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German Pages 436 [430] Year 2014
Uwe Breitenborn, Thomas Düllo, Sören Birke (Hg.) Gravitationsfeld Pop
Cultural Studies | Herausgegeben von Rainer Winter | Band 45
Uwe Breitenborn, Thomas Düllo, Sören Birke (Hg.)
Gravitationsfeld Pop Was kann Pop? Was will Popkulturwirtschaft? Konstellationen in Berlin und anderswo
Gefördert durch Consense Gesellschaft zur Förderung von Kultur mbH Kesselhaus | Maschinenhaus | Kulturbrauerei Berlin www.kesselhaus.net
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagabbildung und -gestaltung: Anne-Katrin Breitenborn Lektorat: Elisabeth Heil, Uwe Breitenborn Satz und Layout: Anne-Katrin Breitenborn Redaktion Poster: Mareike Bader, Sören Birke, Martin Böttcher, Uwe Breitenborn, Thomas Düllo, Elisabeth Heil, Florian Hadler, Verena Kriz Layout Poster: Sascha El-Khatib [we-concept.de] Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2451-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns auch im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Uwe Breitenborn, Thomas Düllo Gravitationsfeld Pop. Von Schwerkräften, Metaphern und Konstellationen
9
Produzenten Christoph Borkowsky Musik vom Rest der Welt
37
Katja Lucker Von Goldeseln, Residenzen und Kamingesprächen. Das Musicboard Berlin
49
Thomas Wilke Vom Platten- zum Datenreiter. Digitalisierung und DJing in populären Kulturen
61
Lutz Leichsenring Berliner Szenewirtschaft
81
Arkadi Junold Reich aber sexy? Pop und tradierte Finanzierungsstrukturen der Kulturpolitik
89
Alice Ströver Sehen, supporten, stabilisieren
103
Klemens Wiese Live Entertainment
113
Aljoscha Paulus und Carsten Winter Musiker als Media-Artepreneure? Digitale Netzwerkmedien als Produktionsmittel und neue Wertschöpfungsprozesse
133
Peter James Der Teufel, das Weihwasser und die Geschichte der Popförderung
143
Simone Hofmann Fête de la Musique. Marke, Spontaneität, Freiheit
157
Reflektoren Dieter Gorny Pop, die Entstehung einer Kultur
165
Jochen Bonz Zeichen, Bilder, Atmosphären. Die Popularkultur als quasi-universelles Medium spätmoderner Wirklichkeitsartikulationen
173
Martin Kiel Denkbilder. Eine (pop-) kulturelle Strategie im unternehmerischen Kontext
191
Christoph Jacke Alright or Not? The Kids Have Grown Up. Reflexion zwischen Pop, Journalismus und Wissenschaft in Spex
201
Sören Birke Musicboard und Pop in der 24-Stunden-Stadt
221
Christian Goiny Neuer urbaner Mittelstand
227
Philip Wagemann IT und Pop
237
Eva Kiltz Label-Lobby VUT
247
Nutzer Olaf »Gemse« Kretschmar Pop als Kulturgut und Zivilisationsinstanz
263
Gerd Hallenberger Pop-up. Wie uns die Pet Shop Boys helfen können, ein besseres Leben zu führen
275
Nora Kühnert und Eiko Kühnert Was ist Nazi-Pop? Von den Schwierigkeiten einer klaren Abgrenzung »rechtsextremer Musik«
291
Elisabeth Heil Die gute alte Schallplatte. Imagewandel eines Tonträgerformates
309
Lothar Mikos Learning by Feeling. Medienkultur und Lernen mit Pop
325
Katja Kaufmann und Carsten Winter Ordinary People. Gewöhnliche Leute als Unternehmer ihrer Popkultur
339
Anhang Danksagung Autoren, Gesprächspartner, Themen Literaturverzeichnis Verzeichnis AV-Medien Personen- und Namensregister Abbildungsverzeichnis
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Gravitationsfeld Pop Von Schwerkräften, Metaphern und Konstellationen
Uwe Breitenborn, Thomas Düllo
»Madness, as you know is like gravity. All it takes is a little push.« Joker1
Explosion – ja oder nein? Diese Frage stellt sich in der entscheidenden Szene von The Dark Knight, in der die beiden Protagonisten Joker und Batman vis a vis aufeinandertreffen. Joker, scheinbar alle Fäden in der Hand haltend, kommentiert lakonisch den Gang der Welt: All it takes is a little push. Doch der Zuschauer weiß nicht genau, wohin das Geschehen steuert. Jenes Joker-Zitat trifft den Kern: Manchmal braucht es nur einen kleinen Anstoß, und die Dinge ändern sich radikal. Ein scheinbar minimaler Kick und alles bekommt eine andere Richtung. All it takes is a little push. Neue Konstellationen mischen die Verhältnisse auf. Es macht uns wahnsinnig, es bezirzt uns. Das sind die Überraschungen, weswegen wir Pop lieben und diskutieren, warum der vielbeschworene Tod der Popkultur nie eintrat, sondern immer nur Metamorphosen und Häutungen erlebbar sind. Der Wahnsinn der medialen Popkultur kennt viele Gesichter und Orte. Popkultur bietet die erhabenen Momente, in denen wir uns in den Maskierungen der anderen erkennen. Es ist das Spiel mit den Identitäten, das uns täglich durch das Leben schleift, ohne das wir jedoch nicht auskommen. Wir verankern uns in den Netzen der Popkultur und sind zugleich die Motoren dieser Prozesse. Ohne uns wäre sie nichts! Den Schwerkräften ist nicht zu entkommen. »No escaping gravity«: Diese Botschaft schleuderten Placebo im Jahr 2000 mit ihrem Song »Special K«2 in die Welt und nutzten damit einmal mehr die Gravitationsmetaphorik, die uns von den unausweichlichen Kräften erzählt, denen wir tagein, tagaus ausgesetzt sind. Es geht um Anziehungskraft und um Konstellationen von Kräfteverhältnissen. Als eine der vier Grundkräfte der Physik bewirkt Gravitation die gegenseitige Anziehung von Massen 1 Ein vielbeachtetes Joker-Zitat (TC 02:09:35) aus dem US-Blockbuster The Dark Night. (USA 2008). Vgl. unter anderem Jacobs Film Reviews 2012. 2 »No escaping gravity / Gravity / No escaping […] not for free / I fall down […] hit the ground«. (Placebo (2000): »Special K« vom Album Black Market Music).
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und lässt sich nicht abschirmen. Ihre Reichweite ist theoretisch unbegrenzt. Daher bestimmt sie auch die großräumige Verteilung der Masse im Universum. Gravitation ist eine starke Metapher für vieles, was im Großraum Pop stattfindet, es assoziiert ein ursprüngliches Verhältnis von Kräften und Handlungsprozessen, die sich dort vorfinden lassen – vielleicht sogar darüber hinaus, nämlich als eine Konstante menschlichen Handelns: Anziehung, Abkehr, Sehnsucht, Schwerelosigkeit, Trägheit, Erdung, Dynamik. Den Überlegungen sind keine Grenzen gesetzt. »The big G«, wie James Brown die Gravitation in seinem Song »Gravity«3 nennt, wird darin gar zum Gleichnis für Gott. So verweist die Metapher auch hier auf eine Allmächtigkeit, der man nicht entrinnen kann. Was verspricht uns also die Metapher vom Gravitationsfeld? Ist es eine Anmaßung, ist es der Nukleus des popkulturellen Seins, oder lassen sich entlang dieser Metapher die Prozesse im Popkulturfeld treffend beschreiben? Anders gefragt: Was bleibt oben und was fällt runter? Und was ist Gravitation eigentlich? Aus physikalischer Sicht ist ein Gravitationsfeld zunächst erst mal ein spezieller Zustand des Raumes um einen massebehafteten Körper, in dem Kräfte aufeinander einwirken. Auf der Erde bewirkt die Schwerkraft, dass alle Körper in Richtung des Massemittelpunktes der Erde fallen, wenn sie nicht durch eine andere Kraft daran gehindert werden. In der Regel fällt alles nach »unten«. In der klassischen Physik wird die Gravitation durch eine Feldtheorie4 beschrieben. Die Feldstärke der Gravitation wird auch Gravitationsbeschleunigung genannt. Oberhalb der Erdoberfläche nimmt die Feldstärke der Gravitation (auch Gravitationsbeschleunigung genannt) näherungsweise mit dem Quadrat der Entfernung vom Erdmittelpunkt ab. Sind diese Rudimente einer physikalischen Betrachtungsweise in andere Themenfelder transformierbar? Das Begriffsfeld Gravitation hat hervorragende metaphorische Qualitäten, die in den Texten diverser Popsongs Eingang fanden. Etliche Songs sind aufzutreiben, die sich dieser Semantik annehmen, um Konstellationen, Anziehungskräfte und Widerstände zu beschreiben. Eminem thematisiert in seinem Smash-Hit »Lose yourself« das Zurückgeworfensein in die Realität: »Snap back to reality, Oh there goes gravity!«5. Type O Negative wiederrum arbeiten sich in »Gravity«6 an der Zerstörung einer Beziehung ab, während für Yo La Tengo in »Center Of Gravity«7 wohl eher die stärkende Seite einer Beziehung thematisieren. Die Liste der metaphorischen Facetten und Begriffsanwen3 »Gravity, gravity, the big G / Gravity, the big G, Gravity, say it / Gravity, good god / Got a hold on me / Gravity, Gravity, gravity«. (James Brown (1986): »Gravity« vom Album Gravity). 4 [lat. gravis = schwer, gewichtig] »Jeder materielle Körper erzeugt um sich herum ein den Raum durchdringendes Feld (G.sfeld, Schwerefeld), das auf jeden anderen Körper wirkt und in seiner zur Masse des erzeugenden Körpers proportionalen Stärke mit dem Quadrat des Abstandes von ihm abnimmt. Eine Theorie der G. muß daher […] eine Feldtheorie sein.« (Lexikonredaktion des Bibliographischen Instituts 1982, S. 86; [Art.] Gravitation). 5
Eminem (2002): »Lose Yourself« vom Soundtrack 8 Mile.
6 »I feel something pulling me down […] I think that gravity is you / Unjustifiable existence / Gravity crushing me«. (Type O Negative (1992): »Gravity« vom Album The Origin Of The Feces). 7 »In crowded bars, at subway cars / Whenever you are next to me / Center of gravity […]«. (Yo La Tengo (1997): »Center Of Gravity« vom Album I Can Hear The Heart Beating As One ).
Gravitationsfeld Pop
dungen lässt sich imposant fortsetzen: The The »Gravitate to me« (1989), Laibach »Regime of coincidence, state of gravity« (1992), Coldplay »Gravity« (2005), The Cardigans mit dem Album Super Extra Gravity (2005), Dark Tranquillity »Out of Gravity« (2010) oder Alphaville »Gravitation Breakdown« (2010), aber sie verdeutlicht vor allem eines: Gravitation ist eine Metapher mit starker Potenz. Im gesamten Universum der Popkultur beeinflussen Kräftekonstellationen die Bewegungen der Akteure. Es ist naheliegend, Gleichnisse zu finden, die die Gravitationsmetapher im Feld der Popkultur nutzen, um plausibel und vor allem anschaulich Phänomene und Prozesse zu beschreiben. Die bereits genannte Frage, was denn oben bleibt oder was herunter fällt, lässt sich auf das Popgeschäft, den Popalltag bestens übertragen. Jeden Tag werden wir mit Charts und Rankings konfrontiert. Wir erfahren, was vermeintlich hip ist, was an- und abgesagt ist. Auch in unserer eigenen Wahrnehmung neigen wir zu Rankings, indem wir natürlich Vorlieben haben. Aber auch hier können wir nicht unbeeindruckt von medialen Kräften und Trends agieren. Der Kampf um die Meinungs- und Deutungshoheiten gerade in der Popkultur ist hart und gnadenlos. Gigantische Marketingmaschinen bearbeiten und erzeugen Mainstream, an den Rändern in den Maschinenräumen der Popkultur kämpfen derweil kleinere Einheiten, die ihre ganz eigenen Gravitationsfelder entwickeln. Manches Gravitationsfeld wächst dabei so rasant, dass es in den großen Massefeldern mitspielen kann. Aufstieg, Kollaps, Schwarzes Loch. Wer kennt sie nicht, die Stories von Popstars, die aus unwirtlichsten Verhältnissen in das gleißende Rampenlicht der Popkultur aufstiegen. Wer kennt ihn nicht, den Auf- und Abstieg der trendigen Orte der Subkultur, den Club-Hype, das Vitale der instabilen urbanen Szenen. Gestern die Haçienda8 in Manchester oder der Tresor9 in Berlin, heute das Berghain10 und morgen? Wer kennt sie nicht, die Mühen des alltäglichen Geschäfts der Popkulturwirtschaft, in dem die Akteure kontinuierlich ihre Kreise ziehen und sehr darauf achten müssen, in der Bahn zu bleiben. Ob Fête de la Musique, Berlin Independence Days oder Love Parade: Es sind stets viele Faktoren, die den Prozessen ihren Stempel aufdrücken und einen Star strahlen oder erlöschen lassen. Was 8 Legendärer Club in Manchester von 1982–1997, eröffnet von Factory Records und New Order galt Haçienda als ein Zentrum der britischen Independent- und Rave-Szene. [Siehe unter anderem http://www.prideofmanchester.com/music/hacienda.htm, 28.08.2013]. 9 Erster Technoclub Berlins, 1991 im Restgebäude des Wertheim-Kaufhauses in der Leipziger Straße gegründet. Seit 2007 residiert der legendäre Club im ehemaligen Heizkraftwerk Berlin-Mitte. [http://tresorberlin.com, 10.10.2013] 10 Der Club Berghain liegt in Friedrichshain und entstand aus dem früheren Berliner Technoclub Ostgut. Der Name setzt sich aus den letzten Silben der Stadtbezirksnamen Kreuzberg und Friedrichshain zusammen. Seit Dezember 2004 befi ndet sich der renom mierte Club in einem ehemaligen Heizkraftwerk nahe dem Ostbahnhof. [http://www.berghain.de, 10.10.2013]
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Uwe Breitenborn, Thomas Düllo
bleibt also oben und was fällt runter? Welche Kräfte wirken im Feld der Popkultur? Ob Lifestyle, Musik oder Clubszene, immer sind die Akteure konkreten politischen und kulturellen Kräfteverhältnissen ausgesetzt, die ihr Handeln prägen und beeinflussen. Diese konkreten Bedingungen und Wirkungen bilden den thematischen Kern des vorliegenden Bandes. Herausgeber und Autoren dieses Bandes identifizieren Schwerkräfte und Konstellationen, um die komplexen Flugbahnen des Popgeschehens generell oder en miniature zu analysieren. Was kann Pop? Was will die Popkulturwirtschaft? Der Band beschreibt diese Prozesse aus verschiedenen Sichtweisen: Produzenten aus der Kulturwirtschaft kommen mit ihren Bestandsaufnahmen zu Wort und thematisieren Kontinuitäten und Umbrüche der letzten Jahre, die nicht nur mit dem Megathema Digitalisierung, sondern auch mit einer radikalen Markt- und Effizienzorientierung der Gesellschaft zusammenhängen. Diese Prozesse bescheren Plattenlabels, Clubbetreibern, Kulturmanagern oder auf- und abwärts strebenden jungen (und alten) Bands neue Chancen aber auch viele kräftezehrende Prozeduren. Die Interviews geben Einblicke nicht nur in Denkweisen dieser Akteure, es sind auch Statusberichte aus einem Hotspot der aktuellen Popkultur, nämlich der urbane Raum Berlin. Hier bleibt auch im Jahre 2013 die kreative und raumgreifende Evolution der Kulturwirtschaft, der Sub- und Jugendkultur substanziell. Andererseits zeigen sich beispielsweise mit dem Berliner Musicboard auch politisch erkämpfte und inszenierte Steuerungs- und Bündelungsprozesse, die eine Stärkung dieser Kräfte beabsichtigen. Die Entwicklung benötigte allerdings nicht nur einen kleinen Push, sondern vor allem Ausdauer und Zähigkeit der Akteure. So gewähren uns die Beiträge dieses Bandes auch Einblicke in die Maschinenräume der Popkultur, in denen unermüdlich an den Rädern der Popkultur gedreht wird. Auch hier haben sich in den letzten Jahren entscheidende Konstellationen geändert. So sind Gentrifizierungsprozesse eine maßgebliche Kraft bei den Veränderungen der Clubszene Berlins, deren Wirkungen nachhaltig und oftmals problematisch in die Popkulturwirtschaft der Stadt hineinfunken. Das Austarieren dieser spezifischen Kräftekonstellationen bleibt eine Notwendigkeit.
Kanon und Re-Visionismus Man kann auch sagen: Zum Pop gehören immer zwei. Nutzer sehen und behandeln Dinge der Popkultur wieder gänzlich anders. Ihre Perspektivierung unterliegt oftmals den Interessensständen, die sich aus Sozialisation und aktuellem Status ergeben. Viele subjektive Faktoren wirken hier aufeinander ein. Die in diesem Band versammelten Fallstudien sind letztlich Bausteine eines gigantischen Pop-Universums, dessen Verweisstrukturen und Vernetzungen im Interessenfokus sind, dessen miniaturelle Erschließung jedoch nur ein Momentum im Spiel der Kräfte darstellt. Es sind Miniaturen, in denen große Linien der Entwicklung von Gesellschaft,
Gravitationsfeld Pop
Wirtschaft, Kunst und Kultur eingeschrieben sind. Oftmals reichen Details11, um komplexe Analogien erkenn- und vermittelbar zu machen. Umso mehr sind diese Bestandsaufnahmen für eine weitere Perspektivierung des Themas notwendig. Und schließlich sind auch noch die Reflektoren im Feld, die das Geschehen analysieren, sortieren und kartografieren. Also könnte man auch sagen: Zum Pop gehören immer drei. Sie sind die Kanoniere der Popkultur (im Sinne eines Kanons), diejenigen, die an einem reflexiven, stets evaluierenden Fokus arbeiten. Reflektoren halten den Diskurs über Pop und all seine Artefakte am Laufen. Dabei dienen sie Nutzern wie Produzenten gleichermaßen als Referenzrahmen, der Relevanz herstellt. Kanonisierungen sind Prozesse der Aufwertung12 und Filterung. In ihnen werden Relevanzstrukturen festgelegt, bedient und bestätigt. Und noch eine Beobachtung ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig: Diskurse weisen Phänomenen einen Status zu. In oder Out, das ist oft eine naheliegende und zumeist trist-oberflächliche Frage. Aber die Bedeutungszuweisungen sind weitgreifend. Sie gelten auch für den Subkulturstatus oder für das Gegenteil. Je nachdem. So erleben wir immer wieder den rückschauenden Aufstieg von Bands oder Phänomenen, die in ihrer Zeit selbst noch nicht den Nimbus des Über-Authentischen besaßen. Die nahezu besinnungslose Verehrung, mit der heutzutage über The Clash gesprochen wird, mag dafür ein treffliches Beispiel sein. Der kreative Wert, das Innovative und vor allem das Integrierende ihrer Musik ist The Clash nicht abzusprechen. Aber in die
Ambitioniertes Clash-Vinyl in gediegenem Ambiente
11 Siehe dazu Studien, die sich Details von Popkultur- und Musikentwicklungen widmen, zum Beispiel Breitenborn 2009, Birke 2010 oder Hentschel 2011. 12
Vgl. Bielefeldt / Dahmen / Großmann 2008, S. 8.
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Verehrung mischt sich heutzutage auch eine gutbürgerliche Rückschaumentalität, die Qualitätsprodukten der Popmusik im Nachhinein einen übernatürlichen Authentizitätsbonus verleiht, weil sie für etwas ganz Ursprüngliches stehen würden. Didi Neidhart hat im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Simon Reynolds Retromania wohl auch das im Blick, wenn er anmerkt, dass solche Verehrungen und Revivals ohne Nebenwirkungen ein revisionistisches wie restauratives »Ende der Geschichte« exekutieren, um es sich in einem idealtypischen Gestern gemütlich zu machen.13 Jedes Box-Set ist also gleichzeitig neben dem Vergnügen auch ein reichlich ideologisches Unterfangen. Statt um die Referenzhöllen einer facettenreichen »Recreativity« gehe es Reynolds um eine Rehabilitation innovativer Musik, die mit Stichworten wie Authentizität und Originalität verbunden sei. Neidhart kommentiert daher Reynolds Buch lakonisch als »bockige Kampfschrift«14, weil sie sich in zig Widersprüchen verheddere. Außerdem sei unsererseits hinzugefügt: Es gibt kaum Möglichkeiten, sich nicht zu wiederholen. Wir agieren in einem referenziellen Netz, bei dem der Wille zur Einmaligkeit, zur originären Urheberschaft permanent durch das Hase-und-Igel-Prinzip (»ich bin schon hier«15) konterkariert wird. Man kann diesem Zustand jedoch auch gelassen beiwohnen und sich an der Selbstvergewisserung oder -ermächtigung berauschen, die ein identitätsstiftendes Konstrukt ermöglicht. Das gilt für Nutzer, Produzenten und Reflektoren gleichermaßen. Was für die Musik gilt, kann ebenso auch für Orte der Popkultur richtig sein. Der vorliegende Band blickt daher besonders auf den Kosmos Berlin. Hart treffen hier die Kräfte aufeinander und der urbane Raum Berlin profitiert von seinem Subkultur-Nimbus, der mittlerweile wieder eine enorme popkulturelle Anziehungskraft entwickelte. Was passiert in der Kulturwirtschaft dieser Stadt? Ist das komplexe Spiel der Kräfte steuerbar? Im Blick auf diese und andere Fragen dieses Bandes offenbaren Produzenten, Nutzer und Reflektoren ganz unterschiedliche Zugänge. Sie stellen Fragen nach der Professionalisierung dieser Prozesse, aber auch nach der ganz persönlichen Rentabiltät, nach unentrinnbaren Referenzen und neuen Sozialisationsinstanzen. Die Perspektiven können dabei unterschiedlicher kaum sein: Analysieren Clubbetreiber den aktuellen Zustand der Berliner Szenen, so setzen sie gänzlich andere Gewichtungen, als dies ein mit »Kulturpolitik« befasste Politiker tun wird. Letztlich sprechen beide von Potenzialen, aber sie befinden sich auf verschiedenen Bahnen im Geschehen. Im besten Fall ergänzen sich die Dynamiken: Beschleunigende und verstärkende Effekte aber auch Crashs können das Ergebnis sein. Alle sprechen von Pop. Dem Begriff haftet nicht nur durch das akademischfeuilletonistische Sperrfeuer durchaus etwas Inflationäres an. Insofern möchten wir 13
Neidhart 2012, S. 14.
14
Ebd., S. 12.
15 In der Mathematik stellt der sogenannte Hase-Igel-Algorithmus sogar ein reguläres Verfahren zum Auffinden von Zyklen in Folgen dar. Der Algorithmus wird auch im Themenfeld der pseudozufälligen Folgen eingesetzt. Vgl. dazu unter anderem Wikipedia-Artikel: Hase-Igel-Algorithmus. [http://de.wikipedia.org/wiki/Hase-Igel-Algorithmus, 27.08.2013].
Gravitationsfeld Pop
als Herausgeber den verschiedenen Blicken in und auf die Maschinenräume und Kraftfelder der Popkultur unsere Perspektive auf das Phänomen »Pop« voranstellen.
Im Proberaum Der verhinderte Popmusikkritiker und popliterarische Gegenwartschronist Jonathan Lethem (Chronic City; Die Festung der Einsamkeit) hat den Soul-Funk-Sänger James Brown 2005, also in dessen später Zeit, ins Studio begleitet. Was er dort beobachtet und hört und wie er das Erlebte kommentiert, das liefert ein ganzes Bündel an Beschreibungs- und Identitätsvokabeln, die mit dem Phänomen »Pop« verbunden werden können. Im Grunde ist alles da – in diesem Exempel, wollte man an so etwas wie exemplarischen Vorgehen und Repräsentativität festhalten. Methodische Zweifel, die sich berechtigterweise auf die Unvergleichbarkeit und das Singuläre eines Falls und einer Person beziehen könnten, einmal beiseite gesetzt, ist Popwissenschaft, wie alle Wissenschaft des Künstlerischen, eine Wissenschaft des Konkreten. James Brown also. Lethem spricht selbst vom »Gravitationsfeld von James Brown«16, weil sich bei Brown etwas Energetisches, auch Maschinelles Bahn breche. An James Brown, der akribisch Proben lässt, aber anders als die Profis in seiner Band keine Noten lesen und schreiben kann, ließ sich immer schon studieren, wie sehr Popmusik eine performative Kunst ist.17 Das zur Aufführung Gebrachte, die »Darstellung« und »Nachstellung«, von der Lethem spricht18 und bei der idealiter Performer und Rezipient unter die selbe Sache geraten und nach dem Ereignis nicht mehr ganz dieselben sind wie vorher, diese performative Kraft und Geste des Pop leben von einer performativen Kompetenz, dessen Skript sich im Tun erweist und nicht in den grammatischen Regeln vorab, wohl in ihrer temporären Verschiebung. Doch das Ereignis, das James Brown ist, und zwar zusammen mit dem Kollektivkörper des Publikums, vollzieht sich nicht einmalig, sondern wiederholbar – als Konzert, als reproduzierte Tonträger, im wiederholten Hören. James Brown, der nicht nur eine »Sex Machine« ist, macht den Proberaum und die Bühne selbst zum Maschinenraum. Repetierend, den Bass zum Überinstrument deklarierend, sodass auch die anderen Instrumente dem Beat folgen, wird eine Energie freigelegt und befeuert, die quasi-automatisch funktioniert. Diese technische Seite ist der Popmusik immer schon beigemischt.19 Dazu gehört, dass James Brown eine »akustische Idee«20 verfolgte. In seinem Fall die Idee, wie rhythmische Bausteine zum Lied werden und die Stimme zum Rhythmus: »Man kann es auch so ausdrücken: James Brown erkannte in den Fugen und Lücken von Soul und R & B – in den gebellten, gejaulten Zwischenrufen, den harten, gefetzten 16
Lethem 2012, S. 259.
17
Vgl. jüngst Kleiner / Wilke 2013; vgl. auch Fischer-Lichte 2004.
18
Lethem 2012, S. 256.
19
Vgl. Hofacker 2012 und Kittler 1986, 1993.
20
Lethem 2012, S. 271.
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Einzelakkorden der Outros – das Potenzial, die Musik als solche rauszuschmeißen und dafür die Lückenmomente, die kaum hörbaren Übergänge aus Rhythmus und Leidenschaft, radikal zu erweitern.«21 Was dabei entsteht, ist Intensität, körperlich wie emotional. Oft widerstreitende Spannungsenergien, wie sie der Kultur- und Kunstwissenschaftler Aby Warburg nicht nur der Kulturgeschichte und ihren Artefakten abgelauscht hat, sondern wie er sie selbst überhaupt erst in Schwingung gebracht hat, zum Beispiel in seinem Bildatlas Mnemosyne. Wir werden darauf zurückkommen. Jedenfalls produziert das »Gravitationsfeld James Brown« Energie, maschinenhaft, performativ, automatisiert. Nun kann das kein überzeitliches Tun sein, sondern vollzieht sich in einem soziokulturellen Kontext mit einem spezifischen Zeitgeschmack. Im Fall von Brown diagnostiziert Lethem in ihm einen Zeitreisenden. Beim Verdacht, Popmusik sei stets der Jetztzeit verpflichtet und auf das Neue programmiert, und wo sie das nicht mehr tue, nur noch Retromania (Simon Reynolds) betreibe, da bietet der Zeithorizont von James Brown in der Lesart von Jonathan Lethem eine andere Zeitachse an. Und zwar zunächst bei seinem Start: »Einerseits hat er um das Jahr 1958 herum […] die Jahrzehnte besucht, die vorlagen: die Sechziger, Siebziger, Achtziger, vielleicht sogar noch die Neunzigerjahre, und er hat die Zukunft der Musik gesehen, besser gesagt: gehört.«22 Dieser Vorgriff und James Browns »Vor-Schein-Ästhetik«, um einen Begriff aus Ernst Blochs Utopie-Ästhetik zu bemühen23, kam einer »Offenbarung« gleich, »die etwas mit Rhythmus zu tun hatte, mit den kinetischen, noch kaum entdeckten Möglichkeiten, die im R & B und der Soulmusik steckten, der er ausgesetzt war.«24 Der zeitreisende Brown blieb dieser Phase und dieser Idee aber nicht allein verpflichtet, sondern schrieb sie noch einmal um, denn 1973, als Funk die akustische Idee von 1958 »gleichgezogen« hatte, nimmt Brown den Song »The Payback« auf, »der die musikalische Aura und das soziale Umfeld des Gangsta Rap der späten Achtziger plötzlich und unerwartet vorwegnahm.« Und 2005, wo die meisten von Browns zeitgenössischen Mitstreitern es sich im Oldie-Lager bequem gemacht haben oder popmusikalische Butterfahrten begleiten, geht der Mittsiebziger Brown zwar zurück, bleibt aber seinem Leitthema treu und wiederholt umschreibend die Offenbarung von »Soul Power«, aber so, als schriebe er »sich jedes mal von neuem in die Welt ein«.25 Mit dieser Zeitreisediagnostik macht Lethem ein Angebot, das eine Alternative zur Retromanie geben kann, und zugleich gibt er ein Stichwort vor, das grundsätzlich für die Popkultur und Popmusik geltend gemacht werden kann. Popkultur kann eine Weise offerieren und das Versprechen machen, sich in die Welt einzuschreiben: in Diskurse, Geschichten, Lebensstile, in hegemoniale und/oder subversive Kulturen, in Räume und Lebenswelten – mit einer akustischen Idee, mit einer 21
Ebd., S. 272.
22
Ebd., S. 271.
23
Siehe Bloch 1974.
24
Lethem 2012, S. 271 f.
25
Ebd., S. 273.
Gravitationsfeld Pop
Geste und Pose, mit einer Inszenierung, mit einer Lebensweise, mit einer bestimmten Formatierung von soziokultureller und kommunikativer Energie. Sicherlich auch in aller Formelhaftigkeit, die dem Pop eigen ist: im Studio lautet Browns Imperativ »Hart. Direkt. Direkt«26, und seine Songs sind Slogans: Hit me!, Get up!, Move it!, Yeah!. Doch das Gravitationsfeld namens James Brown hat geradezu idealtypisch weitere Vokabeln des Pop-Feldes parat. Neben den genannten Parametern wie akustische Idee, energetische Maschine und der dazu gehörenden Direktheit und Intensität war Brown stets jemand mit einem Geschäftsmodell (etwas, was ja auch im unmittelbaren Umfeld von Dylan, den Beatles, den Rolling Stones oder Brian Eno und anderen nachweisbar ist), zu diesem gehörte bekanntermaßen erst die Belieferung, dann der Kauf verschiedener Radiosender und ein dezidiertes Arbeitscredo, aber auch ein ambivalenter Familialismus. Fast klischeehaft verkörpert das »Gravitationsfeld Brown« aber auch dieses Überbrennen, die Expression der in der Popmusik oft besungenen Inner Flame, eine Art kontrollierter, vor allem kanalisierter Durchgeknalltheit. Auch ihm brannten die Sicherungen durch, sein »Irrgarten«27 ist nur eine besondere Form des Pop, der übertreibt – mit Tönen, Posen, Klamotten, mit Rhetorik. James Browns »Hipstersprache«28 kommt bisweilen unverständlich rüber genauso wie sein »lebenslanger Bekleidungsperfektionismus«29 übertrieben scheint. Aber das kann man als Doppel von Maskierung und Expressivität lesen, besser jedenfalls als die Metapher von Tierischem und Wildem im Sinn des Authentizitätsfetischismus zu bemühen. Und doch: Wenn der Mensch als die unselige Kombination von nichtfunktionierender Maschine (aus dem Geist des Futurismus) und des kranken Tieres (aus dem Geist der Romantik und von Nietzsche) angesehen wird,30 verkörpert da nicht James Brown die popkulturelle und performative Verheißung, zugleich eine funktionierende Maschine und das gesunde Tier zu sein? Nette Spekulation. Lieber sei noch eine weitere Schicht freigelegt, die nahe an der Übertreibung ist: James Brown – der ewige Narzisst, der Lügner, Scharlatan, der Plagiator, Sampler, Zitierer, Schmierenkomödiant. Gewiss, das stimmt. Aber warum auch nicht: Pop ist auch die »Musik der Entfremdung, die ihre Emotionalität in mehrere Schichten Raffinesse und Metaphorik verpackte«31 und dabei nie im Zustand eines originalen Neustarts loslegte, sondern wie alle andere Bricoleure und Monteure des Pop auch: bei der Beginnlosigkeit beginnt.
26
Ebd., S. 263.
27
Ebd., S. 262.
28
Ebd., S. 274.
29
Ebd., S. 281.
30 Daran hat Boris Groys im Gespräch mit Siegfried Zielinski (am 13. Februar 2013) in dessen Gesprächsreihe über die Genealogie des Mediendenkens jüngst noch einmal erinnert – im Medienhaus der Universität der Künste Berlin. 31
Lethem 2012, S. 308.
17
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Nun beinhaltet das Narrativ namens Pop auch im Falle von James Brown jenen Erzählbaustein, der immer wieder eingebracht wird: das Scheitern, das Abstürzen, das Zuviel, das seinen Preis hat. Sicher, James Brown wurde – wie gesagt – nicht zum Oldie, hat den Kontext seiner harten Startbedingungen nie vergessen, aber auch er verlor seine Flugzeuge, seine Radiosender, lange Zeit seine Inspiration, und ihn zwangen Steuerschulden in die Knie. Gleichwohl konnte er dem ständig vorgebrachten Dreiakter von Aufstieg, Höhepunkt und Abstieg ein viertes Kapitel hinzufügen: ein leidliches Comeback. Auch seine Karriere kennt das Absacken der Energiekurve, das im Narrativ, das der Pop ist, vor allem dann angestimmt wird, wenn jemand vorzeitig abdanken muss. So wie James Brown hier in der kleinen Szenerie eines Studiobesuchs von Jonathan Lethem quasi das Ganze des Pop aufblitzen lässt, so lesen sich die Nachrufe etwa auf Amy Winehouse oder Whitney Houston wie das ubiquitäre Erzählmuster des Pop: eine »annullierende Verheißung«32 und ein »Phantasma«33, das sich zugleich erfüllt wie enttäuscht. Im Falle von Whitney Houston sehen die Nachruf-Verfasser der Süddeutschen Zeitung, Andrain Kreye und Jörg Häntzschel, den »Goldenen Schnitt des Pop« als Versprechen und dessen Zerstörung am Werk34: »Bis heute bleibt Whitney Houston so etwas wie der goldene Schnitt des Pop. Egal ob Virtuosen wie Mariah Carey, Superstars wie Rihanna und Celine Dion oder auch nur die unzähligen Hoffnungsvollen in den Talentwettbewerben des Fernsehens – wer die extremen Spannungsbögen, halsbrecherischen Soul-Koloraturen und kontrollierten Emotionsstöße heute nicht beherrscht, hat kaum Chancen, ein Massenpublikum oder eine Jury zu packen.« So weit das Versprechen. Und die Narration vom individuellen und kollektiven Aufstieg afroamerikanischer Musiker geht dann so: »Vom Jazz-Faible der Roaring Twenties über die Bluesbegeisterung der Rockmusik und die ersten Pophits des Soul-Labels Motown hatte die Musik den Aufstieg der Schwarzen von der diskriminierten Minderheit ins Bürgertum begleitet. Die achtziger Jahre waren das entscheidende Jahrzehnt gewesen, in dem die schwarze Kultur nicht nur Teil des Mainstreams war, sondern ganz darin aufging. Diana Ross, James Brown und Stevie Wonder hatten den Weg geebnet. Doch Michael Jackson, Prince und Whitney Houston hatten die Grenzen letztendlich aufgelöst. Als Whitney Houston als Star den Star im Film spielte und gleichzeitig die Pophits dazu lieferte, spielte ihre Hautfarbe schon keine Rolle mehr.« Und dann der Abstieg: »Als sie am Samstag tot in der Hotelsuite lag, schien es kurz noch, als habe Amerika sie vergessen. Unten im Ballsaal fand ungestört die Glamourparty statt. Doch es ist ein eigenartiger Effekt, den die Nachricht von ihrem Tod nun ausgelöst hat. Mit einem Male scheint es, als ob sie immer der glamouröse Star, die unantastbare Diva mit der unfassbar berührenden Stimme geblieben sei. Über Nacht wallte die Trauer dann auf.« Ins 32 Zur Kombination von Zufallsschock und Enttäuschung vgl. Benjamin 1977, S. 185–229, bes. 193 ff; zur »annullierenden Verheißung« siehe Köhler 1993, S. 52. 33
Vgl. Agamben 2005, bes. S. 19 ff. und S. 93 ff.
34
Kreye / Häntzschel 2012, S. 11.
Gravitationsfeld Pop
Mythische gleiten solche Nachrufe, die auf das Divenhafte, Glamouröse und Hysterische des Pop abheben, das Houston wie Brown gleichermaßen anhaftete. Und auch hier wieder der Dreiakter (manchmal ist es auch ein Vier- oder Fünfakter) eines Erregungsablaufs, der durch ein Auf und Ab des Energiestroms gekennzeichnet ist, dem auf den drei Akteursseiten keine Dauer beschieden ist: dem Künstler und der Strahlkraft seines Gravitationsfelds nicht, der Musikindustrie und ihre kapitalen Unterstützungsmechanismen nicht, dem Publikum und seiner Aufmerksamkeitsenergie nicht. Das ergibt insgesamt ein stabiles und wiederkehrendes Erzählmuster aus M Erregung und N Aufstieg, auf die O eine Phase der Normalisierung – das wäre der Dreiakter – und oft wie bei Houston P eine Phase der Devianz folgen. Das wäre der Vierakter – alternativ folgt auf die Normalisierungsphase ein mal trauriges, mal erträgliches Ausfaden der Karriere oder sogar ein Comeback und ergibt damit als Variante einen Fünfakter. Diese Abläufe des Pop lösen alles in allem trotz seiner sich erfüllenden Versprechen den melancholischen Effekt im Gravitationsfeld des Pop aus. Wer kennt sie nicht: die großartigsten Musiken von Popkünstlern, die immer am Rand des Existenzminimums agieren, oder die tragischen Alex Chiltons, Tim Buckleys, Rocky Eriksons des Pop, denen ein stabiler Durchbruch versagt blieb?
Energien des Pop / Pop als Energie. Nachleben und Verhandlungen Wenn in diesem Band die divergenten Kräfte im Gravitationsfeld des Pop von Reflektoren, Produzenten und Nutzern unter ihren jeweiligen Blickwinkeln vermessen und kommentiert werden, dann unterstellen wir wie selbstverständlich, dass Pop und Popkultur im Konzert der kulturellen Orientierungen und Artikulationen einen relativ hohen Stellenwert hat. Die Universalisierung des Pop-Prinzips und von Pop-Haltungen sowie ihrer Praktiken führt zwar möglicherweise dazu, dass diese soziokulturelle Einnistung, also die Verbreitung und Einschreibung dieses einst marginalen, häufig subversiven und bizarren Parasiten35 namens Pop in die globale Gesamtkultur, und Pop, Popkultur oder Popular Culture als unterscheidbares gesellschaftliches Feld oder als unterscheidbare künstlerische Praxis verschwinden. Aber so weit ist es noch nicht, solange immer noch ein diffuses Gespür dafür vorhanden ist, dass es auch Nicht-Pop gibt und man für Pop und seine Haltungen in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern sich einsetzen muss. Dass das Populäre des Pop nur ein unzureichender und beileibe nicht hinreichender Bestimmungsgrund ist, ist oft gesagt worden, kann aber nicht oft genug betont werden36. Hier wird dagegen eine Position vertreten, in den Begrifflichkeiten »Pop« und »Popular Culture« oder – mit 35
Zur Einnistung und zum Parasitären siehe Serres 1981.
36
Zuletzt beispiels- und dankenswerterweise von Hecken 2012.
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Abstrichen – »Popkultur« (lieber als Populärkultur) sowohl deskriptive Begriffe als auch Label mit normativer und diskursiver Geltung zu sehen37. Zwei Begründungen seien dafür vorgebracht. Erstens die Herkunft des Pop-Begriffs und der Pop-Haltung aus dem Geist der Pop-Art. Es knallt, es poppt – will heißen Pop ist im Alltag verhaftet wie Pop-Corn, ist bunt, grell, übertreibt, formelhaft, aber auch buchstäblich, vergrößert Details und ist vor allem künstlich.38 Schon Letzteres zeigt, dass Pop nicht notwendig populär ist – anders als es das Pochen auf Authentizität und Natürlichkeit uns weismachen will. Und dieses Knallen beinhaltet ein Versprechen – auf Differenz, auf Anderssein, auf Identität jenseits vom und mitten im Mainstream, auf ein Ja zur materialen Welt und so weiter. Versprechen haben aber einen normativen Anspruch und einen Imperativ, wie diffus er auch immer den Vor-Schein (Bloch) auf Freiheit, Spaß, Anerkennung oder eine ästhetische Existenz einklagen mag. Zweitens – und darauf konzentrieren wir uns hier stärker – lebt Pop vom Machen, Aneignen und Verschieben von Energien, die in einer Zeit kursieren, die relevant sind, die es lohnen, sie zu artikulieren und ihnen nachzuspüren. Der Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby Warburg spricht von »wilden Energien«39, der Medienkulturwissenschaftler S. J. Schmidt von »kommunikativen Energien«40 und der New Historicist Stephen Greenblatt von »zirkulierenden« oder »sozialen Energien«41, die sich in kulturellen Artikulationen und Innovationen energetisch (mal kraftvoll bis zum Empowerment, mal bedrohlich) ausdrücken. Wild sind diese Energien, weil sie einer Ausdrucksspannung folgen, einer nicht ausgeglichenen und nicht ausgleichbaren Spannung (emotional und kognitiv), die sich aber in Artefakten und ihrer Rezeption etwas bannen und artikulieren lassen. Warburg spürt Spuren dieser Energieausschüttung von der Antike über die Renaissance bis in die Werbung der zwanziger Jahre nach, also durchaus das Hochkulturschema verlassend. Besonders evident werden die Spannungen dieses »Gesetzes des (kleinsten) Kraftmasses«42 in den berühmt gewordenen Pathosgesten, die einer Pathosformel folgen, und die sich ins kollektive Gedächtnis einschreiben. Ein Gedanke, der in vielerlei Hinsicht für die Charakterisierung der Popkultur fruchtbar ist: ihr Gestenreichtum, ihr Pathos, das Formelhafte sowie ihre Einschreibungen. Sowohl diese kunst- und kulturwissenschaftliche Formel Warburgs von den wilden Energien als auch diejenige der Medienkulturwissenschaften von den
37
Vgl. Düllo 1994, S. 207 f. und Düllo 2011, S. 257 f.
38 Nicht-Natürlichkeit und Post-Humanismus werden konsequenterweise zum Programm des Afro-Futurismus, zum Beispiel in der Alien- und Saturnmythologie von Sun Ras Album Visits Planet Earth. Vgl. dazu das immer noch erregende Buch von Kodwo Eshun Heller als die Sonne mit seinem Feuer an Neologismen und Metaphern. (Eshun 1999). 39
Vgl. Raulff 2003.
40
Siehe Schmidt 2003, S. 68 ff.
41
Greenblatt 1993, S. 15.
42 Warburg 2010, S. 646. Ein Gedanke aus Warburgs Konzeption des Bildatlasses Mnemosyne aus den Jahren 1927–1929.
Gravitationsfeld Pop
»kommunikativen Energien«43 (S. J. Schmidt) sowie die »zirkulierenden Energien«44 des New Historicism (Stephen Greenblatt) sind handelnd im Sozialen fundiert, also »Handlungskommunikation bzw. Kommunikationshandlung«. Als »soziale Energie«45 (Stephen Greenblatt) haben spannungsgeladene Energien einen Kontinuitätscharakter. Eingeschrieben ins kollektive Gedächtnis schreiben sie sich weiter fort, freilich durchaus in Form von Umschreibungen und missbräuchlichem Rückgreif sowohl auf Seiten der Kulturproduzenten als auch der Konsumenten. Stephen Greenblatt hat für diesen Umgang mit Artefakten den Begriff der »Verhandlung«46 angeboten. Deshalb steht Greenblatt auch sympathisierend mit Versuchen auf gutem Fuße, die Pop-Praktiken als Verhandlungen mit vergangenen kulturellen Praktiken und Diskursen zu begreifen, auf gutem Fuße – wie etwa mit der Weise, wie Greil Marcus Punk mit den Wiedertäufern oder den Situationisten verkoppelt in Lipstick Traces oder Bob Dylan mit den Bluesnarrationen der dreißiger bis fünfziger Jahre in Marcus’ Basement Blues. »In ihrer ästhetischen Erscheinungsform besitzt soziale Energie ein Mindesmaß an Vorhersagbarkeit – um einfache Wiederholungen zu ermöglichen – und eine gewisse Mindestreichweite – um über den einzelnen Schöpfer oder Konsumenten hinaus eine, wie auch immer beschränkte, Gemeinschaft zu erreichen«,47 um nicht gleich von Common Culture (Paul Willis) zu sprechen. Das Prüfkriterium bei diesen Verhandlungen sind dabei stets die Fragen: Spricht da noch etwas zu uns, fixt uns das an, ist die soziale Energie noch oder wieder oder anders wirkungsvoll? Im Ergebnis geht es um »ausgedehnte Entlehnungen, kollektive Austauschprozesse und wechselseitige Begeisterungen«.48 Deshalb ist zu Recht darauf hingewiesen worden49, das im Zentrum auch von Warburgs Energie-Konzept und seinem »Dynamogramm«50 das »Nachleben«51 steht. Statt also ausschließlich von Retromanie im Pop zu reden oder diese zu bedauern, könnte man vielleicht gegenwärtig von einer starken Dominanz dieses Nachlebens der popkulturellen Energien sprechen, vielleicht auch von einer Verlagerung der Zeitachse innerhalb der Energiewirkung: vom Horizontalen zum Vertikalen. Wir möchten, selbst wenn der Eindruck einer Entschleunigung der Innovationsphasen im Pop derzeit evident ist, bezweifeln, dass diese Zeitachsenverlagerung auf Dauer gestellt wird. Im Augenblick jedenfalls künden die allenfalls geringfügigen Stil- und 43
Siehe Schmidt 2003, S. 68 ff.
44
Greenblatt 1993, S. 15
45
Ebd.
46
Siehe Greenblatt 1993.
47
Ebd., S. 16.
48
Ebd., S. 17.
49 Vor allem durch Didi-Hubermans Buch Das Nachleben der Bilder (2010) wie auch durch sein stupend kuratiertes Ausstellungsprojekt Atlas (2011). 50 Vgl. dazu näher Didi-Huberman 2010, S. 196 ff.; zur Einbettung von Warburgs Energieverständ nis in seine Zeitgenossenschaft siehe Raulff 2003. 51
Warburg 2010, S. 637.
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Formatwechsel im Popgeschehen nicht von einem Paradigmenwechsel, sondern von Varianten, von Loops52. Das muss aber erstens – wie gesagt – nicht so bleiben, und zweitens zeigt das einmal mehr, wie sehr auch die Popkultur den Weg der Normalisierung und Historisierung geht, seitdem sie so sehr diffundiert ist und sich in anderen soziokulturellen Feldern eingenistet hat. Wer darüber jammert, sollte erst mal seine Kriterien auf den Tisch legen und diese prüfen. Die diskrete Kontinuität53 der Popkulturakteure und -konsumenten bezeichnet vielleicht genau jene Haltungs- und Praxis-Verschiebung, die von der Post-Postmoderne zu erwarten war, wo die Postmoderne auf Diskontinuität ausgerichtet war, aber auch oftmals beliebig in ihren Verhandlungen mit den vergangenen Energien umgesprungen ist. Diskrete Kontinuität im Verhandeln wäre dann durchaus interessant und begrüßenswert, wenn sich die Prüfgeste Was sagt mir diese Energie denn noch oder erstmalig? verstärkt praktiziert wird. Im Sinn der Denkfigur der diskreten Kontinuität bzw. der kontinuierlichen Diskontinuität lässt sich das Gesagte über das Energiepotenzial des Pop wie folgt in grundsätzlicher Absicht zusammenfassen: Menschen sind – anthropologisch und medientheoretisch – als Zwischenweltler zu betrachten54, und entsprechend setzt Warburg beim »bewussten Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt […] als Grundakt menschlicher Zivilisation«55 ein. Diese materiale und mediale Zwischenwelt führt zur Artikulation, Aneignung und zum Erkennen der Welt und des Selbst. Das gilt für alle Kultur. Für die Popkultur ist dieser Umstand schon deshalb evident, als sie mittels medialer Verstärkung die Artikulation besonders kräftig machen will – also mit Verstärkung der Gitarre am Straßenrand, um besser gehört zu werden, mit Mikro, mit Lautsprecheranlagen, mit dem Körper, mit den Pop-ArtFarben und -Formen, mit Buchstabenvergrößerungen, mit dem Syntheziser, mit den Pitchreglern, mit den Klamotten, mit der Sicherheitsnadel etc. Dies geschieht, um mehr Aufmerksamkeit zu erlangen für die Energiedurchsetzung – schmutzige Geräusche, besondere Lautstärke, übertriebene Gesten und Rhetorik. Und zwar gerade deshalb, weil Pop zunächst (und manchmal immer noch) im nicht völlig kodifizierten und definierten Raum stattfindet, der dann in der marktförmigen Kulturindustrie (im deskriptiven Sinn) vielfach überdefiniert und überkodifiziert genormt wird, vor allem, wo sie auf sicheren Profit spekuliert bzw. sich verspekuliert. In diesem Gemengelage von kultureller Distanz und Energieartikulation im nicht völlig kodifizierten Raum verspricht beispielsweise die Popmusik eine spezifische 52 Zum »Loop« als einer anderen Form des Entwicklungs- und Überraschungsgedankens vgl. Diederichsen 2008, S. 25 und S. 37. 53 Dank an Juliane Laitzsch (Stipendiatin der Graduiertenschule der Universität der Künste Berlin) für den Hinweis, dass diskrete Kontinuität die viel gelungenere Bezeichnung als diskontuierliche Kontinuität ist, und zwar deshalb, weil diskret auch ein physikalischer und energetischer Begriff ist, das Separate, das Nicht-Kontinuierliche bezeichnend. 54
Vgl. zur Denkfigur der »Zwischenwelt« Eibl 2009.
55
Warburg 2010, S. 629.
Gravitationsfeld Pop
Energieartikulation und deren Aneignung: quasi unmittelbar, quasi einfach, quasi demokratisch, eben nicht überkodifiziert. Pop ist so künstlich und distanzförmig wie jede künstlerische Artikulation, aber sie verspricht etwas mehr Direktheit, etwas mehr Demokratie, etwas mehr Nähe zum Publikum und zu gemischten Gefühlslagen, zum Körper. Auch Pop ist nicht authentisch, lebt aber diffus vom Phantasma, etwas näher am Material, am Puls der Zeit, an der Wunscherfüllung dran zu sein als andere Artefakte. Und genau das gelingt eher im nicht klar oder endgültig kodifizierten Raum durch Umschrift, Zweckentfremdung, Kombinationen von bis dato nicht Kombiniertem. Hierfür hat Warburg den Impuls gegeben. Warburgs Spurensuche der Energien war fokussiert auf das umgeformte Nachleben der Bilder und Pathosgesten – exemplarisch studierbar an der Weise, wie dämonische heidnische Flussgötter zu Boten (zwei bekleidete Künstler und eine unbekleidete Frau) eines freien Naturgefühls in Manets berühmten Frühstück im Freien (1863) mutieren56, eine Haltung und ein Motiv, die in der Popkultur vielfach aufgegriffen und zum Beispiel auf zahlreichen Plattencovers variiert worden ist. Lange vor der Zweckentfremdung, die Guy Debords Situationismus ausgerufen hat, hatte also Warburg der »energetischen Inversion«57 nachgespürt und ein Verfahren mit seinem Bildatlas praktiziert, das in der Popkultur zur popkulturellen Alltagspraxis wurde: eine »Schlitterlogik« und »Willkürverknüpfung«58 von kulturellen Materialien und Techniken, die primär nicht am (philologisch geschulten) Wissen um die Kontexte der Energien interessiert ist, sondern an der Dekontextualisierung, weil der dynamische Nutzen – Warburgs »Dynamogramm«59 – im Maschinenhaus und Labor des Pop als Correctness und Kulturrelativismus wichtiger ist. Diese ständig zirkulierenden und sich umformenden Energien, die sich in der Popkultur als Geräusche, Sounds, Slogans, Gesten, Bilder und Praktiken artikulieren, bevölkern unser kollektives Gedächtnis der Nachkriegszeit besonders seit den frühen sechziger Jahren wie weniges sonst. Auf die zirkulierenden wilden und sozialen Energien des Pop antworten möglicherweise archäologische und genealogische Suchbewegungen, die Ebeling jüngst als »Wilde Archäologien«60 bezeichnet hat – archäologische Spurensuche auf den Boden der jüngsten Vergangenheit oder Gegenwart. Diese Spurensuche orientiert sich am »Unwahrscheinlichen und Unerwarteten«61 und an der Materialität der Energien.62 So hat es in der letzten Zeit Versuche gegeben, die jüdischen Konnotationen des New Yorker Punk und Proto-Punk (Richard Hell, Suicide, Jonathan Richman, Lou Reed,
56
Ebd., S. 629 ff.
57
Ebd., S. 641.
58
Ebd., S. 642.
59
Vgl. ebd. 609 f. und Didi-Huberman 2010, S. 200 f.
60
Vgl. Ebeling 2012, S. 13 f., 17 und 43 f.
61
Ebd., S. 17.
62
Vgl. ebd., S. 88.
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Ramones) freizulegen.63 Ähnlich ist Julian Copes semi-enzyklopädisches Projekt unter dem Titel Copendium. An Expedition into the Rock ’n’ Roll Underwerld über verschüttete, aber relevante, mehr oder weniger experimentelle psychedelische Musik der letzten sechzig Jahre in den Kreis wilder Archäologien einzuordnen, startend mit Tom Lehrer und Lord Buckley.64 Wilde Archäologie liegt in dem Dokumentarfilm Searching for Sugar Man über den amerikanischen Musiker Sixto Rodriguez vor. Der schwedisch-britische Film des Regisseurs Malik Bendjelloul aus dem Jahr 2012 zeigt die Suche zweier südafrikanischer Musikfans nach Rodrigez, der seinerzeit Anfang der siebziger Jahre trotz zweier superber Alben (Cold Fact und Coming from Reality) völlig unterging, dessen vermeintlicher Tod während eines Konzertes kolportiert wurde und der dann später in Südafrika Heldenstatus erlangte, was ihm aber von der Plattenfirma verschwiegen wurde. Der nun aufgespürte Rodriguez nimmt dies alles stoisch bis cool zur Kenntnis, gibt noch einmal ein paar Konzerte und bleibt, was er ist: ein philosophierender Abrissarbeiter in Detroit, der Erfolg und Geld ignoriert. Bei der Oscarverleihung 2013 wurde der Film als Bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Dieser poparchäologische Fund berührt, weil er beides zeigt: etwas ganz und gar Unexemplarisches und Unvergleichbares einer Musiker persönlichkeit und seiner Popbiografie, und zugleich werden die Mechanismen der Musikindustrie exemplarisch deutlich (sowohl die Förderer beim Misserfolg als auch die Abkassierer beim späten Erfolg) sowie der unberechenbare Publikumsgeschmacks, der eine Musik in ihrer Entstehungszeit ignoriert, die Anfang der Siebziger durchaus mehrheitsfähig und als zeitgeistnah einzuschätzen gewesen wäre, um sie dann 2012 und 2013 für sich als relevant zu entdecken – eine Ungleichzeitigkeit ähnlich wie bei Nick Drake oder Velvet Underground. Wilde Archäologie findet man auch bei Matthew E. Whites Debüt Big Inner von 2013, das in der Presse als eine »Reise durch vierzig Jahre Popmusik« gewürdigt wird: »Der zottelige Hipster kopiert nichts, sondern hat den Südstaaten-Soul als offenen Quellcode entdeckt. Er schreibt nur das Programm ein wenig um […]. Vielleicht ist dieses Album deshalb so betörend, weil uns Whites Spielart der Americana an die Schnittstelle von fernöstlicher Spriritualität, Baptistentum und Pop führt. In das All American Nirvana, dem schon Generationen von Jazz-Mystikern und Beat-Poeten nachspürten.«65 Eine exemplarische Rezension, deren Tonfall geprägt ist vom Zusammenzurren unterschiedlicher Diskursfäden, die im Dienste einer diskreten Kontinuität stehen. Das Neubefragen der Archive kann so weit gehen, dass sogar Pop-Avantgardisten wie Sufjan Stevens, der sich bereits mit dem elektronischen The Age of Adz (2010), basierend auf der Artwork des prophetischen Malers Royal Robertson, daran versucht hatte, so etwas wie eine 63 Vgl. Engelmann et al. 2012 sowie Battegay 2012. Zur Debatte über diesen Auftakt zur Jüdischen Identität und Subkultur, wie der Reihentitel von We are ugly but we have the music. Eine ungewöhnliche Spurensuche in Sachen jüdischer Erfahrung und Subkultur von Engelmann et al. heißt, siehe das Inter view von Apunkt Schneider 2012 mit Mitherausgeber Engelmann in skug. 64
Vgl. Cope 2012.
65
Fischer 2013, S. 37.
Gravitationsfeld Pop
weiße Version von Sun Ras afroamerikanischer Space-Mythologie zu liefern, was besonders bei den Live-Performances zu bestaunen war, dass also umschreibende Kontinuitätsbearbeitung dahin führt, fast hundert Weihnachtslieder aufzunehmen und umzuschreiben. In den zwei Boxen mit je fünf EP’s und mit über drei Stunden Spieldauer – Songs for Christmas (2006) / Silver & Gold (2012) – erkennt der Popjournalist Karl Bruckmeier die wilde Archäologie, die da am Werk ist: »Mit diesem Akt transzendiert Sufjan Stevens auch die menschelnde Tradition der Weihnachtsplatte, die ›man‹ im Popgeschäft zu machen hat […]: Er unterstreicht die aufklärerische, dem Individuum verpflichtete Tradition, die Pop zugrunde liegt und versöhnt sie mit genau jenem antiaufklärerischen Emotionstohuwabohu Weihnachten, weil es eben und irgendwie allen gehört […]. ›Silver & Gold‹ ist der schiere Wahnsinn, eine Provokation, eine Zumutung zum Mitsummen«66 – mit anderen Worten ein Abkömmling von Warburgs Stromstoß »inversiver Energien«.
Pop als Lernfeld und Transformationsraum Roland Barthes hat 1966 ein paar Erklärungen ins Stammbuch des Strukturalismus geschrieben, die wie ein Leitsatz für unsere ganze Moderne und das 20. Jahrhundert bis heute gelten können, geradezu parallel zur Entwicklung der Popkultur: »Der strukturale Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen; das ist scheinbar wenig […]. Und doch ist dieses Wenige […] entscheidend; denn zwischen den beiden Objekten, oder zwischen den beiden Momenten strukturalistischer Tätigkeit, bildet sich etwas Neues, und dieses Neue ist nichts Geringeres als das allgemeine Intelligible: das Simulacrum, das ist der dem Objekt hinzugefügte Intellekt, und dieser Zusatz hat insofern einen anthropologischen Wert. […] Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein Simulacrum (Abbild, Schattenbild) des Objekts, aber ein gezieltes, ›interessiertes‹ Simulacrum, da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, das im natürlichen Objekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb. […] Das Objekt wird neu zusammengesetzt, um Funktionen in Erscheinung treten zu lassen, und das ist, wenn man so sagen darf, der Weg, der das Werk hervorbringt […].«67, so Roland Barthes. Und Popkultur lebt im Wesentlichen von diesem Zerlegen und Wiederzusammensetzen genauso wie die Kunst, wie Medien oder das wissenschaftliche Arbeiten. Wir wollen jetzt die Perspektive wechseln und auf den Rezipienten und Konsumenten der popkulturellen Artefakte und Produkte blicken, der längst als Prosument und produktiver Nutzer charakterisiert worden ist.68 Wenn man den Nutzer ins Visier nimmt, wird schnell klar, dass gerade der Umgang mit Produkten und Angeboten der Popkultur dazu führt, dass sich Pop66
Bruckmeier 2012, S. 13.
67
Barthes 1966, S. 199.
68 Und dies lange vor den wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten über das Prosumententum. Vgl. zum Beispiel Certeau 1988, Winter 1995 und Hebdige 1983.
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fans in der strukturalistischen Tätigkeit des Zerlegens und Wiederzusammensetzens im Sinne von Roland Barthes üben. Quasi im Nebenbei, ohne Anleitung von Schule und Erziehungsberechtigten. Sie erlangen dabei eine alltagskulturelle Tacit Knowledge, von der seit zwanzig Jahren ständig die Rede ist. Ob man ein Poesiealbum mit Bildern aus der BRAVO ausstaffiert, die Strips verschiedener Comics zu einer neuen Narration kombiniert, Musikkassetten bespielt, auf Facebook Bilder vom letzten Clubbesuch postet, Gitarrenriffs auf dem Synthesizer nachspielt, seine Klamotten bricoliert, Samples anfertigt, popliterarische Zitate in seine eigene SMS einbaut, also alles das tut, was Jim Jarmusch in seinem Film Mystery Train ein japanisches Poptouristenpärchen in Memphis tun lässt: die Schere nehmen, Elvisbilder und Fotos von Madonna oder von den US-Präsidenten in Mount Rashmore auseinanderlegen, wieder zusammensetzen als Montage, sodass Elvis als amerikanischer Archetyp aussieht wie Madonna oder ein US-Präsident, immer also, wenn so etwas praktiziert wird, übt sich der Popkonsument mehr oder weniger in der strukturalistischen Tätigkeit. Und zwar im Ergebnis so, dass sein Simulacrum irgendwie Neues generiert oder Unsichtbares sichtbar macht, eine Abweichung in der Wiederholung und Nachahmung erkennbar werden lässt. Diese Aktivität ist vielleicht der Unterschied zwischen Popkultur/Popular Culture und Massenkultur, wie John Storey nahe legt: »Popular culture is what people make from the products of the culture industry – mass culture is the repertoire, popular is what people actively make from its actually do with it.«69 Darüber hinaus muss Popkultur auch nicht notwendigerweise populär sein70, sondern kann auch »Unpop«71 sein. Entscheidend ist nicht populär oder nicht-populär, sondern dass Produkte der Popkultur aktivieren: zum Zerlegen/ Wiederzusammensetzen, Aneignen und Verarbeiten, zur Identitätsbildung mit den Praktiken und Bausteinen des Pop, zum Vergleichen und Differieren, zum Ausbilden einer Unterscheidungskompetenz. Schon ein Medienwechsel, der in diesem Zerlegen und Wiederzusammensetzen praktiziert wird, macht immer Gewinn und Verlust – eine alltagskulturelle Erkenntnis, die das strukuralistische Operieren mit Gegenständen der Popkultur en passant erzeugt. Vielleicht ist dies auch entscheidender, als Neues kontra Retro gegeneinander auszuspielen. Denn das Neue ist selten das radikal Neue, sondern Folge eines Kontextwechsels72 (das Urinoir im Museum oder rohes Fleisch und Müllsack als Klamotten) oder einer »Differenz in der Wiederholung«73 bzw. einer »Verschiebung bei der Nachahmung«74. Damit lässt sich ein weiterer Lern- und Ermächtigungscharakter bestimmen, der zum Kennzeichen der Popkultur gehört: die Transformation – und zwar alle Popakteure betreffend, die Produzenten 69
Storey 1993, S. 15.
70
Siehe unisono Lethem 2012, S. 187 ff. und Hecken 2012, S. 88 ff.
71
Lethem 2012, S. 188.
72 Vgl. in dieser Richtung und zum Diskurs des Neuen: Groys 1992, Liebl 2000, Düllo 2011, S. 469–489 und Reckwitz 2012. 73
Vgl. Deleuze 1992.
74
Vgl. Tarde 2003.
Gravitationsfeld Pop
wie Rezipienten. Retro ist wirklich zunächst nur der Ausdruck dafür, wie sehr die Universalisierung des Pop-Prinzips gegriffen hat. Man braucht nur an die Rolle des Pop denken, den er bei der Eröffnung und Abschlussfeier der Olympiade in London 2012 oder bei The Queen’s Diamond Jubilee im gleichen Jahr gespielt hat. Die Mutter der Nation im Schoße ihrer Popkinder – und dann danach geht Madness auf eine erfolgreiche Comeback-Tour. Hat hier der Pop gesiegt oder die vereinnahmende Umarmung? Müßige Frage. In deskriptiver Hinsicht ist Pop: »[…] immer Transformation, im Sinne einer dynamischen Bewegung, bei der kulturelles Material und seine sozialen Umgebungen sich gegenseitig neu gestalten und bis dahin fixe Grenzen überschreiten: Klassengrenzen, ethnische Grenzen oder kulturelle Grenzen. Dabei lassen wir zunächst mal außen vor, ob es sich bei diesen Formationen um solche handelt, die den ganz normalen Deterritorialisierungsprozessen des Kapitals entsprechen, oder ob es sich sozusagen um Interventionen gegen diese Gesetzmäßigkeiten handelt, um vorhergesehene, am Ende gar ›subversive‹ Überschreitungen.«75 In dieser Hinsicht hat Pop eine Rolle gespielt beim beginnenden Transformationsprozess von West nach Ost unmittelbar vor dem Fall der Mauer, bei dem Wiedergewinn der Körperlichkeit durch den afroamerikanisch orientierten weißen Rock ’n’ Roller Elvis Presley, bei der Verabschiedung der Nachkriegsgesellschaft durch die Beatles und Hippies oder bei der ›Balkanisierung‹ des Westens durch den Osten (siehe Wladimir Kaminers Performance, Buch und CD Russendisko). Ohne emphatisch von Subversionspolitik oder der Funktion von Pop als Artikulationsweise von Dissidenz zu reden (was immer ja durchaus zutrifft für Teile des popkulturellen Feldes), hat die Vorstellung von Pop als Transformation zur Folge, dass ein solcher Begriff von Popular Culture »auf Diskontinuität, Heterogenität und Differenz abstellt«.76 Dass Kultur Träger von gesellschaftlichen Transformationsprozessen ist, ist eine Binsenweisheit. Dass Popular Culture aber einen entscheidenden Transformationsriemen dabei darstellt, ist nicht selbstverständlich und Folge eines paradigmatischen Kulturwandels. Entscheidend für die Beobachtung, dass Pop Transformation ist, sind die begleitenden Subprozesse: Mit dem Aufgreifen, Verschieben und Neugestalten wird das Kulturprogramm einer Gesellschaft, das als »Wirklichkeitsmodell« für diese fungiert und »es damit auf Dauer« stellt77, anders bzw. neu formatiert. Die Folge ist eine Neuformation des kulturellen Raumes durch Verschiebungen im popkulturellen Feld, zunächst auf der Mikro-, dann aber oft auch auf der Makroebene kultureller Handlungs- und Orientierungsmuster. Der Charme, den diese Neuformationen auszeichnen, liegt vordergründig darin, dass sie freiwillig geschehen, dass sie Spaß machen und als lustvoll erlebt werden, 75
Diederichsen 1996, S. 38 f.
76
Baecker 2001, S. 99.
77
Schmidt 2000, S. 106–108.
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dass sie mit intrinsischer Motivation verfolgt werden und oftmals einen produktivkreativen Charakter haben. Interessant ist diejenige Pointe der Popular Culture, die darin besteht, dass in kategorialer Weise bei der Wahrnehmung, Nutzung und Sympraxis solcher Transformationsprozesse Teilkompetenzen erworben werden, die bei der Unterscheidung, Benennung und Mitgestaltung kultureller Praktiken in gesellschaftlichen Aufgabenfeldern von hohem Wert sind. Zu nennen sind hier: die Fähigkeit zur Einsicht, Benennung und Unterscheidung von Bedeutungsgewebespielen auf Mikro- und Makroebene; die Einübung in der Verwendung von signifikanten Semantiken/Zeichen; die Kompetenz zur Entzifferung von symbolischen Zeitkommentaren, die die Popular Culture immer darstellt, und damit die Decodierung von Wirklichkeitsmodellen; die handlungspraktisch erworbene Einsicht darin, dass Lebensstil-Unterscheidungen Distinktionsgewinne beim Erwerb von kulturellem Kapital und, daran anschließend, im Erwerb von sozialem Kapital erzielen, denn popkulturelle Praxis ist immer Streitkultur und Lebensstil-Battle, das lehrt schon die tagtägliche Sozialisation in der Peergroup; aktive Teilhabe an Popular Culture ist vielfach auch ein Ermutigungsprogramm, weil im gegenhegemonialen und gegenkulturellen Impuls der Verortung und Raumaneignung erfahrbar wird, wie in der Popkultur Einspruch erhoben wird und sich in den Repräsentationsweisen des Pop das Nicht-Integrierte und Minorisierte artikulieren lässt. Dass im Rücken dieser Kompetenz durch das Erkennen und Befördern des Neuen zugleich ein Pragmatismus am Werk ist, erhellen all diejenigen popkulturellen Praktiken, die sich legitim bei den ästhetischen Avantgarden bedienen und in der Verwendung ihrer Mittel in Musik, Film oder Werbung zum Prozess der Normalisierung und Gewöhnung an die Moderne beitragen.78 Diese Praktiken können sich – kontextabhängig – auch bei vermeintlich niederwertigeren Kultursemantiken bedienen – wie es Strömungen des New Primitivisms, Trash-Inszenierungen oder ironischer Barabarismus und andere verraten. Die Nutzer dieser Popprodukte erleben damit schneller als andere Zeitgenossen eine Orientierung innerhalb der paradoxalen Modernisierungsentwicklungen. Dies kann sie zu einem gesunden Realismus und gegenwartsorientierten Pragmatismus befähigen, der Ambiguitätstoleranz mit einschließt. Anders gewendet: dieser Normalisierungsvorgang via Popular Culture überführt Kunst in Kultur und macht diese – nicht mehr elitär, sondern kollektiv – lernfähig. Zur weiteren Pointe des hier entworfenen Kompetenzprofils gehört der Modus, wie diese Kompetenzen erworben werden. Denn sie entwickeln sich mehrheitlich als Operationen informeller Lernmodi auf unkonventionelle, aber sehr alltagslogische Art und Weise. Zu nennen sind hier – dies liegt fast in der Logik der Transformationsanpassung und -mitgestaltung – das Falsch-Verstehen, die produktiven Missverständnisse, das schmutzige Lernen, das unsaubere Verschieben und die Anwendung von Unschärfetechniken. Und der Gestus des Wissens ist und bleibt Coolness, wenn man darunter ein zunächst sich zurück haltendes Wissen versteht nicht nur 78
Vgl. Düllo 1998.
Gravitationsfeld Pop
über das, was gerade so läuft, sondern vor allem, wie was gerade umcodiert wird. Coolness ist Transformationswissen schlechthin, ereignet sich in der Popkultur und konnte deshalb als Haltung stets umgeschrieben werden und zum Teil bis ins Gegenteil verkehrt werden – und hieß doch immer noch cool.
Calvinos Memos go Pop 1984 wurde der italienische Schriftsteller Italo Calvino eingeladen, in Harvard einen Zyklus von sechs Vorlesungen zu halten, sein Titel: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Die Realisierung dieses Projekts scheiterte leider daran, dass Calvino kurz vor den Lectures im September 1985 verstarb. Es existieren aber Calvinos handschriftliche Aufzeichnungen für die ersten fünf Lectures, für die sechste nur der Titel. Diese sechs Prinzipien für das 21. Jahrhundert sind zwar primär für die Literatur gedacht, aber sie sind es wert, als Anregung für die Popkultur in Anschlag zu bringen. Die »Six Memos for the Next Millenium« lauten: »1 – Lightness [Leichtigkeit] 2 – Quickness [Schnelligkeit] 3 – Exactitude [Genauigkeit] 4 – Visibilty [Anschaulichkeit] 5 – Multiplicity [Vielschichtigkeit] 6 – Consistency [Beständigkeit]«.79 Was Calvino unserem noch jungen Jahrtausend da mit auf den Weg gibt, trifft möglicherweise genau auf den gegenwärtigen und zu erwartenden Pop zu. Zusammen mit dem, was zuvor über die inversiven Energien, über die Transformationen und die Verhandlungen mit dem Archiv des Pop gesagt wurde, wäre als Hintergrundfolie und Fragekomplex an die Lektüre der Beiträge und Überlegungen der Produzenten, Reflektoren und Nutzer im Gravitationsfeld Popkultur, die sich in diesem Buch zu Worte kommen, mitzulesen. Was denken die Akteure der popkulturellen Kreativwirtschaft grundsätzlich und konkret angesichts solcher Entwicklungen und Phänomene wie des Streits um GEMA-Tarife oder des Auftritts von Spotify, des Weiterbildungsbedarfs in der Kreativwirtschaft, der Netzwerkbildung als Basis von Geschäftsmodellen der Club-Branche oder wenn Beck als neues Album eine illustrierte Notensammlung auf den Markt wirft? Und ist es mehr als freundliche Rhetorik, wenn Ex-Smith Gitarrist Johnny Marr der Berliner Zeitung (25.2.2013) bei einem Besuch in Berlin von der »sehr guten Energie« der Stadt vorschwärmt?
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Calvino 2012, S. 9.
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Kartographierte Konstellationen Popkulturelles Wissen mäandert. In der Unüberschaubarkeit existiert seit jeher stets auch ein immenses Bedürfnis nach Kanonisierung, Ordnung und Topographie. Die Cultural Studies definieren Kultur unter anderem als Praxis, durch die Gruppen ihrer sozialen und materiellen Existenz sinnvoll Ausdruck verleihen80. Eine Kultur beinhaltet stets sogenannte Maps of meaning – Landkarten von Bedeutung81. Sie sind in Mustern sozialer Organisiation und in Verhältnissen objektiviert. Kultur ist immer auch von Dominanz- und Machtverhältnissen geformt. Die Kulturen der einzelnen sozialen Gruppen stehen in unterschiedlicher Weise zueinander in Beziehung, die drei idealtypische Ausformungen kennt: Dominanz, Opposition, Subordination. Unsere Sicht auf Popkultur würdigt diese Perspektive, indem wir hier den Versuch vorlegen, mit der beiliegenden Konstellationsübersicht (A1-Poster) verschiedenen Faktoren und Strukturen, die Popkultur prägen, zusammenzuführen und in einer, wenn auch nur zweidimensionalen Ebene zu visualisieren. Seit Beginn unserer Kesselhaus-Gespräche, in denen die Idee zu diesem Band entstand, manifestierte sich bei uns der konkrete Wunsch, Wissen und Popexpertise zu kartographieren. Im Fokus stand dabei einerseits der Wunsch nach einer relevanzorientierten Überblicksstruktur, aber andererseits auch der Wunsch, neue Zusammenhänge und Vernetzungen zwischen ganz verschiedenen Bereichen der Popkultur und einer generellen Entwicklungsebene von Technik und Gesellschaft zu entdecken oder herauszuarbeiten. Ein Unterfangen, das zahlreiche Klippen und Lücken enthalten muss, welches wir aber trotzdem wagen wollten. Wir sind uns der radikalen Subjektivität dieser Konstellationsübersicht bewusst und dennoch davon überzeugt, mit dieser individuell autorisierten Visualisierung einen interessanten, aber vor allem assoziativen Blick auf Popkulturentwicklung anbieten zu können. Diese Konstellationen der Popkultur weisen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Bezugsebenen auf, bei denen wir davon ausgehen, dass diese Ereignisse oder Entwicklungen nachhaltigen Niederschlag in der Popkultur fanden, insbesondere hör- und sichtbar in den jeweiligen genrebezogenen Veröffentlichungen. Die Auswahl in der Konstellationsübersicht wendet sich folgenden Themenbereichen der Musikentwicklung zu: Black Music, Techno / Electronica, HipHop, Jazz / Avantgarde, Metal, Independent / Alternative. Die Entscheidung für diese Genres bedeutet natürlich auch, dass andere signifikante Richtungen und Künstler unberücksichtigt bleiben müssen (siehe Abbildung Brainstorming zu Konstellationen im Pop). Wir sind uns dieser Reduktion sehr bewusst. Unbestritten sind die enormen Einflüsse der »Big Names« wie Elvis Presley, Beatles, Doors, Pink Floyd, Rolling Stones, U2, Police, Madonna, Michael Jackson und vieler anderer. Das ist aber auch mehr als bekannt. Als Referenz und pophistorische Anker sind diese Künstler längst etabliert. Die Hall of Fame, auch in der Pop80
Vgl. Marchart 2008, S. 100.
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Ebd.
Gravitationsfeld Pop
Literatur, ist ihnen sicher. Die Popgeschichte ist kanonisiert, durchdekliniert und tausendfach diskutiert. Bedeutet das, diesen Kanon in einer Konstellationsübersicht zur Popentwicklung zwangsläufig reproduzieren zu müssen? Oder vermeiden wir Redundanzen, in dem wir uns eben nicht nur an den wohlbekannten, massenmedial
In? Out? Brainstorming zu Konstellationen im Pop
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hyperventilierten Megastars entlanghangeln sondern andere Entwicklungen, jenseits der etablierten Schwerkräfte, fokussieren? Wir entschieden uns für letzteres, ohne damit einen Anspruch auf Alternativlosigkeit zu erheben. Es sind im Mit- und Gegeneinander der Schwerkräfte oftmals neue Akteure, die die Kräfteverhältnisse unerwartet ändern. Im Momentum ihres Erscheinens ist deren Signifikanz oft nur erahnbar, in der Retrospektive wird diese jedoch erkenn- und konstruierbar. Die Konstellationen sind historisch chronologisch angelegt, lassen aber auch Raum, Querverbindungen zu entdecken, die eben nicht kausal miteinander verwoben sind. Der geneigte Betrachter wird sehen, dass neben den als relevant erachteten (zumeist musikalischen) Veröffentlichungen zahlreiche weitere Kategorien Einzug hielten, die ein ganzes Gravitationsfeld darstellen, in denen sich die süßlichen und harten Sekrete der Popkultur absondern können. Ein dichtes Netz von Einflüssen durch gesellschaftliche Ereignisse, technische und institutionellen Entwicklungen durchzieht den Popkosmos. Es ist ein Netz aus Bedingungen und Resultaten von Popkultur, deren Visualisierung den Versuch darstellt, diese Konstellationen sichtbar und damit erkennbar zu machen. Gerade auch mit Blick auf Berlins Clubszene und Kulturwirtschaft sind solche übergreifenden Veranschaulichungen wichtig, da sie Entwicklungsprozesse in einem größeren Raum kontextualisieren. Berlin behauptet zwar einen herausragenden, weitgehend autonomen Status, aber eingebettet sind die lokalen Prozesse letztlich doch in einen globalen Strom von Popkultur, dessen Spuren und Kraftfelder sich stets auch auf den Mikroebenen der Kulturwirtschaft wiederfinden. Die Akteure in den Maschinenräumen der Popkultur sind diesem Beziehungsgeflecht ausgesetzt, entkommen können sie ihm nicht. Aber ein Bewusstwerden dieser globalen Konstellationen kann das Handeln strategischer ausrichten. So war es uns ein Anliegen, mit der kartographierenden Visualisierung Beiträgen und dokumentierten Gesprächen dieses Bandes einen Subkontext beizustellen, der die konkreten Szenarien auf einem globalen Level spiegeln, zumindest aber einbetten kann. Dem voran gingen unzählige Brainstorming-Runden, die in einer spielerischen und dennoch an Ernsthaftigkeit interessierten Atmosphäre verschiedene Themenfelder umkreisten, absteckten. Nach vielen Tests und Optionen entschieden wir uns für eine, unter heutigen Bedingungen nahezu altmodisch anmutende Variante, nämlich für ein analoges, klassisches A1-Beilage-Poster. Es ist wie früher. In gewisser Weise ist dies auch Retro. Es darf an die Wand gepint werden. All it takes is a little push. Dieses eingangs genannte Joker-Zitat kann getrost auch für die gesamte Produktion des vorliegenden Bandes gelten, denn er durchlief zahlreiche Konstellationen und Wendungen. Was 2008 mit kleinen Gesprächsrunden im Kesselhaus der KulturBrauerei in Berlin mit dem Ziel begann, konkreter über die globalen und lokalen Bedingungen von Pop und Kulturwirtschaft nachzudenken, gewann immer mehr an Größe und Konkretion. Konzepte und Strategien waren gefragt, um Popkultur in einem Bedeutungszusammenhang von Clubkultur, Musikindustrie, Kreativ- und Kulturwirtschaft zu verorten und die Potenziale dieser Verflechtungen für den Einzelnen und für einen sozialen Raum wie Berlin zu
Gravitationsfeld Pop
erkennen? Wer sind die Akteure? Wer kann Expertisen zu diesen Themenfeldern beisteuern? Auf der institutionellen Ebene hat sich in Berlin seither einiges getan. Das Musicboard Berlin wurde gegründet, Vernetzungen verstärkten sich, der urbankulturelle Hotspot Berlin lebt nach wie vor auf Höchsttouren. Auf der politischen Ebene scheint die Erkenntnis gereift zu sein, dass Popkultur, in welcher Spielart auch immer, einen gewaltigen Wirtschafts- und Imagefaktor für die Stadt ausmacht. Für diesen Band haben wir Akteure zusammengebracht, die einerseits das Megathema Popkultur im Blick hatten, die aber andererseits auch Miniaturen und Analysen für verschiedene Ebenen und Zusammenspiele der Kulturwirtschaft beisteuern konnten. Wichtig war uns dabei, eine Balance aus praxisbezogenen und theoriegeleiteten Perspektiven zu ermöglichen, weswegen in diesem Band neben wissenschaftlichen Beiträgen auch zahlreiche Interviews versammelt sind, die aktuell und hautnah aus den Maschinenräumen der Berliner Popkultur berichten. Zum genaueren Verständnis der jeweiligen Kontexte wurden diese Interviews mit sachbezogenen Informationen in Fußnoten ergänzt. Ein weiteres Themenfeld war uns ebenfalls von Beginn an wichtig, die Frage, was Pop auch auf individueller Ebene vermag. Welche Lern- und Professionalisierungsprozesse lassen sich mit Popkultur verknüpfen? In der heutigen Gesellschaft, in der nahezu alle audiovisuellen Produkte auf kurzem digitalen Wege erreichbar scheinen, entwickeln sich neue Strategien im Umgang mit den Artefakten. Es bietet gleichzeitig ein Identifikationsarsenal, das Individuen Möglichkeiten einer Selbstbehauptung, Selbstermächtigung oder Reflektion ermöglicht. Wie daraus Gruppen, »Mediatisierungen von Geschmacksgemeinschaften«82, ästhetische Techniken und kulturelle Strategien erwachsen und wieder verschwinden, ist ein höchst veränderlicher und interessanter Prozess, der auch in diesem Band seinen Platz hat. So versammeln sich in diesem Band Beiträge, die einen großen Bogen aufziehen und letztlich immer wieder ein Bedingungsgefüge beschreiben, das mit dem wuchtigen aber dennoch smarten Begriff »Gravitationsfeld« zu umschreiben ist. Dass Konstellationen immer auch etwas Unberechenbares anhaften kann, weiß nicht nur Joker, sondern auch jeder Physiker. Madness and gravity – einem Gravitationskollaps83 sowie dem Wahnsinn sind Autoren und Herausgeber dieses Bandes glücklich entkommen. Das Ergebnis dieser intensiven Zusammenarbeit liegt nun vor. Und so sind wir wieder am Beginn:
All it takes is a little push.
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Jacke 2004, S. 204.
83 Gravitationskollaps: »Die eintretende starke Verdichtung kann mit einer explosionsartigen Abschleuderung von Materie verbunden sein (Supernova). Als Endzustände ergeben sich je nach Rest masse entweder ein weißer Zwerg, ein Neutronenstern oder sogar […] ein schwarzes Loch […].«. (Lexikonredaktion des Bibliographischen Instituts 1982, S. 87; [Art.] Gravitationskollaps).
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Musik vom Rest der Welt Christoph Borkowsky
Birke: Borkowsky, das klingt ein bisschen wie Bukowski, Charles Bukowski. Borkowsky: Ja, aber mit zwei wesentlichen Unterschieden: Erstens ist er schon tot, und ich lebe noch. Und zweitens ist er in Andernach geboren, und das ist schräg gegenüber von Neuwied, wo ich geboren bin. Also er ist linksrheinisch, und ich bin rechtsrheinisch, das sind große Unterschiede. Birke: Nah beieinander geboren, nur schräg versetzt? Borkowsky: Zeitversetzt. Dementsprechend ist auch unser Todestag zeitversetzt, und die Rheinseite ist immer entscheidend. Birke: Und was macht den Unterschied? Borkowsky: Es gibt riesige Unterschiede zwischen der richtigen Seite und der falschen Seite. Das ist wie bei der Weltmusik: Die richtige Seite ist immer die eigene. In Köln ist die Schäl Sick die falsche Seite. Die Andere, die Schäl Sick, ist Deutz und natürlich auch umgedreht. Birke: Gehört denn Weltmusik zur Popkultur? Borkowsky: Auch, aber Weltmusik ist natürlich ein viel breiterer Begriff. Welt musik ist erst mal »Musik vom Rest der Welt« und das hängt immer davon ab, wo man sich selber befindet. In Deutschland ist die Perspektive auf Weltmusik eine andere als in Tokio oder in Rio de Janeiro. Wenn ich reise, ist es immer ein großes Vergnügen für mich, in lokalen Plattenläden zu checken, ob es die Kategorie Welt musik gibt und was darunter zu finden ist. In Tokio findet man Shakira, in Brasi lien eher US-amerikanischen New-Age-Schrott, in keinem Fall brasilianische, weil sie natürlich ihre eigene Musik nicht als Weltmusik verstehen. Birke: Also ist es lokal oder regional bedingt, welche Genres man im Rest der Welt verortet und sich ins Land holt? Borkowsky: Ja, und es gibt aber auch unterschiedliche Schwerpunkte. Aus der historischen Genese steht Weltmusik komplementär zu Weltliteratur oder Weltkultur, das heißt, es geht im Prinzip um die Beiträge der einzelnen nationalen oder regionalen Kulturen zu einem gemeinsamen Weltkulturerbe. Populär ausgedrückt: Es geht um die Champions League. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Begriff aber wieder anders besetzt: Weltmusik gleich Neue Musik – gibt es auch heutzutage noch, es verschwindet ja nichts. Der Begriff Weltmusik, wie wir ihn aktuell benutzen, ist hingegen Ergebnis einer der erfolgreichsten Marketingkampagnen der neueren Geschichte. Ein Londoner Elferrat von Labels, die Musik aus der außereuropäischen
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Christoph Borkowsky
Welt veröffentlichten, hat sich zusammengesetzt, auf der Suche nach einer Lösung des Problems, dass es für diese Musik keinen Platz gibt. Der Platz aus der Labelperspektive fing damals im Plattenladen an und man hat sich mit Hilfe von bewusstseinserweiternden Drogen auf den gemeinsamen Begriff Weltmusik geeinigt. Mit einem Budget von weniger als 10.000 Euro wurde jemand engagiert, der das ein bisschen PR-mäßig verbreitete. Zum Beispiel hat man Aufkleber für Fächer in Plattenläden gedruckt. Daraus ist das ganze moderne Genre Weltmusik entstanden. Das war im Sommer 1987, und vom Ansatz her war es nicht als Popmusik definiert, sondern als »Musik vom Rest der Welt«, was alle Arten und Formen umfassen konnte. Meinetwegen gehört dazu japanische Hofmusik, also klassische Musik anderer Kulturen, genauso wie Hardcore, Ethno, wie die Musik der australischen Ureinwohner oder der Kongo-Pygmäen bis hin zur tradi-modernen Musik, die in allen Kulturen existiert. Folk, Clubmusik – alles ist im Prinzip in dieser Kategorie Weltmusik subsumiert. Die wird allerdings in den Medien vor allem für sogenannte populäre Musik gebraucht, wobei »populäre Musik« auch wieder in Anführungsstrichen zu setzen ist. Pop ist so ein Begriff, mit dem man im Prinzip am ehesten festhalten kann, wie populär ein Künstler und wie groß sein Publikum ist. Aber das ist auch geographisch unterschiedlich. Unter Weltmusik tauchen viele Künstler auf, die in ihren eigenen Ländern große Stadien füllen und hier erst mal in einem Clubkontext auftreten müssen, also absoluter Underground sind. Also wie definiert man Pop? Wenn man es global definiert, dann ist es was anderes, als aus der regionalen Warte. In Deutschland versteht man Pop vor allem in dem Sinne, wie Musik kreiert und geschaffen wird, und nicht so sehr, ob die Künstler populär sind, ob sie große Massen ziehen. Birke: Ist diese Differenzierung eigentlich hilfreich bei der Arbeit? Borkowsky: Die wird von den Playern relativ beliebig benutzt. Also wir betreiben ja diese World-Music-Expo (WOMEX)1 für Profis. Da kann man dann sehen, wie meinetwegen die Musikexportbüros aus den nordischen, respektive skandinavischen Ländern, so einen Begriff benutzen, um ihre eher traditionelle Musik oder Folk Music international zu platzieren – genauso wie die Brasilianer. Um anzukommen, nennen sie dann international halt alles Weltmusik. Es geht um Portale, durch die man schreitet. In den letzten 25 Jahren entwickelten sich durch den Erfolg dieses Überbegriffs »Weltmusik« bestimmte Öffnungen: im Radio, im Print, bei Veranstaltern – also etwas, durch das man schreiten kann. Andere Leute schreiten da lieber nicht durch. Vielleicht hilft es anfangs, aber mittel- bis langfristig ist es auch nachteilig, wenn wir zum Beispiel einen typischen Player von Weltmusik, wie das früher Radio Multikulti2 hier in Berlin war, anschauen. Nachdem es vom 1 Die World Music Expo (WOMEX) ist die weltgrößte Musikmesse für Weltmusik die 1994 von Christoph Borkowsky mitbegründet wurde und seitdem jährlich (Ausnahme: 1996) in verschiedenen Großstädten Europas stattfindet. [http://www.womex.com, 17.07.2013]. 2 Radio Multikulti war ein Hörprogramm des Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb), das vom 18. September 1994 bis zum 31. Dezember 2008 verschiedene Facetten und Sparten der Weltmusik sendete.
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RBB3 geschlossen wurde, wurde es abgelöst durch eine DIY-SelbstausbeutungsInitiative von Leuten, die da mitgemacht hatten und die dafür auch noch vom Öffentlich-Rechtlichen bestraft wurden. Radio multicult.fm4 heißt das Projekt jetzt. Das Weltmusik-Publikum war auch in der KulturBrauerei5 eigentlich immer eine gute Plattform, bei der man aber eher die ältere Altersklasse sehen konnte – die, die einen gewissen Anspruch an sich selbst haben, nicht unbedingt zur Berliner Jugend- und Clubkultur gehören. Wo sind sie geblieben? Anders im Lido6, in dem die BalkanBeats7 ihre monatliche Residence haben. Das ist immer wieder erstaunlich, was für lange Schlangen sich da bilden rund um den Block.
Das Lido, ein Ort der BalkanBeats 3 Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) ist die Landesrundfunkanstalt für die Bundesländer Berlin und Brandenburg. Er entstand durch die Fusion des Sender Freies Berlin (SFB) und des Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) im Mai 2003. [http://www.rbb-online.de, 17.07.2013]. 4 Einige ehemalige Mitarbeiter von Radio Multikulti gründeten unmittelbar nach dessen Ende das private Internetradio radio multicult2.0, führten ausgewählte Programme von Radio Multikulti weiter und sind seit Mai 2010 wieder über die nichtkommerzielle Frequenz 88,4 MHz zu empfangen. [http://www.multicult.fm, 17.07.2013]. 5 Die KulturBrauerei ist ein Kulturzentrum im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg (Nähe U-Bahnhof »Eberswalder Straße«). In den Gebäuden der bereits 1842 gegründeten Brauerei befinden sich unter anderem Kinos, Theater, Dikotheken und Veranstaltungsräume. Die kulturelle Belebung des ehemaligen Brauerei-Geländes begann 1991. [http://kulturbrauerei.de, 17.07.2013]. 6 Das Lido ist ein Musikclub im Berliner Stadtteil Friedrichshain-Kreuzberg (Nähe U-Bahnhof »Schlesisches Tor«). In den 50er-Jahren diente es zunächst als Kino, in den 70er-Jahren unter dem Namen »Westside« als Diskothek, in den 80er-Jahren als Probenraum der Berliner Schaubühne und nach seiner Neueröffnung 2006 schließlich als Musikclub. [http://www.lido-berlin.de, 17.07.2013]. 7 BalkanBeats ist ein von Robert Soko (DJ Soko) 1993 erstmals gebrauchter Begriff, um die Musik seines DJ-Sets zu beschreiben. Robert Soko selbst kam 1990 von Bosnien nach Berlin. [http:// www.balkanbeats.de, 18.07.2013].
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Das Publikum ist ein junges Clubpublikum. Denen ist der Begriff Weltmusik nicht mal geläufig. Die gehen dahin, weil das für sie ein Teil ihrer Identität ist und nicht wegen der Leuchtschrift über der Eingangstür, auf der steht: Hier seid ihr willkommen zur Weltmusik. Grundsätzlich geht es ja darum, die Wahrnehmung, mit welchen Stil- oder Genrebeschreibungen auch immer, für eine globale Diversifizierung im Bereich Musik zu öffnen; die Köpfe auch zu öffnen für einen anderen Umgang damit. Nur, mit der Vokabel Weltmusik kann man inzwischen genauso viele Türen schließen, interessanter Weise im Unterschied zur bildenden Kunst oder zum Film. Im Bereich Film ist das überhaupt kein Thema. Filme aus Korea oder aus Indonesien sind interessant, aber Musik mit dieser Herkunft wird in der Weltmusik-Schublage abgelegt. Bei den Leuten in den Medien birgt das eine große Gefahr, dass sie das dann erst mal hinten einordnen, quasi Anti-Trend, zurzeit nicht in Mode, sorry. Es gab zwei, drei kurze Sommer der Weltmusik Ende der achtziger Jahre, als Ofra Haza auf Nummer 1 war mit »Im Nin’Alu« oder Mory Kanté mit »Yé Ké Yé Ké«. Aber man merkt in den Medien, dass die Kollegen da häufiger keinen Bock drauf haben. Sie verdienen ja auch alle nicht sonderlich gut, und dann frönen sie lieber ihrem persönlichen Laster: egal ob Americana, neue Fürze aus London oder sonst irgendwas. Oder sie feiern die völlig unwichtige Veröffentlichung eines Dinosaurierknochens ab, um ihr verstaubtes Wissen wieder nach vorne zu tragen. Den Künstlern ist das meistens piepegal, aber der Diskurs unter den Playern, Produzenten und Medien ist entscheidend – welche Flagge wird hochgezogen oder nicht. Das ist nach wie vor sehr unentschieden, weil auch die öffentliche Wahrnehmung sehr unterschiedlich ist. Birke: Man kann also gar nicht sagen: Weltmusik hat Popmusik internationaler gemacht? Sondern es geht eigentlich immer darum, gute Musik, egal woher sie kommt, populär zu machen. Borkowsky: Sie hat sicherlich auch internationale Musik populärer gemacht. Aber die Frage ist, wie weit diese Überschrift trägt, ohne ein Klischee oder eine Abwehrhaltung zu erzeugen. Die Abwehrhaltung wird darin deutlich, dass der Begriff nur eine bestimmte Klientel anzieht. Eine andere Klientel kann mit Weltmusik dagegen überhaupt nichts anfangen. Die werden durch andere Sachen angezogen. Sieh dir das Publikum an, zum Beispiel bei den BalkanBeats-Partys. Dieser Diskurs ist noch nicht abgeschlossen, wir sind noch mittendrin. Birke: Du hast die WOMEX und die Heimatklänge in Berlin gestartet. Wie haben diese beiden Formate die Stadt kulturell beeinflusst, welche Auswirkungen hatte es, diese Formate unter dem Segel Weltmusik zu entwickeln? Was wird dadurch geschaffen? Borkowsky: Heimatklänge 8 , WOMEX – das sind alles Kinder einer bestimmten Zeit. Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre, als auch der Karneval der
8 Heimatklänge war ein von Christoph Borkowsky initiiertes Weltmusik-Festival in Berlin, das zwischen 1988 und 2006 jährlich im Sommer stattfand.
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Kulturen9, das Haus der Kulturen der Welt10 , Radio Multikulti, entstand, da war damals eine hohe Dynamik, eine richtige Gründerperiode. Heimatklänge hatte aus den Startlöchern in 1988 heraus eine wichtige Funktion: eine populäre Plattform zu bilden für Musik aus bis dato unerhörten Gegenden, quasi weltoffene Heimatklänge vom Heimatplaneten Erde, im Unterschied zu den weltverengenden Heimatklängen, wie sie uns im öffentlich-rechtlichen TV vorgegaukelt wurden und werden. Das Festival erlangte aber auch seine Bedeutung, weil es am richtigen Platz zur richtigen Zeit war. Das alte Tempodrom11, am Rande des Tiergartens – Gott hab es selig – war ein in die Jahre gekommenes Zirkuszelt und Flagschiff der alten Westberliner Szene. Es konnte sich noch bis ins neue Jahrtausend hinein halten, bevor es dann untergegangen ist. Bei den Heimatklängen hat es ein bisschen länger gedauert, aber sie sind inzwischen auch untergegangen, weil sie aus der Zeit gefallen sind, weil sie mit dem neo-liberalen Zeitgeist des neuen Berlins nix mehr zu tun hatten. Als sie entstanden, waren sie das langsamste Festival der Welt und die Sommer noch beschauliche Jahreszeiten, wir hatten quasi die Lufthoheit im Sommerloch. Dieser Rahmen hat sich mit dem Fall der Mauer geändert, es gab eine große Differenzierung der Hoods und Locations in Berlin. Das Tempodrom als altes Flaggschiff wurde abgelöst, teils durch die Gesamtdynamik, teils auch durch eigenes Versagen. Die historische Rolle der Heimatklänge wurde durch neue Projekte, wie Popdeurope12 und andere beim nachgewachsenen Ausgehpublikum, abgelöst. Das ist ja immer auch eine Generationsfrage: Wie lange gehen die Eltern aus, und wollen die Jungen zu den Veranstaltungen ihrer Eltern gehen? Da hat auch irgendwann das Stündlein für die Heimatklänge geschlagen, verstärkt dadurch, dass sich keine starke neue Location finden ließ, zumindest keine die angenommen wurde. Heimatklänge hat sich dann endgültig mit der Weltmeisterschaft 2006 verabschiedet. Wahrscheinlich werden sie, wie bei vielen dieser Projekte, als Untote zurückkehren und zum Kult aufsteigen. So geht Pop. Rückblickend kann man erkennen, dass Heimatklänge Teil einer Zeitenwende komplementär zur Maueröffnung war. Auf zu neuen Horizonten, die sich dann als 9 Der Karneval der Kulturen ist ein multikulturelles Straßenfest mit Umzügen in den Berliner Stadtbezirken: Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg, das seit 1996 jährlich am Pfingstwochenende gefeiert wird. [http://www.karneval-berlin.de, 17.07.2013]. 10 Das Haus der Kulturen der Welt (HKW) ist ein Ausstellungszentrum für internationale zeitgenössische Künste mit einer Gewichtung auf außereuropäische Kulturen und Gesellschaften. Seit seiner Gründung 1989 ist es in der Kongresshalle im Berliner Tiergarten zu finden. [http://www. hkw.de, 17.07.2013]. 11 Das Tempodrom ist ein Berliner Veranstaltungsort, der 1980 von Irene Moessinger gegründet wurde. Es war zunächst an der Westseite des Potsdamer Platz situiert, danach in unmittelbarer Nähe zur Kongresshalle in Berlin-Tiergarten, wechselte dann für zwei Jahre zum Postbahnhof und ist seit 2001 als Neues Tempodrom auf dem Gelände des ehemaligen »Anhalter Bahnhof« gelegen. [http:// www.tempodrom.de, 17.07.2013]. 12 Das Sommerfestival Popdeurope wurde von 2002–2004 im Haus der Kulturen der Welt (HKW) und von 2005–2011 in der Arena Berlin veranstaltet. Ziel war es, die musikalische Vielfalt der Popkulturen in Europa und deren Verbindung mit musikalischen Traditionen und Entwicklungen anderer Kontinente aufzuzeigen.
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Festival, Haus, Radio, Streetparade etc. manifestierten, quasi als Modernisierungsschub einer früheren Bewegung zu der in Mauerzeiten zum Beispiel das Internationale Institut für traditionelle Musik13 und das Metamusik-Festival14 in Westberlin oder das Festival des Politischen Liedes15 in der Hauptstadt der DDR gehörten. Birke: Was heißt das für die Gegenwart? Sind die Weltmusik-Veranstaltungen in der KulturBrauerei jetzt nur noch ein Phänomen der Ungleichzeitigkeit, sind die BalkanBeats Vorbote einer neuen Welle? Oder passiert inzwischen in dieser Stadt sowieso alles gleichzeitig und ist eh egal? Bei durchschnittlich 1.200 Veranstaltungsangeboten pro Tag wär das auch kein Wunder. Borkowsky: WOMEX ist mehr ein globales als ein lokales Thema, auch wenn es in Berlin als Endpunkt einer anderen Geschichte gestartet ist, nämlich des ersten Versuchs, eine Musikmesse in Deutschland zu etablieren: die Berlin Independence Days (BID)16, die später im Konkurrenzkampf mit der Popkomm17 untergingen. Die Popkomm war ein NRW-Gorny-Projekt und ganz anders finanziert und gefördert, wohingegen das Thema in Berlin nicht ernst genommen wurde. Die Mittlerweile sehr angesagt: BalkanBeats in Berlin 13 Das Internationale Institut für traditionelle Musik (IITM) wurde 1963 mit der Intention gegründet, die vielfältigen Musikkulturen auf der ganzen Welt zu dokumentieren. Zu den Gründern zählten Willy Brandt, der indische Sitarspieler und Komponist Ravi Shankar sowie der Geiger Sir Yehudi Menuhin. Das in Berlin Grunewald gelegene Institut fungierte bis zu seiner Schließung im Jahr 1996 als Veranstalter von Musikfestivals, Produzent von Tonträgern, Herausgeber von thematischen Büchern und nicht zuletzt als Organisationsinstanz wissenschaftlicher Symposien. 14 Das Metamusik-Festival fand insgesamt dreimal statt: 1974, 1976 und 1978. Die Leitung hatte jeweils Walter Bachauer, und zentraler Spielort war die Neue Nationalgalerie. Der Schwerpunkt lag in der interdisziplinären Verbindung von Weltmusik, europäischer und amerikanischer Avantgarde, Rock und Pop. Hinzu kam die Verbindung von Musik mit visuellen und darstellenden Künsten. (Siehe dazu auch Berliner Festspiele 2000, S. 45, 48 und 62). 15 Das Festival des politischen Liedes war eine der größten Musikveranstaltungen der ehem. DDR, die vom Oktoberklub begründet wurde und von 1970–1990 jährlich als offizielle Veranstaltung der Jugendorganisation FDJ in Ostberlin stattfand. Als Nachfolge-Festivals gelten das ZwischenWelt Festival (1991–1994) und seit 2001 das Festival Musik und Politik. [http://www.musikundpolitik.de, 18.07.2013]. 16 Die Berlin Independence Days (BID) war eine von dem Journalisten Wolfgang Doebeling initiierte Berliner Musikmesse für unabhängige Musikproduzenten, die von Konzerten begleitet wurde. Die Messe fand von 1988–1993 jährlich statt. 17 Die Popkomm ist eine internationale Fachmesse für Musik und Unterhaltung, die unter diesem Namen erstmals 1989 in Düsseldorf stattfand, in den Jahren 1990–2002 in Köln veranstaltet wurde und 2003 nach Berlin zog. Seit 2010 ist die Popkomm Teil der Berlin Music Week. [http://www. popkomm.com, 04.09.2013].
