Kontext. Schlägt man das Glossar der Interventionen von 2012 auf,35 dann finden sich dort ein paar Entsprechungen, die man vorsichtig ziehen könnte: wie die „theatralische Intervention“, die „diskursive Intervention“, die „indirekte Intervention“, die „Sprachintervention“, die „divine Intervention“ und die „linguistische Intervention“. Die Hubert von Meyerinks, Theo Lingens, Rudolf Vogels oder Boy Goberts des deutschen Unterhaltungsfilms der 50er bis 70er Jahre weisen in der Regel nicht nur bemerkenswerte Biografien auf (bedrängt von den Nazis und ihnen widerstehend; homosexuelle Identitäten; Ausflüge ins Avantgardistische), sondern geben ihren Kurzauftritten aus heutiger Sicht einen sabotierenden Mitanstrich. Zeitgenössisch mögen sie als Lacher geschätzt oder genervt haben, heute sind sie zum Teil das einzig Erträgliche in diesen Filmen. Sie sind einerseits extrem zeitgenössisch und doch ganz ungleichzeitig. Sie entbergen etwas, was nur unter der Maske der Übertreibung

33 Gehlen 1976, 398. 34 Aurich/Jacobsen 2009. 35 Borries 2012.

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sichtbar zu machen ist. Und da Pop gleichzeitig in der englischen wie amerikanischen Popartbewegung um 1960 immer auch heißt: es knallt und poppt, sind die Knallchargen der deutschen Schlager- und Unterhaltungsfilms das eigentliche Pop-Element dieser Genres. Anders als in den deutschen Unterhaltungsfilmen der Nachkriegszeit bis etwa 1965, in denen das sabotierende Tun der Knallchargen entweder temporäre Störung bleibt oder in der Gesamtaffirmation erlöst wird, wo sie sich also von ihrem (selbst-)zerstörerischen oder hochstaplerischen Haltungen und Praktiken verabschieden müssen, enden die fortgeschritteneren Auseinandersetzungen mit der Modernisierung, wie sie etwas Jacques Tatis Playtime (1967) oder Blake Edwards The Party/Der Partyschreck (1968) inszenieren, als totale Disruption. In beiden Filmen wird am Ende das Tun der Knallchargen (Tati als Monsieur Hulot in Playtime und Peters Sellers als Hrundi V. Bakshi in The Party) universal in ihrer Wirkung. Beide Protagonisten geraten als komplett Deplatzierte in die ultramodernen Umgebungen der Jetztzeit. Tati verirrt sich in einer anonymisierten und automatisierten Bürowelt eines Großkonzerns; Sellers taucht versehentlich auf der Party eines Filmstudiobosses auf – jeweils in Raumumgebungen der letzten Architekturavantgarde. Die komplette Auflösung von Plot und Dramatisierungsökonomie steht jeweils am Ende. In Playtime besteht die Disruption in einer langen Schlusssequenz, die einfach ausfadet. Sie spielt in einem Nobelrestaurant, wo sich das Essen in ein Happening, in eine Partyorgie transformiert, bei der alles drunter und drüber geht. In Der Partyschreck, wo Sellers wieder mal einen falschen Hebel in der Haustechnik umgelegt hat und wodurch sich der Pool in ein Megaschaumbad verwandelt, entsteht ebenfalls ein Happening, in der alle Grenzen der zuvor noch komplett eingehaltenen Partycodes (Smalltalk, Cocktailgesten, gepflegte Performances und Langeweile) aufgelöst werden – auch hier kurz vor der Orgie. Immerhin, der Slapsticktrottel Sellers, dessen Gags auf der Basis eines knappen Drehbuchs vielfach improvisiert sind, wird nach der Partynacht erlöst durch die Option auf eine Romanze mit einer Partybekanntschaft. So etwas verweigert Tati. Sein Nobelrestaurant in Playtime wird erst zur entfesselten Partyzone und geht dann zu Bruch. Eine Bruchlandung erlitten beide Filme allerdings auch an der Kinokasse, was auch daran liegen mag, dass sich zu ihrem disruptiven Charakter auch der Mut für Passagen der Langeweile durch Handlungsarmut und Redundanz gesellt – immer schon ein Ausweis von Avantgarde.

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Beide Filmschlüsse zeigen auch eine veränderte narrative Funktion. Denn das Phasenmodell des Karnevesken bei Bachtin – nach Leachs Interpretation – synchronisiert bei aller Groteske das Heilige und karnevaleske Narrentum in einem aufeinander bezogenen Funktionszusammenhang: „Phase A Phase B

bedeutet Heiligung, Trennung, den „Tod“; die Grenzsituation, den geheiligten Zustand, in dem das Normalleben aufgehalten ist;

Phase C

die Entheiligung, die Rückkehr des Heiligen ins Profane, die „Wiedergeburt“, den Wiederbeginn der weltlichen Zeit; [die Hoch-Zeit der Narren und Knallchargen, T.D.]

Phase D

das normale säkulare Leben, das als solches wiederum als Intervall zwischen den Festen verstanden wird.

Dabei ist die Phase A die Umkehrung von Phase C, Phase B das Gegenteil von D.“36

Die Geltung genau dieses Modells kann man zwar im Ansatz noch im deutschen, aber auch amerikanischen Knallchargenfilm bis in die Mitte der sechziger Jahre identifizieren. Aber nicht mehr bei Playtime und The Party, diese Filme und vor allem ihre Finals zerlegen ein karnevalesk-sakrales Geschichtsmodell und inthronisieren in fröhlicher Sabotage Phase C. Auflösung statt Erlösung. Anti-Normalismus (Pop II) statt FexibilitätsNormalismus (Pop I). Die Re-Archaisierung und Re-Sakralisierung der Durchgeknallten in den Filmen der Coen-Brothers (vor allem Fargo und The Big Lebowski) und Tarantinos (namentlich Pulp Fiction, Kill Bill, Inglourious Busterds) gehört dann schon zu Pop III, wohingegen die hier ins Visier genommenen Knallchargen Proto-Pop wären.

36 Lachmann 1995, 23.

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F ILMOGRAPHIE Blow Up (GB 1966, Michelangelo Antonioni) Charlys Tante (BRD 1956, Hans Quest) Das Wirtshaus im Spessart (BRD 1958, Kurt Hoffmann) Der bunte Traum (BRD 1952, Géza von Cziffra) Die Maske (USA 1994, Chuck Russell) Eins, Zwei, Drei (USA 1961, Billy Wilder) Fargo (USA 1996, Joel & Ethan Coen) Inglourious Basterds (USA 2009, Quentin Tarantino) Kill Bill (USA 2003, Quentin Tarantino) Liebe auf krummen Beinen (BRD 1959, Thomas Engel) Mit Schirm, Charme und Melone (GB 1961-1969, 1976-1977, div.) Man on the Moon (USA 1999, Milos Foreman) Monpti (BRD 1957, Helmut Käutner) Neues vom Hexer (BRD 1965,Alfred Vohrer) Pension Schöller (BRD 1962, Georg Jacoby) Pink Panther (USA/GB 1963, Blake Edwards) Playtime (F/I 1967, Jacques Tati) Pulp Fiction (USA 1994, Quentin Tarantino) The Big Lebowski (USA/UK 1998, Joel & Ethan Coen) The Party (USA 1968, Blake Edwards) The Pink Panther Strikes Again (USA 1976, Blake Edwards)

Die Abweichung

Die Medienästhetik der Störung Künstliche Filmalterungsprozesse im digitalen Zeitalter oder: Auf der Suche nach dem „wahren“ Kino M ARCUS S TIGLEGGER

D AS „ WAHRE “ K INO 2006 flimmerte ein ungewöhnliches Filmprojekt über die internationalen Leinwände: In ihrem Grindhouse-Double-Feature präsentierten Quentin Tarantino und Robert Rodriguez ihre ganz persönliche Hommage an die amerikanische Kinokultur der 1970er Jahre. Analog zu den deutschen Bahnhofskinos, die eine Mischung auf Sex-, Kung-Fu- und Horrorfilmen zeigten, nannte man in den USA jene Kinos der späten 1960er und 1970er Jahre Grindhouses, die sich darauf spezialisiert hatten, exploitative BMovies in Double Features oder in endloser Folge zum Niedrigpreis vorzuführen. Dabei wurden sowohl ähnliche Filme wie auch unterschiedliche Genres kombiniert (im Grindhouse-Projekt könnte man in einem Fall vom Science-Fiction ausgehen – Planet Terror von Rodriguez –, und im anderen von einem Roadmovie – Death Proof von Tarantino). Der gemeinsame Nenner lag meist im Ausmaß von Blut, Sex und Gewalt, das die Grindhouse-Filme auf die Leinwand brachten. Zahlreiche der damaligen Grindhouse-Filme zählen heute zu Klassikern des Genrekinos: The Texas Chain Saw Massacre (1974) von Tobe Hooper, Cannibal Holocaust (1979) von Ruggero Deodato, Maniac (1980) von William Lustig oder The Driller Killer (1978) von Abel Ferrara wurden zunächst in diesen Kontexten ausge-

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wertet. Anders als die damaligen B-Movies zeichnet sich die neue Hommage Grindhouse zwar durch den speziellen Look der damaligen Filme aus, nicht jedoch durch deren populäre Haupteigenschaft: tatsächliche Grindhouse-Filme wurden billig produziert, so dass sie in kürzester Zeit ihr Geld wieder eingespielt und vervielfacht hatten. Das Tarantino/RodriquezDouble-Feature dagegen kostete 53 Millionen Dollar und wurde sowohl in der Grindhouse-Variante ausgewertet, in den beide Filme nur etwas über 60 Minuten dauern und von Fake-Trailern im selben Stil unterbrochen werden, als auch in der jeweiligen Spielfilmversion, die im Fall von Death Proof fast doppelt so lange dauert. Von Interesse hier ist vor allem die kombinierte Grindhouse-Version, speziell Rodriquez’ Planet Terror. Besetzt mit Stars wie Bruce Willis und Rose McGowan erzählt der Film in bunten und spektakulären Vignetten von der Zombifizierung der USA nach einem Terroranschlag durch korrupte Militärs. So zitiert der Film in ironischer Weise Filme wie George A. Romeros Night of the Living Dead /Die Nacht der lebenden Toten (1968), David Cronenbergs Rabid (1976) und Dan O’Bannons Return of the Living Dead (1985), allesamt Filme, die selbst früher oder später in Grindhouses zu sehen waren, denn manche Filme, die ursprünglich größer gestartet wurden, erreichten erst in „Second Run Theatres“ ihr Publikum. Da die Grindhouses meist hoffnungslos abgenutzte Kopien zeigten, die sie immer wieder flickten, wenn sie rissen, musste das Grindhouse-Publikum mit einer unfreiwilligen Medienästhetik der Störung leben, die nachträglich zu einer spezifischen Filmrezeption verklärt wurde: Während sich DVD-Labels bemühen, diese Filme in möglich optimalen und aufwändig restaurierten Versionen anzubieten, sehnen sich zahlreiche Fans zurück nach jenen grenzwertigen Vorführkopien, die von Rissen, unruhigem Bildstand, Kratzern (‚Regen‘) und Fusseln im Bild, Knacken auf der Tonspur und gelegentlich einem „missing reel“ (fehlende Spule) geprägt waren. Im Grindhouse war man auf solche spontanen Ellipsen gefasst, reduzierte seine Ansprüche, denn diese Vorführungen kosteten zeitweise nicht mehr als 50 Cent, so dass Obdachlose mitunter den ganzen Tag im Kino verbrachten, um sich dort bei Bedarf aufzuwärmen. Bildstörungen, Fehlschnitte und fehlende Filmrollen („Missing Reel“).1

1

Diesen Sammlererwartungen Rechnung tragend, veröffentlichte das deutsche DVD-Label ’84 im Mediabook von Lucio Fulcis Conquest (1983) u.a. eine

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Planet Terror – Missing Reel

Robert Rodriguez ahnte, dass es mit einer stilistischen Orientierung an den Mechanismen des Genrekinos nicht getan war. Wie all seine Filme seit Spy Kids (2001) drehte er Planet Terror zunächst auf Sony-HD-Kamera und somit digitales High-Definition-Material. In der Postproduktion aber ließ er das cleane und überscharfe Material aufwändig bearbeiten und künstlich altern. Er legte Katzer und Schmutz auf die Bilder, ließen den Bildstand flackern, das Bild springen, schnitt mitunter wichtige Passagen heraus („missing reel“), den Ton knattern und schuf so die weitgehend überzeugend Simulation von massiv geschädigtem und letztlich unvollständigem und fehlerhaftem Filmmaterial. Dass der Film seinem Genre gemäß diese Simulation von Authentizität nicht auf das filmische Geschehen selbst bezieht, liegt auf der Hand, vielmehr geht er von einer Idee des authentischen Kinos aus, das er im Grindhouse der 1970er Jahre verortet. Er nutzt seine Authentifizierungsstrategien also, um das mediale Material selbst zu beglaubigen, wobei er sich auf eine Generationenerfahrung bezieht, die weit jenseits des dreißigsten Lebensjahres liegen dürfte, denn die nach 1980 geborenen Generationen müssen vermutlich zunächst das Phänomen selbst erklärt be-

Grindhouse-Version des Films, die nachträglich mit Filmfehlern belegt wurde, um die Kinorezeption zu simulieren.

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kommen, um dessen spezifischen Stil würdigen zu können.2 Andernfalls erscheinen die mühsam eingerechneten Authentifizierungsstrategien, jene Medienästhetik der Störung, schlicht als ungewollte Filmfehler.

D IGITALE M AKELHAFTIGKEIT

ALS

S TIL

In der Zeit digitaler Makellosigkeit und hochauflösender, rauschfreier Filmbilder, deren Bewegungsillusion künftig nicht mehr nur auf 24, sondern 48 Bildern pro Sekunde baut,3 wird die technische Makelhaftigkeit des Zelluloidfilms umso deutlicher: der leicht unruhige Bildstand, das minimale Flackern der 24 Bilder, das wimmelnde Korn in Farbflächen – und gar in dunklen Szenen –, das Knacken des Tons beim Rollenwechsel – das sind die mediale Spezifika der Zelluloid-Filmvorführung. Andererseits erscheinen diese Spezifika durchaus interessant für die menschliche Wahrnehmung, denn gerade das Kornrauschen im Bild beschäftigt die menschliche Wahrnehmung nachhaltig und erzeugt einen ästhetisch ansprechenden, lebendigen Bildeindruck. Das makellose HD-Bild dagegen mutet leblos und steril an, so dass viele Filmemacher, die auf HD arbeiten, in der Postproduktion gezielt den Filmlook wieder hineinrechnen (z.B. David Fincher in Zodiac/Die Spur des Killers, 2008). Dabei war die Verwendung von Videoformaten vor der tatsächlich hochauflösenden High Definition-Norm stets selbst mit einer Fehlerhaftigkeit besetzt, die daraus eine ganz eigene Authentifizierungsstrategie werden ließ: Bei Filmen wie etwa Festen/Das Fest (DK/S 1998) von Tomas Vinterberg oder Der Felsen (D 2002) von Dominik Graf mit ihren schnellen, rauen, naturalistischen Bildern zeigte sich, dass der digitale Film auch ohne die technische HD-Brillianz eine ernstzunehmende Alternative zur klassischen 35mm-Produktion darstellen konnte und zwar vor allem, weil er sehr nah an der alltäglichen Seherfahrung großer Teile des Publikums blieb. Man nahm hier bewusst Einbußen in der Auflösung der Filmbilder in Kauf (etwa bei Der Felsen, der stellen-

2

Dieser Umstand mag auch erklären, dass dem Grindhouse-Projekt kein großer

3

Peter Jacksons The Hobbit (2013) erregte früh Aufsehen durch diese technische

Erfolg beschert wurde. Neuerung, deren Effekt noch nicht ganz absehbar ist, denn diese Hyperrealität erfordert zweifellos Gewöhnung.

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Film als Homemovie: Der Felsen

weise wie ein Urlaubsvideo inszeniert wurde). Auch der Dokumentarfilm veränderte sich durch die Digitalisierung, da hier das dynamische Equipment, die Lichtempfindlichkeit der Aufzeichnungstechnik und die Alltagsnähe der Bilder eine eigene Qualität behaupten konnten, die wiederum auf die Wahrnehmung von filmischem Material als ‚authentisch‘ Auswirkungen hatten.4 Die Einführung von High-Definition-Videoformaten in den letzten Jahren – auch auf dem semiprofessionellen Markt – gilt als ein weiterer wesentlicher Schritt in Richtung eines vollständig digitalisierten Produktionsprozesses. Zugleich kann man von einer digitalen Wende auch in den Sehgewohnheiten des Publikums sprechen, was zunächst einem Rückschritt gleichkommt: Die vermehrte Nutzung digitaler Medien wie Computerspiele und Internet schuf nicht nur neue Marketingmöglichkeiten für die Filmvermarktung, sondern auch eine Gewöhnung an die zunächst reduzierte Bild- und Tonqualität der audiovisuellen Angebote im Netz. Auf nutzerorientierten Plattformen wie Youtube.com oder Myspace-TV lassen sich in

4

Siehe hierzu auch: Stiglegger 2011.

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Digitale Bildalterung in Planet Terror

allen Sprachen Fernsehsendungen, Videoclips, Ausschnitte aus Filmen, Trailer und natürlich unzählige Privataufnahmen abrufen – das allerdings in zunächst meist minimaler Auflösung und mit blechernem Ton. Diese reduzierte Qualität – per se eine Medienästhetik der Störung – erschien jedoch nicht nur akzeptabel, sondern garantierte zudem Restbestände des Realen, denn zahlreiche Angebote kann man als primitive Form der filmischen Dokumentation begreifen, deren Qualität als Zeugnis vorfilmischer Realität kaum diskutiert wird. Gerade im Internet scheinen also Restbestände des Realen zu stecken. Und somit ist es auch nicht mehr der ästhetische Kunstgriff der Entsättigung der Farbigkeit oder der wild bewegten Kamera, der zum Signum des Realen innerhalb einer Inszenierung wurde, sondern diese reduzierte Bildqualität, die Grobkörnigkeit überstrahlter und von Treppenbildung durchzogener Digitalvideobilder selbst, derer man sich bedient, um als Filmemacher zu einem ‚embedded filmmaker‘ zu werden.5 Allerdings sind seit 2009 Bemühungen der Internetprovider zu beobachten, auch das World Wide Web mit hochauflösenden Bildern auszustatten.

S YMPTOME

DER

F ILMALTERUNG

Da das klassische 35mm-Zelluloidmaterial äußerst empfindlich ist, gelten als Mängel alle Phänomene, welche die Toleranzen der Normvorschriften überschreiten, also Schäden, die der ungestörten Filmrezeption entgegenstehen. Diese Zelluloidschäden können bereits durch die Produktion bedingt sein: Etwa kann die Dicke des Filmträgers oder der Beschichtung ungleichmäßig ausfallen, die Filmkanten schlangenförmige von ungenau ar-

5

Stiglegger 2009, 11-13.

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beitenden Tellermessern (Abrage) ausfallen, ähnliches gilt für die Perforation, bei der ungenaue Platzierung der Löcher zu Folgeschäden führen kann. Die meisten Schäden aber ergeben sich im Gebrauch des Rollfilms: Kantenverletzung, Randeinbruch, beschädigte Löcher, nicht wieder herstellbare Strukturveränderungen der Unterlage durch Dehnung oder Quetschung, Risse, ungenaue Klebestellen oder Schweißnähte (Spleiße), Sprungschrammen (am selben Ort erscheinende wiederholte Schrammen), Kratzer, aber auch Schrumpfung und Längung über Maß durch Abspielung und Lagerung unter falschen Konditionen. Chemische Schäden können durch die Zersetzung des Trägermaterials oder den Zerfall des Substrats (Bindeschicht) entstehen. Da sich Zelluloid teilweise wie organisches Material verhält, kann es durch Schimmel, Bakterienbefall, Nässe (die zum aufquellen der Gelatine führt), Austrocknung (Craquelage) der Gelatine (was zum Zerreißen führt) und Wärme zu irreparablen Schäden kommen. Nitrofilm etwa, wie er in der Stummfilmzeit gebräuchlich war, kann sich bereits bei 45°C selbst entzünden.6 Auch extreme Kälte kann einen Gefriertrocknungseffekt beim Auftauen erzeugen. Zelluloidfilm ist demnach ein äußerst empfindliches Material, das schon früh Materialkünstler dazu inspiriert hat, durch gezielte Schädigung diese Effekte als ästhetischen Effekt zu nutzen.7 Beim Experimental- und Dokumentarfilm spielen zudem vor allem die kleineren Filmformate eine Rolle, die eigene Spezifika aufweisen: (Super) 8mm, 16mm und Super 16mm. Super 16mm ist ein Format, das auch in der Film- und Serienproduktion eingesetzt wurde, wenn das 35mm-Format zu teuer war. So sind vor allem Grindhouse-Klassiker wie The Texas Chainsaw Massacre (16mm Eastman Ektachrome 25T 7252), Maniac (Super 16mm) und The Driller Killer (16mm) in diesen Formaten produziert und später auf 35mm aufgeblasen worden. Im Amateurbereich hat sich 16mm weniger etabliert, da die Kosten enorm sind. Dort war vor allem Super8 beliebt, das sich durch eine spezielle Ästhetik auszeichnet: die typische Vignettierung (runde Ecken, der Bildrand geht unscharf zu Schwarz über, ein Effekt, der durch extreme Weitwinkel beim Filmen entsteht), eine Farbdarstellung, die vor allem kräftiger Farben betont und starke Kontraste betont,

6

Diesen Selbstzündungseffekt nutzt Quentin Tarantino für die Anschlagssequenz auf das Kino in Inglourious Basterds (2009).

7

Siehe etwa die Experimente von Stan Brakhage.

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zudem auch Filmschmutz und Kratzer, die sich bei den unvorsichtig gehandhabten Filmrollen fast unweigerlich auf die Aufnahmen auswirkte, das Flackern durch die recht geringe Bildfrequenz von 18 2/3 Hz, sowie hüpfende Bilder durch schlechte Synchronisation vom fotografierten Bild, Filmtransport und des Shutters von Kamera oder Projektor. Von der Ästhetik des Grindhousekinos geprägte Filmemacher wie der Berliner Jörg Buttgereit sind in ihrem Schaffen lange bei diesem ‚authentisch filmisch‘ anmutenden Format geblieben und auch später wieder dazu zurückgekehrt. Die medienspezifischen Störphänomene etwa von VHS-Videomaterial dagegen unterscheiden sich signifikant von der filmischen Störungsästhetik. Auf altem Videomaterial findet man Pixelrauschen, Farbflackern (vor allem in Rottönen), Störzonen am unteren Bildrand, Tonaussetzer, Knattern im Ton bei falscher Spurlage, und Dropouts (gelöschte Bildzeilen, oft auch ganze Bildbereiche). Diese Störungen, die vor allem der VHS-Videogeneration vertraut sind, haben sich kaum als ästhetischer Stil etabliert, auch wenn sie vorkommen (in Filmen mit VHS-Thematik, wie z.B. The Last Horror Movie, 2003, von Julien Richards). Angestrebt wird vielmehr seit Einführung der digitalen Postproduktion ein dezidiert filmischer Look des Videomaterials, der direkt verknüpft wurde mit der authentisch filmischen Anmutung mittels digitaler Filter, die besagte Elemente in das zunächst digital-sterile Videomaterial einrechnen. Die wesentlichen Effekte hierbei sind das Color Grading, um den kontrastiven Farblook zu erzeugen, ein Alterungs-Filter mit Kratzer- und Fusselanimationen sowie die Vignettierung. Mit erhöhtem Grain kann Filmkörnung simuliert werden, ein künstliches Rauschen.8 Dazu kommen Laufstreifen, die Projektionsschäden simulieren, das Helligkeitsflackern von der Projektorlampen (Flicker) und Hüpfen des Bildes (Jitter). Diese Effekte, die inzwischen auch für den Amateurmarkt

8

Bei einigen Blu-ray-Labels hat sich die Unart etabliert, zunächst gereinigte Filmabtastungen nachträglich wieder mit künstlichem, digitalem Filmkorn zu belegen, um den filmischen Look zu betonen. Doch gerade beim Sammlerpublikum führte dieses Vorgehen zu Protesten. So wurde die erste Blu-ray von The French Connection/Brennpunkt Brooklyn (1971) von William Friedkin selbst derartig nachbearbeitet, dass der Film völlig anders als aussah. 2012 hatte Fox ein Einsehen und ließ eine Neuauflage mit einem originalgetreu restaurierten Master folgen.

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verfügbar sind, haben sich vor allem in der Werbung und im Musikvideoclip etabliert, aber sie kommen auch im Kino vor, wie Rodriguez belegt.

„D OWNGRADING “: AUTHENTIFIZIERUNGSSTRATEGIEN IM H ISTORIENFILM Mit ihrem Grindhouse-Double-Feature bedienen sich Tarantino und Rodriguez der Medienästhetik der Störung, um ihre Filme authentisch im Sinne der herbeizitierten filmhistorischen Grindhouse-Filme erscheinen zu lassen. Die nachträglich eingefügten Filmstörungen sollen anmuten, als handle es sich um abgenutzte und nie restaurierte Filmstreifen. Das bleibt zumindest bei Rodriguez‘ Planet Terror ein reines Spiel, denn der Film wurde digital gedreht, so dass tatsächliche Filmschäden nur denkbar sind bei den Vorführkopien auf Zelluloid. Dabei doppeln sich dann quasi die Schäden von Planet Terror und ergänzen die künstliche Alterung durch Merkmale der realen Kopiealterung – andererseits sind immer weniger Kinos mit 35mmProjektoren ausgestattet und zeigen die Filme von Festplatten, so dass diese doppelte Alterung vermutlich nur selten auftauchen wird. Man könnte die Medienästhetik der intendierten Störung grundsätzlich als ein metafilmisches Konzept bezeichnen, denn stets verweisen diese Stilismen zurück auf die Medialität des Films selbst. Niemand hat das deutlicher verstanden als Ingmar Bergmann, als er in seinem Kammerspiel Persona (1966) den Film rahmte mit Nahaufnahmen von dem Glühen der Bogenlampe im Projektor. Auch er bediente sich der intendierten Störung, denn etwa zu Beginn des letzten Drittels steigert er eine psychologische Krisenszene, indem er einen buchstäblichen Filmriss integriert: Das Filmmaterial scheint fest zu hängen, schmilzt durch und reißt, die Leinwand wird grell weiß. So zerstört er systematisch die filmische Illusion, verweist auf die Inszeniertheit des nichts desto trotz psychologisch arbeitenden Werkes, woraus ein aufwühlender Konflikt in der Rezeptionshaltung provoziert wird. Bergman scheint so die Wahrhaftigkeit seiner Inszenierung radikal zu hinterfragen, bestätigt aber zugleich die Authentizität des filmischen Dokuments selbst mit Mitteln der Sabotage.

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Persona

Doch es gibt weitere Ansätze einer Medienästhetik der Störung im Film als Authentifizierungsstrategie. Ein komplexer Ansatz etwa ist die künstliche Erzeugung eines vermeintlich authentischen filmischen Dokuments durch Inszenierung und Postproduktion. Hier bezieht sich die Authentifizierung weniger auf das Medium selbst, sondern auf die Vermittlung der filmisch inszenierten Welt. Vor allem im Kontext der historischen Spielfilms werden immer wieder Bearbeitungen des filmischen Material – durchaus im Sinne einer Schädigung oder eines Downgrading – eingesetzt, um den Eindruck eines realen geschichtlichen Dokuments zu erzeugen oder zumindest an die ästhetische Anmutung alten – und daher vermeintlich authentischen – Filmmaterials anzuschließen. Die Verwendung von Schwarzweißfilm, um einen ‚realen‘ Blick in die Geschichte zu vermitteln, ist insofern nicht immer ganz nachvollziehbar, da es bereits früh nach der Einführung des Mediums Versuche mit dem Farbfilm gab. Das früheste nachweisbare Beispiel wird auf 1902 datiert.9 Doch vor allem der Technicolorfilm hatte sich

9

http://www.guardian.co.uk/film/2012/sep/12/colour-film-1901-earliestworld?fb=optOut (17.9.2012)

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Schindlers Liste

bereits – zumindest im Zweifarb-Verfahren – bereits 1926 mit The Black Pirate in den USA etabliert. Das Dreifarbverfahren, das sich bis The Red Shoes/Die roten Schuhe (1948) von Michael Powell und Emeric Pressburger halten konnte,10 hatte sich spätestens mit Gone With the Wind/Vom Winde verweht (1939) von Victor Fleming etabliert, obwohl es bereits seit 1932 eingesetzt wurde. Der Farbfilm war also lange vor dem Zweiten Weltkrieg etabliert, dennoch nutzen zahlreiche historische Spielfilme wie The Longest Day/Der längste Tag (1962) oder Schindler’s List/Schindlers Liste (1994) von Steven Spielberg Schwarzweiß-Film als Signum von Historizität und somit Authentizität. Sie knüpfen damit vermutlich an die Schwarzweißästhetik der zeitgenössischen Wochenschauen an, die aus Kostengründen selten in Farbe produziert wurden. Tatsächlich aber existieren zahlreiche farbige Filmdokumente aus der Ära vor 1945 und werden in den letzten beiden Jahrzehnten auch verstärkt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die expressive Farbigkeit dieser tatsächlich realen Dokumente, die meist auf 8 oder 16-mmFilm produziert wurden, könnte auf lange Sicht das Bildgedächtnis verändern und andere filmische Authentifizierungsstrategien mit sich bringen. Dennoch hat sich eine spezifische Medienästhetik etabliert, wenn es etwa um die Darstellung der Ereignisse des Holocaust geht. Diese Inszenie-

10 … und zudem 1977 in Suspiria von Dario Argento noch einmal Verwendung fand.

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rungskonventionen existieren etwa seit Beginn der 1970er Jahre und arbeiten mit einem monochromen Downgrading der aufgezeichneten Farbskala. Das war zuvor anders: 1955 macht Alain Resnais Essayfilm Nuit et bruillard/Nacht und Nebel einem großen weltweiten Publikum erstmals die erschreckenden Aufnahmen von der Befreiung der Konzentrationslager zugänglich und prägte damit das Bildarchiv des Publikums auf Jahrzehnte. Er unterschied hier zwischen der Gegenwart (nicht sichtbar manipulierte Farbaufnahmen) und der Vergangenheit (mitunter abgenutzte Schwarzweißaufnahmen). Resnais Ansatz wurde von Spielberg in Schindler’s List nachvollzogen, indem er semidokumentarische Aufnahmen zu Beginn und Ende des Films in Farbe zeigt (darunter auch Aufnahmen der noch lebenden „Schindler-Juden“), mit Beginn der eigentlichen Binnenhandlung dem Film jedoch die Farbe weitgehend entzieht – abgesehen von einem Mädchen im roten Mantel, das zum Schlüsselmotiv erhoben wird. Die frühen Spielfilme über die Verbrechen der Nationalsozialisten bewahrten das von den Wochenschauen bekannte Schwarzweißformat als Inszenierungsstrategie – von Kapo (1960) von Gillo Pontecorvo bis Judgement at Nuremberg/Das Urteil von Nürnberg (1961) von Stanley Kramer oder The Pawn Broker/Der Pfandleiher (1964) von Sidney Lumet war eine Rekonstruktion der Konzentrationslager in Farbe undenkbar und widersprach diesem längst etablierten Bildgedächtnis. Die Bilder des Vergangenen mussten den vergangenen Bildern (der Wochenschauen) entsprechen. Erst in den 1970er Jahren experimentierte man mit neuen Inszenierungsstrategien: Um die Ereignisse in den Nazi-Konzentrationslagern darzustellen, wurde nicht von vornherein Schwarzweißmaterial benutzt, sondern das farbige Material wurde in seiner Sättigung soweit reduziert (Downgrading), dass vor allem Braun- und Blautöne dominieren, was eine beklemmende und morbide Atmosphäre bestärken soll. Beispiele finden sich in Aus einem deutschen Leben (1977) von Theodor Kotulla, Il Portiere di notte/Der Nachtportier (1974) von Liliana Cavani oder in der TV-Serie Holocaust (1978) von Marvin Chomsky. Als mit Steven Spielbergs Schindler’s List schließlich eine ganze Welle von Holocaust-Filmen entstand, hatten sich auch die filmischen Authentizitätsstrategien differenziert: vom Downgrading der Farb/Schwarzweiß-Kombinationen in Schindler’s List über weitere filmische Sabotage-Strategien wie radikale Subjektivität, wackelnde Handkamera und Monochromatik in Der neunte Tag (2004) von Volker Schlöndorff bis hin zu streng reduzierten Perspektiven in The Pia-

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nist/Der Pianist (2000) von Roman Polanski. Diese Beispiele zeigen, dass über die Jahrzehnte eine teilweise konventionalisierte Vorstellung der geschichtlichen Ereignisse etabliert wurde, von der eine Inszenierung nur in engem Rahmen abweichen kann, ohne unglaubwürdig zu werden. Durch diese Konventionalisierung jedoch arbeitet das Kino an einer „populären“ Mythisierung der Geschichte. Akzeptiert wird nur, was dem kollektiven Bildgedächtnis entspricht, kritisiert wird, was andere Wege sucht. Die Nachhaltigkeit dieses Phänomens lässt sich aus heutiger Perspektive auch und gerade an einer Reihe von für ein großes Kinopublikum produzierten Spielfilmen absehen, die in den neunzehnhundertachtziger Jahren versuchten, an Erfolg und Wirkung von Holocaust anzuschließen. Auch hier zeigte sich analog zum Fernsehen der grundlegende Wandel im Umgang mit dem heiklen Thema: Filme entstanden nun auf der Basis der kommerziellen und vor allem ästhetischen Mittel des Unterhaltungskinos. Dass dabei allerdings immer wieder auch Produktionen auffielen, die über komplexe Erzählführung und den offenkundig reflektierten Einsatz ihrer Ausdrucksmittel das Fernsehen weit hinter sich ließen, zeigt sich unter anderem an populären Filmen wie Alan J. Pakulas Sophie´s Choice/Sophies Entscheidung (1982). Anfänglich spielt der Film absichtlich auf einen „klassischen“ Melodram-Plot der 40er und 50er Jahre an. In einer Schlüsselszene wird die Protagonistin (Meryl Streep) an der Rampe von Auschwitz vor der Wahl gestellt, eines ihrer beiden noch kleinen Kinder behalten zu dürfen, während das andere sicher ins Gas geschickt würde. Mit der Aussage „nehmen sie das Mädchen“ ist Sophies Entscheidung gefallen und ihr Leben zerstört. Der Rückblick ist in genau dem monochromen und entsättigten Stil inszeniert, wie er noch in einer Comic-Adaption wie X-Men (2000) von Bryan Singer im Rückblick das Konzentrationslagerszenario prägte. Martin Scorsese knüpfte 2010 in den Rückblicken von Shutter Island an diese Konvention an und steigerte sie noch: Aus dem modrigen braun und diesigen Licht wird bei ihm eine vollends in Kälte und Eis erstarrte Schreckenswelt, in der die Holocaust-Opfer wie ein ausgeblichenes Stillleben arrangiert sind. Letztlich mussten gerade in ihren Mitteln anspruchsvolle Historienfilme jene grundsätzliche Debatte zuspitzen, die bis heute über alle Medien hinweg als Frage nach der Legitimität künstlerischer Verarbeitungen des Völkermordes der Nationalsozialisten geführt wird. Zum einen, so der Literaturwissenschaftler Matías Martínez, könne die Kunst unmöglich das größte

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Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts ignorieren, zum anderen jedoch sei eine solche Kunst im Grunde unmöglich, weil sich der Holocaust nach Meinung vieler in besonderer, vielleicht sogar einzigartiger Weise gegen ästhetische Gestaltung sperre.11 Hinsichtlich dieses komplexen Problems stellt der Film Steven Spielbergs Schindler´s List eine entscheidende Zäsur dar. Denn hier wurde die immer wieder unter Legitimationsdruck geratene Symbiose von kommerzieller Produktion und ethischem Auftrag bei einem großen Publikum und weiten Teilen der Kritik als gelungen wahrgenommen. Mit Schindler´s List gab sich das Medium Film deutlich wahrnehmbar als ein wichtiges Archiv im Sinne von Bildgedächtnis zu erkennen, dessen Bedeutung für die Identitätsbestimmung unserer Gegenwartskultur weiterhin zunimmt. Zugleich aber trug Spielberg dem Diktum der Nichtdarstellbarkeit seinerseits Rechnung, indem er das Filmmaterial betont downgradete.

S ABOTAGE REVERS : AUTHENTIFIZIERUNG DURCH V ERZICHT AUF EINE M EDIENÄSTHETIK DER S TÖRUNG Verzichtet ein historischer Film auf die besagten Inszenierungskonventionen (also Colour-Downgrading, Schwarzweiß-Material), entsteht die Gefahr der mangelnden Glaubwürdigkeit, denn das Publikum ist auf diese Authentifizierungsstrategien konditioniert. Ein Beispiel für einen solchen Versuch der Umkehr des konventionellen Downgrade-Verfahrens ist Tim Blake Nelsons Verfilmung der Erinnerungen des ungarischen Arztes Dr. Miklos Nyiszli, der von Josef Mengele zum Pathologen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau bestellt wurde. 2001 inszenierte er den Film mit postmodernen Hollywoodstars wie David Arquette, Steve Buscemi, Mira Sorvino und Harvey Keitel, die u.a. aus den Filmen Quentin Tarantinos bekannt sind. The Grey Zone/Die Grauzone (2001) erzählt von den sogenannten Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau, jenen meist jüdischen Gefangenen, die Teil der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie wurden, indem sie andere Juden in die Gaskammer führten, ihre Leichen verbrannten und die Asche entsorgten. Dafür genossen sie gewisse Privilegien. Es ist ein Film über die moralische Grauzone: über Moral und An-

11 Martinez 2004, 39-60.

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stand in einem geschlossenen System, das keine Moral und keinen Anstand erlaubt. Obwohl Nelson ebenfalls weitgehend mit entsättigten Farben arbeitet, schaffte er vor allem in den Szenen im Tageslicht einen erstaunlichen Kontrapunkt: In naturalistischer Farbigkeit erstrahlt bei ihm die künstlich bewässerte, saftig-grüne Wiese vor dem Krematorium, auf der die Sonderkommando in ihren Pausen Schachspielen und ausruhen dürfen. Es sind gerade diese Kontrapunkte zur monochromen Tristesse der Innenräume, die laut einem Statement des Regisseur beim Filmfestival Oldenburg, wo der Film 2004 zu sehen war, zu massiven Vorwürfen des Zynismus und der Geschichtsverfälschung führte. Doch gerade diese Momente waren sorgfältige Rekonstruktionen der historischen Fakten, sowohl was die privilegierten Häftlinge betraf, als auch die gepflegte Anlage und natürlich die Sonne. Was verstörte, war dagegen die unverfälschte filmische Vermittlung, die auf jede Medienästhetik der Störung in diesem Fall verzichtete – und den eigentlichen Zynismus des Lagersystems umso mehr betonte. Ein Beispiel wie The Grey Zone mag verdeutlichen, wie einschneidend die populären Medien das kollektive Bildgedächtnis prägen und sich mitunter völlig von den vorfilmischen Ereignissen und Situationen lösen. Spielfilm vom Grindhouse bis zum Arthouse prägen mit ihren Stilismen und Verkürzungen ein Bild, das als ‚wahrer‘ als die historische Realität erscheint – selbst wenn es auf der Basis einer Medienästhetik der Störung konstruiert wurde.

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L ITERATUR Martinez, Matías (2004): Authentizität als Künstlichkeit in Steven Spielbergs Film Schindler’s List; in: Stiglegger, Marcus/Jackob, Alexander (Hg.): Augen-Blick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medienwissenschaft, Heft 36: Zur neuen Kinematographie des Holocaust. Das Kino als Archiv und Zeuge?, 39-60. Stiglegger, Marcus (2009): Auf dem Weg zum ‚embedded filmmaker‘. Anmerkungen zum Kino als Home-Movie und Brian de Palmas Redacted, in: Splatting Image Nr. 78, Juni 2009, 11-13. Stiglegger, Marcus (2011): Pixel vs. Korn. Auf dem langen Weg zum digitalen HD-Kino, in: Jens Schroeter/Marcus Stiglegger (Hg:): High Definition Cinema. Navigationen, Siegen. http://www.guardian.co.uk/film/2012/sep/12/colour-film-1901-earliest-world ?fb=optOut (17.9.2012).