Musik vom Rest der Welt
Zeiten haben sich geändert. Damals zum Ende des alten Westberlins und Anfang des neuen Deutschlands war die Musik, überhaupt das Kreative kein wirtschaftliches Thema. Jetzt aber. Außer den Kreativ-, Touri- und Politik-Industrien geht ja nicht viel in der Stadt. Als sich parallel zur dynamischen »Wir sind wieder Hauptstadt«-Periode auch der Spielraum für die Weltmusik vergrößerte, wurden die World Music Days 1990 als neue Abteilung der BID aus der Taufe gehoben. Mit der sind wir nach der letzten Ausgabe der BID in die Rettungsboote gegangen, als uns klar war, dass unser Mutterschiff keine Überlebenschance hat. Unter allgemeinem Gelächter der Berliner Szene und auch unter einer bescheidenen internationalen Wahrnehmung haben wir 1994 die WOMEX gestartet. Uns wurde prophezeit, dass wir das Kindbett nicht überleben, aber es hat sich zu einem sehr gesunden Baby entwickelt, bei der sicherlich das Playmobil jener Jahre in Berlin eine große Rolle spielte. Es wird nach wie vor in Berlin gemacht, ist aber zu einem europäischen Wanderzirkus geworden, quasi unser Weg Europa zu erfahren. Wir sehen uns als Teil des Kreativlaboratoriums Berlin, gehen aber woanders hin, um in die unterschiedlichsten State-ofthe-art-Produktionen einzutauchen. Wir setzen jeweils neue Schlaglichter auf regionale Szenen, das Ganze mit einer wesentlich professionelleren Poster BalkanBeats Platt form für Macher, die sich auf die Überschrift Weltmusik beziehen, zumindest soweit es um die erste Generation geht. Inzwischen sind es über 2.500 Macher aus fast 100 Ländern. Dabei wird die Pioniergeneration der achtziger Jahre immer mehr zu einer Minderheit zugunsten einer neuen Generation, für die wiederum der Begriff Weltmusik nur noch wenig Bedeutung hat. WOMEX als Nischen-Messe funktioniert bestens für Projekte jenseits des musikalischen Mainstreams, für die man internationale Partner sucht und neue Projekte entwickeln kann. Es hat auch einen ganz wichtigen Batteriestatus für die Leute, die da hinkommen. Die agieren häufig in ihrer eigenen, direkten Umgebung relativ isoliert, aber genau für die ist es dann enorm wichtig, mit den anderen 2.500 Verrückten einmal im Jahr zusammenzukommen und sich daran zu erinnern, dass das, was sie tun, Sinn macht. Auch wenn wir jenseits von Berlin unsere Kreise ziehen, schaffen wir hier nicht nur Arbeitsplätze, Steuern, Umsätze, sondern produzieren auch internationalen Status und Image für die
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Mutterstadt, denn unsere Piranha18-Schwarmaktivitäten werden ja nach wie vor als Berliner Brand wahrgenommen. Birke: Aus einer Dynamik entstand ein Trend, zumindest in Berlin, der in etwas anderem mündete. Ich würde nicht sagen, dass er bereits beendet ist, insofern scheint dem immer noch eine Motorfunktion inne zu wohnen. Gibt es nach wie vor ein großes Interesse an einem Markt für Events, die unter der Flagge Welt musik segeln? Wie ist die Arbeitsmarktsituation, ist es wirtschaftlich relevant? Oder hat es mehr mit Idealismus, Neugier und allgemeiner Weltoffenheit zu tun? Was ist planbar? Borkowsky: Planbarkeit? Ich gehöre nicht zu der Abteilung die nur für große Pläne steht, sondern ich halte es da eher mit Brecht: »Ja; mach nur einen Plan | sei nur ein großes Licht! | Und mach dann noch ’nen zweiten Plan | gehn tun sie beide nicht.«19 Uns geht es darum, Sachen zu versuchen. Manche funktionieren, manche nicht. Gott sei Dank bleibt man meist mit den Sachen in Erinnerung die funktionieren. Die anderen hat niemand mitbekommen. Es gibt natürlich Veränderungen der Form, irgendwann fängt sich alles an zu etablieren. Und wenn etwas irgendwann etabliert ist, verhärten sich Strukturen, verknorpeln – siehe Jazz in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg – ganz zu schweigen von der ewigen Hegemonie der angloamerikanischen Popmusik. Auch Weltmusik hat mit dem Ballast seiner kurzen Vergangenheit zu kämpfen und die erreichten Strukturen und Organisationsformen sind nicht unbedingt die Dynamos heutzutage. Die finden sich aber auf anderen Ebenen. Einerseits die Globalisierung: Als wir Anfang der achtziger Jahre an den Start gingen, gab es kein Internet, keine E-Mails, kein Mobiletelefon. Fax war das ultramodernste. All diese digitalen Hilfsmittel, die heute selbstverständlich sind und auch viele Krisen hervorrufen, waren noch nicht vorhanden. In den letzten 30 Jahren ging die enorme Dynamik der Globalisierung mit einer Revolution der Produktivkräfte einher, die auch auf die Produktionsverhältnisse durchschlägt. Andererseits: Wenn man es lokal sieht, ist vielleicht nicht die Weltmusikszene an sich gewachsen, aber die Gesamtzahl der Kreativplayer die im Spannungsverhältnis Eingeborene und Ausländer agieren. Birke: Und was bedeutet das? Borkowsky: Herkömmlich definiert sich jeder über sein eigenes, persönliches Identitätspatchwork: Also ich esse Falafel, ich bin Buddhist, ich trage indianischen Schmuck und Flamencostiefel, ich schaue koreanische Gangsterfilme, ich bereise die Sahara, ich höre Musik vom Amazonas, von den interkulturellen Vorlieben in der Abteilung »Sex & Drugs« ganz zu schweigen. Es gibt natürlich Vorläufer dieser Kulturrevolution wie die Beatniks in den fünfziger und die Hippies in den sechziger Jahren, aber seitdem ist das ja zu einem Tsunami angewachsen. Als Nach18 Das Weltmusik-Label Piranha wurde 1987 von Christoph Borkowsky gegründet und hat seinen Sitz im Bergmannkiez in Berlin-Kreuzberg. [http://www.piranha.de, 18.07.2013]. 19 Zitat aus »Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens« (Strophe 2) aus der Dreigroschenoper (1928) von Bertolt Brecht.
Musik vom Rest der Welt
kriegskind habe ich diverse Phasen mitbekommen. Auf der einen Seite denk ich oftmals nur: Wow, was ist hier passiert? Auf der anderen Seite fühlt man sich natürlich immer auch ein bisschen wie der Zauberlehrling aus dem Faust. Was immer man machte oder wollte, ob erfolgreich oder nicht, im Ergebnis ist es ist nicht unbedingt das, was daraus werden sollte: dass heutzutage jeder mit den Billigfliegern überall hin kann, dass die Toiletten im Bundestag kokainbelastet sind20, dass der Amazonas von Touristen befahren wird. Als ich anfing, musste ich noch losreisen um herauszufinden, was anderswo an Musik angesagt ist und was davon auch international überspringen könnte. Heutzutage holst du das alles aus dem Internet. Allein YouTube ist ein riesiges Weltmusikarchiv. Das wird strukturell gar nicht so wahrgenommen. Birke: Stichwort Zauberlehrling, dem das alles aus dem Ruder läuft. Gibt es eine Krise des Weltmusikmarktes oder ist es schon immer so gewesen, auf kleinteiligen Schollen zu agieren? Borkowsky: Beides. Also unser unternehmerischer Ansatz ist ja nicht, den Profit zu maximieren, sondern eine ökonomische Basis herzustellen für das, was unsere Vision ist und wir gerne tun. Aus dieser Perspektive kann man natürlich zurückfragen: Welche Krise? Die Krise kennen wir seit dem Anfang, seit wir uns in dem Bereich bewegen, diesbezüglich ist das nichts Neues auf unserer kleinen Eisscholle. Auf der höheren Ebene gibt es natürlich eine allgemeine Krise. Wie gesagt, die Produktivkräfte haben solche Sprünge gemacht in den letzten 25 Jahren, dass die Produktionsverhältnisse durcheinander gewürfelt wurden. Das betrifft nicht nur die Musikindustrie, das betrifft ebenso die Film- und Buchindustrie: Kodak21, Newsweek22 , die Liste der Gefallenen ist endlos. Ganze Börsenkurse werden von Computern gemacht und nicht mehr von menschlichen Manipulatoren, und wenn das System versagt, dann geht es inzwischen gleich milliardenweise schief. Alles, was mit Internet und Digitalisierung zu tun hat, ist einfach Klasse für die nächste Krise. Bei der digitalen Revolution sitzen lustigerweise alle im gleichen Boot, ob nun Major oder Indie. Es gibt Riesenunterschiede, weil wir nicht profitorientiert operieren und auch bei roten Zahlen an unseren Zielen festhalten. Manchmal gehts hoch, manchmal runter. Die großen Player können damit überhaupt nichts anfangen. Das sind natürlich wesentliche Unterschiede, solange wir an unsere Ziele glauben. Wir müssen uns immer wieder bewegen, wir müssen immer wieder überlegen, ob und 20 Am 31. Oktober 2000 hatte das Magazin Akte 2000 des privaten Fernsehsenders Sat.1 berichtet, Spuren der Droge Kokain auf Toiletten des Berliner Reichstagsgebäudes und des Berliner Abgeordnetenhauses nachgewiesen zu haben. 21 Die 1892 gegründete Eastman Kodak Company mit Sitz in Rochester / New York stellte am 19. Januar 2012 einen Insolvenzantrag. Das Unternehmen ist noch heute für seine fotografischen Produkte bekannt. 22 Newsweek war ein wöchentlich erscheinendes amerikanisches Nachrichtenmagazin mit Hauptsitz in New York, dessen letzte Printausgabe Ende 2012 erschien. Seit Januar 2013 erscheint das Magazin nur noch online. [http://www.thedailybeast.com/newsweek.html, 18.07.2013].
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wie es weitergeht, ob das Modell des letzten Jahres noch das richtige ist. Sicherlich macht es Sinn, flexiblere Strukturen zu finden, ein anderes Verhältnis der Plattform und der Player zueinander zu finden, nicht solche großen Einheiten zu haben, wie bei traditionellen Firmenstrukturen, wo Leute ausschließlich fest angestellt sind, obwohl dann gleich Staat und Gewerkschaft auf die Barrikaden gehen. Das muss man alles immer neu reflektieren und anpassen. Aber das ist natürlich eine ganz andere Krise als die der multinationalen großen Strukturen. Von denen sind im Musiksektor auch nicht mehr viel übrig geblieben. Als wir anfingen waren es noch neun dieser großen Firmen, inzwischen sind es noch vier: Sony, Universal, EMI23 und Warner. Die haben natürlich andere Probleme. Birke: Da sich alles bewegt, ist also gar nicht davon auszugehen, dass seitens der Akteure beziehungsweise der trägen politischen Apparate Probleme gelöst werden können? Borkowsky: Natürlich müssen Probleme gelöst werden, anderseits gibt es nicht genug Akteure, die bereit sind sich um Gemeinschaftsaufgaben zu kümmern: kein Geld, keine Zeit, teils Realität, teils Ausrede. Wenn man aber internationalen Austausch will, funktioniert das anders als bei einem kommerziellen Weltmusik-Act, wie Shakira oder Rihanna, die sich über die Abendkasse finanzieren oder über globale Sponsoren, wie Adidas oder Coca Cola. Da muss anders gefördert werden, und das wird nur passieren, wenn man sich für so was gemeinsam und wiederholt engagiert. Austausch ist ja allein schon deshalb wichtig, weil Musiker immer gute Botschafter sind, und zwar in beide Richtungen. Wir haben beispielsweise das Thema »Festung Europa«, und das Mittelmeer ist die neue Grenze. Inzwischen haben an dieser Grenze mehr Leute ihr Leben gelassen, als hier vor Ort in den Jahren der Berliner Mauer. Wie gesagt: Musiker sind gute Beobachter. Die, die hier auf treten, können uns erzählen, wie es einem so geht im globalen Süden, und umgekehrt jene, die wieder nach Hause gehen, können mit zurücknehmen, was sie auf unserer Seite der Mauer gesehen haben: dass die Zukunft einer arbeitslosen Jugend Afrikas nicht in Europa liegt, sondern dass sie sich zu Hause darum kümmern müssen, damit es dort nach oben geht und sie nicht resignieren. Schwieriger als afrikanische sind zum Beispiel chinesische Künstler hier unter die Leute zu bringen. Das hat mir Hörgewohnheiten zu tun, und trotzdem brauchen wir asiatische Musiker, die uns helfen können, zwischen den Kulturen zu vermitteln. In diesem Fällen ist nicht nur eine Förderung der enormen Reisekosten nötig, sondern eine ganz andere Art der Anschubförderung, für Marketing etc. Visa sind ein weiteres Problem, denn immer wieder platzen Tourneen, weil Künstlervisa genauso behandelt werden wie Visa von anderen Leuten: zu spät und zu teuer. Aber auf dieser Grundlage können finanziell schwach ausgerüstete Macher, die Bands für 23 Im November 2011 übernahm Universal Music große Teile des angeschlagenen Konkurrenten EMI. Ein knappes Jahr später genehmigte die EU-Kommission diese Übernahme mit der Auflage, unter anderem das Plattenlabel EMI-Parlophone und andere weltweite Vermögenswerte zu verkaufen, um zu verhindern, dass Universal Music zu mächtig wird. (Vgl. Schmiegel 2012).
Musik vom Rest der Welt
Tourneen rüber holen wollen, nicht operieren. Es gibt eine französische Initiative für ein europäisches Künstlervisum, das wäre etwas, das auch in Deutschland tragfähig werden könnte, wenn nur die Player genügend Kapazitäten und Kohle hätten. Für all das sind genauso öffentliche Mittel notwendig, wie für die Opern oder für andere Spielarten der westlichen Hochkultur. Bei Piranha sind wir das von Anfang mit der Gespreizten-Beine-Methode angegangen; ein Bein im öffentlichen Sektor und eins im privaten Markt, gepfeffert mit dem Anspruch der eigenen Unabhängigkeit. Wir wollten uns weder vom Markt noch von öffentlichen Fördermitteln einseitig abhängig machen. Wenn einer der beiden Aspekte dominiert, führt das zur Sklaverei. Stattdessen sind wir zwischen den beiden Polen balanciert und sind dadurch mit der Zeit zu einer Gesellschaft von über zwei Dutzend Experten gewachsen. Nur im privaten Markt tätig zu sein, hätte für die Inhalte schwerste Folgen, gleiches gilt aber auch für die Abhängigkeit vom »öffentlichen Markt«. Man muss nicht das eine über das andere stellen, man muss nicht die eine Seite abwerten im Sinne von: Ach, ihr seid eine GmbH, dann seid ihr kommerziell. Und wenn ihr ein gemeinnütziger Verein seid, dann seid ihr die Guten. Das haben wir ja beim Berliner Treberhilfe-Skandal24 gesehen, wie man mit gemeinnützigen Vereinsstrukturen in die eigene Tasche arbeiten kann. Wir haben uns für privatwirtschaftliche Formen, wie die GmbH oder die kleine AG entschieden, weil es uns überraschenderweise die größeren Freiheiten zum Defizit lässt, sofern wir nicht zu lange in die roten Zahlen gehen und dann vom Finanzamt auf Hobby runter gestuft werden. Aus unserer Sicht müssen nur die unterschiedlichen Arten von Einnahmen die Aktion ermöglichen; Profit ist – wenn er denn passiert – eine willkommene Zugabe. Birke: Wo siehst du in den nächsten 15 Jahren Potenziale und Hindernisse? Was wäre zu tun, was zu lassen? Borkowsky: Politisch ist es notwendig, sich besser zu vernetzen, Interessen zu vertreten und Druck zu machen. Da haben wir im Diskurs zwischen Musik, Kreativwirtschaft und IT einiges nachzuholen. Das gemeinsame Auftreten ist relevant, und insbesondere dort, wo aus der Aussensicht nach wie vor die Unterscheidung zwischen Live- und Recording-Sektor gemacht wird, oder zwischen Kunst und Kasse. Da können wir einiges davon lernen, wie es traditionellen Industrien in unserer Nachbarschaft machen und wie sie ihre Interessen vertreten. Es geht praktisch nur über gemeinsame Netzwerke auf lokaler, Bundes- und europäischer Ebene, wobei es immer wieder andere Druckmaschinen braucht, um die unterschiedliche Bewertung der historisch gewachsenen Musikgenres zu beenden. Ich liebe die Oper, ich liebe die Philharmoniker, aber ich akzeptiere keinen Qualitätsunterschied zur kreativen Elektro-Szene dieser Stadt. Das darf nicht unterschiedlich bewertet werden, weder von der GEMA noch im Rahmen der öffentlichen Förderung. Es muss 24 Die Treberhilfe Berlin war ein 1988 gegründerter Verein zur Beratung und aktiven Unterstützung obdachloser junger Menschen. Im Jahr 2009 begann eine öffentliche und kontroverse Diskussion über das unanständige Geschäftsgebahren des Vereins, insbesondere seines damaligen Geschäftsführers Harald Ehlert. Am 16. November 2011 meldete die Treberhilfe Insolvenz an.
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da eine Gleichberechtigung geschaffen werden, So wie es im Filmbereich ist. Da gibt es auch keinen Unterschied zwischen: Ich mache jetzt einen neo-klassischen Stummfilm, oder: Ich mache einen 3D-Animationsfilm. Das sind die Sachen, die anstehen. Das Gespräch führte Sören Birke im Juli 2011.
Von Goldeseln, Residenzen und Kamingesprächen Das Musicboard Berlin
Katja Lucker
Birke: Seit Januar 2013 ist das Musicboard Berlin1 am Start. Du bist die Musikbeauftragte der Stadt, die Geschäftsführerin dieses Musicboards. Was fehlt aus deiner Sicht in punkto Unterstützung für die Entwicklung von Popmusik in Berlin, Deutschland und Europa? Lucker: Wir haben bisher keine Förderung in Form von Residenzen oder Stipendien. Für viele andere Spielarten der Kulturförderung gibt es die: für Literaten2, Bildende Künstler – die Villa Massimo3 oder die Villa Aurora4 und andere. So etwas haben wir für den Popkulturbereich gar nicht. In der Senatskanzlei für Kulturelle Angelegenheiten gibt es auch nur Residenzen für andere Bereiche. Das ist etwas, das ich gern erarbeiten möchte, gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe in der auch Künstler und Künstlerinnen sind. Mit einigen habe ich schon gesprochen – Pantha du Prince, Gudrun Gut. Wie können wir Künstler unterstützen, die im aktiven Schaffensprozess sind? Wir möchten ermöglichen, dass sie eine Zeit lang in Ruhe an ihren Sachen arbeiten können. Das wäre auch eine Form von Anerkennung der Popkultur. Wenn man die Villa Massimo erwähnt, bemerkt man, dass darüber noch nie richtig nachgedacht wurde. Das fehlt in Berlin, in Deutschland. In Europa gibt es das. Die Franzosen machen uns das vor. Da gibt es Häuser in Marokko oder Tunesien und sie schicken ihre Künstler da ganz gezielt hin, die dort dann auch arbeiten. Dafür suche 1 Das Musicboard Berlin ist eine zum 1. Januar 2013 gegründete Förderinstitution zur gezielten lokalen Unterstützung und Förderung der Popmusikszene Berlins unter der Leitung der Musikbeauftragten Katja Lucker. [http://www.berlin.de/musicboard, 18.07.2013]. 2 Wenn hier in der männlichen Form von Akteuren gesprochen wird, so sind natürlich immer auch die weiblichen Akteure inbegriffen. 3 Villa Massimo ist die Kurzform für Deutsche Akademie Rom Villa Massimo. Bei der 1910–1914 erbauten Villa handelt es sich um eine Kultureinrichtung Deutschlands mit Sitz in Rom. Stipendien für einen einjährigen Studienaufenthalt werden an Künstler in den Sparten: Bildende Kunst, Literatur, Musik (Komposition) und Architektur vergeben. [http://www.villamassimo.de, 04.08.2013]. 4 Die Villa Aurora wurde 1927 in Los Angeles erbaut. Seit 1995 dient sie als Künstler residenz. Mit dem Stipendiatenprogramm fördert der Verein den Kulturaustausch mit den USA in den Bereichen Literatur, Komposition, Bildende Kunst und Film. [http://www.villa-aurora.org, 04.08.2013].
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ich Partner und Geld. Das Musicboard würde mitfinanzieren, aber da brauchen wir noch weitere Finanziers. Birke: Das klingt, als gehe es auch um gesellschaftliche, wirtschaftliche oder kultur politische Anerkennung des Künstlers? Lucker: Ja, absolut. Ich verspreche mir vom Musicboard, dass die gesellschaftliche Anerkennung der Popkultur dahin kommt, wo sie hingehört: ganz nach oben. Was macht Popkultur? Sie versucht auch das Alltägliche, das Nicht-Operettenhafte, also Stilisierte, in die Kunst zu bringen. Manche Leute fragen ja noch immer: Warum soll denn jetzt Subkultur gefördert werden? Ich finde nicht, dass Popkultur Subkultur ist. Ich kann mit dem Begriff nichts mehr anfangen. Und andere meinen: Popkultur, das ist doch Lady Gaga, Madonna, die Stones, Robbie Williams und Rammstein. Wozu braucht das eine Förderung? Das Thema scheint immer noch zu polarisieren! Viele meinen mit Subkultur eine eher alternative, fast schon sich ehrenamtlich engagierende Kulturform, oder eben die, die es ganz nach oben geschafft haben. Dazwischen wird vieles nicht wahrgenommen. Wir haben zwar Spex5 und die Feuilletons, aber den Wert der Popkultur sieht man natürlich auch im Vergleich: Hochkulturförderung versus Popmusikförderung. Birke: Du bewegst dich im kultur- und wirtschaftspolitischen Raum und musst Leute überzeugen: Mit welchen Argumenten arbeitest Du? Lucker: Man muss zeigen, was Pop bei Menschen bewegt, was es gibt. Die sogenannte Popkultur hat keine Lobby entwickelt, sie hat sich eher aus einer PunkEcke herausbewegt. Aber wer saß an den Geldtöpfen? Das sind keine Leute gewesen, die Punkmusik hörten oder sich mit diesen Themen beschäftigten. Jetzt haben sich die Dinge etwas verändert. Wir haben Politiker und Entscheider, die das besser verstehen. In einer Metropole wie Berlin ist Popkultur an jeder Ecke. Deswegen kann man gut argumentieren. Wir sind aber auch eine Ausnahme. Wir können Berlin, Hamburg und Köln nicht mit Anklam, Rostock oder Hannover vergleichen. Wichtig ist Anerkennung. Wenn jetzt wirklich Gesetze kommen, die in Richtung Club-Bestandsschutz gehen, ist das eine richtige Richtung. Nicht der Club muss automatisch weichen, sondern, der Investor, der ein Haus baut, muss für Schallschutzmaßnahmen selbst zahlen. Popkultur ist immer auch noch eine Jugendbewegung und hat eine große identitätsstiftende Kraft. Das muss man wertschätzen. Warum kommen so viele tolle Bands aus Skandinavien? Weil es dort viel einfachere Zugänge für Jugendliche und Kinder gibt, ein Instrument zu lernen. »Jedem Kind ein Instrument«6 ist eine gute Sache, ich hoffe das Programm erzielt die gewünschten 5
Vgl. den Beitrag von Christoph Jacke in diesem Buch (S. 201 ff.).
6 Das Programm »Jedem Kind ein Instrument« (JeKi) startete im Schuljahr 2007 / 08 im Ruhrgebiet. Grundschulkinder lernen in einem von Musikschul- und Grundschullehrkräften gemeinsam gestalteten Tandemunterricht eine Vielzahl an Instrumenten kennen und haben die Möglichkeit, ein Instrument für den weiteren Unterricht auszuwählen. Seit dem Schuljahr 2008/09 gibt es JeKi auch in 70 hessischen Grundschulen, seit dem Schuljahr 2009 /10 in Hamburg sowie in einigen sächsischen Grundschulen. Ähnliche Projekte sind für andere Bundesländer wie zum Beispiel BadenWürttemberg, Bayern, Berlin und Thüringen geplant. [http://www.jedemkind.de, 18.07.2013].
Von Goldeseln, Residenzen und Kamingesprächen
Erfolge und wird flächendeckend eingesetzt. Tatsächlich sollte jedes Kind die Möglichkeit haben, ein Instrument seiner Wahl zu lernen und zwar unabhängig vom Einkommen der Eltern. Skandinavische Länder machen uns das vor. Birke: Würdest du sagen, dass der Stellenwert von populärer Musik, von Popkultur in der Politik neu bestimmt worden ist? Oder ist es eher noch alibimäßig. Lucker: Woher stammte die Idee des Musicboards? Aus der Szene selbst. Die Politik griff das auf: Okay, wir probieren das. Drei Monate bin ich jetzt als Musikbeauftragte des Landes Berlin im Amt, und ich spreche mit sehr vielen Menschen unter anderem aus der politischen Landschaft natürlich: Landesregierung, Opposition, Bundespolitiker. Das Interesse und die Bereitschaft, Dinge zu manifestieren, sind sehr groß. Meine Aufgabe ist auch, diese Entwicklung kritisch zu beobachten und zu hinterfragen. Am Ende müssen die Künstler, Clubbetreiber, Veranstalter und Labels sagen, ob sie davon etwas gemerkt haben.
Tape Club7
Birke: Was ist Deine Vision von der Musikbranche in Berlin in drei oder fünf Jahren? Lucker: Brücken bauen statt Gräben aufzureißen. Ich sehe das gar nicht so kritisch. Es gab ja auch Leute, die sagten: Oh mein Gott, was für ein Job, würde ich nicht machen; immer Leute zusammenzubringen, die nichts miteinander zu tun haben wollen. Meine Erfahrung ist, dass sowohl ein Dieter Gorny als auch ein Jens Balzer, ein Christoph Gurk, ein Christian Morin, ein Sören Birke und ein VUT8 durchaus 7 Der Tape Club war in einer ehemaligen Lagerhalle im Berliner Bezirk Mitte zu finden (Nähe »Hauptbahnhof«). Er wurde von März 2007 bis zum Frühjahr 2012 von Jonathan Margulies betrieben. Das Tape war nicht nur ein Club für House und Techno, sondern bot auch Raum für Ausstellungen. [http://www.tapeberlin.de, 11.08.2013]. 8
Vgl. das Interview mit Eva Kiltz in diesem Buch (S. 247 ff.).
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dasselbe wollen: Popmusik nach vorne bringen. Es ist vor allem eine Frage nach dem Wie. Hier gilt es, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Popkulturbranche gut arbeiten kann, sprich: Proberäume, Studios, Live-Spielstätten, Finanzierungen für Künstlergastspiele, zum Beispiel von Nachwuchs-Bands. Im Moment geht es erst mal nur um Berlin, vielleicht hat es Modellcharakter für andere Städte. Wir müssen Formate entwickeln, die wir international kombinieren können. Ich bin und werde keine Reisefunktionärin, sondern sehe meine Aufgabe hier in Berlin. Ich möchte internationale Festivalmachern, Journalisten und Künstlern lieber zu uns in die Stadt holen, die dann über die Berliner Poplandschaft in ihren Ländern reporten können. Außerdem haben wir die Kamingespräche9, da geht es um den Popdiskurs. Ich möchte gern Themenabende mit Gästen veranstalten: Was benötigen denn Clubs und Live-Spielstätten in den nächsten Jahren eigentlich? Was sind Themen, die gerade in der Stadt diskutiert werden? Daraus könnten dann tatsächlich auch Themen für Programme in der Musicboard-Förderung entstehen. Vorstellbar ist das in verschiedenen Bereichen, zum Beispiel: Techno, Singer-Songwritertum und vieles mehr. Birke: Das Musicboard wird eine gGmbH sein, die durch den Gesellschafter Land Berlin definiert und bestimmt wird. Gibt es aus dieser Startphase heraus noch einmal eine strukturelle Idee, wie sich das Musicboard weiterentwickeln soll? Ist es eher als klassisches Förderinstrument gedacht, bei dem Geld für eine gute Idee fließt? Oder wird es eher wie das Medienboard10, wo es um Wirtschaftsförderung, Investitionen, rückzahlbare Darlehen geht? Lucker: Rückzahlbare Darlehen finde ich auch nicht schlecht, aber man darf nicht vergessen, dass das beim Medienboard nur die echten Stars á la Til Schweiger machen. Wer soll das so machen? Paul van Dyk würde mir jetzt einfallen, der kann vielleicht mal Geld zurückzahlen. Beatsteaks, Die Ärzte oder Rammstein muss ich nicht fördern. Anschubfinanzierung macht Sinn. Ich rede mit Leuten und Unternehmen, die im Musikbusiness schon auf der anderen Seite, also gut im Geschäft sind. Die möchte ich gern langfristig einbinden. Egal mit wem du sprichst, auch bei denen, die ein bisschen Goldesel sein könnten, geht Engagement nur über die Leidenschaft zur Musik. Anders kommst du da nicht weiter. Diese potenten Leute in Förderungen einzubinden, das ist ein lohnendes Ziel. Birke: Du siehst die Chance, eine Plattform zu bauen, um Künstlerinteressen in die Musik wirtschaft und die Gesellschaft zu injizieren? Es geht also um Verknüpfungen? 9 Das Kamingespräch des Musicboards Berlin versteht sich als Diskussionsplattform zu aktuellen Themen der Popkultur. Am 27.06.13 fand ein erstes Kamingespräch statt, zu dem das Musicboard 30 nationale und internationale Experten, Künstler und kreative Popkulturdenker aus Berlin geladen hatte. [http://www.berlin.de/musicboard/aktuelles/presse/pressemitteilung.23958.php, 04.08.2013]. 10 Das Medienboard Berlin-Brandenburg ist ein staatliches Unternehmen für Filmförderung und Standortmarketing der Hauptstadtregion, das am 1. Januar 2004 mit dem Zusammenschluss von Filmboard und Medienbüro beider Länder gegründet wurde. [www.medienboard.de, 21.07.2013].
Von Goldeseln, Residenzen und Kamingesprächen
Lucker: Langfristig gesehen hoffe ich natürlich, dass das Musicboard irgendwann mehr Geld hat und vielleicht so dasteht wie das Medienboard. Wenn es den Künstlern gut geht, geht es den anderen auch gut. Birke: Und die Politik? Ist es für die eher Wirtschafts- oder klassische Künstlerund Kulturförderung? Lucker: Es geht um den Kontext, und alle sind sich einig, dass es bei dem Musicboard um eine Querschnittsaufgabe geht. Wir haben dazu erstmals einen Workshop mit verschiedenen Verwaltungsebenen organisiert: mit der Senatskanzlei Kulturelle Angelegenheiten, Senatsverwaltung Wirtschaft, Technologie und Frauen, Senatskanzlei und Musicboard. Das ist die Basis einer guten Kooperation, auch dass man weiß, wer die Ansprechpartner sind. Es gibt eine Abteilung, die sich mit strukturellen Prozessen beschäftigt; das ist dann zum Beispiel bei Nadja Clarus11 abzuklären. Sie sagt aber auch: Künstlerförderung ist nicht mein Thema, sondern Infrastruktur, Messen, Wirtschaftsförderung. Das Musicboard sollte den Überblick haben und die Leute dahin vermitteln, wo sie am besten aufgehoben sind. Birke: Was heißt denn Popmusik? In deiner Bezeichnung steht ja Rock und Pop drin, dahinter scheint auch der Begriff Popkultur auf, den wir mitdenken müssen. Habt ihr Euch begrifflich geeinigt, festgelegt? Lucker: Für uns geht es um alle Genres der populären Musik. Birke: Klassik gehört nicht dazu? Lucker: Nein, Klassik, Neue Musik und Jazz gehören im eigentlichen Sinne nicht in unseren Bereich, aber andererseits alles Vernetzende, Verbindende, Neue Musik mit elektronischer Musik, Neuschöpfungen. Meine Erfahrung mit einzelnen politischen Akteuren bestätigt, dass der Begriff Pop noch nicht sehr ausgeprägt oder definiert ist. Ich muss ihn immer wieder erklären. Bildende Künstler sehen das manchmal auch ganz anders. Das ist nicht so leicht. Aber bedarf es einer Festsetzung? Birke: Ist Pop Avantgarde oder »nur« eine kulturelle Praxis? Darf so etwas in einen Förderradius kommen? Im Interview mit der Abendschau12 war das ein Punkt, als der Moderator dich fragte: »Kunst? Kultur?« – und du sagtest: »Es ist eigentlich fast alles Kunst und Kultur.« Was ist dann der Rest? Kommerzielle Diskotheken? Was wird unterstützt? Lucker: Ich war zum Beispiel traurig, als ich hörte, dass Rainer Lakomy gestorben ist. Der ist für mich auch Popkultur. Mein Begriff ist da sehr weit. Es geht ja nicht um Strenge. Natürlich gibt es einen herkömmlichen Diskothekenbetrieb, der nicht sehr innovativ ist, bei dem es um kommerzielles Musikabspielen und Getränkeverkauf geht. Wenn aber ein Club eine Strategie fährt, immer ein ganz extravagantes Line-Up und internationale DJs zu holen, die auch remixen und performen, dann halte ich das für förderwürdig. 11 Nadja Clarus ist die derzeitige Referentin für Musikwirtschaft bei der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung des Landes Berlin. 12
Die Abendschau ist ein regionales Nachrichtenmagazin des Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb).
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Birke: Du musst Entscheidungen treffen. Wie arbeitest du konkret? Wie aktivierst Du Profis, Konzepte einzureichen. Wie geht das Auffordern, Suchen, Ermutigen? Lucker: Animieren und initiieren – das mache ich ja schon täglich. Wir legen Programme zu Themen auf, die Strukturen fördern sollen. Das kann man jedes Jahr neu machen und dann kann die Szene auch sagen: Das finden wir total bekloppt oder prima. Dazu habe ich ja auch meinen tollen Beirat13, der mir das spiegelt. Mit dem erweiterten Beirat sind das 17 Menschen, die mir Feedback geben. Ich merke schon seit ein paar Wochen, dass da unglaublich viel eintrudelt und dass wir uns viel beraten müssen, weil Dinge ja auch missverständlich sein können. Dafür sitzen wir hier, um die zahlreichen Anfragen zu moderieren, zu beantworten. Die Arbeit an sich wird dann tatsächlich auch so sein, dass die Dinge reinkommen, wir sichten, prüfen, arbeiten eventuell nach, besprechen mit dem Beirat und schlagen der Senatskanzlei Projekte vor. Diese ganze Form der Diskussion und des Diskurses, das ist etwas, was ich gern mit dem Musicboard und mit dem Beirat in die Welt setzen möchte. Birke: Call for Concepts14 läuft jetzt gerade. Was wird man für 2013 erwarten können? Was sind jetzt die nächsten Schritte? Lucker: Erste Sachen trudeln jetzt schon ein. Was ich großartig finde: Leute, die zum Teil noch nie miteinander zu tun hatten, auch Konkurrenten, vernetzen sich miteinander. Mitte des Jahres werden wir viel schlauer sein. Es gibt verschiedene Formate der Call for Concepts. Da gibts zum Beispiel das Thema: »Karrieresprungbrett Berlin«, da geht das meiste Geld rein. Wir haben klassische Projektförderung, Nachwuchsförderung und Vernetzungsprojekte, die es so noch nicht gab. Projekte werden in der Musikwirtschaft, im Sinne von Weiterbildung, Coaching oder Musiker in neuen Plattformen, mit neuen Ideen gefördert. Das andere ist: »Pop im Kiez«. Dahinter steckt die Idee, Konzepte und Maßnahmen abzufragen, die sich mit dem Kiez-Thema beschäftigen: Was benötigen wir für ein gutes Miteinander von Investoren, Clubs und Anwohnern? Da sind kluge Konzepte gefragt. Brauchen wir einen Round Table? Wir haben so etwas in Berlin schon, das Forum StadtSpree15 von Volker Hassemer initiiert. Ist das gut, funktioniert das? Brauchen wir noch 13 Zum Beirat des Musicboards zählen unter anderem: Björn Böhning (Chef der Senatskanzlei), Axel Schulz (Manager Die Ärzte, Hot Action Records), Gudrun Gut (Musikerin und Produzentin), Horst Weiden müller (K7!), Tim Renner (Motor Entertainment und Autor), Stefan Lehmkuhl (Melt! Booking, Festival), Andrea Goetzke (Newthinking, all2gether now), Andreas Krüger (Belius, Moderator Runder Tisch Liegenschaftspolitik), Lutz Leichsenring (Clubcommission Berlin), Olaf Kretzschmar (Berlin Music Commission), Nina Lütjens (Clubcommission Berlin) und Nadja Clarus. [http://www. berlin.de/musicboard/ueber-uns/beirat/artikel.17063.php, 05.09.2013]. 14 In diesem Zusammenhang bezeichnet Call for Concepts Ausschreibungen für innovative Konzepte zur Förderung von Projekten, die den Berliner Musiknachwuchs unterstützen, innerhalb des Musicboards Berlin. Ein erstes Format der Call for Concepts war die Ausschreibung zum Format: »Karrieresprungbrett Berlin« (Einreichungen waren bis 30. April 2013 möglich). [http://www. berlin.de/musicboard/projekte/karrieresprungbrett/artikel.17172.php, 21.07.2013]. 15 Das Forum StadtSpree war ein bereits 2012 geplantes Forum, das über die Stadtenwicklungspolitik insbesondere im Bereich um die Jannowitz- und Schillingbrücke beraten sollte. In drei Forensitzungen (30. Januar, 18. März, 10. Juni 2013) wurden Handlungsmöglichkeiten erörtert, unterschied liche Ideen und Pläne ausgetauscht, diskutiert und abgewogen. [http://www.stadtspree.org, 21.07.2013].
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was anderes? Und was sind die Maßnahmen: Braucht man eher Rechtsbeistände? Diese Themen werden über Aufträge mit einer Festbetragsfinanzierung vergeben. Ebenso die Analyse: Was haben wir eigentlich in der Stadt? Welche Förderung benötigen wir? Ich stelle mir einen Förderguide für Berlin vor, der klar anzeigt, das ist Wirtschaftsverwaltung und bei dem Projekt gehst du in die Brunnenstraße zur Kulturverwaltung. Ebenso hänge ich mich an das Thema Residenzen und Stipendien ran. Birke: Wir sprachen über die Anfänge der Wertschöpfungskette in der Musikwirtschaft, nämlich vom kreativen Teil ausgehend. Wie steht es um den Vertrieb und die Medienarbeit. Gibts dazu neue Ideen? Die Medienlandschaft ist ja teilweise schwierig für die Branche. Lucker: Ich selbst bin die ganze Zeit unterwegs in den Medien. Das hat es wirklich noch nicht gegeben: Ich war gestern zum Beispiel bei Fritz Unsigned16 – live – und ich glaube nicht, dass die Senatskanzlei für Kulturelle Angelegenheiten jemals im Radio saß und erzählt hat: »Leute, stellt Anträge, wir haben da nämlich 300.000 Euro im Topf für Popkultur.« Das sind natürlich alles Sachen, die jetzt laufen. Das betrifft die Arbeit des Musicboards und die Calls for Concepts. Mich haben auch schon Medienleute gefragt, die auch Ideen, zum Beispiel zum Thema
2002 von Hamburg nach Berlin: Deutschland-Sitz der Universal Music Group
16 Fritz Unsigned ist eine Sendung des Radiosenders Fritz vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb), die am 10. Juni 2007 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde. Es werden Songs von Bands und Künstlern gespielt, die noch keinen Plattenvertrag haben (»unsigned«), also noch nicht im Geschäft zu finden sind. Dabei gibt es keine stilistischen Grenzen. [http://www.fritz.de/programm/ unsigned.html, 21.07.2013].
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Vertrieb und Labels haben. Also Input von außen ist gefragt. Wir reden mit allen, mit Kleinen und Großen, wie zum Beispiel Universal17. Birke: Siehst du eine Aufgabe vom Musicboard auch im medienpolitischen Bereich? Lucker: Ja. Popkultur findet im Fernsehen so gut wie gar nicht statt und wenn, dann nachts um halb zwei. Und dann wundern sich alle, dass die Quoten so schlecht sind. Es wird immer gesagt: Popkultur ist Mainstream. Was Mainstream ist und wirklich stattfindet im öffentlich-rechtlichen Programm, siehe Samstag um Viertel nach Acht, ist Schlager: Carmen Nebel, Florian Silbereisen und Helene Fischer. Das bringt Quote, weswegen wahrscheinlich auch Helene Fischer dieses Jahr den Echo moderierte. Offensichtlich ist Popkultur nichts, und dazu könnte man mal einen schönen Workshop machen, was die Massen im Fernsehen um Viertel nach Acht anspricht oder womit man Leute hinterm Ofen hervorlockt. Aber wir bewegen uns mit unseren Themen zum Teil eben auch in Blasen. Fernsehen ist Masse am Ende des Tages. Birke: In Berlin haben sich in den letzten zwanzig Jahren alle Akteure des musikwirtschaftlichen Feldes angesiedelt. Aus Sicht der Netzwerke war es immer ein Sammelsurium von Einzelakteuren. Siehst du eine Funktion des Musicboards, dieses Branchenbewusstsein zu entwickeln? Brauchen wir das? Lucker: Ja, natürlich. Wir können die ganze Arbeit auch nicht nur den Akteuren überlassen, die das schon viele Jahre versuchen wie zum Beispiel Dieter Gorny. Irgendwie braucht es ja auch mal einen Lobbynachwuchs. Der Ansatz, auch von einem Dieter Gorny, stammt aus einer Zeit, in der die Musikindustrie noch etwas komplett Anderes war. Dazwischen hat sich nichts so richtig entwickelt. Die einen sagen: Die Majors sind blöd. Die anderen meinen: Das Urheberrecht ist blöd. Dieses Schwarz-Weiß-Denken will niemand. Aber wir haben keinen eloquenten, guten Nachwuchs herangezüchtet, der unsere Interessen und die der Popleute effizient vertritt. Da wollen wir als Musicboard ran. Wir wollen kein GEMA-Bashing, wir wollen nicht gegen die Majors sein, wir finden nicht, dass das Urheberrecht doof ist. Worum geht es eigentlich? Die Zeit kann man nicht mehr aufhalten. Es muss ein Bewusstsein dafür geben, dass Kreative für das, was sie tun, entlohnt werden. Es ist nicht selbstverständlich, auf Plattformen einfach Kinofilme umsonst zu schauen, die noch nicht einmal im Kino waren. Ich finde es aus meiner tiefsten, inneren Überzeugung heraus nicht gut. Vielleicht, weil ich selbst Kreative war. Die Branche hat sich extrem verändert. Einige arbeiten nach alten Modellen, andere sind ganz schnell mit den neuen Modellen. Das will ich zusammenbringen. Birke: Es wird spannend bleiben, wie wir das alles zusammenkriegen. Das Musicboard hat eine integrierende Funktion. Welche Rolle wird Berlin mit seiner Popkulturwirtschaft in Deutschland und in Europa spielen? Lucker: Die, die wir jetzt schon spielen: In Deutschland ist Berlin auf jeden Fall die Nummer 1. Das hören wir auch immer wieder von internationalen Leuten. Berlin 17 Im Jahr 2002 verlegte Universal Music GmbH, die deutsche Tochter der Universal Music Group, ihren Deutschland-Sitz von Hamburg nach Berlin und ist seitdem an der Oberbaumbrücke im Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg angesiedelt.
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hat diesen Stellenwert. Für die internationalen Branchen ist Berlin der Hotspot. Es ist aber ein Manko, dass man hier anscheinend nicht so richtig Geld verdienen kann. Alle finden das kreative Umfeld ganz toll, aber es gibt da ein Schwarzes Loch. Nur Wenige können hier als Künstler Geld verdienen. Was Partybusiness, Clubs und Livebusiness angeht, ist Berlin ganz weit vorn, weiter als Hamburg oder Köln. Du hast in Hamburg auch das Übel & Gefährlich18 und solche Sachen, aber wir haben einfach Orte in Berlin, die du woanders nicht hast. Hier wachsen andauernd Clubs nach, tausend neue schräge Sachen. Die Leute kommen aus ganz Europa mit wenig Geld hierher: EasyJet, Hostel, Ausgehen, billig Essen. Das zieht. Da sind wir richtig gut. Davon profitieren aber nur wenige, nämlich diejenigen, die die Clubs machen, die ein Hostel oder ein gut laufendes Restaurant haben.
Bar Tausend19
Aber was machen wir mit unseren kleinen, mittelständischen Unternehmen? Wie bringen wir unsere eigenen Künstler nach vorn? Ich sage nicht, dass es die Aufgabe des Musicboards ist, zu sagen: Hauptsache, wir sind eine tolle Partymeile. Das ist ja nicht der Weg. Dafür braucht es kein Musicboard oder eine Förderung. Wir müssen schauen: Wovon profitieren denn alle? Ich bin ein großer Fan davon, dass die Großen die Kleinen mitnehmen. Die alten Hasen bringen den jungen Hasen das Hüpfen bei. Immerhin haben wir Universal in der Stadt. Birke: Das hängt damit zusammen, dass eher mit faulen Eiern geworfen wurde und Universal natürlich nicht als Erstes seine Aufgabe darin sieht, den jungen Hasen das 18 Das Übel & Gefährlich ist ein Hamburger Musikclub im Flakturm IV auf dem Heiligengeistfeld in St. Pauli. Der Club entstand im Zuge der Umwidmung des Flakturm-Areals zu einem Medienzentrum im Jahr 1990. [http://www.uebelundgefaehrlich.com, 21.07.2013]. 19 Die Bar Tausend wird von Til Harter betrieben und öffnete Anfang Oktober 2007 in BerlinMitte (Nähe S-Bahnhof »Friedrichstraße«). [http://www.tausendberlin.com, 11.08.2013].
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Hüpfen beizubringen. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass die Musikindustrie in den siebziger und achtziger Jahren ganz anders formatiert war. Da ging es nicht um Tradierung, sondern nur nach vorn. Ich glaube, dass Popkultur für unsere kulturelle Identität etwas sehr Wichtiges ist. Lucker: Absolut.
Bravo Bar20
Birke: Jede Generation fängt irgendwie von vorn an. Lucker: Ja, das ist schräg. Birke: Und das ist auch auf der Macherebene so. Du kannst dich oft mit Machern gar nicht richtig darüber unterhalten, welche Geschichte an popkulturellen, popkünstlerischen Akteuren und Phänomenen dahinter steckt. Da muss sich erst mal eine Identität, vielleicht auch Stolz, bilden. Lucker: Wir haben in der Geschichte Berlins viele großartige Leute, die hier waren, von David Bowie21 bis U222. Das wissen wir alles. Ich dachte immer, dass eine 20 Die Bravo Bar in Berlin Mitte (Nähe U- und S-Bahnhof »Oranienburger Straße«) wurde im Dezember 2011 von Björn Massmann und Freunden eröffnet. Die gespielte Musik wechselt zwischen 80er-Jahre-Pop, House und Techno. [http://www.bravo-bar.de, 11.08.13]. 21 David Bowie lebte von 1976 bis 1978 in Berlin-Schöneberg. In den Berliner Hansa Tonstudios nahm er die Alben Low, Heroes und Lodger auf. Im Film Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo von 1981 hatte Bowie einen Gastauftritt und steuerte zu großen Teilen den Soundtrack bei. 22 Das 1991 veröffentliche Album Achtung Baby von U2 entstand unter anderem im Meistersaal der Hansa Tonstudios in Berlin. Zugleich spielt das Video des U2-Hits »One« aus dem genannten Album in der Version von Anton Corbjin in Berlin.
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Musealisierung nicht der richtige Weg sei, aber vielleicht ist es gar nicht so verkehrt, doch mal darüber nachzudenken. Birke: Für mich ist es mehr ein interaktives Poparchiv, mit viel Material, Seminaren, Workshops sowie Erfahrungs- und Proberäumen. Lucker: In Berlin ist so viel Mainstream- und Subkulturgeschichte: Techno, Punk, Westberlin Underground, Dilettanten – alles am Start. Dafür steht Berlin. Und so selbstverständlich, wie es Museen für Bildende Kunst gibt, sollte man auch darüber nachdenken, etwas für Popkultur zu initiieren, was besuchbar, anschaubar ist und ihr auf eine moderne Weise zu einem angemessenen Stellenwert in der gesellschaftlichen Wahrnehmung verhilft. Birke: Es existieren ja erfolgreiche Ausstellungen. Das Technikmuseum hat vor Jahren eine E-Gitarren-Ausstellung gemacht23. Da wird natürlich die Fender- und Jimi Hendrix-Story miterzählt. Das Ramones Museum24 hat großen Zulauf, ebenso ein Haus, wie das Beatles Museum25 in Halle.
Hallenser Variante musealisierter Fankultur
23 Die Sonderausstellung unter dem Titel »Stromgitarren« fand vom 31.07.2004 bis 09.01.2005 im Deutschen Technikmuseum Berlin statt. 24 Das am 15. September 2005 zunächst im Berliner Ortsteil Kreuzberg eröffnete und heute im Stadtteil Berlin-Mitte situierte Ramones Museum ist das weltweit erste und bisher auch einzige Museum, das sich der Band widmet. [http://www.ramonesmuseum.com, 21.07.2013]. 25 Das Beatles Museum begann 1975 zunächst als Wanderausstellung bis es sich in den Jahren 1989–1999 in Köln als Museum etablierte. Um das Ziel zu verwirklichen, ein »richtig großes« Beatles Museum zu schaffen, wurde ein neuer Standort gesucht und im Gebäude »Alter Markt 12« in Halle gefunden. Das heutige Beatles Museum in Halle wurde am 8. April 2000 eröffnet. [www.beatles museum.net, 21.07.2013].
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Lucker: So etwas steht auch auf meinem Zettel, da braucht man Geldgeber. Das kann man mit 1.000.000 Euro nicht stemmen. Birke: Wir müssen von dieser Flüchtigkeit weg. Jetzt wird ja sehr viel mitgeschnitten, gerade auch live. Das ist ein großer Schatz für jeden Musiker. Stell dir mal vor, Jimi Hendrix wäre nicht aufgenommen worden. Gitarristen heutzutage wüssten nicht, wie sein Spiel funktioniert. Die Gesellschaft muss sich das als etwas Eigenes erschließen. Lucker: Auch die Leute im höheren Alter, so ab 50, haben ja einen ganz anderen popkulturellen Hintergrund. Die kennen Led Zeppelin, Grateful Dead oder Chuck Berry. Das merkt man immer wieder. Das Pop-Business ist wahnsinnig schnell. Rede mal mit Musikjournalisten darüber, welche Sendungen sie letzte Woche im Radio zu welchen Themen gemacht haben. Das ist weg, weil alles so schnell ist. Weder wissen die noch, über welche Orte, noch über welche Musiker sie produzierten. Natürlich haben sie ein großes Wissen, aber diese unglaubliche Flüchtigkeit stiehlt unsere Langzeiterinnerung. Wenn ein Popkritiker über ein Konzert berichtet, ist das sofort wieder weg. Das liest du ganz kurz, plopp, weg ist es. Skurrilerweise spricht man über eine neue David Bowie-Scheibe mehr. David Bowie war ja Gespräch an Stammtischen und Bars. Wegen der Patina! Ich finde den Mix der Generationen wichtig. In Deutschland vermisse ich, dass alte Menschen nicht dahingehen wo jüngere sind. Das ist alles so abgesteckt. Das ist auch in den Bars, Cafés und Kneipen so, fast steril. Birke: Ich glaube wir haben keine Kultur, in der wir von Nöten und Problemen sprechen können. Das ist im Kleinen wie im Großen so. Schlager schmiert das alles zu und die Leute, die sich das anschauen, haben schon gar keinen Zugang mehr zu ihren Sorgen und Nöten. Es fehlt eine Kultur, auch in der Kommunikation, in der Katharsis stattfindet. In der angelsächsischen Kultur hat man immer den Eindruck, das Lied entsteht aus einer Konfliktsituation, und es ist immer am Lagerfeuer bei der Eroberung Amerikas dabei gewesen. Bei uns herrscht als gesellschaftliches Subjekt das Bildungsbürgertum. Das kategorisiert und belehrt. Ich erlebe es immer wieder, wenn ich mit meiner Mundharmonika auf der Bühne spiele. Du spielst dir die Seele aus dem Leib, und danach blicken dich begeisterte Augen am Tresen an. Die zweite Frage ist trotzdem: Was machst du eigentlich? Was machst du beruflich? Lucker: Das ist ja auch der Spruch von Jan Plewka von Selig. Er wird immer noch, auch bei Familienfeiern, gefragt: Und was machst du so? – Musik. – Nee, ich meine beruflich. Birke: Das ist echt verrückt. Lucker: Genau. Und deswegen war es mir so wichtig, dass bei der MusicboardEröffnung viele Kreative da waren. Das war wie ein Familientreffen. Birke: Politik ist so eine Protokollkultur. Da ist alles genau geregelt, wer wo hingeht, wer wem die Hand gibt. Wir müssen aus unserem Berliner Alltag einen Club-Alltag machen. Das Gespräch führte Sören Birke im März 2013.
Vom Platten- zum Datenreiter Digitalisierung und DJing in populären Kulturen
Thomas Wilke
»Imagine a war which everyone won Permanent holiday in endless sun Peace without wisdom, one steals to achieve Relentlessly, pretending to believe Attitudes are materialistic, positive or frankly realistic Which is terribly old-fashioned, isn’t it?« Pet Shop Boys 1
Mitte der neunziger Jahre warb die Sparkasse um das Vertrauen der Kunden mit einem Fernsehspot, in dem sie einen DJ (den Berliner DJ PJ NFX) auflegen ließ, während ein Sprecher aus dem Off provokant fragte: »Würden Sie diesem Mann eine Kreditkarte geben?« Da war es auf eine audiovisuelle Formel gebracht – das Anrüchige, Anstößige, das Normen und Konventionen Verachtende. Das ästhetisch inszenierte und zugleich folgenlose Aufbegehren gegen das gutbürgerliche Establishment zeigte sich hier funktional und elegant in eine Werbeform gegossen. Und da war zugleich jemand, der für nächtliche Tanzexzesse in halbwegs autonomen Handlungsräumen verantwortlich gemacht wurde. Dieser jemand schöpfte dabei selbst in seiner Rolle und Position als DJ innerhalb normativer Vorgaben eines Party-Taste-Givers den möglichen Handlungsrahmen einer tonträgergestützten Tanzveranstaltung aus. Schließlich war dieser jemand in exponierter Position, indem er über spezifische Medienangebote und (Re-)Präsentationstechniken verfügte. Damit erarbeitete er sich nicht nur Aufmerksamkeit eines zur kollektiven Rezeption versammelten Publikums, sondern konstituierte zugleich einen Vertrauensakt für das Publikum, indem es sich vertrauensvoll im Tanz ebenjener Musik hingab. Das gilt zweifellos noch heute und doch lohnt sich ein vorausschauender Rückblick: 1991 riefen die Pet Shop Boys mit ihrer Single DJ Culture eben jene erkennend aus und übertrugen das DJ-Handlungskonzept auf ganz andere Sinnzusammenhänge, wie die vorangestellte erste Strophe des Songs zeigt. Ulf Poschardt übernahm den Titel für seine viel beach1
Zitat aus dem Song »DJ-Culture« (1991) von den Pet Shop Boys.
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tete und 2001 »ge-remixte« Dissertation. Dort schreibt er mit Bezug auf die aktuellen Entwicklungen unter der Überschrift »Die neue Selbstverständlichkeit«, dass »DJs […] jetzt den Respekt [genießen, T. W.], den sie verdienen«.2 Dies begründet er mit der Installierung von DJ-Sendungen in Fernsehspartenprogrammen. Doch reicht dieser intermediale Begründungszusammenhang für einen wie auch immer gearteten »Respekt« tatsächlich aus? Welche Bedeutung wird dem »Respekt« wechselseitig motivational zugesprochen? Was heißt es im Weiteren, wenn Ralf Niemczyk und Torsten Schmidt im Jahr 2000 feststellten, dass »DJs heute schon viel mehr als bloß die Popstars des 21. Jahrhunderts«3 seien, und darüber hinaus künstlerisch postuliert wurde, dass selbst Gott ein DJ sei?4 Zu welchen Schlussfolgerungen führt das, wenn DJs in diesem Beitrag als ›Protagonisten populärer Kulturen‹ verallgemeinernd beschrieben werden? Die (weit mehr als) ohrenfällige Alliteration geht diesem Gedanken und seinem Potenzial nach. Handeln wird in populären Kulturen ganz allgemein zunehmend idiosynkratisch, eklektizistisch sowie performativ verstanden.5 Dabei integrieren populäre Kulturen Pop und Popkultur, ohne dass diese dabei mit Gesamtkultur gleichgesetzt werden. So wird im Folgenden in Anlehnung an Marcus S. Kleiner im Wesentlichen unter Pop ein »weit gefasste[r] musikzentrierter Traditionsbegriff«6 verstanden, der ab Mitte der fünfziger Jahre mit dem Rock’n Roll seine spezifische Bedeutung erhält. Hiervon ausgehend kann Pop, wie Christian Höller betont, als offenes Feld bzw. als spezifische kulturelle Formation beschrieben werden. Diese stellt demnach »ein labiles Konglomerat aus Musik, Kleidung, Filmen, Medien, Konzernen, Ideologien, Politiken, Szenebildungen usw. dar […]. Und so diffuse Inhalte wie Jungsein, Marginalisiertsein, alltägliche Machtkämpfe […], schließlich [wird] die ganze Palette von Pubertäts-, Jugend- und Lebensbewältigung bearbeitet«.7 Mit Popkultur bezeichnet nun Marcus S. Kleiner alle Formen von kultureller Vergemeinschaftung, die aus diesem Pop-Verständnis resultieren und formuliert programmatisch: »Als es Pop und Pop-Kultur noch nicht gab, gab es schon die
2
Poschardt 2001, S. 447.
3
Niemczyk / Schmidt 2000, S. 15.
4 So formulierten beispielsweise ganz konkret Faithless mit God is a DJ (1998) im Chorus »This is my church / This is where I heal my hurts / For tonight / GOD IS A DJ«. Einen Song gleichen Titels brachte P!nk 2003 heraus und verortete den quasireligiösen Bezug nicht institutionell sondern assoziativ: »If God is a DJ / Life is a dance floor / Love is the rhythm / You are the music / If God is a DJ / Life is a dance floor / You get what you’re given / It’s all how you use it […]«. 5 »Performativ« steht hier in der Bedeutungszuschreibung für Prozesse, wie sie der SFB 447: Kulturen des Performativen luzide formuliert, und zwar als »Transformationsprozesse, die prinzipiell nicht vollkommen planbar, kontrollierbar […] sind. Sie eröffnen Spiel- und Freiräume, immer wieder taucht in ihnen Ungeplantes, Nicht-Vorhersagbares auf, das den Prozess der Transformation wesentlich mitbestimmt. Intention und Kontingenz, Planung und Emergenz sind in ihnen untrennbar miteinander verbunden.« [http://www.sf b-performativ.de/seiten/frame_gesa.html, 20.01.2011]. 6
Kleiner 2008, S. 14.
7
Höller 2001, S. 12.
Vom Platten- zum Datenreiter
Populäre Kultur.«8 Populäre Kultur kann, einer Überlegung Christoph Jackes folgend, insgesamt als der »kommerzialisierte[…], gesellschaftliche[…] Bereich [verstanden werden], der Themen industriell produziert, [massen]medial vermittelt und durch zahlenmäßig überwiegende Bevölkerungsgruppen […] mit Vergnügen [als Informations- und Unterhaltungsangebote] genutzt und weiterverarbeitet wird.«9 Das Vergnügen aufgreifend, wird nun populäre Kultur hierbei wesentlich als Unterhaltungskultur im Sinne Hans-Otto Hügels aufgefasst, wobei zwischen Unterhaltung als Kommunikationsweise, als Funktion der Massenmedien, als soziale Institution und als ästhetische Kategorie unterschieden wird.10 Dem Spiel mit medialen Repräsentationsangeboten zur eigenen Identitätskonstruktion sowie dem potenziellen Distinktionsgewinn durch Angebotsselektion sind virtuos-virtuell keine Grenzen gesetzt. Der Zwang zum (Mit-)Spielen scheint gesetzt, und wer dies nicht tut, exkludiert sich. Auswählen und Präsentieren, Entscheiden und Kommunizieren werden – etwas apodiktisch formuliert – zu Kernkompetenzen sozialen Handelns auf der Grundlage sich verstärkender heterogener Dichotomien. Das könnten beispielsweise interessant vs. uninteressant, relevant vs. irrelevant, unterhaltend vs. nicht unterhaltend oder wahr vs. unwahr sein. Was hat das aber nun mit DJs zu tun? Die vorliegende Studie beleuchtet aufgrund verschiedener Vorannahmen das DJ-Konzept im Weber’schen Sinne eines Idealtypus und untersucht im Sinne Foucaults den spezifischen Status des DJs in der Gesellschaft.11 Es geht also nicht um die Beschreibung und Analyse einer »augenblicklichen Situation« oder gar einer »Augenblickskunst« im Sinne Rainald Goetz’, sondern um die gesellschaftliche Verortung dieses komplexen Handlungsgeflechts im Zuge der Digitalisierung umfangreicher Bereiche der Gesellschaft.12 Mit einfachen Worten gesagt: etwas muss sich ja auch da geändert haben. Dabei gilt es zuvorderst ganz allgemein und ohne großen historischen Exkurs zu klären, was DJs sind, was sie machen und ob von dem DJ überhaupt gesprochen werden kann.
8
Kleiner 2008, S. 15.
9
Jacke 2004, S. 22.
10
Vgl. Hügel 2003.
11 Max Weber zum Idealtypus: »Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine Hypothese, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen.« Zit. nach Rabinow 2004, S. 49. 12 Mit Bezug auf Rainald Goetz beschreibt Eckhard Schumacher den Moment des Auflegens aus Sicht des DJs: »Entscheidend für die ›Augenblickskunst‹ ist vielmehr das immer wieder neu zu bestimmende Verhältnis von Archiv (›Plattenkoffer‹), Analyse (›Zusammensetzung der verschiedenen Sounds‹), Interpretation (›wie der DJ die Reaktion des Publikums aufnimmt und interpretiert‹), Technik (›Kunstfertigkeit dieses realen Handwerks‹) und Vertextung (›eindeutige Anhaltspunkte über die Verknüpfungsregel‹), immer wieder geht es um ein je spezifisches Verhältnis von Reflexion (›Wohin? Wieso, wozu, warum?‹), routinierter Wiederholung eingeführter Muster (›der rettende Hit‹) und plötzlicher Überraschung (›ein superrougher Scratch‹).« Schumacher 2002b, S. 315.
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Last Night a Deejay saved my life … DJs werden unzweifelhaft stets in einem Zusammenhang mit Musik wahrgenommen und sind mittlerweile elementarer Bestandteil von Popkultur(en). Ohne dass dies eine repräsentative qualitative Aussage zulässt, ergibt eine Sucheingabe bei Google13 für DJ ungefähr 490 Mio. Treffer, für Deejay 11,7 Mio. Treffer, für DJ Software 27,4 Mio. Treffer und für Discjockey immerhin noch 4,1 Mio. Treffer. Allein diese nicht mehr zu überschauende Zahl der Treffer und die zu vermutenden inhärenten Querverweise und Intertextualitäten offenbaren auf einer diskursiven Ebene eine nicht zu vernachlässigende Relevanz. Sie treten heutzutage neben ihrer Hauptfunktion als Unterhalter ganz selbstverständlich als Musikproduzenten auf, hier vornehmlich in den überbordenden Genreausdifferenzierungen von HipHop, Reggae und elektronischer Musik, als Experten eben für Musik in verschiedenen medialen Zusammenhängen, als integrativer Bestandteil von Filmproduktionen bis hin zu unterhaltenden Elementen von Einkaufskultur, wenn sie in Szeneläden die Funktion der Supermarkthintergrundbeschallung übernehmen. Ebenso haben sie mittlerweile ganz unzweifelhaft ihren Platz bei Privatfeiern und Anlässen von diskosozialisierten Jubilaren eingenommen. Beispiele hierfür lassen sich in der folgenden Art der Präsentation, wie beispielsweise von einem DJ Alex, der sich online als DJ für Hochzeiten in Südtirol empfiehlt, zuhauf finden: »Hochzeiten sind meine Spezialitäten! Als Deejay bin ich nicht nur günstiger als eine Band, sondern spiele auch abwechslungsreich und in variabler Lautstärke. Ich habe ein riesiges Repertoire an Interpreten aus den letzten 40 Jahren und benötige außerdem keine Pause um mal kurz zu verschnaufen. Bestellen Sie bei MIR die Musik für Ihren schönsten Tag im Leben! DJ Alex erfahren – flexibel – zuverlässig.«14 Dabei ist es in der Masse gesehen nach wie vor eher selten, dass DJs selbst aktive Musiker sind. Die Diskussionen hierüber zwischen Musikern und den »SteckdosenMusikern« sind mittlerweile abgeflaut und entbehren im Grunde genommen der Substanz. Gleichwohl sei auf die nach wie vor existente und thematisierte Differenz zwischen dem Musizieren und dem DJing hingewiesen, indem beim Musizieren »zwischen der Hervorbringung von Klang und dem Musiker ein unlösbarer und zwingender Zusammenhang unterstellt [wird], der eine Subjektivierung und Personalisierung des klanglichen Ereignisses ermöglicht, die es zum Träger eines kommunikativen Vorgangs und den Musiker zum Autor, als Interpret zum Mitautor oder, wie es in der Popmusik vielfach üblich, zum Pseudoautor macht. ›DJing‹ dagegen […] beruht auf schon vorhandener Musik, deren Ursprung hierbei ohne Relevanz ist«.15 Man kann gar in der Fortführung von Peter Wicke und in einer historisieren13
Recherchestand vom 20.01.2011.
14 Kleinanzeigen-Suedtirol.com. [http://www.kleinanzeigen-suedtirol.com/dj-deejay-fuer-hoch zeiten-in-suedtirol-dienstleistungen-eisacktal.d.1470.html, 20.01.2010]. 15
Wicke 2004, S. 133.
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den Perspektive eine umgekehrte Tendenz zur Konvergenz beobachten. So wie DJs anfänglich oftmals nur programmliche Lückenfüller zwischen Pausen von Livebands waren, übernahmen diese Position nun vor allem in Clubs die Livemusiker. Es ging dabei um solche Gründe wie Authentizität von Musikerleben, Steigerung des Unterhaltungs- oder Attraktionswertes. Der DJ war nicht mehr allein tätig, sondern es wurden Solomusiker oder Sänger in das Unterhaltungsprogramm eines Clubs als zusätzlicher Programmpunkt integriert. Der Solokünstler zeigte nun seine Fertigkeiten in dem dafür vorgesehenen Programmplatzhalter und damit nur noch punktuell resp. ornamental innerhalb eines DJ-Gesamtprogramms.
Veranstaltungsflyer des K1-Clubs im österreichischen Amstetten
Es lässt sich hier neben der Integration von technischen Effekten über Sampler und technisch determinierten Verfremdungen über den Mixer eine Erweiterung der technisch reproduzierten Musik durch instrumentale Begleitungen (Violine, Saxophone, Trompete, Percussions etc.) oder Gesang konstatieren. Demnach verändert sich hier die individuelle Beziehung, die relationale Wahrnehmung zur Musik. Das beeinflusst den gesellschaftlichen Stellenwert von Musik. In der Person des DJs konzentrieren sich Musikakkumulation, popmusikalisches Wissen sowie habituelle Umgangsformen, die in (Re-)Präsentationstechniken und -strategien münden. Historisch speist sich die Attraktivität des DJs aus dem Sammeln von Musik gegenüber dem als historisch zu verankernden Nicht-Bedürfnis des Musikbesitzes. Materialisierter Musikbesitz in Form von Tonträgern war abhängig vom dafür zur Verfügung stehenden Geld, vom Zugang zur Musik resp. zu den Distributionskanälen, vom Willen zur Distinktion und von der individuellen musi-
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kalischen Sozialisation, die auch unter dem weiten Begriff des ›Geschmacks‹ gefasst werden kann. Die Entwicklung des DJs resp. des DJings vor allem in der westlichen Welt verlief keinesfalls homogen, da sich hier heterogene Faktoren (Politik, Ökonomie, kulturelle Transferleistungen und Spezifika sowie Diversifizierung der Musik etc.) direkt auswirkten und dies immer noch tun. Versucht man mit Blick auf das Zusammenspiel von Pop, Musik und Kultur zu erfassen, was DJs sind, dann ergeben sich rangfolgenfrei folgende thesenartig formulierte Aspekte: DJs sind Produzenten sowie Nutzer von Popkultur und bekommen in populären Kulturen zunehmend eine Rolle als Leitfigur zugeschrieben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sie sich mehr und mehr zu exponierten Mittlern zwischen popmusikalischen Angeboten und den Rezipienten dieser Angebote.16 DJs greifen also extensiv Angebote der Popkultur auf und schaffen innerhalb eines Unterhaltungsangebotes, das als Musikmarkt bezeichnet werden kann, selbst ein programmatisches Angebot. Dieses enthält identitätsstiftende Partikel sowohl für den DJ als auch für das Publikum. DJs sind diejenigen, die sich in einem immer größer werdenden und für den Einzelnen nicht mehr zu überschauenden Musikangebot ein entsprechendes Orientierungswissen über Musik aneignen und dieses anschließend auch handlungsleitend einsetzen. Damit werden sie zu Experten, Direktoren und Archivaren temporär aktueller Musik. DJ Spooky formuliert hierzu: »Wenn man sagt, jemand ist belesen, so bedeutet das doch, er hat eine Menge Bücher gelesen, kann sie referenzieren und in einen konzeptuellen Rahmen einordnen. Man hat einen Überblick. Bei Musik gibt es auch so etwas wie ›Belesenheit‹: Je mehr du gehört hast, desto besser kannst du Querverweise herstellen und Zitate erkennen. Um sich in einem von beiden zu spezialisieren, braucht es Monate, Jahre, in denen man liest oder Musik hört. Der Unterschied ist aber, dass Menschen zu Musik einen viel leichteren, weil emotionalen Zugang haben.«17 Allerdings lässt sich festhalten, dass sich durch die Diversifikation des Musikmarktes, der multiplen Zugänge und der digital unproblematischen Verfügbarkeit die Grenze des Musikexperten in dieser Hinsicht marginalisiert: Jede Musiksozialisation weist ihre eigene Expertise auf. Die Handlungsgrundlage des DJs ist im Wesentlichen informationsbasiert und ein wechselseitiges Changieren von Position und Gegenstand. Hier offenbaren sich Synergieeffekte zwischen spezifischem Handlungs- und Orientierungswissen, denn die Musik ändert sich, das Wissen um die Musik lässt sich unter Umständen wieder neu verknüpfen. DJs sind im Besitz von Musik, und zwar über jedwede Kapazitierung einer privaten Geschmacksorientierung und ihrer Nutzung hinaus. Auch wenn sich »Geschmack« nicht quantifizieren lässt, so steht hier eine voluntaristische, eher selbstgenügsame oder auch fan-geleitete Haltung gegenüber den Musikangeboten eher im Hinter16 Zur historischen Genese des DJs vgl. Brewster/Broughton 1999, Poschardt 2001; im Zusammenhang mit Club-Culture vgl. Thornton 1995, Mühlenhöver 1999, Shapiro 2005; in der DDR vgl. Wilke 2009. 17
Zit. nach Hartmann 1999, S. 333.
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grund. DJs haben ein vordergründig funktionales Interesse an Musik. Richtungsweisend für Entscheidungen sind dabei Fragen, ob der Track / Song in das jeweilige Set passt, ob er tanzbar ist, partytauglich etc. Das liegt im Charakter der Ressource Musik als einem Arbeitsmittel sowie im Zugang und Selbstverständnis begründet. Auch hier vollziehen sich mittlerweile durch die Digitalisierung massive Verschiebungen im Hinblick auf den durchschnittlichen (privaten) Rezipienten. Die vormals aufwändig beschaffte und Eigenheiten des Zuganges verratende Musiksammlung verschwindet mehr und mehr in digitalen Listen von nahezu entgrenzten virtuellen Speicherräumen. Musik hat für DJs seit ihrer Funktionalisierung als Arbeitsmittel nur eine relativ kurze Halbwertzeit, die sich zu Gunsten der Angebotsdiversifikation weiterhin verringert. Schließlich bekommt nur ein Bruchteil der Musik durch Bedeutungszuschreibung, Erinnerungswerte und qualitative Faktoren einen Platz im popkulturellen Club-Gedächtnis.18 DJs sind Prototypen einer »konsumistischen Gesellschaft«19. Das unmittelbare Reagieren auf musikalische Neuheiten und die Integration derselben in ein eigenes aktuelles Repertoire verweisen auf einen permanent am Laufen gehaltenen Bedarf, der zugleich auf das verzichtet, was nicht mehr den (sich stets wandelnden) Anforderungen entspricht. Daraus folgt zugleich eine Notwendigkeit, sich der »überflüssigen« Musik zu entledigen, wenn der Stauraum in seinen Kapazitäten erschöpft ist. Wenn nicht in materieller, so geschieht das doch zwangsläufig in kognitiver Hinsicht, um durch das Vergessen des Nichtnotwendigen Platz für Neues zu machen. Im Hinblick auf die Tonträger – im besten Sinne des Wortes – zeichnet sich mit der Digitalisierung von Musik ein fundamentaler Wandel für den durch Tonträger besetzten Raum ab. Denn das Raumproblem wird in Abhängigkeit der Speicherkapazitäten nun ein virtuelles. Dieser Raum unterliegt nicht mehr physischen Grenzen. Mit dieser Verlagerung von der materialisierten zur digitalen Datenakkumulation verliert der DJ seine Sonderstellung als Musik-Akkumulator. Wenn es beim DJ um eine reine Datenakkumulation und deren Beherrschbarkeit geht, dann beginnt mit der Digitalisierung ein Prozess der technischen, ökonomischen und kulturellen Demokratisierung sowie die Auflösung der Exklusivität des DJs. DJs sind – um eine Metapher von Michel Maffesoli aufzugreifen – Exponenten einer pointillistischen Zeit. In der Weiterführung der Metapher Maffesolis und ihrer Charakterisierung führt Zygmunt Bauman aus: »Charakteristisch für eine pointillistische Zeit sind eher ihre Inkonsistenz und der Mangel an Kohäsion, als Elemente der Kontinuität und Konsistenz. In einer solchen Zeit wird jede Kontinuität oder Kausallogik, mit denen sich aufeinanderfolgende Punkte verbinden lassen mögen, tendenziell erst ganz am Ende, im Rahmen einer rückblickenden Suche nach Verständlichkeit und Ordnung vermutet oder hineininterpretiert, während es auffällig ist, dass sie bei den Motiven für die Bewegungen der einzelnen Akteure zwischen den 18
Vgl. Jacke / Zierold 2008 b.
19
Vgl. Bauman 2009.
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einzelnen Punkten fehlen. […] In der pointillistischen Zeit ist es die Aufgabe jedes einzelnen ›Lebenspraktikers‹, die Punkte zu sinnvollen Strukturen zu arrangieren.«20 DJs entwickeln mehr oder weniger ausgeprägt ein Gespür für Titel, Tracks, Fragmente, denen das Potenzial für Erfolg auf der Tanzfläche oder innerhalb des musikindustriellen Verwertungszusammenhangs innewohnt. Diese stehen nicht unbedingt in einem kausalen Zusammenhang, werden jedoch durch den DJ im Mix miteinander kontinuierlich verbunden. Somit entsteht ein souveräner Umgang mit den als verstreut anzunehmenden materialisierten Musikpunkten sowie dem erfolgreichen Verknüpfen von erkannten Möglichkeiten. Vorsichtig formuliert: DJs schaffen etwas, dass im Gesamtzusammenhang einer Tanzveranstaltung in der neoimpressionistischen Tradition eines George Seurats stehen könnte, da durch DJs der musikalische Werkbegriff situativ aufgelöst wird. Weniger der einzelne Track /Song steht in der Wahrnehmung oder Erinnerung im Mittelpunkt, sondern viel stärker das Gesamterlebnis der Veranstaltung, zu der dann noch Faktoren, wie beispielsweise (Raum-) Atmosphäre, persönliches Wohlbefinden und Genussmittel zählen. Durch musikbezogene Prozesse der Selbstzitation, der Fragmentierung und Dekonstruktion resp. der rekursiven (Musik-)Schleifen und Loops ist dieses Verknüpfen durch den DJ selbst transitorisch und nur in seiner Struktur auf Beständigkeit angelegt. DJs sind in der Lage, durch eine funktional-rationale Herangehensweise an Musik (tanzbar / nichttanzbar) sowie durch genre- und zeitübergreifende Rückgriffe auf das bestehende popmusikalische Kulturangebot, divergierende Musikproduktionen und Publika im besten Fall zusammenzubringen. Das schließt Emphase keineswegs aus. Damit produzieren sie in situ ein integratives Potenzial für Musik und Publikum, und es entsteht für den Moment ein gemeinschaftsstiftendes Erlebnis. Dieses kann konsumstimulierend wirken, indem die Musik vom Publikum später käuflich erworben wird oder der Besuch des Clubs ein kontinuierlicher wird. Es kann – enger an die Person des DJs gekoppelt – auch vom Publikum als identitäts- und/ oder sinnstiftend wahrgenommen werden.21 Die Valenz dieses Potenzials und das hierbei unterstellte Wechselverhältnis zwischen Musik, Publikum und DJ zu erfassen, steht noch aus. DJs sind nicht nur Aktanten und Adressaten popkultureller Diskurse, sondern stimulieren sie, greifen regulierend ein und praktizieren durch ihr spezifisches Handeln eine Form von Diskursproduktion und Diskurskontrolle.22 So richten sich spezielle Szene-Magazine (auch im Internet) an DJs, um über Neuheiten innerhalb des aus20
Bauman 2009, S. 46–50.
21 Brewster und Broughton berichten zum Beispiel über Danny Rampling, einen UK-DJ, der sich an die ersten Acid-House-Nächte in Shoom erinnerte: »People, there were enjoying very powerful new experiences related to the drugs, the music and the feelings of communion which the club generated. Rampling’s role as DJ made him the focus for all this. ›There was a period at Shoom where a group of people was trying to hail meas this new messiah. […] One guy opened a page in the bible, and my name – Daniel – was in the Bible in this particular paragraph. And he said: ›This is you! This is you! This is what’s happening now.!‹ And that completely flipped me out.‹« (Brewster / Broughton 1999, S. 416). 22
Vgl. Foucault 2000.
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differenzierten Musikgeschehens, der Technik, der Trends etc. zu informieren. Zugleich werden sie aber auch Diskursobjekte in Hinblick auf ihre bevorzugte Musik, ihre Erfahrungen, musikalische Prognosen etc. für den Rezipientenkreis vorgestellt. Eine wichtige Rolle spielen hierbei, auch für Nicht-DJs zur Orientierung, lokale, regionale, überregionale DJ-Top-Ten. Aktuelle Favoriten werden als Markierungen dessen fixiert, was gerade angesagt ist, auch außerhalb des Augenblicks im Club. Weitere Aspekte der Diskursproduktion und -kontrolle sind Rezeptionserfahrungen, Plattenrezensionen und Mixtapes.23 DJs sind Aktanten in einer spezifischen sozialen Wirklichkeit. Aufgrund der ihnen zugeschriebenen kulturellen Funktion, Rolle, Bedeutung wurden sie auch zu zentralen Adressaten in narrativen Medienangeboten. Das zeigt sich in Popkultur thematisierenden Filmen wie American Graffiti (1973) über Saturday Night Fever (1977) bis hin zu Beat Street (1984) und weiteren. Die Transformation in fiktionale Medienangebote fungiert über Auslassungen, Verkürzungen, Dramaturgien und Inszenierungen als übersteigerte Projektionsfläche. Darüber hinaus ist Clubkultur samt DJ als anerkannter sozialer Handlungsraum auch in der Musik selbst anzutreffen, wenn der DJ im Song selbst angesungen oder sein besonderes Wirken auf den Körper und auf den Tanz beschrieben wird. Das phrasenhafte »Hey DJ, let’s play that song« oder »Make my body move« sind für popkulturell sozialisierte Rezipienten mittlerweile Gemeinplätze. Eine genealogische und systematische Analyse solcher DJ-Songs in kultureller und semantischer Hinsicht steht noch aus. Daraus lässt sich eine Autorität des DJs ableiten. Über Erwartungserwartungen des Publikums (»Ich erwarte vom DJ, dass er gute Musik spielt, von der er erwartet, dass ich dazu tanze.«) wird er als Aktant in einer spezifischen sozialen Wirklichkeit wahrgenommen und in seiner Rolle weitestgehend widerspruchsfrei akzeptiert. DJs sind diejenigen, denen es gelingen kann, kulturelles Kapital in ökonomisches Kapital umzuwandeln. Bestehende Musikangebote zielen ganz bewusst auf eine Verwertung durch DJs (im Radio, im Club etc.), die aufgrund bestimmter Präferenzen eine Auswahl treffen. In ihrem inzwischen kulturell diffundierten Habitus, in ihrer performativen Präsentationspraxis, die als Stellvertreterkommunikation für den abwesenden Interpreten gesehen werden kann, akkumulieren sie spezifisches soziales Kapital. Dieses wird diskursiv wieder in verfügbares Wissen über popmusikalische Entwicklungen, Techniken der Präsentation sowie einem zugeschriebenen Habitus rückgekoppelt und steht dem DJ zur Verfügung. DJs genießen bei kollektiv rezipierter Musik eine hohe Aufmerksamkeit seitens des Publikums, durch das, was sie spielen und wie sie es spielen. Sie sind für das Publikum
23 Das Rezensieren musikalischer Neuerscheinungen ist seit jeher fixer Bestandteil von Musikmagazinen. Das Monatsmagazin De:Bug. Elektronische Lebensaspekte. Magazin für Musik, Medien, Kultur, Selbstbeherrschung verfügt unter anderem über eine Rubrik »Platten hören mit DJ …«.
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die Adressaten einer technisch reproduzierten Musik.24 Die Bedeutungszuschreibung erfolgt sowohl durch den DJ als auch in der konkreten Rezeptionssituation synästhetischen Musikerlebens; durch das Auslösen von auditiven, visuellen, taktilen und olfaktorischen Reizen. Es wummert, man schwitzt! Prozesse der musikalischen Präsentation in situ durch eine Band spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Damit entsteht für DJs ein partizipativer Repräsentationscharakter, indem der Erfolg eines Tracks auf der Tanzfläche ihrer Handlungsstrategie positiv zugeschrieben wird. Die Musikproduktionsprozesse sind bei reproduzierter und mithin digitaler Musik nicht mehr nachvollziehbar. Beispielhaft lässt sich das bei The Prodigy beobachten. Liam Howlett, der Gründer der Band, war selbst DJ. Von Anfang an war Keith Flint als Tänzer dabei, dessen extrovertiertes Auftreten und Tanzen bei Live-Performances der Band den eigentlichen computergestützten Prozess der Musikproduktion in den Hintergrund treten ließ.25 An einem anderen Beispiel exemplifiziert Eckhard Schumacher sehr anschaulich die wechselseitige diskursiv eingebettete mediale Performanz des Stars mit dem DJ: »Wenn sich Madonna am Ende der Drowned World-Show auf einem überdimensionierten Plattenteller dreht und ›Hey Mr. DJ / Put a record on‹ singt, ist das […] auf mehrfache, durchaus gegenläufige Weise zu verstehen: Als Geste der Macht und Beherrschung eines Mediums durch die Inszenierung seiner Vereinnahmung, als respektvolle Adresse an die Figur des DJs, der als Verkörperung aktueller, gegenwärtiger, zeitgemäßer Musik gilt und an dessen Authentizitätsversprechen Madonna teilhaben möchte, aber auch als eine Adressierung, die als ein Zeichen der Abhängigkeit verstanden werden kann […].« 26 DJs sind aufgrund ihrer Eigenschaft als zentrifugale ›Musikkonzentratoren‹ und in ihrer Funktion als Unterhalter wichtige Mittler zwischen Musikindustrie (Angebot) und Endverbraucher (Nachfrage). Sie erfüllen damit eine geschmacksverstärkende Gatekeeper-Funktion.27 In Diskotheken und Clubs lassen sie sich durch das Publikum adressieren, durch die Musik, die sie spielen. Das Publikum hingegen ist zugleich Adressat einer für ein disperses Publikum massenhaft hergestellten Musik, die die DJ in ihrer Performance präsentieren. Je überzeugender ihre Performanz, desto größer das soziale Feedback. Dass diese Performanz zugleich an ein spezifisches Wissen geknüpft ist, lässt sich an einem Beispiel aus der ehemaligen DDR anschaulich nachvollziehen. Im Hörfunk, in der Podiumdiskothek auf DT 64 gaben die Moderatoren für DJs auch Hinweise mit einem offen formulierten didaktischen Anspruch weiter: »Wobei wir 24 The Smiths lieferten hierfür mit ihrem Titel »Panic« (1986) beispielhaftes Diskussionsmaterial, indem Morrissey – dekontextualisiert durchaus missverständlich – sang: »Burn down the disco / Hang the blessed DJ / Because the music that they constantly play / it says nothing to me about my life / Hang the blessed DJ […]«. 25 Zum Nachvollzug des komplexen digitalen Samplespiels vgl. den Nachbau von The Prodigys »Smack my bitch up« auf YouTube durch den DJ Jim Pavloff. [http://www.youtube.com/watch?v =eU5Dn-WaElI, 20.01.2011]. 26
Schumacher 2002, S. 320.
27 Und das bereits in der Frühzeit des vornehmlich amerikanischen Radios. Vgl. hierzu den exzellenten Exkurs in Hagen 2005, S. 247–282.
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nochmals betonen, daß vorab der SPU [d. i. der Schallplattenunterhalter = DJ, T. W.] genau wissen sollte: Wie klingen die einzelnen Titel, wie sind sie gegliedert, ermöglichen sie ein ›Vertanzen‹. […] Üblich ist ein ständiger Wechsel von Musikblöcken mit schnelleren und langsameren Titel. Der Tänzer braucht einfach auch Ruhepausen, um sich zu erholen. Phasen der Entspannung werden mit langsamen Titeln gestaltet. […] Und hier setzt das Talent des SPU ein, ein Publikum zu führen, ihm einen größtmöglichen Genuss an der Musik, am Tanzen ermöglichen. Voraussetzung sind dann eben eine große Repertoirekenntnis und das Ausprobieren einzelner Titel.«28 Diese Performanz konstituiert sich ereignishaft im gelenkten Zusammenspiel von Musik und Publikum und wird durch das sozio-technische Wechselverhältnis von DJ und Musik stetig ausgebaut und verfestigt. DJs verändern durch spezifische Aneignungsstrategien nicht nur das allgemeine Verständnis von Musik, sondern auch den Gebrauch – als permanent verfügbare Ressource, deren Kunstgehalt auf ein Arbeitsmittel reduziert wird. Durch die Kontextualisierung in einem kontinuierlichen Mix, in einem Gesamtablauf, verflüchtigen sich die Grenzen des einzelnen Musikstückes, der Werksbegriff an sich wird redundant. Die Arbeit an der Musik ist sowohl dekonstruktiv als auch eklektisch konstruktiv.29 DJs waren bis zur Einführung der CD überwiegend Handwerker, zumal die Arbeitsweise mit Platten, die sich aus dem Radio speiste, die Wahrnehmung in der Gesellschaft nachhaltig prägte. Mittels der Plattenarbeit und des direkten Zugriffs auf die Musik erhielt sich so etwas wie ein auratisches Restfluidum. Durch die Digitalisierung und der Verwendung dafür vorgesehener Software verwandelt sich dieses in andere performative Prozesse, da das sichtbar Haptische und die subjektive Handlungsautonomie für den Zuschauer und Zuhörer hinter dem Interface des CDPlayers und / oder dem Rechner / Laptop abhanden kommen. Damit verstärkt sich in der Wahrnehmung die Tendenz zu einem austauschbaren Programmnutzer; Die Transparenz des Handelns und der (Re-)Präsentationsstrategien nimmt durch die Zunahme der technischen Möglichkeiten gleichsam ab.30 Die hier aufgeführten einzelnen Aspekte erheben keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern versuchen aufgrund divergierender Perspektiven den Status von DJs im weitesten Sinne zu erfassen und vorsichtig einzugrenzen. Sie zeigen die facettenreiche Diffundierung eines Handlungskonzeptes, das sich nicht mehr nur allein auf einen eingegrenzten Bereich von Unterhaltung reduzieren lässt, sondern weitaus umfänglicher in unterschiedliche Prozesse gesellschaftlicher Subsysteme
28 Podiumdiskothek 152 vom 23.08.1979. Schriftgutbestand Hörfunk DT 64, DRA Potsdam, A 004-02-04/0091, ausführlich zur Thematik vgl. Wilke 2009. 29 Vgl. hierzu den WestBam-Gesprächsband von Rainald Goetz mit dem Titel Mix, Cuts & Scratches (Westbam 1997) sowie den autobiografisch angelegten DJ-Sammelband From Scratch (Niemczyk /Schmidt 2000). 30 Es zeichnen sich hier technologisch determinierte Abhängigkeiten ab, die nicht zwangsläufig einem (normativen) »Ideal der Selbsttransparenz […] innerhalb des Emanzipationsprogramms der sozialen Kommunikation« entgegenkommen. Vgl. hierzu Vattimo 1992, S. 33.
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Einzug gehalten hat. Dabei zeigt sich ein diskursiver Zusammenhang von Performanz, Reproduktion, Medialität und Authentizität.
Digitalisierter DJ-Hero Mit der stetig vorangetriebenen Digitalisierung in allen Lebensbereichen, der zunehmenden Aufhebung räumlicher Begrenzungen und der damit einhergehenden Kreierung neuer Speicher- und virtueller Handlungsräume wird es vermehrt notwendig, sich kompetent Programme anzueignen, die Handlungen (in einem sozialen Feld) simulieren. Es werden hierbei jedoch nicht nur neue Räume kreiert, sondern bestehende Handlungsfelder sozialer Wirklichkeiten in das Virtuelle transformiert. Das betrifft beispielsweise den Bankverkehr, die Kommunikation oder eben auch das DJing. Die Software DJ-Hero zeigt sich bereits mit ihrer Titulierung programmatisch und verweist auf einen mythisch anmutenden Status des DJ-Konzepts in der »nachmodernen Gesellschaft«. DJ-Hero ist eine Weiterentwicklung des Programmes Guitar-Hero. Während in dem Vorgängerspiel die Gitarre noch auf ein Einzelinstrument innerhalb diverser Rocksongs referiert, ist das Spiel um das DJing in seiner komplexen Struktur handlich verpackt und konsumorientiert auch für Nicht-DJs aufbereitet. Auf der Website des Anbieters von DJ Hero, Activision Publishing Inc., die visuell auf den kultigen Technics-Plattenspieler 1210 MK II referiert, wird hierzu vielversprechend formuliert: »Erlebe Musik auf revolutionäre Art: Tauche mit dem DJ Hero Turntable-Controller ein in authentische DJ-Kultur, mit Scratches, Cross-Fading und Beat-Match. Bearbeite deinen Mix mit einer Vielzahl von Effekten und Samples, gib der Menge ein Gesicht und bring Leben in die Party! Gib auf den schärfsten Partys den Ton an: Guitar Hero bringt die Spieler in die Welt des Rock ’n’ Roll, DJ Hero bringt dich in die heißesten Szenen. Mach Party an Schauplätzen, die an die reale Welt rund um den Globus angelehnt sind, von der ultra-plüschigen, sexy Villa auf den Hügeln Hollywoods bis hin zum Open-Air-Beachclub auf Ibiza.«31 Hier wird ganz konkret und ohne weitere Erklärungen mit entsprechendem Vokabular gearbeitet: Scratches, Cross-Fading und Beat-Match. Auch die Referenz auf eine »authentische DJ-Kultur« bleibt diffus und ist ambivalent zu bewerten. Die faktische Argumentation der Verheißung kaschiert die Simulation derselben. Denn die Präsentation baut ihre Glaubwürdigkeit für den Nutzer auf ein »so könnte es sein« und entzieht sich damit elegant der Nachprüfbarkeit. Hier öffnet sich eine weitere Perspektive: Nicht mehr eine Sehnsucht, so sie als Bedürfnis existent ist, sondern eine idealisierte sozio-technische Projektion der Sehnsucht dient der Bedürfnisbefriedigung. 31
DJ Hero. [http://www.djhero.com/game, 20.01.2010].
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Ausgangspunkt ist in allen Darstellungen auf der Website und den eingebundenen Basis-Lehrfilmen der ausverkaufte digitale Club, in dem tanzende Avatare »am Feiern und Jubeln« sind. Zur Verfügung steht dem Nutzer eine fixe Zahl an Songs, die per Bildschirm anvisiert und über drei farbig markierte Spuren entsprechend gemixt werden. Dabei werden an einem Controller die Faderbewegungen und andere Anwendungen bepunktet. Dies summiert sich in der Logik des Programms zu einem klanglichen Zusammenspiel. Scratches und Mixe entspringen allerdings nicht mehr dem kognitiven Ideen- und Erfahrungsraum des DJs, sondern das Programm gibt diese im Rahmen des Spiels vor. Entsprechend variieren die existierenden Klassifizierungen nach Schwierigkeitsgrad. Hier erfolgt eine Umkehrung der Verhältnisse: Der vermeintliche DJ reagiert nur noch auf technische Anweisungen, die durchaus anspruchsvoll sein mögen. Allerdings agiert er nicht mehr, denn lediglich die adäquaten und geforderten Reaktionen des Spiels bringen die erwünschten Punkte und den digitalen Jubel, nicht mehr das eigenständige Agieren. Das Spiel als Handlungsobjekt greift in diesem Fall disziplinierend in die Handlungsautonomie des Subjekts ein. Das digitale Publikum kommt aus dem Feiern nicht mehr raus, bis der Powerknopf dem Spiel ein Ende bereitet.
Screenshot der Website www.djhero.com [20.01.2010]
Dieses Beispiel einer Simulation sozialer Wirklichkeit als performativer Transformationsprozess aus dem Spiel-Bereich führt via Digitalisierung direkt zur DJ-Software in der alltagspraktischen Anwendung. Diese werden mittlerweile kommerziell in großem Umfang sowohl DJs als auch privaten Usern angeboten.32 Mit der Über32 Hier einige der bekanntesten DJ-Softwaren: Final Scratch (www.finalscratch.com), Serato Scratch Live (www.ranedj.de), Traktor DJ Studio (www.nativeinstruments.de), UltraMixer (www.ultramixer. com), BPM-Studio (www.alcatech.de), Mixxx (www.mixxx.org), Kra-Mixer (www.kramware.com), Mixvibes (www.mixvibes.com), e-Mix (www.e-mix.com), DJ-Mix Pro (www.djmixpro.com) etc. Insgesamt listet Netzwelt, das Online-Magazin für IT & Consumer Electronics 34 Programme für Windows, Linux und Mac-Betriebssysteme, die vorgestellt, bewertet und verlinkt werden und zugleich als Download bereitstehen. [http://www.netzwelt.de/software-list/7-dj-software.htmll, 20.01.2010].
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schrift »Musik mixen wie ein Profi-DJ« preist beispielsweise das Portal Softwareload das Programm Virtual DJ 5 Home Edition an: »Mit dem Virtual DJ 5 sorgen Sie für fließende Übergänge zwischen Musiktracks und brennen Ihren persönlichen Hitmix direkt auf CD. Der virtuelle DJ hilft Ihnen außerdem beim Zusammenstellen der Titel: Er merkt sich die abgespielten Songkombinationen und kann so passende Stücke für die weitere Abspiel-Liste vorschlagen. So begeistern Sie Ihre Zuhörer, mischen und scratchen wie ein echter DJ und bringen Schwung in Ihre Partys.«33 Unverkennbar ist dies ein Werbetext, der die Vorzüge einer personalisierten DJSoftware preist. Er suggeriert, allein die Programmnutzung reiche aus, Wissen und Erfahrungen eines DJs zu kompensieren und zu simulieren, auch wenn auf der Hand liegt, dass als Ergebnis vielleicht ein technisch akzeptabler Mix vorliegt, damit jedoch noch lange nicht die Kriterien eines DJs erfüllt sind, der sich in einer Live-Situation vor Publikum zu bewähren hat. Ebenso auffallend ist demnach der analoge Schluss zwischen »echte[m] DJ und »Schwung in ihre[r] Party«. Ist es vielleicht doch so einfach? Eine andere Software DJ Mix Pro wird in einem Bewertungswerbetext innerhalb einer umfassenden Vorstellung von DJ-Software des Portals netzwelt.de folgendermaßen charakterisiert: »Wer kennt das nicht? Sie richten eine Party aus und sind den ganzen Abend damit beschäftigt, den DJ zu spielen, nur um etwas Stimmung zu machen. Und dabei sind Sie nicht in der Lage, vernünftige Übergange [sic!] zwischen den Liedern zu erstellen oder gleichartige Lieder hintereinander abzuspielen. Und wenn Sie es denn dann doch halbwegs schaffen, Stimmung zu machen, wo ist Ihr Spaß? Auch andere Tools wie Winamp oder der Windows Media Player unterstützen Sie nicht wirklich. Besonders das Verwalten von Playlists im Media Player erfordert schon ein halbes Studium. Von den Übergängen zwischen den einzelnen Liedern ganz zu schweigen. Abhilfe für diese Problem [sic!] schafft nun das Tool DJ Mix Pro.«34 Ganz so einfach scheint es dann doch nicht. Zumal hier offensichtlich mehrere Ebenen miteinander verknüpft und in ihrer Verknüpfung beispielhaft verdichtet werden: eine Party ausrichten, den DJ »spielen«, »Stimmung machen«, »Spaß haben«, »Verwalten von Playlists«; schließlich geht es auch hier darum, ein Programm kompetent zu nutzen und sich nicht beherrschen zu lassen. Ähnlich wie in dem vorangegangenen Beispiel scheint es ausreichend, die Software kompetent zu nutzen, um die als »Problem« titulierten Übergänge zwischen den Titeln zu lösen. Offenbar wird der deutlich betonte Zusammenhang von Party im privaten Umfeld und DJing: Zu einer Party gehört ein DJ. Die Formulierung »den DJ zu spielen« weist darauf hin, dass eben Nicht-DJs angesprochen sind, die sich dann mittels des Programms das Hand33 Virtual DJ 5 Home Edition. [http://www.softwareload.de/Virtual-DJ-5-Home-Edition/56093, 20.01.2010]. 34 netzwelt.de. Guter Rat auf einen Klick – DJ Mix Pro. [http://www.netzwelt.de/download/1078dj-mix-pro.html, 20.01.2010].
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lungskonzept DJ wenn nicht aneignen so doch daran partizipieren können. Damit werden die redaktionellen resp. auktorialen Prozesse beim DJing nur indirekt angesprochen, da sie das Programm selbst kaschiert. Denn diese erfahrungsbasierten Prozesse kann das Programm nicht abnehmen, aber es kann ähnliche Parameter zusammenmixen. Damit werden die Programme letztlich Vehikel fürs DJing. Von der Akzeptanz des notwendigen Publikums ganz zu schweigen. Das ist vielleicht auch gar nicht mehr so wichtig, wenn ich als Akteur zu meinem eigenen Publikum mutiere bzw. mein eigener DJ werde: »Be your own DJ«. Das Auswählen und Präsentieren von Musik wird in dem Augenblick selbstbezüglich. Mit diesem Slogan warb beispielsweise das Musik Genome Project – Pandora (www.pandora.com), das auf der Grundlage von Algorithmen und Parametern dem Hörer nach eigenen Präferenzen ähnliche Musiken zusammenstellt und parallel dazu ein Musikprofil des Hörers anlegt.35 Ohne auf die Spezifik dieses Stream-Angebotes einzugehen, ist der Slogan von Interesse, denn er bleibt keineswegs singulär. So wirbt die Website www.djay-software.com ebenfalls mit dieser Sentenz, um zugleich den Start in eine neue Ära des digitalen DJings insbesondere für Screenshot der Website www.djay-software.com Mac-User anzukündigen. [20.01.2010] Per drag & drop werden die favorisierten Songs in das Programm importiert. Geschwindigkeitsangleichung und Übergänge werden ermöglicht, ebenso wie das Aufnehmen des eigenen Mixes. Die Frage nach der Notwendigkeit des Mixens – analog zum Beispiel der Virtual DJ 5 Home Edition – für die private Musikrezeption stellt sich nicht. Die Rezeption ist viel weniger voluntaristisch, als dass sie zunehmend technischen Parametern unterliegt, die Kontingenz simulieren. Das ist eine Entwicklung, die im Prinzip mit der Reproduzierbarkeit von Tönen / Musik ihren Anfang nahm, durch die Digitalisierung allerdings eine neue Qualität sowie einen neuen Stellenwert hinsichtlich von Subjekt-Objekt-Relationen bekam. Das Programm schlägt aus der Fülle des digitalen Angebots Trackfolgen vor, meine eigene Auswahl steht im Hintergrund, ich muss als Rezipient als erstes den Programmvorschlag zur Kenntnis nehmen, ihn akzeptieren oder verwerfen. Mit dem »eigenen Mix« zeigt sich weiterhin eine tendenzielle Informationsverdopplung, deren Informationswert sich zwar auf den digitalen Mix reduziert, zugleich wird jedoch die weitere Distribution beispielsweise per Podcast fokussiert. Ebenso kann mit der Software per Maus oder Touch-Pad gescratcht oder ein rein automatischer Mix generiert werden: 35
Vgl. hierzu Hartling / Wilke 2008, Föllmer 2009, S. 257f.
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»Discover the world of DJing. Use your mouse or Multi-Touch notebook trackpad to mix and scratch your songs. One click – hours of fun. Sit back and let djay mix your favorite iTunes playlists with seamless DJ-style transitions.«36 Das auf der Website befindliche Demonstrationsvideo zeigt eine Scratch-Performance, die zwar technisch beeindruckend ist, ästhetisch allerdings keinesfalls überzeugen kann. Denn wie deutlich zu sehen und zu hören ist, fehlt hier die für den Effekt vorauszusetzende feinmotorische Taktilität, und vorhandene Latenzen in der Echtzeitberechnung des Effekts werden nicht angesprochen. Um den Gebrauch des Laptops als Musikdatenbank zu optimieren, stellt eine darauf spezialisierte Geräteindustrie sogenannte Controller her, die als Mischpult und zugleich als Simulationsgerät für den Plattenspieler funktionieren. Ein Aspekt, auf den die digitale Ästhetik der Software ebenfalls referiert. Mit diesem in den verschiedensten Ausführungen angebotenen Gerät entstand eine neue Bezeichnung: der Controller-DJ. Damit produziert die Digitalisierung des DJings ein weiteres Phänomen, denn 2009 organisierte Vestax, eine sich für alle möglichen technischen DJ-Belange verantwortlich fühlende Firma, ein erstes digitales DJ-Battle, das ausdrücklich auf Tonträger und Reproduktionsgeräte im herkömmlichen Sinne verzichtete.
Ankündigungen der Vestax DJ-Battle 2009 und 2010 auf www.vestax.de [20.01.2010]
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djay. [http://www.djay-software.com, 20.01.2010].
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Während 2009 noch Gäste eingeladen wurden, die als technische Vorreiter in dieser Entwicklung die Möglichkeiten präsentierten, war dies für 2010 in der Ankündigung nicht mehr relevant. Hier wird der mögliche Gewinn – ein Gig in Tokio – wesentlich stärker gewichtet, unabhängig, ob die technische Performance, das Beherrschen des Programms auch in der Tat Grundfunktionen des DJings entspricht. Kriterien für den Ausscheid 2009 waren »Technische Fähigkeit«, »Musikalische Komposition« und »Genauigkeit«, was letztlich das Publikum in der konkreten Situation macht, spielte keine Rolle. In der zusammenfassenden Rückschau der Veranstaltung heißt es auf der Vestax-Webseite: »Neben den vier Finalisten standen an diesem Abend die IDA Worldchampions AKD & Koljeticut, sowie Ean Golden (DJ Techtools / San Francisco) auf der Bühne, um dem Publikum zu demonstrieren, was man alles mit DJ-Controllern anstellen kann. Für das Rahmenprogramm sorgte der VCI-300 Spezialist Grizu aus Augsburg, der mit basslastigen Tracks das Tanzhaus-West vibrieren ließ [sic!]. Geprägt durch die Musikmesse Frankfurt, war an diesem Abend auch internationales Publikum vor Ort, welches Zeuge des ersten DJ-Battles wurde, bei dem weder von CDs noch von Vinyl gespielt wurde. Innerhalb 20 Minuten mussten die Finalisten Ihr Können mit Laptop und einem Controller ihrer Wahl, vor den Augen einer dreiköpfigen Jury, unter Beweis stellen.«37 Zwei Effekte zeigen sich hier deutlich: DJs werden Programmnutzer und Programmnutzer werden DJs. Während das eine unbestritten dem Handlungsfeld inhärent ist, lässt der Umkehrschluss Zweifel aufkommen.
Fazit In einem zusammenfassenden Fazit kann der DJ als das Bindeglied, als subjektiviertes Scharnier zwischen Präsentationssituation und materialisierter Musik verstanden werden. Er fungiert als Entscheidungsträger mit einer zugeschriebenen Entscheidungskompetenz. Das Ergebnis seiner Entscheidung ist meist sofort überprüfbar. Mit dieser Scharnierfunktion stehen sie im Dienste einer Popularisierung von Medienangeboten, sie sind Kommunikatoren im Dienste der Kommunikation, im ungünstigsten Fall mündet das im Selbstgespräch. Somit werden DJs zu Repräsentanten einer Stellvertreterkommunikation. Daraus ergeben sich spezifische parasitäre Identitätskonstruktionen, die nur aufgrund der bereits erfolgreichen Vorarbeit der jeweiligen Künstler und ihrer dafür verantwortlichen Entourage funktionieren. Zugleich kann dies eine Kompetenz zur Kontingenzbewältigung in einer nur mehr schwer zu überschauenden Medienangebotskultur sein.
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Zit. nach Vestax. [http://www.vestax.de/events/events.asp?id=52, 20.01.2011].
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Die Anzahl der hier beschriebenen Beispiele für die Verschränkungen von kulturellen Alltagszusammenhängen und dem DJ resp. DJing ließe sich noch weiter fortführen, ohne dabei beliebig zu werden. So zeigen aktuelle technische Entwicklungen, dass der bisherige Stand permanenten Modifizierungen unterworfen wird. Samsung entwickelte 2009 ein Touchscreen-Musik-Handy – mit der treffenden Bezeichnung M7600 Beat DJ – das das bisherige Handling des DJ-Equipments digital mobilisiert. Das Onlineportal PC-Welt hatte das Gerät als Vorserienmodell getestet und vorgestellt: »Hinsichtlich Musik hat das M7600 Beat DJ noch eine Menge mehr zu bieten. Bislang auf einem Handy noch nicht dagewesen ist die DJ-Funktion. Wer sie aktiviert, kann seine eigene Musik abmischen. Erst wählt der Musikfan ein Lied aus, anschließend kann er verschiedene Filter über den Sound legen. Zur Verfügung stehen Automatisches Schwenken, Echo oder Hall sowie weitere sieben Filter. Wählt der Hobby-DJ den Filter Flanger aus, hat er erneut die Wahl unter 20 Lauten, die er über den Text legen kann. Darunter finden sich auch Ausrufe wie ›come on‹.«38 Ein Touchpad, das einen Plattenspieler simuliert, gibt es ebenfalls.39 Ob das tatsächlich Auswirkungen auf das DJing in ästhetischer und qualitativer Hinsicht hat und wenn ja, welche, müsste eine empirisch angelegte Studie zeigen. Was die Analyse bisher zeigte, sind die Potenziale, die das Handlungskonzept DJ in Hinsicht auf technische Weiterentwicklungen katalysieren. Durch den digitalen Wandel, die veränderten Zugangsbedingungen zu Musik und die nahezu omnipräsente Verfügbarkeit von Musik weicht das stark auf spezifische Rezeptionssituationen zugeschnittene Modell auf und wird über den Gegenstand Musik auch auf Nicht-DJs übertragen. Die Attraktivität offenbart sich weiterhin in der alltagskulturellen Einbettung durch modische Trends, wie das funktionsentfremdete Nutzen von DJ-Plattentaschen und DJ-Kopfhörern. Eine hier nicht weiter thematisierte kulturelle Valenz zeigt sich, wenn Institutionen aktiv werden und beispielsweise das Goethe-Institut deutsche DJs wie Sven Väth, WestBam oder Illvibe einlädt, vorstellt bzw. DJs programmatisch als Kulturbotschafter in die Welt schickt.40 Mittlerweile hat sich auch das Vertrauensverhältnis der Sparkasse in den DJ nicht nur verbessert, sondern grundlegend gewandelt. In einem aktuellen Spot der Sparkasse Hessen wird ein fünfköpfiges DJ-Team gezeigt, dass mit seiner ScratchPerformance in einer entspannten, vertraulichen Atmosphäre das Publikum zum
38
Göpfert 2009.
39
Vgl. scott hobbs. [http://www.scotthobbs.co.uk, 20.01.2010].
40 Auf der Website des Goethe-Instituts findet sich ein knapp 14-minütiger Kurzfilm über DJ-Kultur in Deutschland von Gerhard Schick. [http://www.goethe.de/KUE/flm/prj/kub/mus/de3955879.htm), 20.01.2011].
Vom Platten- zum Datenreiter
Tanzen bringt.41 Abschließendes Fazit des knappen Einminüters: »Sie verstehen was vom Auflegen. Wir vom Anlegen.« Mit dieser semantischen Gleichsetzung erfolgt eine gleichwertige Anerkennung der DJ-Tätigkeit zu derjenigen der Sparkasse. Das Handeln der DJs ist – das Publikum zeigt es – erfolgreich, demzufolge ist es auch das der Sparkasse. Aus diesem Beispiel und den vorangegangenen Ausführungen lässt sich schlussfolgern, dass das Handlungskonzept »DJ« in weiten Bereichen nicht nur gesellschaftlich akzeptiert ist. Dies ist natürlich keine Essenz mit spektakulärem Neuwert, es zeigt sich jedoch, dass DJs popkulturelle Integrität und Integration katalysieren, vermitteln und (re-)präsentieren. Dieses Potenzial geht Hand in Hand mit einer umfassenden Digitalisierung der alltäglichen Lebenswelt und ist somit auch attraktiv für den Nicht-DJ. Es wird sich zudem noch zeigen müssen, inwieweit eine solide Programmnutzung wechselseitige Zusicherungsverhältnisse und subjektivheterogene musikalische Erfahrungen in situ zu kompensieren vermögen.
41 Vgl. hierzu Kinowerbespot der Sparkasse Finanzgruppe Hessen-Thüringen. [http://www. youtube.com/watch?v=hGMzgQtp7IQ, 20.01.2011].
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Berliner Szenewirtschaft Lutz Leichsenring
Berlin ist hip, attraktiv und relevant. Ehemals improvisierte Projekte entwickelten sich zu weltweiten Magneten verschiedener Szenen. Was das Watergate, KaterHolzig, Ritter Butzke, Tresor oder Berghain für die elektronische Musik, ist das Yaam für Reggae oder das SO36, Lido und Magnet für Punk, Rock und Pop. Auf dem Gelände der ehemaligen Bar25 werden die ehemaligen Clubbetreiber zu modernen Stadtentwicklern und schaffen mit dem ambitionierten Projekt Holzmarkt ein Studentenwohnheim, Gründerzentrum und Kulturdorf mit Club, Gastronomie und einem öffentlichen Park.
Nah am Wasser: Yaam, Watergate, Bar25 (Ex-Eingang)
Seinen Status hat Berlin einer Vielzahl dieser selbstorganisierten Strukturen zu verdanken, die zum Teil mit erheblichen Widerständen ringen. Den Ursprung hat diese Szene in den neunziger Jahren, die das Stadtgeschehen Berlins mit seinen musikalischen Nischen in besonderer Weise prägten. Die heute wichtigsten Akteure sind ehemalige Hausbesetzer, Veranstalter und DJs, die zu Raumpionieren und dann
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zunehmend sesshaft wurden. Noch heute agiert das Geschäft rund um die Musik nicht typisch marktwirtschaftlich, die Gewinnmaximierung ist nicht oberstes Credo. Clubs haben gegenüber Diskotheken eine große Strahlkraft, sodass zahlreiche Gäste extra für den Clubbesuch nach Berlin reisen. Das einzigartige Erlebnis, welches auch in Theatern oder Museen gefunden werden kann, entsteht durch die Verbindung des Clubs mit einem ganz speziellen Ort. So befinden sich Clubs in ehemaligen Heizkraftwerken, Speichern, Bunkern oder anderen Gebäuden, die dafür speziell umgebaut werden, während die Diskothek gern neu und zum Teil auf der grünen Wiese gebaut wird. Weiter bieten Clubs ein abgestimmtes Innenkonzept, bei dem der Fokus der Besucher vor allem auf die Musik gerichtet wird.
Umfunktioniert: Ehemals Reichsbahnausbesserungswerk, heute RAW tempel e. V.
Der Eintritt ist oft bewusst niedrig gehalten, insbesondere auch bei den kleineren Clubs; der Konsumzwang ist häufig wenig ausgeprägt. Vor allem aber hat grundsätzlich jeder ab dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestalter Zugang. Es gibt grundsätzlich keine Kleidungs- oder Gesichtskontrolle. Der Club ist somit der Ort, an dem Musikerinnen und Musiker die Schwelle von musikalischem Interesse zu musikalischer Profession erlernen bzw. überschreiten können. Für das Überschreiten dieser Schwelle ist ein Clubkonzert ein sogenanntes Einstiegsmodul und übt eine Sprungbrettfunktion für Kreative aus. In diesem Sinne unterscheidet sich der Club wenig vom Theater und anderen Bühnen, die als Kulturbetriebe anerkannt sind. Den
Berliner Szenewir tschaf t
Clubbetreiber treibt in der Regel die Liebe zur Kunst und Musik an, seinen Club als Präsentationsfläche für gute Musik zu eröffnen und zu betreiben. Definition von Club (»Kultur-Musikspielstätte«) Der Bundesverband LiveMusikKommission e. V. (LiveKomm) »versteht unter einer Musikspielstätte einen Ort musikalischer Prägung, der mindestens 24« Livekünstler im Jahr auftreten lässt. »Die Besucherkapazität beträgt maximal 2.000 Personen. Treten in der Spielstätte« ausschließlich »DJs auf, so muss die Mehrzahl der Veranstaltungen durch ›künstlerische DJ’s‹, das sind DJs, die Musik produzieren und / oder Labels betreiben, bestritten werden.«1 Die Produktions- und Disseminationsstrategien dieser sogenannten »Szenewirtschaft« (Scene Economy) könnten zum Zukunftsmodell für andere Kreativbranchen werden. Denn das, was die Clubszene schon seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert – arbeitsteiliges Netzwerken, Selbstorganisation, DIY-Mentalität, Aufhebung der Grenzen zwischen Produktion und Konsumption, Nutzung verschiedener Einkommensquellen und vor allem der Computer als zentrales Produktionsund Disseminationsmittel – beginnt nun zum Beispiel auch die Designbranche und Musikindustrie zu bestimmen. Clubs sind eine wichtige »Keimzelle« der Kreativwirtschaft, in der Karrieren beginnen und legendäre Auftritte stattfinden. Das Clubleben gehört zu den weichen Standortfakten, die darüber entscheiden, ob sich Menschen in einer Stadt wohl fühlen und ob sie gerne an diesem Orte leben und arbeiten möchten. Neuer Sound und Inspiration kommen nicht aus heiterem Himmel. Viele Stars von heute hatten ihren ersten Auftritt in einem kleinen Berliner Club. Die kreativen Macher der Stadt finden hier den Resonanzboden für ihre Ideen und den notwendigen Austausch mit Gleichgesinnten. Eine nachhaltige musikalische Karriere ist ohne den frühen und intensiven Kontakt mit einem anspruchsvollen, kritischen Publikum im kleinen Rahmen kaum vorstellbar. Clubs schaffen das soziale Umfeld für Künstler und Kreative, sie sind die soziokulturellen Laboratorien, in dem neue Sounds und neue Ideen ausgetauscht, getestet und weiterentwickelt werden, bevor sie reif für die große Bühne sind. Die entstandene Infrastruktur – Clubs, Labels, Verlage, Studios, Medien, Netzwerke – bietet Berlin einen veritablen Standortvorteil im internationalen Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte. Die Musik-und Kulturszene zieht immer mehr junge Leute an und ist zum Sehnsuchtsort ihrer freien Entfaltung geworden. Das fördert die Ansiedlung von Unternehmen und hilft bei der Gewinnung von Fachkräften. Die facettenreiche Fashion- und Designbranche, die boomende Start-up-Szene oder auch einige der weltweit führenden Spezialisten im Bereich Musiktechnologie pro1 LiveKomm. LiveMusikKommission. Verband der Musikspielstätten in Deutschland e. V. – Definition und Schwerpunkte. [http://www.livemusikkommission.de/schwerpunkte, 11.08.2013].
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EXPERIMENTAL
OFFLOCATION
BUSINESS
EVENT LOCATION
CLUB
PUBLICLY FUNDED VENUE
NON-PROFIT
DISCOTHEK
MAINSTREAM
fitieren von Berlins kultureller Diversität, der Dichte an außergewöhnlichen Auftrittsorten und der kreativen Energie des Berliner Nachtlebens. Damit sich in einer Stadt die »Creative Class«2 ansiedelt, bedarf es einiger Grundvoraussetzungen. So lassen sich Kreative nur an Orten nieder, an denen drei ganz bestimmte Faktoren vorhanden sind. Florida nennt diese Faktoren die »3 T’s of economic development«3 (Talent, Technologie und Toleranz). Das Vorhandensein von Talent definiert Florida bei Menschen mit Bachelor oder höherem Abschluss, Technologie bezieht sich auf das Vorhandensein des Hochtechnologie-Sektors, Toleranz wird als Offenheit, Aufgeschlossenheit und das Vorhandensein einer Vielfalt verschiedener ethnischen Gruppen definiert. Bezieht man die »3 T’s« auf Berlin, kann man zum einen eine exzellente Hochschul- und Universitätslandschaft und eine technologiegetriebene Start-up-Szene mit sehr hohen Venture Capital Investitionen (fast 135 Mio. Euro im Jahr 20124) vorfinden. Zum anderen herrscht in Berlin eine sehr große Toleranz und Integrationsleistung. So leben in Berlin etwa eine halbe Million Ausländer aus nahezu 200 Nationen5. Die Anzahl von Homosexuellen ist in Berlin überdurchschnittlich hoch. Auch der temporäre Zuzug von Studenten, Tagesgästen oder Touristen ist ein erheblicher Wirtschaftsfaktor, der von der Szenewirtschaft stark beeinflusst wird. Clubs stellen heute einen der Hauptanziehungspunkte Berlins bei Touristen dar. Über 35 % 2
Florida 2002 und 2005.
3
Florida 2005, S. 37ff.
4
Vgl. BITKOM 2013.
5 Zum 31. Dezember 2012 registrierte das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg insgesamt 503.945 ausländische Einwohnerinnen und Einwohner im Land Berlin, die aus insgesamt 186 Staaten kommen. (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2013).
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der Berlin-Besucher kommen wegen des Musikangebots in die Stadt. DJ-Live-Acts, Konzerte und Festivals machen den größten Anteil der täglich 1.500 stattfindenden Veranstaltungen in Berlin aus. Das ist die Basis für das internationale Renommé von Berlin, nämlich die »coolste Stadt« zu sein6. Die Fakten sprechen für sich: Während deutschlandweit im Durchschnitt die Übernachtungsgäste 131,60 Euro pro Person und Tag ausgeben7, betragen die Ausgaben in Berlin 196,70 Euro8. Mit ihrer einzigartigen Programmgestaltung, der ganz speziellen Berliner Durchlässigkeit und Toleranz zwischen den Szenen sowie dem Bespielen außergewöhnlicher Räume und Locations, gehören Clubs zu den herausragenden Gründen für die weltweite Anziehungskraft der Stadt. Das Image als Mode- und Kunststadt, liberale Partystadt oder auch Hauptstadt des Techno eilt Berlin voraus und hat zu einem überaus positiven Ruf national und international geführt. Zehntausende von Arbeitsplätzen sind mit dem Aufschwung von Berlins Szenewirtschaft in den letzten Jahren entstanden. Musik wirkt als Input- und potenzieller Push-Faktor. Populäre Musik und Clubkultur leisten Pionierarbeit in der Stadtentwicklung. Sie schaffen eine vielfältige urbane Lebenskultur, soziale Bindungskraft, neue Trends und eigene Stadträume. Die Szenewirtschaft spielte in den vergangenen Jahrzehnten in den Plänen des Berliner Senats kaum eine Rolle. Eine CREATIVE INDUSTRIES kleine Anfrage an die rotrote Regierung Mitte 2011 durch die Opposition hatte MUSIC ECONOMY die Politik der vergangenen Jahre entlarvt. Auf die Frage »Wie berücksichtigt der Senat SCENE ECONOMY die Clubszene im Rahmen der CULTURE CATERING / HOTEL / Stadtplanung und -entwicklung?« ECONOMY SPECIAL VENUES lautete die schriftliche Antwort an den Abgeordneten Christian Goiny: »Die für die Stadtentwicklung zuständige Senatsverwaltung hat hierzu Fehlanzeige gemeldet.«9 Dabei gilt die freie Musik- und Kunstszene nicht nur unter Wissenschaftlern unbestritten als Vorbote aufgewerteter Stadtteile und steht langfristig für deren Lebensqualität und Attraktivität. Erhält eine Metropole nicht bestimmte Freiräume und kulturell anspruchsvolle, experimentierfreudige Veranstaltungsorte, so wird die Stadt mittelfristig ihrer Kreativwirtschaft schaden.
IMPULSE-
GENERATOR
6
Gumbel 2009.
7
BMWi 2010 i. Verb. mit Harrer / Scherr 2010.
8
Berlin Tourismus Marketing GmbH 2009, S. 11.
9 Kleine Anfrage des Abgeordneten Christian Goiny (CDU) vom 18. Juli 2011. (Abgeordnetenhaus Berlin 2011, Frage 4, S. 2.).
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Durch eine bessere Zusammenarbeit und Abstimmung in der Stadtplanung und der Liegenschaftspolitik lässt sich dieser Entwicklung entgegensteuern. Um es mit Richard Florida zu sagen: »I like to tell city leader that finding ways to help support a local music scene can be just as important as investing in high-tech business and far more effective than building a downtown mall«.10 Die großflächige Umwidmung von Mischgebieten in allgemeine Wohngebiete und die geplanten planungsrechtlichen Beschränkungen für auszuweisende Mischgebiete entziehen den Clubs sowie der dort ansässigen Kultur- und Kreativwirtschaft mittelund langfristig die wirtschaftliche Grundlage und beeinträchtigen in gravierendem Umfang die derzeitige Attraktivität Berlins. Da in den textlichen Festsetzungen der Bebauungsplanentwürfe Clubs häufig nur noch ausnahmsweise im Wege der Einzelfallprüfung (sprich: Ermessensentscheidung der Behörde) zugelassen werden, wird die Planungssicherheit unterminiert. Die bisherige Verwaltungspraxis der bezirklichen Bauverwaltung hat dies leider sehr nachdrücklich unter Beweis gestellt. Bedingt durch die vorgesehene Einzelfallprüfung fehlt die Planungssicherheit zum Beispiel auch bei Verlagerungen von Clubs, da der baurechtliche Bestandsschutz nur für das einzelne Objekt gilt. Bei Schließung eines Clubs an der einen Stelle bedeutet dies nicht unbedingt, dass die Verwaltung im Wege der Einzelfallprüfung einen Club an anderer Stelle innerhalb eines Mischgebietes oder besonderen Wohngebietes genehmigt. Diese schleichenden Umgestaltungsprozesse geschehen permanent und erzeugen kaum öffentliches Aufsehen. Eine solche Stadtentwicklungspolitik ignoriert die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung Berlins und verfolgt Ziele, die neue Initiativen und die Vielfalt des kulturellen und gastronomischen Angebots unnötig behindern. Dadurch wird das viel beschworene Flair Berlins vielmehr auf Dauer zerstört, insbesondere die Kreativ- und Kulturwirtschaft wird erheblichen (wirtschaftlichen) Schaden nehmen und die Attraktivität Berlins wird in nicht vertretbarer Weise geschmälert. Clubbesitzer und Veranstalter fühlen sich oft weniger ernst genommen und mit Vorurteilen konfrontiert als es bei anderen Gewerben der Fall ist. So wurden zum Beispiel schon Konzessionserweiterungen ohne Angabe von Gründen verweigert und unverhältnismäßige Auflagen bei Konzessionsanträgen von den Betreibern abverlangt. Stadtentwicklungspolitik sollte aber die Clubkultur als besonderen, imageträchtigen Faktor betrachten, der inhaltlich und wirtschaftlich zu nutzen, zu fördern und zu entwickeln ist. Erschwerend kommt das erhöhe Ruhebedürfnis meist zugezogener Anwohner hinzu, die auf juristischem Wege versuchen den Clubbetrieb zu beschränken bzw. einzustellen. In vielen Fällen wurde von Behördenseite versäumt, Bauherren und Immobilienbesitzer auf diese Kulturbetriebe aufmerksam zu machen und entsprechende Lärmschutzmaßnahmen während der Bauphase vorzunehmen. Es fehlt all-
10
Florida 2002, S. 229.
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SCENE ECONOMY SOFTWARE / HARDWARE
BOOKING MARKET MARKETING / PR
ARTIST MUSIC TRACK-MARKET
EVENT / CLUBS
FOOD / BEVERAGE
gemein eine eindeutige Richtlinie der Verwaltungsspitze, Clubs im Kiez ansiedeln und erhalten zu wollen, welche auf Sachbearbeiterebene umgesetzt werden kann. Nur mit einer dementsprechenden planungsrechtlichen Sichtweise kann einer der wichtigsten Standortfaktoren Berlins gesichert werden, zum Beispiel durch die Errichtung eines stadtweiten, öffentlich einsichtigen Liegenschaftskatasters, die Umwidmung des Liegenschaftsfonds in einen öffentlich zugänglichen Gebäude- und Freiraumsfonds, das Vorkaufsrecht von privaten Liegenschaften für die öffentliche Hand und durch eine nachhaltige Förderung experimenteller Wohn-, Arbeits- und Präsentationsstätten. In vielen Teilen der Stadt wird spürbar, dass es nicht gelingt, den Veränderungsprozess so zu gestalten, dass Kulturschaffenden und -unternehmern der Gestaltungsspielraum erhalten bleibt. Aufgrund steigender Immobilien- und Mietpreise, großflächiger Umwidmung von Mischgebieten in allgemeine Wohngebiete gerät diese Szene zunehmend unter Druck und ist in vielen Kiezen fast vollständig verdrängt worden. Sollte sie aus den innerstädtischen Bezirken verschwinden oder sich zu sehr kommerzialisieren, verliert Berlin ein Alleinstellungsmerkmal und ein Vielfaches an Lebensqualität.
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SWOT Analyse zur Berliner Szenewirtschaft11 Stärken
Schwächen
Impulsgeber für Branchen wie Mode, Film und Werbung / Keimzelle der Musikwirtschaft
Heterogene Struktur / Interessenskonflikte
Emissionen durch Beschallung und Zu- und Starkes Branchen-Netzwerk Clubcommission e. V. Abgänge Berlins touristisches Aushängeschild / Haupt- Geringe Lohn-/ Gehaltsstruktur in der Branche anziehungspunkt für Besucher unter 35 Jahren Fehlendes Know-how der Musik- und ClubSelbstorganisierte /-finanzierte Struktur akteure (Rechte, Regeln, Gesetze, Ansprechpartner, Programme) Weicher Standortfaktor: Fördert Ansiedlung von Unternehmen / Fachkräften Clubs gelten baurechtlich als Vergnügungsstätten (analog zu Spielcasinos und TableBerlin wird weltweit als kreative und lebendige Dance Bars) Stadt wahrgenommen (»Capital of Cool«) Ungenaue Branchenkennzahlen und veraltete Tourismus und die Ansiedlung von Fachkräf- Studien ten wird durch dieses Umfeld begünstigt Chancen Risiken Das Berlin Musicboard kann sich zu wichtiger Schnittstelle zwischen Clubs und Senat entwickeln
Stadtentwicklungspläne berücksichtigen nicht die Ansiedlung und den Bestandschutz von Clubs
Synergien und Konvergenzen mit anderen Kreativwirtschaftsbranchen (zum Beispiel Mode, Kunst, Theater)
Clubszene verliert an internationalem Ansehen, da benötigte Räumlichkeiten in Größenordnungen +500qm und rechtliche Grundlagen fehlen
Gesetzesinitiative zum Schutz von Clubs durch heranrückende Wohnbebauung wichtige Grundlage für weitere Entwicklung Clubs als unter bestimmten Umständen als Kultureinrichtung festzustellen, könnte die Wahrnehmung positiv verändern Mitgestaltung durch Repräsentanten in Gremien / Fachausschüssen auf Senatsund Bezirksebene Erarbeitung eines Lösungsbaukastens zur Konfliktvermeidung mit Anliegern und anderen Gewerbetreibenden Transparenter Zugang zu Flächennutzungsplänen und Bebauungsplänen in ihrer Planungsphase Regelmäßiger Austausch mit Verantwortlichen der Verwaltung und den Stadtplanern Zusammenarbeit mit Gutachtern und bei der Beteiligung der Träger öffentlicher Belange (IHK etc.)
11
Wichtige Branchen-Netzwerke sind unterfinanziert und basieren größtenteils auf ehrenamtlichem Engagement Fehlende individuelle Förderung (Beratung, Delegationsreisen, Bürgschaften, Kredite) Enge Bebauung der innerstädtischen Bezirke führt zu Konfrontationen mit Anwohnern Erhöhung der GEMA-Tarife und unklare Regelung zum verminderten MwSt-Satz bei Konzerten gefährden die Existenz vieler Clubs Eine Liegenschaftspolitik, die bisher zu wenig auf in der Stadt verwurzelte Akteure Rücksicht genommen hat und kulturell unbedeutenden Investoren mit durchschnittlichen Konzepten zu oft den Zuschlag erteilt hat Strenge Auslegung der Ermessensentscheidungen der Behörden (»Einzelfallprüfung«) verhindern Planungssicherheit
Siehe dazu auch Clubcommission Berlin 2012 sowie IHK 2011.
Reich aber sexy? Pop und tradierte Finanzierungsstrukturen der Kulturpolitik
Arkadi Junold
Dieser Artikel ist aus der Frage heraus entstanden, wie ein Förderkonzept für den Bereich der Populärmusik in Berlin aufgebaut sein könnte, um diese Musikform optimal zu fördern. Dieses Problem ist insofern virulent, weil das Land Berlin offiziell nicht über das Geld verfügt, Institutionen der Popkultur mit verhältnismäßig kleinen Beträgen zu unterstützen, während andererseits der laufende Etat der großen Berliner Kulturinstitutionen mit Millionenbeträgen aufgestockt und auch die Staatsoper luxussaniert wird. Andererseits drängt sich in Kenntnis der popkulturellen Strukturen eine Parallele zum Bereich der institutionell etablierten »Hochkultur« – wenn man diesen alten Terminus hier verwenden möchte – auf, die in ihren Organisationsformen ähnlich strukturiert ist. Daher ist zu fragen, inwieweit es notwendig ist, neue Strukturen aufzubauen, oder ob man nicht partiell auf bestehende rekurrieren kann. Im Zusammenhang mit der Fragestellung fällt auf, dass sich die Kulturwissenschaft ausführlich mit der kulturellen Einordnung von Pop beschäftigte1, ohne sich aber explizit mit der zugrunde liegenden Musik auseinanderzusetzen. Zwar gibt es eine hinreichende Zahl qualitativ guter Monographien zur Analyse populärer Musik2, im Bereich der Geschichtsschreibung gibt es m. E. aber sowohl in der Musik- und Literaturwissenschaft als auch in der Kunstgeschichte kaum wirklich überzeugende, fundierte Studien. Die kulturwissenschaftlichen Studien haben sich häufig soziologischen Aspekten gewidmet. Insofern kann durchaus die These aufgestellt werden, dass das Thema Pop in der wissenschaftlichen Debatte der anderen genannten Disziplinen zu wenig aufgearbeitet ist, ein Aspekt, der sich leider auch auf die kulturpolitische Debatte im Speziellen wie auf die Wertschätzung von Popmusik im Allgemeinen auswirkt. Das Beispiel des Landes Berlin wurde gewählt, da hier aufgrund des Stadtstaatenstatus (im Gegensatz zu den allgemeinen föderalen Zuständigkeiten) sowohl die Hochschulausbildung als auch das Kulturressort in den Zuständigkeitsbereich des Landes fallen. So besteht eher die Möglichkeit, Künstlerausbildung und -beschäftigung miteinander zu verzahnen, als in Flächenbundesländern, da sowohl die Kultur1
Vgl. unter anderem Hecken 2009, Heidingsfelder 2012 oder Jacke / Ruchatz / Zierold 2011.
2
Vgl. Moore 2012, Middleton 2000, Tagg 1979.
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wie auch Wissenschaftsförderung auf der gleichen föderalen Ebene entschieden werden. Abgesehen davon bietet Berlin zudem eine reiche Clublandschaft und somit ein breit gefächertes Angebot dieser Musik. In einem ersten Schritt wird überblicksmäßig auf die wesentlichen Termini und Abstimmungsmodalitäten der Kulturpolitik und ihrer Institutionen wie der einzelnen staatlichen Ebenen eingegangen. In einem zweiten werden exemplarisch bereits bestehende Institutionen zur Populärmusikförderung vorgestellt, die in einem dritten Schritt auf die konkrete Berliner Situation übertragen werden.
Antike, Musik, Politik Schon in der frühen Antike lässt sich neben den volkstümlichen Musikformen auch »Hochmusik« nachweisen, die aber zu dieser Zeit noch stark in den sakralen Kontext eingebunden war. Viele der antikgriechischen Schauspiele sind zum Beispiel für die Dionysien geschrieben und in diesem Kontext auch aufgeführt worden. Ähnlich wie die Apollinien sind die Dionysien durch Musik begleitet, was auch partiell für die in diesem Kontext aufgeführten Schauspiele gilt.3 In der Spätrenaissance wurde die Begleitung der Schauspiele unter anderem durch einen Chor allerdings missverstanden, was zu der Erfindung der Oper führte, ohne dass der antike Einfluss der einzige ist, der Vorbild für die Oper wurde. Die Entwicklung der Musik aus einem sakralen Zusammenhang heraus bedeutet auch, dass Kunst nicht frei vom gesellschaftlichen Kontext ist, in den sie gestellt wurde, denn sakral gebundene Kunst muss selbstverständlich auf die Dogmen der zugrunde liegenden Religion wie auch feste liturgische Formen derselben Rücksicht nehmen, eine Einschränkung, die selbstverständlich auch für christliche Sakralmusik gilt, die aber in der Sache dieser Kunstrichtung liegt. Das Problem der Volksmusik aller Zeiten lag darin, dass sie im Gegensatz zur Hochmusik kaum schriftlich fixiert wurde und erst im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Aufkommen der Schallplatte die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, nichtschriftliche Musik zu tradieren.4 Zudem nahm in diesem Jahrhundert das theoretische Interesse für die Bedeutung dieser Musik zu, was sich zum Beispiel durch Feldforschungsarbeiten in ländlichen Gegenden belegen lässt. Dieses Interesse war in ganz Europa zu verzeichnen. Hier mag die methodische wie inhaltliche Auseinandersetzung des Musikwissenschaftlers und Musikethnologen Béla Bartók als Beispiel dienen5. Insofern gab es neben der »Hochmusik« selbstverständlich immer Volksmusik, nur die Rekonstruktion war ausgesprochen schwierig.6 In der Spätantike entwickelte sich die christliche Sakralmusik mit den damit verbundenen Mess- und Liturgiegesängen, die sich bis in das 19. Jahrhundert un3
Riethmüller / Zaminer 1989.
4 Es gab allerdings auch einige Volksliederbücher, die bereits weit vor dem 19. Jahrhundert gedruckt wurden. 5
Vgl. Bartók 1948.
6
Stockmann 1992, S. 14ff.
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gebrochen und kaum verändert hielten. In der christlichen Sakralmusik gab es zwar oftmals Tendenzen zur Artifizialisierung aber auch solche, die immer wieder versuchten, Elemente der Volksfrömmigkeit und damit auch der Volkskultur in die Messe mit einzubinden. Hier sind unter anderem die mittelalterlichen Mysterienspiele aber auch die Diskussion um den Kunstanspruch der Messen zu nennen7. Gerade im Bereich der sakralen Musik kann man somit am ehesten den Konflikt zwischen Artifizialität und Volkstümlichkeit nachvollziehen, denn reiche Kirchen oder Abteien wollten ihren Reichtum und ihren Einfluss auch durch mäzenatisches Handeln – unter anderem durch die Zelebrierung einer besonders aufwendigen Messe – zur Schau stellen. Im Rahmen der Säkularisierung des 19. Jahrhundert wurden aber auch die Messformen »verweltlicht«, sodass diese Kunstform heute in der Spezialform der Konzertmesse fast nur noch im Konzertsaal gespielt wird.
Kulturförderung und Künstlerindividualisierung seit dem Mittelalter Im hohen Mittelalter wurde der Minnegesang Teil der höfischen Kultur. Neben diesem Minnegesang gab es Jahrmarktsbelustigungen für das Volk. Ab dem Hochmittelalter traten die sogenannten Stadtmusikanten bei städtischen Festen auf und wurden häufig auch von den jeweiligen Städten fest besoldet. Städte und ihr Bürgertum begannen aufgrund ihres erstarkenden Selbstvertrauens zunehmend künstlerisch mit den Fürstenhöfen aber auch reichen Abteien und Kirchen zu konkurrieren. Hier mag die freie Reichsstadt Köln als Beispiel dienen, die sowohl durch den Kölner Erzbischof als auch den Kurfürsten repräsentiert wurde und als reiche Handelsstadt auch über die finanziellen Ressourcen verfügte, um Kunst zu fördern. Die Stadtmusikanten wurden zudem häufig zu besonders aufwendigen sakralen Aufführungen herangezogen, die die Kirchen nicht mit eigenen Kräften besetzen konnten. So kam es zu einer Vermischung von sakraler und weltlicher Musik, denn die Musiker wie auch Komponisten übertrugen die Erfahrungen des einen Bereiches selbstverständlich auf den anderen. Die Entstehung der Stadtmusikanten stellt zudem eine Verbesserung der sozialen Stellung der Künstler dar. Die Berufsgruppe, die bisher ob ihres fahrenden Status’ nichts anderes als bessere Landstreicher waren, wurde nun sesshaft und konnte sich wie alle anderen Gewerke auch in Zünften organisieren. Dass diese Musiker damit auch besser von ihrem Umfeld kontrolliert werden konnten, gehört zu den negativen Aspekten dieser Entwicklung. Die höfischen Musiker waren Teil des fürstlichen Hofes und dessen Verwaltung unterworfen (daher kommt unter anderem der Titel des Intendanten), die Stadtmusiker unterlagen als kommunale Angestellte selbstverständlich der Verwaltung 7 Vgl. unter anderem die Entwicklung von Paraphrasen-Messen, Kanon-Messen oder ParodieMessen seit der Renaissance.
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und der Aufsicht der Kommunen und die im Kirchendienst Beschäftigten der der Kirche, sofern diese keine Priester waren. Alle drei Bereiche bauten folglich Kulturverwaltungen und Kulturetats auf, die im Falle der Höfe wie der Kommunen zu dem führten, das wir heute als Kulturpolitik auffassen. Bei den Städten ist diese Entwicklung dadurch bedingt, dass die Struktur der Stadt von der Antike an mehr oder weniger ungebrochen bis ins 21. Jahrhundert hinein tradiert wurde, bei den Landesfürsten dadurch, dass die Bundesländer direkte Rechts- und Traditionsnachfolger der Landesfürsten sind und damit auch deren Aufgaben übernahmen. Das Spätmittelalter bringt aber auch aus einem anderen Grunde Verbesserungen für die ausführenden Musiker. Gerade die sakrale Musik des frühen und hohen Mittelalters kennt meistens nur den anonymen Tonsetzer und schon gar keine Interpreten im heutigen Sinne. Musik war, da liturgisch gebunden, Dienst an Gott und der Einzelne bzw. das Individuum weniger bedeutend. Abgesehen davon ging es bei der Komposition weniger um einen individuellen Ansatz, in dem sich der mehr oder weniger geniale Ansatz des Komponisten äußerte, sondern um den mehr oder weniger perfekten Vollzug einer festen musikalischen Form. In der Renaissance wird dann die Individualität der Komponisten musikalisch immer wichtiger, was auch zur Folge hatte, dass sie häufiger namentlich überliefert sind.8 Ende des 15. Jahrhunderts entstand im Rahmen der Florentiner Camerata die Oper, die sich schnell zu einer höfischen Repräsentationsform entwickelte, wie man unter anderem an der Herrscherhuldigung vieler Libretti der opera seria ablesen kann. Allerdings kam es schon frühzeitig zu Differenzierungsprozessen zwischen höfisch ernster und bürgerlich komischer Oper, wobei die Zugehörigkeit zum höfischen Zeremoniell und deren späterer Übernahme durch das Bürgertum im Rahmen der bürgerlichen Orientierung an aristokratischen Formen Grund für die heutige Subventionierung dieser Kunstform ist. Als Beispiel für die Übernahme der aristokratischen Lebensform durch das Bürgertum kann die Gründung des Deutschen Opernhauses9 in Berlin-Charlottenburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts – die heutige Deutsche Oper – gelten, die als Konkurrenzgründung zur Staatsoper Berlin entstand. Zum Zeitpunkt der Gründung der Deutschen Oper im Jahre 1912 war die Staatsoper noch hohenzollernsche Hofoper. Ähnliches gilt für die 1678 gegründete Hamburger Staatsoper – die meisten anderen Häuser waren zu dieser Zeit noch in die aristokratischen Palais integriert. In diesem Zusammenhang sollte nicht vergessen werden, dass die Oper zumindest in ihrer Entstehung eine rein unterhaltende Kunstform war.10 In allen Jahrhunderten nutzten geschäftstüchtige Künstler ihre politischen Kontakte, um ihre Interessen abzusichern. Ein gutes Beispiel in diesem Zusammenhang ist Richard Strauss, der in seiner Tätigkeit als Vorsitzender der Reichsmusikkammer 8
Möller / Stephan 1991.
9 Das Opernhaus wurde 1912 unter dem Namen Deutsches Opernhaus eröffnet und 1920 in Städtische Oper umbenannt. Im Jahr 1961 erfolgte eine erneute Umbenennung auf den heutigen Namen Deutsche Oper Berlin. 10
Leopold 2004, S. 281 ff.
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1933–1936 mit Urheberrechtsfragen befasst war und als hauptsächlicher Initiator der GEMA-Gründung gilt. Hier setzte er die Unterscheidung zwischen großem und kleinem Recht sowie die Bezahlung nach Stimmen durch (eine Symphonie hat einfach mehr Stimmen, als eine Bluesband), was gerade für Strauss als Komponist groß besetzter Opern und Orchesterstücke den Vorteil steigender Tantiemen mit sich brachte und ein gutes Beispiel für die auch heute noch bestehende Trennung zwischen E- und U-Musik darstellt.11 Ein weiteres Beispiel für diesen Künstlertyp ist Giuseppe Verdi, der als Berater beim Berner Urheberrechtsabkommen tätig war, hier zum Schutz seiner eigenen Werke aber auch zur Nachwuchspflege. Die Entstehung der E-Musik war stets an Zentren gebunden, wobei es egal ist, ob es sich um Städte oder Fürstenhöfe bzw. Abteien oder Kirchen handelte, die sich um die Kunstpflege kümmerten, denn die logistischen Strukturen, die hier benötigt werden, machen die spontane und ungeübte Aufführung dieser Musik unmöglich. Abgesehen davon boten Zentren den Musikern wie Komponisten eher die Möglichkeit, sich auszutauschen und über die musikalische Infrastruktur zu verfügen, die sie benötigen, als eine kleine dörfliche Gemeinde. Für die Verbreitung populärer Musikformen war das Aufkommen des Radios und der Schallplatte und später auch das Aufkommen des Fernsehens wichtig, da man so neue Publikumsschichten erschließen und die Musik populärer machen konnte.12 Dass exakt eben dieser materialisierte Tonträger-Markt wegbricht und Veranstalter damit umso wichtiger werden, ist ein Grund, diese Musik verstärkt zu fördern. Wie wir wissen hatten die technischen Entwicklungen Rückwirkungen und verstärkende Effekte auf die Popkultur, denn diese konnte sich dank der neuen Möglichkeiten rasant entwickeln. Die folgenden Ausführungen dienen dazu, die historische Entwicklung der bestehenden Kulturinstitutionen zu erklären und der Frage nachzugehen, wieso nach wie vor gerade der etablierte, klassikorientierte Kanon derzeitig so hoch gefördert wird, kaum aber andere Musikformen.
Wie funktioniert Kulturpolitik? Was ist eigentlich eine Kulturförderung, wie kann sie strukturiert sein, was beinhaltet sie? Als eine gern gewählte Trägerform unterscheidet man Stiftungen privaten und öffentlichen Rechts. Erstere ist durch eine privatrechtliche Willenserklärung des Stifters entstanden, letztere durch Gesetz des jeweils zuständigen Parlaments. Beiden gemein ist, dass sie über ein mehr oder weniger großes Grundkapital verfügen, aus 11
Walter 1997, S. 252ff.
12 Obgleich in diesem Zusammenhang auch die Einführung der Lithographie durch Alois Senefelder im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht zu unterschätzen ist, denn dieses Druckverfahren ermöglichte erstmals die Realisierung von Massenauflagen und damit die »massenhafte Vervielfältigung von Musik […], selbst wenn das noch auf ein graphisches Substitut, die Noten, beschränkt blieb«. (Wicke 1998, S. 17).
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dessen Erträgen die in der Satzung festgelegte Stiftungsarbeit finanziert wird. Dieses Kapital kann in beiden Fällen durch Zustiftungen oder durch eigene Erträge, die dem Stiftungskapital zugeführt werden, erhöht werden, wodurch selbstverständlich auch die Zinseinnahmen steigen, aus denen die Stiftungsarbeit finanziert wird, denn das Stiftungskapital darf nicht angegriffen werden. Zu den Erträgen des Stiftungskapitals kommen zur Finanzierung der laufenden Ausgaben öffentliche Subventionen, die bei Stiftungen privaten Rechts zusätzlich fließen können und bei öffentlich-rechtlichen Stiftungen in jedem Falle gewährt werden. Der Unterschied zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Stiftungen liegt darin, dass die privatrechtlichen Stiftungen ihre Arbeit im Wesentlichen aus den Erträgen des Stiftungskapitals decken müssen, während bei den Stiftungen öffentlichen Rechtes schon bei Gründung klar ist, dass die Erträge aus dem Stiftungskapital nicht ausreichen, um die Arbeit zu finanzieren und daher in jedem Falle öffentliche Subventionen zu zahlen sind. In seltenen Fällen, das Berliner Brücke-Museum ist hier ein gutes Beispiel, gelingt es privatrechtlichen Stiftungen, in öffentlich-rechtliche Trägerschaften übernommen zu werden. Wie öffentlich-rechtliche Stiftungen übernehmen auch private Stiftungen einen wesentlichen Anteil bei der Kulturförderung.13 Im Vergleich zu Stiftungen handelt es sich bei den sogenannten LHO-Bühnen um die tradierte Trägerschaft öffentlich finanzierter Bühnen. Der Begriff ist dadurch bedingt, dass die Kulturinstitutionen in dieser Rechtsform der LHO (Landeshaushaltsordnung) unterworfen sind und somit wie jedes andere öffentliche Amt auch geführt werden. Auch andere öffentliche Kulturinstitutionen, wie zum Beispiel Museen oder Bibliotheken, werden häufig in dieser Rechtsform geführt. Diese Rechtsform gilt als ausgesprochen unflexibel, da sie in der Regel der kameralistischen Buchführung mit ihren planungsrechtlichen Einschränkungen unterliegt und es damit fast unmöglich wird, Rücklagen zu bilden oder über das Haushaltsjahr hinaus zu planen. Aus diesem Grund ermöglichen manche Träger ihren Kulturinstitutionen auch eine modifizierte Kameralistik, die sich den Regeln der Doppik (Doppelte Buchführung) annähert. Auch das dem BAT (Bundes-Angestelltentarifvertrag) angeglichene Arbeitsrecht gilt als ausgesprochen unflexibel.14 Als dritte Organisationsform öffentlicher Kulturbetriebe bieten sich Kapitalgesellschaften, also GmbH15 und AG16 an, die aber in der Sonderform des gemeinnützigen Betriebs (gGmbH oder gAG) geführt werden. Wie die Stiftung sind sie in ihren Planungsstrukturen flexibler als die LHO-Bühnen, da sie nicht der Kameralistik unterworfen sind, sondern nach der wesentlich flexibleren Doppik arbeiten. Abgesehen davon ist das Geschäftsjahr nicht zwingend das Kalenderjahr, sondern kann davon abweichen. Auch unterliegen diese Rechtsformen, wie die Stiftung, nicht mehr per 13
Strachwitz 2005, S. 205ff.
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Vgl. Fiebig 2003.
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Vgl. Hefermehl 2000.
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se dem BAT und können daher wesentlich flexibler geführt werden, als wenn sie der LHO unterliegen würden. Als ein Träger wird der »Inhaber« eines künstlerischen Betriebs bezeichnet, also derjenige, der diesen Betrieb ausschließlich oder überwiegend finanziert und der die juristische Verantwortung für denselben trägt.
Kultur ist Politik. Wie funktionieren staatliche Entscheidungsebenen? Der heutige Föderalismus als Regierungsform hat mehrere Gründe. Zum einen ist er historisch gewachsen, denn schon das mittelalterliche Reich kannte als Zentralgewalt den König, dem der Reichstag als Vertretung der Stände (Aristokraten aber auch Reichsstädte) als zweite und regional verankerte Entscheidungsgewalt zur Seite stand. Der zweite Grund für diese Entwicklung liegt in der Entscheidung der Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg, dass Deutschland nach dem Dritten Reich über keine starke Zentralgewalt mehr verfügen sollte und deshalb die Rechte der Länder gestärkt wurden. Artikel 20 GG, in dem der föderale Aufbau der BRD bestimmt ist, gehört zu den unabänderlichen Artikeln des Grundgesetztes. Der dritte Grund liegt in dem Prinzip der Subsidiarität begründet. Kurz gefasst sollen Entscheidungen möglichst vor Ort gefasst werden und nur, wenn eine Entscheidung auf dieser Ebene unmöglich oder nicht sinnvoll ist, an die nächst höhere delegiert werden. In Europa gibt es vier Ebenen, die alle demokratisch legitimiert sein müssen: die Kommunen, die Länder, die Staaten und die EU, die – dem deutschen Modell vergleichbar – föderal verfasst sind. Der Nachteil des föderalen Systems liegt darin, dass häufig Kompetenzen nicht klar zugeordnet werden können, was zu Reibungsverlusten bei den politischen und verwaltungstechnischen Entscheidungsabläufen führt. Grob gesagt verfügt die EU über die Entscheidungsfelder: Geld-, Außen- und Wirtschaftspolitik sowie staatliche Rahmenbedingungen, während die einzelnen EU-Staaten über Kompetenzen in der Verteidigung, Außen- und Innenpolitik, Wirtschaft sowie entsprechende staatliche Rahmenbedingungen bestimmen. Zu den Entscheidungsbefugnissen der Bundesländer in Deutschland zählen Innenpolitik, Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung, Kultur. Auf der kommunalen Ebene sind es vor allem die Bereiche Kultur und lokale Wirtschaft. Neben diesen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Regeln exstieren spezielle Verträge zwischen Bund und Ländern wie das Hochschulrahmengesetz oder der Hauptstadtvertrag, die Detailfragen regeln. Die föderale Zweiteilung in Bund und Länder ist notwendig, da man das Grundgesetz nicht mit Detailregeln überfrachten möchte und zur Änderung eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, während man im normalen Gesetzgebungsverfahren auf Landesebene nur eine Mehrheit von 50 % braucht und somit ein einfaches Gesetz einfacher geändert werden kann, als das Grundgesetz.
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Kultur kostet Geld. Wie werden öffentliche Einnahmen generiert? Als wichtigste Einnahmequelle der öffentlichen Haushalte sind die Steuern zu nennen, zu denen Mehrwertsteuer, Einkommenssteuer und Gewerbesteuer gehören. Diese Einnahmen fließen den unterschiedlichen Ebenen der öffentlichen Hand zu. Die Gewerbesteuer ist zum Beispiel eine typische kommunale Steuer, die Mehrwertsteuer wird zwischen EU, Bund und Ländern aufgeteilt. Das Problem für die Kommunen besteht darin, dass die Gewerbesteuer als im Wesentlichen kommunale Steuer zu unberechenbar ist, um den Städten genügend Planungssicherheit über einen längeren Zeitraum zu geben. Für die Kulturfinanzierung bedeutet dies, dass die Städte gerade bei den Kann-Einnahmen sparen müssen, um das Wegbrechen der Gewerbesteuer teilweise auszugleichen, was auch bedeutet, dass in diesem Fall der Hauptfinanzier der Kunst, die Stadt, wegfällt.17 Als zweite öffentliche Einnahme, die überwiegend den Kommunen zugutekommt, sind die Gebühren für Verwaltungsakte zu nennen, zum Beispiel für Personalausweise oder Gewerbeanmeldungen, denen aber auch konkrete Ausgaben der Verwaltung gegenüberstehen, wodurch die Einnahmen nicht zwingend zu zusätzlichen Einnahmen führen müssen. Zölle für den Im- und Export, der zweiten großen Einnahmequelle dieses Bereiches, fließen ausschließlich der EU zu, die auch die Höhe festlegt. Neben Steuern, Gebühren und Zöllen gibt es noch weitere sonstige Einnahmen, zum Beispiel aus unternehmerischer Tätigkeit (Dividenden oder Erlöse aus Unternehmensverkäufen).18 Die Verteilung der Einnahmen zwischen den einzelnen Ebenen, wie die Bestimmung der konkreten Höhe, obliegt der Kontrolle der Parlamente und der Rechnungshöfe, wobei erstere die inhaltlichen Vorgaben machen und letztere die ordnungsgemäße Verwendung im Sinne der parlamentarischen Haushaltspläne überprüfen. Im Gegensatz dazu werden Steuer- und Zollsätze nur durch die zuständigen Parlamente bestimmt.
Kompetenzabgrenzungen definieren Entscheidungsräume Kulturförderung ist nach aktueller Auffassung der Kompetenzverteilung gemeinhin eine rein kommunale Aufgabe, wobei eine Finanzierung der höheren Ebenen – sprich Länder, Bund und EU – nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Hier findet man aber eher Projektzuschüsse als wirkliche Trägerschaften einer Kulturorgani17
Keuschnigg 2005, S.6ff.
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sation. Die einzige Ausnahme dieser Regel bilden die Stadtstaaten, bei denen die Kulturpolitik Aufgabe des Landes ist. Die Bezirke der Stadtstaaten haben zwar einen eigenen Etat für Kultur, der aber relativ gering ausgestattet ist und aus dem zum Beispiel Bezirksbibliotheken oder auch kleinere Heimatmuseen finanziert werden. In Stadtstaaten ist die veränderte Kompetenzabgrenzung dadurch bedingt, dass die meisten Kulturinstitutionen von gesamtstädtischer Bedeutung sind und damit vom Land getragen werden. Neben dieser grundsätzlichen Aufteilung gibt es noch die Kulturstiftung der Länder, die Kulturstiftung des Bundes sowie die vom Bund und Land getragene Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die ebenfalls Kultur finanzieren. In Berlin sind alle wesentlichen Kulturinstitutionen entweder Bundes- oder Landesinstitutionen, wobei die Stiftung Preußischer Kulturbesitz als Bund-LänderStiftung, und die Stiftung Oper in Berlin wie auch die Stiftung Berliner Philharmoniker als Landesstiftung hervorzuheben sind. Die Bezirke verfügen lediglich über kleine Organisationen wie Bezirksbibliotheken, Musik- und Volkshochschulen und sind somit nur rudimentär aktiv. Diese Aufteilung ist nicht nur dadurch bedingt, dass die Bezirke nicht über genügend Geld verfügen, um große Institutionen zu finanzieren, obwohl sie von der Bevölkerung groß genug währen. Nein, der Bezirk Wedding hat schlicht nicht das Geld, die Museumsinsel, die Staatsbibliothek Ost, die Staatsoper, die Komische Oper, das Konzerthaus sowie das Deutsche Theater und das Berliner Ensemble zu finanzieren. Diese großen Institutionen sind von gesamtstädtischer Bedeutung. Berlin entspricht somit der klassischen Aufteilung eines Stadtstaates. Die beschriebene Kompetenzabgrenzung findet sich auch in den Etats von Bund, Ländern und Kommunen wieder. Im Etat des Bundes finden sich aus diesem einfachen Grund nur geringe Ausgaben für Kultur, weil es nicht zu seinen Kernkompetenzen gehört und er zudem nur wenige Institutionen etatisiert. Gleiches gilt für die Länder und die EU, die ebenfalls über relativ wenig eigene Mittel verfügen, während die Kommunen als Hauptverantwortliche relativ hohe Mittel für Kultur etatisieren. Als Ausnahme sind auch hier selbstverständlich die Stadtstaaten zu nennen. Komische Oper Berlin
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Kulturfinanzierung ist bisher keine Pflicht Sozialleistungen und innere wie äußere Sicherheit sind öffentliche Pflichtleistungen, wohingegen Kultur nach gängiger Rechtslage eine Kannleistung der öffentlichen Hände darstellt und somit freiwillig ist. Daher wird im Bereich der Kultur auch immer am ehesten gespart, da sie im Gegensatz zu den Pflichtaufgaben nicht einklagbar ist. Aus diesem Grund ist die Aufnahme von Kultur als Staatsziel im Grundgesetz sinnlos. Um wirkungsvoll etwas zu ändern, muss Kulturfinanzierung von den Landesparlamenten als Pflichtaufgabe in die Kommunalordnungen geschrieben werden. Damit sind sie einklagbar, Kannleistungen nicht.
Politische Abstimmungsmechanismen und Landeshaushalt Bei Kulturfinanzierungsfragen sind in Berlin zwingend der Kulturausschuss bzw. die Senatskanzlei für kulturelle Angelegenheiten (SenKult) und der Hauptausschuss bzw. die Senatsverwaltung für Finanzen (SenFin) an den Entscheidungen beteiligt. Weitere Ausschüsse oder Senatsverwaltungen können dazukommen, bei Kulturwirtschaft zum Beispiel das Wirtschaftsressort, bei den vom Jobcenter finanzierten Stellen zum Beispiel der Bereich Soziales. Zu dem Abstimmungsbedarf innerhalb des Bundeslandes bzw. der Kommune kommen häufig noch Abstimmungen zwischen den einzelnen Ländern oder zwischen Bund und Land hinzu, wie das bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu sehen ist, die von Bund und allen 16 Ländern finanziert wird. Sind Bund und Land beteiligt, oder trifft der Bund Entscheidungen, die die Länder als ausführendes Organ betreffen, müssen sich Bundestag und Bundesrat abstimmen, da der Bundesrat Vertretung der Länder auf Bundesebene ist, um ihren Einfluss zu gewährleisten.19 Wenn die Abstimmungsmechanismen zwischen den handelnden Akteuren gut laufen, werden zusätzlich die Entscheidungsträger der jeweils betroffenen Institutionen in die Entscheidungen der jeweiligen Parlamente mit einbezogen, sei es, dass sie zu öffentlichen Anhörungen gebeten werden, sei es, dass sie sich in privaten Gesprächen mit den zuständigen Ministern oder Abgeordneten äußern. Hier bietet sich neben der Arbeit für eine Partei oder eine Nichtregierungsorganisation wie die Kulturpolitische Gesellschaft die Möglichkeit, auch als Außenstehender direkt und ohne Parteimitgliedschaft einzugreifen. Fachabgeordnete bzw. Minister / Senatoren sind aber mitnichten dazu gezwungen, die beteiligten Institutionen mit einzubeziehen, sondern können aufgrund der vorliegenden Aktenlage entscheiden. Die Mittelverwendung wird durch die Landesrechnungshöfe bzw. den Bundesrechnungshof kontrolliert, die aber nicht in die parlamentarische Etathoheit ein19
Vgl. Sturhan 2003, S. 85 ff.
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greifen dürfen. Insofern können sie nur Vorschläge machen, die aber in der Regel veröffentlicht werden, sodass eine interessierte Öffentlichkeit diese Informationen dazu nutzen kann, um öffentlich auf Missstände hinzuweisen. Der Haushalt des Landes Berlins ist in insgesamt 29 Einzelpläne unterteilt. Nr. 01 betrifft das Abgeordnetenhaus, Nr. 02 den Landesverfassungsgerichtshof, Nr. 03 die Senatskanzlei und Kultur, sodass hier ein Teil der ressortübergreifenden Themen abgehakt werden kann. Danach folgen die einzelnen Fachressorts in Abhängigkeit von den dazugehörigen Senatoren.20 Kultur war bis 2006 mit Bildung unter Nr. 07 zusammengefasst.21 Der Einzelplan Nr. 03 ist der des Regierenden Bürgermeisters bzw. der Senatskanzlei, was auch die Unterteilung in Kosten für die Senatskanzlei und in Kulturelle Ausgaben bzw. die Zugehörigkeit des Kulturressorts zu diesem Etatposten seit 2006 erklärt, dem Jahr, in dem der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit gleichzeitig Kultursenator wurde.
Wie sieht die Etat-Struktur für das Kulturressort aus? Bei der Förderung von Musik wird im Haushalt eine signifikante Unterscheidung bei den freien Gruppen getroffen. Der Einzelplan Nr. 03 unterscheidet traditionell zwischen Projektförderung, Basisförderung, Konzeptförderung und institutioneller Förderung. Während die Projektförderung nur für ein einzelnes Projekt gewährt wird, wird die Basisförderung für zwei und die Konzeptförderung für vier Jahre gewährt. Die institutionelle Förderung als höchste und zeitlich unbegrenzte Förderstufe unterscheidet sich weiter nach Empfängern wie LHO-Bühnen oder privatrechtlich organisierten Institutionen. Neben dieser Förderstruktur unterscheidet der Haushaltsplan noch zwischen öffentlich-rechtlichen Stiftungen oder privatrechtlichen Organisationsformen wie GmbHs oder Stiftungen privaten Rechts. Diese Förderstruktur ist grundsätzlich sinnvoll, ermöglicht sie doch, neben den großen Institutionen, die allein aufgrund ihrer Größe an einen festen Ort gebunden sind, kleine flexible Einheiten zu unterstützen, die neue Räume in der Stadt erschließen können. Hier sind unter anderem die Opernhäuser Novoflot und die Zeitgenössische Oper Berlin zu nennen. Das System kann somit flexibel auf Veränderungen der Berliner Kulturlandschaft reagieren, da es einzelne Institutionen neu in die Förderung nehmen, die Förderstufe verändern oder auch herausnehmen kann. Lediglich die Evaluierung der institutionell geförderten Einrichtungen hat sich leider noch nicht durchgesetzt, obwohl dieses Mittel eigentlich in der Fördersystematik angelegt ist und dazu genutzt werden könnte, dass diese Einrichtungen durchaus auch leichter wieder aus der Förderung genommen werden können. Leider ist die kulturwirtschaftliche Förderung nicht in diesem Maße systematisiert, sodass es hier trotz aller öffentli20
Siehe Senatsverwaltung für Finanzen 2010, Teilband 3, Kapitel 0310.
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Siehe Senatsverwaltung für Finanzen 2007.
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chen Diskussion nicht möglich ist, mit einem geschlossenen System aufzuwarten. In diesem Punkt besteht somit noch Nachholbedarf. Des Weiteren sind durchlaufende Posten, zum Beispiel Bundes- oder EU-Mittel, von den Eigenmitteln des Landes zu unterscheiden. Die durchlaufenden Posten sind immer zweckgebunden. Als Beispiele seien die Mittel des Hauptstadtkulturfonds und Sondermittel (zum Beispiel die Lotto-Kulturförderung) erwähnt, die zwar im Haushalt etatisiert sind, aber der Zweckbindung unterliegen und über die nicht frei verfügt werden kann. Das Problem des Haushaltsplanes liegt in der Lesbarkeit, denn der LHO folgend wird der Haushaltsplan in Fremd- und Eigenmittel sowie in Bauleistungen und Zuschüsse zum laufenden Haushalt unterteilt usw., sodass man sich die Zahlungen, die an eine Institution konkret laufen, mühsam zusammensammeln muss.
Stiftung Oper in Berlin. Ein Erfolgsmodell staatlicher Kulturförderung? Das Problem vor der Gründung der Stiftung Oper in Berlin (2004) lag in der desolaten Finanzsituation des Landes Berlins, die die Existenz eines der drei Opernhäuser bedroht hätte. Um die mögliche Fusion von Deutscher Oper und Staatsoper oder die Schließung der Komischen Oper abzuwenden kam der damalige Berliner Kultursenator Flierl auf die Idee, den gesamten Bereich des Backstages, also Werkstätten, Personalmanagement, Kartenverkäufe etc. zentralisiert und damit effizienter zu gestalten. Ziel war es, durch Zentralisierung der Hindergrundbereiche Kosten einzusparen, die dann für den normalen Spielbetrieb verwendet werden können. Die Organisationsstruktur der Stiftung ist relativ einfach. An der Spitze des Stiftungsdachs steht der Generaldirektor, der durch den Stiftungsrat kontrolliert wird. Dem Stiftungsrat gehören der Finanz- sowie der Kultursenator, die künstlerischen Leiter der drei Opernhäuser (Deutsche Oper Berlin, Komische Oper Berlin, Staatsoper Berlin) sowie des Staatsballetts Berlin und weitere vom Kultursenator bestimmte Personen des öffentlichen Lebens an. Die Stiftung übernimmt die Koordination der drei Opern, des Staatsballetts und des Bühnenservice. Diese fünf Betriebe sind bei allen innerbetrieblichen Belangen autonom. Sie werden durch die Intendanten – im Falle der künstlerischen Betriebe – und durch den geschäftsführenden Direktor – im Falle des Bühnenservice – geleitet und müssen ihre Etats sowie die Spielpläne mit dem Generaldirektor abstimmen. Lediglich bei Überschreitung des Etats greift der Generaldirektor ein.22
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Abgeordnetenhaus Berlin 2003.
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Mix it up. Ein Fazit zu Förderungswünschen und Grassroot-Popkultur Als wesentlicher Aspekt ist festzuhalten, dass populäre Musik heute von weiten Teilen der Bevölkerung rezipiert wird und somit nicht mehr nur Teil bzw. Spiegelbild einer Jugendkultur ist. Zudem hat sie in den letzten 100 Jahren eine Unzahl unterschiedlicher Stilrichtungen ausgeprägt, die durchaus musealen Wert haben bzw. Schule machend für nachfolgende Musikergenerationen sind. Insofern haben sich allein schon ästhetisch Parallelen zur sogenannten ernsten Musik aufgetan. Beide Musikrichtungen haben Musiker hervorgebracht, die von lexikalischem Interesse sind und zum Kanon der jeweiligen Richtung gehören. Abgesehen davon handelt es sich um zwei musikalische Ebenen, die bis in das beginnende 19. Jahrhundert durchaus nicht getrennt waren. Unabhängig von den historischen Überlegungen ist der Markt für Popmusik von strukturellen Veränderungen geprägt, die in der Geschichte dieser Musikform einmalig sind. So bricht der physische Tonträgermarkt als wichtige Einnahmequelle aber auch als wichtiger Promotion- und Distributionsweg ein, während die Bedeutung der Veranstalter in diesem Bereich immer wichtiger wird. Durch diese Veränderung ergibt sich eine weitere Parallele zum Klassikmarkt, der ja auch davon lebt, dass es mehr oder weniger große Institutionen gibt, die öffentlich gefördert sind und die ihre Produktionen als Zweitverwertung vermarkten. Bei den Institutionen bietet sich ein Mix aus öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Institutionen an. Daher bietet sich auch eine gemischte Förderung an, die einerseits Spielstätten fördert, also die reine bauliche Infrastruktur mit der notwendigen Veranstaltungstechnik, wie auch die Förderung von Institutionen, die diese Infrastruktur dauerhaft oder fallweise bespielen. Durch die öffentlich geförderten Spielstätten böte sich auch die Möglichkeit, Nachwuchsmusikern erste außeruniversitäre Proben- und Auftrittsmöglichkeiten zu bieten, um sich im Markt zu erproben. Bei der Förderung von Popmusik hat sich zumindest in Nordrhein-Westfalen ein mehrstufiges Fördermodell durchgesetzt, das dem Berliner Fördermodell sehr ähnlich ist. Man unterscheidet, und das entspricht dem Berliner Modell, zwischen Projekt-, Basis- und Konzeptförderung einerseits und einer gezielten Spielstättenförderung andererseits. Der Unterschied zwischen NRW und Berlin liegt allerdings darin, dass NRW diese Fördermöglichkeiten ungleich stärker auch auf den Bereich der Populärmusik ausweitete. Auch fehlte bis dato in Berlin ein Beauftragter für Populärmusik, den zum Beispiel viele nordrhein-westfälische Städte eingerichtet haben.23 Mit dem Start des Musicboards und der Stelle einer Musikbeauftragten der Stadt (Katja Lucker) ist dieses Manko nun 2013 behoben.
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Niketta / Volke 1994.
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Die strukturelle Förderung von Institutionen in Berlin ist bereits vorhanden. Hier geht es lediglich darum, die Gelder deutlich aufzustocken. Nur im Bereich der Ausbildung besteht erheblicher Nachholbedarf, denn beide Musikhochschulen bildeten zwar klassische Musiker und solche für Jazz aus, aber lange nicht für »echte« Populärmusik, nicht für massentaugliche Popmusik der Charts oder der Stadien, was neben der Vermittlung des rein technischen Wissens auch bedeutete, dass der Austausch mit anderen Musikern sich langsamer entwickelte und das universitäre Schutzschild für die Entwicklung eines eigenen Stils fehlte. Im Bereich Nachwuchsförderung ist auf die 2003 gegründete Popakademie Baden-Württemberg (vormals Popakademie Mannheim) zu verweisen. Zwar ist es in Berlin dank der Fülle an Kunsthochschulen nicht notwendig, eine weitere zu gründen, aber die Hochschule Hanns Eisler (HfM) und die Universität der Künste (UdK) sollten spezielle Studiengänge für die Musiker dieser Richtung einrichten.24 Die Förderung von Popmusik beinhaltet aber auch nichtmusikalische, stadtplanerische und touristische Aspekte, schließlich reisen die meisten nicht wegen der Hochkultur des klassischen Konzerts oder des Opernbesuchs nach Berlin, sondern wegen der Clubs und der Pop-Events. Außerdem hilft diese Musik auch, einzelne Quartiere zu entwickeln bzw. zu stabilisieren. Hier ist von Vorteil, dass gerade die Clubszene räumlich hochflexibel reagiert und das Quartier wechseln kann, wenn ihnen eines zu stark gentrifiziert worden ist. Des Weiteren ist die eigentliche Kunstförderung um Aspekte der Kulturwirtschaftsförderung zu erweitern, da die Musiker zum Beispiel auf Produktions- und Distributionsstrukturen treffen müssen, die ihr Potenzial erkennen, verwerten und vermarkten. Hier sind die klassischen Mittel der Wirtschaftsförderung, also Eigenkapitalhilfen, Vernetzungen und Kredite notwendig. Bei allen diesen Maßnahmen sollte man nicht vergessen, dass diese nur zum Ziel führen, wenn Popmusik endlich als eigenständige, spezifische Musikform wahrgenommen wird, die genauso wie die ernste Musik in einen Mainstream und experimentelle Musikformen zerfällt. Kurz, neben der Frage nach den Strukturen und Wirkungsweisen der Kulturpolitik und der Frage, wie man Popmusik dort einordnet, ist gleichermaßen auch die ästhetische Debatte zu führen, damit Popmusik endlich als das wahrgenommen wird, was sie ist, nämlich eine Musikform, die man ernst nehmen sollte.
24 Mit dem Berliner Standort der 2005 eröffneten Akademie Deutsche POP [http://www.deutschepop.com/standorte/berlin.html, 31.08.2013] und der 2009 in Berlin gegründeten Hochschule der populären Künste FH [http://www.hdpk.de, 31.08.2013] wurde ein Weg eingeleitet, der beschriebenen Kritik entgegenzuwirken.
Sehen, supporten, stabilisieren Alice Ströver
Birke: Derzeit versuchen viele Akteure aus den unterschiedlichsten Bereichen, Pop zu definieren. Ströver: In meiner Generation war das immer Rock gegen Pop, da haben wir doch bei ABBA und allem davor die Nase gerümpft. Birke: Durch die Krise der Musikwirtschaft könnten diese Grabenkämpfe vielleicht überwunden werden, indem man versucht, unter einem neuen Dach das zusammen zu denken und sich nicht nur abzugrenzen. Eigentlich ist populäre Musik ein journalistischer Begriff. Ströver: Ja, aber dann muss man genau sagen, was man unter populärer Musik versteht. Birke: Gibt es aus Sicht der Kulturpolitik Ansätze mit Popkultur oder Popmusik begrifflich umzugehen? Wie wird das definiert, welche Bedeutung wird dem beigemessen? Ströver: Wenn ich zurückblicke – und ich überschaue jetzt einen Zeitraum von 35 Jahren – auf meine Zeit im alten Westberlin kann ich sagen, dass Rock- und Popmusik eine enorme Bedeutung in der Stadt hatten. Es gab ja einen überproportional hohen Anteil junger Leute. Das war ein wesentlicher Teil ihrer Lebensausdrucksformen. Hierher kamen Musiker wie David Bowie1, um die Stimmung der Siebziger in ihre Musik einfließen zu lassen. Auch nach der Wiedervereinigung hat sich das fortgesetzt, natürlich mit einem anderen Charakter, mit einer noch stärkeren internationalen Ausrichtung. Ich glaube, Berlin steht für eine Stadt, in der die populäre Musik gemacht wird, zu Hause ist, die interessante Produktions- und Aufführungsmöglichkeiten hat. Bestimmte Begriffe sind im Zusammenhang mit der klassischen Kulturpolitik schwierig, weil sie in die Raster der Kultur förderungskriterien der Kulturpolitik gar nicht so hinein passen. Die Trennung in der Systematik der Förderung unterscheidet ganz deutlich immer noch zwischen E und U, und nicht zwischen jungen, innovativen, qualitativen Formaten. U wird häufig genug noch gleichgesetzt mit »einfach«, zum Beispiel einfach zu produzieren. Das ist natürlich nicht der Fall, das wissen wir schon. E-Musik braucht Rahmenbedingungen, die anspruchsvoller sind. Birke: Und wieso ist das so? 1
Siehe Fußnote 21, S. 58.
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Alice Ströver
Ströver: Ein Konzertsaal, die Aufführung symphonischer Werke – damit ist immer ein größerer personeller Aufwand verbunden. Aber für Übungs- und Aufnahmestudios im U-Bereich ist der technische Aufwand ja vergleichsweise eher geringer. Birke: Aber vielleicht ist das eine falsche Annahme? Ströver: Glaube ich nicht. Birke: Die akustischen Ansprüche sind beim Rock- und Popkonzert genau die gleichen, wie bei einem klassischen, nur eben mit anderen Werten. Ströver: Aber die Verstärkungsmöglichkeiten ermöglichen schon mehr Variabilität in der Wahl des Präsentationsortes, was man bei klassischen symphonischen Konzerten kaum machen kann. Das ist ja gerade das gute im Bereich der populären Musik, nicht so gebunden zu sein an traditionelle Konzerthäuser. Das finde ich ganz schön an dieser Konzeption. Birke: Hatten diese populären Musikformen, die dazugehörigen Szenen und Zielgruppen eine Bedeutung für die Stadtentwicklung in den letzten 35 Jahren? Ströver: Für die Stadtentwicklung in jedem Falle, vor allen seit der Wiedervereinigung, besonders das Sich-Aneignen von Räumen. Dass im ORWOhaus2 einfach Gruppen kommen und sagen: Wir wollen das als unseren Probenraum oder unser Probenhaus, das ist essenziell. Auch bei den Aufführungsmöglichkeiten hat die Szene, wie auch die bildende Kunst, sich Räume angeeignet. Das ist ein ganz wichtiger Teil der Stadtentwicklung. Und von der Wirkungsweise war es ein Signal der Lebendigkeit der Stadt. Das hat ja auch ökonomisch zu Veränderungen und Verlagerungen von bestimmten Firmen nach Berlin geführt, zum Beispiel der Popkomm3. Das ist schon ein signifikanter Faktor. Birke: Meinst du das eher im imagebildenden Sinne oder auch räumlich logistisch? Wir hatten zum Beispiel einmal bei der Stadtentwicklung angerufen, um rauszukriegen, ob Kultur und Popkultur für stadtplanerische Entscheidungen überhaupt ein Kriterium ist. Die Antwort war: Gar nicht, null – für uns ist gerade das Thema soziale Stadt angekommen. Wie erklärst du dir das? Ströver: Es hat keine Bedeutung für die offizielle Stadtentwicklungspolitik, das ist leider so. Andererseits steckt da ein klassisches Defizit drin: Wo kann man das kreative Leben einer Stadt nachhaltig und wirklich langfristig verorten? Da müssen Räume sein, die leicht zugänglich für Präsentationen und Aufführungen sind, da werden Probe- und Produktionsräume benötigt, die so ausgestattet sind, dass die umliegende Wohnbevölkerung nicht gestört wird. Und was tut die offizielle Kultur- oder Stadtentwicklungspolitik, um dies zu erhalten? Eigentlich verengt 2 Das in Berlin-Marzahn gelegene ORWOhaus (Nähe S-Bahnhof »Poelchaustraße«) ist ein ehemaliges Fabrikgebäude aus den 1970er-Jahren des Ostdeutschen Tonbandherstellers Original Wolfen (ORWO). Nach jahrelangem Leerstand begannen ab 1998 Bands, die leer stehenden Räumlich keiten als Probenräume zu mieten. Mittlerweile proben hier etwa 200 Bands, unter anderem auch die Ohrbooten, Die Happy und Tim Bendzko. Neben Probenräumen gibt es Büro- und Gewerbeflächen, Veranstaltungsräume sowie professionelle Tonstudios. Das ORWOhaus ist Mitglied Berlin Music Commission (BMC). [www.orwohaus.de, 23.08.2013]. 3
Siehe Fußnote 17, S. 42.
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sie sukzessive die Räume wieder. Diese tolle Übergangszeit, die ist nicht mehr da, weil es immer weniger dieser kreativen Räume gibt, weil der Immobilienbestand verkauft wird. Und man hält sie nicht vor. Das ist ja beispielsweise eine klare Forderung grüner Kreativszenen-Politik. Die öffentliche Hand hat einen Teil an Flächen vorzuhalten, wo genau diese kreativen Ausdrucksformen sich wiederfinden, egal ob im wirtschaftlichen oder kulturellen Bereich. Birke: Warum reagiert bestimmte Politik nicht auf solche Entwicklungen? Also wenn die Grünen das fordern bedeutet es ja meistens, dass die Regierungsparteien es nicht tun. Worin siehst du die Ursachen? Ströver: Es würde eine Auseinandersetzung mit neuen soziokulturellen Strömungen und deren Wertigkeit in der Stadt voraussetzen. Das geschieht ja immer mit Verzögerungen über mehrere Jahre oder Jahrzehnte. Ehe das Eingang findet in konzeptionelle und erst recht finanzielle Politik haben sich häufig bestimmte Entwicklungen schon wieder überlebt. Kulturpolitik aber auch Stadtentwicklungspolitik hinkt eigentlich immer realen Entwicklungen hinterher, und das ist extrem schlecht. Zu viele Mittel des Berliner Haushalts sind institutionell gebunden, zu wenig variable Mittel sind da, um jungen neuen Strömungen nachzugehen.
2013 immer noch in der Ackerstraße: Der Schokoladen4
4 Der Schokoladen eröffnete 1990 im Berliner Bezirk Mitte (Nähe U-Bahnhof »Rosenthaler Platz«). In den Räumen des Wohn- und Kulturprojekts befinden sich Ateliers, Bandprobenräume, das Musikcafé Schokoladen, das Theater AckerStadtPalast und eine Kulturinitiative polnischer Exilbürger, der Club der polnischen Versager. [http://www.schokoladen-mitte.de, 23.08.2013].
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Birke: Wenn man sich die Geschichte des Pop anschaut – nicht nur als popu läre Musikform – dann kann man schon von einer hundertjährigen Geschichte sprechen, die maßgeblich moderne Gesellschaften prägte. Um einen neuen Zugang zu finden, der eben nicht nur über die Brücke der Sozio- und Jugendkultur geht, könnte man vielleicht anfangen darüber zu sprechen, dass sich da eine neue Kunstform gebildet hat, die es neben den anderen Künsten auch nachhaltig zu fördern gilt. Ströver: Ja, dazu müsste man genau erläutern, was alles zu populärer Musik gehört. Das sind Übergänge der klassischen Musik zu Jazz, bis hin zum modernen DJ ing oder zur Weltmusik, HipHop, Rap und alle Formen klassischer Rock- und Popmusik. Ob das alles zusammen über einen Kamm zu scheren ist, weiß ich nicht, und erst recht nicht, ob das unter diesem popkulturellen Begriff zu fassen ist. Ich habe zugegebener Maßen Zweifel, verstehe aber, dass man das natürlich als besser zu fassenden Faktor gegenüber der Politik oder der Öffentlichkeit transportieren und labeln muss. Ich würde da eher Nein sagen, weil es immer auch temporäre Entwicklungen sind. Birke: Und was ist, wenn man, der klassischen Kulturpolitikteilung von E und U folgend, sagt: Man muss etwas für die U-Musik tun? Ströver: Das kann man ja ruhig einmal mit dem Theater vergleichen. Da sagt man: Alles, was U ist, braucht keine Förderung. Alles, was U ist, ist einfach oder preiswert herzustellen. Das ist natürlich Blödsinn. Wir wissen doch, dass es gerade in diesem Bereich gute Kenntnisse, vielleicht auch eine andere Art von Qualifikation braucht, zum Beispiel auf der Bühne, egal ob im Musik- oder Sprechtheaterbereich, um erfolgreich zu sein. Das ist eine hohe Kunst. Ich würde da einen sehr weiten Kulturbegriff anbringen und das auf jeden Fall darunter subsumieren. Ob das nun ein eigenes Genre ist, weiß ich nicht, aber ich finde, es gehört zur Musikförderung einfach dazu. Birke: Wenn man davon ausgeht, dass da etwas ist, was gelabelt und gefördert werden muss, sowohl im ästhetischen als auch im wirtschaftlichen Sinne, was braucht es, um im Berliner Haushalt entsprechende Veränderungen herbeizuführen? Ströver: Man geht ja immer davon aus, dass etwas, was sich an der Kasse realisieren lässt, und dazu zählt die populäre Musik, keine öffentliche Förderung benötigt. Das ist ja auch so eine Hilfskonstruktion, durchaus auch für mich: Alles, was es schwer hat, hat eher einen Förderungsanspruch als das, was es auf dem Markt nicht so schwer hat. Durch die Entwicklungen wie Downloads, weg vom klassischen Rezeptionsverhalten wird es auch die populäre Musik über kurz oder lang schwer haben. Wirtschaftlich sind die Dinge ja nicht mehr so erfolgreich zu vermarkten, erst recht nicht im Bereich abseits des Mainstreams, also bei etwas anspruchsvollerer Musik. Daher ist es richtig, dass sich Kulturpolitik diesem Feld öffnet. In Berlin ist es ja so, dass wir jurierte Kleinstförderungen von Studioterminen oder CDAufnahmen und Ähnliches haben. Das ist natürlich völlig lächerlich im Verhältnis zu der Bedeutung, die diesem Bereich zukommt. Summa summarum denke ich, es muss hier eine Veränderung geben, aber da trifft es natürlich auf das Kernproblem
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des Berliner Kulturetats, der in sich einfach deformiert ist. Er ist insgesamt gesehen zu gering. Ich kann aber kein Geld drucken und so, wie der Berliner Haushalt insgesamt aussieht, mit inzwischen weit über 60 Milliarden Euro Schulden, müsste man innerhalb des Etats Schwerpunkte verlagern. Ich glaube dieser Bereich hätte gute Anrechte darauf, aber das heißt, man muss im institutionellen Bereich, also da, wo feste Institutionen an Haushaltstitel gebunden sind, tatsächlich viel stärker variieren, evaluieren und da auch gegebenenfalls Mittel wegnehmen. Diese anderen Bewegungen in der Kulturpolitik gibt es nicht. Im Gegenteil, sie fesseln immer mehr liquide Mittel an Institutionen und damit ist natürlich eine lebendige Kulturpolitik, die sich an neuen Entwicklungen orientiert, nicht mehr möglich. Das jetzt durchsetzen zu wollen, ist vor diesem Hintergrund aus meiner Sicht wenig realistisch. Was vernünftig sein könnte, wäre eine Politik nach dem Prinzip: Lebe populäre Kulturförderung in all seinen Varianten! Mit Aufführungsproduktionsförderung und Ähnlichem; also dieser klassische Weg. Das heißt, man muss einen stadtpolitischen Diskurs durchsetzen, der danach fragt: Wie soll eigentlich Kulturförderung aussehen? Ich wäre sehr dafür, wenn es überhaupt keine feste Bindung an irgendwas gibt, mal abgesehen von Museen, die aufgrund ihrer Sammlung so eine Art Dauerexistenzrecht haben. Aber ansonsten muss sich Kulturförderung immer modern und flexibel halten und auf innovative Strömungen eingehen können. Und so lange diese Sicht auf die Dinge nicht mehrheitsfähig ist, kann und muss man da gegebenenfalls auch Mittel freisetzen, aus den Bereichen, die sich eben auch künstlerisch überlebt haben, was es ja geben kann. Ich denke, die Vertreter der populären Musik wollen nicht hingehen und sagen, dann nehmen wir Geld da oder dort weg, völlig verständlich. Das aber ist die Aufgabe von Kulturpolitik, und da muss man sich auch unbeliebt machen. Wenn man die Strukturen und Kriterien benennt, transparent macht, dann werden Entscheidungen verständlich. Das ist der Weg, um solche Entwicklungen aufzufangen und nicht eine lebendige Musikszene, die sich in Berlin konzentriert, wieder sterben zu lassen. Das fände ich völlig blöd, wenn so etwas passieren würde. Birke: Dieses bürgerliche Musiktheater hat zweihundert Jahre daran gearbeitet, dass sie soweit gekommen sind. Und nun sagen wir aus dem populären Bereich, warum sollte man das kippen und uns gegeneinander aushandeln? Sollte man nicht lieber sagen, wir frieren das jetzt in einem bestimmten Status ein. Das ist es jetzt, sozusagen ein Museum des bürgerlichen Musiktheaters mit einer lebendigen Reproduktion der klassischen Stücke. Das ist ja auch ein Magnet für Berlin und seine Imagebildung. Und darüber hinaus versucht man dann eher über eine neue Kombination aus Kulturpolitik und Kulturwirtschaftspolitik möglicher weise neue Gelder aufzumachen und dann vielleicht so etwas wie eine Popkulturstiftung – oder wie es auch heißen mag – zu gründen? Ströver: Also, ich möchte überhaupt kein Geld einfrieren im Bereich Kultur. Für mich ist fast jeder Kulturcent ein flexibler Cent. Dazu kann auch gehören, dass man sagt, die Vitalität und Lebendigkeit von drei Opernhäusern in Berlin hat sich
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in dieser Form überlebt5. Dann sage ich: Wir müssen die Dinge ändern. Dann würde ich auch sagen: Leute überlegt mal, ist dieses Angebot nicht redundant, und die Frage zulassen: Für wen machen wir das eigentlich? Und dann ist unser Auftrag als mutige Kulturpolitiker eben auch zu sagen: Wir legen Häuser zusammen oder verdichten das Repertoire. Nicht, dass es morgen so weit ist, aber für mich gibt es keinen Erbhof Oper. Birke: Das ist eine starke These. Man geht sozusagen gegen bürgerschaftliches Engagement vor, das so 200 bis 300 Jahre funktioniert hat. Ströver: Nein, ich will ja nicht alle Opern platt machen, das ist ja Blödsinn. Birke: Sondern konzentrieren, fokussieren?
Staatsoper in Berlin im Juli 2013
Ströver: Die Opernhäuser brauchen den Druck, sich qualitativ zu verbessern, um langfristig überlebensfähig zu sein. Die Finanzierung von drei Opernhäusern in Berlin bedeutet ein Drittel des gesamten Kulturetats. Und das ist natürlich so eine starke Aussage und Wertung, die kann ich durchaus hinterfragen. Und dann frage ich: Wäre nicht ein Viertel auch der Weg, womit man dieses Genre pflegen und 5 In Berlin gibt es die drei großen Opernhäuser Staatsoper Berlin, Deutsche Oper Berlin und Komische Oper Berlin. Seit 2004 sind sie zusammen mit dem Staatsballett Berlin und der Bühnenservice GmbH in der Stiftung Oper in Berlin zusammengefasst. [http://www.oper-in-berlin.de/de_ DE/foundation/foundation, 24.08.2013].
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neue Ausdrucksformen damit verbinden kann? Diese Frage muss doch zugelassen sein. Aber ich weiß natürlich, dass man damit dicke Bretter bohrt und die Bürgergesellschaft gegen sich aufbringt. Aber wenn man gute Argumente hat und wenn man es qualitativ argumentieren kann, dann ist für mich überhaupt nichts sakrosankt, nichts. Birke: Wie erklärst du dir diese stete Hinwendung zu den konservativen Modellen, und welche Argumente braucht moderne Kulturpolitik, um diese Hinwendung aufzuhalten? Ströver: Ich glaube, das hängt mit dem gesellschaftlichen Selbstwertgefühl zusammen. Diese bürgerlichen Werte spiegeln sich gar nicht eins zu eins in den Opernhäusern wider. Die sind in ihren künstlerischen Formen teilweise viel weiter und offener. Aber trotzdem ist es das Image, das gepflegt werden soll, und ein Kulturstaat versteht sich in der Tradierung einer bestimmten Institution und seiner musikalischen Ausdrucksformen. Da ist immer noch die stärkste Lobby. Politik ist Lobbyinteressen extrem ausgesetzt. Das haben wir auch gemerkt im Zusammenhang mit der Opernstiftung. Man schaue sich die Zahlen an. Es geht nicht um eine Momentaufnahme. Kulturpolitik muss mittel- und langfristig immer auch schauen, ob diese Ausdrucksformen des Musiktheaters ihr Publikum finden und interessant genug sind, dass es sich lohnt, so viel Geld hinein zu geben. Wenn ich aber nur eine bestimmte Summe habe, muss ich auch schauen, ob ich nicht doch einen Teil umwidme, sodass ich eben jungen, neuen Musikformen mehr Geld geben kann. Das betrifft übrigens auch die neue klassische Musik, die für sich genommen auch nur marginal gefördert wird. Das hab ich noch nie verstanden, warum das Bewahrende so stark gefördert wird und das Innovative in so einer Bittsteller-Haltung ist. Birke: Reichen die Argumente, die auf dem Tisch liegen? Oder brauchen wir klare, erweiterte Definitionen für diverse Musikformen, also ein besseres Begriffsinstrumentarium, um Politikern den Zugang auch im ästhetischen Bereich zu ermöglichen, damit es nicht nur als Jugendkultur rüberkommt, damit man das auch aus der Sache selbst begründen kann? Ströver: Wäre wünschenswert, also eine Begriffsdefinition, welche gesellschaftliche Funktionen, beispielsweise Rap oder HipHop, auch mit deutscher Sprache hat. Man muss erklären, welche Integrationsleistung damit verbunden sein kann. Da setzt man sich ja auch mit den gesellschaftlichen Umständen auseinander. Das wird von Politik unterschätzt oder gar nicht wahrgenommen. Birke: Da ist von den Kulturwissenschaften und der Soziologie schon viel geleistet worden. Was wird für die Übersetzungsarbeit in die Politik gebraucht? Ströver: Lobbying, Interessenvertretung. Ich glaube nicht, dass dies bisher in die Köpfe der Politik transportiert wurde. Da fehlt es an wirklicher Übersetzung, an Kommunikation, an Zugang. Die Leute wachsen natürlich auch da raus, wenn sie in die Politik gehen. Andererseits sind wir jetzt alle in einer Generation, die mit Rock- und Popmusik groß geworden ist. Es ist eine höhere gesellschaftliche
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Akzeptanz für diesen Bereich vorhanden, aber eine gesellschaftliche Akzeptanz für Förderung nicht, das ist der Unterschied. Birke: Fehlt da eigentlich nur Wissen über den Gesamtzusammenhang? Oder ist es, wie man auch vermuten könnte, Faulheit, Abwehr und Schutz in einem konservativen Habitus? Ströver: Glaube ich nicht. Die heute Vierzig- oder auch Sechzigjährigen sind alle mit diesem Bereich groß geworden. Und die verbinden zum Beispiel mit Rockmusik politische Wertungen oder Aussagen. Also für mich trifft das zu. Birke: Würdest du zustimmen, dass Popkultur Forschungszentren braucht, um aufzuarbeiten, dass da zum Beispiel Texte produziert werden, die im politischen Bereich verstanden werden sollen? Ströver: Also wir haben uns dafür eingesetzt, dass es so etwas wie ein Poparchiv6 überhaupt gibt und dass das öffentlich gefördert wird. Das finde ich nach fünfzig Jahren bundesdeutscher Nachkriegsgeschichte einen unverrückbaren Bestandteil. Aber es gibt nirgends einen Ort, an dem man etwas darüber erfährt. Birke: Poparchiv plus Forschung, so könnte man das auch nennen. Ströver: Ja, ich fände es gut, wenn es sich überhaupt irgendwo verorten ließe. Wir wissen doch, was in einem Museum landet, hat gesellschaftlich eine höhere Wertig keit erfahren. Und das ist in diesem Bereich auch so. Birke: Du siehst momentan in der Politik keinen konkreten realistischen Ansatz, dass sich diesbezüglich etwas ändert. Wie würdest du – auch aus deiner Erfahrung – die Zukunft in diesem Bereich sehen? Ströver: Also ich sehe immer noch eine große Vitalität, soweit ich das durchschauen kann. Ich sehe dass eine Menge junge Leute hervorkommen, ich sehe einen Zerfallsprozess zwischen den Independent-Labels und dem Mainstream. Ich finde es problematisch, dass die klassischen Massenmedien wie Hörfunk und Fernsehen sich so verengen, indem, was sie transportieren. Das Internet hat die klassischen Medien längst ersetzt. Da ist eine Art Bildungsauftrag nötig, der dazu führen sollte, dass Leute wie ich und viele andere herangeführt werden an internet-vermittelte Musik. Die Masse der Bevölkerung weiß eigentlich nicht, wie vielfältig die ganze Szene ist, wie wichtig sie für die Stadt ist und was sie an hochwertiger Musik hervorbringt. Das ist nur im Fokus eines kleinen Teils der Gesellschaft. Ich sehe auch ein Versagen der öffentlich rechtlichen Anstalten; in Berlin vielleicht noch am wenigsten. Aber wenn man durch das Land fährt, kriegt man immer die gleichen internationalen Poptitel zu hören. Da ist fast nur Formatradio. Birke: Fehlen da Kompetenzen?
6 Lutz T. Manthe und befreundete Musiker gründeten 1983 ein Berliner Rock- und Poparchiv unter dem Namen Berliner Rockmusik Archiv e. V., um Exponate rund um die Berliner Rock- und Popmusik zu sammeln und zu dokumentieren. Seit 2011 werden ein neuer gemeinnütziger Träger sowie Archiv-Räumlichkeiten für die Sammlung gesucht, die derzeitig zu großen Teilen im Archiv der Jugendkulturen in Berlin-Kreuzberg aufbewahrt wird.
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Ströver: Das kann sein; man erfährt wenig, wenn man nicht direkt dran ist. Man muss es an Kulturpolitiker herantragen, und wenn man kein Lobbying macht oder es in die Medien transportiert, dann rutscht das weg. Und dann wird den Politikern nicht klar, warum sie dafür Mittel frei machen sollen. Birke: Die Enquete-Kommission und die Bundesregierung haben festgestellt, dass das auf jeden Fall förderungswürdig ist7. Siehst du Veränderungen? Bis 1989 war das beispielsweise in der DDR ein Thema, zwar ideologisch aufgeladen, aber das Rock- und Popthema war voll erfasst und in die Infrastruktur eingesickert8. Passiert in der Bundesrepublik jetzt gerade ein Umschwung? Ströver: Nein, man hat immer gesagt, der Bereich könne sich ökonomisch selbst tragen, es wurde nie als eine kulturpolitische Aufgabe gesehen. Immerhin soll es künftig Mittel für ein Musicboard9 geben, aber auch hier braucht es qualitative Förderkriterien. Birke: Siehst du vielleicht einen Ansatz, über »kulturelle Bildung« an junge Leute heranzukommen: Musikunterricht, Musikschulen, dann der nächste Schritt: Clubs und Bands gründen? Ströver: Ich bin Mitglied im Landesausschuss Jugend musiziert, der eine eigene Sparte Pop hat und es auch versucht, also Popgesang und Bands. Das ist zwar noch ein bisschen fragmentarisch, aber man hat erkannt, dass das absolut gleichwertig zu betrachten ist. Man hat Bereiche von Percussion aufgenommen, aber auch klassische Popgeschichten. Und daran zeigt sich doch auch, dass in diesem tradierten Prämierungssystem der Musik eine Menge passiert, auch in den Musikschulen. Das Gespräch führte Sören Birke im Juni 2011.
7
Siehe Deutscher Bundestag 2008.
8
Vgl. dazu die Analysen, Gespräche und Dokumente in Wicke / Müller 1996.
9
Vgl. das Interview mit Katja Lucker in diesem Buch (S. 49 ff.).
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Intro »Heutzutage muss man auf Tour sein Geld verdienen«, diktierte HipHop-Ikone Jay-Z den Berichterstattern im Rahmen der BritAwards-Verleihung 2010 öffentlichkeitswirksam in den Block – und traf damit den Nagel auf den Kopf. Denn wirft man auch nur einen oberflächlichen Blick auf die aktuellen Umsätze der Live Entertainment-Branche wird schnell klar, dass sich diese für die meisten Künstler innerhalb der letzten zehn Jahre zur wichtigsten Einnahmequelle entwickelt haben und damit die gravierenden Einbußen aus dem Tonträgergeschäft kompensieren. Der Begriff »Live Entertainment« scheint vor dem Hintergrund der zahllosen Musikgenres, Spielorte und der Bandbreite der Zuschauer am ehesten dazu geeignet, das Phänomen live erlebter und gespielter Musik vor Publikum zu beschreiben. Unabhängig davon, ob es sich dabei um den Besuch eines Konzerts des Klassikstars Anna Netrebko in der ausverkauften Philharmonie oder um einen Auftritt der New Yorker Art-Rock-Band Liars im Berliner Szeneclub Festsaal Kreuzberg vor 250 Besuchern handelt.
Track 1: The Times They Are A-Changin’ Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen die aktuellen Transformationsprozesse in einer sich selbstbewusst präsentierenden Branche. Es soll gezeigt werden, welchen Wandlungen die Musikwirtschaft ist und wie sich das Selbstverständnis der jeweiligen Akteure innerhalb der letzten Jahre spürbar gewandelt hat. Die professionalisierten Vermarktungsstrategien in einem sich stetig diversifizierenden Markt werden dabei näher beleuchtet. Abschließend sollen einige der sich aus den Befunden abzuleitenden Handlungsprämissen für Kulturschaffende und Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Kulturpolitik skizziert werden.
Track 2: Der deutsche Unterhaltungsmarkt in Zahlen Deutschland ist nach den USA, Japan und Großbritannien der viertstärkste Markt für die globale Musikwirtschaft. Knapp 4,0 Mrd. Euro gaben die insgesamt rund
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33 Mio. deutschen Konzertbesucher 2011 für Live-Unterhaltung aus. Auf Musikveranstaltungen entfielen mehr als zwei Drittel des Gesamtumsatzes: 2,77 Mrd. Euro, auf Nicht-Musikveranstaltungen, wie zum Beispiel Zirkusshows oder Comedy, über 1 Mrd. Euro. Insgesamt wurden allein in Deutschland im Jahr 2011 rund 122 Mio. Tickets zum Durchschnittspreis von 32,30 Euro verkauft. Damit liegen die Ausgaben für den Besuch von Live Entertainment (Musik- und Nicht-Musikveranstaltungen) im gesamten Unterhaltungsmarkt knapp an zweiter Stelle hinter denen für Bücher (4,15 Mrd. Euro) und weit vor den Ausgaben für andere Segmente wie Software / Games (1,83 Mrd. Euro), konservierte Musik, also CDs, PC- und MobiltelefonDownloads (1,4 Mrd. Euro) und Kino (947 Mio. Euro). Zum Vergleich: Im Jahr 1995 lagen die Umsätze im Tonträgerbereich in Deutschland noch bei rund 2,6 Mrd. Euro, d. h. die Umsätze sanken um über 1 Mrd. Euro innerhalb von 16 Jahren dramatisch. Im Gegensatz dazu stiegen die Umsätze im Live Entertainment von 1995 bis 2007 kontinuierlich von 2,4 Mrd. Euro auf 2,9 Mio. Euro an. Erst 2008 waren die Umsätze mit etwa 2,6 Mrd. zum ersten Mal leicht rückläufig.1
Track 3: Die Rolle der Ticketanbieter Der Ticketvertrieb spielt eine zentrale Rolle für alle Veranstalter von Live Entertainment. Die deutschen Veranstalter arbeiten in den meisten Fällen mit internationalen Unternehmen wie Ticketmaster oder CTS Eventim zusammen. Daneben gibt es eine Reihe vor allem regional relevanter Ticketing-Unternehmen, wie zum Beispiel München Ticket oder Köln Ticket, die sich mit ihren Onlineplattformen und den angeschlossenen Vorverkaufsstellen um den Verkauf der Tickets vor Ort kümmern. Ohne in diesem sehr komplexen Dickicht wechselnder Zweck-Allianzen in die Tiefe zu gehen, sollen in aller Kürze einige Fakten benannt werden, welche die Schlüsselposition dieser Unternehmen verdeutlicht. So liegt der geschätzte Jahresumsatz des 2010 aus der geplanten Fusion von Ticketmaster und Live Nation entstehenden Unternehmens Live Nation Entertainment bei rund 6 Mrd. Dollar, der Börsenwert wird mit 2,5 Mrd. Dollar angegeben. Der vor allem in Deutschland schärfste Konkurrent CTS Eventim mit Hauptsitz in Bremen setze 2011 rund 500 Mio. Euro um. Beide Unternehmen beschränken sich nicht nur auf den reinen Vertrieb von Tickets, sondern agieren auch als Anbieter von Live Entertainment mit zahlreichen nationalen und internationalen Beteiligungen. In Deutschland gehören unter anderem die Marek Lieberberg Konzertagentur (Rock am Ring-Festival) oder die FKP Scorpio Konzertproduktion (Hurricane-Festival) zur CTS-Gruppe. Der US-Gigant Live Nation arbeitet neben dem Ausbau des eigentlichen Kerngeschäfts und seines Netzwerks am Aufbau einer eigenen Tonträgerfirma und betreibt darüber hinaus weltweit 120 Veranstaltungsstätten. Im März 2010 ist Live 1 Vgl. GFK-Studie zum Konsumverhalten der Konzert- und Veranstaltungsbesucher in Deutschland in IDKV 2008.
Live Enter tainment
Nation mit der Gründung einer deutschen Dependance auch hierzulande direkt in den Markt eingetreten. Neben Live Nation Entertainment ist die amerikanische Anschutz Entertainment Group (AEG) als weiterer führender globaler Anbieter von Live Entertainment relevant. AEG vermarktet neben zahlreichen US-Sportteams und Tourneen namhafter Künstler, wie zum Beispiel Black Eyed Peas oder Alicia Keys, auch zahlreiche Veranstaltungsstätten. In Deutschland sind dies die beiden o2World-Mehrzweckhallen in Hamburg und Berlin.
Only for Stars: o2 World Berlin
Track 4: Die Ausweitung der Kampfzone – das 360 Grad Modell Prominente Künstler wie Jay-Z, Madonna oder U2 haben die sich abzeichnende Verschiebung der Umsatzgewichtung zu Gunsten des Live Entertainments früh erkannt und bereits 2007 (Jay-Z, Madonna) bzw. 2009 (U2) hoch dotierte Verträge mit Live Nation abgeschlossen. Laut Medienberichten erhielt Madonna für ihren Wechsel 120 Mio. Dollar und Jay-Z sogar 150 Mio. – verbunden mit der Auflage, neben den lukrativen Einnahmen durch Konzerte und Tonträger, auch die Erlöse aus dem Fanartikelgeschäft an Live Nation abzuführen.2 Live Nation startete damit als erstes mit der sogenannten 360-Grad-Vermarktung seiner Künstler, also der Abschöpfung und Erschließung möglichst aller denkbaren Wertschöpfungsketten. Damit legte das Unternehmen den Grundstein für eine weltweite Verschiebung der Parameter. Zunächst aber ein kurzer Schulterblick zurück auf den eigentlichen Kern dieses Geschäfts. 2
Vgl. unter anderem Luxenburger 2009, S. 22.
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Track 5: Popkultur – Leitkultur? »Is it a crisis or a boring change?« Pavement3 Haben nicht digitale Erschließungstechniken die Ressourcen, nach denen vor kurzem noch intensiv gegraben werden musste, allen alles zugänglich gemacht? Ist das coole Wissen über Pop nur noch ein drolliges Hobby einiger Nerds? Und wie authentisch ist die Erfahrung mittels Internet – ohne wirklich Teil der Bewegung zu sein? Exklusive Schürfrechte und limitierte Zugänge zu verborgenen Plätzen werden heute anders vergeben. Vom Aufgang der populären Kultur in der Hegemonialkultur und dem damit einhergehenden Umgang mit Pop als selbstverständlicher Alltagserfahrung war in diesem Band bereits die Rede.4 Der Befund von Pop als Konsensmaschine und als Vehikel von Eskapismus-Sehnsüchten ist längst erstellt. Die Kritik der Merkantilisierung und der letztlich nutzlose Vorwurf des Verrats an Pop als Gebrauchsgut laufen ins Leere. Es wäre schlicht langweilig, die Verkürzung von Produktionszyklen, die scheinbare Explosion von Eintrittspreisen und Künstlergagen, den Aufstieg vormals geheim geltender Nischen als Umsatzbringer und die vermeintliche Kommerzialisierung zu dämonisieren. Die mediale Aufplusterung und die deswegen nötige Aneignung von entsprechenden Handlungskompetenzen stellen ohne Zweifel eine hohe Hürde dar. Aber sollte der Verlust von vormals geheimem Insiderwissen beklagt werden, indem man sich schmollend alte Dylan-Schallplatten anhört und in die Tassen heult? Sicher nicht. Hilfreich ist dagegen eine vorurteilsfreie, differenzierte Auseinandersetzung mit den neuen Kräfteverhältnissen im Pop. Ausgehend von Nietzsches These, dass das Leben ohne Musik ein Irrtum sei5, steht die Frage nach Nutzen und Sinn neuer Strategien und deren Mehrwert für alle beteiligten Akteure im Mittelpunkt. Fest steht, dass der souveräne, weil geübte, Umgang mit Popkultur im Zweifel und ungeachtet der noch näher zu beschreibenden Entwicklungen nach wie vor als Schlüssel zu einer besseren Welt betrachtet werden kann. Denn: Pop kennt keine Formatierungen.
Track 6: Entwicklungen im Live Entertainment Die Buggles bewiesen 1979 prophetische Qualitäten, als sie mit ihrem Hit »Video killed the Radiostar« den Aufstieg des Musikfernsehens als popkulturellem Leitmedium der späten achtziger und neunziger Jahre besangen. Elvis war zu diesem Zeitpunkt lange tot und der Tonträgerindustrie ging es prächtig. Ende der neunziger 3
Zitat aus dem Song »Gold Soundz« (1994) der Gruppe Pavement.
4
Vgl. den Beitrag von Arkadi Junold (S. 89 ff.) in diesem Buch.
5 Das Zitat findet sich in der Abteilung »Sprüche und Pfeile« der Götzen-Dämmerung als Teil des Aphorismus Nr. 33. Siehe Nietzsche 1988, S.64.
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Jahre kamen Napster und Co., illegale Tauschbörsen im Internet und schließlich 2001 der iPod – was zu einem regelrechten Erdrutsch der Umsätze in der Tonträgerbranche führte. Was blieb, war die Begeisterung der Fans für populäre Musik, deren Anteil im Gesamtbild sowohl im Tonträger- als auch Live Entertainment-Bereich mit jeweils deutlich über 50 % konstant blieb. Die beruhigende Erkenntnis der Vermarkter im Live-Biz war und ist, dass sich das Live-Erlebnis nicht brennen lässt. Hiervon ausgehend, sollen im Folgenden exemplarisch einige zentrale Entwicklungen in der Musikindustrie aufgezeigt werden, anhand derer der Paradigmenwechsel innerhalb der Musikindustrie anschaulich nachvollzogen werden kann.
Track 7: Sponsoring »Ain’t singing for Pepsi Ain’t singing for Coke I don’t sing for nobody makes me look like a joke« Neil Young6 Privatwirtschaftliches, d. h. nicht aus öffentlichen Geldern finanziertes Kultursponsoring, hat sich in den letzten Jahren als eine der attraktivsten Sponsoringarten etabliert. Die Akzeptanz beim Publikum ist gestiegen und die Möglichkeiten für potenzielle Unternehmen aus der Wirtschaft sind angesichts vielfältiger Angebote nahezu unbeschränkt. Die Bandbreite für die jeweiligen Engagements reicht dabei von Filmfestivals, Ausstellungen und Zirkusshows bis hin zu Klassik- und Popkonzerten. Eventsponsoring ist innerhalb der vergangenen Jahre zu einem festen Bestandteil des Marketingmix fast aller großen Markenartikler avanciert. Bereits im Jahr 2008 betrug die Gesamtsumme für Kultursponsoring allein in Deutschland 500 Mio. Euro. Das erscheint im Vergleich zu den Summen im Sportsponsoring moderat, ist aber dennoch ein gewichtiger Faktor für die Musikwirtschaft. Eine der Kernfragen ist die nach einer sinnvollen Auflösung des scheinbaren Widerspruchs von Kunst und Kommerzialisierung. Wie glaubwürdig ist ein Engagement und welchen Nutzen können Unternehmen aus einer Zusammenarbeit ziehen? Und wie hoch ist die Gefahr eines Imageschadens auf Seiten des Unternehmens oder des Künstlers im Falle einer schlecht aufgesetzten Zusammenarbeit? Die Beweggründe für ein Sponsoring sind die Platzierung eines Produkts oder des Markennamens innerhalb eines möglichst emotionalen Umfeldes. Insbesondere seitens der Unternehmen zielen Sponsoringmaßnahmen auf Absatzförderung ab. Konzerte prominenter Künstler oder aufwendig inszenierte Großveranstaltungen bieten dafür einen perfekten Rahmen. Um nachhaltig wirksam zu sein, müssen die 6 Zitat aus dem Song »This Note’s For You« (1988) aus dem gleichnamigen Album von Neil Young & The Bluenotes.
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gewonnenen Image- und Absatzeffekte, die Medienpräsenz und die Exklusivität der Kooperation dabei im Einklang mit der jeweiligen Zielgruppe stehen. Die Erfahrung zeigt, dass auch sehr subjektive Motivationen in die Entscheidung für oder gegen ein Sponsoring einfließen können, Stichwort: Chairman’s Choice. Angesichts sinkender Budgets in der Werbeindustrie geraten einsame Entscheidungen dieser Art jedoch zunehmend in den Hintergrund und die kritische Überprüfung überzogener Honorarvorstellungen und des Leistungskatalogs in den Vordergrund. Und: Sponsoring ist keine Einbahnstraße. Nicht nur Unternehmen suchen emotionale Plattformen, auch Künstler bauen aufgrund sinkender Einnahmequellen durch den Verkauf von Tonträgern auf die Nähe zu Unternehmen und Corporate Partnern. Die Bewertung von Sponsorings fällt seit jüngerer Zeit auch auf Künstlerseite grundsätzlich positiver aus, da es nicht nur »nice to have«, sondern in vielen Fällen existenziell geworden ist.