F ILMOGRAPHIE Aus einem deutschen Leben (D 1977, Theodor Kotulla) Cannibal Holocaust (I 1979, Ruggero Deodato) Conquest (I/E/MEX 1983 Lucio Fulcis) Das Fest (DK/S 1998,Tomas Vinterberg) Das Urteil von Nürnberg (USA 1961, Stanley Kramer) Death Proof ( USA 2007, Quentin Tarantino) Die Grauzone (UK 2001, Tim Blake Nelson) Die roten Schuhe (UK 1948, Michael Powell/Emeric Pressburger) Der Felsen (D 2002, Dominik Graf) Der längste Tag (USA 1962, Ken Annakin, Andrew Marton, Bernhard Wicki) Der Nachtportier (I 1974, Liliana Cavani ) Der neunte Tag (D 2004,Volker Schlöndorff ) Der Pfandleiher (USA 1964, Sidney Lumet) Der Pianist (F/UK/D/PL 2000, Roman Polanski) Holocaust (USA 1978, Marvin Chomsky) Inglourious Basterds (USA 2009, Quentin Tarantino) Kapo (I/F/ 1960, Gillo Pontecorvo)

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Maniac (USA 1980, William Lustig) Nacht und Nebel (F 1955, Alain Resnais) Night of the Living Dead (USA 1968, George A. Romero) Persona (S 1966, Ingmar Bergmann) Planet Terror (USA 2007, Robert Rodriguez) Rabid (CN 1976, David Cronenberg) Return of the Living Dead (USA 1985, Dan O’Bannon) Schindlers Liste (USA 1994, Steven Spielberg) Shutter Island (USA 2010, Martin Scorsese) Sophies Entscheidung (USA 1982, Alan J. Pakula) Spy Kids (USA 2001, Robert Rodriguez) Suspiria (I 1977, Dario Argento) The Black Pirate (USA 1926, Albert Parker) The Driller Killer (USA 1978, Abel Ferrara) The French Connection (USA 1971, William Friedkin) The Hobbit (USA/NZ/UK 2013,Peter Jackson) The Last Horror Movie (USA 2003, Julien Richard) The Texas Chain Saw Massacre (USA 1974,Tobe Hooper) Vom Winde verweht (USA 1939,Victor Fleming) X-Men (USA 2000, Bryan Singer) Die Spur des Killers (USA 2008, David Fincher)

Abweichung vom Selbst Entwurf eines Gesellschaftsspiels zur Identitätskonstruktion in sozialen Netzwerken D ANIELA K UKA & ȱ   „Will you not listen to Britney Spears now because you know your friends might make fun of you? Or, if you’re a contrarian like me, will you listen to the worst music imaginable simply to troll your ‚viewers‘? “ LAURA JUNE 2012

Wie würde sich Ihr Verhalten im Umgang mit Musik, Film oder Literatur verändern, wenn plötzlich alles, was Sie hören, sehen oder lesen, kaufen, kommentieren oder verschenken Bestandteil Ihrer öffentlich sichtbaren digitalen Identität würde? Wo und wer wären Sie, wenn ein Algorithmus auf Basis der Daten, die Sie und Millionen anderer Menschen hinterlassen, Ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft errechnen und Sie auf der Landkarte kultureller Praxistypen verorten würde? Und was tun Sie, wenn das Ihnen verpasste Label mit all seinen Implikationen so gar nicht mit der von Ihnen angestrebten öffentlichen Selbstdarstellung überein stimmt, Ihnen in bestimmten Lebensbereichen sogar zum Nachteil werden könnte? Der im Rahmen des Beitrags vorgestellte spekulative Entwurf eines Sozialen Netzwerks, der sich so oder ähnlich mit anderem Wording in der Zukunft wiederfinden könnte, will mögliche Antworten auf Fragen wie diese erspielbar machen, noch bevor sie empirisch beobachtbar sind. Unter dem

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Arbeitstitel Social Divergency Allocator (SDA) entsteht die Simulation eines Regelwerks, das die vollständige Sichtbarkeit aller Daten annimmt. In den Entwurf integriert sind Mechanismen sozialer Netzwerke, die die Nutzungspraxis und ihre Auswirkungen auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Subjekten radikal verändern werden: Semantische Beziehungen zwischen Profilen und Entitäten, Frictionless Sharing, Selbsttracking und Quantifizierung, Rating, Scoring and Ranking. In einer spekulativen Ausprägung dieser Entwicklungstendenzen als Spiel untersuchen wir die Verhandlung von Subjektentwürfen. Wie verändern Struktur, Logik und Design der Interfaces massenhaft genutzter Online-Medien das Verhalten von Individuen und die Entstehung von Gemeinschaften, wenn ihre Nutzung zur sozialen Norm und suggerierte Verhaltensimplikationen unumgänglich werden? Wie verändert die öffentliche Vermessung des kulturellen Ichs die Ausbildung von Interessen und Präferenzen? Wie entstehen Popularität und Geschmack unter der Bedingung, dass sich Konsumenten und Konsumangebote nur noch unter der Regie formal beschreibbarer Beziehungen und unter strenger sozialer Beobachtung finden? Welche Vorstellungen von Normalität und Abweichung entstehen in den Grenzen eines Systems, das potenziell jede Handlung einer Bewertungsprozedur unterzieht? Inwiefern werden Sichtbarkeit und automatisierte Identitätszuschreibungen tatsächlich zu Schablonen der Identitätskonstruktion und zu Mechanismen der Verhaltenssteuerung? Durch eine Mischung aus Sozialexperiment, Gesellschaftsspiel und Alternate Reality Szenario versucht der Social Divergency Allocator diese Fragen experimentell erforschbar zu machen, um einen Gegendiskurs zur Betrachtung sozialer Netzwerke als Plattform freier Selbstinszenierung anzustoßen und um mögliche soziale und ökonomische Dynamiken vorwegzunehmen. Wir beobachten, wie Probanden die vorgefundenen Bedingungen nutzen, sabotieren und reflektieren und welche Gruppendynamiken sich ausbilden und ziehen Rückschlüsse auf einen möglichen Wandel populärer Selbsttechniken, wenn Daten und Algorithmen beginnen, Regie über das Handeln und die soziale Interaktion zu übernehmen. Dabei kommt es, so die Hypothese, zu Zwangsmechanismen, Zwickmühlensituationen und Rückkopplungsschleifen, die beim Individuum Verhaltensänderungen bewirken, deren kleinster gemeinsamer Nenner die Abweichung vom Selbst sein könnte.

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F RICTIONLESS Q UANTIFICATION : G RUNDZÜGE DES S OCIAL D IVERGENCY A LLOCATOR Der Social Divergency Allocator ist eine noch in der Konzeptionsphase befindliche Spielversion des Projekts Social Quantified Self (SQS), das im April 2012 von Klaus Gasteier und Daniela Kuka initiiert und im Rahmen unserer Special Interest Group Mensch-Maschine-Persuasion an der Universität der Künste Berlin in der ersten Ausbaustufe gemeinsam mit Studierenden im MA Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation (Gerald Dissen, Ekaterina Karabasheva, Anne-Kristin Müller, Paul Schulze-Niehues, Sebastian Prassek, Jan Winklmann, Eva Zahneißen) umgesetzt wurde. Als Social Interaction Paper Prototype wurde SQS im Rahmen verschiedener Konferenzen und Veranstaltungen präsentiert und mit Probanden getestet. 1

Abb. 1) SQS Paper Prototyping

Abb. 2) SQS erste produzierte Spielversion

1

Online Dokumentation des Projekts: http://social-qs.net.

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Die Ergebnisse dienen als Auftakt einer Brettspielserie, in deren Rahmen Wechselwirkungen von Medientechnologie und Mechanismen zur Verhaltenssteuerung von Subjekten (Behavior Change Design) experimentell erforscht werden. Mit SDA antizipieren wir solche für die populäre Medienkultur. Das Projekt beruht auf derselben Grundannahme wie SQS: Wir ändern eine fundamentale Regel vertrauter sozialer Netzwerke wie Facebook oder Google+, indem wir die Funktion Profil bearbeiten durch Frictionless Quantification (im Folgenden: FQ) ersetzen. FQ ist ein imaginiertes Feature-Amalgam für soziale Netzwerke aus Selbst-Tracking bzw. Quantify Yourself Techniken (ein Trend zur möglichst lückenlosen Erfassung von Daten über sich selbst)2 und Frictionless Sharing (ein Trend zum unmittelbaren Teilen von Daten über sich).3 Wir erheben die daran gekoppelte Praxis der transparenten Selbstvermessung testweise zur sozialen Norm und schaffen einen fiktiven Handlungsrahmen, in dem sich Nutzerprofile ausschließlich auf der Basis von quantifizierbaren und algorithmisch interpretierten Daten automatisch generieren. Die digitale Repräsentation des Selbst wird vollständig vom System übernommen. Manuelles Eingreifen, z.B. das Angeben von Interessen und Präferenzen, das Posten nur bestimmter Ereignisse und anderer nicht – all das ist nicht mehr möglich. FQ beschreibt also die totale Vermessung des Lebens in nahezu allen Lebensbereichen einschließlich der automatischen Teilung und Auswertung der Daten innerhalb direkt oder indirekt vernetzter Gemeinschaften. Wir wenden uns damit entschieden gegen die in der Soziologie und Populärkulturforschung proklamierte Inszenierungsfreiheit des Selbst in sozialen Netzwerken. Unter den Bedingungen von FQ fällt der Handlungsspielraum bei der Selbstdarstellung des Individuums mit tatsächlich ausgeführten (und das heißt fortan: trackbaren) Handlungen zusammen. Von der Alltagspraxis

2

Anhänger der seit 2007 bekannten Quantified Self Bewegung nutzen selbst entwickelte oder kommerzielle Messinstrumente und mobile Apps, um Daten über sich selbst zu sammeln und mit dem Ziel der Selbstoptimierung auszuwerten (v.a. Körperdaten, aber auch Daten zur Mediennutzung, zur sozialen Interaktion, Stimmungskurven, Sex, etc.), http://quantifiedself.com.

3

Frictionless Sharing geht auf die Ankündigung der Facebook Timeline durch Mark Zuckerberg auf der F8 Developers Conference 2011 zurück und meint das öffentliche Teilen persönlicher Aktivitäten in Echtzeit (Musikhören, Nachrichtenlesen, Bücherkauf, etc.) über soziale Medien.

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abweichende Selbstdarstellungen sind nur noch durch Praktiken der Selbstoder/und eine Spezialwissen erfordernde Techniksabotage möglich. Im Spielprinzip von SDA bilden Probanden (Spieler) durch abgrenzende oder gruppenkonforme kulturelle Handlungen und ästhetische Entscheidungen sowie daraus resultierendes soziales Feedback (vgl. Abb. 5 und 6) formal codierte Identitäten (vgl. Abb. 7 und 8) aus. Wer sich als Fan einer Band oder Subkulturmitglied verstanden wissen will, muss sich der Logik des dies bezeugenden Systems folgend auch so verhalten. Inspirationen für das SQS Basiskonzept lieferten neben Theorien und sozialpsychologischen Experimenten seit Mitte des 20. Jahrhunderts u.a. die Fernsehserien The Prisoner4 und Person of Interest5 und das im Seminar be seeing you!6 von Klaus Gasteier entstandene studentische Projekt Mirror Me (Marischka Lutz, Jelena Maywald).

DU

BIST , WAS

D U ( SIC !) MISST

Michel Foucault hat Selbsttechniken als „eine Reihe von Operationen“ beschrieben, die ein Einzelner „an seinem Körper oder an seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise [...] aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer“ vornimmt, um „sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit oder der Unsterblichkeit erlangt.“7 Dabei ist die Konstruktion des Selbst an mediale Aufschreibsysteme und Abbildungsverfahren gebunden: „Das Selbst ist etwas, worüber man schreibt, ein Thema oder Gegenstand des Schreibens.“8 Selbsttechniken, so Mark Butler9, sind stets Medientechniken. Es lässt sich schlussfolgern, dass ein medialer Wandel auch zu einem Wandel von Selbsttechniken und damit zu veränderten Konstruktionsbedingungen von Identität führt. Die spezifische Struktur und Logik der Aufzeichnungssysteme, durch die das eigene und das Leben anderer sag- und zeigbar wird,

4

GB 1967-68, Patrick McGoohan.

5

USA 2011, Jonathan Nolan 2011.

6

Seminar-Blog unter http://www.gwk.udk-berlin.de/blogs/bcnu/thema/.

7

Foucault 1993, 26.

8

Ebd. 38.

9

Butler 2007, 83.

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determiniert den Handlungsspielraum der Individuen vor, während und nach der Aufzeichnung. Im Vordergrund des Projekts steht also nicht die Fortsetzung oder Vertiefung des Diskurses um die Privatsphäre, sondern die Erforschung psychologischer und sozialer Mechanismen der Verhaltensänderung durch medientechnologisch induzierten Wandel. Als kennzeichnend für diesen Wandel betrachten wir die ubiquitäre Verfüg-, Sicht- und Prozessierbarkeit riesiger Datenmengen über das Individuum und die Gesellschaft. Hören wir den Protagonisten dominierender Internetdienste aufmerksam zu, müssen wir dafür nicht weit in die Zukunft blicken: „If you have something that you don’t want anyone to know, maybe you shouldn’t be doing it in the first place.“10 „People have really gotten comfortable not only sharing more information and different kinds, but more openly and with more people. The social norm is just something that’s evolved over time.“11 Um die antizipierten Auswirkungen auf die Entwicklung des Selbst greifbar zu machen, legen wir zunächst eine Modifikation des JohariFensters12 als spekulatives Identitätsmodell zugrunde. Das Johari-Fenster wurde als kognitionspsychologische Technik zum besseren Verständnis von Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen entwickelt und experimentell eingesetzt. Probanden beschreiben sich selbst und andere auf der Basis von 56 Adjektiven. Nur Adjektive, die sowohl vom Individuum als auch von den es beschreibenden Personen verwendet wurden, bilden den öffentlichen Teil der Identität, die Open Arena. Die anderen drei Bereiche sind entweder nur dem Individuum selbst (Façade), seiner Peer Group (Blind Spot) oder niemandem (Unknown) bekannt (vgl. Abb. 3, I-II). Die Grundannahme von SQS und der Version SDA ist, dass diese drei Bereiche durch FQ schrittweise in den Bereich der Open Arena diffundieren. Totale Transparenz und öffentliches Feedback minimieren den Blind Spot, die Klassifizierung von Subjekten durch Quantifizierung und Rating

10 Schmidt, Eric: Google, 2009, Interview in der CNBC Dokumentation „Inside the Mind of Google“, Interview: Maria Bartiromo, http://www.cnbc.com/id/33831099/ Inside_the_Mind_of_Google. 11 Zuckerberg, Mark: Facebook, 2010, Stage Interview bei The Crunchies Awards http://readwrite.com/2010/01/09/facebooks_zuckerberg_says_the_age_of_priva pr_is_ov. 2010, Interview: Michael Arrington 12 Vgl. Luft/Ingham 1955.

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verunmöglicht das Aufrechterhalten der Façade und hochentwickelte Sensoren und Programme lüften durch die Produktion von Daten über das, was sich unserer Wahrnehmung entzieht, das Mysterium des Unbekannten/Unbewussten (vgl. Abb. 3, III-IV).

Abb. 3) Spekulative Modifikation des Johari Fensters unter den Bedingungen von Frictionless Quantification, SDA Team

Durch die vollständige Sichtbarkeit aller Handlungen und Eigenschaften des Individuums, deren Dokumentationsreichweite und -dichte durch den Einsatz von Selbstvermessungstechnologien auch über die menschliche Selbst- und Fremdwahrnehmung hinaus verlängert wird, greift das Individuum, so eine nahe liegende Hypothese, zur Vermeidung von unerwünschten Effekten bei

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der Selbst- und Fremdwahrnehmung zu kompensierenden Selbstabweichungsstrategien. Diese werden langfristig nicht als solche empfunden, sondern schrittweise in produktive Techniken des Selbst integriert. Unter diesem Vorzeichen fragen wir, was passiert, wenn jedes Musikstück, das wir hören, jeder Film, den wir sehen, jedes Konzert, das wir besuchen, jedes Buch, das wir lesen, jedes Produkt, das wir kaufen, zum algorithmisch interpretierbaren Baustein unserer Identität, zum symbolischen Kapital (im Sinne Pierre Bourdieus) wird und einer Echtzeit-Akzeptanzprüfung innerhalb sozialer (Teil-)Gemeinschaften unterliegt. Laura June stellt in ihrem eingangs zitierten Blogbeitrag einen unmittelbaren Bezug zwischen der restriktiven Ausbildung von Geschmack durch Frictionless Sharing und der Regierung des Selbst durch eine panoptische Überwachungsarchitektur, die Jeremy Bentham 1787 als Prototyp eines perfekten ökonomischen Gefängnisentwurfs konzipiert hat, her. Das Verhalten des Individuums wird reguliert, indem permanente Beobachtung unterstellt wird. Das Individuum agiert, als ob es laufend überwacht würde, selbst wenn dies gar nicht der Fall ist. Adaptieren wir diese Denkfigur auf die Struktur und Logik sozialer Netzwerke (das Panoptikum ist nicht zufällig zur Leitmetapher des kritischen Facebook-Diskurses avanciert), entsteht durch die Herausforderung, soziale Anerkennung zu erlangen, handlungs- und geschmacksbezogener Konformitätsdruck: „Everyone (on Facebook) is putting out there what they do with their boyfriends and there is some pressure to do the same.“ 13 Pierre Bourdieu hat in Die feinen Unterschiede dargelegt, dass Konformitätsdruck bei der Ausbildung von Präferenzen für bestimmte Nahrungsmittel, Kleidung, kulturelle Artefakte u.a. entsteht, weil sich das Individuum durch ihre Wahl symbolisch der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und der Abgrenzung zu anderen vergewissert. Frühere sozialpsychologische Studien wie das Asch Experiment14 haben außerdem gezeigt, dass die Sichtbarkeit der Meinungen und Handlungen anderer maßgeblichen Einfluss auf individuelle Entscheidungen hat. Zur Vermeidung einer Außenseiterposition sind Individuen unter Umständen bereit, Aussagen zu treffen, die ihnen eindeutig falsch erscheinen, die aber von einer Mehrheit behauptet werden. Um die Verschärfung dieser konkurrierenden Mechanismen der Selbstbehauptung unter den Bedingungen von FQ erlebbar zu machen, legen wir

13 McAfee Press Release 21.05.2012. 14 Vgl. Asch 1955.

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selbst zu wählende Prämissen in einem spielerischen Regelwerk für die Identitätsbildung entlang vier erstrebenswerter Orientierungsachsen zugrunde: Distinktion/Identifikation, Affirmation/Soziale Anerkennung, Isolation/Passion und Reflexion/Autorität. Sie werden auf der Basis quantifizierbarer Parameter in populärkulturelle Profile übersetzt (vgl. Abb. 4) und können unter den Bedingungen vollständiger Sichtbarkeit, Quantifizierung und Formalisierung des Lebens unmöglich gleichzeitig erreicht werden. Der Spieler muss sich entscheiden. Als konkurrierende Praxisfelder bilden sie das Raster für die kulturelle Stereotypisierung in unserer spekulativen Social Divergency Matrix (SD Matrix) (vgl. Abb. 7 und 8).

Abb. 4) Exemplarische Rollenkarten und ihre Profilausprägungen im Social Divergency Allocator

Es resultieren im Spielverlauf verschiedene Konflikte und Dilemmata, mit denen jeder Spieler konfrontiert ist und deren Lösung stark von der Gruppendynamik der jeweiligen Spielerkonstellation abhängt. So kann sich ein Spieler mit Außenseiterpräferenzen, die in der Gruppe nicht geteilt werden, zwar durchaus Passion und Spezialwissen erarbeiten, bleibt aber durch fehlendes quantifizierbares Feedback ohne Autorität, soziale Anerkennung und Identifikationschancen. Ihm fehlt soziales und damit auch symbolisches Kapital. Umgekehrt führt Mitläufertum zwar zu einem hohen Reputationswert, aber nicht zu Passion, Identifikation und Autorität. Selbst ein hoher Distinktionsgrad mit gleichzeitig ausgeprägtem affirmativen Verhalten hin zu einer Sub-Gruppe kann zwar die soziale Reputation steigern, im spekulativen Regelkreis aber wiederum nur unter dem Verzicht auf Passion und Autorität. Ziel ist es deshalb, in der Gruppe möglichst mehrheitlich geteilte Präferenzen zu identifizieren und in den Selbstentwurf zu integrieren, um wechselseitige soziale Akzeptanz von Handlungen zu sichern, dabei aber

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gleichzeitig die Wunschidentität zu erarbeiten, die alle Spieler zu Beginn unabhängig voneinander wählen. Die Herausforderung im FQ Regelwerk ist, dass ein So-tun-als-ob (man der Meinung der Gruppe wäre), also Lüge oder Rollenspiel, nicht mehr möglich ist. Das Individuum muss die durch das System und die Gruppenkonstellation vorgegebenen Verhaltensweisen und Interessen so weit inkorporieren, dass sie durch Messung und Auswertung verifizierbar sind. Mit anderen Worten: Wenn jeder nur ist, was von ihm track- und damit sichtbar ist, dann muss er unter Umständen auch die Abweichung vom Selbst strategisch in sein Verhalten, als Technik des Selbst, integrieren. Dabei sind es nicht die Daten selbst, die Einfluss auf das Verhalten der Individuen haben, sondern die Mechanismen, durch die die Daten in Bedeutung umgewandelt werden, also die Mechanismen, auf deren Grundlage die Daten interpretiert, klassifiziert, bewertet und in reale Konsequenzen für das Individuum überführt werden. Wir nehmen dabei vier Mechanismen als Anlässe zur Spekulation über die Zukunft sozialer Netzwerke an, die die konzeptionelle Grundlage der im Folgenden dargestellten Spiellogik von SDA bilden. Sie werden im Anschluss an die Spieldarstellung anhand von theoretischen Bezügen und aktuellen Anwendungen ausgeführt. I. Datendruck: Die Erfassung und Sichtbarmachung nahezu aller das Subjekt beschreibenden Daten durch (Selbst-)Tracking und Frictionless Sharing beeinflusst das Handeln einzelner Individuen innerhalb von sozialen Gemeinschaften. II. Formaler Habitus: Technologien zur semantischen Strukturierung und quantifizierten Bewertung digitaler Profile ermöglichen eine Formalisierung von Identitätsentwürfen. III. Geschmacksdelegation: Algorithmisch und sozial gesteuerte Filtermechanismen automatisieren die Versorgung des Individuums mit kulturellen Artefakten, die nur noch durch ihre Metainformationen zirkulieren. IV. Echtzeit-Normalismus: Die Quantifizierung von Präferenzen über große Nutzerkreise hinweg ermöglicht die Plausibilisierung stets neuer Normalitätstypen und Abweichungsmuster.