Track 8: Die Notwendigkeit von Reichweiten Unternehmen fordern ein schlüssiges Monitoring. Aber insbesondere im Live Entertainment fehlen standardisierte Konventionen zur Leistungsbewertung sowie valide Quellen zur Ermittlung und zum Nachweis von Reichweiten. Initiativen wie EventWatch, herausgegeben von PressWatch und dem FASPO (Fachverband für Sponsoring und Sonderwerbeformen) haben dies erkannt und stellen Rankings zur Ermittlung der Reichweite zur Verfügung, allerdings nur im Onlinebereich. TV-Quoten als Indikator entfallen bei den allermeisten Veranstaltungen im Musikbereich, da im Gegensatz zum Beispiel zu Sportveranstaltungen nur wenige Events im TV übertragen werden. Die »gefühlte Reichweite« insbesondere bei Musikveranstaltungen unterscheidet sich deutlich von der tatsächlich messbaren, da Konzerte sehr stark fangetrieben und deswegen prädestiniert sind für schwer nachweisbare, aber deutlich spürbare Mund-zu-Mund-Propaganda. Entscheidend aber für Unternehmen ist der durch die Veranstaltung ausgelöste und möglichst flächendeckende PR-Effekt in den Medien. Die sozialen Netzwerke und die steigende Nutzung von Streamingportalen spielen in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Die ausschließliche Anzahl der Besucher ist als Instrument zur Bewertung der Reichweite also allein nicht aussagekräftig.
Track 9: Das richtige Fingerspitzengefühl Die sorgfältige Bestimmung der Eckpunkte einer Kooperation, die Auseinandersetzung mit dem Œuvre des Künstlers und das nötige Fingerspitzengefühl, also dem richtigen Fit zwischen Künstler und Marke, können den Unternehmen helfen, sich innerhalb der gewünschten Zielgruppe glaubhaft zu positionieren. Die Verantwortlichen innerhalb der Musikwirtschaft haben dies erkannt, was sich symptomatisch in der verstärkten Gründung von Event- und Tournee-Abteilungen innerhalb der großen
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Tonträgerunternehmen ablesen lässt, zum Beispiel Neuland Konzertagentur / Warner Music in Deutschland oder Universal Music Classical Management & Productions in Großbritannien im Klassiksegment.7 Diese Gründungen sind als Reaktion auf die einbrechenden Umsätze im Tonträgerbereich einerseits und die daraus resultierende Notwendigkeit neuer Erlösquellen andererseits zu interpretieren. Die Vorteile liegen in der Nähe zu den jeweiligen Künstlern, was die Unternehmen aus der Musikwirtschaft geradezu prädestiniert, die Verhandlungen nicht länger zwischengeschalteten Agenturen zu überlassen, sondern selbst auf den Künstler und die Marke zugeschnittene Konzepte zu entwickeln und gegen eine entsprechende Beteiligung umzusetzen. Das richtige Verständnis für die Funktionsweisen von Popkultur im Allgemeinen und die Bedürfnisse sowohl des Künstlers als auch der Marke im Besonderen sind dabei unabdingbar, um neben dem finanziellen Aspekt eine günstige Konstellation herbeizuführen. Unternehmen aus der Musikwirtschaft verfügen mit diesem Wissen über einen wertvollen Wettbewerbsvorteil gegenüber »normalen« Agenturen, denen oft eine gewisse Vertrautheit im Umgang mit Künstlern fehlt. Dennoch lässt sich feststellen, dass beide Seiten schnell gelernt haben aufeinander zu zugehen, und dass Erfolge aufgrund der oftmals engen Verzahnung der Zuständigkeiten für den Künstler auf Tonträger- und Tourneeseite vor allem das Ergebnis guter Zusammenarbeit sind. Die Zeiten tradierten Territorialverhaltens sind weitgehend passé. Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit solcher Sponsorings fällt dabei nicht immer eindeutig aus.8 So können sehr hohe Ticketpreise wie bei den Rolling Stones schnell zu Unmut auf Seiten der Fans führen und am Ende sowohl auf die Künstler als auch das beteiligte Unternehmen negativ zurückfallen. Das Sponsoring ist dann aufgrund fehlender Absprachen oder falscher Einschätzungen missglückt. Auch sollte bei der Planung Rücksicht auf die Besucher der Veranstaltung genommen und eine Über-Brandung des Konzertortes vermieden werden. Andernfalls droht das Konzert zu einer Werbeveranstaltung für den oder die Sponsoren zu werden, was bei einem preissensiblen Publikum schlecht ankommt. In dieser Frage haben die Verantwortlichen schnell dazu gelernt und bedienen sich ausgefeilter Methoden der Produktpräsentation vor Ort. Ein bemerkenswertes Beispiel im Festivalbereich ist beispielsweise das spanische Primavera-Open Air, das mit jährlich über 50.000 Besuchern und einem musikalisch ambitionierten Programm eine eigenwillige Corporate Identity entwickelt hat, in die der spanische Bierhersteller San Miguel als Hauptsponsor kreativ eingebunden ist – zum Beispiel übernahm das Künstlerkollektiv Chicks on Speed 2010 die Gestaltung – was wiederum als Zugeständnis zu werten oder einfach nur dem Glauben an die Geschmackssicherheit der Macher des Festivals geschuldet ist. Konventionelle Riesenbanner, Screens und Promotionstände mit dem Sponsoren-Logo, wie sie hierzulande bei vielen Veranstaltungen oft noch üblich sind, sind dort verpönt. In Deutschland haben die Macher des Melt!-Festivals, einem mit 7
Vgl. Mauro 2008, S. 16.
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Vgl. Ringe 2008, S. 166f.
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über 25.000 Besuchern jährlich ausverkauftem Festival für elektronische Musik und Indie-Rock, vergleichbare Konzepte entwickelt.
Track 10: Content is King – Context is King Kong Auf welcher Ebene ein Sponsoring-Engagement sinnvoll ist, hängt vom Budget und den Kommunikationszielen ab. Generell gilt die Formel: Megastars-Sponsoring sorgt in erster Linie für hohe Reichweite und Prestige, Newcomer-Sponsoring zielt eher auf Goodwill und Szeneaffinität ab. Ein Beispiel für Letzteres sind zum Beispiel die Engagements der Volkswagen Sound Foundation, der Jägermeister-Wirtshaus Tour, die T-Mobile Street Gig-Reihe, die Red Bull Music Academy oder die Coca-Cola Soundwave-Tour. Betont werden soll an dieser Stelle, dass Sponsoring unabhängig von der Prominenz des Künstlers erfolgreich sein kann. Auch eine überschaubare Investition, wie zum Beispiel die kostenlose Bereitstellung eines gebrandeten Tourbusses im Rahmen einer Clubtournee, verschafft jungen Künstlern und deren Booking-Agenturen den nötigen finanziellen Freiraum und bietet dem Unternehmen dafür die Möglichkeit, sich spitz bei den Besuchern zu positionieren. Auf der anderen Seite soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Engagements von szeneaffinen Marken wie Jägermeister vor dem Hintergrund des Sell-out-Vorwurfs nicht ganz unproblematisch zu bewerten sind: »Wie der komplexe Handel mit gegenseitigen Gefälligkeiten zwischen Marke, Band und Musikpresse funktionieren kann, lässt sich am Beispiel Rock Liga exemplarisch beschreiben: Jägermeister investiert einen vergleichsweise moderaten Betrag und etabliert ein Konzertformat, das untrennbar mit seinem Namen verknüpft ist. Die zwölf Bands aus möglichst unterschiedlichen Genres liefern ihren Bekanntheitsgrad und die Bereitschaft, sich dem Publikumsvoting zu stellen. Manche von ihnen lassen sich auch in ein Jägermeister-T-Shirt stecken oder vor einem Hirschlogo fotografieren. Dafür erhalten sie eine üppige Festgage, ein bequemes Tourleben in geräumigen Nightlinerbussen, gutes Catering, eine fette Anlage und zusätzliche Präsenz in der Musikpresse. Die Musikzeitungen garantieren kontinuierliche Berichterstattung über das halbe Jahr, in dem die Konzerte stattfinden, gewähren kleine Bevorzugungen wie zum Beispiel das Abdrucken jener Bandfotos mit Hirschlogo. Sie bekommen dafür Anzeigen, die unter anderem deshalb wichtig sind, weil sie andere konkurrierende Markenkunden anziehen. Ungeschriebenes Gesetz einer solchen ›Medienpartnerschaft‹ scheint zu sein, dass sich eine kritische Berichterstattung über die Veranstaltung verbietet.«9 Lakonisch bringt es der Sänger der hinsichtlich Vereinnahmungstaktiken von Konzernen eher unverdächtigen Band Die Sterne auf den Punkt: »Manche Leute ruinie9
Gaier 2007, S. 45.
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ren ihre Familien mit Jägermeister, wir ernähren sie damit. Ich nehme halt meinen neuen Kleinwagen mit oder ein halbes Jahr Überleben mit der Familie«.10
Track 11: Lizenzierung und Vermarktung von Live- und Merchandiserechten »Merchandise keeps us in line Common sense says it’ s by design What could a businessman ever want more« Fugazi11 Die Lizenzierung und Vermarktung von Live- und Merchandiserechten hat sich in den letzten Jahren zu einem immer größeren Faktor bei der Planung und CoFinanzierung von Tourneen und Tonträgern entwickelt. Edgar Berger, CEO von Sony Music Deutschland, unterstreicht die zunehmende Attraktivität dieses Geschäftsfelds vor allem für die Tonträgerindustrie: »Wir haben unser Ziel für 2009 erreicht, rund 30 Prozent der Geschäfte nicht im traditionellen Musiktonträgermarkt zu machen, sondern im digitalen Markt, mit Liveentertainment, im Management und Merchandise sowie mit Family Entertainment und Comedy. Das verbreitert unser Geschäft und gibt größere Stabilität.«12 Die in der GFK-Studie veröffentlichten Zahlen machen dies deutlich: Demnach lagen die Umsätze für zum Beispiel Fanartikel allein in Deutschland im Jahr 2011 bei rund 300 Mio. Euro. Gemessen am Ticketumsatz bei Musikveranstaltungen eine relevante Größe. Im Durchschnitt gibt der Fan 17,40 Euro für Merchandise-Produkte aus. Der überwiegende Teil wird dabei direkt am Veranstaltungsort, d. h. beim Konzert, gekauft.13 Daneben spielen die Websites der Anbieter oder der Künstler sowie der Handel eine wichtige Rolle als flankierender Vertriebskanal. Das Geschäft ist innerhalb der letzten Jahre angesichts lukrativer Margen und kreativer Potenziale kontinuierlich professionalisiert worden. Der Klapptisch mit drei verschiedenen T-Shirts ist fast bei allen Künstlern passé. Einer der führenden Akteure ist die Universal Music Group, die nach der Übernahme der Sanctuary Group 2007 auch deren Merchandise-Sparte Bravado übernommen hat. 2008 stieg Universal dann zusätzlich hierzulande bei Deutschrock, der ehemaligen Merchandise-Firma der Band Die Ärzte, ein. Anfang 2009 gründete der Major Warner Music eine eigene Merchandise-Firma, um die Fanartikel hauseigener und externer Künstler zu betreuen, im selben Jahr folgte die EMI und übernahm den britischen Anbieter Loud10
Frank Spilker zit. nach Gaier 2007, S. 45.
11
Zitat aus dem Song »Merchandise« (1990) der Band Fugazi.
12
Berger 2010, S. 12.
13 Vgl. GFK-Studie zum Konsumverhalten der Konzert- und Veranstaltungsbesucher in Deutschland in IDVK 2011.
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clothing. Daneben gibt es eine Vielzahl kleinerer Anbieter, die sich auf die Produktion von Fanartikeln für Bands aus dem Independent-Sektor spezialisiert haben. Die Mechanismen dieser Dienstleister sind allerdings nicht mit denen der weiter oben genannten Unternehmen zu vergleichen, da sie in der Regel nur die Herstellung, aber nicht die Logistik bei Tourneen oder die Designentwürfe übernehmen. Einige Bands haben sich in jüngerer Zeit entschlossen, die Herstellung und den Verkauf ihrer Fanartikel selbst zu übernehmen und zu diesem Zweck eigene Gesellschaften gegründet, so zum Beispiel die Bands Wir Sind Helden oder Beatsteaks. Die Motivation liegt vor allem in dem Wunsch begründet, die volle Kontrolle über Preise, Designs und Qualität der Ware zu behalten. Ein anderer Grund ist die Möglichkeit, auf diese Weise auch den Großteil der Umsätze selbst zu verwalten und die Gebühren für Vertrieb und Layouts einzusparen. Da das Geschäft mit den Fanartikeln mittlerweile Parallelen zu denen der Tonträgerunternehmen aufweist, bringen sich diese Bands allerdings um die Möglichkeit, das Risiko und den Aufwand bei der Produktion auszulagern und ggf. einen Vorschuss zu kassieren.
Track 12: Die Welt als T-Shirt Große Tonträgerunternehmen wie Universal, Warner oder EMI setzen bei der Lizenzierung von Fanartikeln vor allem auf die Auswertung ihrer durch die Bandübernahme erworbenen Foto- und Designrechte. Das funktioniert ganz ähnlich wie im Backkatalog-Geschäft, das im Gesamtbild und in Zeiten unsicherer Planung immer noch eine der wichtigsten Umsatzquellen der Majors ist. Erinnert sei an dieser Stelle zum Beispiel an die lukrative Auswertung des Backkatalogs der Beatles durch die EMI, unter anderem durch die Lizenzierung einiger Titel an das PC-Spiel der Rock Band-Serie. Die Auswertung der Bildrechte im Fanartikel-Bereich wurde von den großen Unternehmen im Grunde lange verschlafen. Erst seit den drastischen Umsatzrückgängen im Tonträgerbereich widmeten sie sich diesem im Grunde sehr nahe liegenden Geschäftsfeld. Bravado / Universal kreierte unter dem Namen Amplified eine eigenständige Produktlinie im Retro-Stil und benutzte dafür Motive legendärer Plattencover und Bandlogos aus den siebziger und achtziger Jahren. Das Risiko von Signings junger, noch unbekannter Bands federt Universal durch eine Verpflichtung der Abgabe der Merchandiserechte an die hauseigene Firma Bravado ab. Das heißt, dass selbst im Falle eines Flops im Tonträgerbereich die Ausgaben über die Fanartikel zumindest zum Teil wieder kompensiert werden können. Bravado hat sich neben Band-Merchandise auch auf die Lizenzierung von Motiven aus bekannten Kinofilmen und TV-Serien spezialisiert und vertreibt unter anderem Die Sendung mit der Maus- oder Star Wars-Produkte. Die Angebotspalette reicht dank entsprechender finanzieller Ressourcen weit über die üblichen T-Shirts hinaus. Beliebt ist das sogenannte Event-Shirt, sodass der Fan sich neben dem Konzerterlebnis in seiner Stadt auch gleich das dazu passende T-Shirt kaufen kann – versehen mit dem Datum, dem
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Ort und dem Namen der Spielstätte. Die Verkaufspreise hierfür können durchaus im höheren zweistelligen Bereich und darüber liegen.
Track 13: Music goes Fashion Besonderes Augenmerk legen die Unternehmen auf die Ausweitung der klassischen Vertriebswege und bemühen sich darum, ihre Produkte nicht mehr nur im Rahmen von Tourneen an die Fangemeinde zu verkaufen, sondern zunehmend auch in den Einzelhandel zu gehen, vor allem im Unterhaltungselektronik- und Fashion-Segment. Beispielsweise sind Teile der Kollektionen auch in den großen Ketten wie Saturn, Urban Outfitters oder H&M erhältlich. Letztere haben kürzlich eine exklusive Edition von 80er Hardrockband-T-Shirts ins Sortiment aufgenommen und so die Umsätze der beteiligten Musikunternehmen vervielfacht. Im Testimonial-Bereich zeigt H & M großes Engagement und verpflichtete in der Vergangenheit Popstars wie Madonna oder Dave Gahan von Depeche Mode als Kampagnen-Gesichter. In internationaler Hinsicht hat sich Hot Topic in den USA als eines der führenden Unternehmen im Merchandise-Bereich mit einem ausgeklügelten Händler- und Store-Konzept innerhalb der großen Einkaufszentren positionieren können. Weiterhin erwähnenswert im Fashion-Bereich sind die Engagements amerikanischer Streetwear-Hersteller wie unter anderem Carhartt, Eastpack, Vans oder Converse, die sich mit eigenen Events und Modelinien zu positionieren versuchen. Die bei Skateboardern beliebte Marke Vans beispielsweise produziert seit einigen Jahren limitierte Turnschuh-Editionen versehen mit den Schriftzügen szene-affiner Bands wie Motörhead oder Iron Maiden und hat sich bereits als eines der ersten Unternehmen in den frühen neunziger Jahren als Sponsor der Vans Warped Tourneen präsentiert.
Track 14: Digital ist besser Die Lizenzierung von Liverechten, also dem Recht an der während einer Tour aufgeführten Musik, ist ein anderer Baustein, der sowohl für Künstler, Tourneeveranstalter, die Tonträgerfirmen sowie für das beauftragte Unternehmen attraktiv sein kann. Eines der führenden Unternehmen in diesem Segment ist das Kölner Unternehmen Concert Online, das ein Businessmodell entwickelt hat, mit dem sich die Aufnahmen des jeweiligen Konzerts unmittelbar im Anschluss auf USB-Sticks oder CDs übertragen lassen und anschließend an die Fans in speziell auf den Künstler abgestimmten Designs verkauft werden. Das bekannte Prinzip des Bootleggings, wie man es von Bands wie Grateful Dead bereits seit den siebziger Jahren kennt, wurde mit dieser Geschäftsidee im Grunde nur legalisiert und professionalisiert. Auch hier liegt der Vorteil für die Tourneeveranstalter in der Nähe zum Künstler selbst sowie in der Kontrolle der integrierten Präsentation vor und während der Tournee. In diesem Zusammenhang ist auch das gewachsene Interesse sowohl der Künstler als auch der beteiligten Unternehmen an der Auswertung von Livekonzerten als
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sogenannter Livestreams, d. h. der unmittelbaren oder zeitversetzten Ausstrahlung des Konzerts auf Onlineplattformen, zu nennen. Bisher ist die Anzahl der erfolgreichen, also auch neben dem Promotioneffekt finanziell interessanten Modelle, wie zum Beispiel LiveDome, überschaubar. Es ist damit zu rechnen, dass in Kürze weitere Unternehmen in diesem Segment auf den Plan treten werden. Unternehmen wie das Berliner Start-up tape.tv sind mittlerweile etabliert am Markt. Ein bemerkenswertes Modell ist die Zusammenarbeit der Deutschen Bank mit den Berliner Philharmonikern, die mit der Digital Concert Hall ein sehr aufwendiges Modell entwickelt haben, um hochwertige Übertragungen ihrer Auftritte über ihre Homepage mit vergleichsweise hoher Resonanz zu vermarkten.14 Der Vollständigkeit halber seien auch die mit steigender Aufmerksamkeit verfolgten Liveübertragungen von Opern aus der renommierten Metropolitan Opera in New York zu erwähnen, die seit 2008 durch die Firma Clasart Classic des Münchener Unternehmers Herbert Kloiber organisiert werden und nach eigenen Angaben von über 1 Mio. Zuschauern in 850 Kinos in 35 Ländern gesehen wurden.15
Track 15: Money Can’t Buy – Premium-Tickets als Zugang zu den VIPs Nachdem sich das Modell vor allem in den USA und UK erfolgreich am Markt etabliert hat, erfreut sich der VIP- oder Premiumbereich auch in Europa verstärkter Nachfrage. Das Prinzip ist die Aufwertung eines regulären Tickets ergänzt um Zusatzleistungen, wie sie teilweise in der Touristikbranche seit Langem Praxis sind. Sowohl die Veranstalter selbst als auch die Ticketing-Unternehmen haben auf diesen Trend hin zu einer von solventen Käuferkreisen gewünschten Exklusivität reagiert und bieten ihren Kunden entsprechende Angebote an. Neben den Tickets in der besten Kategorie enthalten diese Packages zumeist auch eine hochwertige Bewirtung, die Unterbringung und die Anreise sowie die Betreuung in separaten VIP-Bereichen. Höhepunkt dieser Arrangements ist ein kurzes Treffen (Meet & Greet) mit den Künstlern. Alle Beteiligten bedienen sich dabei der ihnen zur Verfügung stehenden Kanäle: Die Veranstalter und Managements nutzen ihre Nähe zu den Künstlern und ihren Zugriff auf die Veranstaltungsorte, die ihnen nicht selten gehören. Die Tournee- und die Ticketanbieter bedienen sich der Möglichkeit, größere Kontingente bei Hotels und Reiseunternehmen einzukaufen. Vergünstigte Konditionen sichern ihnen hierbei hohe Margen. Der Premium-Bereich ist insbesondere für Unternehmen als Incentivierungsmaßnahme interessant, die ihren Mitarbeitern und Geschäftspartnern ein besonders 14 Die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker. [http://www.digitalconcerthall.com, 01.09.2013]. 15
Vgl. Clasart Finanznachrichten. [www.finanznachrichten.de, 12.05.2009].
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exklusives Erlebnis bieten möchten. Aufgrund der vergleichsweise hohen Ticketpreise für diese Angebote kommen nur ausgesuchte Konzerte dafür in Frage, die dem Anspruch und dem Geldbeutel dieser Klientel entsprechen. Der Bereich der klassischen Musik ist dafür prädestiniert, insbesondere wenn es sich um Konzerte berühmter Interpreten handelt. Aber auch im Popbereich sind Ticketangebote dieser Art keine Seltenheit mehr. So bot zum Beispiel die CTS Eventim AG Packages für 1.000 Euro für die Tournee der Hardrockband Kiss im Frühjahr 2010 an. Diese enthielten neben dem Zutritt zum Konzert auch ein Treffen mit der Band sowie signierte Devotionalien. Angebote dieser Art werden im Vorfeld mit dem Management abgestimmt und die Künstler an den Einnahmen beteiligt. Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Manager – sowohl der Künstler als auch der beteiligten Unternehmen – versuchen, sich in hemdsärmeliger Manier, wie in anderen Wirtschaftssparten auch, die Taschen voll zu machen und sich dabei die Eitelkeit einer an Abgrenzung interessierten Klientel zunutze machen. Ein angrenzender Bereich der Wiederverkaufsplattformen für Konzerttickets im Internet befindet sich zurzeit noch im Aufbaustadium und soll nur kurz erwähnt werden: Onlineplattformen, wie zum Beispiel fansale.de, seatwave.de oder viagogo.de, ermöglichen Privatanbietern den Kauf und Verkauf von Tickets für Konzert- und sonstige Veranstaltungen. Sie wurden vor einigen Jahren von den großen Ticketanbietern lanciert – offiziell um den Schwarzmarkt mit Tickets und überhöhte Verkaufspreise einzudämmen. Eine andere Lesart ist, dass diese Plattformen auch den Veranstaltern die Möglichkeit bietet, kurzfristig nicht verkaufte Tickets zu vergünstigten Konditionen anzubieten. In jedem Fall erhalten die Unternehmen wie bei regulären Vertriebsplattformen eine Provision.
Track 16: Live is Life Der Gassenhauer »Live is Life« aus den achtziger Jahren der zu Recht vergessenen österreichischen Band Opus enthält die nach wie vor richtige Quintessenz des Live Entertainments. Eingangs war die Rede davon, dass sich das Erlebnis eines Konzertbesuchs selbst mittels ausgefeilter Techniken letztlich nicht brennen, d. h. konservieren, lässt. Diese Tatsache hat der Branche im Zuge der letzten zehn Jahre einen deutlichen Gewinnvorsprung gegenüber der Tonträgerindustrie verschafft. Die Professionalisierung eines sehr emotionalen Feldes wie dem Musikmarkt und die konsequente Instrumentalisierung von Musik als Erlösquelle kann man bedauern – und zahllose schmerzvolle Beispiele aus der Werbung oder dem Bereich der Klingeltonvermarktung unterstützen diese Sicht. Auf der anderen Seite hat vor allem das zunehmende Engagement von Unternehmen aus nicht-musikaffinen Branchen in den letzten Jahren zu einer Verschiebung der Parameter innerhalb der Musikindustrie geführt. Wirtschaftlich nicht vernünftig zu finanzierende Konzepte sind dank der Unterstützung durch Markenartikler so möglich geworden und berühren den künstlerischen Wert der jeweiligen Produkte in den meisten Fällen nicht,
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sondern sorgen bei passionierter Planung für einen spürbaren Mehrwert für alle Beteiligten. Das Engagement beispielsweise aller großen Mobilfunkunternehmen im Rahmen szeneaffiner Konzertreihen, wie zum Beispiel den T-Mobile Street Gigs, bei denen der Eintritt für die Besucher kostenlos ist und Bands live an ausgefallen Locations zu erleben sind, ist zunächst positiv zu bewerten. Denn wie gezeigt wurde, haben die Unternehmen schnell gelernt, ihre potenziellen Käufer und die teilnehmenden Künstler nicht zu bevormunden und kreative Angebote zu machen. Diese zielen natürlich im Kern darauf ab, ein Produkt zu präsentieren und zu verkaufen, aber meist zu charmanten Konditionen für den Konsumenten. Angesichts der ausgereiften Medienkompetenz der Digital Natives, ist der Vereinnahmungsreflex Horkheim’scher Prägung16 in diesem Zusammenhang eher zu vernachlässigen. Aus den consumern sind prosumer geworden. Konzepte wie die seit zehn Jahren weltweit erfolgreiche Red Bull Music Academy des gleichnamigen Brauseherstellers oder die Coca Cola Soundwave-Tour zielen sogar ausdrücklich auf die aktive und mit entsprechendem Engagement verbundene Teilnahme der Zielgruppe ab. So gelingt der Fit zwischen Marke und Zielgruppe nahe zu perfekt und vor allem generisch. Ein Beispiel aus dem öffentlichen Förderbereich ist die Initiative der Popakademie Baden-Württemberg, die 2003 in Form einer Public Private Partnerschaft gegründet wurde und sich aus öffentlichen und privaten Geldern finanziert. Ein anderes Beispiel ist die Initiative Musik der Bundesregierung, die sich seit 2007 aus Mitteln des Bundes sowie der Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsrechten (GVL) und der GEMA finanziert. Ihr Ziel ist die Förderung deutscher Nachwuchskünstler. Dies geschieht unter anderem durch Zuschüsse in einer Höhe von immerhin 2 Mio. Euro jährlich bei der Produktion von Tonträgern und Tourneen. Auch das Engagement der Goethe-Institute kann an dieser Stelle genannt werden. Sie haben sich darauf spezialisiert, sowohl etablierten als auch Künstlern jenseits der Charts im Ausland ein Forum zu bieten. Mit der Besetzung ihres musikalischen Beirats, in dem anerkannte Größen wie Hans Nieswandt vertreten sind, haben die Macher ein glückliches Händchen bewiesen.
Extended Mix: Prämissen für die Kulturschaffenden Track 1: Kulturförderung muss sich an den künstlerischen Realitäten orientieren Vor dem Hintergrund der beschriebenen Prozesse muss eine der Handlungsprämissen für Kulturschaffende der öffentlichen Institutionen sein, die Initiativen zur Förderung von Musik, Künstlern, Produktionsstätten und Netzwerken weiter voranzutreiben. Die Verantwortlichen sollten unvoreingenommen den Schulterschluss mit der Industrie suchen und dafür sorgen, dass sich die geschaffenen 16
Vgl. in diesem Zusammenhang Horkheimer / Adorno 2003.
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Instrumente an den Realitäten der Künstler orientieren – auch, um sich auf diese Weise von den oben beschriebenen Forderungen und Angeboten der Unternehmen aus der Privatwirtschaft abzugrenzen oder diese zu komplettieren. Die erst kürzlich ins Leben gerufene Kurztourförderung durch die Initiative Musik zeigt, dass die Verantwortlichen sich bemühen, auch das Alltagsgeschäft von Bands zu unterstützen und ihnen zum Beispiel kurzfristige, kostenintensive Engagements im Ausland zu ermöglichen. Dennoch hängt staatlich subventionierten Einrichtungen wie der Initiative Musik bisweilen der etwas fade Beigeschmack der Verwaltung von Popkultur an. So positiv die Erfahrung einer Tournee ins ferne Ausland für die meisten Bands auch ist, finanziell betrachtet und bezogen auf die Auswertung im Heimatmarkt sind diese Auftritte nahezu irrelevant. Deutsche Popmusik wird im Ausland in der Breite nach wie vor nur durch eine Handvoll Künstler, wie Kraftwerk, Rammstein, Can, die Hannoveraner Scorpions und Tokio Hotel, wahrgenommen, was nicht weiter tragisch ist, da die Kids dank Facebook, Last.fm & Co. ganz selbstverständlich ihren Weg in die Clubs, auf die Festivals, Plattenläden und Downloadplattformen finden. Es ist daher müßig darüber nachzudenken, ob eine rappelvolle Clubnacht des Hamburger MinimalLabels Dial in einer beliebigen europäischen Großstadt eher Artenpflege ist oder ob es sich bereits um ein Massenphänomen handelt, das ganz ohne die Unterstützung öffentlicher Institutionen oder gar den Support eines Markenartiklers funktioniert. Die Organisatoren der öffentlichen Förderinitiativen sollten sich aufgefordert fühlen, sich noch intensiver mit den jeweiligen lokalen Strukturen im In- und Ausland zu beschäftigen, um zu gewährleisten, dass die Maßnahmen nicht nur für die Institutionen selbst einen nachhaltigen Imageeffekt haben, sondern auch für die beteiligten Bands selbst. Die Organisation von Auftritten an Schulen oder Universitäten dient in erster Linie dem interkulturellen Austausch, d.h. diese Konzerte sollten auf jeden Fall von Auftritten in passenden Locations mit dem richtigen Publikum flankiert werden. Ansonsten haben die Künstler keine Möglichkeit von den entstehenden Kontakten im Ausland zu profitieren. Die Verantwortlichen in den Goethe-Instituten oder bei der Initiative Musik sollten deswegen keine Berührungsängste bei der Zusammenarbeit mit professionellen, d. h. kommerziellen Partnern, Veranstaltern und den informierten Idealisten vor Ort zeigen, da diese im Zweifel den geförderten Künstlern die besseren Auftrittsmöglichkeiten bieten und so für Nachhaltigkeit sorgen können.
Track 2: Nischen können erfolgreich sein Es sei noch mal betont, dass es zahllose Beispiele für erfolgreiche Tourneen von Künstlern gibt, die selbst mit den gewagtesten musikalischen Konzepten ein großes Publikum zu ihren Auftritten anziehen und deren Bewerbung vollkommen unter dem Radar der üblichen Kanäle funktioniert. Gerade die zunehmende Nutzung der gängigen Web 2.0-Tools versetzt viele Künstler in die Lage, unabhängig der
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Major-Strukturen zu arbeiten, Musik und Konzertdaten zu veröffentlichen und nicht zwangsläufig auf Sponsoring-Angebote angewiesen zu sein. Die Bands aus der DYI-Szene der späten achtziger Jahre haben es vorgemacht und nur durch Mund-zuMund-Propaganda die großen Clubs gefüllt, was auch an den sehr moderaten Eintrittspreisen und einer loyalen Fanbase lag. In jüngster Zeit gelang es experimentellen Bands, wie zum Beispiel Sunn O))), Grizzly Bear oder Animal Collective, mittelgroße Clubs zu füllen – fast ohne jede Bewerbung und ohne die entsprechenden Budgets der großen Plattenfirmen und Veranstalter im Rücken. Honorige Festivals, wie das All Tomorrow’s Parties-Festival in Großbritannien oder das Haldern Pop Festival am Niederrhein, verkaufen selbst ohne die Bekanntgabe des Line-ups innerhalb kurzer Zeit aus. Dies ist der Beleg für eine funktionierende und gar nicht so kleine Community, die an den Angeboten der großen Unternehmen nicht interessiert ist. Dass Künstler aus ehemaligen Undergroundstrukturen auch wirtschaftlich zu einer relevanten Größe werden können, belegten die Revival-Tourneen von Bands wie den Pixies, Faith No More oder My Bloody Valentine, die für Festivalshows bis zu 200.000 US Dollar kassieren und damit im oberen Segment des jährlichen BieterPokers der Festivalveranstalter mitspielen konnten.
Track 3: Nachwuchsförderung als Rezept gegen die Überalterung der Stars Bekannte Stadion-Acts aus den siebziger, achtziger und neunziger Jahren, wie zum Beispiel AC / DC, Led Zeppelin, Dire Straits, The Police oder im deutschen Markt zum Beispiel Peter Maffay, füllen auch nach jahrzehntelangen Karieren mühelos die großen Arenen. Was fehlt, ist ein schlüssiges Konzept zur Förderung des Nachwuchses. Es hat sich gezeigt, dass die Konzepte der Tonträgerfirmen bei der Suche nach neuen Künstlern sich oftmals nicht 1:1 auf den Live Entertainment-Bereich übertragen lassen, da vielen neuen Acts die nötige Substanz für eine langfristige Livekarriere fehlt. Dies lässt sich an Künstlern wie Miley Cyrus oder Justin Bieber in den USA oder den Gewinnern der DSDS-Serie gut ablesen. Sie funktionieren im Tonträger- und TV-Bereich für mehr oder weniger kurze Zeit sehr gut, werden komplett durchformatiert und sind dann schnell wieder verschwunden. Für die Vermarktung im Livebereich sind sie weitgehend uninteressant, wobei Ausnahmen die Regel bestätigen: Der durch die britische TV-Show Star Idol und einen paneuropäischen Werbespot bekannt gewordene Paul Potts konnte im Jahr 2008 auch die Erwartungen im Livebereich voll erfüllen. Selbiges gilt für den Teenie-Star Justin Bieber. Der Schwerpunkt der Nachwuchsförderung muss bestimmt sein von Substanz, Nachhaltigkeit, aber vor allem von dem richtigen Gespür für die Originalität und den Professionalisierungswillen aufstrebender Künstler. Kurzfristige Engagements heimischer Acts im Ausland führen ohne die Zusammenarbeit mit den richtigen Partnern vor Ort nicht zum gewünschten Erfolg. Die Unterstützung von Bandwett-
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bewerben mit öffentlichen Geldern ist nur dann sinnvoll, wenn die entsprechenden Kontexte stimmen und es nicht nur darum geht, ein paar Fördergelder nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen. Den Verantwortlichen in den öffentlichen Gremien, den Medien und den Förderungsinstitutionen sollte klar sein, dass die Entwicklung von Künstlern meistens einen langen Atem braucht. Das ist zwar ein Allgemeinplatz aber in der Essenz völlig richtig.
Track 4: Ausweitung des medialen Rahmens Eine weitere Forderung an die Verantwortlichen aus der Kulturwirtschaft lautet, neben der Aufbauarbeit der Basis auch in den Medien die nötigen Strukturen zu schaffen und das Bewusstsein der Verantwortlichen zu schärfen. Denn: »Die Zeiten von kulturbürgerlicher und medienkritischer Überheblichkeit sind vorüber. Pop hat erfolgreich Einzug in die Feuilletons gehalten«.17 Die Kooperationen der öffentlichrechtlichen Sender bei der Verleihung der Echo-Awards für Popmusik (ARD) und klassische Musik (ZDF), der gestiegene Anteil an TV-Shows mit Livemusik bei den privaten Anbietern (unter anderem Die ultimative Chart Show (RTL), The Dome (RTL II), tv total (Pro7)) oder die Lancierung von Special Interests-Formaten wie der Nachtmusik mit Götz Alsmann im ZDF oder der Sendereihe Rockpalast im WDR sind als Indikatoren für einen Bedeutungszuwachs populärer Musik in den meinungsbildenden Medien zu werten. Populäre Musik wurde von den meisten Intendanten bis vor wenigen Jahren eher als schmückendes Beiwerk denn als quotenmachender Bestandteil des Programms bewertet. Der einstige VIVA-Moderator Stefan Raab gilt mit seinen zahlreichen Sendungen bei Pro7, in denen stets aktuelle namhafte Liveacts auftreten, mittlerweile als regelrechter Königsmacher für die Musikindustrie und hat Showformate wie Wetten, dass …? im ZDF längst als Garant für Folgeverkäufe abgelöst. Der Erfolg des Joint Ventures zwischen der ARD und Pro7 bei der Sendung Unser Star für Oslo hatte bewiesen, dass Quote und Qualität durchaus zusammengehen können, wenn die Parameter stimmen und die Medien mitspielen. Es bleibt festzuhalten, dass die Impulse in Richtung Entwicklung innovativer Showformate, in denen Musik ein integraler Bestandteil ist, bislang vorrangig aus der Ecke der Privatanbieter kommen. Die Relevanz von ehemals als reine Musiksender gegründeten Unternehmen wie MTV und VIVA ist parallel zu den drastischen Umsatzrückgängen in der Tonträgerwirtschaft und der Werbewirtschaft gesunken. Unternehmen wie tape.tv oder YouTube füllen diese Lücke zunehmend und bieten den Fans ein breites Musikclip-Angebot, das noch dazu jederzeit online abrufbar ist. Eine herausragende Stellung hat das Engagement der Privatsendergruppe Pro7 / Sat1. Mit Gründung der Tonträgerlabels Starwatch (mit Warner Music) und We Love Music (mit Universal), der Vermarktungsagentur MerchandisingMedia und der Künstleragentur Talent Management Agency zeigt der Sender ein ungewöhnlich 17
Klopotek 2003, S. 128.
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hohes Engagement. Grund hierfür ist, Komplettlösungen für die Vermarktungskette von Künstlern anbieten zu können. Mit den Plattformen Pro7 und Sat1 im Rücken ist diese Möglichkeit für viele Künstler und die beteiligten Partner aus dem Tourneeund Tonträgergeschäft eine attraktive Option, um die Präsenz im Fernsehen zu steigern und die mediale Reichweite für das jeweilige Produkt deutlich zu vergrößern. Der Erfolg bei der Zusammenarbeit mit Künstlern wie Roger Cicero, Adoro oder Udo Lindenberg, deren Tourneen und Veröffentlichungen sehr erfolgreich waren, gibt den Machern recht.
Outro Wie könnten vor dem Hintergrund des Gesagten die Prognosen für die aktuell noch sehr gut dastehende Live Entertainment-Industrie lauten? Anlässlich des jährlichen internationalen Branchentreffens ILMC hat das englische Branchenmagazin IQ in seiner März-Ausgabe 2010 einige Protagonisten zur Zukunft der Live Branche befragt. Exemplarisch antwortet Paul Latham, CEO von Live Nation Entertainment UK: »Music has envolved into a singular pleasure with all manner of devices giving the individual the ability to select a portfolio of choice constantly at their disposal. […] The communion of gig-going will continue to the ultimate expression of adoration. Such devoted followers have made music through the ages a clarion call all manner of change, each generation having it’s own raison d’être. […] Only those venue operators and festival promoters that take full cognisance of their actions will maintain the goodwill of their audiences. Given the ability to communicate in evermore focused groups there may be a trend for smaller gigs in smarter venues to more dedicated fans.«18 Man muss kein Prophet sein, um seinen Erläuterungen zu glauben. Die Prosperität großer Arenashows scheint langfristig zu schwinden. Die überschaubare Zahl junger Künstler mit Stadionqualitäten wie Coldplay, Muse, Kings of Leon, Justin Timberlake, Lady Gaga, Ich & Ich, Peter Fox, Xavier Naidoo oder Silbermond werden nicht ausreichen, um die Lücke nach Madonna, Michael Jackson, den Rolling Stones, Herbert Grönemeyer, AC / DC zu schließen. Dennoch hat die Erfahrung stets gezeigt, dass auf die Selbstheilungskräfte der Branche Verlass ist und deswegen auch kein Grund zur Panik besteht. Das Konzept beispielsweise eines der Heilsbringer der Branche, David Garrett, ist natürlich nicht wirklich neu, denn auch vor ihm gab es bereits Künstler wie Nigel Kennedy, die mit großem Erfolg Elemente aus Klassik und Pop zusammen gebracht haben. Im Falle eines David Garrett sind es die Vermarktungsinstrumente aus der Popwelt, die diesen Künstler an die Spitze der Charts gebracht haben. Vermeintliche »Newcomer« wie 18
Latham 2010, S. 29.
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Coldplay, Muse oder Kings of Leon referieren lediglich clever auf die Rockbands vergangener Tage und zitieren fröhlich aus der Mottenkiste. Aber natürlich ist dies keine neue Erkenntnis, denn der spielerische Umgang mit Codes und Chiffren, Sampling- und ausgefeilte Bricolage-Techniken, wie sie bereits der französische Soziologe Lévi-Strauss in den sechziger Jahren konstatiert hat, sind und waren immer ein integraler Bestandteil von Popkultur. Insofern ist nicht zu erwarten, dass der kreative Mahlstrom versiegen wird, sondern im Gegenteil eine Vielzahl von bisher noch unentdeckten (Sub) Genres für die nachwachsende Generation zu entdecken sein wird. Jeder Kulturpessimismus wäre deswegen völlig fehl am Platze. Die Branche setzt zunehmend auf Shows und auf adaptierte Konzepte von Musicals, die ohne große Stars und dafür mit aufwendigen Konzeptionen arbeiten, zum Beispiel die Pferdeshow Apassionata, das ABBA-Musical Mamma Mia, die Zirkusshow Cirque Du Soleil oder die irische Steptanzshow Riverdance. In diesem Zusammenhang ist auch der bemerkenswerte weltweite Erfolg im Bereich aufwendig inszenierter Wanderausstellungen wie Tutanchamun oder Körperwelten zu nennen. Wobei diese Ausstellungen in der Regel nicht in den großen Arenen stattfinden, sondern in speziell für diesen Zweck angemieteten Locations. Die sich gegenseitig befeuernde Rezeption medialer Ereignisse innerhalb der sich stetig fragmentierenden Industriegesellschaften hat für alle Beteiligten höchstmögliche Mobilität, Informiertheit und Wahlfreiheit zur Folge. Gleichzeitig bleibt keine Zeit mehr für langfristige Loyalitäten auf Fan-Seite, denn die nächste Attraktion lauert schon um die Ecke. Der gelebte Anachronismus der Fans, Macher und Künstler von Konzerten mit Rockbands wie Deep Purple oder den Rolling Stones ist ein Auslaufmodell. Neben dem Aufbau von neuen Talenten scheint es die vornehmliche Aufgabe der Veranstalter zu sein, mit dem richtigen Augenmaß auf Trends zu reagieren und sich dafür zu interessieren, was das Publikum wirklich möchte. Zahlreiche Tools stehen dafür bereit. Eine hohe Expertise über die Entwicklungen im Markt und über musikalische Trends sichert die Wahrscheinlichkeit, entwickelnde Nischenmärkte frühzeitig zu identifizieren. Die Notwendigkeit der Intensivierung des Dialogs mit dem Publikum gilt sowohl für die Künstler selbst als auch für deren Vermarkter. Ohne ein ernsthaftes Interesse und der Auseinandersetzung mit ihren Zuschauern, also den zahlenden Kunden, werden es die Verantwortlichen immer schwerer haben, Erfolge zu erzielen und Produkte zu verkaufen. Standardlösungen, wie sie vor allem im Marketing- und PR-Bereich jahrzehntelang umgesetzt wurden, müssen aufgegeben werden. Denn nur ein klug aufgesetzter, flexibler Kommunikationsmix, der die Gewohnheiten und Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe kennt, wird erfolgreich sein. Mehr denn je wird gelten: Arrival of the fittest. Wie auch immer die Entwicklungen sein werden, was bleibt sind, um noch einmal Paul Latham von Live Nation zu zitieren: »Passion, dedication, leadership and humility.«19 19
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Musiker als Media-Artepreneure? Digitale Netzwerkmedien als Produktionsmittel und neue Wertschöpfungsprozesse
Aljoscha Paulus und Carsten Winter
Dieser Beitrag widmet sich Musikschaffenden, für die digitale Netzwerkmedien im Rahmen ihrer Wertschöpfung eine immer wichtigere Rolle spielen. Er zeigt im Rahmen eines Verständnisses von Musik als Prozesszusammenhang ihrer Produktion, Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung, wie sie mit diesen Mitteln als Produktionsmitteln auf neuartige Weise Wert schöpfen, indem sie andere auf neue Art und Weise an ihrer Kunst teilhaben lassen. Zentraler Bezugspunkt für die Darlegungen ist ein Befund aus einem Forschungsprojekt, welches im Auftrag der BMC (Berlin Music Commission) neue Wertschöpfungspotenziale und -perspektiven von Berliner Musikwirtschaftsakteuren untersuchte.1 Aufbauend auf zahlreichen vorliegenden Arbeiten2 stehen hier die neuen Mittel der komplexeren musikbezogenen WerteSchöpfung im Rahmen eines neuen dynamischen Werte-Schöpfungs-Modells und die mit ihnen möglichen kollaborativen Wertaktivitäten von Musikschaffenden im Zentrum. Es wird deutlich, dass viele neue Wertaktivitäten nur möglich sind, wenn sowohl Musikschaffende als auch Musiknutzer bzw. Fans über digitale Netzwerkmedien verfügen und sie als Wertschöpfungsmittel zur Gestaltung ihrer eigenen Musikkultur nutzen.3 Auf Basis der zunehmenden wechselseitigen Vernetzung und Kollaborationen von Musikschaffenden und -nutzern werden medial neue Formen musikbezogener Wertschöpfung konstituiert, die von klassischen Musikwirtschaftsunternehmen und Märkten unabhängiger sind. Es werden Implikationen dieses Befundes analysiert darüber hinaus wird erläutert, warum etablierte Musikwirtschaftsakteure durch zunehmende direkte Kollaborationen von Musikschaffenden und -nutzern unter Druck geraten, während sich andererseits neue Wertschöpfungs1 Das Forschungsprojekt »Wertschöpfungspotenziale und -perspektiven der Berliner Musikwirtschaft« wurde in Zusammenarbeit mit dem Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung (IJK) der Hochschule für Musik Theater und Medien Hannover (HMTMH), dem Fachbereich Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation (GWK) der Universität der Künste Berlin (UdK) und der Berlin Music Commission (BMC) unter der Leitung von Carsten Winter durchgeführt. Die Projektlaufzeit betrug ein Jahr: Oktober 2010 – Oktober 2011. [http://www.ijk.hmtm-hannover.de/ de/forschung/forschungsprojekte/2010/neue-wertschoepfungspotenziale-und-perspektiven-fuerakteure-der-berliner-musikwirtschaft, 02.09.2013]. 2
Vgl. Winter 2011, 2012, 2013 und Winter / Paulus 2013 (Druck i. Vorb.).
3
Vgl. den Beitrag Kaufmann / Winter (S. 339 ff.) in diesem Buch.
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Aljoscha Paulus und Carsten Winter
potenziale und -perspektiven eröffnen lassen. Sie lassen sich eröffnen, wenn die neuen Möglichkeiten und Bedingungen der Wertschöpfung als partiell leistungsfähiger eingeschätzt werden und verstanden wird, wie Musikschaffende und Nutzer von Musik einander auf neue Art und Weise an Musik teilhaben lassen wollen.
Eine neue Perspektive: Medienentwicklungen als Basis neuer Möglichkeiten für das Schöpfen von Werten in Musikkultur und Musikwirtschaft Welche signifikant neuen Werte können Akteure der Berliner Musikwirtschaft schöpfen? Wie haben sie dabei mit welchen Mitteln und Kernkompetenzen agiert, um Werte zu schöpfen, die attraktiv für andere waren? Diese Fragen bildeten den konzeptionellen Ausgangspunkt unserer Erforschung neuer Wertpotenziale und -perspektiven der Akteure der Berliner Musikwirtschaft, die gegen den globalen Trend seit Ende der neunziger Jahre vor allem auf neuen Märkten, wie denen für elektronische Musik und Clubmusik, erfolgreich waren4. Der zentrale empirische Befund der Studie war, dass die Berliner Akteure den neuen Wert »Vernetzung« als zentral im Hinblick auf ihre künftige kommerzielle und auch soziale, kulturelle und ästhetische Wertschöpfung artikulierten. Dabei bestätigte unsere Forschung die Bedeutung von relevanten Vernetzungsorten, nämlich den Berliner Clubs5; die Studie zeigte aber vor allem, dass die Rolle digitaler Netzwerkmedien als Mittel zur Konstitution der »Räume der Ströme«6 und neuer Beziehungen als Basis für neuartige Formen der Wertschöpfung7 zu wenig reflektiert und in ihrer Bedeutung als Wertschöpfungsmittel verstanden sind. Dabei ist diese Bedeutung durch die Geschichte mehr als belegt: Musikkultur und Musikwirtschaft veränderte sich immer dann grundlegend, wenn Musik auf neue Weise medial so produziert, verteilt, wahrgenommen und genutzt werden konnte, dass an ihr als Prozesszusammenhang dieser wertschöpfenden Aktivitäten mehr Leute als zuvor teilhaben konnten8. Historisch gesehen erlaubten neue Medien immer mehr und verschiedenen Akteuren aus ihrer subjektiven Sicht Werte zu schöpfen: Die Entwicklung von Lied- und Notendrucken trug dazu bei, dass neue Musikmedien-Akteure eine Live-Musikkultur in eine durch Drucke geprägte AufführungsMusikkultur transformierten (aufgeführt wurde fast nur noch, was auch gedruckt vorlag). Später trugen wieder neue Musikmedien-Akteure dazu bei, dass diese 4
Vgl. zu dieser strategischen Perspektive ausf. Winter 2011 und Winter 2012.
5
Vgl. Lange 2007.
6
Siehe Castells 2001.
7
Winter 2006a.
8
Vgl. ausf. Winter 2012.
Musiker als Media-Ar tepreneure?
Aufführungskultur in Folge der Entwicklung und Ausbreitung der Medien: Radio, Schallplatte und Fernsehen in eine Konserven- bzw. Recorded-Musikkultur transformiert wurde. Studien von Interbrand weisen MTV als wertvollste Medienmarke der Anfangsjahre dieses Jahrtausends aus. Seit Jahren nun transformieren neue Musikmedien-Akteure im Umgang mit ihren neuen digitalen Netzwerkmedien9 wie Napster (1999), YouTube (2005), Facebook (2004), Spotify (2006) oder SoundCloud (2007) die Recorded-Musikkultur in eine Pull- oder On-Demand-Musikkultur. Diese Transformation erfolgt, weil immer mehr Leute digitale Musik auf neuartige Weise produzieren, verteilen, wahrnehmen bzw. die Wahrnehmung von Musik organisieren (durch Likes, Links, Kommentare usf.) und nutzen. Der Umgang mit ihnen fordert neue und »klassische« Akteure gleichermaßen im Prozess der musikbezogenen Wertschöpfung heraus, ähnlich wie zuvor neue Druckmedien und elektronische Medien, die ebenfalls Anlässe für wegweisende »Innovationen« in der Musikwirtschaft waren10, weil neue Akteure mit diesen Mitteln neue Werte schöpfen konnten. So war es für Leute wertvoll, Musik in gedruckter Form speichern, verteilen und später sogar (mit elektronischen Medien) abspielen zu können. Dort, wo früher nur Organisationen und Unternehmen über Medien als Mittel zur Produktion, Verteilung oder Organisation der Wahrnehmung von Musik verfügten, finden sich heute immer mehr gewöhnliche Leute und zunehmend auch Künstler, die diese neuen Medien als zentrale Mittel ihrer Wertschöpfungsaktivitäten einsetzen. Unsere Wertschöpfungsstudie legt nahe, dass gerade in Berlin der Kreis all derer, die musikbezogene Werte schöpfen, größer und vielfältiger ist als an anderen Orten, und dass er vor allem sozial neu und stark vernetzt konstituiert wird. Vernetzte Produktion gilt geradezu als ein Merkmal künstlerischer Produktion, vor allem in der Musikwirtschaft11. Neu ist, dass die vernetzten Akteure heute über mehr und andere Mittel verfügen, mit denen sie selbst unabhängiger von Labeln, Vertrieben und anderen intermediäre Musik produzieren und verteilen können, wie sie auch deren Wahrnehmung mit ihren Mitteln mitgestalten können. Vor der Entwicklung digitaler Netzwerkmedien verfügten sie nur über Mittel, die ihnen Einfluss auf den Umgang, die Nutzung von Musik etwa in der Form eines Drucks oder einer Konserve erlaubten, die andere (Verlage, Labels oder Vertriebe) für sie in der Push-Kultur 9 Kommunikations- und Medienwissenschaft unterscheiden vier Gruppen von Medien in Bezug auf die jeweils erforderliche Technologie. Die älteste Gruppe sind die Primär- oder Menschmedien. Bei ihnen handelt es sich um Träger medialer Rollen (Minnesänger, Prophet, Prediger usf.) und Institutionen wie Theater. Mit ihnen wird öffentliche Kommunikation und Orientierung ohne Technologie konstituiert. Druck- oder Sekundärmedien wie Buch, Zeitung oder Zeitschrift erfordern Technologie zur Produktion öffentlicher Kommunikation und Kultur; elektronische oder Tertiärmedien wie Kino, Schallplatte, Radio oder Fernsehen erfordern zusätzlich Technologie zu ihrer Reproduktion. Die neuen digitalen Netzwerk- bzw. Quartärmedien verfügen darüber hinaus über Übertragungstechnologie und Software. Medium ist nicht »das Internet« – es ist eher mit Funkwellen vergleichbar – sondern jeweils eine konkrete Einrichtung, an die im Hinblick auf ihre Leistungen im Rahmen von Kommunikation generalisierte Erwartungen bestehen – YouTube, Facebook usf. 10
Tschmuck 2003.
11
Vgl. ausf. Winter 2012.
135
136
Aljoscha Paulus und Carsten Winter
produzierten und verteilten, die auch maßgeblich Einfluss auf die Möglichkeiten der Wahrnehmung von Musik in den Medien hatten. Die Bedeutung digitaler Netzwerkmedien als neue institutionalisierte Wertschöpfungsmittel erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Denn diese neuen Mittel sind gleichermaßen Kommunikationsmittel zur Überwindung der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation, wie sie im Prozess des Wertschöpfens mit Musik für immer mehr Akteure auch Mittel zur Transformation von »Input« in einen wertvolleren »Output« sind. Erst wenn diese doppelte Bedeutung verstanden wird, lässt sich ihre Bedeutung für neue Wertschöpfungspotenziale und -perspektiven verstehen. Erst dann wird verständlich, warum nicht mehr nur Unternehmen und öffentliche Organisationen mit Bezug auf Musik Werte für andere schaffen, indem sie Musik produzieren und verteilen und Einfluss auf ihre Wahrnehmung nehmen, sondern erstmalig auch Musiker und Freunde von Musik, die damit aber nicht notwendiger Weise Gewinne erwirtschaften müssen oder wollen12. Musikschaffende und Musiknutzer verfügen heute mit neuen digitalen Netzwerkmedien wie Napster (1999) und später Last.fm (2002), MySpace (2003), Facebook (2004), YouTube (2005) oder SoundCloud (2007) – um nur einige zu nennen – erstmalig über Medien, mit denen sie jenseits von Märkten und ohne Unternehmen der klassischen alten Musikwirtschaft durch die Verteilung, aber vor allem auch die Organisation der Wahrnehmung von Musik und sogar deren Produktion Werte generieren können. Die Dynamik der Musikwirtschaft wird erheblich durch Musiknutzer getrieben. Sie sind im Umgang mit digitalen Netzwerkmedien immer seltener nur Nutzer oder Konsumenten, sondern eher Prosumer, die sich unterschiedlich aktiv bzw. produktiv an der Wertschöpfung zum Beispiel durch die Verteilung von Musik beteiligen13. Sie bzw. ihre medialen Aktivitäten sind maßgebliche Treiber des Wandels der sogenannten Push-Musikkultur, die einige wenige für viele andere gemacht haben, in eine vernetzte Pull- oder On-Demand-Musikkultur14, die sich immer mehr Leute selbst zusammenstellen und in ihren Netzwerken teilen, verteilen, kommentieren und immer häufiger sogar mitproduzieren und finanzieren15. Ein Verständnis von Medien als Produktionsmittel prägt indirekt immer mehr Beiträge zur Transformation der Push- in eine Pull-Kultur oder auch einer PushÖkonomie in eine Pull-Ökonomie. Indirekt findet es sich etwa in Charlene Lis und Josh Bernoffs Groundswell (2008), in dem Wertaktivitäten gewöhnlicher Leute als Kunden mit Bezug auf ihre medialen Wertschöpfungskompetenzen unterschieden werden. Li und Bernoff haben die Social Technographics ladder16 entwickelt, ein Instrument, das es erlaubt, auf nachvollziehbare Art und Weise strategischen 12
Vgl. ausf. den Beitrag Kaufmann / Winter (S. 339 ff.) in diesem Buch.
13
Vgl. den Beitrag Kaufmann / Winter in diesem Buch sowie ausf. Winter 2012.
14 Die inzwischen üblich gewordenen Begriffe Push- und Pull-Kultur und On-Demand-Kultur gehen auf James Lull zurück. (Lull 2002, 2007; diskutiert in Winter 2009, 2011) 15
Vgl. ausf. Winter 2011, 2012.
16
Siehe Abbildung der »Tec Ladder« in Beitrag Kaufmann / Winter (S. 345) in diesem Buch.
Musiker als Media-Ar tepreneure?
Vorausblick zu entwickeln – also ein plausibles Wissen über die Zukunft von Wertschöpfungsbedingungen und -voraussetzungen17: Jede Stufe ihrer Leiter steht für ein aktiveres und größeres Wertschöpfungsengagement: »Inactives«, »Spectators«, »Joiners«, »Collectors«, »Critics« und »Creators«18.
Die medial vernetzten Wertaktivitäten der Berliner Musikakteure Die Orientierung an der Tec ladder19 ermöglichte genauer zu differenzieren, wie Musiknutzer nun als Prosumer aktiv neue Formen von Wertschöpfung forcieren: im Hinblick auf das Wie ihrer Aktivitäten und das Was der sich neu ergebenden Wertschöpfungspotenziale. Wie unsere Forschung zeigt, ist die Dynamik der Transformation von Wertschöpfungsprozessen in der (Berliner) Musikwirtschaft vor allem auch durch auf diese Leiter emporsteigende Künstler geprägt. Sie sind der Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen, in denen wir erläutern, warum die Dynamik der Berliner Musikwirtschaft durch die Vernetzungs- bzw. Netzwerkmedienaktivitäten von Musikschaffenden und Musikmarktakteuren untereinander und mit ihren Fans getrieben wird. Die Bedingungen sowie die Formen musikbezogener Wertschöpfung ändern sich umso tiefgreifender, je weiter sowohl medial vernetzte Wertaktivitätskompetenzen von Musiknutzern als auch von Musikschaffenden ausgebildet sind. Die von uns in Berlin mit 38 ausgewählten Akteuren geführten qualitativen Interviews belegen, dass Vernetzungsaktivitäten für Künstler viel mehr und differenzierter zu ihren Wertaktivitäten beitragen, als bislang von ihnen und aber auch von der Musikwirtschaftsforschung angenommen wurde. So zeigten die Interviews, dass sich offenbar immer mehr Musikschaffende längst nicht mehr auf die Vernetzung mit verschiedenen Musikmarktakteuren beschränken, sondern sich mittels digitaler Netzwerkmedien wie Facebook oder SoundCloud zunehmend auch direkt mit ihren Fans vernetzen und dass sie diesen so konstituierten Beziehungen – und das ist zentral – eine wachsende Bedeutung für ihre eigenen Wertschöpfungsaktivitäten zuschreiben. Offenbar spielen bei der im vorigen Abschnitt angesprochenen Transformation von einer Push-Musikkultur in eine Pull- bzw. On-Demand-Musikkultur medial aktive und sich vernetzende Künstler eine wichtige Rolle. Die Ergebnisse unserer Forschung deuten darauf hin, dass längst nicht nur Consumer zu Prosumern werden, wenn sie die Stufen der Tec ladder emporsteigen und entsprechende Kompetenzen erwerben, sondern dass immer mehr Künstler auch »Media-Artepreneure« werden: Entrepreneure, die wie kundige Prosumer mit digitalen Netzwerkmedien 17
Vgl. ausf. Winter 2012.
18
Li / Bernoff 2008, S. 43.; vgl. zur Diskussion ausf. Winter 2012.
19 Wir haben in dem angeführten Forschungsprojekt die Aktivitäten des Veröffentlichens, Verteilens und des Ko-Operierens unterschieden.
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Aljoscha Paulus und Carsten Winter
musikbezogen auf völlig neuartige Weise Werte schöpfen. Der Künstlertypus des Media-Artepreneurs denkt und handelt nicht mehr nur in den Kategorien der klassischen (Push-)Musikkultur mit dem entsprechend überkommenen Wertschöpfungsverständnis, das sich wie früher ausschließlich an traditionellen Musikmarktakteuren orientiert. Er ist stattdessen darauf bedacht, seine Wertaktivitäten jenseits vom Markt zugänglich zu machen und auch für gewöhnliche Leute zu öffnen – vor allem, wenn sie als Prosumer mit ihren Aktivitäten produktiv zu seiner Wertschöpfung beitragen können. Um diese kleinformatigen Aktivitäten zu verstehen, haben wir ein Modell entwickelt, das den Wertschöpfungsraum der On-Demand-Kultur aufspannt und seine neue Dynamik veranschaulicht. Das Modell, das hier nicht ausführlich hergeleitet und erläutert werden kann20, unterscheidet in Anlehnung an das Modell der Tec ladder auf Seiten der Künstler und Konsumenten vier Kompetenzebenen (Net-Surfer, Net-Publisher, Socializer, Co-Creator) als Ebenen, auf denen Künstler und Konsumenten in Abhängigkeit ihres mehr oder weniger versierten Umgangs mit digitalen Netzwerkmedien (als Produktionsmitteln) Wertaktivitäten entfalten können. Diese sind für uns insofern unterscheidbar, als dass wir sie sowohl verschiedenen Kontexten als auch Momenten musikbezogener Wertschöpfung zuordnen können. So differenziert unser Modell nach Wikström (2009) und Winter (2011, 2012) drei Kernwertschöpfungsbranchen bzw. -kontexte (Live Music, Music Publishing, Recorded Music) und außerdem vier Momente musikbezogener Wertschöpfung (Produktion, Verteilung, Wahrnehmung, Nutzung).
Co-Creator
Co-Creator
Socializer
Socializer
NetPublisher
NetPublisher
Live Music Production
Allocation
Perception
Use
Booking
Ticketing
Performance
Life Experience
Production
Allocation
Marge
NetSurfer
NetSurfer
Music Publishing Music Publisher, Commerce
Perception B-2-B, Print, Marketing
Use Performance, Exploitation
Marge
Composition, A&R
Recorded Music Allocation
Perception
Use
A&R, Audioproduction
Distribution, Trade, Media
Marketing, Promotion
Private Consumption
Artist
Marge
Production
Consumer
Das dynamische Wertschöpfungsmodell der On-Demand-Musikkultur
20
Vgl. ausf. Winter / Paulus 2013 (Druck i. Vorb.).
Level of media activities
Prosumer
Media-Artepreneur
Level of media activities
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Musiker als Media-Ar tepreneure?
Sowohl die Wertschöpfungskonfigurationen in den Kernbranchen als auch die zwischen ihnen und den Musikschaffenden und den Nutzern auf den vier unterschiedenen Stufen einer musikbezogenen Wertaktivitätenleiter verändern sich dynamisch mit der Entwicklung der Medien und der Kompetenzen jener, die sie als Mittel zur Produktion, Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung von Musik verwenden. Diese Veränderungen veranschaulichen wir am Beispiel eines von uns in Berlin befragten Elektro-Künstlers, der medial aktive Fans auf verschiedenste Art und Weise an seiner Wertschöpfung beteiligt.
Wertaktivitäten von Prosumern im Netzwerk eines Elektro-Künstlers Die folgende Schilderung betrifft einen Einzelfall und noch dazu einen aus einer verhältnismäßig jungen Musikszene. Unsere Interviews zeigen aber, dass vieles von dem, was sich an diesem Fall verstehen lässt, im Prinzip auch für die Logik gilt, in der Musikakteure etwa im Feld klassischer Musik ihre Wertaktivitäten neu ausrichten und entwickeln. Für sich genommen verändert keine Aktivität eines aktiven Konsumenten oder Nutzers, eines »Prosumers«, Musikwirtschaft und schafft allein auch keine Basis für neue Potenziale oder gar Perspektiven für Wertschöpfung. Das gilt auch für die Fans, die im Netzwerk des Elektro-Künstlers zu Wertschöpfungspartnern wurden. Sie allein haben die Musikkultur oder den Musikmarkt noch nicht verändert, aber doch die Wertschöpfung des Befragten. In ihr sind sie ein immer größerer und lukrativerer Teil geworden, der – und auf diesen Aspekt werden wir abschließend noch eingehen – klassischen Musikwirtschaftsakteuren verloren geht. Der Elektro-Künstler agiert aufgrund seiner Netzwerke unabhängiger von der klassischen Musikwirtschaft. Prosumer
Media-Artepreneur (Electro-Artist)
Production
Use
Booking Person XY
Live-Show Club XY
Co-Creator Capital
Capital
Co-Creator
Capital
Capital
Promotion via Person XY
Allocation Medium XY , Person XY
NetPublisher
NetSurfer
Live Music Production
Allocation
Perception
Use
Booking
Ticketing
Performance
Life Experience
Marge
Level of media activities
Capital
NetSurfer
Perception
Capital
NetPublisher
Recorded Music Allocation
Perception
Use
Distribution, Trade, Media
Marketing, Promotion
Private Consumption
Marge
Artist
Production A&R, Audioproduction
Consumer
Wertaktivitäten von Prosumern im Netzwerk eines Elektro-Künstlers
Level of media activities
Socializer
Socializer
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Aljoscha Paulus und Carsten Winter
Er wirbt in seinen Netzwerken durch Promotion-Aktivitäten um Aufmerksamkeit und darum, dass ihm Fans als Prosumer mit ihren Veröffentlichungen helfen, oder er verteilt Tracks, die von Fans als Prosumer weiterverteilt werden (Wertschöpfungskette/-netzwerk »Recorded Music«, siehe Abbildung S. 139). Aber war das nicht schon immer so? Ist Musik nicht schon immer auf eine Art und Weise produziert, verteilt, wahrgenommen und genutzt worden, die vor allem versuchte, Freunde und Fans einzubinden? Neu an diesen Aktivitäten ist nicht, dass sie stattfinden. Neu ist, dass die Akteure über Produktionsmittel verfügen, die es ihnen erlauben, Dinge zu tun, die zuvor nur marktetablierte oder öffentliche Akteure in dieser Qualität und Quantität bzw. Reichweite und Tiefe zu leisten vermochten, und dass diese, ohne notwendig kommerziell ausgerichtet sein zu müssen, trotzdem auch immer geplanter und kommerziell erfolgreicher stattfinden. So profitiert der befragte Elektro-Künstler von seiner steigenden Vernetzung und Bekanntheit mehrfach. Er verkauft mehr Tracks und wird vor allem über sein Netzwerk häufiger gebucht – wobei auch hier Fans als Prosumer für ihn eine immer wichtigere Rolle spielen bzw. Funktionen übernehmen: Ein immer größerer Teil seiner Bookings läuft nicht mehr über seine Booking-Agenturen, sondern ebenfalls über Fans als Prosumer (Wertschöpfungskette /-netzwerk »Live Music«, siehe Abbildung). Fans aus aller Welt fragen ihn, ob er nicht Lust hat, auch mal bei ihnen aufzulegen, weil sie mitbekommen, dass es schon anderen Fans gelungen ist, einen Auftritt für ihn zu organisieren: »Es ist häufig so, dass Leute mich anschreiben und sagen ›Ey, mir gefällt deine Musik‹. Nehmen wir mal einen aus Südfrankreich. Und der fragt dann: ›Wann kommst du denn mal nach Südfrankreich und spielst hier?‹ Dann sage ich: ›Du, ich habe momentan in Südfrankreich Null Anfragen, aber wenn du irgendwelche Promoter oder Clubbetreiber kennst, dann sprich die doch einmal an und gib denen meinen Namen.‹ So funktioniert das häufig – dass man seine Fans für sich arbeiten lassen kann. Dass die mit ihren Kumpels sprechen und eventuell selbst eine Party machen, wie zum Beispiel letztes Wochenende in Oslo. Da waren zwei junge Burschen, die fanden das gut, was ich mache, und die haben sich mit einem Promoter zusammengesetzt und eine Party auf die Beine gestellt – jetzt auf eigene Kosten.« Die Vorteile vernetzter Wertschöpfung für die Beteiligten liegen auf der Hand. Offenbar können Transaktionskosten reduziert und Dinge ohne Marktakteure günstiger als mit ihnen organisiert werden. Aber das ist nur einer der Vorteile vernetzter Ökonomien, die wir erst langsam mit ihrer Entwicklung verstehen lernen. Aus der Perspektive der Prosumer dürften andere Vorteile vernetzter Ökonomien möglicherweise wichtiger sein als Transaktionskostenvorteile, die für professionell Musikschaffende möglicherweise im Vordergrund stehen21. Indes haben Letztere freilich auch entdeckt, dass ihr soziales Kapital (Friends und Follower) und ihr kulturelles Kapital (wie oft sie zum Beispiel erwähnt oder verlinkt werden) wichtiger wird.
21
Vgl. den Beitrag Kaufmann / Winter (S. 339 ff.) in diesem Buch.
Musiker als Media-Ar tepreneure?
Heute verfügen aber nicht nur Musikschaffende und Fans oder Nutzer, sondern auch vielfältige andere Akteure wie Clubbesitzer usf. als musikinteressierte (Wert-) Akteure über Medien als Wertschöpfungsmittel, die sich untereinander immer häufiger und tiefer vernetzen.
Fazit: Neue Medien sind neue Mittel für neue Wertschöpfungsmöglichkeiten Im Rahmen unserer Forschung hat es sich bewährt, die medialen Aktivitäten des Veröffentlichens, Verteilens und des Ko-Operierens als musikbezogene Wertaktivitäten von Musikschaffenden und -nutzern zu unterscheiden. Sie machen einen Unterschied, nicht einfach nur analytisch als verschiedene Stufen einer Leiter, sondern als Wertaktivitäten, die die Ordnung der Musikkultur- und -wirtschaft verändern. Wenn Leute, ob Musikschaffende oder Musikfans, etwas veröffentlichen, die bis dato nichts veröffentlichen konnten, verändert sich die Ordnung der Öffentlichkeit der Musikkultur. Wenn diese Leute, die explizit keine Marktakteure sein müssen, auf einmal auch etwas verteilen, dann ändert sich nicht nur die Distribution, sondern auch die Allokation, die Regeln der Verteilung. Und wenn diese Leute, Musikschaffende und Musikfans, auch noch gezielt miteinander kooperieren, neuerdings immer erfolgreicher bei der Ko-Kreation oder gar Ko-Finanzierung von Musik etwa durch Crowdfunding, ändern sich Wertschöpfungsprozesse und Produktionsverhältnisse mit jeder Kooperation immer ein klein wenig mehr – dafür aber grundlegend. Offenkundig verändern die meisten dieser Aktivitäten und Kooperationen die gegenwärtige Musikwirtschaft und Musikkultur nicht zugunsten bestehender Unternehmen der klassischen Musikwirtschaft. Sie haben ihre Hoheit über die Produktion, Veröffentlichung und Verteilung von Musik längst an ein stetig wachsendes Heer von Künstlern und Musikfans verloren. Ausgestattet mit digitalen Netzwerkmedien als Produktionsmitteln werden diese immer versierter darin, in musikbezogenen Wertschöpfungsprozessen Aktivitäten zu übernehmen, die zuvor privaten und öffentlichen Organisationen vorbehalten waren. Dass sie – insbesondere wenn es sich um Musikfans handelt – hiermit nicht notwendig kommerzielle Ziele verfolgen und in ihren Netzwerken sehr vielfältigere Werte als rein monetäre generieren, weil in Netzwerken alles von Wert ist, was in ihnen getauscht werden kann, haben wir an anderer Stelle bereits entfaltet22. Auf unser Berlin-Forschungsprojekt rekurrierend, in dem es vorrangig darum ging, für klassische Musikmarktakteure Wertpotenziale und -perspektiven zu identifizieren, wollen wir hier abschließend betonen, dass auch sie, ebenso wie marktorientierte Wertschöpfungsaktivitäten, auch künftig noch eine große und wichtige Rolle spielen werden. Unsere Interviews belegen, dass der in unserem neuen 22
Vgl. unter anderem Hepp / Krotz / Moores / Winter 2006 und Winter 2006a, 2008, 2012.
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Aljoscha Paulus und Carsten Winter
dynamischen Modell aufgespannte Wertschöpfungsraum einer vernetzten Pull- oder On-Demand-Musikkultur Musikmarktakteuren vielfältige neuartige Wertschöpfungspotenziale und -perspektiven bietet. Sie ergeben sich insbesondere auf drei Ebenen: erstens auf der Ebene einer verstärkten Beteiligung von aktiven Prosumern und Künstlern bzw. Artepreneuren an den eigenen Wertschöpfungsaktivitäten; zweitens durch neue Produkte und Services, die Prosumer und Artepreneure bei ihren Kollaborationen unterstützen, sowie drittens in der Folge neuer Kooperationen mit anderen Musikwirtschaftsakteuren und zunehmend auch branchenfremden (Wirtschafts-)Akteuren, die insbesondere neue Wertschöpfungsaktivitäten abseits der traditionellen Geschäftsfelder der Musikwirtschaft ermöglichen – wie etwa Soundbranding usf. Die konkrete Realisierung der auf diesen Ebenen bestehenden Wertpotenziale und neuen Möglichkeiten, etwa durch die Entwicklung der eigenen Netzwerke, ihre Öffnung und Weitervernetzung oder Neuprogrammierung im Kontext der Etablierung und Institutionalisierung neuer Ordnungen von Musikkultur und von Musikwirtschaft, konnten hier freilich nicht im Detail erläutert werden23. Absehbar ist aber, dass künftige Potenziale und Perspektiven für Wertaktivitäten von der Entwicklung der alten Ordnungen der Musikwirtschaft abhängen und davon, wer diese wo und warum für mehr Akteure intelligenter und nachhaltiger öffnet. Ob und wie das in Berlin stärker als an anderen Orten der Musikwirtschaft erfolgt, hängt in jedem Fall mit den Erfahrungen und Möglichkeiten zusammen, die unser Modell für Künstler und Nutzer, aber auch Marktakteure andeutet: Je mehr und je weiter sie die Tec ladder hinaufklettern, desto besser können sie vermutlich in die Zukunft sehen – mit ihren neuen gerechteren Ordnungen für die immer vielfältigeren Möglichkeiten des musikbezogenen Schaffens von Wert mit immer individueller genutzten und immer leistungsfähigeren Mitteln.
23
Vgl. ausf. Winter / Paulus 2013 (Druck i. Vorb.).
Der Teufel, das Weihwasser und die Geschichte der Popförderung Peter James
Birke: Ist Pop Kultur oder Wirtschaft? James: Pop ist beides. Das wird heute auch nicht mehr ernsthaft bestritten. Aber natürlich scheiden sich die Geister, sobald es um staatliche Kulturförderung geht. Ohne nun groß zu diskutieren, wann und in welcher Höhe Staatsausgaben für Kultur sinnvoll sind: Dass es sich bei Pop um Kommerz und eher nicht um Kultur handele, propagieren meines Erachtens aus Sorge um ihre Pfründe die Vertreter des Bildungsbürgertums, zahlreiche Kultur-Staatsbetriebe und reflexhaft agierende Politiker, die hier eben nicht reflektieren. Getrieben wird dies durch eine unter anderem auf den Musiktheoretiker Adorno zurückgehende Doktrin des letzten Jahrhunderts, wonach Kultur zur Ware wird, sobald sie aufgrund einer starken Nachfrage vermarktet wird. Adorno schloss daraus, dass nur geförderte Kunst eine freie Kunst sei, so die Autoren des Buches Der Kulturinfarkt1. Was gefalle, hätte schon verloren – im Kontext staatlicher Kulturförderung gälte jegliche Orientierung an Konsumenteninteressen als geschmacklos und kreativitätstötend. Das ist eine ebenso simple wie nachvollziehbare Erklärung jedenfalls für die hiesige, überzogene, musikalische Denkmalpflege bei gleichzeitiger, reflexhafter Diskriminierung der Populärkultur. Zurück zur Ausgangsfrage: Pop ist Wirtschaft und selbstverständlich Kultur, denn schon laut Fremdwörterbuch handelt sich bei Kultur um die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Ausdrucksformen eines Volkes2. Weder musikalische Denkmalpflege noch Populärkultur lassen sich hier rausdefinieren. Birke: Sind Kulturgüter förderungswürdig? James: Eine berechtigte Frage, angesichts der manchmal fragwürdigen Förderpraxis hierzulande. Bei Popularmusik begründe ich die Notwendigkeit eher vom anderen Ende: Mehr denn je haben wir es mit einer globalen Musikkultur zu tun, die sich an unterschiedlichen Orten kontinuierlich weiterentwickelt hat. In Deutschland 1
Vgl. Haselbach / Klein / Knüsel / Opitz 2012.
2 Vgl. »[…] die Gesamtheit der geistigen u. künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft, eines Volkes.« (Duden 1990, S. 440).
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Peter James
waren wir etliche Jahre abgeschnitten – klingt vielleicht überzogen, aber ich denke, die Künstlerverfolgung und Kunstdiskriminierung im Dritten Reich haben deutliche Spuren hinterlassen. Danach gab es einen völligen Neuanfang, nicht zuletzt dank der internationalen Tonträgerindustrie. Im Ergebnis stehen wir heute so stark unter dem Einfluss einer internationalen Musikkultur, dass unsere lokale Musikkultur dahinter zurücksteht. Hör nur mal rein in die deutsche Radiolandschaft: Geschätzte 80 % des gesendeten Repertoires kommt aus dem Ausland, verbleiben 20 % für Musik von hier. Bei unseren europäischen Nachbarn wie Frankreich oder Skandinavien sieht das anders aus. Will man das zu Gunsten hiesiger Künstler und Verbraucher ändern, muss man meines Erachtens fördern. Birke: Also sagen wir mal, einen Kontext schaffen, dass es stattfinden kann. James: Richtig – der katastrophale öffentlich-rechtliche Rundfunk ist nicht das einzige Umweltproblem, mit dem wir zu kämpfen haben. Der Technologie-Fortschritt, Veränderungen des Verbraucherverhaltens und die schleppende Anpassung der digitalen Gesellschaft an geltendes Recht, wie zum Beispiel Urheberrecht, Persönlichkeitsrecht, Kartellrecht etc., haben ebenfalls zu einer prekären Situation geführt. Bürger, Verbraucher und erst recht Künstler können hier nur wenig tun, denn wie beim Radio handelt es sich um Staatsaufgaben. Meines Erachtens handelt der Staat hier nicht oder nur sträflich langsam. So führt Staatsversagen zu Marktversagen, d. h. der Staat muss eigentlich handeln – übrigens auch aus einem weiteren Grund: Die UNESCO Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt ist internationales geltendes Recht, das mehr als 100 Staaten, darunter Deutschland und die Europäische Gemeinschaft, ratifiziert haben3. Der Schutz und die Förderung der Konvention umfasst drei Bereiche: (1) Kulturelles Erbe, hier Klassik, (2) Kulturen anderer Länder in Deutschland sowie (3) Zeitgenössische künstlerische Ausdrucksformen und zwar stilübergreifend einschließlich Jugendkulturen. Anlässe gibt es also mehr als genug, nur passiert ist leider sehr wenig. Birke: Kulturgut, Wirtschaftsgut, förderungswürdig: Würdest du so weit gehen, Pop in den Kanon der Künste aufzunehmen? James: Selbstverständlich. Allerdings begreife ich Pop nicht als seichte, kommerziell erfolgreiche Unterhaltungsmusik, die dank Radio und Tonträgerindustrie vom überwiegenden Teil der Bevölkerung gehört wird, sondern als die Gesamtheit populärkultureller Musik diesseits des musikkulturellen Erbes und der Europäischen Kunstmusik. So gesehen löst Pop Anforderungen, die durch den Kanon der Künste aufgestellt werden, spielend ein. Vielen ist möglicherweise nicht bewusst: Seit der Erfindung des Swing im letzten Jahrhunderts haben wir uns um einige
3 Die UNESCO-Generalkonferenz hat am 20. Oktober 2005 das »Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen« verabschiedet, das eine völkerrechtlich verbindliche Grundlage für das Recht aller Staaten auf eigenständige Kulturpolitik schafft. Die Konvention trat am 18. März 2007 in Kraft. [http://www.unesco.de/kulturelle-vielfalt.html, 03.09.2013].
Der Teufel, das Weihwasser und die Geschichte der Popförderung
Axiome, dutzende Musikgenres und etliche, stilprägende Musikergenerationen weiterentwickelt. Dazu haben Kulturen aus aller Welt beigetragen. Birke: Der logische Schritt ist, das Thema als Kunst für jedes Alter zu begreifen und nicht nur an Jugend zu denken. Wir müssen an die Alltagserfahrung jedes Hörers denken. James: Befragt man Jugendliche heute nach ihren wichtigsten Medienaktivitäten, so stellen weit über 80 % eindeutig Musik in den Mittelpunkt. In späteren Lebensabschnitten verschiebt sich das zugunsten von Familie, Ausbildung, Karriere und sonstiger Freizeitaktivitäten. Schon wegen seiner Allgegenwärtigkeit zählt Musik meines Erachtens zu den meist genutzten und wahrgenommenen Kulturphänomenen der Gegenwart. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts geht das nun schon so. Ein Blick auf die Statistiken der Tonträgerindustrie ergibt zudem: Zu Beginn der Populärkulturen zählten Teens und Twens zu den wichtigsten Umsatzträgern, heute haben sich die Umsätze einschließlich der über 60-Jährigen im Zehn-JahresVergleich deutlich angenähert. Du hast also recht: Nach 60 Jahren lebender und gelebter Populärkultur umfasst das Thema alle Altersgruppen. Nur ist diese Kunde in den relevanten Schaltstellen der Politik und Verwaltung offenbar noch nicht angekommen. Birke: Es fehlt die Lobby. James: Offenbar, aber nicht nur. Jeder Anspruchsteller, der neu auf den Plan tritt, droht anderen etwas wegzunehmen, was diesen deren Ansicht nach historisch begründet zusteht. Das Bildungsbürgertum erkannte früh, was auf uns zu kommt und hat sich positioniert: eine Zeit knappen Geldes und die Notwendigkeit, umzuverteilen. Ich denke nicht, dass Kultur und Musik hierzulande zu wenig gefördert werden; wohl aber, dass die Mittel nicht sachgemäß eingesetzt werden, sondern in verkrusteten Strukturen feststecken und das die Begünstigten ihre Pfründe wesentlich nachhaltiger und subtiler verteidigen, als wir für unsere Rechte kämpfen. Ein Beispiel aus meinem aktuellen Umfeld: Als 1997 der Südwestfunk (SWF) mit dem Süddeutschen Rundfunk (SDR) zum Südwestrundfunk (SWR) zusammengelegt wurde4, folgten daraus keineswegs Konsequenzen für die nun doppelt vorhandenen Klangkörper. Der Sender finanzierte beide weiterhin aus den steuerähnlichen Rundfunkgebühren und begründete dies mit dem Kulturauftrag des öffentlichrechtlichen Rundfunks. Fragen nach dem Sinn zweier Klangkörper innerhalb eines Senders und nach den Kosten ging man fast anderthalb Jahrzehnte aus dem Weg. Dann platzte der Knoten im letzten Jahr, und der SWR zog die Zusammenlegung aus finanziellen Gründen durch, aber keineswegs etwa wegen einer zeitgemäßen
4 Siehe Präambel des Staatsvertrag über den Südwestrundfunk vom 31. Mai 1997. [http://www. ard.de/intern/abc/-/id=1686194/property=download/nid=1643802/u76nzg/SWR-Staatsvertrag. pdf, 03.09.2013].
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Auslegung des Kulturauftrages5. Wie verbissen Lobbyisten und Betroffene um den Fortbestand beider Orchester kämpften, war beeindruckend. Unbestritten sind Menschen betroffen, die ihr Leben schon früh auf eine Arbeit als hochqualifizierte Kunsthandwerker ausrichteten, um auf sehr hohem Niveau für eine Minderheit der Gesellschaft zu musizieren. Es ist nur nicht einzusehen, warum die absolute Mehrheit andere Bedürfnisse dafür permanent zurückstellen soll. Betroffene, Verantwortliche und besonders die Politik sind meines Erachtens verpflichtet, langfristig und umsichtig zu planen und den Anschluss an die Gegenwart zu halten. Viele wollen wohl den Schuss nicht hören und oder sind einfach nicht fähig, wahrzunehmen, wie stetig sich Kultur gemeinsam mit der Nachfrage und den Ansprüchen der Verbraucher weiter entwickelt. Unbeirrt wird Musikkultur hierzulande mit musikalischer Denkmalpflege gleichgesetzt – anderswo ist das anders. Nun gehört es zum Wesen der Lobbyarbeit, dass es deutlich kräftezehrender ist und wesentlich länger dauert, berechtigte Anliegen gegenüber Politik und Verwaltung durchzusetzen, als Besitzstände zu verteidigen. Dennoch muss ich neidlos anerkennen, dass das Bildungsbürgertum über schier unermessliche Pathosreserven verfügt und wesentlich härter, kompromissloser und organisierter kämpft, als unsere Klientel, die obendrein leider allzu oft dazu neigt, sich gegenseitig niederzumachen. Birke: Vor einigen Jahren hast du mir mal gesagt: In drei, vier Jahren werden wir es erleben, dass Förderinstrumente für Popmusik kommen. Da hat sich offensichtlich etwas verändert bei der Politik. Wir haben in der Zwischenzeit die Initiative Musik6 gegründet und das Musicboard Berlin7. Du hast in Baden-Württemberg Förderinstrumente8. Was hat sich in den Konstellationen verändert? James: Lobbyarbeit muss in Dekaden gedacht und geplant werden, nicht in Jahren. Wir sind nun schon eine Weile dabei, verstehen inzwischen mehr von der Materie und auch, wie wir unsere Anliegen vermitteln müssen. In der Verwaltung und den politischen Schaltstellen sind Menschen angekommen, denen das Phänomen Populärkultur nicht gänzlich fremd ist, und last but not least lassen sich unsere berechtigten Anliegen nicht permanent unter dem Deckel halten. Eine recht präsente, funktionierende Kulturindustrie gibt es schon lange, auch wenn sie sich, früher noch mehr als heute, auf die Verbreitung internationalen Repertoires konzentriert. 5 Vgl. Entwurf eines novellierten Staatsvertrages über den Südwestrundfunk vom 13. November 2012. [http://www.rlp.de/fileadmin/staatskanzlei/rlp.de/downloads/pdf/Medienreferat/Entwurf_ eines_novellierten_SWR-Staatsvertrages.pdf, 03.09.2013]. 6 Die im Oktober 2007 gegründete und in Berlin-Mitte ansässige Initiative Musik gGmbH ist eine Fördereinrichtung der Bundesregierung für die Musikwirtschaft in Deutschland, die von der Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten (GVL) und dem Musikrat getragen sowie von GVL und GEMA/GEMA Stiftung finanziell unterstützt wird. Aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages ist der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) Hauptförderer. Kernbereich ist die populäre Musik: Rock, Pop und Jazz. [http://www.initiative-musik.de, 03.09.2013]. 7
Vgl. das Interview mit Katja Lucker (S. 49 ff.) in diesem Buch.
8 Peter James ist seit April 2010 Leiter des Popbüro Region Stuttgart, einer Förder- und Beratungsinstanz für Nachwuchsmusiker und Existenzgründer aus der Region, das zu den Popbüros BadenWürttemberg gehört. [http://www.popbuero.de, 03.09.2013].
Der Teufel, das Weihwasser und die Geschichte der Popförderung
Solange der Tonträgermarkt funktionierte, scheuten deutsche Niederlassungen der internationalen Musikkonzerne Themen wie Nachwuchswettbewerbe und -förderung wie der Teufel das Weihwasser. Der Tonträgermarkt war ja auch lange Zeit eine geschützte Industrie, in dem Sinne, dass andere schlicht nicht wussten, wie die aktuelle Musikkultur funktioniert. Man musste also nichts tun. Mit der Digitalisierung und dem Wegfall des Tonträgermonopols, dem irrsinnigen Wettbewerbsdruck aus dem Ausland und dem veränderten Konsumentenverhalten hat sich das gewandelt. Seit die Musikindustrie verstanden hat, dass sie um die Anpassung des Urheberrechts auch in der Öffentlichkeit kämpfen muss, gibt es Lobbyarbeit, und die wird immer breiter aufgesetzt. Kommt hinzu, dass auch die Politik erkannt hat, wie groß die Reichweiten der Populärkultur sind. Sehr viele Menschen interessiert das und wo Künstler sind, sind Kameras. Das interessiert Politiker. Wenn man dann noch beobachtet, wie die englische Queen einen Popmusiker nach dem andern in den Adelsstand erhebt – nicht weil sie so putzig, sondern künstlerisch und ökonomisch erfolgreich sind – und amerikanische Präsidenten im Weißen Haus mit Rockbands posieren oder gar mit ihnen musizieren, dann kommt auch hier etwas an. Das alles immer noch recht zäh vonstatten geht, liegt an den tief sitzenden Vorurteilen, an den althergebrachten Gepflogenheiten, verkrusteten Strukturen und meines Erachtens auch am Besitzstandsdenken. Freiwillig gibt halt niemand ab! Aber wo ist das anders? Birke: Ist das schon ernst zu nehmen, was bei uns passiert? Oder sind das eher Alibiversuche? James: Das ist durchaus ernst zu nehmen. Zwar stehen wir noch am Anfang und vieles klingt noch unbeholfen, über reine Alibiversuche sind wir aber hinaus. Tatsächlich weisen aber auch Vertreter der Initiative Musik, die sich selbst fünf Jahre nach der Gründung immer noch als »Initiative« versteht, wiederholt darauf hin, dass erste Schritte zurückgelegt wurden und hoffentlich bald mehr passiert. Vorbild ist nach wie vor die extensive deutsche Filmförderung. Fragst du allerdings, ob das kulturelle, staatliche Repräsentationsbedürfnis ohne Einschränkung nun auch die Populärkultur umfasst, lautet die Antwort: Nein. Immer noch geht es, wenn über Musikkultur geredet wird, in der Regel um das musikalische Erbe, bestenfalls noch um Jazz. Bekenntnisse zur Populärmusik sind oft Lippenbekenntnisse. Der Unterschied wird klar, sobald man nach Spanien, England, Irland, Skandinavien und anderen Ländern schaut. Dort gibt es ein pralles, vitales Musikleben, das sich im Hier und Jetzt abspielt, ohne musikalische Denkmalpflege positiv oder negativ zu diskriminieren. Nichts bringt das besser zum Ausdruck als die unglaubliche Zahl fantastischer, qualitativ hochwertiger Bands und Künstler, die mit massiver finanzieller und struktureller Unterstützung ihrer Heimatländer nach Deutschland hineindrängen. Birke: Ihr habt 2003 German Sounds gegründet? Was war damals anders? Was ist da schief gegangen?
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James: Der frühe Vogel fängt den Wurm, die zweite Maus kriegt den Käse. German Sounds war ein notwendiger Zwischenschritt, ohne den es die Initiative Musik heute nicht gäbe. Nach der Jahrtausendwende zogen für Independent-Labels dunkle Wolken am Horizont auf: Die Talfahrt des Tonträgermarktes beschleunigte sich, die Einfügung des §19a Urhebergesetz (Recht der öffentlichen Zugänglichmachung) stand unmittelbar bevor, ein geregelter Onlinemarkt war aber ferner denn je. Das Konsumentenverhalten änderte sich drastisch, in der Radiolandschaft war die Situation noch nicht so schlimm wie heute, aber schon schlimm genug und obendrein drängte neben den omnipräsenten Amerikanern und Engländern nun auch noch ganz Europa in den deutschen Musikmarkt, immer häufiger, wie bereits gesagt, mit staatlicher Unterstützung. Auch dem VUT (Verband unabhängiger Musikunternehmen e. V.) 9 erschien Export als eine Möglichkeit, dem drohenden Desaster zu entkommen. Wir standen in Kontakt mit den europäischen Exportbüros, waren in Brüssel gut unterwegs und hatten uns auch international gut verdrahtet. Die in der EU-Administration traditionell gut vernetzten Franzosen hatten mit dem französischen Musikexportbüro und Unterstützung einiger europäischer Verwertungsgesellschaften in Brüssel schon ein Lobbybüro eingerichtet, das European Music Office10. Von dort kam die überraschende Nachricht, man habe eine EU-Förderung durchgesetzt und wenn es in Deutschland keine Adresse gebe, dann komme dort auch kein Geld an. Das war eine völlig neue Situation mit einem Zeitfenster von knapp einem Jahr, wenn wir dabei sein wollten. Mit finanzieller Unterstützung der IFPI (International Federation of the Phonographic Industry) und der GVL (Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten) legten wir eine Vergleichsstudie zur Musikexportförderung in Europa auf11, und wie erwartet war das Ergebnis: Deutschland ist Schlusslicht. In Verbindung mit der Ankündigung aus Brüssel und dem drohenden Ausschluss Deutschlands ergab sich somit ein gewisser Handlungsdruck. Die Tonträgerindustrie verzichtete auf ihr bisheriges Mantra: »Wir sind die größten Investoren in den musikalischen Nachwuchs. Wir brauchen keine Förderung, nur die Unterstützung der Politik bei der Anpassung des Urheberrechts« und unterstützte die Werbung des VUT für ein Exportbüro. Der Deutsche Musikrat regte sich kurzfristig auf, denn das Deutsche Musikexportbüro müsse zum Deutschen Musikrat. Letztlich zogen sie ebenfalls mit. Die GVL und die sehr zögerliche GEMA erklärten sich bereit, die Bürobetriebskosten zu übernehmen, und schließlich signalisierte auch die Bundesregierung über die damalige Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsministerin Christina Weiss, Projektmittel für zwei Jahre zur Verfügung zu stellen: ein Bruchteil dessen, was der Initiative Musik heute zur Verfügung steht, aber ein Anfang. Mitte 9
Vgl. das Interview mit Eva Kiltz (S. 247 ff.) in diesem Buch.
10 Das European Music Office (EMO) wurde 1995 von Jean François Michel, Mitgründer vom French Music Export Office, gegründet. Seit April 2009 ist Dieter Gorny Vizepräsident der EMO. [http://www.emo.org, 03.09.2013]. 11
Block 2002.
Der Teufel, das Weihwasser und die Geschichte der Popförderung
Dezember 2003 gründeten dann elf Institutionen und Verbände GermanSounds, das deutsche Musikexportbüro, in Gestalt einer kleinen Aktiengesellschaft, leider gleich mit zwei Geburtsfehlern. Fatal war zunächst, GermanSounds mit auf den Weg zu geben, sich nach Ablauf der Förderung selbst finanzieren zu müssen. Das ist völlig unsinnig und systemwidrig bezüglich der heutigen Finanzierung der Initiative Musik und der Arbeitsweise der Europäischen Exportbüros. GermanSounds stand also nach Ablauf der Förderung ohne Finanzierung da, und so musste auf Basis der zweijährigen Erfahrungen ein neues Konzept her. Ein völlig normaler Vorgang eigentlich, da hier neue Wege beschritten wurden und viele Beteiligte im Umfeld doch recht ahnungslos waren. Schief gelaufen ist hier eigentlich nichts, denn die Initiative Musik hätte ohne den Vorläufer nicht an den Start gebracht werden können und profitierte ganz erheblich von den Erfahrungen. Schief gelaufen ist die Zusammenarbeit mit einigen Gesellschaftern der GermanSounds AG, die sich recht früh als falsche Freunde erwiesen. Das war der zweite Geburtsfehler: Einige frühere Opponenten gingen wohl nur vorübergehend in Deckung oder beteiligten sich opportunistisch zunächst sogar selbst an der Gesellschaft. Insbesondere Verleger fühlten sich offenbar bedroht – jedenfalls häuften sich schon bald Hinweise und Nachrichten, dass GermanSounds unter anderem aus dieser Ecke massiv behindert wurde. Birke: Warum? James: Offen ausgesprochen wurde das nicht, ich kann hier nur vermuten. Um Künstler und Unternehmen im Ausland zu unterstützen, müssen Dienst leistungen, Kontakte und Informationen zur Verfügung gestellt werden. Nun bewegen wir uns in einem Markt, der wegen zahlreicher, unterschiedlichen Musikgenres und einer hohen Arbeitsteilung dutzendfach segmentiert ist und der, wie man sagt, ein people´s business ist. Wer hier erfolgreich sein will, muss extrem präsent und vernetzt sein, über viele geschäftliche Kontakte verfügen und sich in unterschiedlichen Märkten auskennen. Je besser und umfassender, desto größer das Alleinstellungsmerkmal – genau das nahmen die Verleger wohl für sich in Anspruch, jedenfalls hat man mir das so dargestellt: Export sei schon immer ihre Angelegenheit gewesen und man bringe dafür auch die erforderlichen Voraussetzungen wie Marktkenntnisse und Kontakte mit. Tatsächlich fuhr man bereits seit Jahren zur weltgrößten jährlichen Verlagsmesse MIDEM (Marché international de l’édition musicale) in Cannes, um internationale Geschäfte zu tätigen und Kontakte zu pflegen. Nun tauchte plötzlich unsere Einrichtung auf, die kritisierte, dass nicht genug passiere und die obendrein allen Musikschaffenden Kontakte und Infor mationen zur Verfügung stellen wollte. Das verstanden Verleger möglicherweise als ihre Domäne. Als wäre es nicht genug, äußerten wir auch noch Zweifel am hoch subventionierten deutschen Gemeinschaftsstand in Cannes – zum Beispiel am Stand-Design, das im internationalen Vergleich sterbenslangweilig und uninspiriert war. Seit Dekaden wurde das vom Deutschen Verlegerverband beantragt und mit ein und demselben Dienstleiter organisiert und gestaltet. Tatsächlich wurde der Stand bald darauf erstmals
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ausgeschrieben und ging mit einem neuen Dienstleister an den Start, ohne dass die Verleger Nachteile hinnehmen mussten, im Gegenteil. Die Verleger waren nicht die Einzigen, die der Ansicht waren, für Musikexportförderung prädestiniert zu sein. Im Zuge der Diskussion um den Musikexport hatte noch vor der Gründung von GermanSounds auch das Goethe-Institut12 plötzlich zwei deutsche Independent-Künstler auf eine Welttournee mit über 30 Konzerten geschickt und anschließend verlauten lassen, man habe viele Auslandsmärkte für deutsche Künstler und Independents erschlossen. Das Goethe-Institut wird vom Auswärtigen Amt finanziert, mit dem auch German Sounds partiell zusammenarbeitete. Natürlich gab es weitere Anfeindungen und Begehrlichkeiten aus den eigenen Reihen, einige davon eher peinlich als berechtigt, daher Schwamm-drüber-Blues! Fakt ist: Die Gründung des Musikexportbüros war ein wunderbares Beispiel für eine gelungene Lobbyarbeit, die wegen des europäischen Hintergrunds auch mal schnell Früchte trug. Da Konzepte anderer Industriezweige auf Musik nicht übertragbar waren, musste in jeder Hinsicht Neuland betreten und vieles nachjustiert werden. Das ging mit viel Getöse vonstatten, sodass die Politik sich wohl unter Druck gesetzt fühlte. Eine Kultur des Scheiterns gibt es hierzulande ja nicht, jedenfalls wenn man nicht selbst betroffen ist. Dennoch konnte GermanSounds, allen Anfeindungen und frühzeitigen Einstellungsversuchen zum Trotz, fortgesetzt werden, bis sichergestellt war, dass das Thema nicht mehr von der Agenda genommen werden konnte; nicht zuletzt wegen der zwischenzeitlich aufgekommenen Kreativwirtschaftsdiskussion, die sich aus dem Ausland kommend über die gänzlich unvorbereitete, deutsche Politiklandschaft ergoss. Im Zuge dessen stellte sich recht bald heraus, dass nahezu alle Analysen und gedanklichen Ansätze im Zusammenhang mit GermanSounds zutreffend waren. Birke: Aber wahrscheinlich zu früh, weil die Konstellation noch nicht vorbereitet war. James: In der Branche gab es damals noch ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber öffentlich-geförderten Bereichen. Wenige waren bereit oder in der Lage, sich mit Politik und Verwaltung auseinanderzusetzen, und viele hatten sich speziell mit Musikexportförderung noch gar nicht befasst, sondern einfach drauflosgeredet. In der Retrospektive denke ich, es kam alles gerade rechtzeitig. Auch wenn Politiker und Lobbyisten sich winden: GermanSounds war der Urknall, Initiative Musik das Echo. Und das mit einem sehr ansehnlichen Hebeleffekt: Insgesamt 66.000 Euro investierten die Gesellschafter in die GermanSounds AG: der VUT etwas mehr als ein Viertel, je 9.000 Euro der Deutsche Musikrat, der Bundesverband Musikindustrie und der Verlegerverband, alle Übrigen wesentlich kleinere Summen – geradezu lächerliche Beträge, angesichts der mehr als 10 Mio. Euro Fördermittel, die die Ini12 Das 1951 gegründete Goethe-Institut hat in der Abteilung »Kultur« einen eigenen Bereich für Musik. Hier können Künstler Förderanträge stellen, bei deren Bewertung der Bereich von einem Fachbeirat aus der Musikbranche – Persönlichkeiten aus Musikwirtschaft und Medien – unterstützt wird. [http://www.goethe.de/uun/wwm/mus/deindex.htm, 03.09.2013].
Der Teufel, das Weihwasser und die Geschichte der Popförderung
tiative Musik inzwischen verteilt hat. Auch in der Lobbyarbeit hat sich vieles geändert. Über Förderungen und Subventionen redet die Musikwirtschaft heute recht lässig und selbstverständlich. Leider nicht überraschend aber dennoch befremdlich finde ich, wie der Input und die Anregungen unter den Teppich gekehrt werden, die der VUT speziell auch bei der Initiative Musik eingebracht hat: die erste Version der Förderdatenbank, die erste Transkription eines französischen Fördermodells auf die Projektförderung, die Kurztourförderung13 – alles wurde von außen durch den VUT eingespeist. Birke: Reden wir mal über Förderinstrumente. Was ist für dich ein strukturell kluges Förderinstrument im Popbereich? Welche Inhalte muss es bewegen? James: Alles was hilft, die Künstlermobilität zu erhöhen, Finanzierungsengpässe zu überwinden, Netzwerke zu pflegen und auszubauen, musikalisches Können zu verbessern und branchenspezifische Kenntnisse zu vermitteln, halte ich für sachdienlich und klug. Newcomern fällt es immer schwerer, langfristige Spielpraxis zu gewinnen, Repertoire aufzubauen und die Mitwirkung in A&R-Prozessen14 zu lernen. Außerdem müssen Musiker heute anderen Maßstäben genügen, um künstlerisch und ökonomisch erfolgreich zu sein. Die Mehrheit ist inzwischen darauf angewiesen, neben künstlerischen Fähigkeiten Zusatzqualifikationen zu erwerben und sich selbst zu managen. Hier setzen die im Bundesverband Popularmusik15 organisierten Förderer an, die zur Überbrückung der wachsenden Kluft zwischen Nachwuchs und der gewerblichen Wirtschaft zahlreiche Maßnahmen anbieten: Konzerte und Wettbewerbe für den Erwerb von Spielpraxis, Zusatzqualifikationen mittels Workshops, Seminaren und Coachings und Einzelberatungen zur Markteinführung und Selbstvermarktung. Außerdem stellen sie die Verbindung zu Netzwerken von Produzenten, Labels, Managern und Veranstaltern her, die sich noch gegenseitig auf neue Künstler aufmerksam machen, um mit ihnen zu arbeiten. Auch einige Angebote der Initiative Musik halte ich für gelungen, wenngleich ich einiges nicht verstehe und ausgerechnet die Exportförderung meines Erachtens bislang recht mager ausfällt. Jedenfalls macht die massive Präsenz auf einer amerikanischen Musikmesse noch keinen Exportfrühling. Ein kluges Förderinstrument ist auf jeden Fall aber die kombinierte finanzielle Unterstützung von Künstlern und Unternehmen, die auf hohem Niveau eine Brücke zur gewerblichen Wirtschaft schlägt. Von solchen künstlerorientierten Maßnahmen brauchen wir mehr. Ansonsten sehe ich den größten Handlungsbedarf momentan im Livesektor, und zwar speziell im rasant wachsenden Do-it-yourself-Bereich. Professionelle Künstler 13 Die Förderdatenbank und die Kurztourförderung der Initiative Musik sind in der Förderdatenbank. Förderprogramme und Finanzhilfen des Bundes, der Länder und der EU gelistet. [http://www. foerderdatenbank.de, 09.03.2013]. 14
A&R ist die gängige Bezeichnung für Artists and Repertoire in der Musikwirtschaft.
15 Am 18. Juni 2012 wurde in Hamburg der Bundesverband Popularmusik – Forum der Popkulturund Popularmusikförderer in Deutschland e. V. gegründet um die Förderung der Popular musik und Popkultur in Deutschland als Querschnittsaufgabe voranzubringen. [http://bvpop.de, 03.09.2013].