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S OCIAL D IVERGENCY A LLOCATOR : S PIELSITUATION Auf der Basis dieser vier Spekulationsanlässe entsteht folgende, bislang noch in der Konzeptionsphase befindliche Spielsituation: Spielziel •

Verorte Dich in der Popkultur-Matrix (vgl. Abb. 7 und 8)/Erreiche Dein Ziel mit bestmöglichem systemkonformen Score.

Spielstart • • •

• •

Spieler starten mit leerem IST-Profil. Jeder Spieler zieht/wählt eine verdeckte Rollenkarte, die er nicht offenlegen darf. Zu jeder Rolle gibt es ein Profil und eine Prämisse (Prämissen bedingen generelle strategische Ausrichtungen, Profilverteilungen geben konkrete Handlungsanweisungen für Spielaktionen). Alle Mitspieler erweitern vor Spielbeginn den Pool an Referenzkarten durch eigene kulturelle Artefakte. Durch Metadaten wie Genretags und Rating-Werte werden die kulturellen Artefakte beschrieben und kategorisiert (wie: Bands, Events, Formate, ...) sowie anonym bewertet.

Spielelemente • • • • • • • • •

Rollenkarten (mit formalisierten Soll-Profilen und Prämissen, vgl. Abb. 4) Aktionskarten und Referenzkarten (vgl. Abb. 5) Ereigniskarten Freundeskarten (virtuelle Freunde) Individuelles IST-Profil Spielfeld Feedbackbuzzer (vgl. Abb. 6) Social Divergency Matrix, hier: Popkulturmatrix (vgl. Abb. 7 und 8) Joker-Karte „Camp“

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Spielverlauf • •

Die Mitspieler handeln in mehreren Spielrunden unter den Bedingungen von FQ ihren Profilen gemäß, ohne ihre Rolle aufzudecken. Jeder Spieler spielt Aktionen aus, die er mit kulturellen Artefakten (Referenzkarten) verknüpft (auf ein Konzert gehen, an einem Event teilnehmen, Musik rezipieren, Accessoires erwerben, etc.). So entstehen den Spieler beschreibende semantische Beziehungen zu a) Personen/Institutionen, b) Locations/Events, c) Musiker/Bands, d) Filme/Serien, e) Informationsmedien/Literatur und f) Gegenstände/Accessoires.

Abb. 5) Modulare Aktions- und Referenzkarten in Anlehnung an das Open Graph Prinzip

• •

Die Auswahl an Referenzkarten minimiert sich über die Spielrunden nach Maßgabe mehrheitlicher Präferenzen. Aus Aktionen resultieren Freundschaftsanfragen, die der Spieler öffentlich annehmen oder ablehnen muss. Die Zusammensetzung des Freundeskreises hat Einfluss auf die Profilbildung. Erhaltene Freundschaftsanfragen (Freundeskarten mit profilrelevanten Eigenschaften) werden im Interesse und zur Unterstützung des eigenen Profils im eigenen Netzwerk behandelt.

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• •

Außer der verdeckten Rolle gibt es keine Geheimnisse im Spiel. Alle Aktionen und Bewertungen zu ziehender Referenzkarten sind für alle Mitspieler offen sichtbar. Angenommene oder vermutete Rollen der Mitspieler können unterstützt oder sabotiert werden. Spieler können die Aktionen anderer Spieler durch den Feedbackbuzzer bewerten.

Abb. 6) Formale Feedbackoptionen

• • •





Nicht nur die Aktionen der Spieler, sondern auch das dafür erhaltene Feedback fließen in die Profilbildung ein. Ereigniskarten bringen statistisches Wissen ins Spiel und steuern die Produktion von Normalität und Abweichung. Die Camp-Joker-Karte verkehrt profil-/rollenwidrige Aktionen oder Artefakte ironisierend in ihr Gegenteil und ermöglicht somit strategische Selbstabweichung. Die Social Divergency Matrix codiert populärkulturelle Identitäten, die den Spielern als Rollen zugeschrieben werden. Die Klassifizierung eines Spielers wird auf der Basis der im Spielverlauf ausgeprägten Profileigenschaften (Distinktionswille, Affirmationsstreben, Isolationsgrad, Reflexionsniveau) errechnet. Ziel ist die erfolgreich verortete Offenlegung der Wunschrolle, d.h. korrekt quantifiziert gemäß der Rollenvorgaben unter den Bedingungen der Spielaktionen sowie ein möglichst hoher systemrollenkonformer Score.

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Abb. 7) und 8) Social Divergency Matrix mit spekulativen Rollenangeboten

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S PIELDILEMMATA Dilemma 1: Zielprofil vs. Gruppendynamik In den ersten Spielrunden werden geteilte und nur individuell vertretene Präferenzen sichtbar. Sie beeinflussen den weiteren Spielverlauf durch eine Umstrukturierung der Handlungsmöglichkeiten und Gruppenbildung. So können Handlungen, die dem selbst gewählten Spielziel zuträglich wären, im Spielverlauf schwieriger bis unmöglich werden, wenn sie von einer kritischen Masse nicht unterstützt werden. Es kann zur Inkongruenz der durch das eigene Profil determinierten Möglichkeiten und den im Spielverlauf populär gemachten Angeboten kommen, sodass der Spieler zur radikalen Selbstabweichung gezwungen oder gar handlungsunfähig wird. Dilemma 2: Freundschaften vs. Strategische Gemeinschaften Formale Identitätsentwürfe verlangen einen nach vorherbestimmten Mustern ausgebildeten Freundeskreis. Die Ablehnung von Freundschaftsanfragen erzeugt emotionalen und sozialen Druck. Durch strategische Gruppenbildung können sich Spieler einen Vorteil erarbeiten; in den Gruppen bilden sich jedoch zusätzliche Handlungsrestriktionen. Dilemma 3: Zielorientiertes vs. Flexibles Handeln Das angestrebte Ziel eines Spielers kann sich entweder freiwillig oder durch Anweisung des Systems (Ereigniskarten) ändern. Das Ruder im Identifikationskurs herumzureißen wird umso schwieriger, je homogener ein Spieler gehandelt und sich vernetzt hat. Gleichzeitig kann längerfristig vom eigentlichen Ziel abweichendes Verhalten (z.B. um temporär soziale Anerkennung zu erlangen) ein Zurückrudern erschweren.

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S PIELAUSWERTUNG Score Der Score errechnet sich aus der Abweichung zwischen dem IST- und dem SOLL-Profil sowie der gruppeninternen Bewertung profilkonformer Spielaktionen als soziale Akzeptanz des angestrebten Identitätstypus. Verrechnet wird dabei auch die durch die Spielmechanik provozierte Selbstabweichung beim Streben nach rollenkonformem Ansehen. Gewinnen bleibt paradox: Eine geringe Selbstabweichung unterstellt starkes systemkonformes Handeln, eine starke Selbstabweichung Beeinflussbarkeit durch die Gruppe. Welche Typen der SD Matrix in der jeweiligen Spielergruppe befürwortet und welche abgelehnt werden, das ergibt sich in jedem Spielverlauf abhängig von der Gruppenzusammensetzung neu. Teilnehmende Beobachtung Beobachtet wird das Verhalten einzelner Spieler und der entstehenden Subgruppen. Neben den Entwicklungskurven der einzelnen Identitäten interessiert uns die Kommunikation zwischen den Teilnehmern, Emotionen, die Vermischung von Spiel und Realität (z.B. wenn sich Spieler persönlich kennen) und ob Gruppen sich im Spielverlauf auf abweichende Spielregeln einigen und somit die Vorgaben des Systems konsensuell sabotieren. Gruppendiskussion und Stimulated Recall Neben einem unstrukturierten Feedbackgespräch fragen wir nach den Gründen für mögliche Abweichungen der Wunschidentität vom IST-Profil, nach Beeinflussungsmechanismen und ihre Veränderung im Spielverlauf, nach der Entwicklung der Beziehung zu anderen Spielern, nach als positiv und negativ erlebten Momenten sowie nach persönlichen Erkenntnissen und Veränderungsvorschlägen.

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V IER S PEKULATIONSANLÄSSE Datendruck „83% of the people performed better than you.“15 Der erste für das Regelwerk von SDA relevante Anlass zur Spekulation über die Zukunft sozialer Netzwerke hat seinen Ursprung in der aktuell zu beobachtenden Tendenz zur Kommerzialisierung von Selbst-Tracking und Optimierungs-Technologie16 sowie zur Integration entsprechender Dienste in populäre soziale Plattformen. Dienste und Anwendungen versprechen, durch die lückenlose Erfassung des Selbst persönliche Eigenschaften und Gewohnheiten besser zu (er)kennen als man selbst (vgl. Abb. 3). Durch quasi-objektive Verfahren der Sichtbarmachung sowie Aus- und Bewertung der Daten entsteht sonst unverfügbares (im Quadranten Unknown angesiedeltes) Wissen, durch das das Individuum das eigene Verhalten unter der Prämisse der Selbstoptimierung evaluieren und justieren kann. Der Nutzer wendet die in die Dienste integrierten Überzeugungs- und Motivationstechniken auf sich selbst an, die ihren Ursprung in der Wissenschaft und Kunst der Überzeugung von Dritten (Rhetorik, Persuasion) haben. Eine semiotische Analyse ausgewählter QS Interfaces zeigt, dass die datenbasierten Selbstmonitoring-Verfahren in Form von Dashboards, Verlaufskurven und Rankings eine Identifikation des Selbst mit dem über es produzierten Zeichensatz unterstellen. Die komplexe Arbeit an sich wird simplifiziert durch vertraute quasi-objektive Visualisierungstechniken, die wir aus dem Ingenieurswesen (Maschinenkontrollapparaturen wie das Autotachometer), der Ökonomie (Preisentwicklung, Börsenkurse) und den Sozialwissenschaften (Sozialstatistiken) kennen.17 Auf der Basis welchen Wissens und welcher Modelle die angezeigte Performance errechnet wurde, welche Auswirkungen einzelne Ereignisse unter welchen Umständen haben und welche möglicherweise nicht erfassbaren Abhängigkeiten und Einflüsse existieren, ver-

15 Formulierung in Anlehnung an Feedbackmechanismen auf der Basis von statistischen Vergleichen, wie sie bei Selbstoptimierungs-Tools wie „The Eatery“ zum Einsatz kommen. Dort heißt es: „You ate better than 63% of the people.“ 16 Vgl. Janssen 2012. 17 Vgl. Kuka/Oswald 2012.

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schwindet (derzeit noch) hinter einem hochsimplifizierten Kausalitätsprinzip: Kurve steigt, Optimierung erfolgreich.

Abb. 9) TicTrac verknüpft Körper- und Lebensdaten, Sample Screen

Durch die Simulation von Autorität und Sympathie wird Normvermittlung zum freundlichen Alltagskomplizen, der dem Selbst stets einen Schritt voraus ist: „The coach, Cody, is like a proactive Siri that works with you in a group of friends. Cody will engage with you without your direct prompting, and give you encouragement, recommend activities, and organize support. He might even send you a funny song or video. To understand your activities, he connects to external fitness devices, and to provide tailored recommendations, he uses external APIs, such as Foursquare, Yelp, and Meetup.“ Der Autor zitiert auch einen Nutzer: „Seeing how long one friend ran, or getting a text from Cody that another friend just got done working out holds me accountable to keep up.“18 Die Sammlung und Auswertung von Daten über sich zum Zwecke der Selbstoptimierung wird zum Bestandteil der Selbst- und Fremdwahrnehmung, sodass das Individuum in jeder Lebensla-

18 Fidelman 08.07.2012.

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ge Feedback erhält und für unerwünschte Abweichungen selbst verantwortlich wird. Der in panoptischen Systemen durch Angst vor der Abweichung entstehende Druck wird zum Zwecke des effizienteren Selbst-Hackings wünschenswert. Selbstkontrolle durch Fremdkontrolle. Wiederkehrende Patterns wie Social Proof (das Bewerten von Handlungen durch vertraute Akteure), Social Comparison (der Vergleich der eigenen Daten mit denen von anderen) oder Competition (das Gamifizieren von Aufgabenstellungen aus allen Lebensbereichen)19 delegieren die Kontrolle des Selbst an ein technisches und/oder soziales System. Der Zwang, durch Sichtbarkeit, soziales Feedback und statistischen Vergleich willentlich vom eigenen IST für ein besseres SOLL abzuweichen wird zum populären Bedürfnis. Es scheint, als komme das Individuum erst durch das Erlernen Effizienz versprechender und sozial honorierter Selbstabweichung ganz zu sich. Selbstdarstellung entsteht durch Selbst-Tracking automatisch und verspricht ein Mehrwissen. Akribisch angelegte Daten-Lebensläufe, deren Rohdaten im Idealfall verknüpfbar wären, sodass sich Abhängigkeiten zwischen Ess-, Sexual- und Kommunikationsverhalten ebenfalls durch Quantifizierung ermitteln ließen, machen die Selbstvermessung zur vorauseilenden Autobiographie-Arbeit. Klassische Aufschreibe- und Abbildungssysteme wie Tagebücher oder Onlineportale mit editierbaren Profilen organisieren nicht primär das Handeln selbst, sondern dessen Darstellung und Deutung. Echtzeitauf- bzw. Mitschreibsysteme determinieren die Handlungsmöglichkeiten dagegen durch die antizipierte Interpretation und Honorierung nach einer Lernphase bereits vor der Tat. Du kannst nur tun, was Du aufgeschrieben haben willst – es sei denn es etablierten sich Umwege, Sabotagestrategien. Nicht mehr Aufschreiben um zu bewahren, was gut war, sondern Aufschreiben um zu verbessern, was nicht gut ist. Nicht mehr gut Handeln um aufzuschreiben, sondern Aufschreiben um gut zu handeln. Daten übernehmen Regie. Das Start-up LiveNaut bietet an, einen „computer-based avatar to interact and respond with your attitudes, values, mannerisms and beliefs“ zu kreieren, ein sog. „Mindfile“, und prognostiziert einen „echten Replikanten [...] aus Daten.“20 Die programmierbare Verhaltensänderung als Bestandteil des Selbst?

19 Vgl. Fogg 2002. 20 LiveNaut Produktbeschreibung, http://lifenaut.com (30.08.2012).

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Übertragen auf SDA tracken wir alle kulturellen Aktivitäten der Spieler und erzeugen in das Spielprinzip integrierten Konformitätsdruck, in dem soziale Anerkennung zu einem wesentlichen Parameter des Spielerfolgs wird. Jede Handlung wird zum symbolischen Akt und hat unmittelbaren Einfluss auf die öffentliche Identitätsentwicklung. Spieler dürfen sich demnach ausschließlich den Prämissen ihres gewählten Zielprofils entsprechend verhalten, kommen aber im Spielverlauf möglicherweise durch sozialen Druck in einen Zielkonflikt. Führt der durch Sichtbarkeit erzeugte soziale Druck zur Ausführung von Handlungen, die den eigenen Bedürfnissen und Interessen widersprechen, oder gar zur Modifikation der eigenen Interessen?

F ORMALER H ABITUS „You are a dabbler.“21 Als Anlass zur Spekulation darüber, dass sich eine Art „Formaler Habitus“ als digitales Pendant zum Habitus im Sinne von Pierre Bourdieu ausprägen könnte, gilt die zunehmende Integration von semantischen Technologien in soziale Netzwerke sowie deren Verknüpfung mit Quantifizierungsmechanismen. Semantische Beziehungen zwischen Subjekten, Orten, Dingen und Tätigkeiten werden zunehmend zu dominanten Wissenstechniken, indem sie als Informationsfilter fungieren, vgl. z.B. Social Graph vs. Interest Graph, Filter Bubble22. Mit dem Open Graph hat Facebook 2010 die erste Version eines offenen Protokolls implementiert, das ermöglicht, Personen und Dinge (Webseiten, Artikel, Filme, Bands, Events, Locations) über die Grenzen einzelner Websites hinaus zu verknüpfen. Am 15.01.2013 wurden diese Daten von Facebook in Kooperation mit Microsoft als offene Graph Search-Funktion (eigene Suchmaschine) zur Verfügung gestellt. Dort wird der Rang relevanter Suchergebnisse direkt von quantifizierter Performance und abgeleiteten Einflussfaktoren (z.B. Anzahl der „Likes" und Nähe im Open Graph) abhängig gemacht.23

21 Klout klassifiziert Nutzer sozialer Netzwerke auf der Basis ihres „Social Influence“ Scores u.a. durch das Label „Dabbler“. 22 Vgl. Pariser 2011. 23 Vgl. Pressemeldung auf dem Facebook Blog, 15.01.2013, URL: http:// news room.fb.com/News/562/Introducing-Graph-Search-Beta (16.01.2013).

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Abb. 10) Open Graph, Facebook Development Darstellung

Das Individuum schreibt sich selbst durch die Sammlung von Metadaten und Beziehungen. Dadurch entsteht eine Art Formaler Habitus, der die Bedingungsstruktur für weitere Handlungen und Beziehungen bildet und ausschlaggebend für die kulturelle Stereotypen- und Gemeinschaftsbildung durch formale Distinktion und Ähnlichkeit ist. Die semantischen Verknüpfungen sind Türöffner zum Finden relevanter sozialer Kontakte, Informationen, Produkte und Dienste. Der Graph ist die durch die Handlungen des Individuums strukturierSte und seine Handlungen strukturierende Struktur, die technische Reproduktion und Verselbständigung des Habitus’ im Sinne Pierre Bourdieus, der von einem „Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principium divisionis) dieser Formen“ (S. 277) spricht.24 Bourdieu hat dabei einen systematischen Zusammenhang von sozialem Feld (Herkunft, Kapital) und kulturellem Lebensstil (Nahrung, Kultur, Selbstdarstellung) eines Subjekts herausgearbeitet – anhand quantifizierbarer Merkmale und Präferenzen. Soziale semantische Medien digitalisieren und transformieren das soziale Feld als gebahnte

24 Bourdieu 1979 (hier in der dt. Übersetzung 1987), 277.

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und bahnende Struktur in ein ihrer Logik unterliegendes formales Feld von Identitätsentwürfen und daran gekoppelten Handlungsoptionen. Als Vorbild für die Modellierung von Typen für den Social Divergency Allocator dient uns Klout – Tagline: Standard für Influence.25 Klout errechnet aus quantifizierten sozialen Netzwerkaktivitäten den sozialen Einfluss eines Nutzers – ein digitaler Habitus auf der Basis von (ausschließlich) sozialem Kapital, das in symbolisches (Klout Score, Achievements) und ökonomisches (Perks) umgewandelt wird. Der Nutzer erhält eine Art digitale Visitenkarte, die als vielfältig einsetzbares Kapital einen Anreiz zur Optimierung der eigenen Netzwerkaktivitäten schafft. Unfreiwillig eingebunden in ein gamifiziertes persuasives System,26 in dem erfolgreiches soziales Handeln zur Norm wird, befindet sich der Nutzer plötzlich in einer Ranking- und Wettbewerbssituation auch außerhalb seines digitalen Handlungsrahmens. So erhält laut eines WIRED Berichts der Brand Consultant Sam Fiorella einen VP Job bei der Toronto Marketing Agency nicht, weil sein Klout Score zu niedrig ist, während ein hoher Score mit struktureller Bevorteilung und finanziellen Vergünstigungen honoriert wird.27 Für SDA interessiert uns vor allem die Nutzerklassifizierung von Klout, die uns als Modellinspiration für die Social Divergency Matrix dient (vgl. Abb. 7 und 8). Klout unterscheidet zunächst vier Hauptkategorien „Sozialer Influencer“ Typen, die sich wiederum in je vier Subtypen differenzieren.

25 Klout erklärt den Klout Score unter http://klout.com/corp/klout_score (16.01.2012). 26 Vielen Dank an Friedrich Kirschner für das aufschlussreiche Gespräch über Klout und Computerspielrhetorik. 27 Vgl. Stevenson 04.05.2012.

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Abb. 11) Klout Influence Matrix

Das Modell unterstellt durch die implizite Prämisse Sozialer Einfluss ist gut und wichtig eine klare Differenzierungen in High und Low Performer Typen. Low Performance Kategorien sind an Handlungsempfehlungen gekoppelt. Personalisierte Rankings zeigen besonders erfolgreiche populäre Charaktere,28 sie normieren den Möglichkeitsraum für einflussreiches Kommunikationsverhalten. Klout-Identitäten sind eine auf formalen Prinzipien be-

28 Barack Obama: 99, Justin Bieber: gesunken von 100 auf 92, als sein Score bekannt wurde, Stand 01.09.2012.

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ruhende Evaluierungs- und Zuschreibungstechnik, durch die Subjekte innerhalb einer neuen digitalen sozialen Leistungsordnung für jeden verortet werden, Starbildung und Stigmatisierung inklusive: Observer und Dabbler im Quadranten links unten lesen sich als weniger wünschenswerte Rollen. Die neuen Störer der digitalen Medienkultur sind die, die nur zuschauen, aber selbst ungesehen bleiben wollen. Cyberflaneure als deviante Figuren? Die Verbesserung des persönlichen Scores ist nur durch aktive Verhaltensänderung im Sinne der Systemlogik möglich, die eine erfolgreiche soziale Performance mit feedbackreichen Aktivitäten auf den verbundenen sozialen Plattformen gleichsetzt. Einflussreiches Kommunizieren ist quantifizierbares Kommunizieren. Nur wer Trägheit, Passivität und Sozialphobie überwindet, wer lernt, durch die nun sichtbare Abweichung von einer wünschenswerten Norm von sich selbst abzuweichen, kann Einfluss auf seinen Score nehmen. Und selbst wer einen Bot programmiert und nur mit FakeProfilen spricht, sabotiert nicht das System, sondern seine eigenen Gewohnheiten, indem Handlungen ausschließlich im Interesse des sie verarbeitenden Systems ausgeführt werden. Simulierte Kommunikation ist Kommunikation zur Befriedigung von Erwartungen angenommener oder faktischer Beobachter. Für SDA modellieren wir populärkulturelle Identitätsentwürfe in einer mehrdimensionalen Klassifikationsmatrix (Social Divergency Matrix), durch die Individuen öffentlich bezeichnet und dadurch ggf. geoutet werden. Konzipiert wird ein jedem Identitätstyp zugeordneter restriktiver Handlungsrahmen anhand getrackter und einer Rating-Prozedur unterzogenen Präferenzbekundungen. Es entsteht Druck durch die sichtbare Differenz zwischen IST-Zustand und Wunschidentität, durch innerhalb der Gruppe unterschiedlich akzeptierte Typen und durch Zwickmühlensituationen, in denen sich ein Spieler zwischen einer seinem angestrebten Image zuträglichen Handlung und einer sozialen Verpflichtung entscheiden muss. Die Beschreibung von Identitäten anhand formaler Kriterien, seien es Scores oder Metadaten, führt zu der Frage, inwiefern Kategorisierungen als Machttechnologien aufzufassen sind, durch die der Zugang des Individuums zu Informationen, Rollen und Netzwerken strukturiert wird. Wie entstehen kulturelle Identitäten unter den Bedingungen radikaler Formalisierung? Wie reagieren Nutzer auf die vom System geleistete Verortung des Selbst? In SDA werden die Identitäten der Spieler ausschließlich auf der Basis formaler Parameter ermittelt: Durch Scores, die Präferenz- und Ver-

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haltensmuster codifizieren, lassen sich eindeutige Rückschlüsse auf das in jedem Spielstadium zuzuordnende Profil ziehen – ob der Spieler dies nun so intendiert hat oder nicht. Wenn die Logik des Systems Identitäten auf der Basis von Handlungen, Interessen und Präferenzen ermittelt, ist der Nutzer dann bereit, für seine digitale Wunschidentität seine Handlungen, Interessen und Präferenzen anzupassen?

D ELEGIERTER G ESCHMACK „Paris Hilton is Brutal Death Metal.“29

Zur spiellogischen Umsetzung des dritten Spekulationsanlasses arbeitet SDA mit Metainformationen, die die kulturellen Artefakte auf den Referenzkarten beschreiben und bewerten (Genre-Tags, Ratings). Der dabei umgesetzte Gedanke ist, dass die formale Beschreibung kultureller Artefakte durch Begriffe und Zahlen die Entstehens- und Zirkulationsbedingungen des Populären und damit auch die Ausbildung von Geschmack maßgeblich verändert. Die Kulturwissenschaftlerin Birgit Richard schreibt in einer Flickr-Studie, dass die Vergabe von Tags eine der Aufmerksamkeitsökonomie unterliegende Praxis sei, zu der es gehöre, „die eigenen Bilder mit populären, Erfolg versprechenden Schlagwörtern zu versehen.“ Ein Bild wird dabei untrennbar von seinen Metainformationen – „Der tag ist das Bild.“30 Auf Basis eines kollektiv geteilten Vokabulars ist die Verwendung von Tags Bestandteil symbolischer Praktiken, durch die Gemeinschaft entsteht und sich Denkschemata, Präferenzen und Deutungen manifestieren. Im Umkehrschluss: Metainformationen beschreiben Artefakte nicht, sondern konstituieren sie. Sie schreiben den Artefakten Eigenschaften zu, die für die Rezeption bestimmend sind. Sie sind nicht deskriptiv, sondern präskriptiv – und zwar sowohl für die Maschine (die entscheidet, in welche Kontexte ein Artefakt anhand seiner Metadaten diffundieren kann), als auch für den Menschen (der die Metainformationen als Teil des Artefakts mitre-

29 Nutzer verschlagworteten auf last.fm Paris Hilton mit dem Genre-Tag Brutal Death Metal. Social Tagging Vandalismus wird zum Mem: http://www.lastfm.de/ tag/brutal%20death%20metal/shoutbox (30.08.2012). 30 Richard et al. 2008, 117.

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zipiert). Ein Genretag beeinflusst sowohl die Verwendung eines Musikstücks in Empfehlungsprozeduren als auch die Erwartung des Rezipienten, noch bevor der erste Ton erklingt. Auch Klick-Statistiken, Like-Counts und Rankings überlagern die Rezeption des eigentlichen Artefakts (Aufmerksamkeit, Rezeptionskontext, Decodierung). Boris Groys definierte den Pop-Geschmack als jenen, der „auf das Kunstwerk zusammen mit den Zahlen, die den Grad seiner medialen Verbreitung dokumentieren“ reagiert und konstatierte eine Ablösung der „Kommentarbedürftigkeit der modernen, avantgardistischen Kunst" durch die „Zahlenbedürftigkeit des Pop-Geschmacks.“31 Somit sei als „Kriterium des Erfolgs“ das „Ranking“ oder die „Position in den Charts" ausschlaggebend. Dies träfe nicht nur auf die Bewertung populärer Artefakte, sondern auch auf ihre Kritik zu, die ebenfalls nach quantifizierbaren Kriterien beurteilt würde.32 Im sozialen semantischen Web werden diese Informationen nicht mehr redaktionell vermittelt, sondern sind den Artefakten schon angeheftet. Sie bedingen ihre Zirkulation. Die Metainformationen sind dabei blind für die ästhetische Besonderheit dessen, was sie beschreiben, sie wiederholen ausgehandelte Codes, die in der Regel immer schon vor dem Artefakt da waren. Nicht selten werden Artefakte nicht mit den Keywords versehen, die sie am genauesten beschreiben, sondern mit den am Erfolg versprechendsten. Eine konsensorientierte digitale Verpackungskunst bestimmt, wie Artefakte zirkulieren und rezipiert werden können. Popularität wird zum auf formale Ähnlichkeit beruhenden Systemeffekt: Was möglichst oft dem schon Populären ähnlich ist, hat gute Chancen, in viele Nutzerprofile zu diffundieren, selbst wenn es zur Kategorie „most hated“ gehört. Populär ist, was algorithmisch gut diffundiert. Empfehlungssysteme verwandeln die einst distinktive Praxis der Musikzusammenstellung (das Mixtape!) in ein immer ausgefeilteres Jonglieren von Konsens auf Metaebene. Musikkonsum und die Ausbildung von Musikgeschmack werden unter diesem Vorzeichen auto-interpassiv.33 Meinungs-, Geschmacks- und Präferenzmuster bilden sich durch errechnete Ähnlichkeiten, nicht durch bewusste Konsumentscheidungen, in denen jeder Hörakt noch zur symbolischen Stellungnahme zwang. Auch hier: Das

31 Groys 2004, 101f. 32 Ebd. 104f. 33 Zur Haltung und zum Rezeptionsmodell der Interpassivität vgl. Pfaller 2008.

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System suggeriert, uns durch Daten besser zu kennen als wir selbst, und es ist zugleich – im Gegensatz zu uns – umfassend über Vielfalt, Neuheiten und Beliebtheit informiert. Delegierter Geschmack. Durch welche Patterns lässt sich Geschmack formal beschreiben, lassen sich Präferenzen vorwegnehmen? Welches Pattern kann die Vorliebe für lauten aggressiven Death Metal nach einem nervigen Bürotag mit der Angewohnheit, bei Fernweh die melancholieverdächtigen Schnulzen des letzten Sommerurlaubs zu hören, abbilden? Normales oder deviantes Verhalten? Verknüpft mit einer QS App kommt man hier vielleicht zu einer vorschnellen Diagnose: Manische Depression. Erst durch kollektive Sabotage, wie das last.fm-Mem zeigt, lässt sich die Logik popularitätsgenerierender Filterdispositive stören. Paris Hilton wurde mehrfach mit dem Tag Brutal Death Metal verschlagwortet und diffundierte so als Störung, als Sabotage der Ähnlichkeitsalgorithmen, in fremde Rezeptionskontexte. Filter-Sabotage, möglich durch die kollektive Einigung der Nutzer auf eine offensichtlich falsche, jedenfalls kommentarbedürftige Klassifizierung.

Abb. 12) Social Tagging Vandalismus bei last.fm: Paris Hilton im Brutal Death Metal Ranking

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Erst wenn Metainformationen Artefakte so verändern, dass sie Rezeptionsgewohnheiten unterbrechen, können sie einen Diskurs über kulturelle Werturteile, Stilechtheit und ästhetische Differenz, über subjektiv empfundene Ähnlichkeit und Nichtähnlichkeit wiederbeleben. Erst in der Genreverschiebung, im Fragwürdigwerden eines Konsenses, wird Musikauswahl wieder zum symbolischen Kraftakt – in diesem Fall durch die Notwendigkeit der Distanzierung. Erst wenn das Geliebte und das Gehasste auf Metaebene so nah zueinander rücken, dass es weh tut; erst wenn das Verschiedene die Ordnung des Akzeptierten durch scheinbare Ähnlichkeit durcheinander zu bringen droht; erst wenn sich zwischen dem, was Differenz erzeugen soll, durch ein einziges Metadatum, auf das sich eine kritische Masse geeinigt hat, Ähnlichkeit droht, wird die Macht kollektiv erzeugter Daten sichtbar, die Ausbildung von persönlichem Geschmack zu determinieren. Der Musikkonsum in der vollautomatisierten Endlosschleife, die vollständig formalisierte Artikulation von Geschmack durch binäre Buttons (love oder ban in der last.fm Interface-Rhetorik) und präskriptive Features (tag) wird erst dann empfindlich gestört, wenn das System die von ihm selbst konstituierten Erwartungen unterbricht. Erst im Scheitern des Systems wird der Hörer wieder zum aktiven Rezipienten – bis das System auch diesen Fehler in seine Logik integriert hat. Die empfundene Funktion oder Dysfunktion der Maschine ist eine Frage nach dem persönlichen Verhältnis zum Konsens. Die neue Ordnung des Populären ist eine Konsensordnung auf Metaebene. Übertragen auf SDA: Die totale Transparenz des Musikkonsums, durch die der Hörer im Akt des Hörens maschinenlesbare Geschmacksmuster produziert, fordert ihn zur Antizipation von Deutungskonsequenzen seines Verhaltens in jedem Rezeptionsakt auf. Die Ausbildung von Musikgeschmack wird zur strategischen Datenproduktion. Fan sein kann man nicht durch Behauptungen, sondern nur durch trackbaren Konsum. Ein in der Gemeinschaft nicht toleriertes Fantum nützt unter Umständen jedoch wenig. Zur Erlangung einer bestimmten populärkulturellen Identität ist stets geschmacksmusterkonformes und zugleich in der Gemeinschaft akzeptiertes Verhalten notwendig. Jedes Ausprobieren, jeder ästhetische Fehltritt wird unmittelbar zur sichtbaren Selbstabweichung. Geschmack, so könnte man annehmen, obliegt keinem ästhetischen oder ideologisch motiviertem Aushandlungsprozess mehr, sondern ist eine strategische Operation, durch die sich Nutzer mit dem System verbinden und es für ihre Zwecke persona-

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lisieren – wenn nötig auch gegen die eigenen Wertvorstellungen, Interessen und Vorlieben. Die Spieler von SDA schaffen auf der Basis schon vorhandener und/oder neu hinzugefügter Inhalte und deren Rating ein eigenes Referenzsystem für das Spiel, sodass das Populäre in jedem Spieldurchlauf neu verhandelt wird. Der Spieler kann seine individuellen Prämissen jedoch nur auf der Basis der von der Spiellogik vorgegebenen Verhaltensmuster realisieren und operiert dabei in einem vollständig formalisierten und geschlossenen System, in dem jede Handlung, jeder Kontakt und jedes Feedback zur Stellschraube der Profilzuweisung wird. Wie können wir Meinungen, Präferenzen und Geschmack überhaupt noch ausbilden, wenn uns die Rezeptionsangebote immer schon einen Schritt voraus sind und zu denen wir uns nur noch zustimmend oder ablehnend, love it or ban it, verhalten können? Wie kann noch Neues entdeckt und Abwegiges ausprobiert werden, wenn jede Handlung erfasst, interpretiert und sozial bewertet wird?

E CHTZEIT -N ORMALISMUS „Bad behavior is contagious.“34 Viertens geben uns statistische Verfahren zur Auswertung riesiger von Nutzern sozialer Netzwerke und Quantified Self Tools bewusst oder unbewusst erzeugter Datenmengen Anlass zur Spekulation, da diese eine den empirischen Wissenschaften bislang unzugängliche Ressource zur Ermittlung von Normalverhalten und Abweichungen erschließen. The Eatery, eine Selbst-Tracking App zum sozialen Rating des eigenen Essverhaltens auf der Basis von „Food Foto Sharing“, suggeriert einen auf das Individuum gerichteten Zweck im Umgang mit den produzierten Daten. Daten für sich. Im Hintergrund wertet eine Massive Health Studie35 die Millionen produzierter Bilder und Ratings aus und zieht Rückschlüsse auf die Ge-

34 In Anlehnung an die Kampagne „Food is contagious“ im Rahmen der Massive Health Studie. Auf der Basis statistischer Auswertungen von Ernährungsdaten von Nutzern des Selbstoptimierungs-Tools „The Eatery“ wird eine Abhängigkeit von Ernährungsverhalten und sozialen Beziehungen ermittelt, vgl. http:// data.massivehealth.com (30.08.2012). 35 Vgl. ebd.

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wohnheiten und Schwächen von Individuen – nicht ohne Konsequenzen für den künftigen Umgang mit sich und auch mit anderen: Andere wissen besser als wir selbst, ob wir uns gut oder schlecht ernähren. Und Ernährungsgewohnheiten sind ansteckend. Was lernen wir daraus?

Abb. 13) und 14) Ausschnitte aus den Informationsplakaten Food is contagious und We eat less healthy than we think, Massive Health Studie

Unter den Bedingungen von Frictionless Quantification wird durch statistische Dispositive, die in Echtzeit Normalität und Abweichung errechnen, das Lügen auch gegenüber sich selbst unmöglich. Jürgen Link hat in seiner Normalismustheorie36 argumentiert, dass durch die Verfüg- und Sichtbarkeit statistischer Vergleichswerte Applikationsvorlagen für normales Verhalten popularisiert werden. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts erfolge die Rückversicherung für normale Lebensentwürfe nicht mehr durch starre Normen, sondern durch flexible statistisch ermittelte Normalitätsgrenzen. In sozialen semantischen Medien und unter den Bedingungen von FQ lässt sich diese Technik der Normalitätsproduktion, die vornehmlich auf Gesundheits- und Sicherheitsfragen bezogen war, in nahezu alle Lebensbereiche ausweiten und in Echtzeit praktizieren. Datensätze können so zur

36 Vgl. Link 1998.

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Angriffsfläche für neue Machtmechanismen, Subjektzuschreibungen, Klassifikationssysteme und damit auch für Stigmatisierungen, Kontrollanlässe und Optimierungsdruck werden. Nahezu selbstverständlich sind Vermessungsverfahren auf Laster, Fehler und ein Zuviel/Zuwenig gerichtet. Statistisches Wissen transportiert dann unausgesprochene Handlungsaufforderungen für die Optimierung des Selbst mit Blick auf das, was durchschnittlich möglich erscheint und/oder kollektiv wünschenswert ist. Durch Scores werden statistische Abweichungen zur sozialen Markierung. Abweichungen sind im Extremfall nur dann legitim, wenn sie wiederum statistische Signifikanz aufweisen, also eine kritische Masse erreicht haben. Konsensuelle Abweichung. In Subjekt und Macht argumentiert Foucault, dass die Bildung von Differenzen und daran gekoppelte Klassifizierungen eine der großen Mächte ist, gegen die sich Individuen in der Geschichte aufzulehnen versucht haben. Er beschreibt einen Machtkampf „gegen jene Abstraktionen und jene Gewalt, die der ökonomische und ideologische Staat ausübt, ohne zu wissen wer wir als Individuen sind, wie auch gegen die wissenschaftliche oder administrative Inquisition, die unsere Identität festlegt.“ Gemeint ist eine Machtform, die „dem unmittelbaren Alltagsleben [gilt], das die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben.“37 Die identitätsbildende Zuschreibung von Eigenschaften ist ein Herrschaftsinstrument, weil es durch binäre Reduktionen wie Gesunde/Kranke, Mehrheit/Minderheit, Integrierte/Nichtintegrierte oder auch drinnen/draußen, oben/unten usw. Zonen des Legitimen und Illegitimen vor- und festschreibt und Subjekte daran bindet. Die aus persönlichen Daten errechneten Zuschreibungen unterstellen dabei Objektivität, da sie nicht von einer politischen Herrschaftsinstanz getätigt, sondern scheinbar vom Individuum selbst produziert werden. Durch Arbeit an sich kann man die Seite jederzeit wechseln. Doch wer hier tatsächlich Normalität produziert, das kann nur beantwortet werden, wenn man betrachtet, was überhaupt vermessen wird und nach welchen Regeln Daten gesammelt, interpretiert und in Handlungsoptionen für das Individuum übersetzt werden. In die Spiellogik von SDA integrieren wir daher auch Mechanismen der Verhaltensbeeinflussung durch statistische Dominanz.

37 Foucault 1994, 245.

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Ereigniskarten bringen einfache Templates zur Ermittlung statistischer Informationen ins Spiel, die die konkrete Situation am Spieltisch auswerten, oder Erhebungen über globale Mehrheitspräferenzen und Präferenzen einzelner sozialer Gruppen, die zur Reaktion auffordern. Unter welchen Bedingungen sich einzelne Spieler von Ratings leiten lassen, in Erwartung von wahrscheinlich positivem Feedback handeln, sich strategisch verbünden, durch den Joker „Camp" vermeintlich peinliche Handlungen rekontextualisieren oder ohne Rücksicht auf Verluste „sich selbst" spielen, müssen die Evaluationen wiederholter Spielverläufe zeigen. Wie entstehen Normalität und Abweichung, wie entstehen Mainstream, Subkultur und Gegenkultur, wenn Handlungsoptionen formal codiert und jeder Zeit von allen sozial bewertet werden? Wie verändert der bedingungslose Vergleich des Selbst mit anderen das Verhalten? Und welcher Handlungsspielraum bleibt jenen, die bestimmte Normvorschriften und Systemlogiken nicht erfüllen können oder absichtlich ignorieren?

S ELBSTSABOTAGE

STATT

S ELBSTREGIERUNG ?