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werden von der gewerblichen Musikwirtschaft aufgefangen und der ganz junge Nachwuchs findet Angebote in der Jugendarbeit sowie in zahlreichen Jugendhäusern und Programmen, die Musikpädagogik in den Vordergrund rücken und Bühnen, Aufnahmestudios und Übungsräume zur Verfügung stellen. Semiprofessionellen Künstlern dagegen fällt es immer schwerer, langfristige Live-Erfahrungen zu sammeln. Ohne die geht es aber nicht. An Standorten wie Berlin oder Hamburg geht das vielleicht unter, aber in der Fläche ist die Situation katastrophal. Sobald Bands sich von ihrem Wohnort weg begeben, werden sie behandelt wie ein vermeidbares, finanzielles Risiko. Das Überangebot, die Konkurrenz aus dem Ausland, eine wild wuchernde Festivallandschaft, überforderte Verbraucher und eine Medienlandschaft, die Bands ausschließlich anhand ihres bereits vorhandenen Bekanntheitsgrades beurteilt, tragen das Ihrige dazu bei. Um die Situation besser in den Griff zu bekommen, haben wir uns horizontal in Landesverbänden und vertikal im Bundesverband Popularmusik stärker zu vernetzen. Zusätzlich arbeiten wir an europäischen Kontakten, zum Beispiel mit Schweden. Wir experimentieren hier noch, aber es wird immer klarer, dass neben einer Struktur, in die durch Empfehlungen, Austausch und Kooperationen wieder Bands eingespeist werden können, auch finanzielle Hilfestellungen nötig sein werden, zum Beispiel in Form von Fahrtkostenzuschüssen und finanziellen Anreizen für Veranstalter. Wenn wir hier nicht achtgeben, riskieren wir grob fahrlässig, viele Talente vorzeitig zu verlieren. Birke: Wir stecken noch tief in den Anfängen. Allgemein akzeptierte Popkultur ist historisch gesehen noch jung. Politische Lobbyarbeit in Sachen Popkultur ist noch jung. Die Ergebnisse sind ganz klein. Eine Million dort, eine Million da, das ist nicht viel. Wir sind immer noch genötigt, Begründungszusammenhänge zu schaffen, um mehr Geld zur Verfügung zu haben. Vergleichen wir das mit anderen Förderinstrumenten, zum Beispiel die Filmförderung. Die haben knapp 300 Millionen16 Euro bundesweit, verteilt über die regionalen Förderanstalten. Was ist wichtig? Der Kurzfilm einer jungen Filmstudentin oder das große Filmvorhaben? Wahrscheinlich sind wir wirklich erst am Anfang mit dem Thema. Wollen wir ästhetische Innovationen, Professionalisierung oder Infrastruktur fördern? Eigent lich muss alles gemacht werden. Wir streiten nach wie vor um jeden Euro. James: Die deutsche Filmförderung ist in der Tat interessant. Jeder weiß, es handelt sich um eine Subventionsbranche, in der Fördergelder praktisch in jeden Winkel von der Ausbildung bis zum Vertrieb einschließlich Export fließen. Dabei ist selbst unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Größenordnung die Vergleichbarkeit mit der Musikbranche so auffällig, dass sich Fragen nach den Gründen für die Ungleichbehandlung förmlich aufdrängen. Möglicherweise ist die Lobbyarbeit der Filmwirtschaft so immens erfolgreich, weil hier ausschließlich deutsche Unter-
16 2011 waren dies 281,9 Mio. Euro laut einer Studie des Erich Pommer Instituts. [http://www.epimedieninstitut.de/Presse-News_de.html#active, 15.07.2013].
Der Teufel, das Weihwasser und die Geschichte der Popförderung
nehmen dafür streiten, für den Wettbewerb mit Hollywood und europäischen Konkurrenten gerüstet zu sein. Bei der Musikwirtschaft sitzen internationale Musikkonzerne in Gestalt ihrer deutschen Tochtergesellschaften mit am Tisch, für die Deutschland einer der weltweit wichtigsten und ergiebigsten Absatzmärkte für nationale und internationale Produkte ist. Musik aus Deutschland breitflächig zu fördern oder gar zu exportieren, steht somit auf der Prioritätenliste der Konzerne vermutlich nicht ganz weit oben. Das bedeutet keineswegs, dass Konzerne keine Musik aus Deutschland im Ausland verkaufen. Wenn es gelingt, ein deutsches Produkt und einen Interpreten im Ausland zu platzieren, sind in der Regel die nationalen Schwestergesellschaften zuständig. Was jedenfalls aufgrund dieser Konstellation entfällt, ist die Möglichkeit, umfassende staatliche Förderungen mit der ausländischen Konkurrenz und speziell der US-Filmindustrie zu begründen – ein Konflikt innerhalb der »deutschen« Musikwirtschaft wäre vorprogrammiert. Andernfalls wäre sofort vorstellbar, eine durchgehende, alle Bereiche umfassende Musikwirtschaftsförderung analog zur Filmwirtschaft zu konstruieren. Ich gestehe gern, dass auch ich mich bei der Suche nach einem griffigen, selbsterklärenden Namen für das deutsche Musikexportbüro vom Namen der Einrichtung inspirieren ließ, die zuständig ist für die Exportförderung von Spiel-, Dokumentar-, Fernseh- und Kurzfilmen aus Deutschland: German Films17. Heute amüsiert mich sehr, wie ausführlich die Initiative Musik Chancen diskutierte, sich vom »Fluch des guten Namens« des Deutschen Musikexportbüros, GermanSounds, zu distanzieren. Birke: Hatten Die Fantastischen Vier eigentlich eine Förderung, oder sind die gleich zur Bank gegangen und haben sich Kredite geholt? James: Das weiß ich nicht. Vermutlich hatten sie keine Förderung, denn als die Fantas zu Beginn der Neunziger durchstarteten, arbeitete die Industrie mit Newcomern noch so, wie wir es jahrzehntelang gewohnt waren, das heißt, es gab langfristige Verträge, Vorschüsse, Promo-Budgets. Außerdem nahm die Entwicklung der Fantas einen für die Musikindustrie idealtypischen Verlauf: lange Jahre unbekannt und unentdeckt in der Subkultur, wo sie eine neue Musik kreierten, die in relativ kurzer Zeit so gefragt war, dass sie bereits mit der zweiten Veröffentlichung und zig hunderttausend verkauften Alben im Olymp ankamen und sich dort noch immer aufhalten. Dieser eher seltene Karriereverlauf entspricht nahezu perfekt einem Konzept des Produktlebenszyklus der Betriebswirtschaftslehre: Einführung, Wachstum, Reife und Schrumpfung. Ist ein Produkt so innovativ und stark wie Die Fantastischen Vier oder HipHop als Trend, dann bedarf es oft keiner Förderung, sondern es setzt sich aus eigener Kraft durch und führt nicht selten sogar zur Bildung von Wirtschaftsclustern im Umfeld. Trendzyklen dieser Art dauern in der Musikwirtschaft erfahrungsgemäß 17 Die German Films Service + Marketing GmbH ist 2004 aus der bereits 1954 gegründeten ExportUnion des Deutschen Films hervorgegangen. Die GmbH ist das nationale Informations- und Beratungszentrum für den weltweiten Export deutscher Filme. [http://www.german-films.de, 03.09.2013].
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Aljoscha Paulus und Carsten Winter
rund 10 Jahre, dann setzt die Schrumpfung ein, oder sie werden wiederbelebt. Nachverfolgen lässt sich das am Beispiel der Frankfurter Technoszene, HipHop in Hamburg und Stuttgart oder auch am deutschsprachigen Soul in Mannheim. Was in Mannheim läuft, entzieht sich meiner Kenntnis, aber in Frankfurt, Hamburg und Stuttgart gab es damals meines Wissens keine Förderung. Das legt den Schluss nahe, auf Förderung verzichten zu können. Heute jedenfalls sind keine neuen Generaltrends in Sicht, und die Künstlerentwicklungszyklen verlaufen flacher und kürzer als früher. In Hamburg war das wohl Grund genug, Musikwirtschaftscluster auf andere Art zu unterstützen. Dort baute man ein komplettes Bürogebäude mitten im Karoviertel der Stadt und vermietete die Räume preisgünstig an Kleinstunternehmen und Existenzgründer18. Anfangs war ich skeptisch und glaubte, dass Musikcluster sich von selbst finden. Heute denke ich, dass kommerziell entlastete Räume und Flächen auch im Live- und Club-Bereich unbedingt zu den klugen Förderinstrumenten gehören – jedenfalls in den Ballungsräumen außerhalb Berlins. Damit sind wir auch wieder im Thema – wir haben im Moment eine Reihe von Baustellen, die über die Fragen wie Wirtschaft versus Kultur weit hinausgehen. In den Ballungsräumen ist es schwer, bezahlbare Produktionsräume und -flächen zu finden, seit dem Duisburger Loveparade-Desaster 201019 ächzt beispielsweise der Live-Bereich unter dem Druck des immer teureren, schwerer erfüllbaren Genehmigungsaufwandes für Veranstaltungen. Bei allen genannten Bereichen handelt es sich um Staatsaufgaben, bei denen wir davon abhängen, dass sie sachkundig und zeitnah erledigt werden. Birke: Die Entwicklung von Förderinstrumenten kann nur Erfolg haben, wenn parallel dazu ein Konzept für Lobbyarbeit vorhanden ist. James: Ich denke, das ist Learning by Doing. Was wir brauchen, sind offene, verständige Politiker und Verwaltungen, die akzeptieren, dass Kreative nicht funktionieren, sondern Entwicklungsmöglichkeiten brauchen. Außerdem benötigen wir verständliche Darstellungen, Statistiken und Erklärungsansätze, um den Markt und unsere Kultur Politikern und Behörden nahezubringen und diesen zu ermöglichen, Wege gemeinsam mit uns zu beschreiten. Plakative Sprüche wie: »Wir müssen die Investitionen in Research und Development anheben« lösen bei mir eher ein latentes Unbehagen aus, weil sie nahelegen, Verwerter in den Mittel18 Das Karostar Musikhaus im Karolinenviertel von Hamburg wurde speziell für junge Unter nehmen und Existenzgründer aus der Musikbranche errichtet und bietet optimale Arbeitsbedingungen. Es wurde 2006 eröffnet und sorgt seitdem dafür, den Stadtteil St. Pauli als Standort vieler kleiner Unter nehmen aus der Musikwirtschaft zu stabilisieren und zu fördern. [http://www.karostar.de, 03.09.2013]. 19 Die Loveparade war eine jährlich stattfindende Technoparade. Von DJ Dr. Motte (Matthias Roeingh) und Danielle de Picciotto initiiert und als politische Demonstration angemeldet, fand sie erstmals am 1. Juli 1989 unter dem Motto »Friede, Freude, Eierkuchen« auf dem Berliner Kurfürstendamm statt. Aufgrund steigender Besucherzahlen wurde die Loveparade 1996 in den Berliner Tiergarten auf die »Straße des 17. Juni« verlegt. Nach zweijähriger Auszeit (2004–2005) fand die Love parade 2006 letztmalig in Berlin statt. Von 2007–2010 wurde sie in verschiedenen Städten Nordrhein-Westfalens, zuletzt in Duisburg, veranstaltet.
Der Teufel, das Weihwasser und die Geschichte der Popförderung
punkt zu stellen und die Unternehmen zu unterstützen. Entsprechend wird von Künstlern offenbar erwartet, sich demonstrativ hinter die Unternehmen zu stellen. Effizienter wäre es möglicherweise, sich umgekehrt ausdrücklich hinter die Kreativen zu stellen und sie noch mehr als bisher in den Vordergrund zu rücken. Denn anders als in der Filmwirtschaft, die Schauspieler auch gern mal durch teure Animationen ersetzt, ist es unmöglich, sich die Musikwirtschaft ohne Künstler im Mittelpunkt vorzustellen. Das setzt voraus, dass die Künstler sich wie in England organisieren. Das Beispiel Sven Regner zeigte bereits, wie effizient das ist. Die vitale Kultur der Populärmusik wird sich langfristig durchsetzen. Das Interview führte Sören Birke im März 2013.
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Fête de la Musique Marke, Spontaneität, Freiheit
Simone Hofmann
Birke: Die Fête de la Musique1 ist Popkultur pur. Würdest du dieser These zustimmen? Hofmann: Ich würde sagen ja. Du fragst ja nicht nach Popmusik, sondern nach Popkultur. Eigentlich Volkskultur, aber das benutzt ja keiner mehr. Also: ja. Es ist konzipiert für das Volk, vom Volk, es ist ein kulturelles Ereignis. Es war von Anfang an darauf aus, nicht in der Nische zu bleiben und nicht nur bestimmte Zielgruppen, sondern tatsächlich »die Masse« zu erreichen, also ein kulturelles Ereignis als Massenphänomen zu werden. Birke: Und wie bist du auf die Idee gekommen das Konzept zu importieren? Hofmann: Die Franzosen haben sich das gewünscht. Die fanden ihr Konzept toll und erfolgreich. Sie haben das sicher auch als »Marke« oder als Imagekampagne mit französischem Ursprung gesehen. Aber es war eine tolle Idee, und so ist ein Brief geschrieben worden, der an alle europäischen Hauptstädte geschickt wurde, und Berlin gehörte dazu. Der Brief wurde an den Senat weitergereicht: Vom Bürgermeister – ich glaube es war damals Diepgen – wurde er in den Senat Kultur bis in die Abteilung Kulturaustausch gegeben. Die hatten wir damals noch, gibt es jetzt nicht mehr. Sie haben dann einen Aufruf gestartet, der anderthalb Seiten lang war. Credo: Wir, die Senatsverwaltung, finden das gut, was die Franzosen vorgeschlagen haben und wir wollen das auch gerne haben und Berlin würde es gut zu Gesicht stehen. Heute würde so ein Brief an die Clubcommission oder die Berlin Music Commission2 gehen, solche Netzwerke gab es damals noch nicht. Dann ist es in meine Hände gefallen und ich war wohl gemeinsam mit Piranha3 eine der wenigen, die darauf reagiert haben. Wir fanden das gut.
1 Die Fête de la Musique ist ein Straßenmusikfestival, das erstmals auf Initiative des französischen Kulturministers Jack Lang am 21. Juni 1981 in Paris stattfand. Seit 1995 wird die Fête de la Musique auch in Berlin jedes Jahr zum kalendarischen Sommeranfang gefeiert. Inzwischen hat sich das Ereignis weltweit verbreitet und wird mittlerweile in 520 Städten zelebriert. [http://www.fetedela musique.de, 01.09.2013]. 2
Zu den Begriffen BCC und BMC vgl. den Beitrag von Sören Birke (S. 221 ff.) in diesem Buch.
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Vgl. das Interview mit Christoph Borkowsky (S. 37 ff.) in diesem Buch.
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Simone Hofmann
Birke: Du hast jetzt schon indirekt eine Interpretation der Begriffe Pop, Popkultur, Popmusik gebracht. Du hast unter anderem Masse und Volk erwähnt. Bedeutet für dich Pop, im Sinne von populär, möglichst viele zu erreichen? Oder ist Pop für dich noch etwas anderes? Hofmann: Im ersten Moment habe ich, vielleicht auch durch meinen Beruf bedingt, sofort an Popmusik gedacht, dann aber verstanden, hier geht es erst mal insgesamt um Popkultur. Das Wort »populare« bedeutet ja »aus dem Volk kommend«. Es geht um Massenereignisse die einen Popcharakter haben. Insofern würde ich sagen: Ja, wir haben Fête de la Musique vom Volk für das Volk mit dem Volk zusammen als Ereignis konzipiert. Mit dieser Intention ist es uns von den Franzosen geschenkt worden. Birke: Die Poptheoretiker würden jetzt widersprechen: Pop als Konzept ist ein avantgardistisches Konzept. Pop sei immer etwas, das im künstlerischen Sinne ganz vorn ist, avantgardistisch, es knallt, Andy Warhol. Aber wir als Macher suchen eigentlich eher den Zugang über das Populäre. Wie kriegen wir ästhetisch innovative Produkte aufgestellt, die breitenwirksam sind? Ein Widerspruch? Hofmann: Der Widerspruch ist berechtigt, Andy Warhol, Elvis Presley oder die Beatles, wer auch immer, am Anfang waren alle in einer Nische. Alle sagten: Um Gottes willen, was ist das? Die Frage ist, ob es in der Masse, »beim Volk«, einen Klang, einen Widerhall oder einen Schneeballeffekt erzeugt. Denken wir doch mal an den Swing, vielleicht haben sich da die Menschen auch gefragt: Was machen die denn da? Oder Josephine Baker im Tanz, da sind die alle reihenweise umgefallen oder haben sich gefragt: hat sie noch alle? Und plötzlich gefällt es der Masse und dann ist es Volksgut. Ich bin Eventmanagerin und möchte etwas machen, wo ich Breitenwirksamkeit bekomme, wo ich viele Leute erreichen kann. Innerhalb dieses Gefüges, gibt es viele Spielvarianten und die nehmen bei der Fête de la Musique teilweise sehr skurrile Züge an. Wir frönen ja nicht nur der Popularmusik, sondern haben im »General Agreement« beschrieben, dass wir für allen Gattungen offen sind. Birke: Populäre Musik ist letztlich auch Kunst. Nur ist sie lange als solche nicht erkannt und wissenschaftlich aufgearbeitet bzw. bewertet worden. Wenn Michael Jackson stirbt, dann gibt es kaum Analysen zu seinem Kunstwerk, sondern zu seinem Todeskampf, zum Kampf mit den Medien, zum Kampf um das verlorene Geld. Der Wert, den die Musik als Kunstwerk birgt wird nicht anerkannt, der ist scheinbar beiläufig und selbstverständlich. In Musikbibliotheken findest du bücher weise die Aufarbeitung aller Opern und Sinfonien. Für Popmusik gibt es das so nicht. Hofmann: Popularmusik ist Kunst, dass steht für mich außer Frage. Mir ist egal, was da geschrieben oder nicht geschrieben wird. Birke: Einiges hat sich aber doch bewegt. Kurz nach der Wende gab es ja noch Popmusikbeauftragte und Gelder standen zur Verfügung, womit Bands unterstützt wurden.
Fête de la Musique
Hofmann: Es gibt sie immer noch, die Abteilung Jazz, die übrigens aus diesem Popularmusikbereich rausgenommen ist.4 Natürlich gibt es auch zahlreiche andere Künstler-Förderprogramme, v. a. im Bereich Klassik. Fête de la Musique wird aus dem Topf Popularmusik gespeist. Absolut nicht ausreichend, aber: Das Event Fête de la Musique nimmt allein schon etwa ein Zehntel davon in Anspruch. Aber was willst du denn mit ca. 25.000 Euro löten? Fête de la Musique ist ein kulturelles Ereignis für alle, für die Massen, im besten Sinne also Volkskultur. Die nächste Frage ist: Wie breit ist mein Verständnis für Popmusik? Ist das, was auf der Fête de la Musique geboten wird, Popmusik? Mein Verständnis ist weit: Jazz, Schlager, Dixie, Pop, Gothic, Metal. Das kommt da alles mit rein. Klassische Musik ist vertreten, aber weniger als Popularmusik. Mein Vorteil ist, dass ich alle Genres, alle Musikstile liebe und auch hören kann. Ich könnte den Event nicht machen, wenn das nicht so wäre. Birke: Hast du denn schon mal Sir Simon Rattle gefragt, ob er mit seinen Philharmonikern mitmacht? Hofmann: Nein, so direkt nicht. Wir haben oft erst ein Vierteljahr vorher gewusst, dass wir die Fête de la Musique machen können. Im Klassikbereich läuft das anders, da musst du zwei, drei Jahre vorher kommen. Die Philharmoniker dabei zu haben, das wäre ein Traum. Ich bin schon froh, dass wir zwei Hochschulen dabei haben, die Hochschule für Musik Hanns Eisler und die Universität der Künste (UdK) mit der Abteilung Musik. Die UdK ist seit Jahren Partner und präsentiert mit ihren Studierenden klassische Musik. Wir sind ja die einzige Stadt mit zwei Musikhochschulen; es gibt 24 in ganz Deutschland. Natürlich ist die Fête de la Musique überwiegend aus Popularmusik gespeist, aber das leider nur, weil es nicht leicht ist, an die Klassiker ranzukommen. Es ist erstaunlich, man kann in der heutigen Zeit über Internetseiten alles recherchieren. Über Spotify5 , MySpace6 oder Last.fm7 findest du sehr schnell Gruppen aus der Popularmusik. Das Suchen und Finden von Berliner Gruppen – sagen wir mal Solist, Duo, Trio aufwärts – die Klassik präsentieren ist schwierig. Das ist wie eine Nadel im Heuhaufen. Die Agenturen machen da teilweise komplett zu. Ich frage mich, ob das im Sinne der Musiker ist. 4 Im Land Berlin stehen für Förderprogramme im Bereich U-Musik jährlich insgesamt 300.000 Euro zur Verfügung, von denen 15.000 Euro speziell für die Vergabe von Jazz-Stipendien reserviert sind. [http://www.berlin.de/sen/kultur/foerderung/musik/rock-pop-welt/index.de.html, 01.09.2013]. 5 Spotify ist ein Audio-Streaming-Dienst und bietet Zugriff auf eine der größten Musik bibliotheken im Internet. Das seit 2006 in Schweden unter der Leitung von Daniel Ek und James DuffettSmith entwickelte Programm wurde im Oktober 2008 erstmals zum Download angeboten. [https:// www.spotify.com/de, 01.09.2013]. 6 Das 2003 von Tom Anderson gegründete soziale Online-Netzwerk MySpace ermöglicht es, kostenfreie Benutzerprofile einzurichten und auf relativ unkomplizierte Weise Fotos, Musik und Videos ins Netz zu stellen oder Blogs zu eröffnen. Über das MySpace-Profil ist auf virtueller Ebene eine weit gefächerte Musikervernetzung möglich. [https://myspace.com, 01.09.2013]. 7 Last.fm ist ein Internetradio, ein Musikportal, ein Musikkatalog und eine Online-MusikCommunity zugleich. Es wurde 2002 von den Urhebern Felix Miller, Martin Stiksel und Richard Jones gegründet. Eigentümer ist die CBS. Die von Last.fm gehörte Musik kann von Spotify »gescrobbelt« werden. [http://www.lastfm.de, 04.07.2013].
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Ich möchte noch eine Geschichte erzählen. 2011, wir waren gerade fertig mit dem Programm aller 85 Bühnen, aber von zwei Bühnen fehlte noch das Musikprogramm. Wir wussten nur, da wird es Klassik geben mit Studierenden der UdK. Einmal im Roten Rathaus und einmal in der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche. Wir sagten, sobald ihr das Programm habt, tragen wir das im Internet nach. Dann kam das Musikprogramm. Da standen am Anfang Rachmaninow, Bach … und ganz am Ende die Namen der Solisten. Es standen immer die Komponisten vorn an. Ich habe dann geantwortet: Es tut mir leid, aber mein Verständnis der Fête de la Musique ist, dass die Künstler im Vordergrund stehen und nicht die Komponisten. Sie mögen das bitte umdrehen. Daraufhin sagten meine Partner der UdK, dass sie erfreut sind, dass es zum ersten Mal andersherum gemacht wird. Birke: Auf der Fête de la Musique verschwimmt der Unterschied zwischen den Genres und es hat den Anschein, als wäre alles irgendwie Popmusik. Ist das so? Hofmann: Das Verschwimmen der Genres ist genau das »General Agreement«, die Seele der Fête de la Musique: Es geht hier um das Präsentieren aller Genres. Und wir verstehen die Fête so ein bisschen als Geburtstag der Musik. Kein Mensch weiß ja, wann die Musik »geboren« wurde. Und dann geht es um Vielfalt, um einen barrierefreien Zugang, weil es ein Geschenk ist. Musik ohne Eintritt dank der Musiker, die ohne Honorare auftreten. Berührungen mit verschiedenen Stilen zu ermöglichen, das ist ein großes, aber auch schwieriges Ziel. Birke: Wie bedingen sich urbane Lebensverhältnisse und Musik? Ist es förderlich? Hofmann: Das gibt jede Großstadt her. Berlin hat gerade durch seine noch sehr niedrigen Lebenshaltungskosten einen idealen Konstellationsfaktor. Und Berlin hat noch etwas Spezifisches: Die spannende Musikszene in Berlin profitiert sehr von der Internationalität. Das hat sich in den letzten zehn Jahren extrem verändert: Als wir 1995 mit der Fête anfingen war das alles noch sehr Gitarrenrock-lastig. Birke: Warum muss man mit so einem Event nach draußen gehen? Wie siehst du die Eroberung des öffentlichen Stadtraums mit Musik? Hofmann: Es war in den Richtlinien von den Franzosen schon so festgesetzt. Aber ich finde das wirklich sehr gut, denn es ist die Übertragung von Kunst und Musik in den öffentlichen Raum: Reclaim the street. Es entfacht bei den Leuten Spaß und letztlich sogar einen Freiheitsgedanken. Ich finde es auch gut, zu sehen, wie all die Leute da miteinander zurechtkommen, wie eine Idee aus den Kellern, aus den Clubs, aus der Nacht hinaus ins Weite tritt. Draußen zu sein, heißt auch frei sein. Und es hat etwas damit zu tun, aus seiner eigenen Enge herauszukommen und mit Leuten anders in Kontakt zu kommen. Man sagt, eine kulturelle Veranstaltung beginnt hier irgendwie um 20 oder 22 Uhr. Die Fête ist der Beweis, dass man schon um 16 Uhr gute Musik hören und feiern kann. Birke: Ist es nicht sinnvoll, solche Musik und Kultur öffentlich stärker zu unterstützen, zum Beispiel durch mehr Förderung in der Popkultur? Hoffmann: Man muss unterscheiden zwischen Künstlerförderung und Eventförderung. Es gibt sehr schöne Förderprogramme speziell für Künstler in Form
Fête de la Musique
von Stipendien oder einen Studiozuschuss. Dann gibt es eine Eventförderung, wo ich die Fête de la Musique auch sehe. Das kann Technik, Logistik sein. Wir haben das Thema GEMA. Die Fête de la Musique Berlin zahlt jährlich 6.200 Euro an die GEMA. Die öffentliche Hand muss helfen, dass das gezahlt wird.8 Marketing, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit, Social Media, Internet – alles wichtig. Du kannst ein tolles Künstlerförderungsprogramm haben, aber wenn du keine Vertriebsförderung hast, nützt das nichts. Und wer sind die Menschen, die das organisieren? Das sind die Kommunikatoren, die Netzwerker, die Eventmanager, die Club- oder Musikmanager. Ja, Personal kostet eine Menge. Aber wir kommunizieren dafür ein halbes Jahr intensiv, wir erklären den Leuten, wie es geht. Wir machen so was wie Nachwuchsförderung für Kleinveranstaltungen. Kommunikation fällt nicht vom Himmel. Birke: Du bist in der DDR mit populärer Musik groß geworden? Hast du in dieser Sozialisation andere Strukturen kennengelernt? Wo ist Dein biografischer Bezug? Was ist dein Motor, um genau dies so effizient zu betreiben? Wir sind durch die Wende in ein System reingerutscht, was sich kulturell ganz anders aufgestellt hat. Meine Vermutung: Wir erobern uns aufgrund der Rahmenbedingungen in Berlin etwas zurück. Mehr oder weniger intuitiv. Hofmann: Zwei Antworten: Motivation ist, dass Musik mich schon immer begleitete, zu Hause, Radioschlager, Klassik und so weiter. Das war für mich wie Nahrung. Und dann der Gedanke als junger Mensch: Was wirst du eigentlich? Meine Mutter sagte immer: Mensch, du kannst so gut kommandieren und organisieren, du musst unbedingt Manager werden. Da war ich zwölf und ich dachte: Recht hat sie. Und dann habe ich Lehrer studiert und es geschmissen. Ein Jahr vor der Wende managte ich Jazzmusiker, organisierte kleine Touren. Dann Sekretärin an der Spezialschule für Musik Hanns Eisler und ich dachte: Jetzt werde ich Jazzmanagerin. Eine Woche vor’m Mauerfall hab ich mich selbstständig gemacht. Ich kannte die Strukturen; ich kannte die Auftrittsproblematiken, wie das alles gelaufen ist. Und dann hatte ich meine Verträge mit den Jazzbands. Und plötzlich waren die alle nur noch die Hälfte wert, weil die Währungsunion kam. Um Gottes Willen, dachte ich. Ich war neugierig ob Jazzmusiker im Westen anders sind. So hab ich Volker Heller kennengelernt und seine Bands gemanagt. Und dann hab ich gesagt: Nein, ich hab ja ein Kind, das ist mir alles zu anstrengend, ich will hier mit niemandem auf Tour mitfahren. Dann habe ich ganz bewusst auf Events umgesattelt. Ich bin froh, dass ich keine DDR-Strukturen kennengelernt sondern diese nur kurz gestreift habe. Die Umstellung fiel leichter. Ich bin ein Kind der Wende und mir konnte nichts Besseres passieren. Es hat zusammengepasst. Ich bin gleich rüber nach Westberlin zu den Musikern. Ich habe es einfach mit offenen Armen empfangen und konnte mich aus-
8 Die Berliner Fête de la Musique wird zu 25 % durch die Senatskanzlei-Kulturelle Angelegenheiten (SKA) sowie in den Jahren 2012, 2013 und 2014 zusätzlich durch Mittel der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin finanziert. [http://www.fetedelamusique.de/berlin, 01.09.2013].
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leben, experimentieren – genauso wie viele, die Clubs gründeten, nicht genehmigte Clubs in dieser Zeit des Niemandslandes. Birke: Wenn wir sagen, Berlin ist gerade ein wichtiger Produktionsort für populäre Musik. Wie siehst du die Perspektiven? Geht es die nächsten zehn Jahre so weiter? Siehst du Umbrüche oder ungenutzte Potenziale? Siehst du Gefahren? Hofmann: Ich glaube, wir kriegen ein Problem, wenn es andere Städte oder Orte gibt, die uns den Rang ablaufen, wo Musiker, Künstler sagen: Da lässt sich’s leben, da ist ein melting pot. Und wenn wir so eine gewisse Sättigung haben, dann wird Berlin einfach nicht mehr so gefragt sein. Ich glaube, wir bekommen Londoner Welten. London war mal eine Stadt, die billig war und brach lag. Jetzt ist es die teuerste Stadt der Welt, neben Moskau. In zehn Jahren wird Berlin richtig teuer sein. Die Nischen werden immer weniger. Das Gespräch führte Sören Birke im März 2011.
Pop, die Entstehung einer Kultur Dieter Gorny
Birke: Was sind die kulturellen Kriterien, nach denen Sie Ihre Arbeit ausrichten? Worin sehen Sie die Kraft der Popkultur, inwieweit ist das ein gesellschaftliches Thema geworden? Gorny: Für mich ist Popkultur die Kultur, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelte, als wir in Europa und weltweit mit einer Musik und den damit verbundenen kulturellen Haltungen konfrontiert wurden, die in dieser Zeit neu waren. Popularmusik, Popmusik, Rockmusik – was auch immer entstanden ist, es ist auch etwas dazu gekommen, das völlig neu war: nämlich Jugendkultur. Das war das erste Mal in der Geschichte, dass Jugend ein eigenes Marktsegment und damit eine spezifische Definitionshoheit beanspruchte. Daraus resultierte auch diese Gegensätzlichkeit von Popkultur versus Establishment. Mit dem Phänomen Popkultur ging durchaus ein gesellschaftlicher Gegenentwurf einher – das ist heute eher verloren gegangen. Daran gekoppelt, vom Kunstverständnis her, war immer eine Symbiose von Musik und Technologie, also die unendliche Reproduzierbarkeit der unikaten künstlerischen Idee, Stichwort Warhol´s Campbell’s Soup und Siebdruck. Das findet sich dann genauso im Popsong wieder, der sich über Schallplatte unendlich reproduzieren lässt. Technologie spielt also eine ganz große treibende Rolle, sowohl für die Entwicklung der Kunst selbst, als auch für die Verbreitung der Kunst. Birke: Übernimmt die Popkultur als Jugendphänomen damit auch die Rolle einer Protestbewegung? Gorny: Der Diskurs über Popkultur ist deshalb so schwierig, weil wir, historisch gesehen, das erste Mal die Entstehung einer solchen Kultur miterleben. Dessen enge Fokussierung auf Jugendkultur als gesellschaftlicher, protestartiger Gegenentwurf ist ambivalent, weil man jetzt auf einmal völlig verdutzt feststellt, dass Popkultur ein kultureller Alltagsgegenstand geworden ist. Sie durchzieht unsere Kultur so sehr, dass es eben nicht mehr nur Nische und Anti gibt, sondern auch ganz viel Mainstream. Das heißt letztendlich, dass wir die Entwicklung einer Kultur aus ihren, nennen wir es mal so, engen elitären Anfängen hin zu einer Massenkultur wahrgenommen haben. Jetzt sind wir in der kulturellen Entwicklung von Pop an einem Punkt, an dem wir feststellen: Es ist nicht nur das! Es gibt immer noch Möglichkeiten zu protestieren oder sich abzusetzen, aber es ist kein Jugendphänomen mehr, sondern es ist »nur noch« ein junges Phänomen. Um Popkultur zu rezipieren muss ich nicht mehr biologisch jung sein. Es ist auch egal in einer Zeit, in der Mick
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Jagger schon nahe 70 ist. Ich muss mich nur jugendlich fühlen. Das ist eigentlich eine juvenilere Kultur als die Jugendkultur, und das sorgt dann auch für entsprechende Brüche in der Debatte. Birke: Sehen Sie einen Unterschied zwischen Popkultur, Popmusik und Musikwirtschaft? Gorny: Nein. Popmusik ist der weitere Begriff, aber das Thema Wirtschaft spielt immer eine Rolle, weil wir, seit es Popmusik gibt, eigentlich mit einem kulturellen Phänomen umgehen, das nicht subventioniert wurde. Popmusik musste sich, egal wie breitenorientiert oder anspruchsvoll, immer dem Markt stellen. Die Gesellschaft definiert, was subventionswürdige Kultur ist, und sie hat immer wieder Ausgrenzungsbegriffe erfunden, wie Subkultur oder Ähnliches. Eigentlich sind ökonomische Prozesse immer schon Bestandteil von Popkultur gewesen, weil selbst beim kleinsten Konzert nur die überleben konnten, die genug Karten verkauften, egal wie avanciert deren Musik war. Popkultur spielt deshalb eine mindestens genauso zentrale, wenn nicht gar eine bedeutendere Rolle, als die subventionierte Kultur. Wirtschaft, Ökonomie kann man nicht von Popkultur trennen, denn da war auch nie ein Staat, der gesagt hat: Ich bezahle das Konzerthaus, damit sich diese Kultur jetzt subventioniert darbieten kann. Das hat den Etablierten nicht geschadet, wird ihnen aber oft negativ auf’s Butterbrot geschmiert, was ein bisschen verlogen ist. Denn auch in der Philharmonie kriegt Simon Rattle einen Marktwert als Gage, unabhängig davon, wie die Gelder, die in die EintrittskartenSubventionen einfließen, dafür sorgen, dass man billiger reinkommt. Was passiert da? Künstler werden nach Markt bezahlt. Wenn man das zu Ende denkt, heißt das: Es gibt letztlich keine marktferne Kultur. Das wirkt so konstruiert: gute Kultur versus schlechte Kultur. Birke: Es gibt eine Unzahl an Castingshows. Es bleiben auch immer viele Anwärter auf der Strecke. Was sagen Sie jungen Menschen, bei denen Sie erkennen, dass sie keine Chance haben, ein Star zu werden? Gorny: Ach, die Castingshows! Ich bin der festen Überzeugung, dass Castingshows nichts mit Musikkultur, Musikwirtschaft oder Musik zu tun haben, sondern nichts anderes sind, als großartige, massenkompatible Fernsehereignisse mit Musik. Sie zeigen, wie hochgradig emotional Musik wirkt, und sie sind dadurch in der Lage, Millionen vor die Fernsehschirme zu holen. Was da produziert wird, ist ein Stück Samstagabend-Fernsehshow, und was danach verkauft wird, hat auch nichts mit einem realen Musikkauf-Reflex zu tun. Es geht um Fernsehunterhaltung mit Musik, ein nostalgischer Moment, der Emotionen weckt. Natürlich verkaufen sie das, und nicht zu knapp. Davon profitieren auch die Popkultur und Musik industrie – wenn auch nur kurzzeitig. Das Gegenteil von Castingshows sind Menschen, die heute zum Beispiel an eine trashige Band glauben, die dann 40 Jahre später immer noch Tantiemen abwirft! Wenn EMI einen wertvollen Katalog hat, dann deswegen, weil immer noch Pink Floyd drin ist. Die hat ja irgendjemand mal als LSD-schwangere Austern weiteremp-
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fohlen, und irgendwann wurden sie in London gesigned, als keiner ahnen konnte, was daraus wird. Das ist der eigentliche Wert, und der hat immer was mit Jahrzehnten zu tun. Dass es im Geschäft auch Fast Food gibt, ist klar, aber Fast-Food-Musikveranstaltungen im Fernsehen dienen dem schnellen Profit, nutzen aber sonst nur denen, die es irgendwie gut finden. Deshalb sollte man sie auch nicht abwerten. Es gibt immer eine Menge Leute, die daran Spaß haben. Birke: Ja, nicht abwerten, aber der Punkt ist, dass eine Trashband keine mediale Aufmerksamkeit bekommt. Da wird doch einiges mit dem anderen zugedeckt? Gorny: Nein, es hat einfach etwas damit zu tun, dass BILD mehr Aufmerksamkeit hat als DIE ZEIT. Eine Trashband ist ein eckigeres Produkt, das einfach viele Leute nicht interessiert. Der Coversong singende Castingstar ist da einfach massenkompatibler. Das ist auch in der Politik so, dass Botschaften soweit runter nivelliert werden, bis jeder sie versteht. So ist es auch in der Musik. Ich glaube, dass gerade in Zeiten des Internets die Möglichkeiten noch nie – im demokratischen Sinne – so groß waren, an die Musik seiner Wahl heranzukommen und frei darüber zu entscheiden. Wenn alle Menschen arte gucken wollten, dann würde RTL das rund um die Uhr programmieren – wollen die Menschen aber nicht. Ähnlich ist das auch mit der Trashband – finde ich auch nicht schlimm für die Trashband. Birke: Wie wichtig sind Stars in diesem Geschäft? Gorny: Das Starprinzip bleibt wichtig. Es gibt herausragende Persönlichkeiten, die eben so etwas können und entsprechend wirken. Klar könnte man jetzt sagen: Stars kann ich machen, durch Kommunikation. Nehme ich es eher altertümlich, sage ich: Der große Künstler kann Magie rüberbringen, und das sieht man ihm auch an. Das spürt man, auch wenn er mal ganz normal ist. Deshalb fallen die meisten Starkonstruktionen aus dem Castingbereich oft wie ein Soufflé in sich zusammen. Birke: Das Starprinzip ist in Hollywood ganz stark als Motor entwickelt worden. Gorny: Exakt, als kommerzieller Motor, das war ein wichtiger Punkt. In der Musik ist es schwieriger. Der Unterschied ist, ein Drehbuch schreibt irgendjemand, und der Schauspieler spielt die Story. Es ist getrennt, ein Stück weit anonym. Die Story wird durch den Schauspieler personifiziert, durch den Star. In der Musik kann man das meistens nicht trennen. Da gibt es oft den Selbstversorger: Der Star macht seine Musik selbst. Er hat also eine viel größere Identität, aber damit potenziell auch das Problem, eher durch Verrats-Mechanismen zu straucheln. Also wenn man bedenkt, was das für ein Theater war, als 1990 rauskam, dass Milli Vanilli nicht selber singen, obwohl wir es normal finden, dass Johnny Depp sich nicht selbst von der Brücke stürzt, dass er vielleicht nicht mal selber spricht, wenn wir ihn sehen. Da gibt es also mehr Distanz. Musik ist sehr authentisch, und deshalb ist es mit dem Star-Sein auch so eine Sache, weil es weniger künstlich realisierbar ist. Ein großer Filmschauspieler muss nicht immer er selbst sein, er ist eine zweite Persönlichkeit. Die großen Studios holen diese oder jene bekannte Person, setzen sie auf die Story, und dann läuft das. Der Star kann immer sagen, da spiele ich und das bin ich wirklich. Das ist in der Musik anders.
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Zum Anfang der Schlagerzeit gab es noch den typischen Interpreten. Da schrieb einer einen Song, und Firmen setzten einen bekannten Interpreten darauf. Mit der Popkultur hat sich das gewandelt. Nehmen wir mal Velvet Underground und Lou Reed: Die sind keine Abziehbilder für irgendwas, sondern stehen für eine ganz bestimmte Kunstentwicklung. Sie waren damals mit Warhol zusammen. Das kann ich schlecht trennen von der Musik und der Person, das ist enger. Birke: Seit vielen Jahren hören wir nun, der Musikmarkt stecke in der Krise. Hat das nicht auch mit den Inhalten zu tun? Fehlen heute die großen Stars? Gorny: Die Krise des Musikmarktes hat nichts mit den Produkten zu tun. Die werden nachgefragt wie jeher, nur die illegale Beschaffung hat dramatische Ausmaße angenommen. Ich glaube auch nicht an eine inhaltliche Krise. Dass es nicht mehr diese großen Superstars gibt, hat damit zu tun, das wir durch das Internet die Chance haben, unseren Musikgeschmack so zu individualisieren, dass er automatisch ein Teilmarkt wird. Deshalb ist es schwieriger, sich auf einen Künstler millionenfach zu einigen, weil man immer wieder ausbüchsen kann. Deshalb wird die Musikwirtschaft der Zukunft sehr viel mehr die Addition von Teil märkten sein, als das Thriller-Album von Michael Jackson. Das hat auch etwas mit der technologischen Entwicklung jener Zeit zu tun, als Jackson Thriller machte. Da wurde das Zeug auf Vinyl gepresst und musste auf Paletten verschifft werden. Zu Zeiten des Internets ist das nicht mehr so. Wo und wann ich will, komme ich an Musik ran, auch an solche, die ich 30 Sekunden zuvor überhaupt nicht kannte. Die Krise kommt dadurch, dass die Technologie nicht nur eine Stimulanz für die Komposition ist, sondern auch Vertriebsmittel. Vertrieb und Produktion spielen sich jetzt in einem Medium ab. Das Internet, als Umsonst-Medium gestartet und wahrgenommen – mittlerweile auch ein Warenhaus –, sorgt dafür, dass man umsonst an die Musik herankommt. Am Ende kann der Künstler nicht einmal davon leben. Die Wertschöpfungsketten sind einfach unterbrochen. Das hat auch nichts damit zu tun, dass die Gesetzeslage zu lasch ist, sondern das hat etwas mit dem Phänomen zu tun, dem wir immer wieder anheim fallen, obwohl man davor warnen müsste: Das wesentliche an der Literatur ist die Literatur, nicht das Buch. Das wesentliche an der Musik ist die Musik, nicht der Träger. Wir neigen aber dazu, die Trägermedien zu ideologisieren. Als sich der Wechsel vom Vinyl zur CD vollzog, haben alle herumgejammert, obwohl der Song der Song blieb. Eigentlich müsste man sagen: Mir ist doch egal, wie die Leute die Musik haben wollen, Hauptsache sie wollen die Musik, mir ist doch egal, ob jemand Goethe auf dem eBook-Reader oder als Buch lesen will, Hauptsache er will Goethe lesen. Eine ähnliche Ideologisierung ist beim Internet zu beobachten. Wir sagen: Es ist doch ein super neues Transportmedium, unheimlich schnell, unheimlich demokratisch. Aber nein, es heißt auch: Das ist eine neue Welt, mit neuen Gesetzen, Eigenständigkeiten, und Ladendiebstahl kannst du damit nicht vergleichen. Das macht die Internetdebatte so schwer. Würde man das rein technologisch betrachten, sieht man, es geht um Inhalte, und das Internet wäre nichts ohne Inhalte, ohne Menschen, die ihre Stories reinstellen. Wenn man das erkennen würde,
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dann könnte man das auch ein bisschen abgeschichteter, sachlicher diskutieren. Kann man aber nicht, will man nicht, tut man nicht und deshalb auch die Krise! Birke: Ideologische Debatten sind der Musikindustrie doch nicht fremd? Gorny: Stimmt. Da Musik wie Fußball ein emotionales Produkt ist, neigt man dazu, sie zu ideologisieren. Das ist das Hauptproblem. Das heißt, wir reden nicht wirklich wertfrei über Musik, sondern wir bringen unsere Lebensvorstellung in die Musikdebatte ein. Deshalb stritt man sich früher: Bist du Stones- oder Beatles-Fan? Und das ist heute noch möglich, sich zu streiten. Bestes Beispiel: die Indie-MajorDebatte. Der Kleine sagt: Ich bin Independent, was eigentlich Quark ist. Auch verkauft kein Major Musik, die die Leute nicht haben wollen. Nicht der Major ist schuld, sondern das Publikum. Wenn ich Musik verkaufe, die die Leute millionenfach wollen, brauche ich eine Majormaschine. Wenn nicht, dann nicht. Wenn ich will, komme ich auch »Bohlenfrei« durch den Tag. Ich muss DSDS nicht gucken. Ich kann aber nicht so weit gehen, die Leute zu verurteilen, die es gucken. Das ist ja kein Rauschgifthandel. Wir neigen dazu, das zu tun: Du guckst das, du bist doof. Und deshalb kommen wir auch erst langsam zusammen, weil die Leute merken, diese Probleme gehen alle an, ob groß oder klein. Birke: Wir sollten zwischen Popkultur, Popmusik und Musikwirtschaft nicht trennen, sagen sie. Aber, alle streiten sich miteinander über die Lebensweltvorstellung des anderen? Sie wird mit hineingetragen, und deswegen kann so etwas wie eine Branchen-Identität oder eine Branchenlobby schwerlich entstehen. Gorny: Also die Filmer haben das geschafft. Sie sind hoch subventioniert und haben es hingekriegt, wahrscheinlich über eine Diskussion, die schon etwas länger dauert, sich nach innen zu streiten, aber nach außen geschlossen dazustehen. Vielleicht ist das bei der Musik noch etwas zu früh, weil sie noch nicht so lange in diesem politisch-gesellschaftlichen Raum agiert. Birke: Und warum ist das so? Gorny: Weniger politische Erfahrung. Musik ist auf Grund dieser Authenti zität noch näher am Produkt dran als die Filmleute, Schauspieler, Buchschreiber. Musik ist eine unheimlich intensive Kulturform, die Jahrtausende lang immer anerkannt wurde und entsprechend zu achten ist, als etwas ganz Besonderes. Du musst es wirklich erst lernen. Birke: Wer sind die Akteure, die es lernen müssen, und wie könnte man dieses gesellschaftliche Subjekt definieren? Das Bildungsbürgertum hat es in den letzten 200 Jahren geschafft, seine Strukturen aufzubauen. Es ist in die Finanzhaushalte rein und hat Kultur subventioniert. Der popkulturelle Bereich und dessen Akteure haben dagegen etwas Flüchtiges. Gorny: Das ist richtig, und deshalb glaube ich, muss man auch aufhören, den Wert so einer Arbeit daran zu bemessen, wie viele Goldmedaillen man den Akteuren um hängen kann. Über die Kreativwirtschaftsdebatte kommt man dem ein bisschen näher, weil man sagen kann: Ich schaffe Rahmenbedingungen, in denen sich so etwas entwickeln kann. Ich kann die Leute nicht zwingen. Ich will auch
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nicht den Zensor spielen, indem ich sage, diesen Song fördere ich oder eben nicht. Nein, ich lasse das im Sinne von Angebot und Nachfrage, ich sorge nur dafür, dass Kreativität wirklich entstehen kann, durch entsprechende, vergleichsweise urbane Lebensbedingungen. Diese Erkenntnis kommt ja langsam. Das betrifft nicht nur die Musik, sondern auch Designer, Werber, Games-Produzenten und andere Bereiche, die eine Stadt lebenswerter machen, weil sie für die Farbe sorgen, die die anderen Kulturbereiche gar nicht mehr absondern. Und das ist das »auch« bei der Frage, welche Möglichkeiten es gibt, diese Industrien zu stärken. Ganz einfach, indem man sich klar macht, dass das kreativ wirtschaftliche Kulturproduzenten sind, die nur deshalb mit Angebot und Nachfrage zu tun haben, weil sie nicht subventioniert sind, und dass sie hochgradig technikaffin sind und tatsächlich Geld machen. Wenn man das alles zusammennimmt, hat man schnell das zentrale Problem unserer Gesellschaft, das wir also auch noch eine Kultur anbieten, bei der man das Gefühl hat, hier kriege ich mit, wie sich Gesellschaft im weitesten Sinne entwickelt. Über diesen Weg geht es auf einmal los, dass dann einzelne Förderungen ankommen, so wie bei der Initiative Musik1. Ist noch ein ziemlich langer Weg. Das hat was damit zu tun, dass die Branche auch sehr lange brauchte, um sich professionell politisch zu artikulieren. Nur mit »Pressure Group machen« und »gib mir« läuft es eben nicht. Birke: Urbane Lebensbedingungen? Sind Lebensbedingungen außerhalb von Urba nität für Popkultur nicht interessant? Gorny: Doch, aber ich glaube, Popkultur ist ein typisches kulturelles Produkt aus Urbanität. Popkultur braucht diesen urbanen Schmelztiegel. Das heißt nicht, dass der Künstler nicht sein Atelier auf dem Land haben kann. Birke: Popkultur hat eine integrierende Kraft, auch außerhalb von Urbanität. Wäre das förder- und investitionswürdig? Gorny: Es ist kulturell identitätsstiftend, und das ist natürlich der Punkt, weshalb man Film fördert und Pop fördern müsste. Film ist ein dickes Geschäft, aber Film transportiert auch Identität. Welche Identität transportiert Avatar? Keine europäische. Aber wenn man dann sagt: Film erzählt Geschichten, diese Geschichten reflektieren unser Leben und unsere Kultur, dann kann ich dafür Interesse entwickeln, ein Interesse, dass Filme auch hier gemacht werden. Das ist eigentlich eine ganz normale Nummer, sonst hätten die Amis ja nicht Avatar gemacht. Sie exportieren damit auch einen Teil ihrer Kultur. Diejenigen, die begreifen, dass da Ökonomie und Kulturelles selbstverständlich eng zusammenwirken, die werden auch in Zukunft erfolgreich sein. Diejenigen, die jedoch der Meinung sind, dass das getrennt ist, werden Schwierigkeiten haben. Wenn sie das Experiment machen und schalten irgendein Autoradio an, dann hören sie zu 90 bis 95 Prozent Popmusik, und sie werden konfrontiert mit dieser kulturellen Form. Wenn sie in einen Buchladen gehen und Comics ansehen, denken 1
Siehe Fußnote 6, S. 14.
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sie, alles wäre Popkultur. Es ist also so sehr ein Bestandteil unseres Alltags geworden, das es automatisch Sinn macht zu sagen: Was für eine kulturelle Vielfalt! Wie kriegen wir deren Erhalt hin? Das ist ja schon das große Problem der herkömmlichen Kulturförderung, dass sie viel Geld kostet, aber auch schon an ein paar Generationen vorbeigefördert wird. Da hat sich eine neue kulturelle Identität gebildet, die einfach gesellschaftlich ignoriert wird, was auch dazu führt, dass die Leute gehen. Das sind alles Gründe dafür, zu sagen: Ihr müsst das ernster nehmen. Früher hat man immer gesagt: Ach Jugendkultur, das macht man eine Zeit lang, und dann wird man erwachsen und macht wieder was Richtiges. Das ist einfach nicht mehr so. Eigentlich stirbt das Konzerthaus aus. Die Tempel verschwinden von selbst, weil sie vermutlich statistisch gesehen immer weniger Zuschauer haben. Das spricht nicht gegen eine gute Oper. Gerade Konzerthäuser sind so alt wie Tageszeitungen, die es auch nicht mehr gibt, einfach weil sich die Leute anders orientieren. Das spricht aber nicht gegen die Musik. Entweder fängt die Musik an, sich neu darzustellen, sodass sie bei den Leuten auf Interesse trifft, oder das Ding erledigt sich von alleine. Birke: Kulturförderung gehört immer auch zur Stadtentwicklung. Gorny: Durch Konzert- und Opernhäuser wird keiner mehr zum Bleiben animiert. Aber da, wo auf einmal Mode, Film, Medien oder Games-Entwicklung sind, hat man das Gefühl, da passiert etwas Aktuelles, das muss ich mitkriegen. Da entstehen dann die hippen Zentren, und die färben wiederum auf den Normalbürger ab. 2
Besonders hip: Berghain2
Berlin hat keine Industrie mehr, also geht man in diesen Bereich. Die Leute kommen zwar auch, weil es beispielsweise die Stiftung Preußischer Kulturbesitz gibt, aber das ist Portfolio. In München gibt es ebenso entsprechende Angebote, aber warum ist München nicht so hipp wie Berlin? Genau aus den anderen Gründen, weil es eben hier Fashion-Weeks und mehr gibt. Das sind genau diese Bereiche nichtsubventionierter Kultur, die dafür sorgen, dass eine Stadt scheinbar ein Schmelztiegel ist und andere eben nicht. Birke: Und wie klingt Hippness? 2
Siehe Fußnote 10, S. 11.
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Gorny: Meine Perspektive ist die Musik, die Leute interessieren sich dafür. Die Internetnummer wird sich regeln, wenn man lernt, sie nicht ideologisch zu sehen. Das Wesentliche an dieser Musikdebatte ist, zu erkennen, dass es ein Vertriebsproblem gibt. Es ist keine Störung im Verhältnis zwischen Kunde (Fan) und Musik (Musiker). Die Leute wollen das und gehen damit um. Sie lieben es wie früher. Wir leben in einer sehr mobilen Zeit und Leute wollen ihre Musik, wann und wo entscheiden sie selbst. Man wird auch eine Lösung finden müssen für Recorded Music, auch was ihre Finanzierung angeht, sonst würden die Leute aufhören, Musik zu machen. Da hat man dann nur noch Backkataloge. Birke: Zum Schluss möchte ich noch mal zum Vermittlungsproblem zwischen Gesellschaft und Politik kommen. Brauchen wir die Förderung? Gorny: Ja, ich glaube schon, dass wir nicht so einfach die Vielfalt am Markt erhalten können, gerade in Krisenzeiten. Von selbst passiert das nicht mehr, weil die Clubs eben nur das anbieten können, was populär ist. Wenn ich also wirklich möchte, dass wir so eine offene Landschaft in einen funktionierenden Markt haben – und der Markt funktioniert ja gar nicht richtig – dann macht es schon Sinn. Ich glaube, wenn Geld, dann nur, indem man sagt, ich bin an der Vielfalt und auch an diesen eckigen Sachen interessiert, die der Markt nicht unbedingt aufnimmt. Kulturpolitik und Wirtschaftspolitik müssen zusammenarbeiten. Kultur ist das Produkt und ein Wirtschaftsthema zugleich, weil es nicht subventioniert wird, also hat es etwas mit wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun. Und dann ist die Kulturförderung gleichzeitig auch Mittelstandsförderung. Wirtschaft und Kultur, das ist dann ein typischer Hybrid. Das Gespräch führte Sören Birke im Januar 2011.
Zeichen, Bilder, Atmosphären Die Popularkultur als quasi-universelles Medium spätmoderner Wirklichkeitsartikulationen
Jochen Bonz
Die Soziologie tut sich schwer damit, Einheiten zu finden, die Personengruppen zu repräsentieren vermögen, aus denen sich die zeitgenössische, von mir im Folgenden als »spätmodern« bezeichnete Gesellschaft zusammensetzen könnte. Einschlägige Konzeptualisierungen, wie zum Beispiel die von Gerhard Schulze (1992) geprägten Begriffe »Lebensstil« und »Szene«, erscheinen ungleich vager als klassische sozialwissenschaftliche Konzeptionen wie »Generation«, »Klasse«, »Clan«, »Stamm«. In sich scheint die Moderne einer Dynamik zu folgen, deren Effekte in einem Kulturwandel bestehen, der, was unsere Zeit betrifft, hin zur »Individualisierung« (Beck 1986) oder, wieder mit Schulze formuliert, zur »Entkollektivierung von Wirklichkeitsmodellen«1 führt. In beiden Begrifflichkeiten, bei Ulrich Beck wie bei Schulze, kommt zum Ausdruck, dass Kollektive heute in der Soziologie gar nicht mehr zwangsläufig als konstitutiv für die Gesellschaft erachtet werden.2 Für die Sozialwissenschaften ergibt sich hieraus als eine zentrale Forschungsfrage, wie in dieser kulturellen Situation interpersonale Beziehungen von relativer Stabilität und Dauer überhaupt zu entstehen vermögen.3 In der Frage »Wie lässt sich das Soziale versammeln?« formuliert beispielsweise Bruno Latour dieses sozialtheoretische Problem als Bestandteil des Forschungsprogramms der Akteur-NetzwerkTheorie (ANT), deren Ziel eben darin besteht, Formen des Zustandekommens von »Kollektiven«, um den entsprechenden Begriff aus der Terminologie der ANT zu verwenden, zu beschreiben.4 In dieser Situation richtet sich der Fokus der Sozialwissenschaften auch auf das Populäre.5 So hat in jüngerer Zeit etwa die Systemtheorie das Populäre als Lösung 1
Schulze 1992, S. 415.
2 Auch die derzeitige Wiederentdeckung Gabriel Tardes und die Plausibilität seiner »monadischen« Gesellschaftstheorie lassen sich als Hinweis auf diese Veränderung im Paradigma der Sozialwissenschaften verstehen. (Vgl. hierzu die Beiträge in Borch / Stäheli 2009). 3 Eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern rund um Roland Hitzler bezeichnet die gegebene Situation als »posttraditional«, da es nicht länger tradierte Gruppenzugehörigkeiten seien, in denen Individuen vergemeinschaftet sind. (Vgl. Hitzler et al. 2008). 4
Vgl. Latour 2007.
5 Andere Untersuchungsgegenstände, die in dieser Situation Interesse hervorrufen, sind insbesondere aktuelle und historische Praktiken in Wissenschaft, Technik, Ökonomie.
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für eine Paradoxie entdeckt, die aus der Beschreibung der Gesellschaft über Funktionssysteme resultiert: Obwohl für einen spezifischen Funktionsbereich des Gemeinwesens zuständig, bildet doch die Gesellschaft als solche den Bezugspunkt des einzelnen Systems. Die je nach System differierende systeminterne Semantik, die zur Kommunikation und Bearbeitung von Problemen dient, muss zumindest in ihrem Sinn und Zweck auch allgemein verständlich sein.6 In den Begriffen der Systemtheorie formuliert, heißt das, die Systeme müssen »Inklusion« erzeugen, weshalb ihre Semantik unter »Universalisierungsdruck«7 steht. An dieser Stelle kommt das Populäre ins Spiel. »[I]nklussionssteigernde Kommunikation« zeichne sich dadurch aus, so Urs Stäheli, »dass sie hyperkonnektive Elemente benutzt – populäre Semantiken, die in unterschiedlichen Funktionssystemen verwendet werden können.«8 Das Populäre figuriert hier als »Strategie« zur Begegnung des »semantische[n] Universalisierungsdruck[s]«9. Eine solche soziologische Thematisierung des Populären als eines Mediums des sozialen Bandes hat ihre Entsprechung in Klassikern der Popularkulturforschung, wie etwa Dave Laings The Sound Of Our Time von 1969. Mit Adorno und Riesman konstatiert Laing: »In his ›On Popular Music‹, Adorno writes that ›the connecting reaction consists partly in the revelation to the listener that his apparently isolated, individual experience of a particular song is a collective experience.‹ David Riesman takes the point a bit further by arguing that the popular music enthusiast ›listens in a context of imaginary others – his listening is indeed often an attempt to establish connection with them‹.«10 Das Populäre erscheint vor diesem Hintergrund als durchaus aussichtsreicher Bewerber auf eine zentrale Stelle in der Theorie der spätmodernen Gesellschaft, eine Leerstelle, die etwa Alois Hahn als »Universalmedium« bezeichnete und zu deren Besetzung er – ganz im Sinne der klassischen Ethnologie – die »Kultur« vorschlug.11 Zu erörtern, ob und inwiefern sich das Populäre als ein universales, ein KulturMedium begreifen lässt, ist mein Vorhaben im vorliegenden Text. Um dieses Vorhaben operationalisierbar zu machen, greife ich aus dem unüberschaubaren Reich populärer Phänomene exemplarisch mit »Pop« – oder auch »Popkultur«, »Popmusik« – einen etwas enger abgesteckten Phänomenbereich heraus. Schon in diesem enger abgesteckten Feld zeigt sich jedoch, dass die Medialität der Popular6 Dafür, mir dieses systemtheoretische Theorieproblem bei einem Mittagessen in Basel erläutert zu haben, danke ich Urs Stäheli. 7
Stäheli 2004, S. 181.
8
Ebd., S. 182.
9 Ebd., S. 184. Ähnlich argumentieren auch Huck und Zorn (2007). Um ein Beispiel für einen nicht systemtheoretischen soziologischen Forschungsansatz, der im Populären einen Garanten der Vergemeinschaftung in der Spätmoderne findet, handelt es sich wieder bei den Arbeiten der Gruppe um Hitzler. (Vgl. Hitzler et al. 2005). 10
Laing 1969, S. 22.
11
Vgl. Hahn 2004.
Zeichen, Bilder, Atmosphären
kultur nicht eine, sondern mehrere Erscheinungsformen besitzt. Mit dem Populären als Medium für »Bilder« vom Selbst und von Anderen, für »Zeichen« und für »Atmosphären« beschreibe ich im Folgenden drei dieser Erscheinungsformen. Ich gehe davon aus, damit die in der vorliegenden Literatur als wesentlich erkennbaren Aspekte popularkultureller Medialität zu erfassen – aber sicherlich nicht alle.12 Die von mir vorgenommene Thematisierung des Populären unter dem Gesichtspunkt der Medialität greift die, wie Andrea Seier (2009) in Anlehnung an Sybille Krämer formuliert, »Gretchenfrage« der Medientheorie auf, die heute nicht länger darin besteht, zu fragen, ob Medien lediglich »übertragen« oder darüber hinaus auch »erzeugen«.13 Es geht jetzt darum, die »modulierende und formierende Funktion der Medien näher zu bestimmen«14. Einzelne, an spezifischen Untersuchungsgegenständen vorgenommene Bestimmungsversuche können wohl unmöglich für sämtliche Erscheinungsformen der Medialität Gültigkeit beanspruchen. Denn zum Beispiel ein technisches Medium wie das Fernsehen oder tragbare Multimediaplayer wie der iPod prägen die Art und Weise, in der Menschen die Wirklichkeit erleben, in einem Realitätsbereich, der von anderen Koordinaten abgesteckt ist, als etwa das Vorhandensein oder die Abwesenheit von Basismedien wie der Schrift oder Zahlen.15 Sie ereignen sich auf verschiedenen »Ebenen« der Sphäre des Sozialen, um es etwas altmodisch auszudrücken. Auch bei der Untersuchung von Medien müssen also Rahmen gesetzt werden, um zu Aussagen kommen zu können. Im Fall meiner Studie handelt es sich dabei um die genannte kulturelle Medialität. Die von mir vertretene Auffassung vom Populären als Kulturmedium führt zur Spezifizierung verschiedener Wirklichkeitsartikulationen, wie sie in den verschieden Erscheinungsformen popularkultureller Medialität vorliegen. Es geht mir um wesentliche Kennzeichen von nicht nur in phänomenologischer Hinsicht verschiedenen, sondern strukturell verschiedenen »Ontologien«16 des Populären.
Das Populäre als Medium für Bilder vom Selbst und von Anderen »Mit 15 Jahren liebte ich Sade. Und zwar so unschuldig und aufrichtig, wie es nur 15jährige Mädchen können, deren instinktives Bedürfnis nach einer glitzernden Welt täglich durch den Anblick kleinstädtischer Fußgängerzonen beleidigt wird, die von männlichen Pubertätsmonstern, Leib-und-Seele-Hausfrauen mit Einkaufskörben 12 Um eine weitere Form der Medialität, die in der Popularkultur Relevanz besitzt, handelt es sich zum Beispiel bei der Serialität. 13
Vgl. Seier 2009, S. 132.
14
Ebd.
15 Zu den mit tragbaren Musikabspielgeräten verbundenen Wirklichkeitsartikulationen vgl. Bull 2000, zu den Basismedien zum Beispiel Coy 2002. 16
Den Begriff »Ontologie« gebrauche ich im Sinne Latours. (Vgl. Latour 1998, S. 115 ff.)
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und beigen Rentnern überbevölkert sind«, schreibt Heike Blümner zur Einleitung eines Textes mit dem Titel »Pop oder Was aus einem verlockenden Versprechen wurde«.17 »Sade durfte glänzen, ihre Strahlen kitzelten meine unterfütterte Phantasie.«18 In den Vorstellungen, die Blümner mit wenigen Worten evoziert, sind wesentliche Eigenschaften angesprochen, die das Populäre als Medium für Bilder vom Selbst und von Anderen besitzt. (1) Die zwar nicht ausschließlich, aber eben auch für Adoleszente typische Sehnsucht nach einem Sein, das für Andere sichtbar ist. (2) Die Identifikation mit einem Bild, das zugleich wundervoll und unerreichbar erscheint und diese Sichtbarkeit verspricht. (3) Die Anwesenheit Anderer, die sich von diesem Bild unterscheiden, ihm zumindest deutlich weniger entsprechen als man selbst. In einer Beschreibung, die Julie Burchill in ihrer Autobiografie von der legendären Coverabbildung gibt, die auf Patti Smiths Debütalbum Horses zu sehen ist, findet sich eine Ergänzung der genannten Aspekte populärer Bildmedialität. »Ich sehe ihr Bild vor mir, wie sie an eine Wand gelehnt dasteht, die Jacke über die Schulter geworfen. Für jene unter uns, die 1976 dieses Schwarzweißfoto sahen, besitzt es den gleichen immerwährenden Symbolwert wie Marilyn über dem U-Bahn-Schacht oder das ausgelassene englische Team von 1966. Es war ein Beweis für die Vollkommenheit«19. Das Bild bringt etwas Vollkommenes zu Ausdruck. Diese Vollkommenheit sei »nicht etwas ToAlbumcover Patti Smith: Horses (1976) tes, Vergangenes, das man in einem (Arista/BMG) Kasten aufbewahrt, sondern eine beinahe gewöhnliche, alltägliche Vollkommenheit«, schreibt Burchill. »Ich empfinde die Vollkommenheit nicht wie andere Menschen, die sie mit Ehrfurcht, Selbsthass und Distanz betrachten; für mich ist sie ein Fest, das jeder von uns besuchen kann, wenn er nur den richtigen Moment auswählt.«20 Wie ließe sich in diesen Aussagen nicht ein Begehren erkennen, welches das Populäre – als Bildmedium! – fundamental bestimmt? Einen anderen Aspekt der Bildlichkeit arbeitete Angela McRobbie in ihren in den siebziger Jahren entstandenen Studien über den Umgang von Mädchen mit der 17
Vgl. Blümner 2001, S. 55.
18
Ebd.
19
Burchill 1999, S. 136.
20 Ebd. Ich habe die hier von Burchill artikulierte und als »King Girl« (Burchill 1999, S.105) bezeichnete Subjektposition unter anderem auch anhand von Material aus Burchills Autobiografie an anderer Stelle eingehend beschrieben. (Vgl. Bonz 2002).
Zeichen, Bilder, Atmosphären
Popkultur heraus. Wie bei Blümner ist auch in ihrer Beobachtung die Bezugnahme auf Bilder durch Distanz gekennzeichnet. In ihr artikuliert sich in diesem Fall allerdings kein idealisiertes Selbst; es ist vielmehr das andere Geschlecht, mit dem sich die Mädchen der »teeny-bopper culture«21 in der Form von Abbildungen ihrer Stars umgeben. Aus McRobbies Sicht wird auf diese Weise die Auseinandersetzung mit dem anderen Geschlecht in einer Weise erst möglich und konkret, wie sie in der sozialen Realität für die Mädchen aus einer Reihe von Gründen unvorstellbar wäre: »Young pre-teen girls have access to less freedom than their brothers. Because they are deemed to be more at risk on the streets from attack, assault, or even abduction, parents tend to be more protective of their daughters than of their sons […]. Teeny-bopper culture takes these restrictions into account. Participation is not reliant on being able to spend time outside the home on the streets. Instead teeny-bopper styles can quite easily be accommodated into school-time or leisure-time spent in the home. […] Sexual experience is something most girls of all social classes want to hold off for some time in the future. They know, however, that going out with boys invariably carries the possibility of being expected to kiss, or ›pet‹. The fantasy boys of pop make no such demands.«22 Anstatt bedrohliche Anforderungen zu stellen, stellen sich die »fantasy boys« vielmehr aus und laden damit zur eingehenden Betrachtung und zu Tagträumereien ein: »The pictures which adorn bedroom walls invite these girls to look, and even stare at length, at male images (many of which emphasise the whole masculine physique, especially the crotch). These pin-ups offer one of the few opportunities to stare at boys and to get to know what they look like. While boys can quite legitimately look at girls on the street and in school, it is not acceptable for girls to do the same back. […] The kind of fantasies which girls construct around these figures play the same kind of role as ordinary daydreams.«23 Zwar ist McRobbies Aussagen anzumerken, dass sie aus einer anderen Zeit stammen. Hiermit sollte aber nicht vorschnell gleichgesetzt werden, sie besäßen heute keine Gültigkeit mehr. Anstatt McRobbies strikter Handhabung der Kategorie »Geschlecht« würde ich diese in Bezug auf Heute allerdings öffnen und die hier getroffenen Aussagen neben älteren als den genannten Mädchen auch für Jungs und Männer gelten lassen. Auch sie sehen auf Bildern, was in der sozialen Realität des Alltags weniger sichtbar ist; und auch sie finden in Bildern eine Gestalt für das Begehren, werden in Fantasien entführt. 21
McRobbies / Garber 1991, S. 12.
22
Ebd., S. 13.
23
Ebd.
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Die bisherigen Beobachtungen an der Funktionsweise des Populären als Bildmedium lassen sich mit Diedrich Diederichsen zusammenfassen, der pointiert formuliert: Einer »schier unendliche[n] Vielfalt an Bildern« stehe im Pop deren Gebrauch in dreierlei Weise gegenüber: »[S]o will ich sein. Den / die will ich haben. Da will ich hin.«24 In der zeitgenössischen kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskussion wird popularkulturelle Bildlichkeit vor allem im Paradigma des performative turn thematisiert. Wie in McRobbies Ansatz wird das Bild hierbei als Gegenstand eines Aneignungsvorgangs aufgefasst, der auch auf den Begriff »Mimesis« gebracht wird. Allerdings rufen die entsprechenden Beschreibungen häufig den Eindruck hervor, als handele es sich weniger um eine Aneignung von Bildern, als vielmehr um ihre Inszenierung.25 So heißt es etwa abschließend in einer Studie über HipHop: »HipHopper sind real, wenn ihre Selbstinszenierungen auf den verschiedenen Bühnen der kulturellen Performances des HipHop gelingen, sie damit die Illusio der Realworld HipHop aktualisieren«.26 Ein solches Scheitern mimetischer Aneignung resultiert nicht aus einem vermeintlichen Versagen der Akteure, es stellt vielmehr eine dem Modus der Bildlichkeit implizite Zwangsläufigkeit dar. An den bislang benannten Charakteristika popkultureller Bildmedialität macht sich diese zum Beispiel am Moment der Distanz fest, welche die Beziehung zwischen Rezipient und Rezipiat kennzeichnet. Sie ist außerdem auch mit dem Moment der Vollkommenheit verbunden, wie der Rückgriff auf die Überlegungen des Psychoanalytikers Jacques Lacan zur Bildmedialität deutlich macht. Lacan beschäftigte sich mit Medien innerhalb von Koordinaten, die von mir im vorliegenden Text aufgegriffen werden: Es geht ihm um Formen intersubjektiver Beziehungen, in denen Menschen für sich selbst und für andere in Erscheinung treten und (dadurch) Subjektivität auszubilden vermögen. Der Bildmedialität, die in Lacans Terminologie als »das Imaginäre« figuriert, misst Lacan hierbei in zweifacher Hinsicht eine fundamentale Funktion bei. (1) Im Medium des Imaginären bewegt sich der Mensch in einer Welt der Spiegelungen; er unterliegt permanent Täuschungen.27 (2) Gleichwohl bildet das Imaginäre für Lacan die Voraussetzung dafür, dass im Zuge der Psychogenese / Sozialisation überhaupt ein Subjekt zu entstehen vermag. Denn erst über das Medium der Bildlichkeit betritt der Mensch bei Lacan den Geltungsbereich eines Überhaupt-Artikuliertseins der Wirklichkeit, den Wirkungsbereich einer Ontologie.28 Beide Funktionsweisen des Imaginären beruhen auf der Macht der Bilder, das Individuum einzunehmen. Das in der Subjektivation durch das Imaginäre entstehende Subjekt strebt nach dem idealen Bild, das es von sich und den Dingen sieht. In dieser Weise produziert das Medium eine Welt, in der das Subjekt ein Begehren 24
Diederichsen 2007, S. 331.
25
Vgl. zum Beispiel Menrath 2001 und Klein / Friedrich 2003.
26
Klein / Friedrich 2003, S. 211.
27
Vgl. Lacan 1990
28
Vgl. Lacan 1996
Zeichen, Bilder, Atmosphären
findet. Die Welt erhält sich in ihm, so lange es zurück gespiegelt bekommt, selbst ein großartiges Bild abzugeben.29 Der Strahlkraft, die die Wirklichkeit im Imaginären besitzen kann, stellt Lacan eine Konsequenz gegenüber, die für ihn aus der Logik der Bildmedialität zwangsläufig folgt und von ihm als deren Kehrseite aufgefasst wird: Wendet sich der bestätigende Blick vom Individuum ab, lässt sich dessen Selbstwahrnehmung in der vollkommenen Gestalt nicht länger aufrecht erhalten. Die idealisierte Gestalt löst sich auf und das Individuum erlebt sich als in Auflösung inbegriffen. Lacans Bezeichnung für diesen imaginären Zerfall ist der »zerstückelte Körper«.30 Mit Lacan betrachtet, wohnt der Ontologie der Bildmedialität demnach eine fundamentale Instabilität inne. Diese führt ihr Subjekt dazu, permanent Bestätigung einzufordern, um der Auflösung seiner Welt entgegen zu wirken. Das Wesen popkultureller Bildlichkeit findet sich komprimiert in der Figur Michael Jackson. Jackson inkarnierte die Logik des Imaginären nicht nur in der zwischen Verehrung und Verachtung hin und her schwankenden Art und Weise, die er im Laufe seiner Karriere in der Rezeption erfuhr, sondern darüber hinaus auch in der Gleichzeitigkeit von Vollkommenheit (etwa in seinen Tanzbewegungen) und Selbstzerstörung (etwa in Form der plastischen Operationen, welchen er sich wiederholt unterzog) in sich als Subjekt / Objekt.31 Zweifellos liegt in einer vom Modus des Imaginären bestimmten Wirklichkeit ein starkes soziales Band vor. Es besteht in der wechselseitigen Bestätigung der Vollkommenheit eines bestimmten Bildes, das sich beispielsweise eine Clique als Ideal teilt. Ebenso besteht es auch in der Gemeinschaft, die in der kollektiven Abwertung der diesem Ideal nicht entsprechenden Anderen zustande kommt – etwa beim Tratschen und Lästern.32 Eine weitere Form, in der Kollektivität im Imaginären entsteht, ist die Rivalität darum, wer dem Ideal am nächsten kommt. Im Medium popularkultureller Bildlichkeit artikuliert sich somit eine Wirklichkeit, deren Ontologie durch starke Bilder – die Bilder der Vollkommenheit oder des anderen Geschlechts – ebenso gekennzeichnet ist wie durch die Uneinholbarkeit dieser Bilder in der Realität und die Bestätigung, die sie als Selbstbilder erhalten müssen. In der bei Blümner erzählten Geschichte führt die hieraus resultierende Instabilität der Wirklichkeitsartikulation 29 Wie hieraus eine Dialektik des Begehrens entsteht, die schließlich über die Medialität des Bildes hinaus führt, beschreibt Lacan eindrücklich in einem für die Psychoanalyse kanonischen Text über eine frühkindliche Entwicklungsphase, die er treffend als »Spiegelstadium« bezeichnet. (Vgl. Lacan 1996). 30
Vgl. Lacan 1996
31 Die Beiträge in dem von Mark Fisher (2009) nach Michael Jacksons Tod herausgegebenen Essayband stützen diese Lesart des Phänomens Michael Jackson. 32 Sarah Thornton (1995) hat aus der Beobachtung dieser Abwertung eine der meistbeachteten Popkulturstudien der 90er-Jahre geschrieben: Ihre ethnografische Untersuchung in der britischen Tanz- und Ausgehkultur rund um Musikformen wie House Music und Techno, »Club Cultures – Music, Media, And Subcultural Capital«, greift als zentrales begriffliches Werkzeug die von Bourdieu formulierte Konzeption der Distinktion auf, bei der es sich um nichts anderes als die auf einen Begriff gebrachte imaginäre Logik von Idealisierung / Abwertung handelt.
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zur Ablösung der Bildmedialität durch ein anderes Medium, die »Sprache«. In einem Übernahmeakt beraubt diese der Ontologie der Bilder ihr Subjekt, indem sie sich in der Gestalt eines wild mit der Popmusikzeitschrift Spex herumwedelnden jungen Mannes in den Raum drängt, der im Abstand zwischen Individuum und Bild besteht.
Das Populäre als Medium für Zeichen Bei Blümner heißt es entsprechend, ihre »überschaubare Welt« habe einen »irreparablen Riss« erhalten, »als mich ein blasierter 17jähriger fragte, welche Musik ich höre. Auf meine Antwort: »Irgendwie alles und im Moment Sade«, wandte er sich angewidert ab, nicht ohne mir ein »Wie langweilig und vor allem oberflächlich« entgegenzuraunzen. Er hingegen trug ständig ein Magazin namens Spex mit sich herum und unterteilte Musik grundsätzlich in die Kategorien ›wichtig‹ und ›unwichtig‹. Er predigte Diedrichsen und hatte gerade The Velvet Underground entdeckt (was für eine beachtliche Leistung Mitte der achtziger Jahre!). Er scharte einige Jünger um sich, mit denen er sein Wissen teilte.«33 Bei aller Lächerlichkeit, mit der Blümner den Spex-Leser versieht, liefert sie hier nicht weniger präzise als bereits hinsichtlich des Bildmediums auch eine bündige Benennung wesentlicher Aspekte der sprachlichen Medialität des Populären. Diese ist gekennzeichnet durch (1) das Vorhandensein von Worten, zwischen Menschen wie auch auf Papier, in der Schrift, in Textform. Die Worte artikulieren (2) Objekte, bei denen es sich um Wissensgegenstände handelt, und sie enthalten (3) implizite Kategorien, entlang derer sich die Objekte erst zu einem Wissen sortieren – etwa entlang der Unterscheidung von »wichtig« und »unwichtig«. Im Gegensatz zur popularkulturellen Bildmedialität gibt es (4) im Medium der Sprachlichkeit außerdem eine Autorität, die die Anwendung bestimmter Geschmackskategorien einfordert, bestimmte Wissensgegenstände vertritt und damit schließlich die Medialität der Sprachlichkeit an und für sich zu vertreten vermag – etwa gegenüber einer Adoleszenten wie derjenigen, von der Blümner in ihrem Text in der Ich-Form schreibt. In welcher Weise die Sprachlichkeit in der Popularkultur produktiv wird, erschließt sich in der medientheoretischen Perspektive auf Sprache als Basismedium. In ihr erscheint sprachliche Medialität durch die Arbitrarität sprachlicher Zeichen bestimmt: Zwischen der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens und seiner Gestalt im Reich der Laute oder Grapheme gibt es keine natürliche Beziehung, kein Verhältnis der Analogie. Die Verbindung, die »Signifikant« und »Signifikat« im sprachlichen Zeichen eingehen, ist vielmehr konventioneller Art. Nach Ferdinand de Saussure (2001) ist mit diesem Charakteristikum ein weiteres Kennzeichen der Medialität der Sprache verbunden: Der von der Sprache artikulierte Sinn entsteht im Modus der differenziellen Verkettung von Bedeutungsträgern. Nur weil das Wort Soundso dieses bedeutet, vermag ein anderes Wort derselben Sprache – auch ein 33
Blümner 2001, S. 55f.
Zeichen, Bilder, Atmosphären
unter Umständen nur sehr geringfügig anders lautendes Wort – jenes zu bedeuten. »Sprachliche Medialität« heißt demnach grundsätzlich, dass die Zeichen einer Sprache aufeinander bezogen sind; sie bilden einen Bedeutungszusammenhang. Dies hat zwei weitere Merkmale sprachlicher Medialität zur Konsequenz. (1) Sprache ist ein Medium der Immanenz, sie artikuliert, was sie artikuliert. (2) Die von einer Sprache artikulierte Wirklichkeit ist ihre ganze Wirklichkeitsartikulation; insofern ist sprachliche Medialität holistisch.Nicht die einzige, aber die prägnanteste und in der Kulturgeschichte der vergangenen sechzig Jahre am stärksten verbreitete und besonders nachhaltig unsere Vorstellungen vom Populären prägende Erscheinungsform eines solchen Bedeutungszusammenhangs ist die Subkultur. Als Kultur artikuliert sie eine Welt spezifischer Objekte, auch Motive und Werte, für diejenigen Menschen, die die jeweilige Kultur sozusagen »sprechen«. Wie die im Medium des Imaginären sich vollziehende Bezugnahme des Individuums auf das Bild, so lässt sich auch die Fähigkeit des Individuums, eine Kultur zu sprechen, als »Identifikation« bezeichnen. In beiden Fällen entsteht im Rahmen eines Mediums ein Subjekt, das sich von dem Subjekt unterscheidet, welches es vor seinem Eintreten in das jeweilige Medium war. Deutlich wird aber auch, dass »Identifikation« ganz Unterschiedliches meinen kann – und zwar in Abhängigkeit von der Art der Medialität, in der sie sich vollzieht: In der Identifikation mit einer Subkultur entsteht eine strukturell anders verfasste Ontologie als in der Identifikation mit einem Bild. Mit Dick Hebdiges (1979) semiotischer Analyse der Mods und Punks und Paul Willis’ (1981) ethnografischer Studie über Rocker und Hippies sind zwei besonders eindrückliche Subkulturstudien Ende der 70er-Jahre aus dem Centre for Contemporary Cultural Studies an der Universität Birmingham hervorgegangen, der Wiege der britischen Cultural Studies. Während Hebdige mit »Bricolage« / »Re-Signifizierung« sowie mit der »signifying practice« einer beständigen Auflösung und Erneuerung von Sinnzusammenhängen zwei Verfahren beschreibt, mit deren Hilfe sich Popkulturen gewissermaßen als alternative Sprachen aus der basalen Sprache der hegemonialen Kultur ihrer Zeit herausschälen,34 fokussiert Willis die Immanenz und den Holismus sprachlicher Medialität in der Form einer die Subkulturen kennzeichnenden »Homologie«35. Wie sich die Sprache mit jedem ihrer Zeichen im Prinzip auf alle übrigen Zeichen bezieht, beziehen sich die Objekte der Subkultur aufeinander, indem die »Gegenstände in ihrer Struktur und ihrem Gehalt der Struktur, dem Stil, den typischen Anliegen, Einstellungen und Gefühlen der sozialen Gruppe entsprechen und diese reflektieren.«36 Was Willis zum Beispiel als homologes Moment der Hippies, die er auch als »Heads« bezeichnet, versteht, kommt in seiner folgenden Aussage zum Ausdruck: »Obgleich [der Head] in der gleichen Welt lebt wie alle anderen, hatte sie für ihn mehr Facetten, und – sogar ohne Drogen – sah er 34
Zu Hebdiges semiotischem Ansatz vgl. Bonz 2008b, S. 59 ff.
35
Vgl. Willis 1981, S. 236f.
36
Ebd., S. 238.
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mehr Strahlen sich darin brechen als je ein ›straight‹. Der ›head‹ bestaunt die reale Welt, der ›straight‹ betreibt sie.«37 Diese Essenz des Hippietums durchzieht Willis’ Darstellung der Subkultur als roter Faden. Sie findet sich ebenso im Kleidungsstil der Hippies wie in den Effekten der von ihnen konsumierten Drogen oder dem Erlebnis, das sie im Musikhören suchen. »[G]anz bestimmte Musik wurde gewählt, weil sie – und nur sie – die Bedeutungsinhalte und Erfahrungen, die in der Hippiekultur wichtig waren, fassen, weiterentwickeln und wieder zurückgeben konnte.«38 Im Wesentlichen sei es den Hippies beim Musikhören darum gegangen, Musik als eine Aneinanderreihung abstrakter Muster im Kopf zu erleben oder auch als ein Ereignis, das außerhalb herkömmlicher Zeitmaßstäbe stattfindet. In den von Willis’ Hippies gewählten musikalischen Objekten fand die Homologie ihre ästhetische Form etwa in Klangeffekten (wie dem Feedback, dem Rückwärtsspielen von Tonbändern etc.), in asymmetrischen Rhythmen (etwa bei Frank Zappa) und im rhythmischem Pulsieren, sowie in unerwarteten Entwicklungen in der musikalischen Form (etwa in Bezug auf Songstruktur und Harmonien), zum Beispiel in einem Stück wie »Madame George« von Van Morrison.39 Neben der mit der Immanenz des Sprachlichen verbundenen Homologie der Popkulturen wird an Willis’ Studie auch erkennbar, inwiefern sich die Funktion von Stars in einer popkulturellen Ontologie, die von sprachlicher Medialität bestimmt ist, von einer im Modus der Bildlichkeit operierenden Ontologie unterscheidet. »Viele der Hippies, mit denen ich sprach, kannten berühmte Popgruppen oder hatten sie bei den üblichen Kulturtreffs schon mal getroffen […]. Der Hohepriester der Popbewegung in den Medien, John Peel, galt als recht umgänglich, und Paul Weller, Star der Mod-Kultur der achtziger sie sahen ihn als einen der Ihren an.«40 Jahre, hier auf einer Fotografie von Steve Pyke Und Willis zitiert aus einem der Gruppengespräche, die neben teilnehmenden Beobachtungen und dem gemeinsamen Musikhören zum Methodenrepertoire seiner Studie zählten: »John: ›Es ist so ’ne Art Kameradschaft, Van Morrison ist sozusagen ein Freund von uns, wir würden uns nicht im geringsten wundern, wenn er jetzt vorbeikäme, wenn er hier reinkäme und ’nen Joint drehen würde.‹ Bob: ›Ich glaube, dass er das Leben genauso sieht wie ich.‹ Les: ›Die Bands, die heutzutage 37
Ebd., S. 178.
38
Ebd., S. 194.
39
Ebd., S. 193–212.
40
Willis 1981, S. 207.
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Musik machen, kommen aus der gleichen Ecke wie wir, sie bringen nur das zum Ausdruck, was wir denken.‹« Das Verhältnis der Hippies zu den beiden Genannten – John Peel, dem prominenten Radiojournalisten, und Van Morrison, dem prominenten Musiker – ist nicht durch dieselbe, unüberbrückbar bleibende Distanz gekennzeichnet, die das Verhältnis der Rezipienten zu Stars im Medium des Imaginären definiert. In der vom Medium der Sprachlichkeit bestimmten Ontologie besteht die Beziehung fundamental darin, dass sich die im Raum dieser Wirklichkeitsartikulation lebenden Menschen etwas teilen – die gemeinsame »Sprache«. Sie sind alle Subjekte der Subkultur. Der zwischen den hervorgehobenen und den übrigen Subjekten der Subkultur vorhandene Unterschied liegt darin, dass die Stars das Wesen der Subkultur verkörpern. Sie inkarnieren die jeweiligen Kenntnisse, Praxen (etwa des Musikmachens), Wissensgegenstände, Begehrensobjekte, Sehnsüchte, Motive, Werte, Überzeugungen etc. Als diejenigen, die in besonderem Maße wissen, was es zu begehren gilt, werden sie von den Angehörigen der Subkultur begehrt.41 Auch beim Spex-Leser in Blümners Text handelt es sich um eine solche Inkarnation. Im Gegensatz zur Instabilität der Ontologie des Bildmediums artikuliert die popularkulturelle Sprachlichkeit aufgrund ihres Holismus’ eine vergleichsweise stabile Wirklichkeit. In den Studien von Willis und Hebdige wird dies darin deutlich, dass die von ihnen dargestellten Subkulturen als ganze Welten erscheinen. Sie besitzen »Götter, Seelen, Gegenstände, ihre Zeiten und Räume«, um Bruno Latours Definition von »Welt« aufzugreifen.42 Am wichtigsten und zugleich auch am leichtesten zu übersehen scheinen mir in dieser Aufzählung die Gegenstände zu sein. In Blümners Text erscheinen sie in der Form von Geschmacks- und Wissensobjekten. Man sollte hierbei aber nicht nur an das spezielle Wissen denken, das Subkulturen kennzeichnet, oder an den hohen Stellenwert, das dem Wissen – etwa über die Geschichte der Popkultur – zum Beispiel in Spex in den 80er und 90er-Jahren zukam. Vielmehr kann man den Begriff gar nicht weit genug denken, um zu erfassen, in welch fundamentaler Weise die Sprachmedialität für ihre Subjekte produktiv wird. Im Paradigma des Poststrukturalismus wird dies von einem Begriff bezeichnet, der wie kein zweiter für das Denken des Poststrukturalismus steht – die »symbolische Ordnung«. Der Begriff zeigt das Vorhandensein eines Referenzsystems von Zeichen an, die von den Subjekten des jeweiligen Bedeutungszusammenhangs nicht in ihrer Funktion als Zeichen wahrgenommen werden, sondern in den Bedeutungen, die diese artikulieren.43 41 Matthias Waltz beschreibt dies eingehend in einer Lektüre von Diedrich Diederichsens autobiografischer Darstellung seiner eigenen Popkultursozialisation in Sexbeat (Waltz 2001, 221f.). 42
Latour 2004, S. 43.
43 In der Popkulturtheorie Diedrich Diederichsens spielt das Moment der symbolischen Ordnung in einer speziellen Weise eine besonders große Rolle. Die Praxis der Subkultur des New Wave, die bei Diederichsen wiederholt im Zentrum seiner Überlegungen steht, besteht wesentlich darin, Zeichenbedeutungen aus allen möglichen Kulturen zu kennen und mit diesen zu spielen: der basalen Kultur der zeitgenössischen Gesellschaft, vorausgegangener Epochen der Popkultur, außereuropäischer Musikkulturen etc. (Vgl. Diederichsen 1997, 2002).
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Das Populäre als Medium für Atmosphären Es ist in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskussion heute unüblich, die Bezeichnung »Subkulturen« zu gebrauchen44, obwohl vermutlich niemand deren Existenz bestreiten würde – zu offensichtlich ist ihr Vorhandensein zum Beispiel in Form der HipHop-Szene, der Metal-, Emo-, Gothic-, Skater- oder Ultra-Szene. 45 Statt von Subkulturen spricht man heute von »Szenen«.46 In der Ablösung des Subkultur- durch den Szene-Begriff kommt meines Erachtens deshalb zwar nicht das Verschwinden der Subkulturen zum Ausdruck, aber ein Verschwinden mehrerer Aspekte, die dem Subkulturbegriff zuvor Plausibilität verliehen hatten. Zwei dieser Gründe möchte ich an dieser Stelle anführen. (1) Während die Subkulturen der 50er, 60er und 70er-Jahre sich in einer Negation hegemonialer Werte und Objektbedeutungen konstituierten, spielt dies für zeitgenössische Subkulturen offenbar nicht nur keine Rolle, die basale Kultur kommt in ihnen als eine Individuen bindende symbolische Ordnung gar nicht vor.47 (2) Da sich die zeitgenössischen Subkulturen nicht primär als alternative symbolische Ordnungen konstituieren – mit anderen Worten: nicht als Wissenskulturen –, erscheint es weniger nahe liegend, sie als holistische Welten aufzufassen. Ist die Zugehörigkeit zu ihnen nicht zu flüchtig, als dass sich in ihr eine ganze Welt ausbilden könnte? Lassen sich nicht außerdem auch mehrfache Zugehörigkeiten einund desselben Individuums zu verschiedenen Kollektiven beobachten? Die Skepsis, die ich in diesen häufig gehörten Fragen zu formulieren versuche, lässt sich allerdings nicht auf das Populäre beschränken. Sie bezieht sich auf die zeitgenössische Kultur im Allgemeinen und steht in direktem Zusammenhang mit der eingangs vertretenen These von der als Partikularisierung von Gemeinschaft verstandenen spätmodernen Individualisierung als einem fundamentalen Zug unserer Gesellschaft. Das Desinteresse, das der zeitgenössische sozial- und kulturwissenschaftliche Diskurs sowohl der Konzeption »symbolische Ordnung« als auch alltäglichen Phänomenen, in denen eine symbolische Ordnung konkret zum Ausdruck kommen könnte,48 entgegen bringt, verstehe ich ebenfalls als Hinweis darauf, dass die Gesellschaft in der Spätmoderne nicht eigentlich von einer Kultur symbolischer Ordnung artikuliert wird. Statt durch die Wirkmächtigkeit des Symbolischen bestimmt zu 44
Vgl. Bennet/Kahn-Harris 2004, Muggleton/Weinzierl 2004.
45
Vgl. zum Beispiel Büsser et al. 2009, Hitzler et al. 2005, Schmidt/Neumann-Braun 2008.
46
Vgl. Hitzler et al. 2005.
47 Felix Bayer und Sven Opitz beschreiben in dem Vorhaben, Pop aus systemtheoretischer Perspektive als »transversales Programm« zu definieren, implizit die Spex-Alternative-Indie-Kultur der 90er-Jahre als eine zeitgenössische Form der klassischen, auf der Negation hegemonialer Diskurse beruhenden Subkultur. (Vgl. Bayer/Opitz 2007). 48 Prinzipiell lassen sich zwei Erscheinungsformen von symbolischer Ordnung unterscheiden: (1) Das Symbolische als Diskurs und Wissensordnung, (2) der symbolische Gabentausch. Ersteres ist allgegenwärtig, wenn auch in Verbindung mit imaginären Identifikationen, die vermeiden, die Grenze des jeweiligen Referenzsystems in den Wahrnehmungshorizont seiner Subjekte dringen zu lassen. Letzteres wäre etwa in den Erscheinungsformen des zeitgenössischen Netzwerkkapitalismus zu untersuchen. (Vgl. Boltanski/Chiapello 2006).
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sein, handelt es sich bei ihr vielmehr – wie ich im Anschluss an Bhabha (1994) und Waltz (2007) annehme – um eine Kultur der Zwischenräume. Ihr Dazwischensein liegt in den Räumen, die sich zwischen den mit der Systemtheorie beschreibbaren gesellschaftlichen Funktionssystemen und anderen Formen symbolischer Ordnung auftun – symbolischen Ordnungen von lediglich lokaler Wirkmacht und Gültigkeit. Diese These kann sich zum Beispiel auf ein in der Popmusik der letzten zwanzig Jahre deutlich zu hörendes Phänomen stützen – den Wandel von der musikalischen Bedeutungsartikulation im Sinne von sprachähnlichen Zeichen hin zu einer eher atmosphärischen Signifikanz. Die mit ihr verbundene Medialität beschreibe ich abschließend im Weiteren als eine dritte Form, in der das Populäre als Medium zu fungieren vermag. Wie Diederichsen (1997) in einer theoretischen und kulturgeschichtlichen Studie zur Funktionsweise des Hörens als einer Konvention des Wiederhörens sowie zu verschiedenen Praxen des Zitierens in der Popmusik zeigt, ist der Wandel von sprachlicher zu atmosphärischer Signifikanz in der Ästhetik der Popmusik selbst dingfest zu machen.49 In Diederichsens Perspektive erscheint das Zustandekommen einer Atmosphäre als Effekt des vagen Hinweises auf ein in der Vergangenheit liegendes Phänomen. Die Anwendung, die die Sampling-Technologie in den frühen und mittleren 90er-Jahren in Genres wie House Music und TripHop fand, steht paradigmatisch für eine popmusikalische Ästhetik der atmosphärischen Signifikanz. So finden sich beispielsweise auf Portisheads Debütalbum Dummy von 1994 kaum herkömmliche oder auch nur diskret unterscheidbare Instrumentenklänge. Stattdessen ergießen sich Kombinationen diffuser Klänge auf einer Woge schwerer HipHop-Beats. Die einzelnen Bestandteile der Tracks klingen zerstreut und sie stammen von Streichern, zitiert aus Filmsoundtracks – oder: diesen ähnlich – von Komponisten wie Lalo Schifrin oder Ennio Morricone aus den 60er-Jahren, von Fender Rhodes Pianos, Vibraphonen, ganzen Big Bands. Neben der klagenden Stimme von Sängerin Beth Gibbons seufzt auch ein Theremin. Die Qualität dieser Klänge sei es, »cheesy« zu sein, erläuterte Geoff Barrow von Portishead damals im Interview. Darüber hinaus besitzen die Sounds eine große Intensität. Barrow: »Wir mögen cheesy Music nicht als Lounge oder Easy Listening. Wir mögen sie heavy.«50 In der Beantwortung der Frage, wie es dazu kam, dass er für Portisheads Track »Only You« einen Videoclip produzierte, erläutert Chris Cunningham, was »atmosphärische Signifikanz« näher bedeuten kann.
49 Diederichsen beschreibt diesen Wandel zwar, benennt ihn aber nicht in der von mir gebrauchten Begrifflichkeit. Er spricht stattdessen zum Beispiel davon, das Zitathafte habe 1982 bei Bands wie ABC und Scritti Politti »eine neue Stufe« erreicht, »einen Sound von Zitathaftigkeit, der auf der gekonnten Dezenz und Uneindeutigkeit seiner Anspielungen« beruhte. (Vgl. Diederichsen 1997, S. 45). 50
Vgl. Bonz 1994, 1997.
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»I wanted to do that so badly. […] The track was so cinematic, so visual and so creepysounding. […] [W]hen I was a kid I used to have this recurring dream of walking down the high street of the village I grew up in and not being able to breath. It was like standing on the sea-bed with lead boots on and looking up and seeing the surface of the water forty feet away and feeling really panicked and wanting to get to the top. I’d had it all through my childhood and when I heard that track it made me think of that dream.«51 Im Gegensatz zur diskreten Signifikanz, wie sie im Medium des Sprachlichen besteht, erscheint die atmosphärische Signifikanz in dieser Aussage als in ihrer konkreten Bedeutung ungleich vager und zugleich in ihrer Bedeutsamkeit ungleich existenzieller. Mit der Gleichzeitigkeit von Vagheit und Existenzialität geht einher, dass sich bei der Atmosphäre nicht zwischen Medium und artikuliertem Objekt unterscheiden lässt: Eine Atmosphäre ist beides zugleich. »Atmosphären haben […] als gestimmte Räume etwas quasi Objektives«, heißt es hierzu in den Überlegungen, die Gernot Böhmes zur Ästhetik der Atmosphäre anstellt.52 Die Vermischung zwischen Medium und artikuliertem Objekt ist aber nicht die einzige Vermengung, die das Atmosphärische kennzeichnet. Auch nach Böhme ist Atmosphäre im Vergleich mit den Artikulationen im Medium der Sprache »etwas Unbestimmtes, schwer Sagbares«53. Dies gelte jedoch nicht für ihren »Charakter«: »Unbestimmt sind Atmosphären vor allem in Bezug auf ihren ontologischen Status. Man weiß nicht recht, soll man sie den Objekten oder Umgebungen, von denen sie ausgehen, zuschreiben oder den Subjekten, die sie erfahren. Man weiß auch nicht so recht, wo sie sind. Sie scheinen gewissermaßen nebelhaft den Raum mit einem Gefühlston zu erfüllen.«54 Der Gefühlston – Böhme bezeichnet ihn auch als die »Ekstasen des [atmosphärischen] Dings«55 – verursacht im Individuum etwas, das im Diskurs zum Mimesis-Begriffs als »Überantwortung« bezeichnet wird: Das Individuum wird zum Subjekt der Atmosphäre, indem es von dieser erfasst wird und sich mit ihr vermengt.56 Im Gegensatz zum Bild und zur Sprache handelt es sich bei der Atmosphäre nicht um ein ausbuchstabiertes Medium; die Medialität der Atmosphäre ist derzeit am Entdecktwerden. Als Modell für atmosphärische Medialität kann dabei der Wirklichkeitsbegriff der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) dienen. In seinen Labor- und wissenschaftshistorischen Studien wie auch in den techniksoziologischen, kulturund gesellschaftstheoretischen Untersuchungen präsentiert Latour die Wirklichkeit 51
Cunningham 2003 (DVD).
52
Vgl. Böhme 2001, S. 49.
53
Vgl. Böhme 2006, S. 21.
54
Ebd. 22.
55
Ebd. 33.
56
Zur Mimesis als »Überantwortung« vgl. Gebauer/Wulf 1992, S. 396.
Zeichen, Bilder, Atmosphären
als eine »variable Ontologie«, in der Subjekten wie Objekten – in der Terminologie der ANT werden beide ohne Unterschied als »Aktanten« bezeichnet – eine lediglich »relative Existenz« zukommt.57 Das mehr oder weniger Artikuliertsein der Aktanten ist davon abhängig, wie sehr sie Bestandteil des Netzes d. h. in eine kommunikative Dynamik eingebunden sind. Bei ihr handelt es sich um die »Zirkulation«, die für Latour das Wesen des Sozialen ausmacht.58 Zu zirkulieren bzw. vernetzt zu sein bedeutet hier als Aktant mit spezifischen anderen Aktanten eine »Assoziation« zu bilden, ein »Handlungsprogramm«59, in dessen Rahmen eine diesem entsprechende, spezifische Artikulation des einzelnen Aktanten vorliegt. Verwandelt sich das Programm, oder löst es sich auf, so wandelt sich das gesamte Netz, variiert die Ontologie und damit auch die Existenz, das Artikuliertsein des einzelnen Aktanten. Entsprechend flüchtig sind die Wirklichkeitsartikulationen im Medium des Netzes. Latours Studien beschreiben mit der »Technik« allerdings auch ein der Flüchtigkeit entgegenwirkendes Moment, das zur Stabilisierung des Netzes dient.60 Medientheoretisch ausgedrückt heißt das: Techniken sind Speicher. Hinsichtlich der von mir vorgebrachten Beispiele denke ich hier an meine Portishead-CDs und die DVD mit Cunninghams Video zu »Only You« – als den Stabilisatoren der bei Portishead artikulierten Mods und Rocker, fotografiert von Anita Corbin61 Atmosphäre.
Das Populäre als quasi-universelles Medium Die Beschäftigung mit drei Erscheinungsformen, in denen Pop – verstanden als ein abgesteckter Phänomenbereich innerhalb des Populären im weiteren Sinne – als Kulturmedium für Wirklichkeitsartikulationen dient, ergibt zwei Ergebnisse, die sich zueinander in einem Spannungsverhältnis befinden: Offenbar lässt sich das Populäre zwar durchaus als universelles Medium begreifen, allerdings mit der Einschränkung, dass es das Populäre als ein Medium offensichtlich gar nicht gibt. Wie weit reichend die Unterschiede zwischen den drei beschriebenen Erscheinungsformen popkultureller Medialität – dem Populären als »Bildmedium«, als »Referenzsystem« und als »Atmosphäre« – sind, habe ich gezeigt: (1) Die kippende Bild-Ontologie der Selbstbilder der Vollkommenheit, der Bestätigung des Ideals und der Abwertung von Anderem sowie der im Falle ausbleibender Bestätigung drohenden Auflösung 57
Vgl. Latour 1998, S. 115 ff.
58
Vgl. Latour 2006b.
59
Vgl. Latour 1996.
60
Vgl. Latour 2006a.
61
Anita Corbins Fotografien sind veröffentlicht in McRobbie et al. 1982, S. 112 ff.
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des Ideals in den zerstückelten Körper; (2) Immanenz und Holismus sprachlicher Medialität, wie sie im Populären besonders in Form von Subkulturen vorkommen; die (3) die Flüchtigkeit und punktuelle Intensität atmosphärischer Medialität – die verschiedenen Medien der Wirklichkeitsartikulation sind sowohl im Hinblick auf ihre Artikulationsmodi als auch in der Verfasstheit der von ihnen hervorgebrachten Ontologien deutlich verschieden. Die der Verschiedenheit im Hinblick auf ein Verständnis vom Populären als universellem Medium innewohnende Spannung möchte ich in dem Vorschlag aufheben, das Populäre zwar nicht als universelles, aber doch immerhin als ein »quasi-universelles« Medium spätmoderner Wirklichkeitsartikulation aufzufassen. Folgende drei Argumente sprechen meines Erachtens für ein solches Verständnis des Populären. – Innerhalb der von den verschiedenen popkulturellen Medientypen artikulierten spezifischen Ontologien besteht eine starke Medialität, wie sie die spätmoderne Gesellschaft als solche nicht besitzt. Mit Anderen um ein Ideal zu rivalisieren, sich Wissensgegenstände und Werte zu teilen oder gemeinsam eine Atmosphäre zu erleben – jeweils wird ein Band geknüpft, das die spätmoderne Individualisierung transzendiert. – Zwischen verschiedenen, von einem popkulturellen Medientyp artikulierten Ontologien (etwa verschiedenen Subkulturen), oder auch zwischen Ontologien, die von verschiedenen Medientypen artikuliert werden, können sich einzelne Gegenstände, Signifikanten, Ideen, Bilder, Songs, Tracks, Aktanten etc. übertragen. So kann sich ein Bild in ein sprachliches Zeichen übersetzen, etwa wenn sich ein Star in der Wahrnehmung des Rezipienten von einem Bild der Vollkommenheit in den Repräsentanten spezifischer Werte und Vorstellungen wandelt. Oder ein zunächst als cool erscheinender Song wird zu einem Wissensgegenstand, der sich kontextualisieren und beziehen lässt auf andere Songs, andere Klänge, eine musikalische Tradition etc. Ebenso kann sich ein atmosphärischer Aktant im Rahmen eines Referenzsystems als Wissensgegenstand erweisen. An die Seite der Wahrnehmung der Klangqualität des Theremins tritt dann beispielsweise die Benennung der Ursache dieser Klänge und der Anwendungspraxis des Instruments, ein technisches Wissen über die synthetische Erzeugung der Klänge, ein Wissen über Anwendungskontexte, Musikernamen etc. Die verschiedenen Ontologien und ihre jeweiligen Subjekte werden in diesen Vorgängen in gewisser Weise miteinander über die Grenze hinweg verbunden, die sie trennt. Realistisch betrachtet und auf der Grundlage der hierzu vorliegenden Studien ist davon auszugehen, dass es sich bei der »gewissen Weise« der Übertragung wesentlich um produktive Missverständnisse handelt. – Vor dem Hintergrund einer Auffassung von der Kultur der Spätmoderne als eines Feldes koexistierender symbolischer Ordnungen und Räume im Dazwischen ist noch von einem weiteren Band auszugehen. Wie im Fall der Übertragung vermag es prinzipiell sowohl zwischen verschiedenen Ontologien eines Medientyps wie auch zwischen Ontologien, die in verschiedenen Medien artikuliert sind, zu bestehen. Zustande kommt es in einem Übersetzungsvorgang, wie er bei Blümner
Zeichen, Bilder, Atmosphären
(2001) beschrieben ist: Ein Individuum zirkuliert von einer Ontologie in eine andere. Im Übergang von einer Situierung zur anderen ist auch ein anderes Subjekt entstanden. Aber eben kein völlig anderes: Es ist denkbar, dass das soziale Band, das aus dieser Zirkulation resultiert, die Person sowohl mit dem Kollektiv ihrer aktuellen Wirklichkeitsartikulation verbindet wie auch mit der Ontologie, die in der Vergangenheit ihrer Biografie liegt. Besonders diesen dritten Aspekt eingehend zu erforschen, halte ich für eine zentrale und lohnenswerte Aufgabe zukünftiger Studien im Bereich der Popularkulturforschung. Ob es sich bei den genannten drei Erscheinungsformen quasi-universeller Medialität um ausschließlich popularkulturelle Phänomene handelt, ist freilich fraglich. Das beschriebene extreme Vorkommen eines Nebeneinanders, der Kontiguität verschiedener Medientypen scheint mir jedoch ebenso ein besonderes Kennzeichen des Populären zu sein, wie auch die im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Sphären deutlich größere Häufigkeit, in der diese Medien in der Popularkultur überhaupt auftreten. – Welche gesellschaftliche Sphäre könnte es an Medialität mit dem Populären aufnehmen?
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Denkbilder Eine (pop-) kulturelle Strategie im unternehmerischen Kontext
Martin Kiel
Düllo: Du hast ja eine lange Erfahrung mit dem Einsatz von Bildern bei Vorträgen, Präsentationen und Themeneinführungen. Hat sich daraus so etwas wie ein Bildnutzungskonzept entwickelt? Kiel: Ich glaube, das Denkbild ist immer da, und das leitet dann schon das Konzept, was in der Tat meistens zufällig ist. Ich denke, das Denkbild ist für mich eine Art Reflexionsmaschine, die immer in Krisensituationen eingesetzt wird. Wenn Krise ist, dann ist auch Denkbild. Es macht das Unbestimmbare bestimmbar, dabei kann es sich zufällig bilden oder gezielt erstellt werden. Es ist allerdings nicht so, dass man jetzt in einen Gestaltungs-, Klärungs- oder Managementprozess mit der zwingenden Vorstellung eines Denkbildes reingeht. Bei mir ist das zumindest inhärent, und im Verlauf wird das Denkbild dann als Drittes erstellt – ansonsten würde es für mich zu instrumentalisiert daherkommen. Das heißt, es gibt keinen präskriptiven Akt, durch den eine Lösung herbeigeführt werden muss. Es ist offen und es ist weder für mich noch für die Teilnehmer sofort da. Es ist nicht so, dass ich denke, ich müsste da irgendwie ein Denkbild nutzen. Düllo: Ein Denkbild ist ja im Grunde ein literarischer Typus. Muss ich mir das so vorstellen, dass du diesen literarischen Typus wieder auf eine Bildebene holst? Wir sprechen ja jetzt von Bildern und nicht von literarischen Denkbildern, die es auch sein könnten. Kiel: Die können es auch sein. Es sind Texturen im weitesten Sinne, also auch Mischformen, zum Beispiel im Sinne der Übermalung. Für mich ist Bild auch Bildung, Formung. Vor allem aber etwas, das nicht abgeschlossen ist, wo ein Prozess der Formung startet. Denkbilder sind nichts Statisches, das man irgendwo herholt, es ist vielmehr eine prozessuale Methode. Das Denkbild selbst ist schon Methode. Wenn ich mich bereits in einem Schaffensprozess befinde, dann formt sich das bei mir immer in Art eines Denkbildes. Düllo: Zu diesem prozessualen Aspekt passt auch die Tatsache, dass Denkbilder in ihrer Tradition ja etwas mit Unschärfe zu tun haben. Kannst du dem zustimmen? Ist Unschärfe so etwas wie eine Prozessqualität?
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Kiel: Unschärfe markiert für mich immer eine Krise und benennt etwas vermeintlich Unbenennbares – es hat also immer etwas mit einer textuellen Krise der Sprache zu tun. Denkbild in diesem Sinne ist ein aufklärerischer Akt. Düllo: Es gibt also diese Aufklärungstradition des Denkbildes wie du sagst – aber es gibt ja auch eine romantische Tradition des Denkbildes, welche die Leitcodes etwas verändert hat. Die heißen dann schön/hässlich, interessant/uninteressant und eben nicht wahr/falsch. Ich denke, dieses romantische Erbe ist gerade jetzt besonders anschlussfähig, wenn man es mit Denkbildern zu tun hat, die Paradoxien oder Paradessenzen darstellen, wie sie in Alex Shakars Konsumroman Der letzte Schrei genannt werden1. Das würde auch gut zum Moment der Krise passen? Kiel: Absolut. Ich glaube, dass Denkbilder diesen paradessenziellen Charakter haben. Im ersten Moment erscheinen sie bildhaft, bei näherem Hinsehen nehmen sie dann die Gestalt einer Paradessenz an, sozusagen etwas Ausschließendes einschließen. Diese Unschärfe ist komplex unkomplex – oder was ist das Gegenteil von … Düllo: … einfach? Kiel: Es ist schwierig und einfach. Das versuchen die Denkbilder aufzulösen, auch im Sinne von D´Alembert als eine vage Schattenkarte. Das Denken ist sozusagen eine Karte, aber nicht im Sinne einer gelernten Karte, sondern einer unscharfen Karte zwischen den Linien. Düllo: Es geht also nicht um eine Abbildfunktion, wie man das aus der Werbung kennt. Kiel: Das Denkbild ist die Explosion des Bezeichneten und des Bezeichnenden im Sinne Saussures. Das, was noch nicht bezeichnet ist, wird durch das Denkbild entwickelt. Ich versuche das mal mit Beispielen zu verdeutlichen, die dann doch sehr stark mit der Figur des Dritten zusammenhängen. Davon abgeleitet gibt es immer nur zwei Zustände: (1) Den divergenten Zustand, der sucht, sich verliert, Mannigfaltigkeit produziert und zulässt und (2) den konvergenten Zustand, der zusammenführt, ein Ziel oder eine Aufgabe formuliert, eine Lösung findet. Diese Zustände gebe ich in einen Prozess, dessen Rhythmus aus einer minimalen Konfiguration von konvergent-divergent-konvergent besteht. Dies hat eine starke Verwandtschaft zu Strategie- und Kreativprozessen. Meine Hoffnung ist nun, dass im Prozess etwas aus diesem Material gebaut wird, dass man dann als Denkbild bezeichnet und dass dann auch für andere als Denkbild, Denk-Konfiguration oder Denkmuster verfügbar wird. Düllo: Du arbeitest mit konkreten Bildern? Wie muss ich mir das vorstellen? Kiel: Konkrete Bilder nutze ich lediglich als Geburtshelfer, nicht im Sinne eines Transfervorhabens – eben nur als Impulse für diesen Prozess, und damit sind sie erst mal rein. Das heißt wenn ich ins Museum gehe und mir Laokoon anschaue, dann schaue ich mir das auch im musealen Kontext an und nicht aus einer Manage-
1
Shakar 2002.
Denkbilder
mentperspektive. Die Methode besteht nicht aus dem Transfer, sondern aus der reinen Anschauung – das hört sich jetzt erst mal komisch an. Düllo: Kann ich diese reine Anschauung als eine phänomenologische Methode der Abschattung verstehen? Ich lasse den Kontext jetzt mal raus, sondern es geht – um das mal phänomenologisch platt zu formulieren – um das Wesenhafte der Laokoon-Gruppe. Kiel: Ja, Psychologisierung und Historisierung spielen keine Rolle. Das einzige, was dazu kommen kann, ist dann die Bearbeitung durch mich. Ich mache da dann mein eigenes Museum oder meine eigene Phänomenologie mittels dieses Beispiels, aber eben nicht im Sinne eines Transfers. Düllo: Im didaktischen oder kommunikativen Sinne würde man dennoch sagen, dass diese reine Sicht schon gerahmt ist durch das Setting, also eine bestimmte Perspektive hat. Kiel: Das ist richtig, und das lasse ich auch zu, weil es der aktuelle Kontext ist. Ich lasse nur den nächsten Kontext nicht zu, ich lasse die Instrumentalisierung nicht zu. Düllo: Das Prinzip des Dritten ist ja eine Metapher, die man auch in anderen Bereichen findet – aktuell beispielsweise in einem Themenband zu Jimi Hendrix von Klaus Theweleit2. Dort wird eine an McLuhan angelehnte Soundtheorie formuliert, bei der durch die Improvisation und die Verschaltung von Mensch und Medium so etwas wie ein dritter Körper entsteht. Das findet man auch in der Sprachlichkeit von Hendrix selbst wieder – der dritte Raum, der dritte Körper. Siehst du da Parallelen zu deiner Denkbild-Strategie? Kiel: Ich glaube ja. Es geht mir ja auch immer um eine Person, ein Team, eine Gesellschaft. Also eben nicht um eine Aufstülpung von etwas, sondern um das Dritte, was in der jeweiligen Konstellation eingebracht wird. Das Dritte ist das, was die Gruppe, der Mensch aus dem Konglomerat dieser verschiedenen Sachen macht – durchaus mit Geburtshilfe und Gestaltung meinerseits. Düllo: Alle Komponenten – Gruppe, deine Moderation, das Setting und die Denkbilder – sind also gleichberechtigt an dem Entstehen des Dritten beteiligt. Kiel: Genau, es gibt keine Präferenzsteuerung, sondern es ist rein zufällig – schon fast modal logisch. Auch wenn sich das erst mal sehr abstrakt anhört, zeigt die Praxis, dass gerade diese Prozessualität sehr gut verstanden wird, als ein sehr allgemeines und nicht einengendes Struktogramm mit einer großen Offenheit. Angefüttert wird dieser Prozess durch Denkbilder, die Kontext mitliefern oder nicht mitliefern, vor allem aber erst einmal so stehenbleiben. In dem Gestaltungsprozess schält sich dann ein drittes Denkbild heraus, eine Lösung, beispielsweise in Form einer Managementphilosophie. Es funktioniert nicht nach der Lehre XYZ von BWL Oberpapst Mustermann, sondern es wird eine Mischung sein. 23:44. Es ist etwas Emergentes, mit dem Ziel, am Ende das Eigene, das Dritte beschreiben zu
2
Vgl. Theweleit/Höltschl 2008.
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können. Es ist immer etwas Neues oder nuancenhaft Neues, eventuell auch für jeden in der Gruppe unterschiedlich, was aber hoffentlich jeder für sich beschreiben kann. Düllo: Das Muster ist also die Prozesslogik. Man würde somit sagen: Man braucht einerseits Anschlüsse, also das Eigene, andererseits werden aber diese Anschlüsse radikal überschritten. Diese beiden Momente müssen zusammenkommen, und das hat etwas mit Neugierde und mit neuen Kontexten zu tun. Und das muss auf Kundenseite passieren, ist das so zu verstehen? Kiel: Richtig. Das kann ein sehr schmerzhafter Prozess sein, da gibt es Streitfälle und Störungen. Aber gerade diese Störungen öffnen die Oberfläche und machen das Hacking überhaupt erst möglich. Da kommt es dann zu Ergebnissen, die man in ihrer Radikalität nicht für möglich gehalten hätte. Düllo: Hast du ein Beispiel für ein radikales Ergebnis? Kiel: Zum Beispiel die Entwicklung konsolidierter Kennzahlen. Welche sind wichtig und woher kommen die Zahlen? Es gab starke Amplituden von Nichtverstehen, von Ablehnung des Prozesses, Infragestellung der Sinnhaftigkeit der Auseinandersetzung. Der Prozess hat dann aber eine eigene Automatik entwickelt, die Teilnehmer haben ihre eigenen Gestaltungsräume wahrgenommen, und aus dieser ursprünglichen Unordnung aus Zahlen und Strukturen ist dann etwas entstanden, was alle perfekt fanden. Auf der einen Seite etwas, das perfekt und super ist, auf der anderen Seite etwas total Vorläufiges, und alles dazwischen ließ sich aus diesen beiden Polaritäten ableiten. Das war so radikal für mich, ich hätte mich selber nicht getraut, dieses Denkbild so zu formen – im Sinne dieser Polarität oder Paradessenz, Qualität und Nichtqualität, Komplexität und Einfachheit. Das war ein so starkes Bild, dass alle Teilnehmer wirklich beeindruckt waren. Düllo: Im Sinne eines strategischen Wissensmanagements wäre ein Ziel, die Impliziertheit, die möglicherweise ein Denkbild hat, in eine Expliziertheit zu bringen – diese Dialektik von Implizitem und Explizitem spielt anscheinend immer eine Rolle. Gehst du auch vergleichend vor, also konventionell, als hätte man zwei Denkbilder? Dadurch entsteht ja auch oft eine Spannung. Kiel: Ja, aber ich negiere nicht die Wirklichkeit. Wenn es um betriebswirtschaftliche Fakten geht, dann sage ich nicht, wir gehen ins Museum, sondern ich nehme Denkbilder der Wissenschaft mit rein – aber nicht wie in der Lehre, sondern eher als eine Art Abgleichsmuster. Ich will das Vergleichende jetzt auch gar nicht ausschließen, das gehört absolut dazu, aber ich halte es für falsch, wenn der ganze Prozess aus Vergleich und Transfer besteht. Das wäre nicht meine Methode. Vergleiche sind sehr wohl gestattet im Prozess, aber der ganze Prozess ist kein Vergleich. Düllo: Was für Qualitäten und Eigenschaften müssen deine Bilder jenseits des Denkbildhaften haben? Kiel: Sie haben immer eine ästhetische Qualität, die natürlich subjektiv ist. Manchmal als Sittenbild, wie beispielsweise dieses Bild im Bereich der Biennale, wo verschiedene Menschen versammelt mit ihrem Kaffee in Plastikbechern auf Plastikstühlen sitzen. Das ist für mich eine Marke, wie die Badenden oder die
Denkbilder
Einschiffung nach Kythera oder was auch immer, also ein modernes Sittenbild. Vielleicht ist das jetzt keine primäre ästhetische Qualität, aber eben eine Aussage. Oder die Bilder sind so wie das hier mit dem Keimling (Kiel zeigt auf ein Werbebild), sie haben eine gewisse Opazität. Das korreliert in diesem Fall natürlich mit dem Titel, der quasi die Verortung in einem unverortbaren Bild darstellt. Man weiß auf den ersten Blick gar nicht, worum es da überhaupt geht. Düllo: Wo findest du diese Bilder mit der beschriebenen Qualität? Kiel: Ich bin eigentlich immer mit der Kamera unterwegs. Ich bin leider – oder Gott sei Dank – total visuell geprägt, ich wandere durch die Welt und sammele da Materialien – ähnlich wie in City of Glass von Paul Auster3. Dabei vermeide ich diese mit Rechteproblematiken verminte Welt des Internets oder der Zeitschriften, sondern ich habe eben immer meine eigene Kamera dabei – auf dem Fahrrad, im Museum. Wenn ich schreibe, dann habe ich immer mein Bildarchiv auf, das ist für mich eine Konnotationsmaschine. In iPhoto wird ja witzigerweise nicht nur nach Datum, sondern nach Ereignis sortiert – das ist für mich eine Quelle für alle möglichen Arten von Prozessen. Düllo: Sind diese Fundstücke im freien Raum so etwas wie ein objet trouvé? Ich spitze das noch mal zu: Kracauer hat ja gesagt, der Film wäre so etwas wie die Errettung der äußeren Wirklichkeit4. Sind deine Fundstücke etwas in dieser Richtung? Kiel: Ja, ich würd’s mal Archipele nennen, also Archipele von Themen, die sich ent wickeln. Ich hab jetzt beispielsweise an der Nordsee eine ganze Reihe von verschwindenden Mulden fotografiert, umkreise da ein bestimmtes Phänomen und benenne das dann irgendwie. Ich gehe quasi mit diesen Methodenaugen durch die Welt, alles kann irgendwie aufgeladen werden – was sich mitunter doch als ganz schön belastend herausstellt. Düllo: Das erinnert mich an das punctum von Roland Barthes5 : Es ist also nicht so interessant, die Fundstücke zu kontextualisieren, sondern eher darauf zu achten, wo etwas herausfällt. Auch wenn da natürlich die Kodifizierung eine Rolle spielt, geht es ja erst einmal um diesen Aha-Effekt, der auch was mit Authentizität etwas zu tun hat. Da verdichtet sich etwas, das nicht sofort in einem bekannten Erklärungsmodell aufgeht. Kiel: Absolut – es ist nicht kontextualisiert, es ist immer zuerst ein objet trouvé. Da macht sich im Unbeobachteten etwas deutlich. Ich empfinde diese dann doch sehr zeichenhafte Umwelt teilweise als Belastung. Und dabei handelt es sich nicht um diese postmoderne Referenzspielerei, sondern es ist etwas Neues und Anderes. Für mich ist es natürlich ein Horror, eine Barlach-Minifigur im ZEIT-Shop kaufbar zu haben, und das, was ich tue, ist quasi das genaue Gegenteil oder hat das einmal überschritten. Es ist schon fast Trash, aber mal abgesehen davon, dass ich Barlach 3
Auster 1985.
4
Vgl. Kracauer 2009, S. 389 ff.
5
Vgl. Barthes 2009, S. 52 ff.
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sowieso nicht mag, ist das auch etwas ganz Komisches. Ich widme mich halt der anderen Seite, der markierenden Ästhetisierung von Themen. Letztlich lande ich dann doch wieder bei dem Auffinden von Dingen, die eigentlich dieser Sprachverwirrung zuzuordnen sind. Düllo: Das erinnert ja schon etwas an Benjamin und passt auch gut zu einer Sprachtheorie als Bildtheorie, Denkbildtheorie im Grunde6. Es geht um Spuren, weniger als Spuren legen, eher als Spuren finden. Und es macht ja nur Sinn, von Spuren zu sprechen, wenn Sie erst einmal nicht offensichtlich sind. Der Detektiv entdeckt ja nicht das Offensichtliche, sondern das Versteckte. Kiel: Diese zu entdeckenden Spuren führen dann zu etwas Zukünftigem. Für mich steckt da auch eine Indexikalität dahinter. Ich bilde diese Archipele und dann benenne ich sie. Das findet natürlich jenseits von etymologischen Wörterbüchern oder dem Duden statt, aber durchaus in einem individuell-gesellschaftlichen Prozess, eine Art Stigmatisierung oder Indexikalisierung des Wie der Dinge. Für mich hat das schon einen Grund, wie die Dinge sind. Nicht irgendwas Religiöses, aber etwas Grundhaftes. Düllo: Epiphanische Fund stücke sozusagen, die sich einer neuen Lesart präsentieren. Aber nicht in einem messianischen Sinn. Kiel: Ja, aber vielleicht habe ich auch nur zuviel Handke gelesen, der macht das ja auch.7 Ich habe das zusammen mit Philip Wagemann »akzidentelle Epiphanie« genannt. Düllo: Also bei allem Bescheidenheitszirkus, der ja vorher erst mal an den Tag gelegt wurde in unserem Gespräch: Jetzt ist dann ja schon mit metaphysischem Hardcore gelabelt. Kiel: Stimmt, ja. Es dauert eine Zeit, aber dann wird’s benannt: Dieses schwere Adjektiv und das schwere Substantiv überrätseln das dann in ihrer Kombinatorik. Düllo: Du findest ja nicht nur Bilder, sondern du gestaltest auch selber. Ich denke mal, das findet nicht nur in Publikationen statt, sondern du machst das auch für Veranstaltungen. Kiel: Für mich ist das immer ein innerer Kampf, Text gegen Bild. Also wenn nach der monistischen Auffassung Denken und Sprechen eins sind und das Bild dann eher gestalterisch und formerisch ist, dann hab ich genau diesen Zwist. Manchmal kann ich mich nicht entscheiden, also schreibe ich erst mal einen Essay, etwas Lexikalisches, oder ich fange mit dem Gestalterischen an. Meistens ist zuerst ein Bild da, aus diesem bereits genannten Bildarchiv, es kann aber auch eine schematische Darstellung sein. Und das sind für mich dann natürlich auch wieder Denkbilder, also eine Mischung aus Text und Bild. Übertrieben ausgedrückt ist bei mir erst das T-Shirt da, und dann kommt die Theorie.
6
Vgl. Benjamin 1980 c, S. 156.
7
Vgl. dazu unter anderem Frietsch 1995.
Denkbilder
Düllo: Du würdest also sozusagen erst die Charts oder Folien haben und dann den Vortrag schreiben. Viele gehen ja eher andersrum vor, die haben erst den Volltext und generieren aus den Kernthesen dann die Präsentationscharts. Kiel: Das ist bei mir ähnlich wie in der Musik. Wie entsteht so ein Titel, ist erst der Text da oder die Melodie, oder eben beides? Das ist bei mir ein paralleler Prozess, ich gucke auf die Textpassagen, dann wieder auf die Bildlichkeit und so weiter. Aber meistens ist es dann tatsächlich das Bild, das die Struktur ergibt, von dem ich dann das Archipel ausweite, die Formation ergänze und noch andere Sachen dazunehme. Aber ich gehe erst zur Tafel und schreib’ die Formel auf, bevor ich sie begründe. Düllo: Text-Bild Relationen haben ja auch was mit Geschichten zu tun. Texte sind nicht nur Argumentation, sondern in Ihnen stecken auch Erzählungen. Auch die Bilder haben immer ein immanentes Vorher und Nachher. In den Bildwissenschaften gibt es ja einen mächtigen Strang, der versucht Text und Bild eher abzukoppeln und eine reine Bildlichkeit hervorzuheben gegenüber einer Tradition, in der man die Text referenz hinter dem Bild gesucht hat. Wie verstehst du das Verhältnis von Narration und Bild? Gibt es da produktive Bezüglichkeiten, ist eine Text-Bild-Beziehung eine doppelte Narration? Kiel: Für mich haben Text und Bild die gleiche Valenz. Es ist jetzt nicht so, dass das Bild mehrschichtiger ist, mehr verborgen ist oder etwas in der Art. Für mich stehen Bild und Text in einer produktiven Dialektik, die ich immer als Synthese nutze. Ich bin ja kein Künstler, ich muss ja auch Übersetzungen Eschschloraque: Einer von vielen verborgenen Clubs in Berlin liefern. Im privaten Bereich ist für mich ein Bild aber durchaus zu entkoppeln, das steht dann für sich. Aber auch sonst stehen Bild und Text nicht in dem Verhältnis einer doppelten Narration, die sind also auch eher ent- als gekoppelt, wobei das natürlich im Auge des Betrachters liegt.
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Düllo: In Anschluss an Aby Warburg kann man ja von einer bildlichen Narrativität sprechen: In Bildern stecken Episoden, Anekdoten mit einer kommunikativen und sozialen Relevanz. Warburg spricht von wilden Energien.8 Kiel: Das ist bei mir absolut inhärent, als Kind der Postmoderne hab ich den entropischen Charakter des Bildes oder der Bildlichkeit nachhaltig verdaut. Düllo: Siegfried J. Schmidt hat in einer kommunikations-systemtheoretischen Perspektive gesagt, die Funktion von Geschichten ist eigentlich, dass sie etwas unterbrechen, dass sie Stopp sagen. Und durch diesen Halt kann man dann neue Kopplungen anschließen – oder wieder andere Geschichten und Bilder.9 Wäre das eventuell eine prozesshafte Auffassung, die du strategisch vertrittst? Man tritt aus einem Fluss aus, aber dieses Austreten ist dann wieder prozesshaft. Die Fund stücke geben einem den Halt. Kiel: Ja, allerdings ist dieses Stoppen beim Text anders, den muss ich sozusagen dann wieder von vorne lesen. Wenn ich den weiterlese, hat das tendenziell eine andere Qualität als beim Bild. Schmidt ist ja auch Künstler, aber er schreibt besser als er malt. Ich denke aber, dass er da schon recht hat mit seiner Theorie der Unterbrechung. Es geht bei mir ja auch nicht darum, dass die Denkbilder sofort transferiert werden, sondern eben auch darum, dass die Leute erst mal gar nichts damit anfangen können. Dieses sofortige Ergebnis ist übrigens ein Joch, wenn es darum ginge, bräuchte ich gar nicht erst anzufangen. Düllo: Würdest du die These vom Bildanalphabetismus unterstützen, deckt sich das mit deinen Beobachtungen? Kiel: Das kann ich voll und ganz unterstützen. Es gibt da eine Widerläufigkeit: Zum einen spricht man ja vom Bilderüberfluss, aber das geht eben einher mit einer Analphabetisierung im Bilderlesen. Es werden ja tatsächlich immer mehr Bilder produziert, aber das ist auch ein großer Vorteil. Die vermehrte Bildproduktion macht Diktaturen unmöglich, denn die funktionieren ja auch immer ästhetisch, über Bilder und Bilderverbot. Diese Möglichkeit des Geheimwissens wird ja zunehmend unmöglich. Deswegen ist das Denkbild für mich nicht lediglich eine Reflektionsmaschine, sondern auch wichtig für die Demokratie, für die Hinterfragung der Inszenierung von Macht. Wir brauchen aber trotzdem auf einer ästhetischen Ebene – im Sinne von Wahrnehmung, nicht in einem künstlerischen Sinn – eine neue Schule für das Herstellen einer Dialektik durch Bilder. Es gibt Grundlagen dafür, die aber keinen Spaß machen – und ich gebrauche jetzt mal bewusst das Wort Spaß. BPMN, Business Process Modeling Notation, beispielsweise, das ist eine Nomenklatur, wenn es um Prozesse geht. Aber es geht auch viel genereller um das Herstellen von Bildern. Es ist erstaunlich, wie selten jemand aufsteht, einen Stift in die Hand nimmt und versucht die Sache zu strukturieren. 8
Vgl. Raulff 2003.
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Vgl. Schmidt 2003.
Denkbilder
Düllo: Bourdieu spricht in seinem Buch Die feinen Unterschiede ja viel von Essen und Kleidung, aber das erste, was er im Habituskapitel benennt, ist der Schreibstil, wo natürlich auch die Stifte dranhängen, die man benutzt.10 Kiel: In amerikanischen Restaurants gibt es ja oft Mal-Sets für Kinder, die bekommen dann Stifte und Papier. Leider kenne ich fast keine Eltern, die ihren Kindern Stifte und Papier mitnehmen, dabei ist malen ja fast ein Urbedürfnis. Das ist Kontakt und Nachahmungszauber zugleich. Im Malen übe ich Macht aus, um mit Eco zu sprechen. In den Unternehmen sieht man dann, dass die Zeichnungen vor allem einen technischen Charakter haben, eckig, rechtwinklig, keine Schleifen oder Diagonalen. Düllo: Du sagtest bereits, dass du schon immer eher visuell bist, dass zuerst das Bild kommt und dann der Text. Woher kommt diese bildanalytische Kompetenz bei dir und wie optimierst du sie? Kiel: Eine der Grundlagen dafür waren bestimmt mein Interesse an Kunst und natürlich auch mein Studium der Kunstgeschichte. Somit gehöre ich da einer bestimmten Schule von Bilderlesern an. Aber ich nutze auch elektronische Medien so wie sie gegeben sind. Das heißt, ich nehme die vorgegebene Ästhetik, ohne sie durch irgendwelche Effekte zu verfremden, sondern übersteigere oder vergrößere die vorhandene Technik. Und natürlich lese ich Magazine und besuche Galerien, Museen. Dabei geht es aber nicht um etwas Hobbyistisches, nicht um Selbstverwirklichung oder Ornamentales, auch wenn das natürlich vorkommen kann. Düllo: Gibt es ein starkes Bild aus deiner Jugend, an das du dich erinnerst, was auch für deine Visualität und Biografie typisch wäre? Kiel: Mein erstes Wort war anscheinend »Baum«. Das habe ich erst vor Kurzem erfahren. Das ist, glaube ich, auch mein Standardmotiv, das kann ich auch gut zeichnen, das verfolgt mich. Ist jetzt eher trivial, aber ich wollte Förster werden und habe damals auch einiges gelernt. Ich besuche eigentlich jährlich einen Wald von mehreren Hektar, den ich vor 25 Jahren bearbeitet, ausgedünnt habe. Ich kann heute noch sehen, welche Entscheidungen ich damals getroffen habe bei diesem strategischen Waldeinsatz. Düllo: Gab es überraschende Wirkungen deiner Denkbilder, etwas Besonderes, was dir ad hoc einfällt? Kiel: Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich bin jedes Mal überrascht, wenn es funktioniert, denn ich bemühe mich natürlich auch je nach Kontext immer das einzusetzen, was nicht einfach ist. Und dann denke ich: Mein Gott, das funktioniert ja wirklich. Düllo: Dieses Konvergent-Irritierende ist ja nur am Anfang, am Ende kommt immer irgendetwas raus. Ich mache diese Erfahrung auch mit Schülern und Studenten, auch wenn erst mal nichts Kompetentes gesagt wird. Die Evidenz des Bildes, dieses Unmittelbare, das so groß vor einem steht, wenn sich das fängt, dann kommt ei10
Vgl. Bourdieu 1984, S. 277 ff.
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Mar tin Kiel
gentlich immer was bei rum. Kann es so etwas wie einen Flop dann überhaupt geben? Kiel: Na klar, es gibt immer Bilder, die zurückgestellt werden, aber ich mache 100 Denkbilder pro Woche, von denen vielleicht zehn durchkommen. Wenn man den Rest als Flop betrachten möchte, ist das o.k., aber für mich gehört das dazu. Düllo: Was ist für dich aktuell ein wichtiges Bild? Kiel: Das letzte Bild von David11, wo Mars verführt wird. Das hängt momentan in Brüssel und fasziniert mich sehr, das ist sehr aufgeladen momentan. Düllo: Du bist drei Wochen alleine, was würdest du mitnehmen? Musik, Bilder oder Texte? Kiel: Ein Buch ohne Text, den schreibe ich selbst – also brauche ich Papier und Stift. Das Gespräch führte Thomas Düllo im Dezember 2008.
11 Jaques-Louis David: Mars von Venus und den Grazien entwaffnet. In: Musées royaux des BeauxArts de Belgique. Brüssel.
Alright or Not? The Kids Have Grown Up Reflexion zwischen Pop, Journalismus und Wissenschaft in Spex
Christoph Jacke
Die Jungschose: Auf die Frage einer guten Freundin nach einem Thema für ihre Magisterarbeit in Kommunikationswissenschaft schrieb nach einer Lesung der Literat, Autor, DJ, Musiker und präzise Popbeobachter Thomas Meinecke vor einigen Jahren in ihre Ausgabe von Tomboy: »Das Ausmaß einer Plattensammlung als Indikator der Einsamkeit. Thomas«1
Pop ist tot – doch seine Reflexion lebt. Oder umgekehrt? Lebt Pop munter weiter, während seine Reflexion verschwindet? Werfen wir ein Auge auf sie beide, damit sie nicht zum Mythos werden. Im Moment des vermeintlichen Verschwindens der vorrangigen Bedeutung von Pop im Sinne von Popmusik für junge Menschen scheint es angebracht, Reflexionen darauf vorläufig abschließend zu reflektieren. Und was wäre angebrachter, als diese Blicke in Zeiten verschwindender Musikmagazine2 auf einen der langjährigen Opinion-Leader der Popmusikpresse zu werfen, das ehemals Kölner (erst Musik zur Zeit, dann nur Spex, dann Das Magazin für Popkultur) und seit 2007 Berliner Magazin für Popkultur, Spex. Dazu soll ein kurzer Abriss zur Geschichte der Spex gegeben werden, an den sich ein genauerer Blick auf die neue, Berliner Spex anschließt. Eine Fokussierung auf die Berliner Spex vor dem Hintergrund von mehr als 25 Jahren eigener Spex-Rezeption des Verfassers und der Diskussionen um dieses Popkultur-Magazin mit Schwerpunkt Popmusik soll einige Entwicklungen herausarbeiten, die offensichtlich mit Veränderungen sowohl der Medien als auch der Popmusik zusammenhängen und die als prototypisch für den Wandel in den Musikindustrien sowie in den Popmusikjournalismen und -wissenschaften in Deutschland gelesen werden können. Die 1
Thomas Meinecke am 16.11.2004.
2
Vgl. Hoffmann 2009.
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eigenen langjährigen Beobachtungen werden dabei aktuell und behutsam empirisch unterfüttert durch kurze Experten-Interviews mit Akteuren und Wegbegleitern von Spex aus allen Ebenen des massenkommunikativen Vermittlungsprozesses – also aus Produktion, Distribution, Rezeption und Weiterverarbeitung von Popmusik und Texten über Popmusik – sowie durch eine Synopse der ersten zwölf Ausgaben der neuen, Berliner Spex.3 Dabei läuft gewissermaßen unterhalb der oberflächlichen Beobachtung der Diskurse in und um Spex die grundlegende Ebene der Beobachtung von popgesellschaftlichen Veränderungen als Seismographen für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen. Wir lesen also die Texte in und um Spex, um etwas über die journalistischen Herangehensweisen an unsere Gesellschaft durch Pop zu lernen und Bezüge zu umfassenderen Entwicklungen herzustellen, so wie es vor allem der bis dato immer noch bekannteste und umstrittenste Autor und Redakteur von Spex, Diedrich Diederichsen, seit jeher und mittlerweile nur noch selten in Spex getan hat und tut.4 Deswegen wurde eine Reihe von Artikel-Titeln von Diederichsen in und außerhalb der Spex5 die sich an den Song »The Kids Are Alright« der britischen Rockband The Who von 1965 (Album: My Generation, 1965, Brunswick) anlehnen, auch zum Aufhänger des Titels dieses vorliegenden Artikels: Immer wieder ging es dem Pop- und Kunsttheoretiker um die Frage, ob die Kids, die Kinder der Popkultur nach dem Zweiten Weltkrieg, in Ordnung sind. Und in Ordnung sein, heißt für Diederichsen, Jahrgang 1957, sich zu positionieren gegen die da oben, »nicht denen ihr Spiel zu spielen, […] die Einführung von Historizität als Waffe in den Hipster-Kosmos, und zwar als Waffe unserer Generation gegen die vorangegangene«6, gegen die Eltern, gegen ein Establishment, gegen einen saturierten Mainstream, um in diesem Dagegensein etwas Neues, ein eigenes Dafürsein zu entwickeln.7 Diese Kids, die Popmusik angeeignet, verhandelt und kritisiert haben, sind mittlerweile längst erwachsen und, wie im Falle Diederichsens und so manch anderer Autorin oder anderem Autor der Spex, in Wissenschaft, Literatur und Kunst angekommen. Denken wir nur an Götz Alsmann (bei Spex Spex-Cover Heft 1 (1980): Jah Wobble 3 Um zu zeigen, wie überraschend reichhaltig die Literatur zu Pop, Journalismus und Wissenschaft bereits vorhanden ist, siehe ausführlich Jacke 2004, 2009a. 4
Vgl. zu Diederichsens Texten und Aktivitäten nach Spex: Nedo 2007 und Diederichsen 2008a.
5
Vgl. Diederichsen 1992, 1993a, 1993b, 1994, 2002, 2004.
6
Diederichsen 1985, S. 18. Hervorhebung im Original.
7 Zu einer genaueren Analyse von Verständnissen von Sub- und Jugendkultur bei Diederichsen und anderen vgl. Jacke 2004.
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als »Prof. Bop«), Marcel Beyer, Clara Drechsler, Rainald Goetz, Christoph Gurk, Thomas Meinecke oder Jutta Koether – freilich, ohne der Popmusikreflexion gänzlich abgeschworen zu haben. Sind die Kids also keine Kids mehr? Sind die erwachsenen Kids »alright«? Und sind die nachwachsenden Kids »alright«?
Second-Order-Opinion-Leader: Make Histories, Not Arts (So Far) Kultürlich ist Pop überhaupt nicht tot. Pop entwickelt sich weiter, aus- und entdifferenziert sich lediglich immer stärker. Genau so, wie sich seine Beobachter verändern und wie immer wieder neue Beobachter nachwachsen. In dem Moment also, in dem die Rolle der Popmusik sowohl für Freizeit, Industrie als auch für die Freizeitindustrie an Bedeutung verliert (Stichwort: Krise der Musikindustrie, Kriminalisierung der Kunden, Wandel des Mediengebrauchs, Digital Natives etc.), da explodiert förmlich der Sektor der Computerspielindustrie, und in deutschen Universitätslanden werden sogar Professuren dafür ausgeschrieben. Gleichzeitig verschwindet weder die Popmusik noch ihre Rezeption noch ihre Reflexion. Ganz im Gegenteil, auch letztere verwandelt sich nur, sucht sich neue Wege (zum Beispiel in Computerspielen) und ist längst aus dem Entweder des distanzlosen Fan-Seins und dem Oder des außenstehenden Er- bzw. Entwachsenentums geflossen. Festzuhalten ist als Ausgangsposition: Popmusik ist und bleibt offensichtlich ein Feld mit genügend Komplexität und Reibung, um mehr als nur angepriesen oder verurteilt zu werden.8 Dass es so weit gekommen ist, liegt zu einem großen Anteil an einer Entwicklung aus der Popmusik heraus und weniger daran, dass die Industrie das Thema intellektuell gefördert oder die Universitäten und Hochschulen dieses programmatisch gefordert hätten. Nein, Popmusik hat sich ihren Weg selbst geebnet, in dem sie sich ihre eigenen professionalisierten Beobachter und Thematisierer, die Journalisten, selbst ausgebildet hat. Diedrich Diederichsen, Clara Drechsler, Tom Holert, Sascha Kösch und viele nach ihnen haben eben gerade keinen feierabendlichen Crash-Kurs »Popmusikjournalismus«9 besucht, um sich ein diesbezügliches Standbein aufzubauen, sondern sie haben Popmusik und deren Rezeption sowie Reflexion gelebt10:
8 Vgl. zur Digitalisierung von Popmusik Jacke 2009a, S. 73–81; vgl. zur Historisierung, zum Erinnern und Vergessen von Popmusik und -kultur Meinecke/Jacke 2008, Jacke/Zierold 2008 a, Jacke/ Zierold 2009. 9 Wobei sich der Musikjournalist und Literat Wolfgang Welt genau dieses, in einem seiner Roma ne sicherlich nicht ganz unironisch gemeint, gewünscht hätte: »Warum gab es keinen Studiengang Musikjournalismus, auch wenn ich wenig Ahnung hatte. Aber das hätte mir wenigstens Spaß gemacht, mehr als dieses ewige Als-ob.« (Welt 2009, S. 51). 10
Vgl. Terkessidis 2006.
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»Kritiker sind professionelle Rezipienten. Wenn sie das Pop-Kunstwerk angemessen beschreiben und bewerten wollen, müssen sie die Rezeption mitbewerten. Sie sollten also heraustreten aus dem Prozess und schauen, wie er von außen aussieht. Zugleich sind sie aber Teil der Rezeption, ja sie leben in dem Glauben, mit ihren Rezeptionserlebnissen beispielhaft voranzugehen. All die Prosaiker, die sich immer beschweren, dass wir Pop-Musik-Kritiker zu viel von uns erzählen und zu wenig von den Bands, übersehen in ihrem trüben Bedürfnis, über Produkte informiert zu werden – ›lohnt sich der Kauf?‹ –, dass wir ihnen nur an unserem lebenden Beispiel vorführen, dass es an ihnen liegt, ob der Kauf lohnt.«11 Zum anderen haben sie sich nicht gescheut, philosophische und soziologische Lektüren in diese, ihre Popwelt einzubauen. Im Grunde waren die frühen Autoren der Spex gewissermaßen Fanzine-Betreiber im zweifachen Sinn: Sie haben erstens über die Musik-Acts geschrieben, die ihnen zusagten und die sicherlich nicht immer middle-of-the-road waren, wobei das selten verkrampft dogmatisch schien. Sie haben zweitens keine Angst gehabt, ihre Erfahrungen mit von ihnen goutierten Denkern wie Jean Baudrillard, Judith Butler, Simon Frith, Guy Debord, Niklas Luhmann oder Slavoj Žižek mit Pop zu koppeln, sofern diese das nicht schon selbst getan hatten.12 Eine derartige Verarbeitung zwischen Pop-Theorie und Theorie-Pop fehlt dem deutschen Musikjournalismus heute sehr, wie es auch Mercedes Bunz noch vor einiger Zeit in der De:Bug beklagte: »Heutzutage taucht Theorie, auch die französische, immer weniger im Popdiskurs auf und befindet sich damit fest in der Hand der Gelehrten. Schade eigentlich.«13 Damit sind wir vom Ende des Pops am Anfang der journalistischen Popreflexion in Deutschland jenseits der selbstgestrickten Fanzines auf der einen und puren Be-Werbungen auf der anderen Seite angelangt, beim Popjournalismus der Spex seit Mitte der Achtziger, wie sie der Verfasser dieser Zeilen erlebt hat. Wikipedia14 übrigens nennt die Jahre von 1980 bis 1982 »Gründungsphase«, diejenigen von 1983 bis ca. 1992 »Klassische Phase«, 1993 bis 1999 »Cultural Studies-Phase« und die ab 2000, nach Spex-Cover Heft 119 (1990): dem Verkauf an den Münchner Verlag Piranha Rave-o-lution 11
Diederichsen 2005, S. 14.
12
Vgl. zur Geschichte und zu Schreibweisen von Spex Klütz 2008 und Wittenberg 2005.
13
Bunz 2006, S. 74.
14
Wikipedia-Artikel: Spex. [http://de.wikipedia.org/wiki/Spex_(Zeitschrift), 23.01.2009].
Alright or Not? The Kids Have Grown Up
(unter anderem die Popmusikmagazine Juice, Riddim, Groove sowie die Point-ofSale-Titel Piranha in Kooperation mit Saturn und King in Kooperation mit Burger King), die »Piranha-Media-Phase«, wobei hier m. E. nochmals zwischen der »Kölner Piranha-Phase« 2000–2007 und der »Berliner Piranha-Phase« mit dem Neustart der zweimonatigen Ausgaben ab Heft 307 (März/April 2007) unterschieden werden sollte. Letztere nennen wir die »Berliner Republik-Phase«.15 Die Frühphase um die Gründerväter und -mütter soll hier keineswegs abgewertet werden, sie wurde nur eben nicht zeitnah wahrgenommen. Zudem waren es für Pop-Interessierte meiner Generation, Jahrgang 1968, vorrangig Namen wie Diedrich Diederichsen, Rainald Goetz, Clara Drechsler oder auch später Christoph Gurk, Hans Nieswandt und Mark Terkessidis, die nicht nur den eigenen Geschmack mitprägten, sondern es vielmehr überhaupt erst ermöglichten, wie es der Musikjournalist und Kulturwissenschaftler Jochen Bonz, Jahrgang 1969, beschreibt, »[d]ie Darstellung sehr zeitgenössischer Phänomene (Musik) mit einer sehr lebendigen, dringlichen oder eben auch sehr reflektierten Darstellung zu verbinden.«16 Diese Mischung aus Parteilichkeit und Pop-Wissen war zu jener Zeit sehr stark von einem gewissen Nerdism gerahmt, der aber kaum interessierte Lesende ausgrenzen, sondern eher provozieren sollte. Denn diejenigen, die hätten ausgeschlossen werden können, waren dies bereits freiwillig durch Desinteresse an den Schreibweisen und Themen der Kölner Zeitschrift. Sie hatten in der Regel Spex ehedem nicht angerührt, so sind sich die meisten der Befragten einig. Inklusion und Exklusion spielten bei der Spex offensichtlich schon immer eine große Rolle, genauso wie sie es für die Rezeption und Nutzung von Popmusik 15 Dazu übergreifend analysiert Jochen Bonz (2008a, 2008b) ausführlich die »Ära Nieswandt« (1991–1993), während Ralf Hinz (1998, S. 219–268) in die Phasen »Musik nach Pop: 1983 bis 1985«, »Erkundungen neuer Richtungen: 1986 bis 1990«, »Streben nach Verbindlichkeit unter Bedingungen stilistischer Vielfalt: 1990 bis 1995« und »Anmerkungen zum neuesten Pop-Diskurs in Spex« unterscheidet. Tim Klütz (2008) wiederum teilt die Geschichte von Spex in die Vorgeschichte um Sounds und die Phasen »SPEX – Die Anfänge (1980–1982)«, »Jugendjahre (1983–1985)«, »SPEXJahre (1985–1992)«, »Die Pop-Uni-Jahre (1992–2000)« sowie »Die prekären Jahre (2000–2006)« ein. Auch die Spex-Geschichtsschreibung steht offensichtlich noch ganz am Anfang. 16 Alle nicht weiter gekennzeichneten Zitate oder Umschreibungen entstammen Expertenbefragungen, die für diesen Beitrag in persönlichen Gesprächen bzw. in E-Mails im September 2007 bzw. im Januar 2009 durchgeführt wurden. Anhand von Leitfaden-Interviews wurde nach Stellenwert, Verdienst und Manko von Spex gefragt: Michael Ahlers (Popmusikpädagoge, Universität Paderborn), Jochen Bonz (Popkulturtheoretiker, Popjournalist), Martin Büsser (Popjournalist, Literaturwissenschaftler, Mitherausgeber der Zeitschriften-Reihe Testcard), Mercedes Bunz (Kunsttheoretikerin, Popjournalistin, Chefredakteurin des Tagesspiegel Online, langjährige Mitherausgeberin der De:Bug), Diedrich Diederichsen (ehemaliger Redakteur Sounds und Spex, Popjournalist, Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste Wien), Dietrich Helms (Professor für historische Musik wissenschaft, Universität Osnabrück), HansOtto Hügel (Professor für Populäre Kultur, Universität Hildesheim, Kurator), Olaf Karnik (Journalist, Kurator, langjähriger Autor für Spex, Mitarbeiter Populäre Musik und Medien, Universität Paderborn), Thomas Meinecke (Literat, Autor, DJ und Musiker), Hans Nieswandt (DJ, Autor, ehemaliger Chef redakteur Spex), Rembert Stiewe (Label mitarbeiter Glitterhouse Records, Popjournalist, ehemaliger Spex-Autor), Mark Terkessidis (Psychologe, Kulturtheoretiker, ehema liger Autor Spex), Michael Rappe (Professor für Theorie der Populären Musik, Hochschule für Musik Köln), Thomas Venker (Chefredakteur intro, Autor, Popjournalist). Die vollständigen Interviews können beim Verfasser eingesehen werden. Ich danke Olaf Karnik für sein kritisches Gegenlesen.
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taten. In den Worten Martin Büssers: »Pop wurde nun nicht mehr als politik- und gesellschaftsfreier Raum behandelt, sondern als Ausdruck gesellschaftlicher Ausgrenzungs-, Transformations- oder Integrations-Prozesse. Wer schließt wen aus, wer lässt wen rein? Es ging nicht mehr um klassisches Fantum, sondern um den (nicht immer, aber oft gelungenen) Versuch, Pop die eigene politische Weltsicht einzuschreiben[.]« Wenn etwa Mark Terkessidis (2006) in seinem Beitrag über Cultural Studies in dem medienkulturwissenschaftlichen Sammelband Kulturschutt über das Gelächter in der Spex-Redaktion der frühen Neunziger angesichts eines drögen, dreibändigen Werks zur Rockmusik vom bekannten Medienwissenschaftler »Soundso« von der Universität Lüneburg schreibt und damit offensichtlich Werner Faulstich kritisiert, dann ist das zunächst ungeniert und angriffslustig. Wenn man sich aber genauer anschaut, dass es Terkessidis und vielen anderen Spex-Autoren um das beschreibende Leben oder lebendige Beschreiben von Popmusik geht, wirkt sein harter Vorwurf gegenüber alternden Wissenschaftlern gerechtfertigt, die sich schmetterlingssammlerartig und somit als Hobby der Rockmusik widmen. Autoren wie Diederichsen oder Terkessidis hingegen ging es immer um das Dabeisein, und zwar unaufgeregt und dennoch politisch und im Extrem dagegen. Kerstin Grether beschreibt diesen fundamentalen Gestus eines Popmusikjournalismus im Sinne von Spex: »Schreiben über Pop bedeutet sich zu verwickeln.«17 Und dieses Verwickeln kann sogar zu einer Last werden, wie es Diederichsen rückblickend und im Übergang seiner eigenen Re-Fokussierung von Popmusik auf Kunst18 skizziert: »Pop-Musik-Kritiker haben ein Problem, das andere professionelle Chronisten von Kunst und Kultur nur in Ausnahmefällen kennen: Es reicht nicht, dass sie beobachten und beurteilen, sie müssen bezeugen. Das Pop-Musik-Kunstwerk ist erst komplett mit einer bestimmten qualifizierten sozialen Rezeption.«19 Das oft von Kritikern benutzte Argument gegen dieserart Verwickeltsein, dass ja auch Ärzte, die keinen Herzinfarkt hatten, Patienten mit selbigem ausgezeichnet behandeln könnten, übersieht, im genannten Verständnis von Spex, dass der Patient Pop verstanden werden muss, um nicht falsch medikamentiert zu werden – und dass auch diese Medikamente selbst verstanden werden müssen.20 Hans-Otto Hügel lobt daher an den fundierten Schreibweisen von
17
Grether 2007 b, S. 10.
18 »Aber es fällt doch auf, dass Schreiben über Pop-Musik so oft beim Schreiben über die Künste und die Politik landet, so wie auch ein wichtiger Teil der Pop-Musik selbst früher oder später Kunst wird (oder zumindest so rezipiert und abgeheftet).« (Diederichsen 2005, S. 11). 19
Diederichsen 2005, S. 13.
20 Zu der ganz besonderen Beobachtung von Pop in Spex wurde schon vieles geschrieben und gesagt (vgl. Gebhardt 2001, Hinz 1998, 2003, Klütz 2008, Wittenberg 2005). Hängen geblieben sind die Pole: einerseits Anerkennung des ausgesprochenen Expertentums und Zeitgeistgefühls in Sachen Popmusik und später auch Film, Kunst und Mode. Anderseits wird sich gerne amüsiert über dieses Fantum in ständiger Verbindung mit einem linken, popaufklärerischen Gestus und seinen Modifikationen; auch das begleitet Spex von Anfang an – etwa versiert bei Harun Maye in Ästhetik & Kommunikation (2003) und in Texte zur Kunst (2004) und oberflächlicher bei Mark Siemons im Kursbuch (2000), Rudolf Maresch in der Netzzeitschrift Telepolis (2004) oder Carsten Rohde in Ästhetik & Kommunikation (2004).
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Spex deren »Begründung des ästhetischen Urteils und Erläuterung der Ästhetik im Zusammenhang von Kulturgeschichte der Gegenwart«. Zu dieser Rezeption und Beurteilung zählte das auf den Feldern der Popmusikbeobachtung bereits erwähnte Dagegensein, welches die Kids eben »alright« machte und sich im Sinne von Diederichsens »Second Order Hipness«21 immer weiter ausdifferenzierte, da es selbst wiederum oftmals – in Musik wie auch Journalismus – kooptiert wurde. Tom Holert, ebenfalls ehemaliger Autor für Spex und Kunsttheoretiker, schreibt kritisch zur heutigen Möglichkeit von Pop, im Minderheitlichwerden Auswege zu finden: »Heute sind die Intensitäten der Überschreitung, des Anstößigen und anderer Normverletzungen entscheidende Faktoren einer kapitalistischen Ökonomie der Affekte und Aufmerksamkeiten. Man findet den Zugang zu ihnen auf den Märkten des Ereignisses. Und die drei Buchstaben Pop dienen als Wegweiser zu den Orten des Konsums von Intensitäten und Differenzen[.]«22 Und weiter: »Widerspruchsgeist und Widerständigkeit, die man mit Pop assoziiert, werden nostalgisch erinnert und kommerzialisiert, ohne dass der Skandal, mit Pop Kultur und/oder Politik zu machen, für die kritische Beobachtung noch ein Problem darstellen würde.«23 Wie nun können wir die Herangehens- und Schreibweisen von Spex an Popmusik genauer beschreiben und analysieren?
Journalism Meets Literature Meets Popmusic: Spex und Journalismus Jenseits und doch auch aus einer »Mainstream-Journalistik«24 heraus lassen sich die komplexen Kontexte von Popmusikjournalismus analysieren. Hierbei helfen sowohl die systemtheoretisch orientierten, kontextualisierenden Modelle von Siegfried Weischenberg25 als auch die Journalistik und Cultural Studies verbindenden Vorschläge von Rudi Renger26. So kann es, Rengers Meinung nach, gelingen, die Bedeutungsverhandlungen zwischen Produzenten, Medienaussagen und Rezipienten an der »Schnittstelle Programme/Publikum«27 zu erfassen und kommunikator- und medienorientierte Ansätze durch system-, diskurs-, publikums- und unterhaltungsorientierte sowie textanalytische Ansätze zu verbinden.28 Damit möchte Renger zudem weg von linearen Modellen des Journalismus hin zu einem zirkulären Modell 21
Diederichsen 1985, S. 17–19.
22
Holert 2007, S. 169.
23
Ebd., S. 170.
24
Renger 2002, S. 485.
25
Vgl. Weischenberg 1992, 1994, 1995.
26
Vgl. Renger 2000b, 2002.
27
Renger 2000a, S. 226.
28
Vgl. Renger 2000b, S. 44–473.
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von kulturorientiertem Journalismus als Ganzheit, in dem sowohl wissenschaftliche Reflexion als auch journalistische Praxis Berücksichtigung finden.29 Sind die Ränder eines Bereichs Journalismus mittlerweile als aufgeweicht zu bezeichnen, so dürfte eine Betrachtung von Pop(musik)journalismus schnell klarmachen, dass dieser Sub-Bereich noch weitaus diffuser und unübersichtlicher wirkt.30 Dass dies aber ein entscheidendes Kriterium dieses Bereichs ist, für eine gewisse Produktivität sorgt und erst später bis in den Nachrichtenjournalismus reichende Aufweichungen charakteristisch vorexerziert, wurde speziell in Journalismus erforschenden Kreisen bisher zu wenig beachtet. Erst jüngst hat Weischenberg (2007), freilich aus einer auf Nachrichtenjournalismus konzentrierten Perspektive, etwa ein süffisantes Plädoyer gegen die (theoretisierende) Vermengung von Journalismus und Unterhaltung gehalten, welches sich systemtheoretisch gegen eher an den Cultural Studies orientierte Beobachtungen wie die von Margreth Lünenborg (2007) stellt, die sowohl Journalismus als Unterhaltung als auch Unterhaltung als Journalismus skizziert und somit einen wichtigen Schritt in Richtung der Analyse von Pop(musik)journalismus als Mischform aus Information und Unterhaltung, aus Journalismus und Literatur absolviert.31 Der Germanist und Mediendidaktiker Dirk Frank konstatiert: »Popjournalistische Texte sind auch vom Zweifel am Informationsjournalismus und dessen Anspruch, objektiv und neutral Wirklichkeit wiedergeben zu können, geprägt«32. Die großen Auflösungen von Genre-Grenzen und Popularisierungen des Journalismus werden im Sub-Bereich des Pop(musik) journalismus geradezu täglich exemplarisch vorgeführt. Dabei folgt dieser sicherlich nicht orthodox den Ansprüchen und Kriterien des in der Journalistik fokussierten prototypischen Nachrichtenjournalismus. Aber er operiert ebenso keinesfalls vollkommen jenseits grundsätzlicher Leitlinien eines allgemeinen Journalismus und rein literarisch. Auch zahlreiche Fanmagazine und Fanzines haben sich speziell in den neunziger Jahren immer mehr an terminlichen sowie werblichen Koordinaten orientieren müssen und dienten en passant als Testfelder für zukünftige Magazin-, Feuilleton- und Kulturressort-Journalisten.33 Der ehemalige Fanzine-Journalist Thomas Venker, heute Chefredakteur einer der auflagenstärksten und für Plattenfirmen wichtigsten Musikzeitschriften: intro, beschreibt sehr gut diesen Werdegang vom
29 Rengers Überlegungen zur Verhandlung von Bedeutungen, zur Wechselseitigkeit des Kommuni kationsprozesses und zur Kommunikationsmacht erinnern stark an Ausführungen zum Schreiben über Rockmusik als Dialog von Simon Frith (2002), Steve Jones (1994) und Steve Jones/Kevin Featherly (2002), die zweifelsohne zu Forschern der Cultural Studies gezählt werden können. Zu einer Systematik der Erfassung popmusikjournalistischer Werturteile vgl. Schäfer 2009. 30 Vgl. zu derlei Entwicklungen im Spannungsfeld zwischen Journalismus und Literatur Pörksen 2004. Zum Wandel des Journalismus durch Online-Medien vgl. Bunz 2008 und Schmidt 2009, S. 129–144. 31
Vgl. zu Pop, Medien und Unterhaltung Jacke 2009c, Shusterman 2006 und Westerbarkey 2003.
32
Frank 2004, S. 274.
33
Vgl. die Studie von Springer 2008.
Alright or Not? The Kids Have Grown Up
aufbegehrenden zum professionellen Kulturjournalisten und nennt etliche weitere Beispiele für diese Entwicklung.34 Die beschriebenen Diskurse in und um Spex und auch die für diesen Essay befragten Experten sind sich bei aller Diversität der Standpunkte zumindest in einer Hinsicht einig: Spex hat in Deutschland als eines der wenigen Organe intellektueller Auseinandersetzung mit Populärer Musik und Kultur und somit als gesellschaftlicher Selbstbeobachter einen immensen Einfluss gehabt – auf einfache Rezipienten gleichermaßen wie auf Journalisten und Mitarbeitende der Popmusikindustrien, oder wie es Thomas Meinecke ausdrückt: »Die, euphemistisch ausgedrückt, permanente redaktionelle Revolution, die diese Zeitschrift (in der Hochkultur wäre das mit Theatern und ihren Intendanzen vergleichbar) aus eigenem quasi postmaoistischem Antrieb heraus immer wieder in ein anderes Licht setzte und subkulturell in verschiedenste Stellungen brachte.« Dieser ständige Wandel von Spex wurde ganz prototypisch journalistisch latent selbst beobachtet, kommentiert und kritisiert.35 Im Zusammenhang mit der generellen Bedeutung von Popmusikpresse für Distribution und Rezeption von Popmusik lässt sich also auch die Bedeutung der Zeitschrift Spex ablesen und unschwer feststellen, dass das Heft sowohl als Meinungsführer für bestimmte Popmusikrezipienten als auch für andere Medien und Institutionen wie Plattenfirmen, Promotion-Agenturen oder auch für viele Musiker galt, also meinungsbildend auf allen Ebenen des massenkommunikativen Prozesses war.36 Dass sich die Schreibweisen und die dahinter stehenden Haltungen der Autoren von Spex überschreibend ändern, eine gewisse Polarisierung aber geblieben ist, dürfte kaum zu übersehen sein, wobei sich die Frage zunehmend aufdrängt, für wen. Auch zum Start der neuen Spex37 – nennen wir es die »Berliner Republik-Phase« ab 2007 – schrieb der neue Chefredakteur Max Dax (2007) im Editorial der ersten Neuausgabe (Heft 307) vom quasi-überholten Habitus poplinker Journalisten wie Diederichsen, wenn sie die Kids als »not alright« stigmatisierten und in Nazis und ihre Gegner polarisierten38. Dax findet die Kids eben doch »alright« und will sie Identitäten im Pop ausprobieren lassen und weniger oberlehrerhaft bemaßregeln.39 Ob die Spex lesenden Kinder, Jugendlichen und Berufsjugendlichen nun in Ordnung sind oder nicht, ob es hier überhaupt noch um Kids geht und nicht um ›Twens‹, ›Thirties‹ oder ›Fourties‹, muss an anderer Stelle geklärt werden. Dass Spex solcherlei 34
Vgl. Venker 2003, S. 8–18.
35 Vgl. etwa die Kritiken der Chefredakteure Dietmar Dath 2007 a oder Max Dax 2007 zu den Herangehensweisen Diederichsens, aber auch die Beschreibung der eigenen Orientierung an Diederichsen bei Dax vgl. Theweleit 2008. 36 Vgl. zu Opinion Leader, Tow-Step-Flow-of-Communication und Multi-Step-Flow-of-Communication Merten 1999 (S. 236–251, 361–363), Schenk 1987 (S. 244–279) und ausführlich Eisenstein 1994. 37
Zum Wechsel der Spex von Köln nach Berlin vgl. Jellen 2006.
38
Vgl. Diederichsen 1992.
39 Vgl. zur aktuellen Diskussion um die Bedeutung der sogenannten Poplinken die Beiträge von Summen 2008, Büsser 2008, Behrens 2008 und Eismann 2009 in der Wochenzeitung Jungle-World sowie Diederichsen 2004, Maresch 2004 und Krümmel/Lintzel 2004.
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Diskussionen überhaupt provoziert hat und zukünftig wieder hervorrufen sollte, erscheint auf der Metaebene, also der Beobachtung der Beobachtung von Pop, entscheidend.40 Wir wollen doch alle raus aus der umfassenden Beliebigkeit, die Dax zu Recht konstatiert. Wir brauchen doch eben gerade in Zeiten der hoch gepredigten Freiheit, die dem Musiker und Theaterregisseur Schorsch Kamerun zufolge auch Folter sein kann (»Bloß weil ich friere, ist noch lang nicht Winter«41), umso dringender Kritikfähigkeit und Orientierung. Diese soll uns nicht wie eine Bedienungsanleitung vorschreiben, was gute und was schlechte Popmusik ist. Aber sie kann auf Erfahrung ihrer Autoren basierend, Vorschläge machen und diskutieren; also die Kids einfach mal Kids sein lassen, aber popintellektuell auch nicht unterfordern. Oder wie es der Popmusikjournalist und Testcard-Mitherausgeber Martin Büsser im Gespräch formulierte: »Spex hat politische Verbindlichkeiten geschaffen. […] Es ging nicht mehr um klassisches Fantum, sondern um den (nicht immer, aber oft gelungenen) Versuch, Pop die eigene politische Weltsicht einzuschreiben und damit auch klarzumachen, was nicht geht (Sexismus, Nationalismus etc.), lange bevor Political Correctness in den bürgerlichen Medien ein Thema war«. Nebenbei bemerkt hat Spex damit sicherlich nicht alle infiltrieren können und wollen. So dürften etwa ultrarechte Extremisten oder komplett Musikdesinteressierte dieses Popkultur-Organ eher selten bis gar nicht gelesen haben. Sicherlich hat es immer schon auch andere Medien der Reflexion von Pop zwischen intellektuellem Journalismus und akademischer Institution gegeben, war Spex also keinesfalls einzigartig. Man denke nur an die Reihen Rock Session oder die bereits erwähnte Testcard, die Magazine Die Beute, Texte zur Kunst, De:Bug und viele andere. Dennoch entwickelte sich Spex spätestens seit Ende der Achtziger bis tief in die Neunziger zu einer sehr populären und dementsprechend weit verbreiteten, diskutierten und auflagenstarken Variante vom Schreiben über Pop mit einer Vermischung (nicht Auflösung à la Tom Kummer) aus Fakt und Fiktion. Wie Christoph Gurk etwa seitenlang reiseliterarisch auf der Suche nach Will Oldham war42 oder prophetisch das erste Soloalbum Rise Above von Epic Soundtracks als zu früh gekommen erachtete43 und hoffte, dass dieses große Stück Popmusik bis 1998 gebührend entdeckt würde, was es bis heute nicht wurde, oder wie Kerstin Grether den männlichen Rockmusikjournalisten schonungslos desavouierte und den weiblichen Blick von Wissenschaftlerinnen diskutieren ließ44, das hat die eigenen Les- und später Schreibarten so mancher nachfolgenden Autoren nicht nur in Spex selbst stark beeinflusst. 40
Vgl. die Forderungen von Bunz 2006 und Hoffmann 2009.
41 Titel von Schorsch Kamerun, auf: Various Artists: Operation Pudel 2006 ZD 50, Pudel Records 2006. 42
Spex 12/1993.
43
Spex 11/1992.
44
Spex 07/1995.
Alright or Not? The Kids Have Grown Up
Der Mythos Spex lebt also. Das sollten wir ändern, in dem wir uns damit auseinandersetzen und uns artikulieren. Denn über Mythen wird oft gesprochen, ohne sie zu kennen. Früher war eben auch bei Spex nicht alles besser, sondern schlichtweg leichter. Die schon erwähnten Grenzen von politisch links und rechts waren im Pop so klar, dass ein Künstlerkollektiv wie Laibach mit einem Konzert linksautonome Zentren in Bielefeld noch radikal provozieren konnte. Das High und Low von Pop sah Sonic Youth oder The Fall immer auf Seiten der Guten, also des High von Pop – zumindest in Spex. Die Postmoderne rüttelte uns alle via MTV, Medialisierung, Globalisierung und Digitalisierung des Alltags durch. Doch irgendwie war immer noch klar – »Apfelmann« hin oder her – dass Blumfeld, Tocotronic oder Kante Vertrauen geschenkt werden darf. Und nach diesem Schütteln haben wir, älter geworden, bestenfalls noch einen unübersichtlichen Schluckauf, der ja bei Rainald Goetz als Techno oder anderen als Drum’ n’ Bass durchaus zu Zuckungen im mittleren Alter (Ü 30, Ü 40, Ü 50 …) führen kann. Thomas Meinecke kritisiert sogar ein zu Wenig an diesen Ausbrüchen auch der popälteren Generation: »Ich gehe genauso oft aus wie mit Anfang zwanzig. Damit bin ich kein Vorbild, aber dadurch kenne ich nicht dieses Bedauernde und diese kulturpessimistische Position wie zuletzt streckenweise bei Diedrich Diederichsen, das sage ich ihm auch immer wieder mal, worauf er natürlich allergisch reagiert, weil er meint, eine ge- Spex-Cover Heft 219 (1999): Blumfeld reifte Erkenntnis erlangt zu haben, die in Jahrzehnten von Poprezeption entstanden ist.«45 Was also ist vom Mythos und der Zeitschrift Spex geblieben, außer den guten alten einfachen Zeiten des Pop und des Besserwissens genau darum? Was ist geschehen mit einer fundierten, raumgreifenden Kritik Populärer Musik durch Popjournalismus à la Spex? Und wie gehen die Kids mit Popmusik heute um?
Hey Ho Let’s Go To Academia Land! Almost … : Spex und Wissenschaft Jenseits des Schluckaufs, der vorübergeht, ist Spex aus dem popkulturellen Expertentum heraus eine Reflexion von Pop gelungen, die eben nicht nur engstirnig auf den eigenen Beobachtungen beruht, sondern so etwas gleichermaßen Bewegliches 45
Thomas Meinecke im Gespräch.
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und Umfassendes wie die Cultural Studies und deren politischen Impetus in die deutsche Intelligenzija einführt. Die zwei Specials zu Geschichte und Thematik der Cultural Studies von der britischen Arbeiterklasse bis zum transnationalen Feminismus46 bedeuteten einen theoretischen Teaser für weitere Beschäftigungen im Rahmen von Popjournalismus und -kritik. Dort wurden Pop-Denkende wie Dick Hebdige oder Ellen Willis und Ann Powers vorgestellt, die anschließend in den Uni-Bibliotheken zwischen Soziologie, Pädagogik, Anglistik und Kommunikationswissenschaft angeboten und ausgeliehen wurden. Parallel zu hauptamtlichen Forschern wie Rainer Winter, Rolf Lindner oder Roman Horak gingen Autoren von Spex respektvoll und gleichzeitig respektlos mit den angloamerikanischen Vorlagen um. Ersteres, weil sie die Originale verhandelbar machten. Letzteres, weil sie ohne Umschweife ihre eigenen Analysen zu Pop angefertigt haben, die ebenso qualifiziert aber stets politischer oder sogar anti-wissenschaftlich waren, wie es Mark Terkessidis (2006) im schon genannten Beitrag mit Michel Foucault beschreibt.47 Ein ähnliches Verdienst sieht Michael Rappe: »Die Frage nach den ästhetischen Kriterien und deren sozialer und kultureller Kontextualisierung. Spex hat dort für mich eine Lücke geschlossen und in einem primär nichtakademischen Umfeld Fragen insbesondere nach der politischen-strategischen Bedeutsamkeit von Kultur gestellt.« Neben dieser kontextualisierenden, rahmenden Diskursfraktion, so nennt sie der langjährige Spex-Autor Olaf Karnik und meint unter anderem Journalisten wie Christoph Gurk und Diedrich Diederichsen, wurde aber eben auch immer sehr nah an der Musik geschrieben. Karnik spricht von der musikologischen Fraktion und nennt etwa Ralph Christoph, Lars Brinkmann, Joachim Ody und Christian Storms. Damit ist Spex neben der Intensivierung der Diskussion der Cultural Studies in Deutschland – die allerdings bisher kaum über ein Exotentum in der Wissenschaft hinauskam – vor allem zweierlei gelungen: Erstens die Etablierung von Popkultur und Popmusik als transdisziplinäres Projekt über diverse Studiengänge und Fächer hinweg. Und zweitens die Vermengung subjektiver Schreibweisen mit politischem Einmischen und dennoch dichten Musik- und Kulturanalysen: The Spex-Kids Have Grown Up. »Die erste Generation, die nicht nur mit Pop-Musik, sondern auch mit Pop-Theorie aufgewachsen war, also von den 80ern geprägt wurde, kam ins feuilletonfähige Alter. Seit den 90ern wurden also Gegenwartsphänomene erstmals in time zur Kenntnis genommen und darüber hinaus auch endlich gezielter die interessante Seite der Pop-Musik, nämlich ihre Extreme in alle Richtungen, statt Altmännerrock beachtet. Junge Spezialisten schrieben plötzlich nicht mehr für die immer leerer gewordenen Selbstverständigungen subkultureller Tribes, sondern versuchen sich im Kampf mit
46
Spex 07/1995, 08/1995.
47 Vgl. zu den Zusammenhängen von Spex, Cultural Studies und deutschsprachiger Wissenschaft Grether 2007 a, Hepp 1999 (S. 99–108), Jacke 2004 (S. 166–181) und Jacke 2009b.
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den anderen Schreibweisen in den Feuilletons einen Platz zu erobern und um die von ihnen vertretene Kunst zu werben.«48 Letztlich aber bleibt den Autoren, sieht man mal von den wenigen Ausnahmen akademischer Festanstellungen ab, dasselbe Schicksal nicht erspart, welches eben auch die Cultural Studies in Bezug auf den Mainstream der Disziplinen – und hier liegen Gelder, Stellen und Mächte – in Deutschland bisher erfahren mussten: Ein geduldetes Exotentum, gewissermaßen ein Streichelzoo der Pop-Freaks oder – in Anlehnung an den Soziologen Dirk Baecker49– die »Garbage Can« der Kulturwissenschaft zu sein. Bestenfalls kann hier von einem vorsichtigen und durch Spex mit unterstützten Einfluss der Cultural Studies auf einzelne Seminare, Curricula oder Studiengänge geredet werden. Allerdings haben die Cultural Studies in Form der Gender Studies schon deutlicher ihren Weg in die öffentlichen Stellenausschreibungen gefunden, hier hat Pop etwa dem Feminismus die Türen geöffnet, wie Sonja Eismann (2009) bestätigt. Womit wir bei einem großen Problem von Spex wären, der Frauenquote: Autorinnen und Leserinnen. Musikerinnen und Künstlerinnen wurden sicherlich in Spex weniger thematisiert als ihre männlichen Kollegen, wobei es eben auch mehr männliche Exemplare auf den Bühnen der Indie-Clubs und Labels zu begutachten gab und gibt. Dass aber auch in der neuen Spex der »Berliner-Republik«, dies hat eine eigene Auszählung ergeben, männliche Urheber der verschiedenen Angebote Artikel, Fotos und Rezensionen bei weitem stärker vertreten sind als weibliche, dürfte für die Cultural und erst recht für die Gender Studies in popkultureller Hinsicht wenig befriedigend sein. Eine eigene Auswertung der Spex »Berliner Republik-Phase«, zwölf Doppelausgaben (24 Monate, zwei Jahre, Heft 307 bis inklusive 318), ergab folgendes Resultat: – Artikelverfassende männlich: 509, 1x »die red.«, 4x nicht zuzuordnen; – Artikelverfassende weiblich: 62; – Fotografierende männlich: 263, 6x nicht zuzuordnen; – Fotografierende weiblich: 59; – Rezensierende Musik/CD männlich: 414, 1x nicht zuzuordnen; – Rezensierende Musik/CD weiblich: 47.50 Da wirken ›Leuchttürme‹, wie es so hässlich neuerdings in den prekarisierenden Creative Industries heißt, wie Sonja Eismann, Carmen Böker, Kirsten Riesselmann oder Doris Kuhn, bei aller Wertschätzung, fast schon wieder wie Alibi-Autorinnen gegen das schlechte Gewissen. Spex scheint eben doch und erst Recht wieder ein Blatt für popreflexionsfanatische Jungs zu sein und damit für weit mehr als den »männ48
Diederichsen 2005, S. 22.
49
Baecker 2001, S. 77.
50 In der Rubrik »Fotos« wurden die Modestrecken-Fotos und vorgefertigte Promo-Fotos nicht eingerechnet. Nicht berücksichtigt wurden in dieser Auszählung Umfang und Platzierung der einzelnen Artikel. Für eine detaillierte Inhaltsanalyse wäre das sicher nötig, doch sollten hier nur erste, grobe Tendenzen erkennbar gemacht werden.
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lichen Mittzwanziger, der sein Geld in seine Plattensammlung investiert mit dem Traum, einmal im Leben als erster eine wirklich erfolgreiche Band zu entdecken« gemacht zu sein, wie Dietrich Helms meint; so oder so – aber Mann. Um es noch einmal mit Jochen Bonz zu sagen: das Heft sei nicht »dumm, aber unterakademisiert, obwohl (oder: weil) sie [die Spex, C. J.] jetzt für alte Säcke gemacht wird.« Womit wir beim Verweis auf den Prolog des vorliegenden Beitrags sind: Plattensammlungen und deren Bedeutung für die Identitätsbildung für Jungs; auch älterer Generationen. Die ehemalige Spex-Autorin Kerstin Grether trieb die Männerlastigkeit der Mitarbeitenden und Lesenden des Heftes laut eigener Aussage sogar zur Konkurrenz: »Ein Grund, ab 2000 für die intro zu schreiben: 40 Prozent der Leser sind Mädchen oder Frauen, im Gegensatz zu den paar Prozent bei der Spex. Und auch ein Grund, für MTV zu arbeiten, wo man natürlich bis ins kleinste Detail lernt, wie männliche und weibliche Identitäten gedacht, gefühlt, dargestellt und öffentlich gesprochen werden.«51 Es bleibt aber die Frage, ob Popmusik, die eben längst nicht mehr nur von Jugendlichen und hier vermeintlich insbesondere jugendlichen Männern genutzt wird, als transgenerationales Phänomen nicht eben auch ein Käufersegment der schlauen, alten Säcke und solcher, die es werden wollen, beinhaltet, und somit insbesondere Spex heute genau die Lesenden versorgt, die es nicht anders verdient haben (wollen) – also sich in Zeiten der Ausdifferenzierung popmusikalischer Reflexionen bis in kleinste Blogs hinein auf eine ganz bestimmte Klientel konzentrieren und die Chance in der Nische dieser speziellen Zielgruppe suchen. Das ist im Prinzip ganz wie am Anfang. Hier wären anschließende Redaktions- und Rezeptionsstudien hilfreich. Subtrahieren wir nun also Männerlastigkeit, Rockismus zu gewissen Phasen und ein immer mal wieder durchscheinendes »Geschwurbel«, so nennt es Michael Rappe, welches aber eben ja auch die (Selbst-)Anwendung des Prinzips Pop auf das Schreiben in Spex bedeuten kann, dann bleibt eine ganze Menge Stoff nicht nur für Seminar- und Abschlussarbeiten des popkulturellen Selbst- oder Universitätsstudiums. Daran sollte auf beiden Seiten (Produktion und Rezeption) weiter gearbeitet werden, oder mit Diederichsen gesprochen: »Wir dachten uns eher als Material für die Akademie denn als ihre Mitarbeiter. Das änderte sich allenfalls in den letzten Jahren vor dem Verkauf ein bisschen – und durch das Modell Cultural Studies. Leider ist die darüber begonnene Diskussion nicht wirklich weitergeführt worden.« 51 Grether 2007 b, S. 12. Hierzu noch folgender Hinweis: Eine verschriftlichte weibliche Popmusikgeschichte existiert bis auf wenige Ausnahmen immer noch nicht. »Der Wunsch, eine weibliche Rock- und Popgeschichte zu schreiben, scheint nur zu verständlich, da Sängerinnen/Instru mentalistinnen/DJs mit wenigen Ausnahmen aus dem Kanon ausgeschlossen sind.« (Reitsamer 2007, S. 265) Im Bereich der Popkultur- und Popmusikforschung sind weitere Ausführungen zu Gender, Ethnizität und Sexualität ohne Zweifel vonnöten wie sie etwa in den Sammelbänden von Baldauf/ Weingärtner (1998) und Eismann (2007) geleistet und von der Soziologin Rosa Reitsamer darüber hinaus gefordert werden: »Während viele Diskurse über Ethnizität und Musik die Tatsache ignorieren, dass Gender eine wesentliche Rolle in der Musikindustrie spielt, übersehen feministische Diskurse allzu oft die unmittelbare Verbindung von Weiß-Sein und Männlichkeit in der Rock- und Popmusik.« (Reitsamer 2007, S. 265).
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Was aber ist seither passiert mit Spex und generell mit der Reflexion Populärer Musik in Journalismus, Literatur und Wissenschaft? Warum ist die von Diederichsen angesprochene Diskussion nicht weiter geführt worden?
Ende des Pop – Ende des Journalismus – Ende der Spex (From Now On) Nun sind also nicht nur einige der Autorinnen und Autoren von Spex im akademischen Schwurbelland angekommen und sorgen dort – ganz ähnlich den ursprünglichen Cultural Studies – für Irritation und Innovation. Auch die Themen von Spex haben sich an vielen Studiengängen zumindest vorsichtig etabliert, ungeachtet, ob Pop nun hierbei noch subversiv oder bloß deskriptiv verstanden wird. Genau in diesem Moment des ersten kleinen Triumphs der Reflexion von Pop, wie Spex sie uns lehrte oder zumindest zur Diskussion stellte, ist in den Feuilletons und Magazinen die Rede vom Ende der Popkulturindustrie, der Bedeutung von Popmusik für Jugendliche und auch gleich des Popjournalismus in Zeiten des Internets und speziell des Web 2.0, in denen sich ja jede (r) selbst sein Programm und seine Information zusammenstellen kann52; und »eine Flitzpiepe wie Heinz Rudolf Kunze«, so der ehemalige Spex-Autor Rembert Stiewe, »Die Welt ist Pop«53 singt, womit Pop garantiert nicht mehr die Welt, sondern überflüssig geworden ist. Wahrscheinlich bleibt nur die Flucht in das Unbeliebige. Und das heißt eben in die intensive, reflektierte Auseinandersetzung mit Popmusik und die sie umgebenden kulturellen Kontexte, wie dies etwa in den neuen Reihen zur Kunstsprache bzw. zur digitalen Evolution geschieht, in der Popmusiker über ihre Sprachkünste nachdenken und damit eingehend verdeutlichen, dass Pop aus weit mehr als Akkorden und Intervallen besteht, in denen Künstler, Theoretiker, Musiker und Industrielle über die Wandlungen des Popmusikbusiness ausgeruht und seitenlang nachdenken und somit zur wertvollen Grundlage (nicht nur) für universitäre Seminare werden können. Vielleicht sorgen eben gerade Ökonomisierung des Musikmedienmarkts und Überschuss an Informationsmöglichkeiten für ein neues Bedürfnis an journalistisch versierten, politisierenden Gatekeepern und Meinungsführern. Dietmar Dath54, ehemaliger Chefredakteur von Spex (1998–2000) hegt jedenfalls diese Hoffnung: »Das einzige, was das freie Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage im Geistigen derzeit behindert, ist der doofe Markt. […] Hoffentlich bricht er bald zusammen, damit man wieder zum Schreiben und Lesen kommt.« Offensichtlich entsteht in Zeiten der Ausdifferenzierung und Möglichkeiten der Informationsbeschaffung durch Internetechnologien ein starker, neuer Bedarf an Orientierung und Vertrauen, ein 52
Vgl. Bunz 2008, Schmidt 2009.
53
Heinz Rudolf Kunze: »Die Welt ist Pop« vom Album: Klare Verhältnisse (2007).
54
Dath 2007 b, S. 25.
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Bedarf an vertrauten Welten im Sinne Niklas Luhmanns55 für an Popmusik interessierte (junge) Menschen. Die teilweise schwierige Überprüfbarkeit und die damit einhergehende Anonymität zahlreicher Internetplattformen machen verbindliche, zuverlässige, vertrauensvolle Aussagen qualifizierter, in gesellschaftliche Kontexte einordnender und bewertender Personen, ja Meinungsführer, auch für den Bereich Popmusik wieder notwendig. Da ist es zunächst einerlei, auf welcher medialen Plattform. In dem Moment, wo alle, die Zugang und eine gewisse Vorbildung zum Netz haben, sich selbst darstellen und auch vermarkten können, wurde viel vom Ende des Journalismus gesprochen. Doch scheint inmitten der Jedermann-Journalisten und der ständigen ›Be-Werbung‹ ein starkes Verlangen nach ausgebildeten Experten neu zu entstehen.56 Was sich allerdings parallel zum vorläufigen Verschwinden des reflektierten Popmusikjournalismus57 auch und viel gravierender beobachten lässt, ist die Abnahme von Popmusik als Thema bzw. die Popularisierung von Pop58 in den bisherigen Meinungsführer-Medien. Beispielhaft seien dazu einige Klagen von versierten, langjährigen Popmusikjournalisten und Autoren angeführt, die hier allesamt bereits zu Worte kamen: Diedrich Diederichsen: »[…] dass die Schere zwischen der Musikberichterstattung und dem anderen, was inhaltlich stattfand, immer weiter auseinanderklaffte. Die Musikberichterstattung wurde immer dünner und ist heute bestenfalls informativ.«59 Martin Büsser: »Was uns fehlt [sic! C. J.] ist ein kritischer Popmusikjournalismus, der sich ohne Blick auf eigene Vorteile, Interessen und Geschmack mit dem soziokulturellen Gehalt all dessen auseinandersetzt, was Pop produziert (Covergestaltung, Art des Auftretens, Interviews, Lyrics etc.). Fanzines wären, da sie ökonomisch relativ unabhängig sind und gegenüber Plattenfirmen weitgehend unerpressbar (man könnte ein paar Promoscheiben verlieren, nicht aber Anzeigenkunden, die mit Tausendern winken), der ideale Ort für eine solche Auseinandersetzung, würden sie nicht unter dem blinden Fleck leiden: Als enthusiastisches Organ einer Sparte bzw. Szene fehlt ihnen die nötige Distanz.«60 Harun Maye: »Dabei muss man etwas überrascht feststellen, dass im Neuen Popjournalismus Musik nicht mehr vorkommt.«61
55
Luhmann 2000, S. 23.
56 Dies ist eines der Ergebnisse zahlreicher Gruppen-Diskussionen in meinen Seminaren zu Popmusik, Medien und Kritik der letzten Semester an verschiedenen Universitäten und Hochschulen. 57
Vgl. Büsser 2008
58
»Der Populismus schaut, ob er bei Pop einen Bündnispartner findet.« (Diederichsen 2005, S. 12).
59
Diederichsen zit. nach Dax/Defcon 2008, S. 175.
60
Büsser 1998, S. 20.
61
Maye 2004, S. 98.
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In Anlehnung an den Musikmanager Tim Renner, der für die frühe Phase der ersten Musiksendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bescheinigte, dass diese »die Grundlage eines großen Identitätsdiskurses im Wohnzimmer«62 waren und anschließend zur Privatsache in den alltäglichen Kommunikationen wurden, ließe sich dementsprechend fragen, wo und wie die Kids über Popmusik diskutieren und was das Musikfernsehen, sofern es noch eines ist, heute in den Wohnzimmern evoziert, welches Medium eventuell zusätzliche oder stattdessen diese Diskurse verursacht und ob diese noch im Wohnzimmer stattfinden.63 An dieser Stelle setzt auch die Argumentation des intro-Chefredakteurs Thomas Venker an, wenn er sowohl dem Radio als auch dem Fernsehen die führende Rolle im Trendsetting von Popmusik mittlerweile abspricht: »Das Radio ist überdies dabei, seine Chance zu verspielen, nach der Subtraktion der Musik aus dem Musikfernsehen eine Alternative darzustellen«64. Allerdings versäumt Venker die beiden entscheidenden Fragen zu beantworten: wo denn mittlerweile Popmusik kommunikativ stattfindet bzw. was an ihrer Stelle verhandelt wird. Sondern er hält letztlich nur ein Plädoyer für das journalistische Schreiben über Popmusik. Ähnlich argumentierte auch Diederichsen (2009), der zuletzt die Popularisierung der Popmusik im öffentlich-rechtlichen Rundfunk durch die Einstellung letzter popjournalistisch versierter Formate (zum Beispiel Der Ball ist rund von Klaus Walter beim HR) zugunsten der Durchhörbarkeit immer wieder zu Recht kritisiert. Derart gelangt man auch zu der Forderung Diederichsens65 nach einer Wissenschaft zur Popkritik. Und diese müsste sich m. E. zu großen Teilen aus Kommunikations-, Medien-, Kultur- und Musikwissenschaft in Form einer transdisziplinären Popkulturwissenschaft spei- Spex-Cover Heft 264 (2003): sen und letztlich wieder auf die Popmusikmedi- Turbonegro en zurückwirken. Genau an den Kreuzungen aus Wissenschaft und Journalismus setzt nun wiederum die editoriale Einforderung der neuen Spex selbst als »Erkenntnisschnittstelle«66 an. Ob reflektierte Pop- und Medienkritik in Spex oder in Form einer Popkulturwissenschaft, beide Formen sehen sich jenseits einer tagesaktuellen Sequenz und mit Grundlagenwissen gerüstet und erfüllen damit die in letzter Zeit viel diskutierten Forderungen an neue Medien 62
Renner 2004, S. 61.
63
Vgl. ausführlich zur Veränderung des Musikfernsehens Kleiner/Jacke 2009.
64
Venker 2004, S. 17.
65
Diederichsen 2003, S. 66.
66
Dax 2009, S. 8.
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kritikausprägungen, wie sie auch der Medienkulturwissenschaftler Knut Hickethier versteht: »Kritik ist die Reflexion dessen, was die Medien treiben, indem sie als Faktoren der Gesellschaft, in der Gestaltung ihrer Produktionen, in ihren Wirkungen und Folgen betrachtet werden. […] Das Ergebnis der Kritik sind Analyse und Urteil, sind Positionsbestimmung und Bewertung, ist die Meinung. […] Die Berichterstattung erklärt das Zurückdrängen der Bewertungen zum Prinzip. Kritik verfehlt umgekehrt Ziel und Zweck, wenn sie nicht wertet, in welcher Form auch immer. […] Kritik ist letztlich also ein Kommentar zu den laufenden Medienereignissen.«67 An diesem Punkt setzten einst Schreibweisen von Spex an, laufende Kommentare zu popmusikalischen Entwicklungen zu liefern und durchaus zunehmend machtvoll Widerspruch zu formulieren bzw. zu evozieren, ohne selbst unter den Vermarktungsverdacht (die Kritikindustrie) zu fallen oder von ökonomischen Rahmenbedingungen komplett reguliert zu werden. So wurden Popmusikwelten zumindest mitgestaltet – affirmativ oder kritisch, folgend oder ex negativo.
Fazit: Say Goodbye, Wave Hello Früher war nicht alles besser, auch die Spex nicht. Wir müssen nur lernen – und da hilft ein Blick in die neueren Spex-Ausgaben – jenseits der indoktrinierten Selbstorganisiertheit auch mal wieder genervt zu sein und uns eine kritische Meinung zu bilden, die dann – effektiv kundgetan – gesellschaftlichen Wandel in Gang bringen kann. Das von Diederichsen68 durchaus auf Rezeption und Konsum negativ, kritisch gemeinte »Partizipation ist das neue Spektakel«, welches ja eben das weitgehende, kommerzialisierte Als-Ob der Beteiligung entlarvt69, muss wieder zugunsten eines ganz realen Neins bzw. Dagegenseins weichen, auch im Leben mit Popmusik. Denn offensichtlich zeigt sich auch heute auf allen möglichen Schauspielplätzen, was der in letzter Zeit insbesondere der Popmusik gegenüber oftmals eher distanzierte Diedrich Diederichsen selbst fest- Spex-Cover Heft 318 (2009): stellen musste: »Das Durcheinander der Ni- Antony and the Johnsons 67
Hickethier 2005, S. 392–393.
68
Diederichsen 2008a, S. 279.
69
Vgl. auch Jacke 2009c.
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veaus, der Medien, der Disziplinen und der sozialen Herkunft der Beteiligten lässt die Kultur der Pop-Musik in ihren interessanteren Phasen aussehen wie einen Laborversuch künftiger Gesellschaft.«70 Oder um es in den Worten der Düsseldorfer Band Fehlfarben zu sagen, die diesen Mangel an Protest, Kritik, Veränderungsreflexion und freien Willen zur Alrightness bereits vor einigen Jahren auf ihrem ComebackAlbum Knietief im Dispo (2002, K7) beschrieben: »Vielleicht fehlt mal wieder ein langer Marsch, nicht nur die Kö ist doch völlig fürn Arsch« (»Die Internationale«). Dann aber bitte mit wissenschaftlicher Begleitung. Als Fazit der vorliegenden Beobachtungen und Experten-Interviews lassen sich folgende Einordnungen der Spex festhalten: – Spex als Opinion Leader für die popmusikinteressierten Rezipienten, – Spex als Opinion Leader für die anderen Popmusikmedien, – Spex als Opinion Leader für bestimmte Popmusikindustrien, – Spex als ›very special interest‹-Magazin für eine spezialisierte Rezipientengruppe, – Spex als Popmusikfachzeitschrift von Männern für Männer, – Spex als Plattform, Diskursstrang und Einfluss für Popkultur und Popmusikforschung im deutschsprachigen Raum, – Spex als »Erkenntnisschnittstelle«71 Das scheint nicht wenig, zumal in Zeiten popkulturindustrieller Ausdifferenzierungen, die für kleinste Nischen und gleichermaßen darin eingebauter Kritik gesorgt haben. Die Zeitschrift Spex, in Form ihrer so unterschiedlichen Redaktionen und Autorinnen und Autoren, hat über 30 Jahre hinweg das Problem bearbeitet, jeweils allgegenwärtige Pop-Paradoxien zu (be-)schreiben und somit immer wieder im Sinne popjournalistischer Qualität und im Sinne von Verkaufszahlen (noch so eine Pop-Paradoxie) so unterschiedliche harsche Kritiken an Pop und dem Schreiben darüber zu relativieren, wie die des sozialistischen Autorenkollektivs von 1971 oder des langjährigen Wegbegleiters Diedrich Diederichsen: »Die Möglichkeit, kritische Instanz im Popmusikgeschäft zu sein, wird von keiner der auf dem deutschen Markt erhältlichen Zeitschriften wahrgenommen.«72 »Die Medien des 20. Jahrhunderts lassen aber eine Verlangsamung, ein Zurück zur linearen Lektüre und ihrer Anwendung aufs eigene Leben nicht mehr zu. Nur verstetigen ließen sich die Ungeduldsästhetiken. Pop war in diesem Sinne verstetigter Surrealismus, genrefizierte Ungeduld, mit der Zeit fix eingetragen in Rituale, immer wieder daraus hervorgetreten, aber zumindest kulturindustriell eingehegt und benannt.«73 70
Diederichsen 2009, S. 11.
71
Dax 2009, S. 8.
72
N.N. 1971, S. 25.
73
Diederichsen 2008a, S. 79.
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Musicboard und Pop in der 24-Stunden-Stadt Sören Birke
Die Entstehung des Musicboards ist ein gutes Beispiel dafür, dass man in Berlin etwas erreichen kann, wenn man sich engagiert. In langen Arbeitsprozessen über mehrere Jahre hinweg ist das Musicboard durch großen Einsatz vieler Berliner Musikenthusiasten entstanden quasi aus den Clubs heraus mit Hilfe des Berliner Senates geboren worden. Um den Entstehungsprozess plausibel zu machen, muss man etwas ausholen. Nach dem Ende des »Kalten Krieges« und der deutschen Teilung sind die Brachen Berlins in den neunziger Jahren nicht reglementiert erobert worden. In einem wild wuchernden kreativen Schub explodierte popkulturelles Leben in Berlin erneut, das sich seit den siebziger Jahren sowohl im Ost- als auch im Westteil der Stadt aufgestaut hatte. Auf beiden Seiten waren es die jeweiligen Systemkritiker, die um neue Lebensalternativen rangen. Eine Generation von kreativen Akteuren fand städtische Freiräume vor, sowohl physisch, indem tatsächlich Ruinenleerstände besetzt worden sind, als auch Freiräume im kulturellen und geistigen Leben dieser Stadt. Mit der entstehenden unüberschaubaren Clubkultur siedelten sich alle anderen Akteure der Musikbranche in Berlin an. Dieser Prozess ist bis heute nicht zum Stillstand gekommen und erneuert sich anscheinend wie von selbst immer wieder. In den letzten 15 Jahren entwickelten sich darüber hinaus wirtschaftlich ernstzunehmende Kreativbranchen. Erfolgreich entwickelte sich die Medien-, Film-, Games- und Modebranche. Das sind Leuchttürme kreativwirtschaftlichen Handelns, die mittlerweile perspektivreiche Antworten auf eine sich spürbar ändernde Industriegesellschaft hin zu einer digitalen Informations- und Dienstleitungsgesellschaft anbieten. Das wirtschaftlich äußerst schwache Berlin wurde zum Labor neuer urbaner Lebensstile. Keine Sperrzeiten, preiswerte Mieten und das Angebot, bis 16 Uhr frühstücken zu können haben die gewohnten Lebensrhythmen ordentlich durchgerüttelt. Die »24-Stunden-Stadt« entstand. In diesem Kontext war es das Gebot der Stunde, dass sich auch die Musikakteure vernetzten, über ihren jeweils eigenen Tellerrand hinaussahen und den Konkurrenten als Kooperationspartner entdeckten. Der Druck der ebenfalls erstarkten Immobilienwirtschaft und die allgemeine Krise der Musikwirtschaft halfen dabei kräftig nach. Populäre Musik wurde als attraktives kulturelles und wirtschaftliches Gut entdeckt. Es lohnte sich, dieses neue Gut als generationsübergreifendes kultu-
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relles Leitmedium zu verstehen. Die Kombination aus historischem und offenem Stadtraum, aus traditioneller Kultur und Pop, aus Berlinern, Migranten und Gästen ist mittlerweile so attraktiv, dass die Welt hierher will. Berlin ist international und interkulturell, bietet jeder Art von hybrider Biografie Entwicklungsperspektiven oder eben auch nur die schillernde Zwischenzeit bei der Suche nach sich selbst. Musik hält all das am Vibrieren. Allerdings, mit den Veränderungen Berlins hin zu einer Metropole, die nicht mehr arm sein will, verändern sich die Lebensbedingungen und damit auch die Freiräume so, dass viele Akteure auf einmal erkannt haben: »Hey, jetzt gehts uns doch mehr oder weniger an den Kragen. Wir müssen was tun. Aufstehen gegen Clubsterben. Ringen um neue Produktions- und Verwertungsmechanismen in der digitalen Welt. Wir müssen uns nicht nur als Kreative verstehen, sondern auch als Bürger dieser Stadt und uns gesellschaftlich und politisch engagieren.« So kam es im Jahr 2000 zur Gründung der Clubcommission Berlin – CCB, 2002 zur Gründung der LabelCommision Berlin – LCB (Regionalgruppe des VUT), 2007 zur Gründung der Berlin Music Commission – BMC, 2009 zur Gründung von all2gethernow, in dem Jahr, in dem die Popkomm abgesagt wurde, 2012 kam es zur Gründung vom Dach Musik, ein Interessenverband der freien Musiker. In einem gelungenen Schulterschluss der Netzwerkakteure BMC, CCB, LCB unter der strategischen Kampagne MUSIK 2020 BERLIN wurde in den letzten vier Jahren erreicht, dass sich diese Netzwerke in die Stadtpolitik, insbesondere in den Feldern Kultur, Wirtschaft und Stadtentwicklung, aktiv einbrachten. Innerhalb dieser Kampagne sind mehrere Aktionen gestartet worden. Ein erstes Ergebnis war die Berlin Music Week. Die vordringlichste Aktion war allerdings ein Positionspapier der Netzwerke im politischen Raum vorzustellen. Es wurden darin dezidiert die größten Probleme und die künftigen notwendigen Maßnahmen für neue Rahmenbedingungen der gewachsenen Musikbranche beschrieben. Dieses Positionspapier ist von vierhundert Musikunternehmen unterschrieben worden. In der Vorwahlphase zur neuen Berliner Landesregierung 2011 konnte damit die Kampagne in die Öffentlichkeit getragen und Lobbyarbeit unter den stadtpolitischen Akteuren geleistet werden. Die Forderung nach einem eigenständigen Musicboard wurde dann nach der Wahl von der neuen SPD-CDU-Landesregierung umgesetzt. Wie funktioniert nun die Arbeit der Kampagne MUSIK 2020 und wie bringen sich die Netzwerke ein? Die Kampagne hatte einen Kampagnenrat, der sich aus Akteuren der drei oben genannten Netzwerke zusammensetzte. Die Arbeit dieser Gruppe zielte darauf ab, möglichst viele starke Kooperationen in der Stadt einzugehen – mit Akteuren der Musikbranche, der Politik, anderen Kreativbranchen, Senatsverwaltungen, der Industrie- und Handelskammer, anderer relevanter Verbände, Hochschulen und Universitäten, den Medien. Es ging darum, für die Belange populärer Kultur zu sensibilisieren und zu streiten. Ein Außenstehender fragt sich zunächst, wozu es so vieler Kommissionen bedarf. Natürlich wäre es übersichtlicher, wenn man eine geeinte Institution geschaffen
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hätte. Aber vielleicht geht das im Moment nicht. Die Zentralisierung ist nicht so einfach möglich, weil die Interessen der einzelnen Akteure so unterschiedlich sind. Die Interessen der Clubs sind ganz andere als die Interessen der Labels, der LiveVeranstalter, der Agenturen und besonders der Künstler. Es handelt sich um so ein heterogenes, kompliziertes Material, was es da zu bewegen gilt, dass vielleicht ein Zusammenspiel von Konstellationsakteuren derzeit sogar die bessere Variante ist. Die Hoffnung besteht auch, dass das Musicboard zukünftig diese einende Institution sein wird. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Details der Kampagne Musik 2020 Berlin unter www.musik2020berlin.de [4.11.2013]
Die Konzeptionierung des Musicboards dauerte vier Jahre. In den Konzepten der Netzwerke für das Musicboard sind sechs wesentliche Aufgaben und Maßnahmefelder beschrieben: – Infrastruktur Stadtraum (Clubs sind Kulturräume, die erhalten und entwickelt werden sollen) – Karriereförderung von Nachwuchs- und Re-Start-Künstlern in ihren Wertschöpfungskontexten – Professionalisierung der Branchenakteure – Nationales und internationales Standortmarketing – weitere Vernetzung der Branche, Entwicklung einer Branchenidentität – Forschung und Entwicklung – Evaluierung der jeweiligen Ist-Situation, um den Erfolg der Maßnahmen zu sichten bzw. Defizite aufzudecken Außerdem war eine eigenständige Betreiberstruktur konzipiert, in der die Akteure der Musikbranche und der Netzwerke gemeinsam mit dem Berliner Senat gestaltend und steuernd mitwirken können, sozusagen ein Beteiligungsmodell. Das Ganze sollte mit einem jährlichen Budget von 10 Mio. Euro ausgestattet sein. Die Summe ergab sich aus folgender Rechnung: Von 100 Mio. Euro Steuereinnahmen, die das Land Berlin aus dem Wirtschaften der Musikbranche im Landeshaushalt erhält, sollten 10 % in die Entwicklung der Branche reinvestiert werden. Unter diesen optimalen Bedingungen würde man der Komplexität der notwendigen Aufgaben gerecht werden.
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Die Realität 2013 sieht etwas anders aus. Nach einem Anhörungsprozess der Senatskanzlei 2012 wurde eine Auswahl aus dem gesamten Maßnahmenkatalog vorgenommen und ein Modell mit folgenden Zielen vorgestellt: – Popmusikerinnen und -musiker unterstützen – Die Berliner Musikinfrastruktur verbessern – Den Berliner Standort für Popmusik stärken
Das Kesselhaus in der KulturBrauerei
Dazu soll im Jahr 2013 eine gemeinnützige GmbH gegründet werden. Die g GmbH wird durch eine Geschäftsführung geleitet, die von dem hundertprozentigen Gesellschafter Land Berlin die Genehmigung für die Gelder bekommt, um die anvisierten Aufgaben umzusetzen. Die Geschäftsführung wird bei der Arbeit von einem Beirat beraten. Das Jahresbudget beträgt 1 Mio. Euro. Der Fokus der Aufgaben liegt auf den zwei Bereichen »Pop im Kiez« und »Karrieresprungbrett Berlin«. In einem Call for Concepts – Popmusik in Berlin können sich die Branchenakteure um die Fördermittel bewerben. Aus dem vorgeschlagenen Beteiligungsmodell ist damit ein vom Land Berlin gesteuertes Intendantenmodell mit weniger Aufgaben und weniger Budget geworden. Auch wenn das Board nicht vollständig den zuvor ausgearbeiteten Konzepten entspricht, ist trotzdem ein erster wesentlicher Schritt getan. Die Netzwerke haben dabei weiterhin eine wichtige Funktion in der Stadt. Sie sind das Radar für die
Musicboard und Pop in der 24-Stunden-Stadt
Potenziale und Ideen. Sie sind die Mittler zwischen Branchen, Künstlern, Politik, Verwaltung und Stadt. Deswegen werden auch die Netzwerke weiter agieren und als Partner für das Musicboard mitwirken. Betrachtet man die künftige Entwicklung des Musikstandortes Berlin als Ganzes, ist da in den letzten Jahren ein starkes Fundament entstanden. Für die Musikbranche und MusikerInnen Berlins wurde eine einzigartige Konstellation von Akteuren und Fördermöglichkeiten auf den Weg gebracht. Zusammengenommen könnte das ein starkes Rückgrat für die Berliner Branche bilden: das Musicboard, alle Netzwerke BMC/CCB/A2N/LCB/Dach Musik, alle bisherigen Förderinstrumente des Senates und die Berlin Music Week. Zählt man alle Fördermittel der verschiedenen Instrumente zusammen, stehen jährlich ca. 2,5 Mio. Euro zur Förderung populärer Musik zur Verfügung. Von 2013 bis 2020 wären das ca. 20 Mio. Euro. Das verbraucht zwar ein Stadttheater in Berlin in einem Jahr, aber es ist ein Anfang! Es ist gelungen das Thema »Pop« in die Berliner Politik zu tragen. Dort erkennt man zunehmend, dass dieser Motor für die künftige Entwicklung der Stadt eine bedeutende Rolle spielt. Wünschenswert wäre es, dass alle engagierten Akteure die vorhandenen strategischen Potenziale in einem Meilensteinplan 2014–2017–2020 zusammenfassen und vernetzt weiterarbeiten würden. Hier hat jetzt die Berliner Politik auch eine neue klare Aufgabe, nämlich mitzugestalten! Zur Nachhaltigkeit des Prozesses gehört auch eine mentale Resonanz bei den Berlinern, die nicht direkt mit der Branche zu tun haben. Erst wenn die Berliner »Pop« sind, wird daraus mehr. Die derzeit hundert Spielorte und jährlich tausend Veranstaltungen sind ein hoffnungsvolles Zeichen. Wird es gelingen eine neue Generation von Popakteuern zu aktivieren? Wo sind die neuen Trends? Berlin wird sich als moderner, urbaner Raum weiterentwickeln und dabei stark verändern. Ganz sicher mit viel Musik. Der Beitrag basiert auf einem Interview, das Johannes Martin im Februar 2013 führte.1
1
Vgl. Martin/Birke 2013.
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Birke: Seit Januar 2013 gibt es das Musicboard in Berlin, mit der Aufgabe, populäre Musik und Musikwirtschaft im Allgemeinen zu befördern. Die CDU hatte am Zustandekommen, zum Beispiel in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD, maßgeblichen Anteil daran. Das ist für Berlin ein Novum, historisch gesehen einzigartig. Auffällig ist, dass die CDU sich sehr stark dafür engagiert hat. Vor zwanzig Jahren wäre undenkbar gewesen, dass sich die CDU mit populärer Musik intensiv beschäftigt. Warum ist es für die konservative Volkspartei CDU wichtig, Popmusik zu fördern? Was hat sich geändert? Goiny: In der Erinnerung ist wohl manches an Kulturpolitik der CDU durch die letzten zehn Jahre in der Berliner Opposition etwas verblasst. Wir hatten schon seit den achtziger Jahren mit einem Kultursenator wie Volker Hassemer ein sehr breites Verständnis davon gehabt, was wir im Kulturbereich dieser Stadt fördern wollen. Auch damals war man ein stückweit überrascht, was die CDU an Aktivitäten entwickelte und bereit war, mit zu unterstützen. Im Grunde genommen knüpfen wir mit der Regierungsübernahme Ende 2011 politisch an diese Tradition an. Berlin: Die Kulturszene hat sich verändert. Natürlich haben wir gesehen, dass die Musikund Clubszene ein Faktor geworden ist, der Kreative anzieht, in dieser Stadt hält, der jungen und älteren Menschen ein spannendes Angebot macht, die Wirtschaft dieser Stadt stärkt und letztendlich auch Touristen nach Berlin holt. Birke: Die CDU hat sich diesbezüglich also neu aufgestellt, hat ein erweitertes Kulturkonzept, welches auch populäre Musik integriert. Ist das die Perspektive einzelner Akteure oder eine generelle Linie? Goiny: Wir haben da eigentlich gar nicht so ein ideologisches Gerüst oder Konzept, sondern wir sagen: Leute, die Kultur machen, die kreativ sind, sollen die Möglichkeit dafür bekommen. Genauso wie es im Bereich Wissenschaft und Forschung ja auch nicht unsere Aufgabe ist, zu definieren, wer wo was forschen darf. Leute sollen die Möglichkeit bekommen, ihre Ideen und Gedanken zu entwickeln. Das gilt für uns auch im Kulturbereich. Da sind wir wahrscheinlich weniger ideologisch als SPD und Grüne, die diesbezüglich sehr klare Vorstellungen davon haben, was sie kulturell fördern wollen. Wir sagen: Ob nun jemand Klassik oder Jazz macht, ob jemand Bildender Künstler ist, abstrakt oder Landschaften malt, ob jemand Electro Music, Black Music oder Reggae macht – egal. Wir wollen, dass die Menschen sich hier mit ihren künstlerischen Ideen auch verwirklichen können.