Wenn Daten und Algorithmen zunehmend handlungs- und beziehungsbahnend werden, wenn digitale Daten zunehmend Regie auch über das Leben im physischen Raum übernehmen, bleibt dann letztlich nur die Selbstsabotage, durch die der Nutzer als kulturelles Subjekt noch in Erscheinung treten kann? Wenn Medientechniken beginnen sich zu verselbständigen, indem etwa Algorithmen Personen öffentlich taggen, Präferenzen ermitteln, Performances klassifizieren und sogar Handlungsempfehlungen aussprechen, dann kann das Individuum, will es die Infrastruktur unberührt lassen, diese Entwicklung nur vollständig adaptieren (Abweichung vom Selbst erster Ordnung) oder neue Techniken des Selbst einüben, um die dahinter liegenden Mechanismen für sich zu nutzen und die Macht über die mediale Konstruktion des Selbst zurückzuerarbeiten (Abweichung vom Selbst zweiter Ordnung). Letzteres umfasst auch Techniken der Verweigerung der Produktion von Zeichen über sich. Indem Computer lernen, das Verhalten der Individuen durch formales Wissen zu operationalisieren, muss sich der Mensch, will er sich der Intelligenz der Maschine entziehen, Verhaltensweisen und Eigenschaften aneignen, die (noch) nicht formal beschreib- und interpretierbar sind, selbst wenn

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dies der persönlichen Gewohnheit, Intuition oder Intention widerspricht. So schlagen Aram Bartoll und Kyle McDonald in einer gut zweimütigen Video dokumentation mit dem Titel How to avoid facial recognition; or: you gotta fight for your right to paaarty (anonymously!!) als Teil einer Kunstprojekt-Serie vor, sich der automatischen Identifikation und Markierung auf Fotos durch eine schiefe Kopflage zu entziehen. Ein ironischer Kommentar, der zeigt, wie die Logik des Systems buchstäblich zwingt, sich zu verbiegen. Der Persuasionsforscher und Gründer des Persuasive Technology Lab in Stanford BJ Fogg beschreibt Tagging als Mass Interpersonal Persuasion, die funktioniert, weil Nutzer unter allen Umständen wissen wollen, was von ihnen gezeigt oder über sie gesagt wird. Durch die latente Möglichkeit des Getagged-Werdens erreicht Facebook eine starke, suchtverdächtige Bindung des Nutzers an das System. Nicht mehr die Verlockung, andere zu beobachten steht im Vordergrund, sondern die Sorge, die Kontrolle über die digitale Selbstdarstellung zu verlieren.

ABWEICHUNG VOM S ELBST ERSTER O RDNUNG : Ü BERNAHME DER DATENREGIERTEN S ELBSTABWEICHUNG Auf dieser Ebene ereignet sich die Abweichung vom Selbst als tatsächliche Arbeit an sich, durch Anpassung an die Struktur des medialen Systems. Es handelt sich also um von der Logik des Systems induzierte Verhaltensänderungen. Das System wird im Sinne seiner Funktion anerkannt und genutzt, das Ich angepasst. Die Abweichung vom Selbst führt zur Aktualisierung der Identität. Die Daten übernehmen durch Selbst-Persuasionsmechanismen, Konformitätsdruck und delegierten Geschmack Regie über das Leben ihrer Produzenten. Die Abweichung vom Selbst wird unter dem Label der Selbstoptimierung zum eigentlichen, weil besseren Selbst.

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ABWEICHUNG VOM S ELBST ZWEITER O RDNUNG : S ELBSTABWEICHUNG ALS STRATEGISCHES S PIEL Auf dieser Ebene ereignet sich die Abweichung vom Selbst als Sabotage der Struktur des medialen Systems, ohne sie zu verändern oder gar zu zerstören. Die Abweichung vom Selbst wird zum integralen Bestandteil von Selbsttechniken, ohne mit ihnen identisch zu werden. Der Nutzer verwendet die Logik des Systems in seinem eigenen Interesse und übernimmt die Regie über seine Daten, indem er strategische Selbst-Sabotage betreibt. Auch hier ist der Nutzer letztlich Selbst- und nicht Systemsaboteur, denn er entwickelt Techniken, durch Verhaltensänderung im Foucaultschen Sinne nicht ganz so regiert zu werden, ohne sich dabei dem System entziehen zu können. Durch Techniken der Selbstdistanzierung, in gewisser Weise also negative Selbsttechniken, hält er das System und sich selbst in Schach, indem er sich formalen Deutungsmustern entzieht oder sie zweckentfremdet. Beispielhaft könnten das folgende Techniken sein: Metadaten-Autor werden, die Generierung von eigenen Daten delegieren/Datenhandel betreiben, Interessen simulieren, strategische Freund- und Feindschaften knüpfen, über Umwege (z.B. Freundesfreunde) Nähe zum Feind aufbauen, Handlungen tarnen, Geheimcodes für die Distanzierung vom Selbst etablieren, durch kritische Massenbildung neue Kategorien provozieren, durch diffuses inkohärentes Verhalten Einordnung verunmöglichen, die Grenzen des Systems sichtbar machen durch die Provokation von Widersprüchen oder Superlativen, zur kollektiven Laster-Schau aufrufen. Vielleicht lassen sich hieraus Inspirationen für ein Selbst-SabotagePlugIn für soziale Netzwerke im SDA Zeitalter gewinnen: Ein Selbstironiebutton oder andere Vokabeln der Selbstkommentierung? Semantische Beziehungen zweiter Ordnung? Eine Reverse-me Funktion? Ein Sparkonto zum Ausgleich für Daten-Sünden? Ein Spuren hinterlassendes virtuelles Radiergummi zur erlaubten, aber für alle sichtbaren Manipulation von Daten?

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AUSBLICK Der Social Divergency Allocator versteht sich als Bestandteil einer spielbasierten Speculative Research Reihe, die als Antizipationsmethode und Testlabor zur Erforschung digitaler Medienkultur versucht, sich aktuell abzeichnende Entwicklungstendenzen in ihren (auch extremen) Ausprägungsmöglichkeiten erforsch-, erleb- und theoretisch reflektierbar zu machen. Wir versuchen, Mechanismen zu antizipieren, die derzeit in der Form noch nicht empirisch beobachtbar, aber in digitalen Medienstrukturen schon angelegt und in Nutzungsgewohnheiten vorbereitet sind. Die Erfahrungen mit Probanden, sowie ihr affirmativer oder sabotierender Umgang mit den Handlungsangeboten des erdachten Prototypen liefern wertvolles Wissen über soziale und psychologische Effekte eines auf vollständiger Transparenz beruhenden Gesellschaftssystems, dessen schrittweises Näherrücken nur schwer geleugnet werden kann. Die Frage wird sein, wie wir uns dazu verhalten und wie wir nicht wünschenswerte Dynamiken früh erkennen und Alternativen erarbeiten können. Was als einfacher neuer Button (oder die Entfernung desselben) in mittlerweile vertrauten Interfaces sozialer Plattformen erscheint, kann vielleicht der Klick in eine neue Gesellschaftsform sein. Wir gehen bislang davon aus, dass die tatsächlichen disruptiven Auswirkungen eines Features wie Frictionless Quantification, wenn es plötzlich massenhaft genutzt wird, weder den Machern noch den Nutzern in ihrer vollständigen sozialen Dimension bewusst sein dürften. Bisherige Spielerfahrungen zeigen jedoch, dass selbst mit gezielter Provokationsabsicht integrierte Features plötzlich Akzeptanz erfahren können, sobald sie einen individuellen (im Spielverlauf erkennbaren) Mehrwert für den Spielerfolg versprechen. Erleichtert könnte man aufatmen: It’s just a game. Doch man könnte auch über wahrscheinliche Legitimierungsstrategien für zunächst mehrheitlich unerwünschte Features spekulieren. Denn nicht selten begegneten uns schon im Rahmen der Projekte der Special Interest Group Mensch-Maschine-Persuasion diskutierte spekulative Interfacevarianten und Dienste kurze Zeit später tatsächlich. Game over? Das noch zu evaluierende Spielprinzip des Social Divergency Allocators liefert einen Rahmen, mögliche kulturelle und soziale Auswirkungen datenregierter Identitätskonstruktion noch vor ihrer Entfaltung zu erspielen. Die Interpretation, populärkulturelle Identitätskonstruktion sei nichts weiter als ein Spiel, weisen wir jedoch zurück.

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B ILDNACHWEISE Abb. 1-2) Aufnahmen aus der SQS Dokumentation (K. Gasteier, D. Kuka), 2012. Abb. 3) Adaptierung das Johari-Fensters nach Luft, Ingham 1955 (K. Gasteier, D. Kuka), 2012. Abb. 4) SDA Darstellung (K. Gasteier, D. Kuka), 2012. Abb. 5-8) SDA Darstellung (K. Gasteier, D. Kuka), 2012. Abb. 9) http://www.heise.de/ct/artikel/Das-vermessene-Ich-1662987.html Abb. 10) http://developers.facebook.com/docs/opengraph/ [Schematische Nachstellung] Abb. 11) http://www.jkspeaks.com/wordpress/wp-content/uploads/2011/10/ klout-influence-matrix2.jpg Abb. 12) http://static.echonest.com/DukeListens/the_1_brutal_death_metal.html [Schematische Nachstellung] Abb. 13-14) http://data.massivehealth.com/ (Bildausschnitt)

Störende und Gestörte

Widerstand und Geschlecht The Rebel Girl: I Got This Fucking Thorn In My Side M ARCUS S. K LEINER & H OLGER S CHULZE Rebel girl, Rebel girl Rebel girl you are the queen of my world Rebel girl, Rebel girl I think I wanna take you home I wanna try on your clothes oh When she talks, I hear the revolutions In her hips, there’s revolutions When she walks, the revolution’s coming In her kiss, I taste the revolution BIKINI KILL – REBEL GIRL

RAF – R USSISCH AMERIKANISCH F REUNDSCHAFT ?! Am 21. Februar 2012 haben fünf Frauen mit einem Punkgebet, das sie als zweiminütigen Punksong in der Kanzel der Moskauer Christ Erlöser Kathedrale aufführten, einen Ort, den Frauen nicht betreten dürfen, die antidemokratische Liaison zwischen Kirche und Staat in Russland, für sie verkörpert durch die Wahlkampfhilfe von Patriarch Kyrill I, bürgerlich Wladimir Michailowitsch Gundjajew, dem Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche, für Vladimir Putin, sowie die miserable Lage der Bürgerrechte in Russland und die Korruptheit der russischen Regierung lautstark und auf-

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merksamkeitsökonomisch erfolgreich angeklagt. Die Rede ist vom russischen Künstlerkollektiv Pussy Riot!.

Pussy Riot!-Performance des Punk-Gebets

Ihre Performance, die als Form zivilen Ungehorsams bzw. als Akt einer Kommunikationsguerilla bezeichnet werden kann, war von großer politischer Bedeutung und Brisanz, wie sich an ihrer drakonischen Strafverfolgung und Kriminalisierung, dem nicht transparenten und parteiischen Prozessablauf und der übermäßig drastischen Verurteilung von drei Mitgliedern des Künstlerkollektivs am 12. August 2012 zu zwei Jahren Straflager, aufgrund „Rowdytums aus religiösem Hass“, zeigt. Die Inhaftierung, der Prozess und die Verurteilung wurden nicht nur in Russland zu einem Politikum, sondern sie fanden auch die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sowie Medien und lösten weltweite Protest- und Unterstützungsaktionen aus, die bis heute anhalten. Einen konstruktiven Eindruck hierzu bietet die Internetseite „www.freepussyriot.org“, aber auch die mehrsprachig erschienene Textsammlung „Pussy Riot! A Punk Prayer for Freedom“. Offenkundig fühlten sich die russische Regierung und die RussischOrthodoxe Kirche von dieser Aktion authentisch bedroht und sahen sich dementsprechend genötigt, ein Exempel zu statuieren. Aber worin liegen die Gründe hierfür konkret? Vergegenwärtigen wir uns zunächst das Punkgebet:

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„(Refrain)

Jungfrau Maria, heilige Muttergottes, räum Putin aus dem Weg Räum Putin aus dem Weg, räum Putin aus dem Weg!

Schwarzer Priesterrock, goldene Schulterklappen, Die ganze Gemeinde kriecht in buckelnder Verbeugung Das Gespenst der Freiheit ist im Himmel Homosexuelle werden in Ketten nach Sibirien geschickt / Der KGB-Chef ist euer Oberheiliger Lässt Demonstranten unter Geleitschutz ins Gefängnis abführen Um Seine Heiligkeit nicht zu verärgern Müssen Frauen gebären und lieben. / Scheiße, Scheiße, die Scheiße des Herren! Scheiße, Scheiße, die Scheiße des Herren! / (Refrain) Jungfrau Maria, heilige Muttergottes, werd’ Feministin Werd’ Feministin, werd’ Feministin! / Das kirchliche Loblied auf miese Diktatoren Die Kreuzträger-Prozession aus schwarzen Limousinen Ein Lehrer-Priester kommt in die Schule / Geh zum Unterricht – bring ihm Geld mit! Patriarch Gundjajew glaubt an Putin Glaub stattdessen lieber an Gott, du Mistkerl! Der Gürtel der Seligen Jungfrau ist kein Ersatz für Massendemonstrationen Maria, die heilige Muttergottes, ist bei uns im Protest! / (Refrain) Jungfrau Maria, heilige Muttergottes, räum Putin aus dem Weg Räum Putin aus dem Weg, räum Putin aus dem Weg!“

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Wir wollen hier nicht interpretieren, sondern v.a. Fragen formulieren, die der Fall Pussy Riot! bei uns auslösen: Handelt es sich bei der Aufführung dieses Gedichts und seiner staatlichen Sanktionierung vielleicht um die erste historische Situation, in der mit Pop Politik gemacht wurde, d.h. nicht nur politische bzw. politisierende Meinungsäußerung und Meinungsbildung stattfand, sondern ein real-politischer Handlungsprozess initiiert wurde? Ist Punk aus der Perspektive von Staat und Religion nicht nur primär Ästhetik und Lebensstil, sondern auch noch subversiv? Löst Punk damit sein subkulturelles Geburtsversprechen ein, wird also das, was er immer behauptet zu sein? Warum ist es der Demokratie Russlands anscheinend nicht möglich, wie anderen Demokratien, Widerstand gegen sie in ökonomisch effiziente Widerstandsmarktwirklichkeiten zu transformieren, die im Selffashoning müden? Es gibt kaum Momente in der Geschichte der Popkulturen seit den 1950er Jahren, in denen man Pop so sehr ernst genommen hat und sich dabei nicht gleichzeitig aneignen wollte, wenngleich Kirchenkritik, Staatskritik, Anti-Rassismus und Anti-Sexismus spätestens schon seit den 1960er Jahren zu den Insignien der unterschiedlichen Spielarten von Populärkulturen, Popkulturen und Populären Medienkulturen gehörten, aus denen immer auch erfolgreiche Geschäftsmodelle generiert wurden. In zahlreichen Reaktionen auf die Aktion und die staatliche Kriminalisierung von Pussy Riot! folgten weltweit zumeist zwei Reaktionen: einerseits die Rückbindung an die 1960er Jahre, v.a. natürlich an das Geschichtszeichen 1968, und damit auch an den Mythos von der subversivrevolutionären Macht von Pop; andererseits die Vereinnahmung durch unterschiedliche Widerstandskulturen und Solidaritätsgruppen, wie etwa dem Feminismus, und die Rückbindung an deren interventionistischen Kritikdiskurse sowie Praktiken. Vereint werden diese beiden Reaktionen dadurch, dass Pussy Riot! als eine zeitgemäße künstlerisch-popkulturelle Form des Widerstandes gegen staatliche Hegemonie, als ein Kampf für die Freiheit und Ausdruck radikal-demokratischer Agitation aufgefasst wird, durch die eine neue politische Bewegung, durchaus im globalen Maßstab, ausgelöst werden kann. Insofern sprechen Pussy Riot!, ebenso wie ihre Solidaritätsgruppen davon, dass Aktion und Reaktion Ausdruck eines Generationsvertrages sind, also wieder einmal die junge Generation die veralteten, regressiven Strukturen subvertieren kann, wenn man sich als eine Generation begreift.

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Protest zur Befreiung von Pussy Riot!

Nimmt man etwa die Anti-Globalisierungsbewegung und die OccupyBewegung hinzu, könnte man behaupten, das wir uns gegenwärtig in der Zeit der Bildung einer Multitude-Widerstandskultur befinden, die in unterschiedlichen globalen Kampfzonen die Forderung des „Power to the people“ umzusetzen intendiert und vielleicht auch die Durchsetzungskraft hierzu besitzt. Fast zehn Jahre zuvor gab es durch eine Bemerkung der Sängerin der US-amerikanischen Countryband Dixie Chicks, Natalie Maines, zum Auftakt ihrer Europatournee in London, einige Tage vor der offiziellen Kriegserklärung der alliierten Staaten an den Irak, nach dem Song „Travelin’ Soldier“ einerseits heftige öffentliche Kritik in den USA, weil sie die Irakpolitik von Bush deutlich kritisierte, andererseits brachte dies der Band einen bedeutenden Stellenwert in der Anti-Bush-Koalition ein: „Just so you know, we’re ashamed the president of the United States is from Texas“. Bedeutsam war diese Kritik der Dixie Chicks auch darum, weil es sich bei ihnen um eine der erfolgreichsten Frauenbands der Popmusikgeschichte handelt, also Widerstand aus dem Mainstream der Popmusikkulturindustrie heraus erfolgte. Dokumentiert wird diese Geschichte von Artikulation, Empörung und Solidarität im Film „The Dixie Chicks: Shut up & sing!“

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In den USA bewirkte die Bush-Kritik zum einen mediale Sanktionen, weil diese als anti-demokratisch und respektlos gegenüber den kämpfenden Truppen bezeichnet wurde: u.a. spielten Radiosender Dixie Chicks-Songs nicht mehr; die Verkaufszahlen des Albums „Home“ gingen durch diese mediale Distanzierung von der Band drastisch zurück; Konzerte in den USA wurden boykottiert. Natalie Maines erhielt zum anderen mehrfach Morddrohungen und musste Monate lang von bewaffneten Sicherheitskräften bewacht werden. Zur Bekräftigung ihrer Bush-Kritik ließ sich die Band einige der Anfeindungen gegen sie auf ihre Haut schreiben und präsentierten sich nur hiermit bedeckt nackt auf dem Cover von Entertainment Weekly in der Ausgabe vom 03. Mai 2003:

Dixie Chicks auf dem Cover von Entertainment Weekly

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Ihre Kritik führten sie im Oktober 2004 fort indem sie sich der „Vote for Change Tour“ anschlossen. Diese von der Organisation MoveOn.org organisierten Konzerte in die sog. Swing States unterstützten die Kandidatur von John Kerry im US-Präsidentschaftswahlkampf gegen George W. Bush. Die politische und popkulturelle Bedeutung dieser Ereignisse fasst JörgUwe Nieland zusammen: „Im Rahmen eines Hearings des US-Senats zur Zukunft der Radioindustrie berichtete Simon Renshaw, der Manager der Dixie Chicks, über die Kampagne und die Morddrohungen gegen die Band. Sein Plädoyer für die Rechte, die das First Amendment der US-amerikanischen Verfassung garantiert (,artistic freedom, cultural enlightenment and political discourse’), stellte die Vertreter der Radionetworks bloß [...]. [...] Offenbar ist es unter anderem diesem Auftritt zu verdanken, dass sich der Ausschuss des Kongresses unter dem Vorsitz von John McCain gegen die Lockerung des Telecommunication Acts und damit gegen eine (weitere) Deregulierung des US-amerikanischen Medienmarktes aussprach und die Meinungsfreiheit schützte bzw. ihre Bedeutung hervorhob. [...]. Der Vorgang ist Zeugnis für den Kampf der Band gegen den ,neuen Konservatismus‘ [...]. [...].“

Im Unterschied zu Pussy Riot!, die keine Produkte zu verkaufen haben, sondern ausschließlich Ideale und Haltungen, stellen die Dixie Chicks die kulturindustrielle Seite des popkulturell basierten Widerstandes dar. Ihre zuerst ambivalente Haltung gegenüber den Reaktionen auf das spontane Statement von Maines – die Sängerin und die Band wollten ihre Bush kritischen Aussagen zunächst zurücknehmen, bevor sie sie noch verstärkten –, folgte die aufmerksamkeitsökonomisch erfolgreiche Demonstration von widerständiger Stärke sowie die Verarbeitung ihrer Erfahrungen auf ihrer erfolgreichen und medial gefeierten Platte „Taking the Long Way“ (2006), so etwa in ihrem Song „Not Ready to Make Nice“. Popkultureller Widerstand wurde hier zu einem Geschäftsmodell, das dennoch eine gewisse mediale und soziale Veränderung nach sich zog, eine Art Reform allerdings, keine Revolution.