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Christian Goiny
Birke: Warum hat man das vor zwanzig Jahren nicht so zugeordnet? Goiny: Hat man eigentlich, auch zu Zeiten der Regierungsverantwortung unter Eberhard Diepgen. Es gab legendäre Veranstaltungen im Quasimodo1 und anderswo, wo der Kultursenator Volker Hassemer mit Juppy von der ufaFabrik2 bei Podiumsdiskussionen saß. Und dann sagte Juppy: »Mein Freund Volker«. Der hat ihn wegen seines kulturpolitischen Verständnisses in den höchsten Tönen gelobt. Das ist also gar nichts Neues. In den letzten zehn Jahren gab es eine etwas andere Kulturpolitik unter Rot-Rot, und wir wurden kulturpolitisch als Opposition nicht so wahrgenommen, weswegen das vielleicht in Vergessenheit geraten ist. Birke: Wie würdest du das Verständnis von Popkultur oder populärer Musik in der CDU beschreiben? Wir sprechen von populärer Musik seit ungefähr 100 Jahren. Es ist eine Musikkulturpraxis, die nicht allein über Notation funktioniert, sondern eher über eine Recording-Kultur, durch Massenmedien verbreitet und die eine große Rolle im Lebensgefühl von jungen Menschen spielt. Hat die CDU einen speziellen Zugang gefunden? Goiny: Auch bei uns sind viele Leute mit Pop und Rockmusik aufgewachsen. Wir haben ja nicht nur die Elvis Presley-Generation bei uns, sondern auch die, die zu Michael Jackson auf Partys unterwegs war. Wir hatten in der letzten Wahlperiode einen Abgeordneten, Peter Schwenkow, der 1980 die Waldbühne wiederbelebt hat. Das erste Konzert war von Bob Marley. Heute zieht die Junge Union mit ihrer Black is Beautiful-Partyreihe3 durch die Clubs dieser Stadt. Ich glaube, da gibt es auch ganz persönliche Erfahrungen, Berührungspunkte und auch Vorlieben. Es ist ja nicht so, dass alle CDU-Mitglieder nur Beethoven oder Wagner hören. Birke: Die SPD verbindet sich mit Herbert Grönemeyer, hört Grönemeyer. Die Grünen laden Jan Delay auf ihre 30-Jahre-Bundestagszugehörigkeit ein. Die Linken hatten Rio Reiser. Gibt es einen Künstler, von dem du sagst, der passt zur CDU? Goiny: Wir hatten früher diese legendären Kundgebungen, als Helmut Kohl noch Kanzler war, da trat immer Roberto Blanco auf und sagte: »Wir Schwarzen müssen zusammenhalten«. Aus dieser Phase sind wir zum Glück raus. Das ist heute ja bunt gemischt. Auf den CDU-Veranstaltungen sind auch schon ganz unterschiedliche Musiker aufgetreten – vielleicht nicht so bekannte Namen, weil der Wille zum politischen Bekenntnis zur Sozialdemokratie oder zu den Grünen vergleichs1 Das 1927/1928 zunächst als Tanzlokal erbaute Quasimodo gilt heute als einer der ältesten Jazzclubs in Berlin. Der im Keller des Delphi Filmpalasts am Zoo direkt neben dem Theater des Westens gelegene Club ist eine feste Spielstätte im Rahmenprogramm des Jazzfest Berlin. [http://www. quasimodo.de, 06.09.2013]. 2 Die ufaFabrik ist ein internationales Kulturzentrum bzw. Kulturgelände in Berlin-Tempelhof (Nähe U-Bahnhof »Ullsteinstraße«), das 1979 durch die Besetzung des ehemaligen AFIFA-Geländes (Aktiengesellschaft für Filmfabrikation), einer UFA-Tochter, entstand. Der bekannteste Bewohner der ufaFabrik ist Juppy (Hans-Josef Becher, geb. 1948), der schon seit den Anfängen dabei ist. [http://www.ufafabrik.de/intro.php, 06.09.2013]. 3 Die Black is Beautiful-Partyreihe ist Teil der 2004 wiederbelebten deutschlandweiten Kampagne Black is Beautiful der Jungen Union. [http://www.black-is-beautiful.de/site.html, 14.09.2013].
Neuer urbaner Mittelstand
weise größer ist als auf Unions-Seite. Doch auf dem letzten Medienempfang der CDU-Fraktion in Berlin haben die Kater Holzig dem Kulturstaatsminister Bernd Neumann ein Ständchen dargeboten – natürlich mit politischem Hintergrund, aber immerhin. Birke: Aus CDU-Sicht gibt es da gar keine Berührungsängste? Es wird eindeutig als Kulturgut angesehen und damit wahrscheinlich auch auf der kulturpolitischen Ebene als etwas, was es gesamtgesellschaftlich zu fördern oder zu gestalten gibt. Goiny: Auf jeden Fall. Musikkultur in unterschiedlichsten Ausprägungen begleitet die Menschen tagein, tagaus. Das macht vor keiner gesellschaftlichen Schicht halt. Auch im politischen Spektrum gibt es da keine Grenzen. Insofern ist es schön, dass diese Diskussion auch einen politischen Stellenwert bekommen hat. Es ist also nicht nur etwas Persönliches, sondern auch etwas, was als ein wichtiger Teil der Berliner Kulturlandschaft erkannt worden ist. Birke: Du nennst wirtschaftliche Effekte des Themas. Das ist ja eine Kernkompetenz der CDU: Wirtschaftspolitik. Was ist das für ein Wirtschaftsgut: populäre Musik, Clubkultur, Tourismus? Wo liegen die Potenziale, was bedeutet das für eine Stadt wie Berlin? Goiny: Man kann in der Tat gut aufbauen auf dem, was an Grundlagen durch Netzwerke wie die Berlin Music Commission und anderen geschaffen worden ist, die ja schon vor Jahren darlegten, welchen wirtschaftlichen Wert die Musik- und Clubszene in Berlin hat.4 Das ist ein Punkt, den wir in der jetzigen Koalitionsvereinbarung auch formuliert haben. Im Grunde genommen ist die Club- und Musikszene dieser Stadt eine großstadttypische Form des Mittelstands. Natürlich sind da kreative Leute, Künstler, die sich nicht nur in kommerzielle Schranken pressen lassen wollen. Aber letztlich sind das oftmals teilweise gut florierende Wirtschaftsbetriebe. Das eine schließt das andere nicht aus. Auch vielen international erfolgreichen Musikern spricht keiner ab, dass sie geniale Musiker, Songwriter und Künstler sind. Es ist ganz natürlich, dass viele in der Musikszene auch wirtschaftlich erfolgreich sind. Insofern glaube ich, ist dieser Gegensatz von Kommerzialität und künstlerischer Freiheit eher ein bisschen künstlich. Eine Stadt wie Berlin kann stolz darauf sein, was sie alles hervorgebracht hat. Oder besser, dass sich in Berlin solche Leute niederlassen und eine solche Szenekultur sich entwickeln konnte. Das ist ja nicht politisch gefördert worden, sondern eher von alleine entstanden. In manchen Diskussionen hat man den Eindruck, als sei dieser attraktive Teil Berlins etwas, dass sich der eine oder andere politisch auf die Fahnen schreiben möchte. Dem ist nicht so. Berlin bildete in den neunziger Jahren, in den Nach-Wende-Jahren einfach einen Nährboden, auf dem sich die Musik- und Clubszene so entwickeln konnte. Es gab damals keinen Masterplan, kein – wie auch immer geartetes – Konzept. Niemand sagte: Und jetzt wollen wir in Berlin überall Clubs ansiedeln. Das ist entstanden, weil die Stadt attraktiv war, weil die Lebensmöglichkeiten für viele 4
Vgl. den Beitrag von Sören Birke (S. 221 ff.) in diesem Buch.
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so waren, dass sie sich hier in dieser Weise entwickeln konnten. Jetzt ist der Punkt gekommen, wo das auch politisch verstärkt wahrgenommen wird. Birke: Ein urbaner neuer Mittelstand hat sich herausgebildet. Es gibt Erfahrungen mit Mittelstandsförderung. Sollte man eine Branchenentwicklung starten wie zu Industrialisierungszeiten? Können diese neuen Kreativindustrien überhaupt mit klassischen Industrieinstrumentarien gefördert werden? Existiert in der Wirtschaftsförderung schon so viel Know-how, dass auch aus Sicht der Politik zielführend gefördert oder unterstützt werden kann? Goiny: Vieles ist noch eher am Anfang. Ich habe den Eindruck, dass man sich bei der IBB eigentlich noch ein bisschen anders aufstellen müsste, um in diesem Bereich aktiver sein zu können. Ich verspreche mir generell davon in den nächsten Jahren noch mehr Impulse und Anregungen, um diesen Bereich der Kreativ wirtschaft in Berlin auch fördertechnisch so abzubilden, dass das passt. Das ist ein relativ neuer Erkenntnisprozess. Birke: Sind Politik und Verwaltung in Berlin schon bereit dazu, sich auf ein Experiment einzulassen bzw. etwas Neues auszuprobieren? Brauchen wir 2013 noch mehr Lobbyarbeit seitens der betreffenden Branchen? Goiny: Es ist mit Sicherheit nicht falsch, wenn man am Ball bleibt. Andererseits wird vielen in der Stadt bewusst, dass wir wieder in einer Zeitenwende stehen – Stichwort: die wachsende Metropole. Berlin hat eine Chance, in den nächsten zehn oder fünfzehn Jahren, vielleicht auf eine Einwohnerzahl von vier Millionen zu kommen. Das ist auch eine Frage der Infrastruktur, der Wirtschaftsförderung, es bedeutet für alle stadtgestalterisch relevanten Bereiche einen Paradigmenwechsel. Damit muss man natürlich viele Dinge neu bewerten: Fragen der Wirtschaftsförderung und -ansiedlung, die Fragen des Umgangs mit Flächen in der Stadt. Wir haben in dieser Wahlperiode die Chance, hier einen Startschuss zu geben und zu sagen: Wir fangen jetzt an, mit den einzelnen Akteuren diesen Paradigmenwechsel auch politisch zu gestalten. Birke: Populäre Musik ist etwas Flüchtiges. Moderne Stadtentwicklung hat sich eher um langfristige Themen gekümmert, wie soziale Stadt, Infrastruktur, Verkehr, Gesundheit, Kindergarten, Schule usw. Das ganze Thema Popkultur und populäre Musik, Clubs ist da noch gar nicht drin. Moderne Urbanität ist in Zukunft ohne Popkultur nicht mehr denkbar. Eine attraktive Stadt, in der man leben will, muss genau das integrieren. Gibt es aus Sicht der CDU einen Stadtentwicklungsansatz, der dahin oder darüber hinaus führt? Goiny: Berlin hat eigentlich gute Voraussetzungen. Berlin ist ja nicht historisch vom Kern nach außen gewachsen, sondern vor allem in den zwanziger Jahren durch eine Eingemeindung vieler Städte, Dörfer und Gemeinden entstanden. Deshalb besitzt Berlin diese große Anzahl kleiner Kieze und Stadtteile, in denen historisch auch immer alles zu finden war: Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Kultur, Gastronomie, Grün, Naherholung und die übliche kommunale Infrastruktur. Diese Mischung zu erhalten und als Ausgangspunkt für Stadtentwicklung zu begreifen, gibt uns
Neuer urbaner Mittelstand
die Chance, in Berlin für diese einzelnen Bedarfe Flächen zu reservieren oder zu entwickeln. Diese Chance sollten wir uns nicht zerstören lassen, auch wenn in bestimmten Stadtteilen bestimmte Entwicklungen eine besondere Dynamik bekommen: Wenn es en vogue ist, zu bestimmten Konditionen und in einem bestimmten Umfeld im Prenzlauer Berg zu wohnen, dann heißt es natürlich nicht, dass man andere Nutzungen außer Acht lassen sollte. Man hat in den vergangenen Jahren ein paar Fehler gemacht, auch in der bezirklichen Stadtplanung und Bauplanung. Das gilt es jetzt zu erkennen und abzustellen. Birke: Mit Freude las ich, dass ein Gesetz kommen soll, dass künftige Bauherren dazu auffordert, ihre Bauvorhaben dahingehend zu prüfen, ob Clubs in der Nähe vorhanden sind. Falls ja, dann bekäme er die Auflage, dass Schallschutzmaßnahmen seitens des Bauherren unternommen werden müssen. Das sind ja schon erste Ansätze, die wild gewachsene Infrastruktur Club zu schützen. Goiny: Genau. Bisher hatte man vor allem diese Bauvorhaben, das Neue, im Visier und dabei kaum beachtet, welche störenden Auswirkungen dadurch entstehen können. Es ist ja nicht der Wohnungsbau, der Emittent von Lärm ist, sondern die Konf liktlage entsteht dann, wenn der Club nebenan schon da ist. Da gibt es ja Beispiele: die KulturBrauerei 5, die Konzerthallen am Columbiadamm 6 und der
Klare Ansagen aus der Clubkultur
5
Siehe Fußnote 5, S. 39.
6 Zu den Konzerthallen am Columbiadamm zählen die 1951 in Berlin-Tempelhof erbaute Columbiahalle und der zugehörige Columbia-Club (heute: C-Club). Zunächst wurde die Columbiahalle als eine großzügige Sporthalle und der C-Club als Kino von den US-amerikanischen Alliierten genutzt. Erst 1998 eröffnete die Columbiahalle als Veranstaltungshalle und der C-Club als erster Radio-Club Berlins in Kooperation mit dem rbb-Radiosender Fritz (seit 2002 als einfacher Liveclub fortgeführt). [http://www.c-halle.com, 14.09.2013].
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Knaack7. Die Liste ist leider sehr lang. Wir in der Koalition sagen, ein Stück moderner Konflikt vermeidung kann darin bestehen, im Vorfeld schon mit dem Investor, dem Bauherren zu reden: Pass mal auf, in der Nachbarschaft deines Bauvorhabens existiert eine Einrichtung, ein Club oder Ähnliches, die ist bereits vorhanden und das ist auch gewollt und gewünscht. Um den sich anbahnenden Konflikt zu minimieren, schauen wir mal, welchen Beitrag du dazu leisten kannst. Das Ganze ist natürlich möglichst schon im Baugenehmigungsverfahren zu verabreden. Dazu sind Rechtsvorschriften zu ändern, da wollen wir die entsprechenden Anträge im Senat prüfen und stellen. Birke: Gibt es auch Überlegungen, die bisherige stadtplanerische Zuordnung der Clubs und Konzerthallen zu den Vergnügungsstätten hin zu den Kulturstätten zu ändern? Goiny: Das ist sicherlich eine Diskussion, die auch auf die Tagesordnung kommen wird. Wenn wir erkennen, dass das ein wichtiger Kultur- und Wirtschaftsfaktor ist müssen wir alle denkbaren Aspekte prüfen. Dann kann man aber auch an der einen oder anderen Stelle zu einem negativen Ergebnis kommen. Ich plädiere sehr dafür, ohne Scheuklappen und Vorurteile und durchaus mutig ranzugehen. Am Ende geht es natürlich um einen fairen Interessenausgleich. Birke: Berlin hat Schulden, Berlin hat Kapitalliegenschaften. In der neuen Liegenschaftspolitik wird bereits versucht, das auszugleichen. Wie wird Berlin in zehn Jahren aussehen? Einerseits existiert eine Verpflichtung zu Wirtschaftswachstum, andererseits lebt die Attraktivität dieser Stadt von diesen wild gewachsenen, magnetischen Orten der Popkultur. Ist es gar nur ein zeitlich begrenztes Phänomen, abhängig von der aktuellen Generation? Oder können wir das weitergeben an die nächste Generation? In London ist das durchaus anders gewachsen, in Paris darf man zu Silvester nicht mal mehr ein Feuerwerk machen. Wo siehst du die Chancen für Berlin? Goiny: Wenn man sich mal überlegt, wie die Stadtplaner in den Gründungsjahren Großberlins, also etwa um 1920 herum, gedacht und geplant haben, insbesondere auch die Verkehrsinfrastruktur, also Straßennetz, U- und S-Bahn-Netz und anderes, dann wurde damit eine Grundlage geschaffen, von der wir heute noch profitieren. Das war ein Planungshorizont, der auch 100 Jahre später noch aktuell ist, natürlich durch Weltkrieg, Nazi-Diktatur, Teilung und Mauerbau unterbrochen. Wenn es uns gelingt, im Umgang mit den Flächen der Stadt einen ähnlich perspektivischen Ansatz zu schaffen, erreichen wir viel. Wir müssen nicht alles sofort verkaufen und oder nur monetäre Aspekte im Blick haben, sondern wir müssen uns die Bedarfe 7 Der Knaack war ein Berliner Club im Ortsteil Prenzlauer Berg, der 1952 zunächst unter dem Motto »Sport und Spiel« eröffnete. Zu den Weltfestspielen 1973 wurde der Knaack ein Jugendclub mit Diskothek. Nach der Wende (1989-1990) gab es neben Diskomusik auch Livemusik in Konzerten, beispiels weise von Rammstein oder den Toten Hosen, zu hören. Aufgrund gerichtlicher Auseinandersetzungen wegen nächtlichen Lärms stellte der Knaack am Silvesterabend 2010 seinen Betrieb ein. Neuesten Meldungen zufolge ist eine Wiedereröffnung des Clubs am Mauerpark (ebenfalls im Prenzlauer Berg) für 2016 geplant. [http://www.knaack-berlin.de, 04.07.2013].
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anschauen. Wir wollen uns diese Gestaltungsmöglichkeiten auch noch in den nächsten zehn Jahren erhalten, und deswegen wird heute nicht alles verkauft. Jeder, der investieren möchte, hat noch genügend Möglichkeiten dazu. Dann schaffen wir es vielleicht auch, dieses Potenzial zu erhalten, um in zwanzig oder vierzig Jahren noch Freiräume zu haben.
Postbahnhof 8 am Ostbahnhof
Es muss ja nicht an jeder Ecke ein Stahlbeton- und Glaspalast entstehen. Vielleicht müssen wir sagen: Wir reservieren Flächen und Standorte einfach dauerhaft für kulturelle Nutzungen. Es gibt genügend große, zusammenhängende Flächen, wo man das mal probieren kann: Kreuzberg, Columbiadamm, KulturBrauerei, RAW-Gelände9, den innerstädtischen Spreebereich. Wir wollen diese neue Kategorie schaffen, wo eben der Mehrwert für diese Stadt nicht der höchste Kaufpreis ist, sondern der 8 Der Postbahnhof ist ein Gebäudeareal am Ostbahnhof, das seit 2004 als Veranstaltungsort genutzt wird. Durch zahl reiche Umbauten wurde das 1907/08 errichtete Bahnpostamt, bestehend aus einem Postdienstgebäude und dem eigentlichen Postbahnhof, modernisiert und beherbergt seit 2005 unter anderem den FritzClub. Die Räumlichkeiten des heute unter Denkmalschutz stehenden Gebäudeensembles: FritzClub, Gleishalle und Einpackkammer werden sowohl einzeln als auch kombiniert genutzt. [http://www.postbahnhof.de, 10.10.2013]. 9 Die Abkürzung RAW steht für Reichsbahnausbesserungswerk, eines der ältesten Eisenbahnwerke Berlins, das seinen Betrieb 1989 eingestellt hat. Das Gelände befindet sich in Berlin-Friedrichshain (Nähe S-Bahnhof »Warschauer Straße«) und wird seit 1998 vom RAW-Verein für Theater veranstaltungen, Lesungen, Workshops und Clubabende genutzt. [http://www.raw-tempel.de, 14.09.2013].
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Umgang und die Nutzung mit dieser Immobilie den Mehrwert darstellen. Da sind wir noch ganz am Anfang. Da muss der Senat jetzt anfangen, diese vierte Kategorie zu bestücken. Birke: Die Musikwirtschaft, Popkultur ist ein heterogenes Feld. Wir haben es nicht mit einer geschlossenen Branche zu tun, wie beispielsweise in der Pharmaindustrie, wo starke Lobbyverbände viel aufgebaut haben. Sondern es ist etwas ganz Heterogenes und auch Flüchtiges. Warum entwickelt Politik erst jetzt Förderinstrumente? Liegt es daran, dass es kein gesellschaftliches Subjekt gibt, was das Ganze trägt, dass es sehr subjektiv ist? Es gibt kein Branchensubjekt. Das ist keine neue Forderung. Dieter Gorny, Mark Chung und zum Beispiel auch Steffen Kampeter, Staatssekretär CDU, sagen immer wieder, die Kreativen müssten eigentlich erst einmal anfangen, sich politisch aufzustellen und für ihre Forderungen ringen. Goiny: Natürlich ist eine gute Struktur, eine Vernetzung oder Lobbyarbeit hilfreich. Auf der anderen Seite muss man schauen, ob es zur jeweiligen Situation passt. Vieles von dem, was Berlin so spannend macht, hat sich auch daraus entwickelt, dass kreative Leute in ihren eigenen Strukturen denken und arbeiten. Wichtig ist, dass von politischer Seite erkannt wird, welches Juwel in dieser Stadt existiert. Wenn es um Immobilien geht sind immer auch wirtschaftliche Interessen im Spiel. Da wird man irgendwie auch ein bisschen rechnen müssen. Aber wir dürfen nicht so viel domestizieren und müssen auch dafür sorgen, dass diese Formen hier stattfinden können. Birke: Wenn Politiker sagen, das habe Zukunftspotenzial und motorenhafte Kräfte, um Berlin nach vorne zu bringen – steht das nicht in einer starken Konkurrenz zu klassischen Haushaltsfeldern? Kultur kostet Geld, was kann man da machen? Goiny: Für Kultur geben wir in der Stadt ca. 1,8 Prozent unseres Haushaltes aus. Da sind die Opern schon drin. Das ist kein überdimensionierter Block. Schauen wir auf dessen Anteil am Erfolg Berlins als Metropole, dann ist das nicht viel. Wir sollten uns durchaus über Fragen einer Wirtschaftsförderung unterhalten. Da sind Gelder vorhanden. Ich glaube, das ist letztlich kein Thema, was an den leeren Kassen Berlins scheitern wird. Birke: Siehst du Potenziale in der Kombination mit EU-Mitteln? Oft werden auch europäische Mittel zurückgegeben, weil keine Kofinanzierungen zustande kamen. Goiny: Sowohl in der etablierten Kultur (Opern, Theater, Bühnen) als auch in der freien Kunstszene gibt es natürlich Wünsche nach stärkerer finanzieller Zuwendung. Das ist im Bereich der Musik- und Clubszene anders. Da gibt es so gut wie gar keine Förderung, aber sie fragen auch nicht danach. Die Akteure wollen lieber ihre Rahmenbedingungen und ihren Betrieb sichergestellt wissen. In diesem Sinne ist es dann eher klassischer Mittelstand, der die Auffassung vertritt, die Rahmenbedingungen zu gestalten. Da ist man schnell wieder bei den Detailthemen wie GEMA, Lärm und Nachbarschaft und anderes.
Neuer urbaner Mittelstand
Birke: Kommen wir noch mal auf das Musicboard zu sprechen. Die CDU, auch du persönlich, hatte maßgeblichen Anteil an der Etablierung. Was haben wir in den nächsten Jahren vom Board zu erwarten? Goiny: Ich fand die Idee, die ja aus den Musiknetzwerken kam, gut. Ich habe immer auch Vergleiche zur Filmförderung in dieser Stadt gezogen, die ist ja sehr erfolgreich geworden. Wir sind in Deutschland einer der größten Filmproduktionsstandorte. Filmleute aus aller Welt kommen mit großer Begeisterung nach Berlin, um hier Filme zu produzieren oder ihre Filmpremieren zu feiern. Wenn wir etwas Ähnliches mit dem Musicboard schaffen, dann wäre ein Ziel erreicht. Wenn TopMusiker aus aller Welt sagen: Ich muss auf meinen Tourneen in Berlin gewesen sein. Ich muss in Berlin produziert haben. Dann sind wir wirklich die Musikstadt Nummer eins und können irgendwann auch mal auf Augenhöhe nach London hinübergucken. Bisher schauen wir zu London und New York eher auf. Wenn das Musicboard den Anfang macht, Berlin als Musikstadt von Welt zu etablieren, wäre das eine sehr schöne Entwicklung. Das Gespräch führte Sören Birke im März 2013.
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IT und Pop Philip Wagemann
Bereits 2002 spricht Christian Höller von Pop als »›Synthetisierungsmaschine‹ […]: Darin funktioniert Pop nicht primär als Abgrenzungsmotor oder Verortungsstruktur, sondern geht innerhalb eines oder gemeinsam mit einem anderen Feld, etwa Politik oder neuen Wirtschaftsverhältnissen, ›synthetische‹ Verbindungen ein, die kontextuell und kontingent bestimmt sind.«1 Sein Interesse gilt anschließend vorrangig Identifikationsprozessen, in denen Ikonen des Pop – die Fender-Gitarre für Tony Blairs Britpop in der Downing Street oder Songs in Renault- oder Peugeot-Werbespots – durch Politik oder Wirtschaft usurpiert werden. Es geht ihm hier allerdings nicht um die alte Erzählung von der Vereinnahmung des Pop, sondern um die Durchdringungsgrade unterschiedlicher Kulturen mit Pop und zurück. Unter dem Label ›Leben mit Pop‹ verhandelt Höller die »Austauschbeziehungen zwischen Popkultur und den sie ergänzenden, stets auch mitkonstituierenden Bereichen von Mode, Lifestyle, Produktwerbung, Film, Kunst, Computerkultur und vielem anderen mehr […]. Der Austausch erfolgt überwiegend wechselseitig: Ebenso wie einzelne Popstile stets von korporativen Interessen mitbestimmt sind, findet sich eine aufsteigende Jungunternehmerkultur mehr und mehr über leicht verfügbare Imageversatzstücke aus dem Popbereich an den vermeintlichen Puls der Zeit angeschlossen.«2 Der Fokus der folgenden Assoziationen gilt den Interferenzen und Durchdringungen von Pop und Information Technology im weitesten Sinn.
Zur Audienz beim Nerd Neulich: Die Besprechungssituation zwischen mehreren leitenden Mitarbeitern und Softwareentwicklern eines IT-Unternehmens und einem selbständigen iPhone-/ iPad-App-Entwickler markiert einen Paradigmenwechsel. Die ganze Situation hat etwas Karikaturhaftes, geradezu Lächerliches an sich. Ein Mittzwanziger mit sorgfältig gepflegten Dreads, Wollmütze und Kapuzenjacke sitzt reichlich ein Jahrzehnt entfernten beanzugten Herren gegenüber, die noch zwischen Arbeit und Freizeit und der entsprechenden Kleidung unterscheiden können, dürfen und müssen. Er steht in Konkurrenz zu anderen vorstellig gewordenen Anbietern, eine traditionelle Pitch1
Höller 2002, S. 84.
2
Ebd., S. 86.
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Philip Wagemann
Situation. Und dennoch, hier bewirbt sich nicht im herkömmlichen Sinn ein externer Dienstleister um einen Auftrag. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt: Ein ohnehin ausgebuchter selbstständiger Softwareentwickler hört sich an, was die potenziellen Kunden ihm anbieten, und entscheidet dann, ob er Lust auf diesen Auftrag hat oder nicht. Fast anachronistisch seiner äußeren Erscheinung gegenüber sind seine Sprechakte so präzise wie unironisch und humorfrei. »Ich benötige dann eine vollständige Feindefinition der Anforderungen. Liegt mir diese vor, kann ich eine erste Aufwandschätzung liefern. Ich rechne stundenbasiert ab. Ist mein Einsatz hier vor Ort gefragt, oder soll ich Heftpflaster-bebrillter Bill-Gates-Nerd remote arbeiten? Hier sehen Sie einige Beispiele, die meine Code-Konventionen verdeutlichen.« Usw. Eine knappe Woche nach dem Termin liefert er einen im Stil von iPad-Werbespots produzierten Kurzfilm, der – selbstverständlich von einem Instrumental in Singer-Songwriter-Manier unterlegt – einen funktionstüchtigen Prototypen der angefragten App präsentiert. Ist das die sogenannte (auch nicht mehr) neue Ernsthaftigkeit? Wie sieht es mit popkulturellem Hedonismus aus? Ironie? Im Gegensatz zu den erwähnten Herren im Anzug, die es gewohnt sind, ihre Kommunikate insbesondere in Besprechungen mit Externen mit spaßigen Paratexten zu versehen, überlässt dieser neue Nerd-Typus die Ironie seiner Arbeit, die als spielerischer Ernst bzw. ernsthaftes Spiel die vorgeblich durch Business Styles verbriefte Professionalität seiner Gegenüber als Fake zu entlarven im Stande ist. Dies ist nicht mehr der Heftpflaster-bebrillte Bill-Gates-Nerd, den wir aus 1980 er-USHighschool-Filmen kennen (Abb.). Auch Chaos-Computer-Club-Aktivistin3 die selbstbewusst-affirmative Variante der Chaos-Computer-Club-Aktivisten (Abb.) sieht anders aus und begreift sich vor allem nicht als Unternehmer. Möglicherweise erleben wir auch die erste Post-Nerd-Generation von Nerds, die paradessent BusinessEtiketten unterwandern und gleichzeitig unternehmerisches Denken in hochkonzentrierter Form zur Aufführung bringen. 3 3 [http://www.morgenpost.de/berlin/article828349/Wie_Computerhacker_wirklich_sind. html, 27.02.2011].
IT und Pop
Der sich hier ankündigende Machtverlust der vermeintlich ›herrschenden Klasse‹ lässt die ehemalige Opposition von erwachsenem Establishment und jugendlicher Rebellion (Urmythos des Pop) nur noch als müden Witz erscheinen. Welche Transformationsprozesse können hier eine Rolle gespielt haben, und wie lassen sie sich koppeln an technologische wie popkulturelle Entwicklungen und Verwerfungen? Die Automaten haben ihre Faszination eingebüßt. Die Mensch-Maschine-Fantasien, die beispielsweise das ästhetische Arsenal von Kraftwerk beflügeln konnten, hatten immer auch zu tun mit den Bildern der in Metropolis durch die Maschinen kontrollierten Arbeiter. Allmächtige kalte Apparate besiedeln Produkte der Popular Culture wie wenige andere Topoi der Technikgeschichte. Wer im Umkehrschluss das Wissen über die Funktionsweise dieser Maschinen hatte, sozusagen mit ihnen in ihrer Sprache kommunizieren konnte, genoss geradezu religiöse Anerkennung. Mit dem Verschwinden riesiger Mainframe-Rechner und hässlicher PCs und der Profanisierung des Computer-Experten wurde das Modell des Fricklers und Tüftlers außerhalb militärischer und großindustrieller Bereiche hoffähig. Großrechner sind als Projektionsfläche dem an kleinen digitalen Gerätschaften werkelnden Amateuringenieur, dem Nerd der ersten Stunde, gewichen, der beispielsweise im Umfeld von The-Notwist-Figuren wie den Nerdbebrillten Martin Gretschmann (Abb.) alias (bezeichnenderweise) Console im bayrischen Weilheim ermöglichte. Der popkulturell transformierte Nerd steht inzwischen wieder dem Nerd im eigent- Martin Gretschmann alias Console lichen Sinn Pate. Über diese mehrfachen De- und Rekontextualisierungen zwischen IT und Pop hat sich subkutan das Verhältnis von Popstar- und IT-Unternehmertum bisweilen verkehrt. The Notwist wirken geradezu wie eine kleinunternehmerische Computerklitsche, während sich auf dem Titel der Zeitschrift Business Punk Dennis Crowley (Abb. S. 240), Erfinder von Foursquare, wie ein 90er-Jahre Indie-Rocker verkauft und Julian Assange (Abb. S. 240) den dandyesken globalen APO-Superstar gibt. »Den Mastermind von Wikileaks, Julian Assange, hat es quasi über Nacht zu einer Weltfigur mit allen Anzeichen mythischer Hyperwirklichkeit gemacht. Eben noch ein ungeduschter Anarchist mit zerknittertem Hemd, durchgescheuerten Socken und Rucksack (wie seine Weggefährten berichten), verwandelt er sich in einen Dandy mit eng geschnittenen Anzügen und lässigen Sonnenbrillen, sein ätherisch-farbloses Haar strahlt etwas Außerirdisches aus. Kein Popstar ist je so schnell zu einer Weltikone geworden.«4 4
Mangold 2011, S. 53.
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Während Crowley die Einheit von Pop und Unternehmertum zu repräsentieren im Stande ist, zeigt Assange, wie ein Popstar nicht nur symbolische Kriegsführung betreiben kann, sondern inzwischen auf der weltpolitischen Ebene militärischer und geheimdienstlicher Praxen angekommen ist. Es ist nicht frei von Komik, dass man nun versucht, ihn (wie den ehemaligen King of Pop) einer völlig irdischen Straftat zu überführen. Indes arbeiten einige seiner ehemaligen Bandmitglieder unter dem Label OpenLeaks weiter.
Zeitschrift Business Punk mit Dennis Crowley
Julian Assange
Refetischisierung/Sekundäre Dinghaftigkeit Die sogenannte Virtualisierung hat uns in den Neunzigern schlaflose Proseminare bereitet: Überall nur noch Rasenmähermänner, die auf ihren Sofas verfetten. Dann die Nullerjahre: eine Dekade der medienkritischen Desorientierung, nachdem Y2K doch irgendwie nicht hoffnungsgemäß die archaischen Bedürfnisse nach einer erneut zauberhaften Welt befriedigt hat. Die Siliziumastrologie in Erwartung des großen Jahrtausendwendecrashs war durchaus bemerkenswert – vermutlich waren sich die wundersamen Rechenautomaten auch nicht einig, wann denn nun Jesus geboren wurde. Und jetzt sind plötzlich alle unterwegs mit ihren »Selbsttelefonen« (Philip Tägert). Dürfen wir Tim O’Reilly glauben, dann ist damit die Sensorik eines ›Internets der Dinge‹ benannt: Nachdem das Web 2.0 – ein Begriff den niemand mehr als der Verleger und Internet-Visionär O’Reilly geprägt hat – das interaktive Moment des als Plattform verstandenen Internets massentauglich gemacht hat, firmiert nun unter dem Label Web 2 (Web Squared) eine Interaktionslogik zwischen Menschen, Maschinen und Dingen, die der Leitdifferenz von virtueller und realer Realität eine Absage erteilt. Das Web beschreibt er als lernenden Organismus, dem die User mit ihren Smartphones und ähnlichen Devices, die als technologische Sensoren Bilder, Töne, Videos mit personenbezogenen und Geodaten verknüpfen, als Sinne dienen. Was hier heranwachse, sei eine Struktur, die Menschen mit Dingen und Dinge mit
IT und Pop
Dingen verknüpfe. Alles werfe nun einen Datenschatten, habe eine Datenaura.5 Zur Identifikation benötigen die Dinge keine eineindeutigen Bezeichner mehr: Auch ohne Barcodescan können ausreichend informierte Web Services durch Mustererkennung eine Flasche Wein anhand des Etiketts erkennen und anschließend dem Einkäufer einen Supermarkt um die Ecke empfehlen, der den gleichen Wein günstiger anbietet. Dazu einmal die letzten Sätze von O’Reillys Keynote zur Web 2.0 Summit im Oktober 2009: »The Web is no longer an industry unto itself – the Web is now the world. And the world needs our help. If we are going to solve the world’s most pressing problems, we must put the power of the Web to work – its technologies, its business models, and perhaps most importantly, its philosophies of openness, collective intelligence, and transparency. And to do that, we must take the Web to another level. We can’t afford incremental evolution anymore. It’s time for the Web to engage the real world. Web meets World – that’s Web Squared.«6 Die von O’Reilly betonte Philosophie der Offenheit befindet sich derzeit offenbar in einer prekären Situation, so lässt zumindest die in einem ›Book Sprint‹ von fünf Tagen im Januar 2011 verfasste und anschließend im Rahmen der Transmediale in Berlin vorgelegte Publikation An Open Web vermuten. »[T]he World Wide Web from its very inception was designed to be a free and open medium through which human knowledge is created, accessed and exchanged. But, that Web is in danger of coming to a close.«7 Das Web 2 als offene Struktur hat offenbar gefährliche Kontrahenten. Ganz anders als von den Verfechtern des Open Web erhofft, gestaltet sich die Situation exemplarisch im Online-Musikmarkt. Als Zwischenstation seiner Beantwortung der Frage Wo bleibt das Musikobjekt? (im Zeitalter fortgeschrittener Digitalisierung) bemerkt Diedrich Diederichsen, dass »nicht im Jenseits der Verdinglichung, sondern eben in einer produktiven Spannung zwischen Ding, Format, Waren und Standard auf der einen Seite und Fluss, Endlosigkeit, Unabschließbarkeit, Ambivalenz und Ordnungslosigkeit auf der anderen Seite die gesellschaftliche Rolle von Musik zu suchen sei – zumindest einer Musik, die einen Bezug zu dem Leben in dieser Gesellschaft hat, ohne sich ihren Regeln komplett zu unterwerfen, noch ganz eskapistisch ein elektronisch-befreites Gegenüber zu erträumen. Doch das kommt ja fast schon einer Konklusion gleich – und das würde doch ein bißchen zu schnell gehen und vorgreifen.«8 Mit zehn Jahren Abstand geht mir das nicht mehr zu schnell. Die Objektivierung von Musik ist – abgesehen von der Tatsache, dass Tonträger noch immer massenhaft produziert und verkauft werden – keineswegs an ihr Ende gekommen, 5
Vgl. O’Reilly/Battelle 2009.
6
Ebd., S.10.
7
Hyde et al. 2011, S. 2.
8
Diederichsen 2001, S. 239–240.
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vielmehr hat offenbar eine Transformation des Materials und seiner Erfahrung stattgefunden. Die kommerziellen Angebote des Musikzugangs operieren mit Interfaces, die einen quasihaptischen Zugriff auf Tracks oder Alben anbieten, eine Art sekundärer Dinghaftigkeit generieren. An der Spitze dieser Entwicklung hat sich offenbar Apple festgesetzt. In Kombination mit der proprietären Software iTunes, ohne deren Installation ein Einkauf im iTunes Store schlechterdings nicht möglich ist und mit der nirgends sonst als im iTunes Store eingekauft werden kann, stabilisieren iPod, iPhone und iPad als ebenso abgeschlossene Hardware jene von Diederichsen beschriebene Spannung zwischen Objekt und Fluss. Der Gebrauch der Endgeräte-Hard- und Software als Plattenladen, Plattensammlung und Plattenspieler funktioniert geradezu als doppelt fetischistischer Musikkonsum. Das ›schöne‹ Gerät beherbergt die wohl sortierte, konvenient durchblätterbare Plattensammlung, aus der ich auswähle und auflege. »Die elektronische Abschaffung von Konsum wird sich jedenfalls ihrerseits auch wieder konsumieren lassen«9, so Diederichsen. Stimmt. Was definitiv und unwiederbringlich durch die Digitalisierung von Musik exekutiert wurde, ist Knappheit. Die Erstveröffentlichung hat im virtuellen Plattenregal keinen Platz mehr. Die Aura der Dinge des Sammmlerfetischisten ist einer mess- und auswertbaren Datenaura gewichen.
Improvisation, Agilität, DIY In einschlägigen Zeitschriften, wie dem JAVA-Magazin, und auf News-Plattformen, wie heise.de, wurde 2011 »10 Jahre Agiles Manifest« gefeiert. Am 12. Februar 2001 verfassten siebzehn Softwareentwickler in Snowbird (Utah) einen Wertekanon für die agile Softwareentwicklung: »Manifesto for Agile Software Development We are uncovering better ways of developing software by doing it and helping others do it. Through this work we have come to value: Individuals and interactions over processes and tools Working software over comprehensive documentation Customer collaboration over contract negotiation Responding to change over following a plan That is, while there is value in the items on the right, we value the items on the left more.10« Worum geht es hier? Nicht nur in der Software-Entwicklung hat sich in den letzten Jahren zunehmend die Einsicht durchgesetzt, dass langfristig angelegte Projektpläne 9
Ebd., S. 244.
10
Beck et al. 2001.
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oftmals nicht gut beschreiben können, was wann und wie von wem getan werden soll, um ein ›gewisses‹ Ziel zu erreichen. Das hat damit zu tun, dass die detaillierte Aufnahme von Anforderungen und ihre Übersetzung in ebenso ausdifferenzierte Aufgabenpakete für die Implementierung (insbesondere in Projekten mit hohem Innovationsgrad) im Vorhinein kaum möglich sind. Zudem generiert ein solcher Planungsprozess sehr hohe Aufwände, soll er denn einigermaßen aussagekräftige Ergebnisse liefern. Es geht also viel Zeit ins Land, bevor überhaupt mit dem ersten Umsetzungsschritt begonnen werden kann. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass spätestens zum Zeitpunkt der Auslieferung der im Pflichtenheft festgelegten Funktionalitäten die Anforderungssituation nicht mehr derjenigen entspricht, die der Planungsphase zugrunde lag. Planungskatastrophen sind geradezu vorprogrammiert. »Planning Is Guessing«, behaupten Jason Fried und David Heinemeier Hansson in ihrem 2010 erschienenen Buch Rework: »Wenn man aus Vermutungen Pläne macht, begibt man sich auf gefährliches Terrain. Bei Plänen bestimmt die Vergangenheit über die Zukunft. Sie verpassen Ihnen Scheuklappen: ›So machen wir das, weil wir gesagt haben, dass wir es so machen werden.‹ Und da liegt das Problem: Pläne und Improvisation passen nicht zusammen. Aber Sie müssen improvisieren können.«11 Welche Art von Improvisation ist hier gemeint? Zwei Versionen möchte ich (gar nicht so sehr aus historischer als vielmehr aus struktureller Perspektive) unterscheiden. Improvisationstyp 1: Die Band im Jazzclub bleibt unter sich und das Publikum ist Zeuge eines Konzertereignisses. Kennerschaft/Expertentum und Künstlertum. Zwei Seiten einer Medaille. Kundenbindung? Gerade die so klare Trennung des Produzenten vom Kunden bewahrt bzw. ermöglicht die dauerhafte und in erster Instanz distanzierte Beziehung des Publikums zum Künstler. Zwar ist der traditionelle, improvisierende Musiker, wie wir ihn aus dem Jazz kennen, nicht außerhalb jeglicher ökonomischer Verwertungszusammenhänge zu sehen, aber Form und Inhalt der Improvisation als solche sind nicht in Produktions-Konsumtions-Feedbackschleifen eingebunden. Miles Davis kehrte seinem Publikum den Rücken zu, aus anderen Gründen ebenso Eddie van Halen Ende der 70er-Jahre. Und das Publikum war eben nicht dem Künstler gegenüber Kunde, sondern nur innerhalb der kulturindustriellen Vertriebs- und Marketingmaschinerie den Labels als Marktvertretern des Künstlers gegenüber. Gerade die Erzählung vom unabhängigen Künstler, dem höchstens der Produzent im Studio, aber auf keinen Fall die Marketingabteilung des Labels in den künstlerischen Schaffensprozess hineinreden durfte, zeugt von dieser klaren Trennung zweier Welten: die ökonomische Konstellation ›Label – Kunde‹ gegenüber einer inhaltlich-identifikatorischen ›Künstler-Publikum‹-Relation. Jeder vielbeachtete Labelwechsel eines Stars, der selbstverständlich vorrangig kommerziell zu begründen ist, aktiviert diese alte Erzählung, geht es doch in öffentlichen Verlautbarungen meist um musikalisch-künstlerische Differenzen zwischen Künstler und Label.
11
Fried/Hansson 2010, S. 14.
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Wenn auch nicht verschwunden, hat diese Narration an Gewicht verloren. Im Herbst 2010 werden in der Spex längst totgeglaubte Anti-Mainstream-Volten gegen Arcade Fire in Stellung gebracht, da diese ihr Bandprojekt mehr oder weniger als Unternehmen betreiben, letztlich also nicht mehr dem Wohl und Wehe eines Major Labels ausgesetzt sind, sondern die Rollenverteilung weitgehend verkehren bzw. suspendieren.12 Korreliert der eigene Bedeutungsverlust des Magazins für Popkultur mit dem Dominanzverlust der alten großen Erzählung? Das Publikum als Kunde zu betrachten verändert die Improvisationskonstellation, womit wir bei Improvisationstyp 2 sind: Fangen wir auch hier im Club an. Die Performance des DJs ist nie nur seine, sondern die des Kollektivs DJ – Publikum. Die Bindung ist akut und kurzfristig, zumindest ihrer elementaren Funktionsweise nach. Die Idee des Customer–Relationship-Management findet hier ihre sinnlich erfahrbare Form. Die Improvisation ist nicht die eines agierenden Künstlers, sondern seines Interagierens mit dem Publikum und vice versa. Hier wie in den Ideen des Web 2.0 tut es der Konsument selbst, eine Art neue Generation des DIY-Gedankens – dies ist die Analogie zur Durchdringung der projektorientierten Arbeitswelt durch die Protagonisten des Agilen: Der Kunde wird als Product Owner permanent in kurzen Zyklen in den iterativen Entwicklungsprozess involviert und verändert das Produkt mit jedem Feedback auf ein Release. Customer Co-Creation ist die Devise für den DJ-Track und für die agile Produktentwicklung. Die Tools sehen entsprechend anders aus. Die Sequencersoftware Live – der Name ist Programm – des Berliner Unternehmens Ableton stellt der aus Konkurrenzprodukten als Studiosimulation bekannten Arrangement-View (Abb. S. 244 o. l.) eine Session-View (Abb. S. 244 u. l.) zur Seite.
Screenshots der Sequencersoftware Live des Berliner Unternehmens Ableton 12
Vgl. Hammelehle 2010.
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Der Echtzeit- und Interaktionsgedanke stellt das Musikmachen ebenso in den Vordergrund wie die ›getting things done‹-Attitüde der agilen Entwicklung, die bewusst die lineare, im Prinzip an einem Werkbegriff festhaltende Erzählung der Wasserfall-Projektplanung (Abb. S. 244 o. r.) kalt stellt. Das ästhetische Pendant zur Session-View bildet das Planningboard in der agilen Entwicklung (Abb. S. 244 u. r.), auf dem – gerne handschriftlich auf Post-It’s notiert – die konkreten Tasks für die nächste (eine Woche bis höchstens 30 Tage dauernde) Entwicklungsphase festgehalten werden. Die Zyklen digitaler Innovation sind so kurz wie die Gezeiten des Pop. Der Vorwurf der Vergänglichkeit von Moden beschreibt die Stärke des Pop, dem Urteil entgleitet deshalb permanent sein Gegenstand. Am Ende verhält sich das meiste anders als man im Vorhinein zu planen können glaubte. Wenn man sich darüber im Klaren ist, dass das, was man bekommt, immer nur sein wird, was man nicht auf dem Plan hatte, wird man zu dem Schluss kommen, dass Planung permanent und insofern in etwa umsetzungssynchron stattfinden sollte. Ziel ist zu bekommen, was man brauchen wird, nicht, was man brauchte. So gesehen ist Improvisation nur ein Extrem von Planung. Die Verfechter des Agilen rufen Ihren Kunden froh entgegen: »Ihr wisst nicht, was Ihr wollt? Lasst uns anfangen!« Das erinnert an eine grundlegende Figur des Punk: »Ich kann nicht Gitarre spielen, Du nicht Schlagzeug und Du nicht Bass, also lasst uns eine Band gründen.« Wichtig ist: nicht »trotzdem«, sondern »also«. Die Attraktivität des Agilen speist sich nicht zuletzt aus dieser subkutanen Verbindung zum adoleszent-rebellischen Pathos popkulturellen Aufbegehrens gegen etablierte Muster und stellt zugleich eine – wohlgemerkt – scheinbare Ablehnung der wohldurchdachten ökonomischen Ratio zur Schau. Als Leistung eines impliziten Gedächtnisses haben die Rebellionspraktiken des Pop nunmehr die Sphäre ihres Gegners nicht nur betreten, sondern vielmehr durchdrungen: Mainstream der Minderheiten 2.0. Die stilistischen/habituellen Technologien der Popular Culture haben sich in der Strukturierung von projektorientierter Arbeit derart niedergeschlagen, dass diese zum Teil selbst popkulturellen Mechanismen folgt. Der Mainstream der Minderheiten ist in seiner heutigen Form syntaktisch und nicht mehr nur semantisch wesentlicher Teil der Organisation des wirtschaftlichen Lebens. Gerade in der Optimierung von Wertschöpfungsprozessen gefällt man sich als Rebell gegenüber einer – aus zweckrational-ökonomischer Sicht – ineffizienten Lasten-Pflichtenheft-Kultur.
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Kiltz: Der Verband unabhängiger Musikunternehmen e. V., kurz VUT, wurde vor 20 Jahren gegründet. Mittlerweile sind im Verein rund 1.300 Unternehmen aus dem ganzen musikalischen Spektrum vertreten, von Klassik, Schlager über Jazz, Weltmusik bis hin zu Pop, Rock, Punk, HipHop, Elektronische Musik. Sie alle handeln im weitesten Sinne mit Musikrechten. Zudem agieren sie unabhängig, also »unabhängig von Konzerninteressen« und nicht von einem musikwirtschaftsfremden Unternehmenszweig dominiert. Auch in anderen Ländern gibt es eigenständige Verbände, die die kleinen und mittelständischen Unternehmen der Musikwirtschaft vertreten, zum Beispiel in Großbritannien und Frankreich. Im Buch- oder Filmmarkt ist das anders. Hier sind Industrie und Mittelstand in einem Verband organisiert. Ich vermute, dass dies damit zu tun hat, dass der Musikmarkt international von sehr wenigen Unternehmen dominiert wird. Zum Zeitpunkt der Gründung des VUT e.V. gab es noch sechs, heute noch drei weltumspannende Konzerne, die die Musikmärkte mit wenigen Ausnahmen dominieren. Deren nationale Niederlassungen Warner Deutschland, Universal Deutschland und Sony Deutschland vermarkten internationales Repertoire lokal. Es gibt auch Divisionen für lokales Repertoire, die sich aber hausintern gegen internationale Stars behaupten müssen. Birke: Schon vor 20 Jahren hat man gesagt, dass das eigene lokale oder regionale Repertoire so stark werden muss, dass es eigene Vertretungen braucht. Kiltz: Schon viel länger. Dafür gibt es viele Gründe, nicht nur diesen. Um eine Musikerkarriere zu bauen ist es, ähnlich wie bei einem Fußballklub meistens nötig, dass der Weg vom ambitionierten Semi-Profi zum Vollzeit-Profi begleitet wird. Zu Anfang einer Musikerkarriere lohnt sich das für Unternehmen mit einem großen Verwaltungsapparat nicht. Musiker arbeiten mit kleinen Unternehmen zusammen, weil diese den speziellen Markt für ihre Musik bedienen, weil sie ihnen künstlerische Freiheit lassen, weil die Chemie stimmt oder auch, weil sie für ein großes Unternehmen wirtschaftlich (noch) nicht interessant sind. Die digitale Welt läuft nicht viel anders. Der Musiker entscheidet, mit welchem Setting, mit welchen Menschen er am besten klar kommt, wo er seine Interessen am besten wahrgenommen sieht, mit wem er seine Ziele am Besten realisieren kann. Dazu kommt es bei Musikern am Anfang ihrer Karriere auch darauf an, überhaupt ein Unternehmen, einen Menschen zu finden, der an ihn glaubt, ihn fördert und finanziert und ihm seine Arbeitszeit widmet.
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Tritt der seltene Fall ein, dass ein Musiker tatsächlich den Massenmarkt erreicht, wird der Künstlername zum Markenzeichen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ist ihm sicher. Dadurch wird es leichter, Einnahmen zu generieren, allerdings wird der Künstler auch interessanter für andere Marktteilnehmer. Oft locken andere Unternehmen die Künstler mit der Aussicht auf mehr TV-Auftritte, höhere Vorschüsse und eine Beschleunigung der internationalen Karriere. Wir halten fest: Unabhängige Unternehmen arbeiten in der Regel gemeinsam mit den Musikern daran, eine Karriere über einen langen Zeitraum aufzubauen, eine gesunde Fanbasis zu erreichen, die auch dem Musiker Zeit für Weiterentwicklung lässt. Für große Unternehmen werden Künstler in der Regel erst ab einer bestimmten Verkaufserwartung interessant, sie stellen ihre Vertriebs- und Marketingleistung zur Verfügung und zielen in der Regel darauf, gemeinsam mit dem Künstler einen Massenmarkt zu erreichen. Oft werden Künstler nach Erreichen einer bestimmten Bekanntheit von einem vermeintlich oder tatsächlich potenteren Wettbewerber abgeworben. Solange dieses System sich gegenseitig befruchtet, ist es gesund. Werden aber wenige Wettbewerber zu groß, gerät der Zugang zum Markt in Schieflage. Zwangsläufig wird kleineren Unternehmen der Marktzugang erschwert, gleichzeitig schneiden sich die Oligopole damit selber vom »Nachschub« an mainstreamkompatiblen Musikern ab. Das Gleichgewicht des Musikmarkts ist durch die jahrzehntelange Dominanz weniger Unternehmen permanent gefährdet. Nun zum lokalen Repertoire. Viele Musiker konnten und wollten Mitte oder Ende der siebziger Jahre nicht mit einem der Konzerne zusammenarbeiten. Allerdings gab es auch kaum Alternativen. Hier in Deutschland erfanden Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre Embryo, Ton Steine Scherben und andere Schneeball Records. Künstler tauschten untereinander ihre Platten, damit die jeweils andere Band die Platten auf Konzerten mitverkaufen konnte. Später sind daraus die ersten unabhängigen Label- und Vertriebsstrukturen entstanden. Auf der Schneeball-Seite1 selber wird darauf hingewiesen, dass es mit FMP (Free Music Production) durchaus bereits ein anderes Netzwerk gab, allerdings ging die Entwicklung der IndependentStrukturen in Deutschland maßgeblich von Schneeball aus. Mein Eindruck ist, dass jede ernstzunehmende musikalische Subkultur aus solchen eher zufällig und später professionalisierten unabhängigen Strukturen entstand. Beispielsweise vor 25 Jahren: Das war die Zeit der Hamburger Schule2, die nicht gerne so genannt wird.
1
Schneeball Records. [http://www.schneeball-records.de/main-29.html, 02.05.2013].
2 Die »Hamburger Schule« entstand Ende der 1980er-Jahre. Den Begriff prägte wahrscheinlich der Musikjournalist Thomas Groß in seinem 1993 bei der taz erschienenen Artikel »Alles total im Griff«. Mit dieser Bezeichnung wurden vornehmlich Hamburger Bands, wie zum Beispiel Cpt. Kirk &, Blumfeld oder Die Goldenen Zitronen, in Verbindung gebracht, deren Musik sich vor allem durch deutschsprachige Texte mit intellektuellem Anspruch auszeichnet. Wichtige Labels der »Hamburger Schule« sind beispielsweise L’age D’or, What’s so funny about? oder Buback.
Label-Lobby VUT
Damals haben die Musiker sich in Indie-Strukturen wie L’age D’or3 oder Buback4 bewegt. Heute sind viele der Protagonisten von damals Stars und bei Majors unter Vertrag. Etwa zu dieser Zeit ist auch der VUT in Hamburg gegründet worden mit dem Ziel, den unabhängigen Unternehmen eine Stimme zu geben. Birke: Viele kleine Labels gibt es europaweit und im amerikanischen Raum seit es Aufzeichnungsmöglichkeiten für Musik gibt. Welche Möglichkeiten siehst du für Investitionen und Förderungen solcher Systeme? Warum schließt man sich zu einem Verband zusammen? Ist das nur eine deutsche Variante? Kiltz: Der konkrete Auslöser für die Gründung des VUT war Thomas M. Stein, der in seiner Funktion als Geschäftsführer der BMG postulierte, dass die CD eigent lich das Doppelte, nämlich etwa 50 Mark kosten müsste. Kostet eine CD aber 25 Mark, dann könnte ich für 50 Mark sowohl das Album der bekannten Band kaufen, als auch das Risiko eingehen, zusätzlich Musik einer noch unbekannten Band mitzunehmen. So jedenfalls dachten die VUT-Gründer damals. Sie waren überzeugt: Wenn eine CD 50 Mark kostet, dann haben wir mit unseren »Aufbauthemen« schlechte Chancen. Übrigens, die Label-Commission5 ist vor einem ähnlichen Hintergrund entstanden, nämlich als Universal nach Berlin kam. Das Land stellte Universal 50 Mio. Euro zur Verfügung, damit sie sich ansiedeln. Die unabhängigen Unternehmer ärgerte, dass die Medien den Zuzug so kommentierten, als sei nun endlich auch die Musikwirtschaft in Berlin ansässig geworden. Dass bereits damals allein rund 500 Musiklabels in Berlin ansässig waren, wurde marginalisiert. Was dabei vergessen wurde: Nicht Universal machte Berlin zur Musikstadt, sondern Universal kam nach Berlin, weil dort die Musik spielte. Zurück zum VUT. Es waren wenige Personen, die letztlich die Initiative ergriffen und den Verein gründeten. VUT ist organisch gewachsen, aber erst mit Abschluss des Gesamtvertrages mit der GEMA, als es einen klaren wirtschaftlichen Vorteil für die Mitglieder gab, machte der Verband den großen Sprung und erreichte hohe Mitgliederzahlen. Über den Zusammenschluss wurde es möglich, einen Gesamtvertrag mit der GEMA abzuschließen, und ab da waren für die organisierten Indies 20 Prozent Nachlass auf die GEMA-Lizenzen zu erwarten. Bisher war dies ein Privileg der größeren Firmen, die im Bundesverband Phono zusammengeschlossen waren. Selbst bei sehr kleinen Produktionen bedeutete das eine substantielle Ersparnis. Diese Rechnung ist sehr einfach und macht die Verbandsmitgliedschaft attraktiv. Für viele Unternehmen ist das wichtigste der wirtschaftliche Vorteil, der über das Kollektiv erzielt werden kann. Das Netzwerk, die Informationen, die Positionierung, die politische Arbeit, das alles dient dem Zweck, die wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen aller Independents zu verbessern. 3
L’age d’Or, kurz LADO, war ein Hamburger Independent-Label, das von 1988–2007 wirkte.
4 Buback ist ein Hamburger Independent-Label, das 1987 von Ale Dumbsky und Ted Gaier von der Band Die Goldenen Zitronen gegründet wurde. Auf Buback veröffentlichten beispielsweise Absolute Beginner oder auch Jan Delay ihre ersten Alben. [http://www.buback.de, 14.09.2013]. 5
Vgl. dazu den Beitrag von Sören Birke (S. 221 ff) in diesem Buch.
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Birke: Wie schafft man es, durch eine Verbandsgründung die damals 50 DM Einzel kosten für eine CD zu unterwandern? Nur durch Zusammenschluss? Kiltz: Nein, der Plan ist nicht weiter verfolgt worden. Dennoch war es diese Aussage, die die Gründung auslöste, weil man erkannte, dass es Situationen gibt, in denen unabhängige Musikunternehmen kollektiv sprechen sollten, damit ihre Interessen berücksichtigt werden. Einen solchen initialen Moment gibt es bei jeder Gründung eines Verbandes, einer Interessenvertretung. Birke: Das heißt, ihr habt damals bei der VUT-Gründung schon eher wirtschaftlich gedacht und gar nicht in erster Linie an Ästhetik und Popkultur? Oder doch? Kiltz: Nein, das würde ich so ausschließlich nicht sagen, eher strukturell. Basis war der Unmut der Gründer über die strukturellen Probleme kleiner und mittelständischer Unternehmen in der Musikwirtschaft und natürlich das Wissen über ihre Doppelfunktion als Kulturträger und Wirtschaftsunternehmen. Populäre Musik im weitesten Sinne wird in Deutschland oft als reines Entertainment abgetan. Dass über diese Form der Musik aber gesellschaftliche Diskurse beeinflusst, begleitet oder weitergetragen werden, wird gern vergessen. Musiker und Unternehmer, die ihre Produktionen am Markt anbieten, sind unabhängig von dem, was wir Kulturförderung nennen. Das ist wichtig, weil Musikförderung in Deutschland lange entweder Bewahrung der Tradition im Sinne des kulturellen Erbes bedeutete, oder es flossen soziokulturelle Gesichtspunkte in die Förderpolitik ein. Förderung und damit Investition in zeitgenössische populäre Musik fand hier, anders als in Frankreich und Skandinavien, keinen Platz und erfuhr keinerlei Anerkennung als Kunstform. Aus meiner Sicht übernehmen viele kleine Musikunternehmen die Funktion von Kulturförderern, oder besser: Sie investieren in die Zukunft unserer Musiklandschaft. Einen fairen Marktplatz auch für kleine Kulturproduzenten herzustellen, bedeutet demnach auch, die Vielfalt aktueller Musikproduktion und die Weiterentwicklung unserer Musikkultur sicher zu stellen. Birke: Es war also von vornherein so gedacht und dazu brauchte es damals neue Rahmenbedingungen? Kiltz: Exakt. Noch geht Kulturförderung in den Bundesländern stets vom Status Quo aus: Wie können wir das Vergangene schützen, konservieren, weitertragen? Stichwort Bildungsauftrag – darum geht aber nicht nur. Mit Gustav Mahler gesprochen: »Kultur ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche!«6 Es ist Aufgabe der Musiker, das Feuer weiterzutragen, und viele unabhängige Musikunternehmen unterstützen sie dabei. Würden sie das nicht tun, würde uns bestimmte Musik nicht zu Ohren kommen. Ich sage nicht, dass es sie nicht geben würde, aber sie würde uns nicht erreichen.
6 Das Gustav Mahler zugeordnete Zitat lautet in seiner bekanntesten Form: »Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.« Siehe unter anderem Moser/Becher 2011, S. 91 und Corsten/Kauppert/Rosa 2008, S. 117.
Label-Lobby VUT
Birke: VUT ist recht schnell gewachsen: von sieben auf 1300 Mitglieder. Wo kamen die her? Was ist passiert in den 20 Jahren? Was hat das mit popkulturellen Prozessen zu tun, in denen wir uns gerade befinden? Kiltz: Spätestens seit 2004 ist das alles bestimmende Moment die Digitalisierung: Internet, neue Vertriebswege und Vermarktungsstrukturen, neue Nutzergewohnheiten, ein neuer gesellschaftlicher Umgang mit Musik und Kultur im Allgemeinen. Viele Unternehmer und Unternehmungen haben weite Teile ihres ursprünglichen Geschäfts eingebüßt, waren unsicher, wie sie sich verhalten sollen, wie sie ihr Aufgabenspektrum, ihre Rolle, ihre Dienstleistung verändern müssen. Im Internet finde ich einen grenzenlosen, einen weltweiten Markt, was aber nicht automatisch heißt, dass ich diesen Markt auch erreiche, geschweige denn, dass die Nutzung meiner Leistung auch vergütet wird. In der alten Musikwirtschaft wurde aus einem regionalen Phänomen ein überregionales, ein nationales und mit Glück irgendwann ein internationales. Für jedes Segment gab es Spezialisten. Nach vielen Jahren der Schrumpfung des Marktes, der die Spezialisten an den alten Schnittstellen nicht mehr benötigte oder sie sich nicht mehr leisten konnte, sind quasi alle Indies Allrounder, und ein neues Spezialistentum hat sich herausgebildet. Vielleicht kann man den Shift am iTunes-Launch im Jahr 2004 festmachen: Spätestens da war klar, hier ist ein neuer Markt, der nach anderen Spielregeln funktioniert, wir haben es mit anderen Strukturen und Denkweisen zu tun, wir stehen anderen Vertragspartnern gegenüber, einem anderen Nutzungsverhalten. Wer hat früher mit einer amerikanischen Firma der Größenordnung von Apple/iTunes verhandelt? Die wenigsten. In dieser Umbruchsituation kann ein Verband sehr wichtig sein. Im Idealfall nimmt er sich den neuen Themen an, analysiert, bewertet sie, kommuniziert an die Mitglieder, begünstigt Kooperationen und Gesamtverträge und weist die Politik auf mangelhafte Rahmenbedingungen hin. Trotzdem: Das Hauptargument für eine Mitgliedschaft ist die Festlegung, Kommunikation und Umsetzung gemeinsamer Anliegen. Direkt danach folgen Fragen nach Branchenstandards oder nach einem Netzwerk. Viele wollen von uns wissen, wo und wie sich die Strukturen verändern und erneuern. Was das tägliche Wirtschaften angeht, können wir diese Fragen schwerlich beantworten, allerdings behalten wir die übergreifenden Themen im Blick und können dazu die meisten Fragen auch direkt beantworten. Umgekehrt rücken allerdings Verband und Mitglieder, je besser sie sich positionieren, auch näher an die Institutionen und Strukturen heran, und mittlerweile erhalten viele Musiker, die früher ohne Frage dem popkulturellen Bereich zugeordnet worden wären, auch Zuspruch aus den vormals ganz auf Hochkultur orientierten Institutionen. Zwangsläufig stellt sich da für viele Unternehmen die Frage: Werden wir selbst Teil des Establishments? Die tauchte erstmals auf, als die Initiative Musik7 gegründet wurde. Wird man gefördert, muss man das Logo der Initiative Musik auf die Veröffentlichung pinnen, und das (anfangs) in Schwarz-Rot7
Siehe Fußnote 6, S. 146.
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Gold. Das erkläre mal einem Punk- oder Reggae-Label. Ist das nicht ein Widerspruch in sich? In diesem Zusammenhang riefen mich damals mehrere Indies an, die konsterniert fragten: Verlieren wir nicht unsere Unabhängigkeit, weil wir gefördert werden, Vorgaben bekommen, Anträge schreiben müssen? Passen wir uns dadurch zu sehr dem Förderzweck an, sind wir noch authentisch? Das ist immanent. Einem Kulturwirtschaftszweig, der sich darüber definiert, dass er nicht nur wirtschaftlich unabhängig von Staat und Industrie funktioniert, sondern auch inhaltlich immer wieder Gegenpositionen Logo der Initiative Musik bezieht, muss es schwer fallen, auf der anderen Seite plötzlich zu sagen: Na gut, aber wenn es ein bisschen Unterstützung für mein Projekt gibt, nehme ich die gerne mit. Viele Indies stellen aus diesem Grund prinzipiell keinen Antrag auf Förderung. Dies soll einen Widerspruch aufzeigen in den Bedürfnissen der Unternehmen. Es ist keine Kritik an der Initiative Musik, man darf mich hier bitte nicht falsch verstehen. Die Initiative Musik ist die erste Institution, die in die Gegenwart und Zukunft populärer Musik investiert, nicht in die Vergangenheit. Es ist gut, dass wir sie haben; viele VUT-Mitglieder konnten Projekte realisieren, weil es die Initiative gibt. Birke: Kurze Nachfrage zum Stichwort Digitalisierung: gibt es erst seit 2004 diesen Boom im Verband? Kiltz: Nein, der VUT ist kontinuierlich gewachsen. Birke: Schauen wir noch mal auf die Siebziger, als es den Verband noch nicht gab, aber möglicherweise bereits viele Labels, die ähnlich gearbeitet haben. Kiltz: Es gab damals nicht viele Labels in Deutschland. Das hat auch etwas mit vergünstigten Produktionsmitteln zu tun. Birke: Was hat sich in der Musikwirtschaft verändert in den letzten acht oder vielleicht sogar 20 Jahren? Wurden Monopole aufgelöst? Gibt es inzwischen mehr Musik und mehr kleine Communities, die diese Musik vertreiben wollen? Kiltz: Es gibt heute mehr Leute, die dieses Lebensrisiko eingehen, definitiv. Die Zahl der Unternehmen, die zum Beispiel einen Wahrnehmungsvertrag bei der GVL (Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten) unterschreiben ist in den letzten Jahren immens gestiegen. Dort sind derzeit etwa 6.000 Unter nehmen registriert. Vor zehn Jahren waren es meines Erachtens nicht mal die Hälfte. Und die GVL gibt es seit den sechziger Jahren. Das wiederum hat wahrscheinlich mit der Vergünstigung der Produktionsmittel zu tun. Wenn du heute eine Veröffentlichung machen willst, brauchst du kein eigenes Presswerk, kein großes Studio mit teuren Geräten mehr. Du kannst eine sehr professionelle Produktion mit einem PC und der geeigneten Software machen. Das heißt, du hast wirklich – ganz Marx – die Produktionsmittel in die Bevölkerung getragen, die diese auch nutzt. Im Verband sind auch Halbtagsunternehmen organisiert, deren Einkünfte ihnen nicht erlauben, sich voll auf die Musik zu konzentrieren, oder die damit einfach
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ein Stück Selbstverwirklichung betreiben. Viele von ihnen haben ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht und betreiben über diese Tätigkeit auch Sinnstiftung. Birke: Was ermöglicht Popkultur eigentlich auf der individuellen Ebene? Selbstermächtigung? Im soziokulturellen Diskurs hat man so etwas immer als Hilfe zur Selbsthilfe bezeichnet, im Popkulturdiskurs ist es zu einem Ermächtigungsvorgang geworden: Du veränderst dich, machst dich fit für dein Dasein. Das Ganze funktioniert über Rezipieren und Selbermachen. Da docken viele Dinge an: schnell Geld verdienen wollen bis hin zu spirituellen Aspekten. Aber es ist interessant, dass das noch mal an diesen Zahlen ablesbar ist. Ich hätte eher vermutet, dass es – so spätestens seit Anfang der Siebziger – ein großes Feld von Einzelplayern gab, die immer mal was probieren, die aber nie einen Grund sahen, sich zu einem Verband zusammenzuschließen. Das scheint so nicht zu sein. Popkultur existiert jetzt geschätzte 100 Jahre. Dadurch hat sich das so verfeinert und in die Gesellschaft hinein verästelt, dass da im wahrsten Sinne des Wortes neue Strukturen wuchsen und immer noch entstehen. Kiltz: Ja. Ich würde da noch mal kurz auf den Kern der Musikwirtschaft zu sprechen kommen, also das, was auch Michael Söndermann und das Wirtschaftsministerium in ihrer Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft so definieren. Der Künstler sucht sich einen Partner, und gemeinsam ziehen sie los und vermarkten das Werk des Künstlers. Auf dieser Ebene arbeiten definitiv heute mehr Menschen als noch vor zehn Jahren. Leider sehen sie sich aber einem massiv reduzierten Angebot an zielgerichteten Marketing, Vertriebsstrukturen und -möglichkeiten gegenüber. Radiosendeplätze und Stellplätze in Medienketten schrumpfen zusammen, es gibt viel weniger stationäre Plattenläden. Um bei den großen Märkten vernünftige Konditionen zu bekommen, brauchst du einen Mittler, einen Vertrieb oder Aggregator, deren Kapazitäten aber endlich sind, ebenso endlich wie die Startseite von iTunes. Auf die Startseite bei iTunes passen vermutlich etwa 20 Platten, das sind wertvolle Plätze für Musiker. Was ich damit sagen will: Ja, es gibt viel mehr Angebot im Kern, aber es gibt neben den eigenen Konzerten oder Homepages nur wenige Möglichkeiten, dieses Angebot auch dort auszustellen und zu verkaufen, wo potenzielle neue Fans nach Musik suchen. Diese Türen für unabhängige Unternehmen so offen wie möglich zu halten, ist eine Aufgabe von Verbänden. Am Beispiel der Fusion BMG und Sony oder auch jüngst Universal und EMI, bei der unser europäische Dachverband sehr aktiv war, kann man das sehen. Birke: Hast du einen Begriff von Popkultur, einen Begriff im kultur-, sozial- und wirtschaftspolitischen Sinne, einen Begriff auch in Abgrenzung zu dem, was gesellschaftlich als Hochkultur bezeichnet wird? Kiltz: Gute Frage. Also wenn ich Popkultur nur als kommerziellen Gegenentwurf zur klassischen Hochkultur verstünde, würde ich nicht tun was ich tue. Wenn ich dieser Definition, wie sie übrigens sowohl in meinem schulischen Musikunterricht als auch später noch an der Musikhochschule gefasst wurde, Glauben schenkte, wäre ich nicht so fasziniert von der Musikwirtschaft. Ich weiß nicht, ob es ein
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Popkulturbegriff ist, aber es ist eine Liebe zu Musik, die noch im Werden ist, für Musiker, die sich noch entwickeln, noch nicht perfekt sind, für Musik, die mehr ist als Handwerk. Populäre Musik wird ja oft mit dem Genrebegriff Pop gleichgesetzt. Aber die wenigsten unabhängigen Musikunternehmen verstehen die Musik, die sie veröffentlichen als Pop – zu Recht! Birke: Es gibt ja Leute, die Popkultur ganz klar als avantgardistisches Konzept sehen – es muss knallen: Andy Warhol usw. Und es gibt Leute, die unter Popkultur eher den Mainstream fassen. Deswegen ist es für mich noch mal wichtig zu wissen, ob du das für deine Arbeit brauchst oder ob du ganz einfach sagst: Populäre Musik – die vergangenen 100 Jahre – die ganze Aufsplittung der Genres und Stile hilft mir, meine Arbeit zu machen, als mit so einem speziellen Begriff umzugehen. Kiltz: Das ist wie die Frage nach Henne und Ei: Sind die Strukturen Ergebnis einer bestimmten Musik oder ist die Musik ein Ergebnis bestimmter Strukturen? Ist es wichtig, zu verstehen, aus welchen Strukturen heraus und vor welchem Hintergrund Musik entsteht? Ich würde das entschieden bejahen. Dass es mehrheitlich populäre Musik ist, die unsere Wahrnehmung der Musikgeschichte prägt, zumindest der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, ist kein Zufall. Die Art, wie sie produziert und rezipiert wurde, ist stilbildend. Unsere Geschichte, unsere Lebensweise, unsere Erwartungen und Hoffnungen spiegeln sich in der Musik wider. Wir haben übrigens auch Klassik-Indies im Verband. Für die gilt selbstverständlich das Gleiche. Birke: Also kann man sagen, deine Arbeit besteht darin, alle strukturell zu unterstützen, die vorhaben, etwas Neues zu erschaffen? Kiltz: Das ist mein persönliches Motiv, ich halte es wichtig für eine Gesellschaft und jeden Einzelnen, Neues nicht von sich zu weisen, sondern aufzunehmen. Mir ist ein Klima, das Revolutionen begünstigt, allemal lieber als das Verharren in eingeschliffenen Bahnen. Im Verband wiederum geht es wesentlich pragmatischer zu. Es geht darum, die Wege offen zu halten oder überhaupt erst zu eröffnen, über die wir Menschen mit neuer Musik erreichen können. Birke: Da bist du ja permanent in der Krise. Jeden Morgen weißt du nicht, was der Abend bringt. Kiltz: Wir sitzen permanent zwischen allen Stühlen. Nach 20 Jahren haben sich notwendigerweise auch in unsere Arbeit Routinen eingeschlichen, auch wir tun uns an mancher Stelle schwer, die eigenen Strukturen am Laufen zu halten. Es ist sehr schwierig, den Begriff der Erneuerung weiter zu tragen in einem Verband, weil auch dieser zu altern droht und man sich ständig darum bemühen muss, mit der Zeit zu gehen, noch besser vor der Zeit zu bleiben und nicht selber Neues von sich zu weisen. Birke: Das heißt, für euch als Verband war es ganz einfach, mit der sogenannten Krise des Musikmarktes umzugehen? Kiltz: Nein, ganz im Gegenteil. Wir sehen, dass sich strukturell das Gleichgewicht zwischen Klein, Mittel und Groß ungünstig verschiebt. Es ist schwieriger geworden, neue Künstler aufzubauen, da viele kleine Unternehmen und Musiker sich einen schrumpfenden Markt teilen. Dazu haben wir mit einem unregulierten »Schwarz-
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markt« für Umsonstmusik zu kämpfen und zunehmend kulturwirtschaftsfremden Unternehmen, die Musik als Schmierstoff für Hardware oder Werbung verstehen, den sie gerne zu Dumpingpreisen haben möchten. Der Mittelbau der Musikwirtschaft schrumpft derweil gefährlich zusammen und im Bereich der Majors geht man weniger Risiken ein als je zuvor. Ein junger Künstler ist aber immer ein Risiko. Da gibt es also eine Schieflage. Wir schwanken immer zwischen: Ist das Geschehende disruptiv und müssen alte Verwertungsmodelle erst mal ganz zusammenbrechen, damit etwas Neues entstehen kann? Oder sind gerade die Indies flexibel genug, um sich zu wandeln und neue Wege zu finden? Die letzten Jahre waren teilweise sehr bitter, viele gute Indies mussten Insolvenz anmelden. Andererseits sind nur sehr wenige Menschen der Branche ganz verloren gegangen. Wir haben wichtige Unternehmen verloren wie LADO 8 oder EFA9. EFA ist leider 2004 in die Insolvenz gegangen und hat einige wichtige stilbildende Label mitgerissen. Die Mitarbeiter aber arbeiten überwiegend weiter mit Musikern. Teils haben sie neue eigene Unternehmen gegründet. Das lässt mich hoffen, dass deren Wissen und Musik weitergetragen wird. Aber streckenweise sah es wirklich schlecht aus, in einigen Bereichen tut es das auch heute noch. Birke: Wo geht die Reise hin? Worüber müsste man jetzt und hier nachdenken, um solche Arbeit gesellschaftlich zu unterstützen? Oder ist das gar nicht gewünscht? Lass uns über Instrumente von Förderung und Investition sprechen. Kiltz: Gesellschaftlich unterstützen. Dazu fällt mir als Erstes ein: Kauft die Musik, die Ihr liebt. Jeder Euro, der beim Musiker ankommt trägt dazu bei, dass neue Musik entstehen kann. Musikwirtschaft ist eine globalisierte Wirtschaft wie kaum eine andere. Sie ist arbeitsteilig wie keine andere. Damit nimmt sie in gewisser Weise einen neuen Typus von Arbeit vorweg: international, kleinteilig, arbeitsteilig, leider oft prekär. Das haben Kulturstaatsminister Neumann und das Wirtschaftsministerium erkannt. Darin liegt eine Chance. Allerdings müssen die damit beschäftigten Institutionen, Ministerien, Politiker, Förderer und Verwaltungsangestellten sich schnell in diese neuen Strukturen eindenken, denn fast losgelöst von ihrem Einflussbereich passieren auf internationaler Ebene umwälzende Dinge. Mit Google, Facebook und anderen Internetkonzernen sind neue Firmen in den Markt eingetreten, die Musik nicht als individualisiertes Gut, sondern als Datengut verstehen. Diesem Umstand müssen wir etwas entgegenstellen, wenn Kulturwirtschaft auch zukünftig ohne staatliche Unterstützung auskommen soll. Wenn wir nicht zusammenarbeiten, liefern wir unsere eigene Kultur, unsere Erneuerungsfähigkeit wenigen Konzernen aus. Das wäre das Ende des kulturellen Lebens wie wir es kennen, denn für Informationskonzerne wie ich sie mal nennen möchte, gibt es nur Daten und Konsumenten. Die Inhalte der Daten sind völlig uninteressant, nur die Klick-Rates zählen. 8
Siehe Fußnote 3, S. 249.
9 EFA steht für den Independent-Plattenvertrieb Energie für Alle, der in den Jahren 1982–2004 eine zentrale Rolle für unabhängige Vertriebsstrukturen in der deutschen Independent-Szene spielte.
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Birke: Aber will nicht jeder, dass man ihn über Google findet? Gerade auch von den Erzeugern? Kiltz: Was ist der Preis für die Bequemlichkeit, an »die Borg« angeschlossen zu sein? Klar, du kannst jeden Menschen und jeden Ort leicht finden, zukünftig sogar über Google Glass, das dir die mit Daten angereicherte Welt direkt über die reale Welt legt. Voraussetzung ist, dass du ungefähr weißt, was du suchst. Andererseits kann dich auch jeder leicht finden und schon mit einfachsten Mitteln sehr viel über dich herausfinden, wenn du selber diese Dienste nutzt, ohne dir Gedanken über die Privatsphäre-Einstellungen zu machen. Deine persönlichen Daten werden ausgewertet und vermarktet, im Moment nur um personalisierte Werbung zuzuschalten. Was aber, wenn zukünftig auch andere sensible Daten, die von dir erfasst wurden, mit diesen korreliert und verkauft werden? Zum Beispiel über deine wirtschaftliche Situation? Deine Krankenakte? Deine Kreditwürdigkeit? Deine Schufa-Akte? Mach dir mal den Spaß und suche nach meinem oder deinem Namen. Du wirst erstaunt sein, was dort alles über uns zu finden ist, was wir aber nicht aktiv an »die Welt« zum Betrachten freigegeben haben. Die Frage ist, ob es Unternehmen erlaubt sein sollte, diese Informationen von mir dauerhaft zu speichern oder zu nutzen. Urheberrechte und Persönlichkeitsrechte hängen sehr eng zusammen. Wer das eine schleifen will, muss damit rechnen, dass auch das andere aufgeweicht wird. Birke: Diese Frage können wir jetzt nicht beantworten. Aber lass uns noch einmal genau diese Dimension auf Musik herunterbrechen. Bei den ganzen Anstrengungen eures Verbandes in der Auseinandersetzung mit solchen monopolistischen Strukturen wie Google entsteht eigentlich immer was Neues. Es entsteht auch viel neue Musik. Vielleicht hilft dann eher so eine monopolistische Struktur wie Google, um neue Musik schnell bekannt zu machen? Kiltz: Im Moment mache ich auf der rein wirtschaftlichen Seite, vom Label oder vom ausübenden Künstler aus gesehen, zwei Beobachtungen dazu: Einerseits hilft es, weil Google mittlerweile nicht nur die Videos sondern auch zusätzliche Infrastruktur zur Monetarisierung bereitstellt, wie man am Beispiel YouTube sehen kann. Die ermöglicht es irgendwann jedem Musiker oder demjenigen, den er beauftragt, schnell, unkompliziert und unbürokratisch anteilig an den Werbeeinnahmen von YouTube beteiligt zu werden. Das ist positiv. Andererseits ist jede Monopolisierung mittelfristig problematisch, weil man als Lieferant von den Einnahmen eines Partners abhängig ist und damit eine denkbar schlechte Verhandlungsposition hat. Einige Menschen beginnen Fragen zu stellen. Eine der interessanteren Fragen lautet: Wie verstehen Unternehmen, die »Content« aggregieren und zum Beispiel Werbung zuschalten, die Rolle von Musik und Kunst? Degradieren sie diese Inhalte nicht nur zu einer bloßen Information? Eine ähnliche Frage hat Adorno schon in den vierziger Jahren gestellt: Was ist der Wert der Musik? Das ist doch nicht der Informationswert. Das sind nicht die Meta-Daten, sondern der Inhalt an sich ist die Botschaft. Verlieren wir diese nicht auf halber Strecke, indem wir nur noch Sensations- oder Informationswerte verbreiten? Zurück zur Frage: Was ist denn in den
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letzten Jahren auf YouTube bekannt geworden oder besser: Warum ist es bekannt geworden? Gangnam Style, mehrere Semi-Profis, die in Talentshows auftraten und deren Namen bereits heute keiner mehr kennt, Katzenvideos? Es scheint mir eher Sensationslüsternheit zu sein, die Inhalte groß werden lässt, und das Wissen darüber, dass viele andere Leute diesen Inhalt auch schon gesehen und geteilt haben, weniger die Beschäftigung mit dem Inhalt. Das wäre sozusagen die pessimistische Weltsicht dazu. Ich habe das Gefühl, im Moment entscheidet sich, nach welcher Seite das Pendel ausschlägt. Deshalb bin ich immer noch beim Verband. Ich dachte immer, ich muss irgendwann was anderes tun und mehr Geld verdienen. Aber ich bin deswegen immer noch hier, weil ich denke: Das ist so ein entscheidender Moment. Eigentlich kann man jetzt nicht rausgehen und verschwinden. Das ist mein Empfinden und das vieler meiner Kollegen. In den nächsten fünf Jahren entscheidet es sich: Ist Musik untrennbar mit ihrem Erschaffer verbunden, also etwas zutiefst Persönliches, eine Form der Kommunikation? Oder ist Musik eine Aneinanderreihung von Einsen und Nullen, ein informationelles Gut? Ich meine Ersteres, aber das scheint kein Konsens mehr zu sein. Birke: Da bin ich ganz bei dir. Braucht der VUT nun gesellschaftliche Unterstützung? Was würdet ihr machen, wenn das Wirtschaftsministerium jetzt sagt: Hier, da habt ihr Geld. Kiltz: Das ist ein Widerspruch in sich. Der VUT ist ein Interessenverband, der unter anderem gegenüber der Politik die Interessen seiner Klientel transportieren soll. Wie sollen wir die Interessen unserer Mitglieder vertreten, wenn unser operatives Geschäft von demjenigen finanziert wird, gegenüber dem wir unsere Interessen vertreten wollen? Birke: Eigentlich ist das ja Geld, was die Unternehmen vorher erwirtschaftet haben. Es sind Steuereinnahmen. Kiltz: Richtig, aber dann müsste Politik in jedem Bereich so handeln. Dann müsste sie Lobbyarbeit finanzieren. Das widerspricht sich. Ich finde, dass es Aufgabe der Unternehmen ist, einen angemessenen Beitrag an diejenigen beizusteuern, die sie dafür geeignet halten, ihre Interessen gegenüber Dritten unabhängig zu vertreten. Damit ist für den Bereich Interessenvertretung die Frage für den VUT ganz klar mit »Nein« zu beantworten. Nicht zu leugnen ist, dass unsere Mitglieder im Vergleich zur Industrie eher geringe Umsätze aufweisen und daher der finanzielle Beitrag, den viele Mitglieder leisten können, eher gering ausfällt. Das wirkt sich natürlich auf den Aktionsspielraum des Verbandes aus. Wir bearbeiten mit fünf Mitarbeitern ein vergleichbar großes Themenspektrum wie andere Verbände mit 15 (BVMI – Bundesverband Musikindustrie), 30 (Börsenverein des Deutschen Buchhandels) oder 50 Mitarbeitern (BITKOM – Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien). Daher können wir einige wichtige Beiträge zur Debatte nicht leisten, wie zum Beispiel Daten zu unserem Marktsegment erstellen zu lassen, empirische Untersuchen in Auftrag zu geben, die belegen würden, dass unsere Mitglieder sich in einem Markt bewegen, der in Teilen versagt. Hier könnte das Wirtschaftsministerium einen wertvollen Beitrag leisten. Mit dem
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Monitoringbericht zur Kultur- und Kreativwirtschaft ist es einen wichtigen Schritt in diese Richtung bereits gegangen. Dann wäre es natürlich sinnvoll, die Unternehmen selber zu unterstützen. Förderung wäre hier aber der falsche Begriff – eher Strukturhilfe. Es gilt, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Künstler und Unternehmen zu analysieren und ihnen basierend auf diesem Befund strukturelle Hilfen anzubieten. Dazu gehört, den Markt mit kulturellen Gütern besonders strengen Regeln im Wettbewerbsrecht und Kartellrecht zu unterwerfen. Dazu gehört, die Vertretungen der Künstler, die Verwertungsgesellschaften zu stärken und sie gleichzeitig bei der Modernisierung und Anpassung ihrer technischen Systeme zu unterstützen. Dazu gehört, immer wieder an den Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu erinnern. Dazu gehört, auch kleinen Unternehmen den Zugang zu Märkten zu ermöglichen, notfalls durch positive Diskriminierung. Birke: Die Musikwirtschaft ist heterogen und extrem arbeitsteilig. Wo siehst du Potenziale, die strukturelle Zusammenarbeit der einzelnen Bereiche zu verbessern? Für mich gilt der Grundsatz: Man muss die Leute zusammenschließen, miteinander reden, über die Vernetzung hinaus zentralisiertere Strukturen aufbauen, sodass man gemeinsame Abstimmungen treffen kann. Aber das scheint nur schwer zu funktionieren, weil es strukturell nicht angelegt ist. Erstens sind die Eigeninteressen so stark; zweitens wird gar nicht das synergetische Potenzial geschätzt. Wie siehst du das? Kiltz: Eine Interessenvertretung muss in der Lage sein, ihre grundlegenden Funktionen, sowie ihr operatives Geschäft aus eigener Kraft zu erfüllen. Kann sie das nicht, fehlt die wesentliche Vorraussetzung einer Interessenvertretung: der Wille oder die Fähigkeit der angesprochenen Branche, ihre Interessen von dieser Struktur vertreten zu lassen. Eine Interessenvertretung muss unabhängig sein. Ist eine Interessenvertretung gezwungen, künstlich Projekte zu erfinden und umzusetzen, die nicht vorrangig dem Interesse der vertretenen Unternehmen dienen, sondern dem Selbsterhalt der Institution, kann sie den Laden schließen. Dass solche Phänomene dennoch zunehmend auftreten, hat auch mit der wankelmütigen politischen Haltung zu tun. Entweder sie will, dass institutionelle Vernetzungsarbeit geleistet wird. Dann muss sie in den sauren Apfel »institutionelle Förderung« beißen. Oder sie will eine unabhängige starke Interessenvertretung. Dann darf sie nicht durch Förderung des operativen Geschäfts in das Geschehen eingreifen und darf auch nicht den einen Ansprechpartner für die Musikwirtschaft fordern. Aus Wirtschaftssicht kann ich nur wiederholen, was ich oben bereits sagte: Es gibt strukturelle also grundlegende Probleme, die die Akteure nur im Zusammenschluss adressieren und lösen können. Der Zusammenschluss wird nur dann erfolgreich sein, wenn er aus der Wirtschaft selbst heraus erfolgt. Vielleicht gar nicht in einem starren Zusammenschluss, sondern projektweise. Denn bei starren Zusammenschlüssen gibt es immer einen Haken: Derjenige, der Vollzeit beschäftigt wird, muss auch regelmäßig bezahlt werden. Bei Graswurzel-Zusammenschlüssen ist dies meist nicht von Beginn an möglich, da wenige Unternehmen die Initiative übernehmen, aber nicht die vollen Kosten tragen können. Ausnahmen bestätigen die Regel. Hier ist gegebenenfalls
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eine Anfangsinvestition sinnvoll. Auch der VUT hat eine Anschubfinanzierung vom Land Hamburg erhalten. Die Aufgabe der handelnden Unternehmen ist, aus dieser Anfangsinvestition schnell eine eigenfinanzierte Struktur zu machen. Ganz ehrlich: In Berlin sehe ich im Moment bei den Unternehmen allenfalls in müde Gesichter, wenn ich sie frage, ob und wie sie sich einen Zusammenschluss der Musikwirtschaft vorstellen. Der Wille ist nicht bei ausreichend vielen Playern da – vielleicht auch, weil zu viele verschiedene potenzielle Interessenvertreter in die gleiche Richtung streben. Birke: Würdest du das genauso beschreiben für die Unternehmensebene? Kiltz: Nein. Auf der Unternehmensebene ist im Vergleich dazu unglaublich viel Dynamik. Nimm allein die Entwicklung von Tourismus, Clubs und Radio im Umfeld des Schlesischen Tors und beispielsweise das Independent-Festival der Clubs Comet10, Magnet11, Watergate12 und Lido13. Diese Allianz wird dann aber auch wieder
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10 Der im Berliner Ortsteil Friedrichshain-Kreuzberg gelegene Comet Club eröffnete im April 2010. Er befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Oberbaumbrücke. Der Club bietet vornehmlich für kleinere Bands, die den ganz großen Durchbruch noch vor sich haben, eine Plattform. Musikalisch reicht die Bandbreite vom Singer-Songwriter-Sound über Indie- und Rock- bis hin zu HardcoreBands. [http://www.berlin.de/restaurants/1628566-1622830-comet-club.html, 03.09.2013]. 11 Der Club Magnet eröffnete 2001 zunächst in Berlin-Prenzlauer Berg in der Nachfolge des Jazzclubs Miles. 2010 erfolgte der Umzug an die Oberbaumbrücke in Friedrichshain-Kreuzberg. Hier wird bevorzugt Indie und Elektro gespielt. [http://www.magnet-club.de, 03.09.2013]. 12 Das Watergate eröffnete 2002 als einer der ersten Clubs in der Gegend um Schlesisches Tor und Oberbaumbrücke in Berlin-Kreuzberg. Sein Gründer ist Steffen Hack, der bereits in den 1990erJah ren das WMF betrieb. Die gespielte Musik ist ein Mix aus Drum´n´Bass, Deephouse, Techhouse, Jazz, HipHop, Funk, Elektro und House. Das Watergate ist auch Teil der Filmdokumentation Feiern. Don’t Forget To Go Home über die Partygeneration der Nullerjahre von Maja Classen. [http://www. water-gate.de/, 04.07.2013]. 13
Siehe Fußnote 6, S. 39.
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aufgelöst, deswegen brauchst du nur Projektmitarbeiter. Vielleicht ist das für Unternehmen, die so nah beieinander sitzen in Berlin auch die richtige Lösung. Aus der Dynamik heraus findest du dich projektweise zusammen. Brauchen die wirklich eine zentralisierte Interessenvertretung? Meine Erfahrung ist, dass die Branche sich gut kennt und auf Projektebene ein permanenter Austausch stattfindet. Da musst du nicht noch einen daneben stellen und sagen: Liebes Lido, möchtest du nicht mit dem Magnet zusammenarbeiten? Anders würde ich es einschätzen, wenn wir einen Schritt weiter gehen und die Vernetzung der einzelnen Kreativbereiche vorantreiben. Hier suchen die Unternehmen in der Tat nach Vernetzung und neuen Kontakten. Birke: Wo siehst du denn die Chancen und Risiken für unser Berliner Musicboard? Kiltz: Risiko, dass die Punktualität und der daraus resultierende Anspruch an die Flexibilität der Förderprogramme nicht mit den Fördervorschriften des Kultursenats in Einklang gebracht werden können. Wenn alles noch ist, wie ich es kenne, müssen verbindliche und starre Fördersysteme gebaut werden, die zwangsläufig die flexible projektweise Zusammenarbeit behindern. Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass sich Projektvorhaben an Förderrichtlinien anpassen müssen und Förderrichtlinien nicht auf Projektstandards eingehen – Stichwort: vorzeitiger Beginn der Maßnahme. Das führt dazu, dass die Fördernehmer mit hoher finanzieller Unsicherheit kämpfen. Da muss im Abschlussbericht nur eine Begründung falsch gewählt sein, und schon kannst du die Hälfte der bewilligten Gelder eben nicht wie kalkuliert einreichen und wärst eigentlich besser bedient gewesen, das Projekt von vornherein auf niedriger Flamme in Eigenregie durchzuführen. Förderung ist immer auch das Versprechen, mehr anbieten zu können als eigentlich da ist. Ich frage mich oft, ob das für unseren Bereich Popkultur, Popmusik überhaupt sinnvoll ist? Jetzt sind wir wieder bei den Strukturen: Es werden jeden Tag Ideen verworfen, weil das Geld nicht da war, um sie zu realisieren. Was passiert? Wir lassen uns etwas anderes einfallen oder wagen mittelfristig einen neuen Anlauf. Je mehr Förderung wir erhalten, desto mehr verknöchern die Strukturen, siehe Hochkulturförderung. Anfangs hast du vielleicht sogar ein vorwärtsgewandtes System, das auf die momentanen Gegebenheiten flexibel eingeht, aber der Markt verändert sich. Es werden Ergänzungen eingefügt und Ausnahmen, die Pflanze wächst und irgendwann verholzt der Stamm, das System wird starr. Manchmal habe ich den Eindruck, mit Popmusik, Popkultur ist das auch so. Je mehr man sich staatlich darum bemüht, desto mehr verholzt der Stamm, desto weniger Innovation haben wir. Gleichzeitig erlebe ich jeden Tag, mit welchen Unsicherheiten die Unternehmen und Künstler leben müssen und wünsche mir eine stabilere Musikwirtschaft. Der Blick nach Frankreich zeigt, dass dem Fördergedanken eine gewaltige kulturdefinitorische Vorleistung vorausgegangen ist. Frankreich fördert Kultur und Kulturschaffen unter völlig anderen Prämissen. Ich wünsche dem Musicboard, dass es sich die Zeit erhält, präzise zu analysieren, unter welchen Prämissen Förderung echten Mehrwert schafft. Das Gespräch führte Sören Birke im Februar 2013.
Pop als Kulturgut und Zivilisationsinstanz Olaf »Gemse« Kretschmar
Birke: Wozu brauchen wir Clubs? Ist es ein Muss für die Popkultur einer Stadt? Gemse: Ja, die braucht es zwingend. In der Welt in der wir leben, sind die Clubs das Öffentlichkeitssegment der Jugend. Das sind eben nicht die traditionellen Formate wie die Oper oder der Golfclub. Junge Leute treffen sich im Club und sind da unter ihresgleichen. Das ist sozusagen eine dritte Zivilisationsinstanz, nach Elternhaus und Schule. Es ist ja nicht so, dass da alles erlaubt ist. Es mag relativ wenige Regeln geben, aber die werden in einem guten Club entschieden durchgesetzt, sonst funktioniert das nicht mehr: Respekt und Freiheit. Meine Freiheit endet da, wo sie die Freiheit des Nächsten einschränkt. Das ist ein eisernes Gesetz, wer das nicht beachtet fliegt raus. Das ist also gar nicht mal ein kulturelles Attribut, sondern mehr ein soziales. Clubs holen die jungen Leute von der Straße und bringen denen auch ein gewisses Maß an Sozialität bei. Es ist ein Format, wo man in der Realität unter sich ist. Außerdem sind Clubs für die gesamte Musikwirtschaft ein wichtiges Praxismodul. Wenn du Musikwirtschaft in einer Stadt entwickeln willst, brauchst du eine stilistisch und kapazitätsmäßig ausdifferenzierte Clublandschaft. Die Künstler ziehen weiter, wenn sie keine regionalen Auftrittsmöglichkeiten mehr finden. Die Clubs sind der soziale Raum der Künstler, hier kommen sie her, und hier treten sie zum ersten Mal vor 50 Freunden auf. Hier bekommen sie existenziell Feedback für ihre künstlerische Entwicklung. Club und Künstler – das ist eine Arbeitsbeziehung. Umgekehrt schafft Clubmusik Identität für die Clubgänger; für sie ist moderner Sound auch Selbstausdruck, der durch keine Oper, keine Galerie und kaum ein Buch zu ersetzen ist. Es ist Bullshit, dass das nicht bildend respektive nicht kulturell sein soll. Birke: Ist Clubkultur gleichzusetzen mit Jugendkultur? Gemse: Statistisch ist das die größte Fraktion: 18- bis 25-Jährige sind die Kernzielgruppe. Viele Clubbetreiber versuchten immer wieder, das weiter aufzu ziehen, weil man natürlich auch Publikum braucht. Das Problem ist die Delle in der Alterspyramide, also dass viel weniger 18-Jährige als Konsumenten in den Markt kommen als noch vor zehn Jahren. Das zwingt dazu, neue Klientelen ins Auge zu fassen. Das sind vor allem die Clubtouristen, zum anderen auch ältere Leute bis 40. Dennoch sind Clubs genuin Jugendkultur. Das spricht nicht dagegen, dass es da
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auch 50-Jährige Leute gibt, die in so einem clubkulturellen Rahmen Sounds finden, die ihren Präferenzen entsprechen. Birke: Gibt es einen Unterschied zwischen Clubkultur und Popkultur? Gemse: Ja. Popkultur ist ja in einer polarisierten Wahrnehmung entwickelt worden, als zeitgenössisches Gegenstück zur traditionellen Hochkultur: elitäre Hochkultur hier, populäre junge Kultur da. Popkultur war lange Zeit auch Emanzipation von neuen Weltsichten, Lebensanschauungen, künst lerischen Werten und Produktionsweisen. Popkultur ist natürlich viel umfassender als »Musik« oder »Club«. Clubkultur ist ein maßgeblicher Teil der populären Kultur und populäre Musik hat geschichtlich häufig als Treiber auf den gesamten popkulturellen Kontext gewirkt und neue emotionale Muster geprägt und forciert, die dann von Literatur, Mode oder Street Art aufgegriffen wurden. Birke: Siehst du einen übergenerativen Ansatz für Clubkultur? Gemse: Den gibt es schon deswegen, weil die Clubs gezwungen sind, den Altersfokus weiter aufzuziehen. Ein zweiter Punkt ist, dass wir mittlerweile mehrere Generationen haben, die mit Clubkultur und Clubsound sozialisiert wurden. Für die ist das nach wie vor das musikalische Programm, welches ihr Leben in Töne fasst und begleitet, obwohl sie schon lange im Bürgertum etabliert sind. Also da gibt es Brückenfunktionen. Birke: Interessant, dass du bei Club zunächst an das Soziale denkst. Ist das im Wesentlichen das Bedürfnis nach Clubkultur? Gemse: Würdest du das Publikum fragen, es würde dies wahrscheinlich anders sehen. Die meisten sagen, sie gehen dahin, wo der coole Sound läuft. Aber das ist nur eine Oberfläche. Cooler Sound hat eine tiefere Bedeutung, es ist auch eine soziale Markierung. Der Club ist ein Text, den die Gäste schreiben. Sie stiften sozusagen über Bande für sich Identität und Außen unscheinbar: Cookies Zugehörigkeit. Sie sichern sich in einer verlorenen Welt wieder Gemeinschaft. Es gibt nicht viele Institutionen, die das leisten können. Birke: Umfragen sagen, die Leute kommen um Freunde zu treffen. Musik kommt da eher als Drittes. Wir sind dann dort, worüber in der Bundesrepublik seit 40 Jahren diskutiert wird: der soziale Sinn des Sich-Treffens – das gibt es überall. In anderen Bereichen nennen sie es dann nicht Club sondern Anglerverein, Schützenverein, Taubenzüchterverein, Tanztee. Gemse: Es liegt mir fern, traditionelle Gemeinschaften nicht wertzuschätzen. Für die Jugend in den Metropolen mit ihrer Gier nach intensivem Leben, neuem Sinn,
Pop als Kulturgut und Zivilisationsinstanz
alternativer Sexualität und unzensierter Selbsterfahrung ist das Angler wesen wahrscheinlich nicht die optimale Empfehlung. Auch die Clubszene hat eine solche Funktion überhaupt erst nach ihrer zwischenzeitlichen Totsagung im Jahre 2000 übernehmen können. Die elitäre und antibürgerliche Community der neunziger Jahre war eine radikale Minderheit. Sie schützte sich vor Vereinnahmung durch masseninkompatiblen Sound und eine Tür, die keine Touristen, Anzug träger und Normalverbraucher rein ließ. Wir konnten uns das leisten. Die Clubs waren illegal und provisorisch, die Investitionen gering, die relevanten Läden konnte man an einer Hand abzählen und vor der Tür stand in langen Schlangen der NachfragerMarkt. Im Jahr 2000 verkündeten Szeneaktivisten das Ende des Undergrounds. Für eine kurze Zeit stand Clubkultur in Berlin auf der Kippe. Danach ist es unter Federführung der Clubcommission1 gelungen, die Transformation des Undergrounds zum Overground, zur aktuellen Clubwirtschaft zu managen. Ohne Zweifel ist dabei auch vieles auf der Strecke geblieben.
Magdalena, ehemals Maria
Epochal: Tresor
Birke: Hast du dich als Clubbetreiber mal gefragt: Warum kommen die Leute eigentlich zu mir? Geht es nur um Sex und Drogen? Gemse: Realisierter Sex spielt eine erstaunlich geringe Rolle. Wenn das der Grund wäre, müssten gewiss zwei Drittel der Gäste frustriert nach Hause gehen. Die Quote derer, die sich dort kennen lernen und dann gemeinsam nach Hause in die Kiste huschen, ist überschaubar. In der Außendarstellung wird das bewusst überschätzt. Sexuelle Imagination ist gleichwohl ein großes Ding und macht den Clubbesuch aus. Wenn das nicht läuft, kannst du den Laden dicht machen. Drogen spielen eine 1
Vgl. den Beitrag von Sören Birke (S. 221 ff.) in diesem Buch.