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I DENTITY IS THE CRISIS : S CHWEINESYSTEME , S CHWEINEMÄNNER , S CHWEINEPOP Nichts desto trotz: Pop ist Männersache, auch 2013 noch – daran ändern Pussy Riot! und die Dixie Chicks bisher auch nichts. Eine Subversion ist nicht in Sicht. Kein Wunder, ein System, das sich seit Mitte der 1950er Jahren so erfolgreich bewährt hat und seit die erste Spielart der modernen Popmusik, Rock’n’Roll, von weißen, amerikanischen Mittelstandsmännern etabliert wurde, gilt: Männer machen Pop, Frauen repräsentieren Pop – und in unseren Einstiegsbeispielen eben das Bild vom subversiven Pop, das vermeintlich gleich doppelt subversiv ist, weil es sich um Frauen handelt. Warum haben zahlreiche der Ideen des Feminismus und Postfeminismus bzw. das eindrucksvoll-intellektuelle Kapital zahlreicher GenderDiskurse, das Popbusiness nie substantiell erreicht und verändert, ebenso wenig wie alle Revolutions- und Subversionsträume? In so vielen anderen sozialen, kulturellen und individuellen Lebenswirklichkeiten war der Weg vom Diskurs zum Leben möglich und ist es immer noch. In der Popmusik und im Popbusiness bleiben Feminismus, Postfeminismus und Gender fast ausschließlich Text, Forderung, Mahnung, Zeigefingerpolitik der Pseudo-Kritischen und mental Haltungsschwangeren, letztlich Rhetorik und Geschwafel, gute Gefühleproduktion für die, die nichts verändern wollen, und auch nur tanzen, wenn es zuerst andere tun, nur denken, was schon andere gedacht haben und sich auf das intellektuell-kritischhaltungsvolle mood management fokussieren – genau das Gleiche gilt für Revolution und Subversion. Gefühlt riskant, genial dagegen: „Aber Hier Leben, Nein Danke!“ (Tocotronic) Journalismus und Wissenschaft reichen sich die Hände. Die performative Produktion von Wirklichkeit besitzt eben deutlich Grenzen. Mit Pop ist keine Politik zu machen. Punkt. „Get up, stand up“ klappt am Besten im Club, auf Konzerten oder Festivals. Innerlich natürlich auch jeden Tag. Pop verändert, im besten Fall, Ästhetik und Lebenswelt, Konsum und Medienkultur, immerhin, aber nicht die Gesellschaft als politisches System, das Wirklichkeit legitim gestalten und sanktionieren kann, Entscheidungen für uns trifft, an denen wir zumeist nicht beteiligt sind. Und die Wege von einer popkulturellen Politik des Selbst bzw. eines Ethos der Selbstgestaltung zu einer Subversion oder Transformation gesellschaft-

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licher Wirklichkeit zeichnen sich bis heute noch nicht ab – sind aber andererseits in ihren unterschiedlichen Medialisierungsformen bis zur Unkenntlichkeit zertrampelt worden. Auch Pop ist nur in seltensten Fällen basisdemokratisch, sowohl industriell, als auch journalistisch und real gelebt, ein Ausdruck für die Kreativität und Freiheit der vielen Eigensinnigen, sondern zunächst und zumeist eine Anpassungskulisse für Mitmacher, die Style, Haltung, Gemeinschaft oder Meinung shoppen, aber auch für Bedeutungskämpfer, die Diskursgewalt begehren. Pop war, ist und bleibt primär ein Identitätsmarkt – wie jeder Markt häufig ein sehr fremdbestimmter. Selbstbestimmung ist schwierig, weil Identität eine Krisenphänomen ist, auch und gerade mit Blick auf die Sozialisation in populär- und popkulturellen Umwelten. Eine der wenigen avancierten Punk-Bands der 1970er Jahre, X-Ray Spex, mit ihrer Sängerin Poly Styrene und der Saxophonistin Lora Logic, diese Besetzung war für ihre Punk-Zeit wegweisend und ist es bis heute, bringen den Aspekt in ihrem Song „Identity“ pointiert auf den Punkt: „Identity | Is the crisis | Can’t you see | Identity identity | When you look in the mirror | Do you see yourself | Do you see yourself | On the t.v. screen | Do you see yourself | In the magazine | When you see yourself | Does it make you scream.“ Im Song wird keine schnelle Alternative zur Krise angeboten, sondern die Problematik der populärkulturellen Identifikationsmöglichkeiten aufgezeigt, durch die ein möglichst selbstbestimmter Identitätsaufbau stattfinden könnte bzw. durch die dieser allererst be- und verhindert wird. Identität verlangt Identifizierung. Die Pop-Muster, mit denen Frau und Mann sich identifizieren können sind allerdings zumeist festgelegt. Auch die vermeintlich subversivste Musikerin, ebenso wie ihre männlichen Kollegen, identifizieren sich zunächst mit dem, was ihnen vorgegeben ist – auch und gerade in der Negation. Keine Madonna, keine Lady Gaga, ihre einzig legitime Nachfolgerin, allerdings nur in Anbetracht der Bedeutung von Madonna in und für die 1980er-Popjahre, keine Nico, keine Kathleen Hanna, keine Peaches, keine Courtney Love, keine Corin Tucker und auch keine Brody Dalle, um nur einige wenige Popmusikerinnen zu nennen, die versuchen, eigensinnige Frauenrollen im Popbusiness zu etablieren, haben hieran grundsätzlich etwas geändert. Im großen Pop’n’Roll Swindle wird Frauen nur der Raum zur Identifikation oder Anti-Identifikation geben – in Form von repräsentativen oder repräsentationskritischen Rollen, die sie neben den Regenten oder repräsen-

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tativen Outlaws, also den Männern, einnehmen können: Queen, Diva, Lady, Girl etc., wenn sie als Konformistinnen aufgefasst werden, oder als Sister, Riot Girl, Bitch usw., sobald sie sich als Konformistinnen des Andersseins präsentieren. Hierbei werden hin und wieder noch selbstbestimmtere Rollenmodelle toleriert, die sich als Künstlerinnen verstehen, wie etwa Patti Smith oder Kim Gordon. Popmusikerinnen als Repräsentantinnen sind auch an zentralen Popmedialisierungsorten, wie etwa auf den Covern der Musikmagazine, und im Vergleich zu den Popmusikern, viel seltener präsent. Erscheinen sie an diesen prominenten Orten, werden sie fast durchgehend stark sexualisiert bzw. in erotischen oder zweideutigen Posen und Positionen abgebildet, häufig überzogen cool oder mit Pseudo-Understatement, auch und oft gerade die NichtKonformistinnen, für die selbstbestimmte Sexualität und das demonstrative Abweichen von Schönheitsnormen, nicht selten ihre, wenn nicht einzige, so doch plakativste Fuck-You-Haltung zum System sind. Letztlich werden hier alle männlich konnotierten Erwartungshaltungen an die Rolle der Frau im Popbusiness erfüllt. Positionen, Negationen von Positionen, Ironisierungen, subversive Affirmationen, Non-Konformismus bleiben an das rückgebunden, wovon sie sich absetzen wollen und von dem sie bestimmt werden in ihrer (Nicht-)Identität sowie in ihren (Nicht-)Identifizierungen. Ein klassisches Beispiel einer AntiIstinn: „You’ve got them all, by the balls | causin’ waterfalls | Stone walls | Bar brawls | Common stalls that cause ’em all | To you they crawl, body sprawl | Smokin’ Pall Malls | Close call, stand fall | Doll, you make them feel so small | AND THEY LOVE IT | The boys wanna be her.“

Peaches, Boys Wann Be Here Aber ist das Subversion und Selbstbestimmung? DIE oder DAS System als patriachale Unterdrücker, WIR als Unterdrückte, Freiheitskämpferinnen, Empowermentmanagerinnen &&&. Gähn, Gähn und nochmals Gähn. Daran ändert auch das pseudo-selbstreflexive „I wanna be here“ nichts. Was tun?

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W ER ( NICHT ) WIDERSTEHEN DARF : E XISTENZ UND R EDEPOSITION Die Frage, die hier lauert ist: Welche provozierende, gegenwärtig stets reflexiv-performative Handlung ist tatsächlich geeignet, einen transformativen Widerstand anzustoßen? Und welche provozierende Handlung verharrt in den Handlungsregularien und medialen Bühnengesetzen ihrer jeweiligen öffentlich-mediatisierten Kultur? Die Beispiele sind Legion, in denen (feministischer / antikapitalistischer / antiestablishistischer / antibourgeoiser / antidynastischer / antimilitaristischer) Protest nur für den Abend oder Sendezeitraum und seinen nachholenden Kommentarschweif provozierend genug war. Die Boulevardpresse braucht dann noch etwas länger, eher die nächste Antischweinesystemsau durchs Mediendorf getrieben werden kann: dann ist der „Aufstand im Schlaraffenland“ (Deichkind) schon wieder versandet. Doch welche Formen von Widerstand sind möglich, die womöglich auch diesen Formen der Vereinnahmung und damit Vernichtung sich entgegenstellen können. Welchen Menschen ist dies gegenwärtig möglich? Als im Jahr 2004 der Literaturnobelpreis an die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek verliehen wurde, erläuterte diese den ganz besonderen Charakter dieser Auszeichnung für sie mit folgenden Worten in den Salzburger Nachrichten vom 8. Oktober 2004: „Wenn man den Preis als Frau bekommt, dann kriegt man ihn auch als Frau, und kann sich nicht uneingeschränkt freuen. Wenn Peter Handke, der den Preis viel mehr verdienen würde als ich, den Preis erhalten würde, dann bekommt er ihn eben nur als Peter Handke.“ Mit dieser Aussage bekundet Jelinek – wohl die ernüchterndste und gewalttätigste Analytikerin westlich geprägter Geschlechterverhältnisse – selbst im Moment des höchst ehrenvollen Triumphes noch ihre eigene, gesellschaftlich installierte Inferiorität: Im Zusammenhang gegebener Geschlechterverhältnisse der Gegenwart ist die Preisverleihung an eine Frau (nicht an sie persönlich) eine eindeutig exotische, skurrile und kontraintuitive Entscheidung. Die Preisverleihung bleibt auch symbolhaft, stellvertretend für viele Frauen. Selbst im gerade beginnenden 21. Jahrhundert ist das exponierte Sprechen und Denken, das sich erfindend und argumentierend zeigt auf öffentlicher und weltgrößter Bühne, als Individuum, das zudem stilistische Individualität und Exaltiertheit vorführt, diese gesamte Publikationstätigkeit ist immer noch eine Praxis, die in Gesellschaften des Westens (und anderer Himmelsrichtungen) nicht gewohnheitsmäßig

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mit weiblichen und nicht-weißen, kreolisierten Verhaltensweisen identifiziert wird. Jelinek benennt somit lediglich das real existierende Geschlechterdifferential: Der Autor ist Mann. Er ist weiß und spricht als Hegemon. Solcherart weißen, hinreichend jung sich gebenden, weitgehend nicht sichtbar versehrten Vertretern der Mittelschicht ist es punktuell dann auch durchaus gestattet, sich widerständig und rebellisch zu artikulieren. Ist doch deren grundsätzlicher Gehorsam zum Ziele der Eingliederung in den Körper der Macht fraglos und ihr Ziel. Jede Aneignung dieser Rolle des von Widerstand Sprechenden durch einen Nicht-Mann, einen NichtWeißen, einen Nicht-Hegemon setzt sich dagegen unwillkürlich dem Verdacht der Systemfeindschaft, der Fundamentalopposition und der boshaftsubversiven Sabotage aus. Und in nicht wenigen Fällen (so die Identifikation mit dem Aggressor im Sinne des Stockholm-Syndroms nicht schon überhandgenommen hat) ist dies vermutlich sogar richtig. Widerstand wird diesen Menschen zunächst nicht im Mindesten gestattet – es sei denn, sie erweisen sich als ungefährlich und belang- sowie folgenlos in ihren Handlungen und Forderungen. Artikuliert jedoch eine Frau, ein Nicht-Weißer, ein sexuell nicht heteronormativ, sondern gar bedrohlich deviant Lebender oder gar stärker körperlich deformierte Personen eine abweichende Ablehnung, einen Widerstand, eine fundamentale Kritik: dann setzt eine kollektive Schreckensstarre des Hegemonialen ein, die dieses vermeintlich ungehörige Fehlverhalten einer ahnungslosen und unbedeutenden Abweichlerin unbedingt umgehend sanktionieren muss. Kurz gesagt: Was Mann darf, darf Frau noch lange nicht. Im diskurspolitischen Sinne kommt einem Mann in den Kulturen, in denen wir (die Autoren) und Sie (die Leserinnen und Leser) leben, unmittelbar eine ausgezeichnete Redeposition zu; diese Position kann zwar verspielt werden – etwa durch wiederholt diskursbrechendes und tabubenennendes Verhalten. Solange aber männliche, weiße, weitgehend unversehrte Sprecher aus der Mittelschicht ihr grundsätzliches Einverstanden sein mit hegemonialen Karrierewegen, Redegepflogenheiten und Familienwerten wenigstens non-verbal weiterhin anzeigen, solange besteht keine Gefahr der Exkommunikation aus der Glaubensgemeinschaft des hegemonialen Machtapparates eines Gesellschafts- und Wirtschaftssystems. Die Frau jedoch (oder in ausgrenzungspolitischer Eskalation: die behinderte Frau; die lesbische, behinderte Frau; die schwarze, lesbische, behinderte Frau; die muslimische, schwarze, lesbische, behinderte Frau etc.pp.) ist als Redeposi-

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tion an keinem Ort der uns bekannten Gesellschaften mit einer per se ausgezeichneten Redeposition versehen. Im Gegenteil belegen geschlechtsspezifische Redeanteile in Alltagssituation wie auch faktische Rollenvergaben in Führungspositionen durch die gesamte Gesellschaft hindurch, dass diese Menschen sich stets zuallererst hinreichend lange Zeit als würdig und dankbar für solche Redepositionen zu erweisen haben – aus Sicht des Hegemons. Mangelt diese Dankbarkeit wird die Auszeichnung rasch entzogen. Der Widerstand nicht-hegemonialer Existenzen liegt somit allein schon in der schieren Anmaßung ausgezeichneter Handlungs- und Redepositionen des Widerstands, der Fundamentalopposition und der Systemkritik. Schiere Existenz widersteht.

D IE D RAMATURGIE DER P ROVOKATION : S UBVERSION UND Ü BERRASCHUNGSANGRIFF Doch wie kann es Protagonistinnen des musikalischen oder auch literarischen, künstlerischen Medienbetriebes wie Pussy Riot!, Dixie Chicks bis hin zu Elfriede Jelinek, Peaches oder Poly Styrene überhaupt gelingen, eine Veränderung durch ihr Handeln hervorzurufen? Ist nach einem Überraschungsmoment des Erstauftritts, des Erstangriffs nicht das Pulver verschossen, indem für die neue Protagonistin jeweils gleich ein als rebellisch markierter Typus der medialen Persona bereitgestellt wird? Ist die Assimilation in den Kommers der Medien nicht die unerbittliche, todernste und nie ironisch gemeinte Repression, die von den Geschlechter- als Lebensverhältnissen ausgeht? Gibt es überhaupt Wege, dieser Repression zu widerstehen respektive sie zumindest umzulenken, im eigenen Sinne zu nutzen und gegen sich zu wenden? Seit dem Januar 2011 schreibt die Autorin Sibylle Berg eine wöchentliche Kolumne für die meistgelesene deutschsprachige, redaktionell betreute Website, für Spiegel Online. Ihre Kolumnen stehen hier neben einer ganzen Reihe bekannterer oder weniger bekannterer Medienfiguren, denen jeweils ganz im Stile meinungsstarker US-Weblogs bestimmte Rollen, Themen und Argumentationstraditionen zwischen prononciert links (Jakob Augstein), posiert konservativ (Jan Fleischhauer), zeitdiagnostisch-komisch (Silke Burmeister), netzpolitisch-propagandistisch (Sascha Lobo) zugeordnet sind. Bergs Kolumnen nun sind mit Sicherheit nicht die am leichtesten konsu-

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mierbaren der Spiegel-Kolumnisten; allerdings werden ihre Texte wiederum durch das spielerisch-journalistische Genre der Kolumne gerahmt – und in ihrer Provokation dadurch abgemildert. Die Kolumne ist per se das literarische Genre repressiver Toleranz. Nichtsdestotrotz nutzt Berg diese Publikationsumgebung auf eine Weise, die immer wieder überrumpelt, unterläuft, erschreckt und entkrampft, die Blick und Denken, Denkfiguren und Weltbilder anders gedreht erscheinen lässt. Am 4. August 2012 schreibt sie unter dem Titel Der Tod hat doch was Gutes: „Warum irgendetwas machen, außer am perfekten Ort zu liegen, mit den zwei für mich perfekten Menschen, ein wenig Rauschgift einzunehmen, um den Schmerz erträglicher zu machen, der am Morgen und am Abend besonders traurig macht in diesen unklaren blassblauen Stunden. Es gibt für mich nichts mehr zu tun. Ich bin nicht geeignet zur Weltrettung. Es liegt mir nicht, meine Ideen durchzusetzen, ich misstraue ihnen zu stark.“

Kann darin Subversion und Sabotage erkennbar sein? In der radikalen Rücknahme aller Handlungsintention? Im Entzug alles Aktivismus? Berg schreibt über die letzten Momente eines imaginierten Weltendes: „Wasser aus dem Rasensprenkler, das wollte ich unbedingt, es gehört zu meinem Traum, das leise Zischen des Geräts und der Geruch von Wasser auf Gras in der Hitze. Das war ein schönes Leben. Freundlich verabschiedet sich das Hirn von allem Negativen, es speichert angenehme Orte, Bücher, Tiere, Kinder, schöne Kunst, und jetzt ist es schon wieder Abend geworden. Im Fernsehen wird jeden Abend heruntergezählt. Noch vier Monate und 13 Tage. Man sieht Menschen an Lagerfeuern sitzen, sie tanzen, haben ihre Freunde und Familien um sich versammelt. Sie überziehen ihre Bankkonten, die Banker sind am Meer. Es ist der Idealzustand einer friedlichen, feiernden Weltbevölkerung. Ein Umarmen Verfeindeter, ein Sichaneinander-Schmiegen, der Wegfall aller sozialen und sexuellen Schranken, wozu waren die eigentlich noch mal gut?“

Während in den letzten Monaten des Jahres 2012 weltweit die medialen Imaginationen eines Weltunterganges zum Jahresende angstlustvoll zunehmen (längst vorexerziert durch Roland Emmerichs filmische Überrumpelung namens 2012 aus dem Jahr 2009), nimmt Berg diese Imagination

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ernst: Sie schreibt das Weltende wirklich und erfindet sich ein besseres. Just als Kolumnisten wirft sie sich nicht schützend hinter die besserwisserische Fratze der geschickt ihre eigene Ahnungslosigkeit camouflierenden Stilistin; vielmehr glaubt sie, für eine Online-Kolumne lang, diese vermeintliche exotische Prophezeiung. Und sie wirft sie auf uns zurück: „Ein lachend Sterbender. Keiner ruiniert die Umwelt in seinen letzten Monaten, mordet, prügelt sich, selbst die schwer Drogenabhängigen halten inne, um ein paar wache Momente zu erleben. Sie alle starren in die Sonne, fühlen sich so klein, wie sie es immer waren. Die Menschen begreifen endlich ihre Sterblichkeit und verhalten sich entsprechend friedlich und rührend. Die kleinen Menschen, auf dem kleinen Planeten, der vielleicht bald im freien Fall ins Universum gleitet. Vielleicht aber auch nicht.“

Uns erwischt ein Überraschungsangriff, wie Berg hier schreibt. Die Süffisanz und der knochenbrechende Sarkasmus (in bitteren Momenten nur Zynismus), den Leserinnen und Leser womöglich erwartet hätten, sie bleiben hier aus. Berg sabotiert ihre eigene und die Kolumnen aller ihrer Mitautoren und ihrer Mitautorin. Und indem sie dies tut, nimmt sie uns mit in ein gänzlich gewandeltes Kontinuum veröffentlichter Texte: Nicht mehr die gern beworbene Eigenschaft der Meinungsstärke ziert diesen Text – sondern eher eine Imaginationskraft. Wir glauben der Autorin ihren Wunsch nach einem milden, einverständigen Ende. Ein Ende, das keiner todesgetriebenen, dunklen Hollywoodmechanik folgen mag, sondern geradezu an die unaufgelösten, theoriesüchtigen und empfindungstrunkenen Idyllen – unaufhörliche establishing shots, die nichts etablieren, aneinandergereihte Plansequenzen, die keinen Plan erfüllen – des sogenannten Autorenfilmes, speziell der deutschen Tradition in direkter Nachfolge des Oberhausener Manifests erinnert. Wir genießen das folgenlose Innehalten: Lange Einstellung aller Handlung. Es ist eine Schönheitssucht, ein Wille nach Mildnis, der hier einsetzt. Es sind Überraschungen, die diese Autorin uns hier bereitet und die womöglich mehr provozieren als vermeintlich kalkuliertes Hacken in die üblichen Wunden des öffentlichen Diskurses, das Berg mindestens ebenso gerne und gekonnt in ihrer Kolumne praktiziert in Sachen Gender, Machtverhältnisse, Skandalisierungen und Begehrensbewirtschaftung. Diese Wunden schmerzen weiterhin als Einwanderungsbehörde, Unsterblichkeit, Demonstration,

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Politiker, Rauschgift, Fernsehen, sozialen und sexuellen Schranken, Drogenabhängige, auch in diesem kurzen Text; doch sind sie nahezu vernarbt, erheben sich, in ein Reich der Fiktion und Imagination, das so radikal kaum in einer Kolumne durchgehalten wird – sondern üblicherweise am Ende dann doch wieder ins Ironische, Metaphorische und gänzlich Uneigentliche zurückgenommen wird. Ganz zart geschieht dies auch hier – doch kann ein letzter, nahezu ausschließlich aus Partikeln bestehender, prädikatsloser Satz wie Vielleicht aber auch nicht kaum gegen die imaginative Wucht der vorangegangenen Erzählung bestehen. Er ist unmittelbar erkennbar als Konzession an Redaktionsstil und Kolumnengepflogenheit. Ironischerweise hebt dieser Satz nur sich selbst auf. Die Härte der unendlichen Mildheit vor dem universellen Exitus, sie bleibt allein bestehen. Eine unendlich süße Horrorvision. Grauenvoller und beklemmender – zugleich punktuell überraschender – als jedes katastrophenactionfilmhafte Ausfabulieren der weltweiten Zerstörungen im Untergang. Durch eben diese radikale Entsagung vordergründiger Machtgesten und Handlungsobsessionen vollführt Berg ihren textlichen Überraschungsangriff, ein souveräner Kampfsportgriff der Kraftumlenkung auf die Leserimagination: Wir stehen vor diesem Text und sind auf uns zurückgeworfen und stolpern in unsere eigene überschießende Erwartung hinein. Ebenso wie die zahlreichen – wie stets in jenem Forum – polemisch-boshaften bis besserwisserisch-oberlehrerhaften, teils gar beleidigt-beleidigenden Kommentatoren des Spiegel Online-Forums zu dieser Kolumne. Die Subversion hatte statt. Genre, Redaktionsprodukt und Leserschaft stehen sabotiert. Und doch schreibt Berg: „Es liegt mir nicht, meine Ideen durchzusetzen, ich misstraue ihnen zu stark.“ Welch größere Sabotage ihrer Publikationsumgebung? Oder in den Worten des begnadeten Saboteurs Jörg Fauser: „Als alles vorbei war, ging alles weiter.“ Berg dagegen: „Warum irgendetwas machen?“

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D ER K AMPF GEHT WEITER : I G OT T HIS F UCKING T HORN I N M Y S IDE /O H M Y , , I T S A M IRAGE . Weiter. Immer weiter. Pop will weiter und macht weiter. Weiter. Immer weiter. Revolution: weiter. Widerstand: weiter. Funktional? Dysfunktional? Scheiss egal! Hauptsache: Weiter. Pop und Politik. Klar, auch weiter. Subversion und Subkultur on top. Bitte auch weiter: „Bitte oszillieren Sie | Hin und her und wild wie nie | [...] Bitte oszillieren Sie | Im Sinne der Ideologie [...] Bitte oszillieren Sie | Ich bitte Sie, genießen Sie“ (Tocotronic). Literatur oder Musik, egal, Hauptsache: weiter. Rolf-Dieter Brinkmann wählt William S. Burroughs’ Frage „warum hier haltmachen warum irgendwo haltmachen [Hervorhebung im Original – MSK/HS]“ als bestimmendes Motiv seiner „Vorbemerkung“ zur Gedichtsammlung „Westwärts 1 & 2“: „Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter [...].“ Weiter macht kaputt, genauso, wie das Ende kaputt macht. Pop sagt aber auch: Macht kaputt, was Euch kaputt macht. Also: Weiter? Nein! ANHALTEN. INNEHALTEN. AUSHALTEN. Nicht kaputt machen, sondern das Kaputte sabotieren und Schön-machen, sich darin einrichten, ausrichten, kontemplativ werden. Welt-werden, eindringen, verbinden, genauso, wie man sie vorfindet, wiederfindet. Wenn die Zeiten und Kulissen schlecht sind, dann ist es so und muss nicht immer anders sein. Auch richtiges Leben und Erleben im vermeintlich Falschen ist möglich: Denn auch im Richtigen gibt es zumeist nur falsches Leben. Der Berg-Weg im BergWerk. Zum Träumen sind die Nächte da! Denn: „Wenn die Nacht am Tiefsten ist, ist der Tag am nächsten“ (Ton, Steine, Scherben) oder – in kaum noch aushaltbaren Großindustriepop der Selbstverleugnung hinauftransponiert: „Midnight is when the day begins.“ (U2). Pop ist im Stadium seiner ubiquitären Omnipotenz alles, sein Gegenteil und das Gegenteil seines Gegenteils („Die Feinde unserer Feinde sind auch unsere Feinde!“ Rainald Goetz, Krieg) und stets präsent, temporalisiert, die eigene Differenz in der Wiederholung. Ein Schlag – am besten in die Fresse. Anfang 2013 sagt Kim Gordon – unter der Überschrift Frauen werden gleich zu Ikonen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Januar:

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„Wir erleben heutzutage eine offensichtliche Angst vor weiblicher Sexualität. Die Politik in Washington ist dafür ein gutes Beispiel. Die Verhaftung von Pussy Riot ebenfalls.“ Einen solchen Schlag unternimmt auch Sibylle Berg, wenn in Sex II etwa alles Kaputte kaputt ist, kaputt bleibt und nur noch kaputt macht: „Kultur ist etwas, das andere machen, ist etwas, das die Menschen in der Stadt von ihrer Unfähigkeit ablenkt, ihr Leben mit sich zu füllen. Ist Ablenkung vom Dreck.“ Sie traut ihren Ideen eben nicht. Eine Konsequenz, die Pop ist. Wem trauen wir und wem trauen wir noch etwas zu? Und, was? Und, wann? Und, wo? Und, wie? Fragen sind die Saboteure, die sich nur strategisch als Philosophen tarnen. Tatsächlich sind sie Selbstmordattentäterinnen oder Tumore, die uns von innen heraus auffressen, bis wir zu uns selbst kommen. Dem Vertrauen, dem eigenen Sinn, dem sicheren Wissen als einem womöglich sozialen Wert und sozialer Währung kann nicht mehr vertraut werden. Vertrauen ist per se affirmativ und systemstabilisierend. Macht fremd, wem Ihr vertraut. Anhalten. Innehalten. Aushalten Der Schmerz des Stachels, der in uns steckt – in Dir und mir uns ihr und ihm – ist es, der Pop als Große Operation des Transversalen unterscheidet von Pop als Kleine Investitionsmaschine der Markteroberung. Der Schmerz ist die Sabotage: Wir sehen Fratzen des Schmerzes. Kulissen der Ratlosigkeit. Arbeitslos. Weltlos. Ideologielos. Unheilbar krank. Geschlechtslos. Wir sehen einen Meister stürmischen Stillstands, bewegender Zeiteinfrierung, agitatorischer Anhaltung, radikaler Aussetzung und bedingungslosen Aushaltens als wandelbare Anschauungskulissen: Christoph Schlingensief. Standbilder und Standaktionen einer erschütternd-rastlosen Ratlosigkeit. Look at me! I’m not sexy, but reality! Weiter? Wohin? „Man sagt | Die Revolution | Werde zuletzt den Tod | Abschaffen | Abschaffen | Abschaffen“ (Tocotronic) Aushalten. Und Stillstehen „Im Zweifel für den Zweifel | Das Zaudern und den Zorn [...] Im Zweifel für die Bitterkeit | Und meine heißen Tränen | Bleiern wird mir meine Zeit [...] Im Zweifel fürs Zusammenklappen | Vor gesamten Saal | Mein Leben wird Zerrüttung | Meine Existenz Skandal“ (Tocotronic, „Im Zweifel für

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den Zweifel“, Schall und Wahn 2010). „Ich habe so wenig gelebt, dass ich zu der Vorstellung neige, ich würde niemals sterben; kaum zu glauben, dass sich ein Menschenleben auf so wenig beschränken kann; trotzdem stellt man sich vor, dass früher oder später doch etwas geschehen wird. Ein schwerer Irrtum. Das Leben kann durchaus leer und kurz zugleich sein. Die Tage gehen eintönig dahin, ohne eine Spur oder eine Erinnerung zu hinterlassen; dann, plötzlich, ist Schluss.“ (Michel Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone) Bevor das geschieht: „Oh My God | It’s A Mirage | I’m Tellin’ Y’all | It’s Sabotage! (Beastie Boys) Und aus dem Strom der Ströme erhebt sich der Schlag, die Sabotage: „New Day Rising“ (Hüsker Dü) – Ein Song. Ein Satz. Konsequent. Redundant, rastlos, ratlos. Antworten schreien: Heute Stillstand. Morgen Aushalten. Übermorgen: Kapitulation. Kein Buch. Eine Agitation. Keine Intervention. Eine Veränderung. Keine Subversion. Eine Mobilisierung. Text und mehr Text. Wieder Text. AutoSabotage-Kulissen. NICHT KAUFEN. B I T T E ! ! !

Quellenverzeichnis der Meme

S. 9: S. 41: S. 89: S. 115: S. 139: S. 165:

S. 185: S. 227:

http://cdn2.lostateminor.com/wp-content/uploads/2011/11/pepperspraying-cop3.jpg http://t.qkme.me/35kq6o.jpg http://cdn2-b.examiner.com/sites/default/files/styles/large_lightbox/ hash/5c/ac/5cac86863fea5fa52c86dd7604f57f32.jpg http://i2.kym-cdn.com/photos/images/newsfeed/000/067/448/forever alonetemplate20110725-22047-7xgw1r.png http://www.funnyqanda.com/images/bad-luck-right-time-wrong-pla ce1.jpg http://chzmemeanimals.files.wordpress.com/2012/04/advice-animalsmemes-changes-picture-to-black-and-white-earns-degree-in-photography.jpg https://encrypted-tbn0.google.com/images?q=tbn:ANd9GcT3Toz xOXzqiN76Lqc6R3tbqUiFRoULJIZGQ6xNcPZ6Te9yVQEqBg http://t.qkme.me/352hgi.jpg

Autorinnen und Autoren

Hecken, Thomas, Dr. phil., Professor auf Zeit für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Arbeitsgebiete: Begriffsgeschichte, Ästhetik, Kulturtheorie. Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift „Pop. Kultur und Kritik“ sowie der Website pop-zeitschrift.de. Buchveröffentlichungen u.a.: „Gegenkultur und Avantgarde“ (Tübingen 2006), „Avantgarde und Terrorismus“ (Bielefeld 2006), „1968“ (Bielefeld 2008), „Avant-Pop. von Susan Sontag über Prada und Sonic Youth bis Lady Gaga und zurück“ (Berlin 2012). Kleiner, Marcus S., Dr. phil., Medien- und Kulturwissenschaftler, Experte für Populäre Medienkulturen und Publizist. Lehrt(e) an den Universitäten Duisburg, Düsseldorf, Dortmund (FH), Bonn, Klagenfurt, Magdeburg, Mannheim (Popakademie), Paderborn und Siegen. Seine Lehr- und Forschungsgebiete sind: Populäre Kulturen und Populäre Medienkulturen; Medientheorie; Medienkultur; Mediensoziologie; Mediengeschichte; Film; Fernsehen; Neue Medien. Er ist Sprecher der „AG Populärkultur und Medien“ in der Gesellschaft für Medienwissenschaft; Mitherausgeber und Redakteur der Onlinezeitschrift „Rock and Pop in the Movies – Journal zur Analyse von Rock- und Popmusikfilmen“ sowie Kolumnist für Popmusik in der Zeitschrift „Pop. Kultur und Kritik“. Freiberufliche Arbeit als Medienberater, Projektmanager, Veranstalter, PR-Berater, Texter und Hörspielautor. Reichert, Ramón, Univ. Prof., Dr. phil. habil., lehrt Digitale Medienkultur am Institut für Theater-, Film- und Medien der Universität Wien und arbei-

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tet(e) an den Universitäten Klagenfurt, Linz, Salzburg, Krems, Wien, Berlin, Bochum, Zürich, Canberra und Columbia (SC). 2006 war er wissenschaftlicher Berater und Filmkurator des Siemens Arts Program und Key Researcher am Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit der Ludwig Boltzmann-Gesellschaft mit Sitz in Wien. 2008/09 war er Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Sozialen Medien, Online-Medien, Gaming-Kultur, Digitaler Ästhetik, Netzkritik und Visueller Politik. Monografien und Anthologien (Auswahl): Der Diskurs der Seuche. Sozialpathologien 1700-1900, München 1997; Die Konstitution der sozialen Welt. Zur Epistemologie und Erkenntniskritik der Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main/New York 2003; Governmentality Studies. Analysen liberal-demokratischer Gesellschaften im Anschluss an Michel Foucault, Hamburg 2004; Kulturfilm im „Dritten Reich“, Wien 2005 (Hg.); Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation, Bielefeld 2006 (Ko-Hg.); Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens, Bielefeld 2007; Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechniken im Web 2.0, Bielefeld 2008; Das Wissen der Börse. Medien und Praktiken des Finanzmarktes, Bielefeld 2009, Theorien des Comics, Bielefeld 2011 (Ko-Hg.). Schulze, Holger, Prof. Dr., Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Leiter des Sound Studies Lab und des internationalen Forschernetzwerkes Sound in Media Culture (beides DFG gefördert). Herausgeber der Buchreihe Sound Studies. Veröffentlichungen (Auswahl): Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nicht-intentionalen Werkgenese im 20.Jahrhundert, München 2000; Heuristik. Theorie der intentionalen Werkgenese, Bielefeld 2005; Theorie Erzählungen. Persönliches Sprechen vom eigenen Denken, (Hg. mit hyper[realitäten]büro) Wien 2005; Klanganthropologie. Performativität – Imagination – Narration, (Hg. mit Christoph Wulf), Berlin 2007; Intimität und Medialität. Tektonik der Medien, Habilitation, Berlin 2007; Sound Studies: Eine Einführung, (Hg.) Bielefeld 2008. Düllo, Thomas, Prof. Dr., Universitätsprofessur für Verbale Kommunikation/Text an der Universität der Künste Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Kommunikationskulturwissenschaft, Praxiszugänge, Popular Culture, Qualitative Markt- und Motivforschung, Writing Culture, Urban Studies, Wis-

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sen der Literatur. Lebt in Berlin. Letzte Publikationen (Auswahl): Der urbane Wunderblock. Überschreiben als Aneignen im städtischen Raum. In: P. Eisenwicht et al. (Hg.): Techniken der Zugehörigkeit (2012), S. 95117; Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover (2011); Ansteckendes Erzählen. In: Ästhetik & Kommunikation. H. 149/150, (2010), S. 30-39; Der Flaneur. In: S. Moebius/M. Schroer (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialtypen der Gegenwart (2010), S. 119-131; Was gegenwärtige studentische ZimmerWelten so ähnlich und doch so anziehend macht. In: J. Carstensen/C. Richartz (Hg.): Zimmerwelten_zwei. Wie junge Menschen 2000 und 2010 wohnen (2010), S. 24-29; (zus. Mit F. Liebl) Cultural Hacking (2005). Stiglegger, Marcus, Dr., lehrt Film- und Bildanalyse an der Universität Siegen. Lehrtätigkeit in Mainz, Mannheim, Ludwigsburg, Köln sowie Clemson/SC. Zahlreiche Veröffentlichungen über Medientheorie, Filmgeschichte und Filmästhetik. Schreibt für die Magazine Filmdienst, epd Film und Splatting Image, gibt das Kulturmagazin: Ikonen: heraus (www. ikonenmaga zin.de). Promovierte zum Thema Faschismus und Sexualität im Film, St. Augustin 1999 (2. Aufl., erw. engl. In Vorb. 2012), habilitierte zur Seduktionstheorie des Films (Ritual & Verführung, Berlin 2006). Aktuelle Publikationen: Terrorkino. Angst/Lust und Körperhorror (Berlin 2010, 4. Aufl.), Nazi Chic und Nazi Trash. Faschistische Ästhetik in der Populärkultur (Berlin 2011), High Definition Cinema (Ko-Hrsg., Siegen 2011). David Cronenberg (Hrsg., Berlin 2011), Global Bodies (Mit-Hrsg., Berlin 2011). In Vorb.: Dario Argento. Anatomie der Angst (Mit-Hrsg., Berlin 2013), Gendered Bodies (Mit-Hrsg., Siegen 2013), Neues asiatisches Kino (Mit-Hrsg., Stuttgart 2014) und Kurosawa. Die Ästhetik des langen Abschieds (München 2014). Mitarbeiter des interdisziplinären Arbeitskreises ‚Asiaticums‘ der Univ. Mainz, des DFG-Netzwerkes ‚Erfahrungsraum Kino‘, Mitglied der Fipresci sowie der GfM (AK Filmwissenschaft, AK Populärkultur und Medien). Kuka, Daniela, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste Berlin, lehrt aktuell zu Diskurs- und Kommunikationsmustern, Persuasion und Spiel. In Magdeburg lehrte sie u.a. zum „Bösen als populärkulturelles Leitnarrativ“. Mit Klaus Gasteier und Timothee Ingen-Housz initiierte und leitet sie eine Projektreihe zu neuen Spielformen für partizipative Zukunftsforschung und spielbasierter Persuasion. Als Promotionsprojekt

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entwickelt sie dafür die Methode „Preenaction“. Sie experimentiert mit neuen Formaten, u.a. Prototypen für Debatten auf Meta-Ebene und zur Unterstützung von Kreativprozessen. Das Gesellschaftsspiel „Social Quantified Self“ wurde auf zahlreichen Konferenzen präsentiert/gespielt. Sie ist Beiträgerin der neu erscheinenden Buchreihe „Texturen“ an der UdK und Herausgeberin der zweiten Ausgabe („Umschrift“, m. Konstantin Haensch). Von 2006 bis 2009 war sie im Ars Electronica Futurelab Linz (A) verantwortlich für Projekte im Bereich Digital Storytelling und Interaktive Dramaturgie. Gasteier, Klaus, lehrt seit 2008 als Professor für Audiovisuelle Kommunikation/Neue Medien im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin, UDK. Zuvor Professor für Interaktive Medien in Aachen. Mitbegründer der Kölner Designagentur cutup codes GmbH in den 90ern. Er rekonstruierte das verschollene Popmysterium „SMiLE“ (Beach Boys, 1967) als spekulative, nonlineare interaktive Installation („Dumb Angel“, KHM 1996). War in den 80ern aktiv als Musiker, u.a. 1985-1990 Gitarrist der Post-NDW/Trash-Band „Blumen ohne Duft“ (Limburg a.d. Lahn). Aktuell entwickelt er zusammen mit Kris Krois (Uni Bozen) ein System zur semantischen Mediennavigation (aflow.tv). Experimentiert in der Lehre mit Spielkonzepten strategischer Interaktion, nonlinearer Dramaturgien und Kommunikationsmustern auf Metaebene sowie Phänomenen des ALS OB.

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)

Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012

2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Kultur und Medientheorie bei transcript Axel Volmar, Jens Schröter (Hg.)

Auditive Medienkulturen Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung

2013, 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1686-6 Der Band »Auditive Medienkulturen« versammelt aktuelle Forschungen zu medial vermittelten Klang- und Hörkulturen und bietet einen fundierten und breit angelegten Überblick über aktuelle methodische Zugänge im Feld der Sound Studies. Die Fallstudien behandeln u.a. Recording Cultures von der Popmusik bis zur Bioakustik, Kulturen der Klanggestaltung vom Instrumentenbau über das Filmsounddesign bis zur auditiven Architektur sowie Rezeptionskulturen zwischen Ambient und Radio, Kopfhörer und Stereoanlage, Konzertsaal und Diskothek. Indem sich die Beiträge den Zusammenhängen zwischen Klang, Medientechnologien und kultureller Praxis widmen, verdeutlichen sie auf je unterschiedliche Weise, dass es sich bei Klang- und Hörphänomenen um kulturelle Objekte handelt, die nicht unabhängig vom Kontext ihrer historischen Entwicklung sowie vielfältiger Materialisierungen und Mediatisierungen betrachtet werden können.

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