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große Rolle. Vor allem, weil sie verboten sind und daher als Indikator für Rebellion und alle möglichen rituellen Spielchen taugen und zusammenschweißen. Ich habe 15 Jahre im Club gestanden und mir das angeguckt. Eine merkwürdige Angelegenheit: Die meistens quatschen – ein babylonisches Stimmengewirr. Ich hab mich manches Mal gefragt: Was reden die da äußerst angeregt Stunde für Stunde? Dessen ungeachtet ist der Club eine Tanzstätte. Der körperliche Ausdruck spielt eine große Rolle. du schließt die Augen und nimmst wieder Kontakt zu dir auf. Du hast plötzlich einen Flow von innen nach außen, sonst ist es in deinem Leben meistens umgekehrt; du kannst deine Frustrationen und Aggressionen abfackeln, alle Negativität einer Welt, die dir häufig nur feindlich gegenüber tritt. Wo du dich immerzu kontrollieren und alle unangepassten Triebe und Affekte zurückstellen musst. Wow! Und du kannst es tun, wie es dir gerade passt – ekstatischer Ausdruckstanz, geschliffene Tanzschritte oder minimal-relaxt nur vor dich hinschlurfen. Ich glaube, noch nie gab es eine solche Liberalität in einem öffentlichen Ritual. Die Formierung respektive Unterdrückung des Individuums wird in unserer Welt über Selbstkontrolle durch jeden selbst ausgetragen, und dafür braucht es irgendwo wieder ein Ventil, sonst drehen die alle durch. Die Mixtur aus Tanz, Alkohol und Freunden ist dafür eine exzellente Lösung. Club ist nicht kriminell, sondern reduziert Kriminalität: eine Kur vom bürgerlichen Alltag. Birke: Das kannst du sehen und entdecken? Auch wenn es zu 99 Prozent Viervierteltakt-Musik ist? Gemse: Absolut. Elektronische Musik ist sehr niedrigschwellig. Man muss keinen Tanzstil lernen, sondern es ist ein einfacher, vielleicht monotoner Grundrhythmus, wozu sich jeder bewegen kann, wie es ihm beliebt: wenig ritualisiert. Techno wurde zu Recht in den Neunzigern als Befreiung des Körpers gefeiert. Wenn man mit Salsa oder Flamenco anfängt, ist der Weg sehr weit, bis man in den Genuss eines Frustrationsabbaus kommen kann. Birke: Also ist das ein Ort für eine andere Körperlichkeit? Gemse: Ja, für eine relativ freie Körperlichkeit, bei der man die Reset-Taste bedient und damit auch seine Seele aus ihren Hülsen kickt – wenigstens für kurze Zeit mal. Das hat durchaus eine sozialtherapeutische Funktion und befriedet das Gemeinwesen ganz gewiss. Wenn es keine Einrichtung gäbe, wo dies regelmäßig möglich ist, hätte man viel mehr traumatisierte Leute, die irgendwelche Scheiße anrichten. Birke: Das ist wirklich ein Grundmuster von Gemeinschaft, so als wenn Schamanen am Feuer die Horde heilen. Da setzt für mich der positive Ansatz, Techno zu verstehen, an. Ein guter DJ weiß das auch. Gemse: Natürlich, das ist vielleicht ein Stück weit auch Gemeinschaftsbildung – zumindest für die Nachtwelt. Es lässt dir die Option, relativ anonym und trotzdem unter Menschen zu sein, die etwas Ähnliches machen. Wie häufig gibt es das heute noch? Wie viele Formate existieren, bei denen dir niemand in die Augen schaut und sagt: Alter, Aufnahmeprüfung! Bist du der Richtige, bist du es wert? Wenn du elementare Grundregeln einhältst, ist das für jeden zugänglich. Sehr demokratisch.
Pop als Kulturgut und Zivilisationsinstanz
Birke: Aber da beginnt für uns das Dilemma. Wie vermittelst du das an Entscheidungsträger, die diese Erfahrung nicht gemacht haben? Aus den befreienden Momenten einer Clubnacht sind ja im bildungsbürgerlichen Verständnis keine Werte ableitbar. Wie transferieren wir unsere Erfahrungen in andere gesellschaftliche Bereiche, sodass daraus eine politisch relevante Handlungsperspektive entstehen kann? Gemse: Ich weiß nicht, ob man das so kompliziert sehen muss. Wir sollten vielleicht nur lernen, unsere Themen in die Sprache der bürgerlichen Welt und der Politik zu übersetzen und auf deren Kriterien hin die Argumentation neu zu formulieren. Birke: Warum ist eigentlich Popkultur viel dichter an das Zentrum gesellschaftlich kultureller Prozesse herangekommen? Oder täuscht der Eindruck? Gemse: Ursache dafür ist zum einen ein realer Prozess und zum anderen eine korrespondierende neue Wahrnehmung. Der Bereich der Popkultur, über den wir hier sprechen – die Club- und Musikszene in Berlin – hat sich in den letzten zehn Jahren professionalisiert und ausdifferenziert. Er hat sich als eigenes Wirtschaftssegment etabliert und verfügt mit der Clubcommission und der Berlin Music Commission2 über profunde Standesvertretungen, die international ihresgleichen suchen. Im Ergebnis dessen ist es den Netzwerken gelungen, über jahrelange Kommunikation und Lobbyarbeit klarzumachen, dass Popkultur auch Wertschöpfung und Imagebildung ist. Damit wurde diese Szene für die Politik und die Öffentlichkeit erfassbar. Unsere kulturelle Argumentation zu Beginn der Nullerjahre war hingegen komplett ins Leere gelaufen. Hier gab es schlicht keine ideellen Brücken ins Establishment. Im Hintergrund wirkte fatal die alte ideologische Dichotomie: Kultur versus Vergnügen. Dieser Gegensatz dachte sich an einer sehr deutschen Grabenziehung entlang und äußert sich bis heute in diversen Antipoden: Hochkultur versus Pop oder auch E- versus U-Musik. Ein konstruierter Konflikt, der historisch gewachsen ist. Mit der Machtübernahme der Nazis endete abrupt die Entwicklung eines großen Teils des modernen und international orientierten Musikschaffens in Deutschland. Die Kontinuität war unterbrochen. Nach 1945 erschien dann der deutschen Mehrheitsgesellschaft der von den GI s reimportierte Pop als Sound der Besatzer, als Fremdkörper. Großartigen Künstlern wie Caterina Valente gelang es im deutschen Rahmen lediglich, als Schlagertussi zu reüssieren, ihr eigentliches Repertoire konnte sie nur in den Vereinigten Staaten zeigen, gemeinsam mit Ella Fitzgerald auf der Bühne. Inge Branden- Delicious Doughnuts 2
Vgl. den Beitrag von Sören Birke (S. 221 ff.) in diesem Buch.
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burg, die wahrscheinlich beste westdeutsche Jazzsängerin der sechziger Jahre, kennen heute nur noch Insider. Und noch 1994 beschimpften mich im Delicious Doughnuts3 die Anwohner, ich belästige sie mit »Negermusik«. Populärer Musik wurde in Deutschland 60 Jahre lang der Ritterschlag »Kulturgut« vorenthalten, man stempelte sie glatt als Vergnügen oder Unterhaltung ab. Vergnügen ist in unserem Kulturkreis aber kein kultureller Wert. Vergnügen wird nur mehr geduldet, weil das Volk hier seine Affekte abfackelt, und es gehört von daher ordnungspolitisch streng überwacht. Mozart ist Bildung ergo Kultur und wird hoch gefördert. Peter Fox ist Vergnügen, nicht bildend und ein Fall für die Polizei, wenn zu laut. Auf den wissenschaftlichen Nachweis in beiden Fällen warte ich bis heute. Aus meiner Sicht ist es lediglich einer begüterten Klasse gelungen, ihr Vergnügen – die sogenannte Klassik – als Kulturgut zu apostrophieren und mit hohen Subventionen auszustatten und den populären Rest als »freie Szene« oder ähnlichen Quark als rein soziales Phänomen abzustufen. In Berlin hat sich die offizielle Sicht auf populäre Musikkultur mittlerweile gedreht, sie ist zumindest als Wirtschafts- und Imagefaktor anerkannt. Birke: Wenn wir jetzt eine Kultur- und Sozialgeschichte des Clubs schreiben würden, was stände drin? In der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts steht das Amüsement scheinbar am Rande. Im Rückblick findet man in der Kulturgeschichte des Nachtlebens von Berlin die große kulturelle Bedeutung diverser Vergnügungsetablissements. Warum kommen Clubs in jeder neuen Generation wieder hoch? Mittlerweile ist es in Berlin so, dass sich eine ganze Wirtschaftsbranche darauf gegründet hat. Gemse: Das gesamte Vokabular ist unscharf, weil es traditionell wenig Reflektion über Clubkultur gab, weder eine fundierte Darstellung von innen, noch eine adäquate journalistische oder wissenschaftliche Reflektion von außen. Clubkultur wurde mystifiziert als Party-Ekstase oder Drogenhölle, als Orkus schier unglaublicher Vorgänge. Der Drogenkonsum wurde verharmlost und die Opfer der Exzesse ausgeblendet. Zuweilen konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, den Autoren war vor allem daran gelegen, ihre Zugehörigkeit zum Inner Circle zu dokumentieren. Eine kritische Auseinandersetzung fehlt bis heute. Erst in den letzten Jahren gibt es Ansätze, den Gegenstand seriös zu erfassen. Im Grunde genommen ist die Geschichte der Clubkultur nicht aufgearbeitet, wir wissen wenig von Zäsuren und Umbrüchen. Die neunziger Jahre liegen legendenverhangen im Dunkeln. Der Gründungsmythos hat mit heutiger Clubwirtschaft gleichwohl kaum noch etwas gemein, aber ohne diese Grundlegung gäbe es das Heute nicht. In den frühen Neunzigern war Clubkultur eine elitäre Minorität, eine Abgrenzung der Pioniere gegen die vorgefundene muffige Bürgerwelt in Ost- und Westdeutsch3 Der Club Delicious Doughnuts (Abb. S. 267) eröffnete am 5. November 1993 im Berliner Bezirk Mitte (Nähe U-Bahnhof »Rosenthaler Platz«). Anfang August 2012 teilten die Betreiber des Clubs das Ende mit. Grund dafür sei neben steigenden Kosten auch die Verlagerung der sogenannten Subkultur in andere Bezirke gewesen. [http://www.delicious-doughnuts.de, 06.08.2013].
Pop als Kulturgut und Zivilisationsinstanz
land, aber eben auch gegen die angepasste Jugendkultur der Mehrheitsgesellschaft. Das Wort »Szene« bringt das zum Ausdruck. Heute ist »Szene« zu einem Marketinginstrument mutiert und umfasst den jugendkulturellen Mainstream, was kontradiktionär ist. Szene und Mainstream sind entgegengesetzte Begriffe. Szene hieß in den Neunzigern antibürgerlich, antikommerziell, Anti-Mainstream. Man hat ein rigoros progressives Soundkonzept entwickelt und konsequent umgesetzt. Elektronische Musik war Soundtrack einer Revolte: Die harte mechanische Rhythmik schreckte ungebetene Bürgergäste ab, die abstrakte Diktion stemmte Räume frei für die Projektion von neuen Sinnbezügen. Diese Musik war nur mehr ein Gerüst und überließ dir darüber hinaus viel Platz für deinen eigenen Seelenprozess. Techno war die Emanzipation einer jungen Generation, von neuen Werten, universeller Sexualität, unzensierter Subjektivität: Bekenntnis zu Atomisierung und Verbindung in einem. Der elektronische Sound wurde das Referenzsystem für Identifikation und Selbstbestimmung. Indem dies in Clubs und Freundeskreisen vieltausendfach individuell praktiziert wurde, entstand eine Community mit eigenen Werten und Anschauungen. Techno wurde eine soziale Bewegung und die Loveparade4 ihre öffentliche Manifestation. Ich denke, dass die Entstehung einer wirklich neuen musikalischen Stilistik immer mit einer emanzipatorischen Umwälzung als Treiber und Inspirationsquelle einhergeht. Danach ist es dann nur eine Frage der Zeit, bis das kommerzielle Potenzial identifiziert und der Sound vermarktet wird. Wenn das Liedgut im Mainstream ankommt, ist es für die Pioniere schon entwertet. Für viele Menschen ohne professionellen Musikbezug ist aber gerade erst der abgeschliffene und moderatere Sound begehbar und vermag hier durchaus häretische Effekte zu entfalten. Das ist sozusagen der normale Produktzyklus eines Stils. Daniel Koch hat das einmal am Beispiel des Indie-Pop dargestellt und gezeigt, wie das Indie-Image zum Verkaufsargument mutierte.5 In Wirklichkeit war die Zielgruppe lange schon das Durchschnittspublikum. Eine ganze musikwirtschaftliche Wertschöpfungskette schmückte sich damit: Das ist cool, das ist angesagt, innovativ und trendy. Auch das Publikum erwarb dieses Image gern für sich. Indem es aber alle machen, ist es alles andere als independent. Einen »Produktzyklus« hat gewiss auch die Berliner Clubkultur durchlaufen, sie hat eine Reise von ganz unten nach ganz oben absolviert. Eine Lebenserwartung von über 20 Jahren war ihr ursprünglich nicht in die Wiege gelegt. Heute fehlt der Verweis auf die »weltberühmte Musik- und Kreativszene« in kaum einer Politiker rede; das Hauptstadtmarketing schwärmt unentwegt von »unserer tollen Clubkultur«. Aus dem kreativen Chaos wurde ein global wirksamer Tourismusfaktor. Sprechen wir noch über dasselbe? Für meinen Geschmack ist hier auch seitens der Akteure zu viel kulturelle Besitzstandswahrung im Spiel. Es ist an der Zeit, das Thema neu zu bewerten, Marktstrukturen, künstlerische Potenziale, aber auch Vernetzungslücken 4
Siehe Fußnote 19, S. 154.
5
Vgl. Koch 2011.
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und Standortschwächen zu evaluieren, um strategisch gut für die Zukunft aufgestellt zu sein. Lange: Wo erwartest du neue Wertschöpfungsbildungen im Bereich der Musikproduktion und wodurch werden diese ausgelöst? Gemse: Das Potenzial der traditionellen Tonträger- und Livesegmente ist ausgereizt. Zuwächse sind hier nur noch über internen Verdrängungswettbewerb realisierbar. Parallel dazu schafft Digitalisierung die technologischen Grundlagen für völlig neue Praxismodelle, respektive Wertschöpfungen. Zu maßgeblichen Entwicklungstreibern werden neue soziale Netzwerke mit ungleich komplexerer wie speziellerer Architektur als das Massenmodell Facebook und vor allem das mobile Internet. Dieser Prozess steht noch ganz am Anfang. Aktuell mangelt es neben spezifizierten sozialen Netzwerken auch rechtlich wie technologisch an adäquaten Verwertungsstrukturen. Kurzfristig sehe ich funktionale Geschäftsmodelle im crossmedialen Bereich und in der Vernetzung der unterschiedlichen Kreativwirtschaftssegmente, wie zum Beispiel Musik/Film oder Musik/Games. Hier bietet die Berlin Music Commission mit ihrer Plattform Most Wanted: Music6 für Berliner Akteure eine gute Möglichkeit für internationale Vernetzung und professionelles Coaching. Lange: Welche veränderten Anforderungen an Akteure wie Künstler oder Labels gehen damit einher? Gemse: Kooperation ist keine kommunistische Heilslehre, sondern Grundlage modernen Wirtschaftens. Das Teilen von Information, Know-how und Kontakten schwächt nicht, sondern stärkt. Es ist die Basis für Ergänzung durch Partner und für gemeinschaftliche Projekte, die ungleich flexibler, innovativer und leistungsfähiger sind, als die Angebote der alten Industrie. Zwingend ist gleichwohl Professionalisierung auf internationalem Standard. Die alten Verhaltensmuster wie Abschottung, Isolationismus, »Ich gegen den Rest der Welt« sind zu ersetzten durch Öffnung und Strategien zur Branchenkonvergenz. Das setzt Spezialisierung voraus und Aufbau von Alleinstellungsmerkmalen durch Verknüpfung von Expertisen und Dienstleistungen. Maßgeblich ist dabei Spezifik, 360 Grad Modelle7 sind Bullshit. Wenn alle alles machen, ist der Markt verstopft und keiner mehr anschlussfähig. Positioniere dich international. Last, but not least: Digitalisierung ist nicht dein Feind, sondern deine Zukunft. Es braucht Mut zur Innovation, digitale Kompetenz, Professionalität und Offenheit. Lange: Welche Rolle spielen soziale Netzwerke, bestimmte Orte wie Clubs oder Regionen bei der Reorganisation der Musik-Wertschöpfungskette? 6 Most Wanted: Music ist ein Netzwerk der Berlin Music Commission, das in Kooperation mit der National Association of Record Industry Professionals (NARIP) einmal jährlich Experten einlädt, um sich während der Berlin Music Week auf die Suche nach Songs für Filme, Serien, Fernsehshows, Videospielen oder Sport-Events zu begeben. [http://mostwanted.berlin-music-commission.de, 06.08.2013]. 7 Das sogenannte 360 Grad Modell weitet das Geschäftssystem der Musikindustrie durch horizontale oder vertikale Wertschöpfungsstufen aus. Damit entwickelt sich ein Mehrprodukt unternehmen mit einem integrierten Multikanalbetrieb. (Siehe dazu unter anderem Reimann 2011).
Pop als Kulturgut und Zivilisationsinstanz
Gemse: Mit Verlaub, bei dieser Reorganisation sind eher andere Komponenten relevant. Zunächst spielen aus meiner Sicht Branchennetzwerke eine entscheidende Rolle. Also bottom-up organisierte Interessencluster, welche Prozesslücken in den Wertschöpfungsketten zu schließen vermögen, den Akteuren zielgenau bei ihrer Professionalisierung und Vernetzung helfen, Expertisen bündeln und Plattformen für Kooperationen aufbauen. Clubs sind in diesem Kontext als soziales Bezugsystem und künstlerisches Soundlabor grundlegend. Es bringt uns aber keinen Schritt weiter, unentwegt Einzelkomponenten der Kette zu hypostasieren. Musikwirtschaft ist nach wie vor sehr oldschool-männlich aufgestellt: Besitzstand wahrend mit abgeschotteten Einflussfeldern und Claims. Das Management in der Branche muss jünger, weiblicher, offener und vernetzter werden. Wie viele Frauen in den Führungspositionen der Musikwirtschaft kennst Du? In Berlin zeigen diverse Akteurinnen, dass der feminine Weg besser funktionieren kann als der etablierte Modus der alten Platzhirsche. Die Grabenkämpfe mit ihren ideologischen Besetzungen gehören abgeschaltet. Club, Indie-Label, Major, Verlag, IT, Software, Bildungsinstitut, Netzwerk sind als systemische Komponenten arbeitsteilig, transparent und modular begehbar zu organisieren. Das ist nix Neues, aber was sich hier so locker hinsagen lässt, ist in Praxi ein Minenräumkommando. Die verkrustete Musikwirtschaft kämpft sich zu Recht durch einen Umbruch. Die Wagenburgmentalität hängt vielen alten Kämpen noch immer in den Kleidern. Nach Jahrzehnten der Kultivierung von Abgrenzung und tradierten Geschäftsmodellen korreliert das Handlungsmuster vieler Musikunternehmer nach wie vor zu wenig mit den strategischen To-dos. Vielleicht vermag vor einem derartigen Hintergrund überhaupt erst ein Netzwerk das Ego der Einzelnen zu dimmen, zu verbinden und in einen kooperativen Modus Operandi zu transformieren. Die Berlin Music Commission wurde 2007 übrigens exakt mit der Aufgabenstellung gegründet, die Branche zu öffnen, Abgrenzung zu reduzieren, den Unternehmen bei ihrer Professionalisierung zu helfen und die verschiedenen Akteure der Wertschöpfungskette an einen Tisch zubringen. Ein heterogenes Kooperationsnetzwerk, welches seines Gleichen sucht und international als professioneller Partner der Berliner Musikwirtschaft wohl auch geschätzt wird. Gleichwohl: Die strategische Stärke ist zugleich auch eine operative Schwäche, weil eben nicht identische Geschäftsmodelle mit konformen Interessenlagen gebündelt werden können. Dieser Umstand schränkt die Refinanzierungsmöglichkeiten derartiger Branchennetzwerke über ihre Mitglieder ein und erfordert daher teilweise Unterstützung durch die öffentliche Hand. Da moderne Branchennetzwerke nicht nur im Interesse ihrer Mitglieder tätig sind, sondern sich für Themen, wie zum Beispiel Standortentwicklung, Internationalisierung, Branchenumstrukturierung und Wirtschaftsförderung engagieren, praktizieren sie öffentliche Aufgaben. Vor diesem Hintergrund halte ich eine institutionelle Teilförderung zu unabdingbar. Birke: Wie schätzt du die Rolle der BMC (Berlin Music Commission) in diesem Prozess ein?
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Gemse: Die knapp 50 Unternehmen, die sich in der BMC zusammengeschlossen haben, können mit Fug und Recht sagen: Aufgabe erfüllt. Selbst den Auftrag zur Nachhaltigkeit könnten wir formal mit der Gründung der Berlin Music Week8 und dem Aufbau des Musicboards9 als erfüllt ansehen. Als ich meinen Job im November 2008 antrat, lag der Musikstandort Berlin komplett danieder. Die Popkomm10 wurde 2009 abgesagt, die Akteure waren atomisiert und zerstritten. Zwischen den musikalischen Genres gab es keine Kontakte und erst recht nicht zwischen den unterschiedlichen Akteuren der Wertschöpfungskette. Von einer »Branche« konnte keine Rede sein, sie war in keiner Weise organisiert, es gab keine Branchenstrukturen, die Akteure wussten voneinander nichts. Politische Lobbyarbeit wurde noch nie betrieben, Popkultur war als Wirtschaftsfaktor unbekannt, international renommierte Unternehmer sagten bei der BMC-Gründung, dieser Standort spiele für sie keine Rolle, ihre Märkte seien woanders, wir mögen uns bitte nur darum kümmern. Dass sich dies innerhalb von nur fünf Jahren grundlegend geändert hat, ist vor allem der Berlin Music Commission zu verdanken. Gleichwohl: In der heutigen Situation geht es den Mitgliedsunternehmen der BMC nicht darum, immer wieder nur das Überleben des Netzwerkes für das nächste halbe Jahr zu sichern. Birke: Bedeutet das, dass die Zukunft des hauptstädtischen Musiknetzwerkes finanziell nicht gesichert ist? Gemse: In der Tat. Das GRW-Förderprogramm11 der BMC läuft im September 2013 aus und wurde nicht verlängert. Wir stehen mit unserem Kreativwirtschaftsnetzwerk in gewisser Weise quer zu den klassischen industrieorientierten Strukturen der Wirtschaftsförderung. Bezüglich der Finanzierung eines modernen Branchennetzwerkes sind die traditionellen Ansätze notwendig aber nicht hinreichend. Solcherart Cluster sind weder bloße Interessenvertretungen noch mit klassischen Verbänden zu vergleichen. Stark operativ ausgerichtet entwickeln sie den Musikstandort insgesamt, engagieren sich für Professionalisierung, Weiterbildung, Nachwuchsförderung, Branchenvernetzung ebenso wie für Marktforschung, neue Geschäftsfelder und Strategieentwicklung. Bottom-up aus der Branche herausgebildet, fungieren sie als Medium zwischen den Unternehmen, der Politik und Verwaltung. Sie sind als Akteur anzusehen, welcher aktiv Wirtschaftsförderung betreibt und dessen Aktionsradius bei weitem die Interessen ihrer Mitglieder übersteigt. Sie können von daher über Mitgliedsbeiträge nur teilfinanziert werden. Die BMC hat in den vergangenen fünf Jahren ein Branchencluster entwickelt, welches von Managementforschern als zukunftsweisend eingestuft wird und um das uns 8
Vgl. den Beitrag von Sören Birke (S. 221 ff.) in diesem Buch.
9
Vgl. das Interview mit Katja Lucker (S. 49 ff.) in diesem Buch.
10
Siehe Fußnote 17, S. 42.
11 Die Abkürzung GRW steht für Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur. Mit Hilfe der GRW können Bund und Länder Regionen bei der Bewältigung ihrer Struktur probleme unterstützen. Dabei stellt die GRW ein spezialisiertes Instrument der regionalen Wirtschaftsförderung dar. [http://www.berlin.de/sen/wirtschaft/foerderung/grw/, 06.08.2013].
Pop als Kulturgut und Zivilisationsinstanz
die anderen Standorte in Deutschland beneideten. Eine solche Organisation ist stabil nur auf einer Trias aus Mitgliedsbeiträgen, Projektmitteln und Unterstützung der öffentlichen Hand zu betreiben. Birke: Gibt es hier eine Spezifik der Musikwirtschaft? Gemse: Die Musikwirtschaft arbeitet sich durch eine massive »Krisis« hindurch, ausgelöst durch den Zusammenbruch der etablierten Geschäftsmodelle und Strukturen. Bei diesem Transformationsprozess brauchen die Unternehmen Hilfe beim Aufbau neuer Geschäftsmodelle, bei der Vernetzung mit neuen Partnern und vor allem bei den großen Herausforderungen »Internationalisierung«, »Professionalisierung« und »Digitalisierung« – exakt die Leistungen eines operativ tätigen Branchennetzwerkes. Zugleich sind aber ihre finanziellen Möglichkeiten angesichts dieser Krise eingeschränkt, sie können häufig nur noch Investments tätigen, die sofort merkantilen Ertrag bringen. Das behindert zum einen die Marktfähigkeit von klassischen Netzwerkprodukten und limitiert zum anderen den Spielraum für Mitgliedsbeiträge. Die Berlin Music Commission kann sich unter diesen Rahmenbedingungen über den Markt nicht adäquat refinanzieren. Birke: Und wie geht es jetzt weiter? Gemse: Die BMC kann ihren professionellen Status nur halten, wenn es gelingt, diese Finanzierungstrias aus Mitgliedsbeiträgen, Projektmitteln und Unterstützung der öffentlichen Hand aufzubauen. An der letzten Säule arbeiten wir uns seit über einem Jahr ab und langsam wird die Zeit knapp. Unsere Fragen an den Berliner Senat sind: Gibt es den politischen Willen, im Bereich der Musikwirtschaft ein Modell moderner Wirtschaftsförderung und der dafür notwendigen Netzwerkinfrastruktur aufzubauen? Sind aus dem Landeshaushalt für dieses Ziel entsprechende Finanzmittel zu aktivieren? Kann für dieses Projekt keine Zustimmung organisiert werden, treten wir besser ab. Unser Ziel ist eine Wirtschaftsförderung, die nicht aus der breiten Gießkanne partikuläre Einzelakteure subventioniert, sondern strategisch Prioritäten setzt und langfristige Strukturen baut, welche die für Kreativwirtschaft systemisch wichtigen KMU zukunftsfähig zu machen vermögen. Diesem Ziel widmet sich in der Berliner Musikwirtschaft keine andere Einrichtung. Ein Branchennetzwerk ist praktizierte Wirtschaftsförderung im besten Sinne! Lange: Wie ist heute eigentlich dein privater Bezug zu Musik, wie hat sich deine Art, Musik zu hören, in den letzten fünf bis acht Jahren geändert? Gemse: Radikal. Und paradoxerweise spielten Last.fm12 und SoundCloud13 dabei eine untergeordnete Rolle, es ist ein »Zurück auf Anfang«: Vinyl und Radio! Die neunziger bis Mitte der Nullerjahre habe ich im Club und auf Konzerten zugebracht. 15 Jahre im Spirit der elektronischen Musik, wir wähnten uns als Pioniere 12
Siehe Fußnote 7, S. 159.
13 SoundCloud ist eine Onlineplattform zum Austausch und zur Distribution von Audiodateien, die 2007 gegründet wurde. Die Plattform ist Mitglied der Berlin Music Commission. [https://sound cloud.com, 04.07.2013].
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auf diesem Feld. Für mich war das Spiel irgendwann am Ende. An irgendeinem verregneten Sonntag nach vier Tagen Party in Folge hab ich erschöpft meinen alten Plattenspieler hervorgekramt. Die alte Technik war ein neuer Zugang zu altem Sound – den Ursprüngen des Pop – Blues, Soul, Funk, Metal, Jazz, Folk, aber auch Mangelsdorff, Schönberg, Eisler. In unseren abgestellten Plattensammlungen sind krasse Schätze verborgen. Im Grunde bin ich aber ein Radio Maniac. On Air via Digitalradio – es mag kauzig klingen, aber neben YouTube ist das heute mein am meisten genutzter Musikbezug. Und nebenher: ich liebe es, mir von genialen Musikkoryphäen neue Sounds und Entwicklungen aufzeigen zu lassen – eine aussterbende Spezies! Angesichts der DIYbasierten Flut an Musik ist heute klassischer Musikjournalismus als Supporter und Navigator wichtiger denn je. Birke: Eine letzte Frage noch: Als Unternehmer, was treibt dich morgens aufzustehen? Gemse: Der Wecker und drei Kinder. Interviewmontage aus Gesprächen mit Sören Birke 2010 und Bastian Lange14 2013.
14
Vgl. Kretschmar 2013.
Pop-up Wie uns die Pet Shop Boys helfen können, ein besseres Leben zu führen
Gerd Hallenberger
Pop-ups kennt man vorwiegend als lästige Werbebotschaften, die einem beim Internetsurfen plötzlich den Bildschirm füllen und den Blick auf das verstellen, was man eigentlich sucht. Das allgemeine Prinzip des Pop-ups, unerwartet auf etwas hingewiesen zu werden, was man nicht erwartet hat, mit dem Erwarteten aber im Idealfall in irgendeiner sinnvollen Beziehung steht, ist ein wesentliches Kennzeichen von Popkultur. Der folgende Text versteht sich als explorative Skizze, die in zwei großen Schritten, die sich jeweils aus mehreren kleinen zusammensetzen, diesem Phänomen bzw. der Behauptung, dass es ein solches Phänomen gibt, nachgehen. Der erste Schritt hat dabei mit allgemeinen Zusammenhängen zu tun, der zweite mit einem besonderen Exempel von Popkultur.
Allgemeines: Popkultur Was genau ist eigentlich Popkultur? Der Begriff ist alltagssprachlich geläufig, jeder und jede weiß, wovon die Rede ist, aber eine präzise und einheitlich gehandhabte wissenschaftliche Begriffsfassung gibt es nicht. Mittlerweile ist Pop zum »begrifflichen Passepartout einer unübersichtlichen Gesellschaft« geworden, der Begriff ein »zeitdiagnostischer Dummy-Term«.1 Häufig wird er als moderne Kurzfassung von »Populärkultur« verwendet, wodurch sich je nach Zeithorizont und diskursivem Kontext beispielsweise enge Beziehungen (wahlweise) zu »Volkskultur«, »Alltagskultur«, »Unterhaltungskultur«, »Medienkultur« oder »Kulturindustrie« ergeben. In anderen Fällen wird Popkultur auf spezifische kulturelle Phänomene zurückgeführt – etwa auf populäre Musik (Popkultur als das von Popmusik verursachte kulturelle Feld) oder die Beschäftigung der Kunst mit alltagskulturellen Artefakten (Popkultur als Konsequenz der Pop-Art) ab den fünfziger Jahren. Geht man von heutiger Umgangssprache aus, sind fast immer mehrere der vielen Bedeutungsvarianten von Popkultur im Spiel, wenn von Popkultur die Rede ist, aber keine einzelne ist essenziell. Popkultur ist eine Kultur des »Irgendwie«, jeweils mit 1
Beide Zitate aus Diederichsen 1999, S. 274.
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zulässigen Ausnahmen. Irgendwie hat Popkultur fast immer etwas mit Musik zu tun, es geht aber auch ohne. Musik spielt oft eine zentrale Rolle, manchmal eine periphere, gelegentlich auch gar keine – auch ein Computerspiel kann Popkultur sein. Irgendwie hat Popkultur fast immer etwas mit Medien zu tun, es geht aber auch ohne – auch ein Fußballspiel hat das Potenzial, von vielen als Element von Popkultur empfunden zu werden. Irgendwie hat Popkultur fast immer etwas mit Jugend zu tun, aber nicht unbedingt im biologischen Sinn. Selbst die Rolling Stones, mittlerweile ältere Herren im Rentenalter, gelten weiterhin für viele als Repräsentanten von Popkultur. Irgendwie hat Popkultur fast immer etwas mit kommerziellem Gewinnstreben, vulgo kapitalistischer Ökonomie, zu tun, auch wenn die Mehrzahl der (zumeist unbekannt bleibenden) Akteure der Popkultur niemals reich wird, sondern allenfalls darauf hofft. Irgendwie will heute alles Pop sein, »vom Theatertreffen bis zur Theorie, von der sozialdemokratischen Kandidatenkür bis zur Kulturkatastrophe«.2 Mit diesen (und noch weiteren) »Irgendwies« wird Popkultur als eine Kultur der Kontingenz erkennbar, aber es geht um Kontingenz mit einer besonderen Pointe. Üblicherweise wird von Kontingenz primär gesprochen, wenn statt eines spezifischen Phänomens (einem Merkmal / eines Zustands etc.) auch ein anderes vorliegen könnte, was man als »horizontale Kontingenz« bezeichnen könnte. Typisch für Popkultur ist zusätzlich auch »vertikale Kontingenz«: Das gleiche Phänomen kann höchst unterschiedlich gedeutet werden – und alle diese Deutungen sind insofern kontingent, dass sie gleichermaßen legitim sind. Wenn es einen gemeinsamen Nenner von Popkultur gibt, dann genau diesen: Alle ihr zurechenbaren Phänomene sind das, was sie zu sein scheinen, erlauben aber zusätzlich die Hoffnung, dass da noch mehr bzw. anderes sein kann. Entscheidend ist dabei das Wörtchen »kann«: Jenseits des ersten Eindrucks kann noch mehr sein, es muss aber nicht. Man kann es suchen, man muss aber nicht. Manchmal kann man sogar etwas finden, was eigentlich gar nicht da ist, weil zeitgenössische kulturelle Kontexte eines Pop-Phänomens Zugänge, Lesarten und Verwendungsweisen erlauben, die über das im Pop-Phänomen selbst angelegte hinausgehen. In besonders auffälliger Weise geschieht dies oft im Zusammenhang mit Werbung. Ein Beispiel: In den siebziger Jahren bewarb die Firma Memorex ihre Audio-Kassetten mit dem Slogan »Is it live, or is it Memorex?«. Die dazugehörigen Werbespots zeigten zunächst eine Sängerin, deren Gesang ein Glas zerspringen ließ, dann, dass die auf einer Memorex-Kassette aufgenommene Gesangsaufzeichnung ebenfalls ein Glas zum Zerspringen brachte. In den folgenden Jahren wurde die mittlerweile zum Pop-Phänomen geadelte Werbekampagne vermittels ihres Slogans zu einem universell einsetzbaren ironischen Kritik-Instrument: Wer etwa in einem amerikanischen Restaurant ein zähes Steak vorgesetzt bekam, konnte durchaus – wie dem Autor dieses Textes berichtet worden ist – den Kellner herbeirufen und ihm die Frage stellen »Is it live, or is it Memorex?«. 2
Diederichsen 1999, S. 273.
Pop-up
Was ist also Popkultur? Dass sie meist mit Medien, besonders oft mit Musik, mit Jugend bzw. Inszenierungen von Jugendlichkeit zu tun hat, mit meist auch in Umsatzzahlen (im Falle von Politik als Pop: in Wählerzahlen) widergespiegelter Beliebtheit, charakterisiert ihre erste Seite, die Angebotsseite; ihre zweite Seite, die Nutzungsseite, charakterisiert der Begriff Alltäglichkeit. Popkultur ist Kultur für den Alltagsgebrauch, sie greift Vertrautes auf, ist im Prinzip alltäglich verfügbar und erweist sich im Alltag als nützlich – manchmal für sehr viele Menschen, manchmal auch nur für kleine Gruppen. Egal wie groß die Zahl der Menschen ist, die insgesamt ein Pop-Phänomen in ihrem Alltag benutzen, jeder einzelne Nutzungsvorgang ist individuell – aber nicht völlig beliebig: Wenn sich etwas als individuell nützlich erweist, sind darin immer auch gesellschaftliche Verhältnisse, also auch Machtverhältnisse eingeschrieben. Diese Nützlichkeit kann sehr unterschiedliche Formen haben und klein oder groß ausfallen. Sie kann aus schlichtem Gefallen bestehen oder aus existenzieller Introspektion, eine Nützlichkeit nur für den Augenblick sein oder die gesamte eigene Lebensgeschichte betreffen. Immer dann, wenn der Umgang mit Phänomenen der Popkultur zu Erlebnissen führt, die man als Bereicherung erfährt, findet ein Pop-up in übertragenem Sinn statt: Eine Verbindung wird plötzlich hergestellt, zwischen mir und einem Stück Popkultur, und diese Verbindung macht unwillkürlich Sinn, sie hilft mir, mich selbst, meine Situation und meine Geschichte zu verstehen – oder ich fühle mich einfach in diesem Augenblick gut, was vor allem in privat oder beruflich prekären Lebenssituationen äußerst hilfreich sein kann.
Popkultur, Unterhaltungskultur und die Wissenschaft Sich mit Popkultur zu beschäftigen ist in mancher Hinsicht gleichermaßen kompliziert wie die Beschäftigung mit Unterhaltungskultur. Für beide Felder gilt, dass sie erst in den letzten Jahrzehnten von den einschlägigen akademischen Disziplinen als legitimer Gegenstand entdeckt worden sind, in angelsächsischen Ländern dank der kulturwissenschaftlichen Richtung der Cultural Studies früher als in anderen Regionen. Beiden Feldern ist außerdem gemein, dass sie aus Sicht der anerkannten Hochkultur lange als relativ anspruchslos galten. Konsumentinnen und Konsumenten von Popkultur oder Unterhaltungskultur wurden als mehr oder weniger wehrlose »Opfer« einer ausgeklügelten Verführungsmaschinerie wahrgenommen, die einzig kommerziellen Interessen dient. Zumindest die wissenschaftliche Sicht der Dinge ist mittlerweile weitaus komplexer. Zahlreiche kulturwissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass es nicht nur einen möglichen Umgang mit derartigen Phänomenen gibt, sondern sehr viele Umgangsweisen, darunter auch äußerst kreative.3 Medien- und kommunikationswissenschaftliche Theoriebildung operiert heute mit höchst anspruchsvollen 3
Vgl. Fiske 1989, Hobson 1982.
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Modellen4, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, was eigentlich passiert, wenn wir uns »unterhalten«. Die Resultate dieser wissenschaftlichen Bemühungen in unterschiedlichen Fächern sind nicht nur miteinander weitgehend kompatibel, sie ergänzen sich sogar. Konsens besteht beispielsweise darin, dass der Umgang mit Unterhaltungskultur im Allgemeinen oder Popkultur im Speziellen nicht bedeutet, etwas über sich ergehen zu lassen, sondern sich auf etwas einzulassen. Dieses Einlassen kann mit größerem oder geringerem Einsatz betrieben werden, mit größerem oder geringerem Wissen über das, worauf man sich einlässt. Je höher Einsatz und Wissen, desto größer die Chance, dass dabei etwas Wichtiges passiert – also beispielsweise Pop zu Pop-up führt. Wir kennen dieses Phänomen alle. Unseren Lieblingsfilm haben wir schon x-mal gesehen, wir kennen ihn gut und wissen viel über ihn. Dieses Wissen, verbunden mit unserer Bereitschaft, uns immer wieder auf diesen Film einzulassen, sorgt dafür, dass er für uns jede Menge Sinn »macht«. Obwohl wir es sind, die diesen Sinn machen, indem wir wichtige Aspekte oder Episoden unseres Lebens damit verknüpfen. Unser Lieblingsstar ist uns ans Herz gewachsen, weil wir über ihn / sie fast so viel wissen wie über uns und dabei mannigfache Beziehungen zu uns selbst fest- bzw. herstellen: in dieser Hinsicht ist er / sie genauso wie wir, in jener Hinsicht zwar ganz anders, aber so wären wir auch gerne. Unsere Lieblingsmusik folgt den gleichen Regeln: Jede Textzeile und jeder Sound sind vertraut, jedes Wiederhören bringt nicht nur Freude, sondern Bestätigung: Ja, dieser Song ist es, er bringt mein Leben auf den Punkt – das heißt, ich bringe mein Leben auf den Punkt des Songs. Solche existenziellen Pop-ups gelingen vor allem dort besonders gut, wo Erzeugnisse der Popkultur selbst sehr offen angelegt sind, viele Zugänge bieten, also auch vielfältig genutzt werden können.
Statt einer Zwischenbilanz: Popkultur und das Identitätsspiel Vordergründig bietet Popkultur vor allem Anlässe, »Spaß« zu haben, was immer das auch konkret bedeuten mag: positive Gefühle im Umgang mit popkulturellen Angeboten, ein Sich-selbst-Erleben oder einfach nur ein Wahrnehmen der eigenen Emotionalität. Egal ob Freude, Begeisterung, Angst oder Trauer – Hauptsache ist, ich spüre, dass ich lebe! Jenseits des situativen Spaßes kann jedoch sehr viel mehr liegen – muss aber nicht. Wenn es um mehr geht, hat es mit etwas zu tun, was man das »Identitätsspiel« nennen kann. In vielen Gesellschaften haben die Menschen heute Chancen und Probleme, die ihre Vorfahren überhaupt nicht kannten. Wer beispielsweise vor hundertfünfzig Jahren in einem kleinen Dorf in Hessen als erster Sohn eines Bauern geboren wurde, dessen Leben war im Wesentlichen vorbe4
Vgl. Früh 2003.
Pop-up
stimmt. Der Sohn würde natürlich auch Bauer werden und eines Tages seinen Vater beerben. Sein Leben würde sich weitgehend in diesem Dorf abspielen, von gelegentlichen Besuchen in der nächsten Kreisstadt abgesehen, auf deren Markt die Produkte des Hofes verkauft wurden. Die Religion des Sohnes ergab sich selbstverständlich daraus, ob er zu einer evangelischen oder katholischen Familie gehörte, seine politischen Ansichten (sofern er welche hatte) folgten natürlich der Familientradition. Seine Begegnungen mit Kultur waren vor allem Begegnungen mit dörflicher Populärkultur – mit Bräuchen, Volksmusik und Volkstanz, hauptsächlich im Rahmen von Festen. Und wahrscheinlich würde er bei einem solchen Fest seine künftige Ehefrau kennenlernen, die entweder aus seinem Dorf oder der näheren Umgebung stammte. Wer dagegen heute in einer insgesamt wohlhabenden und demokratisch regierten Region lebt, wie etwa in Westeuropa, hat in aller Regel weitaus mehr Möglichkeiten – selbst wenn er in einem kleinen Dorf geboren wurde. Sein Lebensweg ist nicht qua Geburt determiniert: Die Lebensentwürfe haben sich ausdifferenziert und optionalisiert; Lebensauffassungen sind zunehmend innenorientiert, also nicht nur aufs Überleben ausgerichtet, sondern auch auf Erleben.5 Auch ein Bauernsohn könnte Hochschullehrer werden (selbst wenn dies nicht besonders wahrscheinlich ist) und der Sohn eines Hochschullehrers Bauer (was allerdings noch unwahrscheinlicher ist). Die Optionalisierung der Lebenswege geht einher mit der Optionalisierung von Identität. Wer bin ich eigentlich? Diese Frage ist überhaupt erst in neuerer Zeit möglich geworden, da Lebenswege und Lebensauffassungen nicht mehr weitgehend ererbt werden. Was auch immer ich als essenziell für mein »Ich-Sein« empfinde, ich habe in vielen Ländern die Wahl – und das gleich vierfach. Erstens kann ich mir aussuchen, was ich prinzipiell als mich prägend ansehe: Ist es mein Geburtsort? Meine Religion? Meine politische Einstellung? Mein Beruf? Meine sexuelle Orientierung? Meine Hobbys? Eine bunte Mischung dieser oder noch ganz anderer Faktoren? Zweitens habe ich bei den meisten dieser Faktoren die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten. Auf meinen Geburtsort und meine erste Religionszugehörigkeit habe ich natürlich keinen Einfluss, aber auf alles andere schon, auch wenn mein persönlicher Einfluss mal größer und mal kleiner ist, mal die Wahl zwischen sehr vielen oder nur einigen wenigen Möglichkeiten zu treffen ist. Drittens kann ich die Frage »Wer bin ich?« auch situativ unterschiedlich beantworten: In beruflichen Kontexten kann »ich« durchaus ein anderer sein als in privaten. Viertens bin ich nicht dazu verdammt, einmal getroffene Identitätsentscheidungen mein ganzes Leben lang beizubehalten. Ich kann meine Auswahl im Laufe der Zeit immer wieder revidieren, ein »Wechselwähler« werden. Im Unterschied zu früheren Zeiten ist es also keineswegs klar, wer ich eigentlich bin. Diese Situation impliziert einerseits eine Fülle von Chancen der Auswahl, aber auch ein großes Problem: Ich habe keine Wahl, ich muss wählen. Ob ich es will oder 5
Vgl. Schulze 1997.
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nicht, ich habe nicht einfach eine Identität, ich bin Spieler im Identitätsspiel. Wer sich diesem Spiel verweigert, etwa indem er sich auf seine »Wurzeln« beruft, also auf eine quasi naturwüchsige »Identität«, läuft Gefahr, seine eigenen Möglichkeiten zu beschneiden und politisch instrumentalisiert zu werden: Nur Pflanzen haben Wurzeln, und Menschen sind nun mal keine Pflanzen. Wenn ich mich auf das Identitätsspiel einlasse, brauche ich Orientierung. Grundlage ist natürlich zunächst, was ich mir bisher an »Identität« aufgebaut habe. Aber wie komme ich weiter? Ohne Introspektion geht es selbstverständlich nicht, Gespräche im sozialen Umfeld (Familie, Freunde, Bekannte, Kollegen) sind in der Regel ebenfalls essenziell, auch gezielte Informationssuche in allen Medien kann bei der Identitätsarbeit hilfreich sein. Eine weitere wichtige Quelle bei der Suche nach Orientierung ist die Popkultur. Sie verspricht »Spaß«, und wenn ich Spaß habe, bin ich besonders nah bei mir selbst. Was mir dabei begegnet, begegnet mir in einer Kombination von Kognition und Emotion – ich denke und ich fühle.
Exemplarisches Der Umgang mit Phänomenen der Popkultur kann also nicht nur zu Spaß, sondern auch zu unerwarteten Momenten der Sinnfindung führen, zu kognitiven Pop-ups, falls geeignete Merkmale des popkulturellen Artefakts mit dazu passenden Dispositionen des Nutzers oder der Nutzerin zusammenkommen. Geht man von der allgemeinen wie der genrespezifischen publizistischen Resonanz aus, gibt es in jedem Medienbereich – wie zum Beispiel Film, Fernsehen oder Musik – eine ganze Reihe von Angeboten, die sich besonders für derartige Pop-ups eignen. Im Folgenden soll nun ein Beispiel aus dem Bereich der Popmusik näher betrachtet werden. Es geht um die Pet Shop Boys, und das aus mehreren Gründen. Ein erster ist allein ihr Erfolg und die Dauer ihrer Karriere. Das britische Duo, bestehend aus Chris Lowe und Neil Tennant, hatte seinen ersten großen Erfolg 1985 mit einer neu abgemischten Version des bereits ein Jahr zuvor ohne größere Resonanz veröffentlichten Songs »West End Girls«. Seit 1985 wurden Single- und Albumveröffentlichungen der Pet Shop Boys regelmäßig zu Chart-Hits, selbst 2009 waren sie wieder mit der Single Love etc. und dem Album Yes in vielen Ländern auf vorderen Hitparadenpositionen zu finden, ebenso 2012 mit dem Album Elysium und den Singles Winner und Leaving. Im Februar 2009 wurden sie außerdem mit dem Preis für »Outstanding Contribution to Music« bei den Brit Awards ausgezeichnet. Solche langen, kontinuierlichen Karrieren sind im heutigen Popmusik-Geschäft äußerst selten, lediglich Madonna und (bis zu seinem Tode) Michael Jackson können Ähnliches vorweisen. Ein zweiter Grund sind ihre vielfältigen Vernetzungen in der Popkultur. Zwar haben die Pet Shop Boys meistens in Genres der elektronischen Tanzmusik gearbeitet (Elektro-Pop, Disco, House), zu ihrem Gesamtwerk zählen aber etwa auch ein Bühnen-Musical (Closer to Heaven, 2001) und eine neue Filmmusik zu Eisensteins Panzerkreuzer
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Potemkin (als Tennant / Lowe mit den Dresdner Sinfonikern realisiert und 2005 auf CD veröffentlicht). Außerdem haben sie in unterschiedlichen Funktionen – als Autoren, Produzenten, Remixer oder Duettpartner – mit einer Vielzahl anderer Künstler zusammengearbeitet, etwa mit Dusty Springfield, Liza Minnelli, Tina Turner, David Bowie, Robbie Williams und Rammstein. Der dritte und wichtigste Grund ist jedoch, dass die Pet Shop Boys Pop als reflexives und selbstreflexives Gesamtprojekt betreiben, was sich auf den ersten Blick über die äußerst ambitionierte visuelle Gestaltung ihrer Tonträger-Veröffentlichungen, Videos6 und Bühnenauftritte erschließt7 und auf den zweiten über ihre Songtexte. Dieser Umstand wurde auch von Anfang an von der journalistischen Kritik bemerkt. Alle Tonträger-Veröffentlichungen der Pet Shop Boys können bis heute auf eine für Hitparaden-Acts in Umfang wie Reflexionsniveau einzigartige publizistische Resonanz verweisen.8
Der Pop-Hörer: Auf sich allein gestellt Im ersten Teil dieses Textes wurde bereits angedeutet, dass es viele Möglichkeiten gibt, mit Erzeugnissen der Popkultur für sich etwas Befriedigendes herzustellen. Dies ist nicht nur bei voller Konzentration auf das jeweilige Stück Popkultur möglich, sondern auch bei der Wahrnehmung mit geringer Aufmerksamkeit; unter Einsatz genauer Werkkenntnis oder auch ohne jegliches tiefere Hintergrundwissen. Ein äußerst vordergründiger Zugang – klingt gut, sieht gut aus, ist irgendwie spannend – kann durchaus genügen. Intelligenter Pop, egal in welchem Medium macht sich nicht einfach die alte Bühnenweisheit »wer vieles bietet, wird allen etwas bieten« zunutze, sondern operiert mit einem dreidimensionalen Konzept: Breite, Höhe und Tiefe. Breite bedeutet dabei, ein möglichst großes Publikum (genauer: viele Einzelne) anzusprechen; Höhe, dies möglichst auffällig zu tun; Tiefe, über potenziell – also nicht notwendigerweise – erschließbare Referenzen, weitergehende Deutungs- und damit Bedeutungsebenen zu öffnen. Derartige Öffnungen können primär kognitive Effekte evozieren oder primär emotionale oder eine Kombination von beiden. Kognitive Effekte treten beim Nutzer dann auf, wenn Verweise auf realweltliche Phänomene entdeckt und decodiert werden – Verweise auf andere kulturelle Artefakte (Musikstücke, Fernsehsendungen, Filme, Bücher, Kunstwerke), auf historische Ereignisse, auf politische oder soziale Zustände etc. In diesem Fall ist es vor allem die Bestätigung des eigenen Weltwissens, die das Nutzungserlebnis zu einem besonders intensiven macht. Emotionale Effekte basieren darauf, dass die vom Nutzer wahrgenommene Referenz Bedeutung für die eigene »Identität« hat, also für die Interpretation der eigenen Lebensgeschichte, für 6
Vgl. die Audio-Kommentare von Tennant und Lowe auf der Video-Kompilation PopArt (2003).
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Vgl. Hoare/Heath 2006.
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Anlässlich des 2009 veröffentlichten Albums Yes siehe dazu: Rapp 2009 b und Hossbach 2009.
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die Beantwortung der Frage, was ich war, bin, sein könnte oder werden will. Emotionale Effekte können natürlich durch kognitive verstärkt werden. Wenn das, was mit mir ganz persönlich zu tun hat, erst über vorab zu erschließende realweltliche Referenzen zu entdecken ist, besitzt das Resultat eine besonders große Individualität – es gehört (vermutlich) wirklich nur mir allein. Bei diesem Prozess der Sinnkonstruktion ist jeder Pop-Nutzer auf sich allein gestellt. Es ist ein Zufall, dass eines der wichtigsten Stücke der Pet Shop Boys genau diesen Titel trägt: »Left to My Own Devices«. Es wurde erstmals 1988 als Single und auf dem Album Introspective veröffentlicht und ist seitdem ein wichtiger Bestandteil des Gesamtwerks, was Wiederveröffentlichungen auf den Kompilationen Discography (1991), PopArt (2003) und Ultimate (2010) sowie den Live-Alben Concrete (2006) und Pandemonium (2010) belegen. »Left to My Own Devices« ist ein hervorragendes Beispiel dafür, was Pop als offener Raum, was dreidimensionaler Pop sein kann. Die Dimensionen »Breite« und »Höhe« werden vor allem durch das Left to My Own Devices – Das Vinyl-Cover der verwendete musikalische Material 12˝-Single, 1988 bedient – für »Breite« sorgt schon die Tatsache, dass das Stück auf einem äußerst tanzbaren Uptempo-Disco-Beat aufbaut; für auffällige »Höhe« der Umstand, dass insbesondere am Stückanfang und Stückende ein üppiges Orchesterarrangement für Aufmerksamkeit sorgt. Die akustische Inszenierung schafft oder behauptet hier Bedeutsamkeit, was bei Disconummern auch 1988 höchst ungewöhnlich war. Eine Andeutung von »Tiefe« lassen zwar bereits einzelne dissonante Orchesterpassagen erkennen, der Songtext ist jedoch der Schlüssel, um den komplexen Zugangsweisen auf die Spur zu kommen, die »Left to My Own Devices« ermöglicht. Es ist ein für Popsongs (immerhin erreichte das Stück Platz 4 in der britischen Single-Hitparade) in vielerlei Hinsicht sehr ungewöhnlicher Text. Erstens folgt er im Strophenablauf einem Tag im Leben des Icherzählers, plus einer Abschlussstrophe, in der Textmotive rekonfiguriert werden, also Akteure/Handlungen/Erinnerungen neu zusammengestellt werden. Zweitens kombiniert er im Rahmen seiner narrativen Struktur autobiografische Elemente, die sich auf das Leben von Neil Tennant beziehen, geschickt mit allgemeineren, also potenziell von allen Hörern (und nur in zweiter Linie: Hörerinnen) nutzbaren – also auch sich selbst beziehbaren – Textpassagen. Drittens verweigert sich »Left to My Own Devices« jeder schlüssigen abschließenden Gesamtinterpretation. Das Stück hat nicht einen identifizierbaren Sinn, eine erkenn-
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bare Aussage, sondern kann auf unterschiedlichste Weise zur Konstruktion von Sinn genutzt werden. Selbst Wayne Studer, der auf einer äußerst ambitionierten Internetseite Kommentare zu allen Pet-Shop-Boys-Songs bietet, kapituliert vor diesem Stück: »At any rate, we’re probably best off throwing up our hands and admitting that ›Left to My Own Devices‹ is about a lot of different things, and just leave it at that.«9
Der Pop-Hörer: Allein mit einem einzelnen Songtext Aber lassen wir uns doch einfach einmal auf diesen merkwürdigen Text ein. Nach einem hochdramatischen Orchester-Intro setzt ein treibender Beat ein, und Neil Tennant beginnt den Text in einer Erzählstimme: I get out of bed at half past ten phone up a friend who‹s a party animal Turn on the news and drink some tea Maybe if you’re with me we’ll do some shopping Der Icherzähler hat offenbar ein bequemes Leben, er kann es sich leisten, spät aufzustehen, und muss sich nicht nach festen Arbeitszeiten richten. Falls er die Nacht mit seiner / seinem Geliebten verbracht hat (klare Geschlechtszuordnungen werden vermieden), ist auch noch ein Einkaufsbummel möglich, da es offenbar keine klaren beruflichen Verpflichtungen gibt – wenigstens nicht an diesem Tag. Das »party animal«, von dem die Rede ist, hat sogar einen erschließbaren Namen: Laut Aussage von Neil Tennant – auf Wayne Studers Internetseite erwähnt – handelt es sich dabei um den bekannten Journalisten und Buchautor Jon Savage. Etwas mehr über die Einstellungen des Icherzählers erfahren wir im zweiten Textabschnitt, ebenfalls in Erzählstimme vorgetragen: One day I’ll read or learn to drive a car If you pass the test, you can beat the rest but I don’t like to compete or talk street, street, street I can pick up the best from the party animal Der Icherzähler hat offenbar ein schlechtes Gewissen, weil er manches nicht liest, was er eigentlich lesen sollte, und er hat keinen Führerschein. Er hasst Prüfungen, Konkurrenz, er hasst, sich mit gemeinem Volk einzulassen, stattdessen verkehrt er lieber in elitären Kreisen, zu dem ihm sein bereits erwähnter Bekannter, das »party animal«, Zugang verschafft. Der bislang sehr konturlose Icherzähler wird hier zu einer zwar gebrochenen, aber eher unsympathischen Figur. Die Verweigerung von 9 Wayne Studer, Pet Shop Boys Commentary. [http://www.geowayne.com/psbhtml.htm, 03.11.2009]. Hervorhebung im Original.
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Konkurrenzkampf mag zwar als netter Zug gesehen werden, aber zusammen mit dem ersten Textabschnitt entsteht doch eher der Eindruck, dass es sich um einen äußerst egoistischen Menschen handelt, wahrscheinlich (unverdient) reich, der nur tut, was er will und was ihm nützt. Dieser Eindruck wird im folgenden (gesungenen) Refrain zunächst noch verstärkt: I could leave you say good-bye or I could love you if I try and I could and left to my own devices I probably would Left to my own devices I probably would Selbst seine Liebesbeziehung sieht der Icherzähler offenbar als seinen Launen unterworfen an: Er kann lieben – falls er sich bemüht – oder verlassen, aber es ist offenbar egal, wofür er sich entscheidet. Bis zu diesem Punkt ist der Text noch problemlos entschlüsselbar und bietet über die Jon-Savage-Referenz in den ersten Textabschnitten eine Extra-Belohnung für die Hörer, die diese Information erlangt haben. Aber im zweiten Teil des Refrains wird es rätselhaft. Die Zeile »and I could« wird stimmlich nicht so eng an »if I try« angehängt, dass sie sich eindeutig darauf bezieht, im Sinne von »I could try«, statt dessen wird sie auf die gleiche Weise wie die vorherigen beiden »could«-Zeilen intoniert, also gleichrangig. Damit wird zusätzlich eine dritte Handlungsalternative angedeutet, sogar zur wahrscheinlichsten erklärt (»and left to my own devices I problably would«). Aber was der Icherzähler tun würde, wenn er auf sich allein gestellt wäre, bleibt vollkommen unklar und wird auch im gesamten weiteren Text nicht aufgelöst. Die nächsten beiden wieder im Erzählton vorgetragenen Strophen dienen vor allem dazu, dem bislang eher unsympathischen Egoisten einen biografischen Hintergrund zu geben, der ihn als traurigen Einzelgänger erscheinen lässt: Pick up a brochure about the sun Learn to ignore what the photographer saw I was always told that you should join a club stick with the gang if you want to belong I was a lonely boy, no strength, no joy in a world of my own at the back of the garden I didn’t want to compete or play out on the street for in a secret life I was a Roundhead general
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Gesellschaftliche Normen binden zwar Identität an Gruppenzugehörigkeit, aber der Icherzähler war schon in seiner Kindheit einsam und hat sich lieber in seiner eigenen Phantasiewelt aufgehalten. Sänger Neil Tennant betont übrigens, dass die Figur des Icherzählers zwar einige autobiografische Züge aufweist (zum Beispiel hatte er eine eigene Ecke des elterlichen Gartens zum Spielen), aber insgesamt nicht autobiografisch angelegt ist. So war er selbst nie ein »lonely boy«.10 Es folgt eine Wiederholung des rätselhaften Refrains, dem durch die angehängte Zeile »Oh, I would« noch mehr Dringlichkeit gegeben wird. Dem nächsten Textabschnitt kommt eine Schlüsselrolle zu, er stellt eine Verbindung zwischen dem Icherzähler und der Arbeit der Pet Shop Boys her: I was faced with a choice at a difficult age Would I write a book? Or should I take to the stage? But in the back of my head I heard distant feet Che Guevara and Debussy to a disco beat Einerseits wird die offenbar seit seiner Jugend bestehende Entscheidungsunfähigkeit des Icherzählers beschrieben, andererseits lässt sich die Formulierung »Che Guevara and Debussy to a disco beat« auch als Umschreibung der allgemeinen künstlerischen Ambitionen der Pet Shop Boys deuten11. Bis zu diesem Zeitpunkt folgt das Stück einem konstanten formalen Aufbau – auf zwei Strophen mit jeweils vier Zeilen folgt der Refrain. Nach dieser Logik müsste nun eine weitere kurze Strophe kommen, doch das Muster wird durch eine wesentlich längere Textpassage durchbrochen: It’s not a crime when you look the way you do the way I like to picture you When I get home, it’s late at night I pour a drink and watch the fight Turn off the TV, look at a book pick up the phone, fix some food Maybe I’ll sit up all night and day waiting for the minute I hear you say
10 Vgl. Heath 1991, S. 290f. sowie die ausführlichen Kommentare von Lowe und Tennant zu diesem Stück, die im Booklet zur CD-Wiederveröffentlichung von Introspective abgedruckt sind und auf der von Tomas Mosler gepflegten Fan-Internetseite [http://www.petshopboys.cz] in der Rubrik »Between the Lines« nachgelesen werden konnten (Seite derzeit inaktiv). 11 Vgl. Wayne Studers Interpretation [http://www.geowayne.com/psbhtml.htm, 03.11.2009] und die entsprechenden Künstlerzitate bei Tomas Mosler [http://www.petshopboys.cz, 03.11.2009].
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Nach einer Bemerkung zum Aussehen des oder der Geliebten, die die bereits erwähnte innerliche Distanz des Icherzählers selbst zu dieser Person unterstreicht, wird die Beschreibung des Tagesablaufs abgeschlossen. Auch diese Nachtimpressionen (was davor geschah, bleibt unerwähnt) sind von Unentschlossenheit gekennzeichnet. Nach einem Drink und etwas Sport im Fernsehen (bezeichnenderweise einem Zweikampf, vielleicht Boxen, also einer Auseinandersetzung, die mit Leidenschaft geführt wird – einer Emotion, zu der der Icherzähler überhaupt nicht fähig ist), wendet er sich verschiedenen Tätigkeiten zu, aber immer nur halbherzig: Er liest nicht, sondern schaut nur auf oder in ein Buch; er telefoniert nicht mit einer bestimmten Person, um ihr etwas Bestimmtes zu sagen, sondern greift lediglich zum Telefon; er kocht nicht, sondern macht nur etwas Essbares fertig. In der letzten Zeile des Abschnitts folgt dann die erste von zwei Schlusspointen des Songtextes: Die narrative Perspektive für die anschließende Refrainwiederholung wird umgekehrt, was dem Icherzähler offenbar Angst macht. I could leave you say good-bye or I could love you if I try and I could and left to my own devices I probably would Nun ist es also der oder die Geliebte des Erzählers, für den oder für die die Beziehung offenbar ziemlich beliebig ist und der oder die ebenfalls eine dritte Handlungsoption besitzt. War bislang der Icherzähler »Täter« und sein(e) Geliebte(r) »Opfer« seiner Launen, wird nun das »Opfer« zum »Täter«. Die Austauschbarkeit der Rollen wird dadurch unterstrichen, dass der Refrain wiederholt, durch die hinzugefügte Zeile »Come on, baby, say good-bye« aber geradezu appellativ gewendet wird. Die zweite Schlusspointe bildet ein längerer Erzähltext, in dem zahlreiche Motive aus den strophischen Passagen neu kombiniert werden, laut Neil Tennant eine Traum-Sequenz12: Out of bed at half past ten the party animal phones a friend Picks up news about the sun and the working day has just begun Sticks with the gang at the back of the street Pass the test and he don‹t compete Drive the car, if you‹re with me 12
Vgl. Tomas Mosler [http://www.petshopboys.cz, 03.11.2009].
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Che Guevara‹s drinking tea He reads about a new device and takes to the stage in a secret life (I would if I could) Was im vorderen Textteil der Icherzähler gemacht und empfunden hat, wird nun dem »party animal« und Che Guevara zugeschrieben, was zunächst einmal amüsant und tricky ist (Che Guevara als teetrinkender Schauspieler), aber darüber hinaus auf die Kontingenz von Leben und Lebensentwürfen verweist. Zwar sind die Dinge, wie sie sind, sie könnten aber auch ganz anders sein. Im Traum erscheinen merkwürdige Bilder, die vielleicht sogar vorstell- oder lebbar sind. Die titelgebenden »own devices« bedeuten nicht nur Begrenzung, sondern auch Möglichkeiten. Als Abschluss des Stücks dienen minimal variierte Wiederholungen des Refrains, wodurch sich aber am Gesamteindruck nichts Wesentliches ändert – bis auf ein Detail: Einmal wird aus dem üblichen »I probably would« ein »I possibly would«, aus Wahrscheinlichkeit Möglichkeit, sodass insgesamt der Eindruck entschiedenster Unentschiedenheit entsteht.
Wege zu und durch »Left to My Own Devices« Den Weg zu »Left to My Own Devices« zu finden, war und ist nicht schwierig. Immerhin war das Stück bei seiner Erstveröffentlichung ein Hit der schon damals berühmten Pet Shop Boys. Bis heute ist dieser Song ein mehrfach wiederveröffentlichter und damit kanonisierter Teil ihres Gesamtwerks. Einen Weg durch dieses Stück zu finden, ist dagegen weitaus schwieriger: Einerseits ist es musikalisch zwar wegen der Orchesterpassagen für sein Genre etwas ungewohnt, andererseits dank des treibenden dominierenden Beats aber leicht zugänglich. Einerseits verweigert sich zwar sein Text jeder Suche nach einer klaren »Aussage«, andererseits bietet es dafür aber eine Fülle von Ansatzpunkten, Impressionen, Bildern, die einladen, sich mit diesem Text zu beschäftigen. Das Stück lebt von seinem Grundwiderspruch: Die Musik ist bestimmt, treibt, suggeriert Klarheit – der Text ist unentschieden, bietet an entscheidenden Stellen im Refrain sogar ein schwarzes Loch (»[…] and I could […]«). Der Hörer findet hier keine »Antworten«, sondern einen Spiegel. Wenn er Sinn »finden« will, muss er ihn schon selbst hineinprojizieren. Der Text offeriert viele Einstiege, er erlaubt zudem viele Passagen, sofern man sich auf ihn einlässt. Eine naheliegende Passage ist erstens die Begleitung des Icherzählers durch seinen Tag. Dieser Tag ist zwar nicht gerade ereignisreich, aber dadurch attraktiv, dass es sich um den Tag im Leben eines Menschen handelt, der frei von äußeren Zwängen über sein Leben bestimmen kann. Eine zweite Passage ist die widersprüchliche Persönlichkeit des Ich-Erzählers: Er hat zwar ein vordergründig »freies« Leben, ist aber in seinem Inneren ängstlich, hat Schwierigkeiten, sich für Dinge, Lebenswege, Menschen zu entscheiden – was mit seiner unglücklichen Kindheit verbunden wird.
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Drittens kann sich der Hörer auch von der Figur des Icherzählers lösen und mit Hilfe des Textes durch eigene Befindlichkeiten navigieren. Und wer hat sich als Kind nicht irgendwann einsam und schwach gefühlt, gehadert mit eigener Unsicherheit oder mit der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten? Viertens lässt sich auch aus der offensichtlichen Diskrepanz zwischen Text und Musik eine genussreiche Passage durch das Stück gewinnen. Während im Text Motive dominieren, die Schwäche, Unsicherheit und die Angst vor Entscheidungen thematisieren, operiert die Musik jeweils mit dem Gegenteil – sie zeigt »Stärke« durch die opulente Orchestrierung, »Sicherheit« und »Entschiedenheit« durch den festen, schnellen Rhythmus. Sehr frei interpretiert: Das Zusammenspiel von Text und Musik deutet an, dass schon ein wenig gewonnen ist, wenn man die eigenen Probleme tanzen kann, die Bewegung im Kopf durch die Bewegung des Körpers unterstützt wird. Das sind Interpretationen, zu denen das Stück einlädt und mit Sicherheit haben Hörer (und auch Hörerinnen) neben den hier aufgeführten Passagen noch weitere, ganz eigene gefunden.
Offenheit und Widerspruch als Methode Was bei »Left to My Own Devices« besonders auffällt, ist auch für große Teile des Gesamtwerks der Pet Shop Boys kennzeichnend: erstens sehr offen angelegte Texte, zweitens die bewusste Inszenierung von Widersprüchen zwischen Text und Musik. Schon so oft, dass sich kein einzelner Textverweis lohnt, ist den Pet Shop Boys »Ironie« als Grundansatz ihrer Arbeit unterstellt worden, was Lowe und Tennant nachdrücklich bestreiten.13 Bei näherem Hinsehen erweist sich die Vermutung tatsächlich als falsch. Ironie ist eine Form der uneigentlichen Rede, bei der sich der Redende hinter seinen intentionsverbergenden Äußerungen versteckt, etwa indem er das Gegenteil von dem behauptet, was er wirklich meint. Typisch für die Pet Shop Boys sind dagegen eher lakonische Texte, die in schmuckloser Weise Alltägliches und alltägliche Widersprüche aufgreifen und dazu mit scheinbar nicht »passender«, dramatischer Musik versehen werden. Dieser Ansatz war beispielsweise schon 1986 in dem Stück »Suburbia« (auf dem Album Please veröffentlicht) zu erkennen, einer donnernden Hymne über das langweilige Leben in Vorstädten (und den dort einbetonierten Träumen), auch etwa in allen Albumtiteln, die bei häufiger musikalischer Opulenz immer nur aus einem Wort bestanden (von Please, 1986 zu Yes, 2009, und Elysium, 2012). Besonders deutlich wurde das methodische Vorgehen, wenn ausnahmsweise die Verhältnisse umgekehrt wurden – wie etwa in dem Stück »London« (auf dem Album Release, 2002), also das Alltägliche eher auf musikalischer Seite geschieht und das große Drama im Songtext. Mit nur geringer elektronischer Bearbeitung wird in dieser musikalisch frugalen Gitarrennummer eine äußerst komplexe Geschichte erzählt – die Geschichte zweier Deserteure aus der ehemaligen Sowjetunion, die illegal nach London gekommen 13
Vgl. Heath 1991, S. 115f.
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sind und sich in Ermangelung legaler Möglichkeiten des Gelderwerbs mit Schwarzarbeit oder als Kleinkriminelle durchschlagen müssen. Der zentrale Unterschied dieses lakonischen Ansatzes zu einem ironischen Ansatz besteht darin, dass das in den Songtexten vorgeführte Personal nicht denunziert wird. In Songzeilen wie »I love you, you pay my rent« (»Rent« 1987, aus dem Album Actually) oder in Songtiteln wie »You Only Tell Me You Love Me When You’re Drunk« (1999, aus dem Album Nightlife), geht der Witz nicht auf Kosten der Songcharaktere. Ihr Leiden, ihr Unglück werden immer ernst genommen. Und so können uns die Pet Shop Boys tatsächlich helfen, ein besseres Leben zu führen. Kleine Dramen aus dem alltäglichen kleinen Leben ohne größere sprachliche Ausschmückungen, die gern Gegensätzliches verbinden (wie Liebe und Trauer, privates Erleben und Dramen der »großen« Welt) und vielfältige Zugänge bieten, werden in musikalische Kontexte eingebettet, die für viele Hörer attraktiv sind und zugleich das textlich Verhandelte klanglich mit zusätzlicher Bedeutung aufladen. Die Pet Shop Boys erlauben uns, Selbstbilder, eigenes Erinnern und Erleben in ihre Stücke einzubringen, emotionale und intellektuelle Reflexion. Wer sich darauf einlässt, Left to My Own Devices – Das Remix-CD-Cover, kann Überraschendes erleben: Jedes 1993 einzelne Leben beinhaltet Episoden großer Freude und großer Trauer, die Pet Shop Boys geben beiden einen großen Rahmen und machen beides tanzbar. Um indirekt eine Zeile14 der deutschen Band Blumfeld zu zitieren: sie versehen lakonisch erzählte Geschichten mit einem unerwarteten Sound und eröffnen damit Wege zu einem anderen selbst erarbeiteten Sinn. So entstehen Pop-ups – und das ist doch wirklich ein Schritt zu einem möglichen besseren Leben.
14 Vgl. »So lebe ich« vom Blumfeld-Album Old Nobody (1999). Die zitierte Stelle lautet: »Ein neuer Sound, ein neuer Sinn«.
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Was ist Nazi-Pop? Von den Schwierigkeiten einer klaren Abgrenzung »rechtsextremer Musik«
Nora Kühnert und Eiko Kühnert
»Helfen Sie mir. Ich hatte letzte Nacht einen Traum. Ich hüpfte mit einem Picknickkorb in der Hand über eine Wiese und auf dem Korb stand ›Alternativen‹. Und dann sah ich, dass der Korb ein Loch hatte.«1
Einleitung Zu Beginn soll hier eine Geschichte erzählt werden, die auf wahren Begebenheiten beruht: Versetzen Sie sich in ein Geschehen des Jahres 2009. Stellen Sie sich vor, Sie gehen auf der Suche nach Unterhaltung in einer vertrauten Kleinstadt im Osten Deutschlands eines Abends zum Konzert. Der entsprechende Flyer kündigt zwei Bands an, die ihnen nicht geläufig sind. Die Informationen zu Veranstaltern, Sponsoren und Veranstaltungsort geben auf den ersten Blick keinen Anlass zur Beunruhigung. Eine der beiden Bands heißt Trabireiter. Beim Betreten des Veranstaltungsgeländes fallen Ihnen bereits in den ersten Minuten mehrere Personen auf, die Shirts mit den Aufschriften Thor Steinar, Front Records, Hatecore is more than music, Werwolf und Hammerskin Nation tragen. Sie können das Erscheinungsbild nicht einordnen. Dennoch haben Sie die dunkle Ahnung, dass es sich bei diesen Leuten um Nazis handeln könnte. Darüber hinaus fällt Ihnen ein zweiter Teil des Publikums auf. Hier sehen Sie Shirts von Marken und Bands, die Ihnen vielleicht besser als Mainstream-Brands und -Bands bekannt sind. Zwischen diesen beiden Publikumsteilen bemerken Sie eine angeregte Kommunikation. Im weiteren Verlauf beobachten Sie sowohl Gespräche als auch das gemeinsame Grölen der Texte. Bereits zu Beginn des Konzerts der Trabireiter kommt es zu einer verbalen Konfrontation mit einer Person des dritten, völlig unauffälligen Teils des Publikums, zu dem auch Sie sich halbwegs zählen. Sie treffen in dieser Gruppe einen Bekannten und erfahren von ihm, dass er wie Sie vor dem unmittelbaren Anwesendsein an 1
Sunshine/Allen 1994, S. 145.
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diesem Ort einen anderen Veranstaltungscharakter erwartet hatte und nun ebenfalls teils überrascht, teils irritiert bis besorgt sei. Wieder zu Hause angekommen, ziehen Sie sowohl das Internet als auch diverse Publikationen zu Rate, um etwas mehr über Ihre Beobachtung und die anwesenden Bands in Erfahrung zu bringen. Beim Lesen finden Sie Ihre dunkle Ahnung bestätigt, dass Sie offenbar Nazis auf einem rechtsoffenen Konzert erlebt hatten. Die von Ihnen zu Rate gezogene Literatur ist Teil vieler Veröffentlichungen zu den verschiedensten popkulturellen Erscheinungen im Zusammenhang mit nazistischen Strukturen. Diesbezüglich verdienen sowohl bereits publizierte Informationen und Kommentare zu spezifischen Musikszenen, wie: RechtsRock (Dornbusch/Raabe 2002) oder die Black-Metal-Studie Unheilige Allianzen (Dornbusch/Killguss 2005), als auch darüber hinausgehende allgemeinere Ansätze, wie: Nazis sind Pop (Schröder 2000), Nazi-Chic und Nazi-Trash (Stiglegger 2011) und Das zweite Leben des »Dritten Reichs«. (Post)nazismus und populäre Kultur (Seeßlen 2013) besondere Beachtung. Eine kritische Bestandsaufnahme der Vereinigung von Popkultur und DeutschNationalismus formuliert: I can’t relax in Deutschland (Waltner 2005).
»Eine ›Aussage‹ […] der Pop-Kultur ist temporär; sie wartet darauf von der nächsten abgelöst zu werden.« (Seeßlen, 1999, S.195)
Wer nach der Lektüre dieser Publikationen zur Tat schreiten will, greift sich vielleicht im Publikationsangebot der Bundeszentrale für politische Bildung: Das Buch gegen Nazis (Kulick/Staud 2009) welches sich vor allem an zivilgesellschaftlich Engagierte richtet. Eine radikalere Alternative bietet die Neuauflage der: Tipps und Tricks für Antifas (Redaktionskollektiv 2009). Im Gegensatz dazu bezieht sich das Deutsche
Was ist Nazi-Pop?
Jugendinstitut traditionell auf den Begriff Rechtsextremismus und sucht in der Erforschung der entsprechenden Szene »Antworten der pädagogischen Praxis« in der Publikation: Rechtsextreme Musik (Elverich/Glaser/Schlimbach 2009). Um sich bezüglich reaktionärer und rechter Tendenzen im Pop allgemein etwas zu orientieren scheint es hilfreich, sich mit dem Buch und zugleich der Frage: Wie klingt die neue Mitte? (Büsser 2001) zu beschäftigen.
Wann ist ein Konzert rechts? Wann ist ein Konzert ein Nazi-Konzert? Aktuelle Publikationen der Sozialforschung legen traditionell die Vorstellung einer – wenn auch schwer abgrenzbaren – relativ klar diagnostizierbaren »rechtsextremen Musik« zugrunde. Dabei wird von der Existenz entsprechender Szenen ausgegangen, in denen rechtsextreme Musik und rechtsextreme Konzerte eine große Rolle spielen und welche von Rechtsextremisten oder rechtsextrem werdenden Jugendlichen besucht werden. Durch das Erleben der oben genannten Geschichte in Verbindung mit der zu Rate gezogenen Literatur wurde nun deutlich, dass es eine Liste von einschlägigen Nazibands gibt, mit denen Menschen in Zusammenhang stehen, die sich selbst als solche labeln und dementsprechend, durch zum Beispiel genannte Kleidung, erkennbar sind, weil sie als Nazis erkennbar sein wollen. Ebenso existiert eine bestimmte Szene, in der Nazi-Kleidung und Nazi-Musik populär sind. Innerhalb dieser Szene bewegen sich Menschen, die sich nicht explizit als Nazis labeln, jedoch mit den sich explizit so bezeichnenden Nazis interagieren und die entsprechende Musik aktiv hören. Analog dazu lassen sich auch verschiedene Formen von rechten Konzerten unterscheiden, deren Grenzen fließend sein können. Laut www.oireszene.blogsport.de lassen sich drei Kategorien unterteilen: – Nazikonzerte mit Nazi-Bands, Nazi-Publikum und Nazi-Veranstaltern – Konzerte mit Beteiligung rechter Bands, mit einem Besucherspektrum von »unpolitisch«-rechtsoffen bis hin zu neonazistisch und rechtsoffenen bis rechten Veranstaltern – rechtsoffene Konzerte, auf denen »unpolitische« bis rechte Bands auftreten mit einem Publikum von unpolitisch bis rechts. Die Veranstalter kommen in den meisten Fällen aus der sogenannten Grauzone.2 Die letzte Kategorie beschreibt präzise das Fallbeispiel des erwähnten Konzerts der Band Trabireiter, die ihre selbst proklamierte Abgrenzung von Nazis in der eingangs erzählten Geschichte nicht umsetzte. 2
Oire Szene. [www.oireszene.blogsport.de, 24.10.2009].
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Nora Kühner t und Eiko Kühner t
Die Grenzen von ›Subkultur‹ zu ›Mainstream‹ bzw. ›populärer Kultur‹ sind fließend und werden von Christoph Jacke dementsprechend nur noch als »sub« und »main« bezeichnet3, um positive und negative Konnotationen für »subculture« und »mainstream« zu umgehen. Nazi-Pop und rechtsoffene Konzerte sind keineswegs offiziell geächtetes ›main‹, sondern – solange nicht das Strafrecht verletzt wird – bundesweit in den Kommunen, Landkreisen und Bundesländern übliche Praxis und Teil einer unüberschaubaren und inhomogenen Popkultur.
Wann ist Pop rechts? »Pop ist in seinem Wortsinne als populäre Kultur zu verstehen, die sich nicht auf Musik beschränkt […] und schon gar nicht auf ein Subgenre derselben – auch Punk, Hardcore, HipHop und Techno lassen sich unter den Popbegriff fassen.«4 Nicht nur die Charts sind Pop. Denn auch Hardcore ist durch seine mediale Vermittlung massenhaft verfügbar und somit populär. Christoph Jacke stellt fest: »Popkultur bedeutet demnach den kommerzialisierten, gesellschaftlichen Bereich, der Themen industriell produziert, medial vermittelt und durch zahlenmäßig überwiegende Bevölkerungsgruppen – egal, welcher Schicht oder Klasse zugehörig – mit Vergnügen genutzt und weiterverarbeitet wird.«5 Dies ist ein weiter Begriff von Pop innerhalb dessen es im Fall Nazi-Pop einiger Differenzierungen bedarf. Beispielsweise ist eine Hardcore-Band, die in einem durch eine Hand voll Antifas betriebenen Keller in einem Dorf in Sachsen auftritt, auf eine andere Weise populär als Agnostic Front. Die zu Rate gezogene Literatur verrät, dass es Popsongs gibt, bei denen ebenso rechte und regressive Tendenzen und Motive auftreten können. »Für lange Zeit unvereinbar, haben Popkultur und Deutsch-Nationalismus zueinander gefunden. Sei es das als Tabubruch inszenierte sexy Liebeslied an das neue Deutschland, als schwärmerisches ›German Liedgut‹, als quotengestütztes Bekenntnis zum Standort D oder als vermeintliche Verpflichtung gegenüber Traditionen heimischer Kultur […].«6 Herausragende Beispiele hierfür sind die Mainstream-Popsongs »Was es ist« von MIA., »Wir sind wir« von Peter Heppner und »54, 74, 90, 2006« von Sportfreunde Stiller. Einige Popkünstlerinnen und -künstler beschwören die Nation per Quotenregelung als Bollwerk gegen andere kulturelle Einflüsse. »Sie finden sich dann in Initiativen wie ›Musiker in eigener Sache‹ ein, um etwa eine quotengeregelte Sprachund Kulturpflege per Gesetz einzufordern.«7 3
Jacke 2004, S. 22f.
4
Waltner 2005, S.50.
5
Jacke 2004, S.20.
6
Waltner 2005. S.5.
7
Ebd., S. 10.
Was ist Nazi-Pop?
Was ist Nazi-Pop? »Nazis sind Pop. Rechts sein bedeutet nicht mehr, einem Milieu zuzugehören, das sich durch subkulturelle Zeichen vom Mainstream abgrenzt. Nazi-Pop kann heißen: Techno-Frisur, Skinhead-Musik, im Urlaub Ballermann, PDS wählen, mit den Juden hatten wir schon immer ein Problem. Oder: Facon-, wahlweise Vokuhila-Frisur, Böhse Onkelz, Abenteuerurlaub auf Rügen, Opel Manta, wählen gehen ist Scheiße. Oder: Glatze, Nazi-Troubadix Rennicke, Esoterik-Urlaub in Stonehenge, Bolko Hoffmann und die deutsche Mark. Oder: Matte samt Pferdeschwanz, Death Metal, Kirchen anzünden in Norwegen, Hitler war Satan und ultraböse, und das ist hip.«8
Landser-Textzeile und szeneübergreifende Parole »All Cops Are Bastards«
Im Jahr 2008 erschien die CD Elyson der Band Orlog auf dem Label Det Germanske Folket. Einerseits wurde ihre Musik mit Begeisterung rezensiert: »Das ist richtig schön derber Black Metal, bei welchem definitiv keine Gefangenen gemacht werden. Hier wird alles nieder gestreckt, was sich einem in den Weg stellt.«9 Andererseits bieten die Bezüge zu NS-Ästhetik und Neonazismus Möglichkeiten der Identifikation als Nazi-Elite und zugleich als Außenseiter. Grundvoraussetzungen für die darauf aufbauende Identität sind die eigene Zugehörigkeit und der Ausschluss derer, die nicht dazu gehören. Insofern sind Nazi-Pop und rechtsoffene Konzerte nicht zu reduzieren auf proletarische Subgenres rebellierender Underdogs, so plausibel das auch vielen erscheinen mag. Die schnell gezückte, scheinbar naheliegende Erklärung, dass hier 8
Schröder 1999, S. 17.
9
Klein 2009.
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frustrierte, sozial abgehängte Jugendliche ihre Perspektivlosigkeit aggressiv ausleben greift zu kurz. Außerdem wird dabei oft der substanzielle Zusammenhang zwischen NS-Ideologie und Subgenre vernachlässigt. In einschlägigen Internetportalen sind weiterführende Kontexte dieser Subgenres detailreich erläutert, wie das Beispiel Orlog verdeutlicht: »Im Schriftzug der Band Orlog findet sich eine abgewandelte Form der ›Tyr-‹ bzw. ›Pfeil-Rune‹. Die Tyr-Rune wurde bereits im Ersten Weltkrieg von diversen Jugendbünden, aber auch im Nationalsozialismus vielfach verwendet (zum Beispiel HitlerJugend, SA). Auch heute noch findet man das Symbol bei diversen rechtsextremen und neonazistischen Gruppierungen. Die Band zeigt sich generell fasziniert von der Ästhetik der Nationalsozialisten. Schon das Cover ihres ersten Tonträgers ›Erfüllung‹ zeigt neben den genannten Runen die ›Fahnenträger‹-Statue des Bildhauers Josef Thorak.«10 Darüber hinaus: Mag eine Band wie Orlog auch aus einer ländlichen Region Ostdeutschlands stammen, so schließt dieses Interesse an Tonträgern und Konzerten in urbanen Räumen der alten Bundesländer nicht aus. So wurde Orlog zum Beispiel zum »Ketzerfest 2009« in Essen eingeladen. Für popkulturelle Inhalte gibt es keine physisch räumlichen Begrenzungen, und somit lässt sich Nazi-Pop nicht klar in ländlichen Regionen der neuen Bundesländer verorten. Dies schließt nicht aus, dass es verschiedene rechte Strukturen in einschlägigen Regionen gibt, in denen in besonderem Maße rechte Inhalte und Gewalt zirkulieren. Was Nazi-Pop ist, ist also rein begrifflich gar nicht so leicht abzugrenzen. Mit Blick auf das Zitat des Journalisten und Schriftstellers Burkhard Schröder ist Nazi-Pop also nicht nur dann zu diagnostizieren, wenn einschlägig bekannte Nazi-Interpreten (zum Beispiel Lunikoff) einschlägig bekannte Nazi-Parolen trompeten, einschlägig bekannte Nazi-Klamotten tragen, einschlägig bekannte Nazi-Symbole zeigen und den rauschenden Beifall eines einschlägig bekannten Nazi-Publikums ernten, das aus einer einschlägig bekannten Nazi-Szene kommt. Wenn Nazis Pop sind und wenn soviel Pop auch für den Nazi attraktiv ist, wann genau endet dann Nazi-Pop? Nazi-Pop ist auch dann zu diagnostizieren, wenn beispielsweise eine nicht unmittelbar zur Nazi-Szene gehörende Band sich zwar verbal von Nazis distanziert, diese aber nach wie vor bei rechtsoffenen Konzerten als einen Teil des Publikums massiv anzieht und nicht in der Lage ist Grenzen zu setzen (zum Beispiel die Band Trabireiter aus unserer Geschichte). Nazi-Pop zu identifizieren ist also nicht ganz einfach. Das Ausmaß der Differenzierungen innerhalb der Popkultur spiegelt sich im Nazi-Pop lediglich wider. »Auch das gehört zu Pop: Dass er für jeden nach seinen Bedürfnissen funktioniert, weil alle darin finden was sie suchen.«11 Es ist kaum möglich signifikante Merkmale und spezifische Werte eines klar abgrenzbaren Nazi-Pop zu nennen. 10
Fight fascism, 2007. [www.fightfascism.wordpress.com, 21.02.2010].
11
Piegsa 2010, S.18.
Was ist Nazi-Pop?
Was ist an Nazi-Pop eigentlich dumm? »Dummheit kann man nicht verbieten Doch man kann was dagegen tun Gegen Dummheit hilft nur Bildung Gegen Verbote sind die Dummen oft immun […] Erst ließen sie die alten rechten Keime wieder sprießen Und jetzt wollen sie die Geister verbieten die sie riefen.« Dritte Wahl 12 Die Rostocker Punkband Dritte Wahl stellt im Text ihres Songs »Dummheit kann man nicht verbieten« den Sinn von Verboten im Umgang mit Nazis vor dem Hintergrund bestehender Dummheit in Frage. Es ist keine Seltenheit, dass – wie in diesem Text – Nazis Dummheit zugeschrieben wird. Über Nazis hinaus ist diese Zuschreibung generell ein Instrument der verbalen Enthumanisierung. Ist das bei Nazis falsch? Auf jeden Fall bietet Dritte Wahl als Lösung des (Nazi-)Dummheitsproblems pauschal die Option Bildung an. Bildung im Sinne der »Nation« kann jedoch ein »mal wieder stolz sein« und damit das »Nazi sein« als »gebildeter Nazi« befördern. In der Medienberichterstattung – vor allem seit den Kampagnenhochs zum Thema Nazis in Deutschland im Jahr 2000 und 2011 – ist tendenziell zu beobachten, dass Nazis in einigen Beiträgen eher als intelligent eingeschätzt werden. »Sie geben sich gebildet und pochen auf Meinungsfreiheit, ihr Ziel ist die kulturelle Vorherrschaft in Deutschland«13, so heißt es dann bei Spiegel Online. Gern wird beispielsweise auf die Fertigkeit der Nazis verwiesen, sich in den Bereichen Politik und Kultur strategisch irgendwie geschickt zu verhalten. In Veranstaltungen mit dem Schauspieler und Schriftsteller Serdar Somuncu konnten Gäste seiner Lesetour zu Adolf Hitlers Buch Mein Kampf erleben, dass er dies nicht gelten lässt. Wer menschenfeindlich eingestellt ist und handelt, ob rassistisch, xenophob, antisemitisch, homophob oder sexistisch – mit Intelligenz hat das seiner Einschätzung nach generell nichts zu tun. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang Bezüge zu einer Dominanz von Männlichkeit, wie dies auch in einer Klageerwiderung der taz in Auseinandersetzung mit den Böhsen Onkelz 2001 nachzulesen ist: »Klaus Theweleit hat in seinem Werk ›Männerphantasien‹ das besondere Verhältnis des Faschismus zur Männlichkeit beschrieben. Rechtsradikalismus ist nicht nur gekennzeichnet durch Kriegs-, Überlegenheits- und Allmachtsphantasien seiner Anhänger, sondern auch durch ein autoritäres Menschenbild, das von unterschiedlichen Wertigkeiten verschiedener Menschen ausgeht. So ist kennzeichnend für fa12
Dritte Wahl: »Dummheit kann man nicht verbieten« vom Album Halt mich fest, 2001.
13
Buttlar 2003.
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schistische Bewegungen, daß die Männlichkeit eine besondere Bedeutung gewinnt, ein reaktionäres Geschlechterbild herrscht und eine Zivilgesellschaft, die nicht vom Kampf geprägt ist, durch eine Kriegsgesellschaft ersetzt werden soll. Genau in dieser Welt, in diesen Bildern leben die Böhsen Onkelz mit ihrem ständigen ›Kampf‹ mit allen möglichen ›Gegnern‹, mit ihrer paranoiden Vorstellung, von Bösewichtern umzingelt zu sein, ihrem Gerede vom ›Haß‹ usw. Das ist ›rechtsradikal‹, jedenfalls darf man das so nennen, auch wenn das das Geschäft der Kläger (Böhse Onkelz) beeinträchtigen könnte.«14 So hatten sich die Böhsen Onkelz von allen und allem distanziert, pflegten dabei höchst pathetisch den Außenseiterstatus und waren bis zum Ende eine Band mit starken Öffnungsklauseln zum rechten Rand hin; akzeptabel aber auch für Mainstream und linksintellektuelle Lesarten. Die Beispiele von den Böhsen Onkelz über Orlog bis zur eindeutig neonazistischen Band Lunikoff Verschwörung zeigen die Anschlussfähigkeit rechter Inhalte für den Mainstream. Auch vermeintlich unbedenkliche Beispiele aus der Popkultur (MIA., Heppner, Sportfreunde Stiller) verdeutlichen, dass auch hier bedenkliche Motive und Inhalte transportiert werden. Somit erfordern Burkhard Schröders zu Beginn dieses Abschnitts zitierte Formulierungen auch heute kaum Modifizierungen.
Wirken Verbote in der Popkultur? Ja, allerdings nicht ausschließlich so wie erwünscht. Verbote sind nach Ron Kritzfeld »seit dem Paradies die wirksamste Form der Werbung«15. Verbote fördern: – im Fall der drohenden Indizierung und des Verbots der Verbreitung von Medienprodukten die Attraktivität des Verbotenen. Diese Produkte sind nach Ambrose Bierce »[…] mit einem neuen, unwiderstehlichen Zauber behaftet […]«16. Dies drückt sich auch über eine Beschleunigung des Verkaufs aus. »Nicht, dass die Rechten es wirklich nötig hätten, ihre Informationen über den Spiegel oder pädagogische Reader wie ›Rock von Rechts‹ zu beziehen – der informierte und organisierte Fan lacht über solche Recherchen nur, getreu dem Werbeslogan ›Kaufen, bevor die Zensur zuschlägt‹.«17 – im Fall der erfolgten Indizierung und des Verbots der Verbreitung von Medienprodukten das Ausweichen auf alternative Techniken. »Die Musik, die aufgrund der sorgfältigen Überprüfung durch die Bundesprüfstelle sehr leicht der Indizierung
14
Der taz-Anwalt Johannes Eisenberg zit. nach N. N. 2001.
15
Tange 1997, S. 538.
16
Ambrose Bierce zit. nach Tange 1997, S. 538.
17
Büsser 2001, S. 6.
Was ist Nazi-Pop?
und damit dem Verbot der Verbreitung unterliegt, wird unter Nutzung modernster Techniken über das kaum kontrollierbare Internet verbreitet […]«.18 – im Fall der erfolgten Indizierung einer Band und möglicher weiterer Intervention und Repression die Gründung von Parallelprojekten oder Nachfolgebands. Diesbezüglich ist es interessant, den Blick auf das Fallbeispiel der Oi-Band Trabireiter zu lenken. Sie ging 1994 aus der 1988 in Erfurt gegründeten und 1997 aufgelösten Naziband Brutale Haie hervor. »Die Band Brutale Haie war die erste RechtsrockBand auf dem Boden der DDR.«19 Ihr Demo-Tape Kapelle Oi wurde 1993 indiziert, ebenso die LP/CD Doitschtum. Letztere wurde auch beschlagnahmt und eingezogen und war damit generell, nicht nur für Jugendliche, verboten.20 Die Trabireiter führten hinsichtlich der Konzert- und Veröffentlichungspraxis ab 1994 ein Doppelleben: »1997 trat die Band bei Konzerten unter anderem mit Volksverhetzer auf. Sie veröffentlichten jeweils 1995 und 1996 eine CD bei DIM Records sowie 1998 eine CD bei Walzwerk.«21 Und auch nach der Jahrtausendwende spielte die Band noch mit zwiespältigen Bands.22 Obwohl die Trabireiter wiederholt betonen »Wir spielen nicht vor Nazis und/oder stumpfsinnigen Schlägern!!! Wir treten auch nicht mit rechten Bands zusammen auf!!!«23 befand sich die Band immer wieder in rechtsoffenen Kontexten. Einmal gerufene Geister sind nicht einfach abzuschütteln. Ein Beweis dafür waren die gewalttätigen Auseinandersetzungen während eines Konzerts der Trabireiter am 02.02.2008 in Niesky. »Zunächst dachten alle das wären halt wirklich Assis, aber nach und nach entpuppten sich diese Leute als rechte Schläger.«24 Am 7. August 2011 gab die Band Trabireiter ihre Auflösung bekannt.
Warum hat die Popkultur Abgrenzungsschwierigkeiten gegen Nazi-Pop? Bereits 1978 beschrieb Paul Willis politisches Versagen am Beispiel der »Motorrad Jungs«. »Ihr Rassismus zum Beispiel war ziemlich ausgeprägt, und der konkrete, sichere Lebensstil, dem er entsprang, gründete sich auf einen eingebürgerten Ausschluss der Politik und der umfassenderen Vorstellungen ganzer Klassen, die unter
18
Baacke/Farin/Laufer 1999, S. 8.
19
Dornbusch/Raabe 2006, S. 11.
20
Vgl. Baacke/Farin/Laufer 1999, S. 220.
21
Dornbusch/Raabe 2002, S. 454.
22
Oire Szene, 2009. [www.oireszene.blogsport.de, 24.10.2009].
23
Infoladen Ludwigsburg, 2008. [www.infoladenludwigsburg.de, 25.10.2009].
24
Ebd.
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ähnlichen materiellen Bedingungen wie die Motorradkultur lebten und von dieser Basis aus handelten.«25 Unter Bezug auf Hunter S. Thompson verweist Marcus Stiglegger 2011 in seiner Betrachtung von Nazi-Chic und Nazi-Trash auf »[…] einen Mechanismus der bewussten Abgrenzung der gesellschaftlich entwurzelten Kriegsheimkehrer nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich in den USA männerbündisch formierten, mit ihren Motorrädern durch das Land fuhren und sich mit den Kriegstrophäen aus NaziDeutschland schmückten – als Zeichen der Revolte und Distinktion.«26 Diese Praxis markiert an einem frühen Punkt das Einfließen von Nazi-Chic in eine entstehende popkulturelle Strömung. In der Folge wird Nazi-Chic zu einem festen Bestandteil der Popkultur. »Die Hells Angels pflegten den Nazi-Chic bereits in den 1950er Jahren, nach ihnen die Surfer, später die Glamrocker […], die Punkrocker, die Gothics, und immer wieder: das Kino.«27 In diesen verschiedenen Kontexten wurde es zunehmend schwierig, modische von ideologischen Motivationen zu unterscheiden. So stellt Marcus Stiglegger fest: »Dieser Unterschied wird allerdings in der deutschen Presse meist nicht wahrgenommen: Hier wird das Bild als Indiz für den Inhalt genommen.«28 In jedem Fall verspricht Nazi-Chic – egal ob modisch oder ideologisch motiviert – klingelnde Kassen. Das wissen auch die Bands K.I.Z. und Kraftklub, die in der Sendung Durch die Nacht am 31.05.2012 darüber munter plaudern: »Lasst uns doch ne rechtsextreme Supergroup gründen.« »Overtake. Wir denken uns so rechtsextreme Hintergründe aus, die wir früher hatten, die wir jetzt abgelegt haben.« »Hat nichts mit Kraftklub zu tun.« »Ist jetzt wirklich ein anderes Nebenprojekt.« »Ja genau. Wir sind jetzt wirklich Nazis.« »Das hat jetzt nichts mehr mit dieser unpolitischen Popmusik zu tun.« »Genau, ich mein’, man macht damit Geld, weißt du? Dann ist das okay.« »Eben eben. Wenn man so was einfach nur so … Wenn man Geld macht, ist das völlig okay.«29 Hemdsärmlige »Ironie« dieser Art erschweren Abgrenzungen der Popkultur gegen Nazi-Pop. Das zeigte sich auch in der Diskussion um die Nominierung der Band Frei. Wild für die Verleihung des Echo 2013. Eine der wenigen klaren Positionierungen waren von Turbostaat wahrzunehmen: »Das ist nicht edgy, nicht witzig, nicht geil, es ist einfach kacke. Keine Geschäfte mit rechten Meinungen. Selbst wenn das jetzt 25
Willis 1981, S. 222.
26
Stiglegger 2011, S. 71.
27
Ebd., S. 7.
28
Ebd., S. 59.
29
Sendung vom 31.05.2012 im Rahmen der ARTE-Reihe: Durch die Nacht.
Was ist Nazi-Pop?
total unbohème klingen mag.«30 Es gibt gesamtgesellschaftliche Defizite bezüglich einer Sensibilität und einer konsequenten Grenzsetzung nicht nur gegenüber Nazi-Präsenz und -Dominanz (siehe Nazi-Publikum beim Konzert der Trabireiter), sondern auch gegenüber Haltungen »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«.31 Das ist ein ernsthaftes Problem, machen doch diese Inkonsequenzen Abgrenzungen gegen Nazi-Pop schwierig bis unmöglich, beispielsweise bei den Oi-Skins: »Ihre Einstellung und ihr Auftreten sind nicht deshalb verwerflich, weil sie sich gegen neoliberale Smartheit und Überheblichkeit aussprechen, sondern weil ihr Anspruch auf einen proletarischen Lebensstil selbst bei Nicht-Naziskins (Seeßlen nennt sie Noch-Nicht-Naziskins) all die Feindbilder mit übernommen hat, die wir schon von den Nazis her kennen, den Hass auf Glamour, Weltgewandtheit, Gender-Crossing, Ironie, Intellektualität, Scharfsinn und urbane Freude an der Vielfalt sich widersprechender Eindrücke, also Flüchtigkeiten, die den Wunsch nach Identität als vergessenes Einmachglas in der Vorratskammer zurücklassen.«32 Der Raumaneignung durch Nazi-Pop kann auf realpolitischer Ebene lediglich symbolisch begegnet werden, was allerdings in vielen Fällen nicht geschieht, da die entsprechende Handhabe und rechtliche Legitimation sowie die Bereitschaft der Beteiligten fehlt. Durch eine einzelne Szene können Nazis und deren Feindbilder kaum erfolgreich abgewehrt werden. Auch die Abwehr des Versuchs den Begriff Hardcore gegen Nazis zu verteidigen, gleicht einem Kampf gegen Windmühlenflügel. »Viele von Euch werden es mitbekommen haben: Nazis geben sich neuerdings gerne cool und modern. Immer öfter kommt es vor, dass Neonazis sich auf Hardcore-Shows breit machen wollen. Zudem starten sie eigene Bands und Label, die MöchtegernHardcore mit rassistischen Texten produzieren. […] Unsere Ideen von DIY, Freiheit und Selbstbestimmung sind das exakte Gegenteil von dem, wofür die Nazis stehen. Wenn diese Idioten jetzt versuchen unseren Sound und Klamottenstyle zu klauen, ändert das nichts daran. Hardcore gehört uns, Rechtsextreme haben dort nichts verloren.«33 So notwendig ein bewusster Ausschluss von Nazis auch ist, wenn nur innerhalb der gemütlichen, gemeinsamen Szene gedacht und gehandelt wird, reicht die Nazis raus!-Strategie nur bis zur Grenze des eigenen Subgenres. »Aber wieviel Erfolg versprechen hochgesteckte emanzipatorische Bestrebungen, wenn z. B. Hardcore (HC) wie jeder andere Teil der Popkultur als Ware entsteht und mit rebellischer Attitüde zum besseren Aushalten der Gesellschaft geeignet ist, ganz egal, ob dies »die betreffenden KünstlerInnen im Sinn hatten oder eher nicht. 30 Turbostaat über Frei.Wild vom 02.04.2013, in: intro. [http://www.intro.de/news/newsfeatures/ 23071358/turbostaat-ber-frei-wild--keine-gesch-fte-mit-rechten-meinungen, 11.4.2013] 31
Vgl. Heitmeyer 2002–2012.
32
Büsser 2001, S. 81.
33
Kein Bock auf Nazis. [www.keinbockaufnazis.de, 25.10.2009].
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Nora Kühner t und Eiko Kühner t
[…] Dass HC, HipHop, Punkrock, Garage und wie sie alle heißen wegen ihres Subkulturverständnisses denknotwendig keinen Nationalismus, Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus hervorbringen können ist nicht nur empirisch widerlegt, sondern auch sonst Blödsinn.«34
Was ist Umcodierung? »You see, we like our Nazis in uniforms. That way, you can spot ’em just like that. […] But you take off that uniform, ain’t nobody gonna know you was a Nazi. And that don’t sit well with us.« 35
Zitat aus dem Song »Antifa« der Naziband Sleipnir in szeneübergreifendem Diskurs (2008)
Der Regisseur Quentin Tarantino lässt hier seine Inglourious Basterds aussprechen, was in der Realität häufig das Problem ist. Viele wünschen sich eindeutig erkennbare Nazis und sind durch die Praxis des Umcodierens und der Instrumentalisierung äußerer Erscheinungsformen durch Nazis irritiert. Umcodierung ist nicht nur im Bereich der Jugendkulturen eine gängige und beliebte Praxis, mit der verschiedenste Ziele verfolgt werden. Die Praxis der Nazis, politisch symbolträchtige Elemente zu ihren Zwecken umzucodieren, ist so alt wie der Nationalsozialismus. Adolf Hitler schrieb bei der Gestaltung der Hakenkreuz34
Waltner 2005, S. 50.
35
Tarantino 2009, S. 37
Was ist Nazi-Pop?
fahne den gewählten Elementen verschiedene Bedeutungen zu und bestimmte beispielsweise die Farbe Rot nicht nur, um die Kommunisten zu provozieren. »Als Symbol der neuen Bewegung war im Hochsommer 1920 die von Hitler entworfene Hakenkreuzfahne vor die Öffentlichkeit gekommen. ›Als nationale Sozialisten sehen wir in unserer Flagge unser Programm. Im Rot sehen wir den sozialen Gedanken der Bewegung, im Weiß den nationalistischen, im Hakenkreuz die Mission des Kampfes für den Sieg des arischen Menschen und zugleich mit ihm auch den Sieg des Gedankens der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch war und sein wird.‹«36 Auch heute schmücken sich Nazis mit Versatzstücken verschiedener kultureller und politischer Herkunft aus Historie und Gegenwart. Sie tragen Che Guevara-Shirts und Palästinensertücher, nutzen Parolen von Ton Steine Scherben und Liedtexte der Band Die Ärzte. Die Kampagne Good Night White Pride wird umcodiert in Good Night Left Side, und das Logo mit der schwarzen und roten Fahne trägt nicht mehr den Schriftzug Antifaschistische Aktion sondern Nationale Sozialisten. Selbstverständlich wird auch – wie bereits erwähnt – im Bereich des ursprünglichen US-Hardcore gewildert und in dessen wichtigsten Slogan einfach das Wort Hardcore durch Hatecore ersetzt, sodass es nun heißt Hatecore is more than music. Darüber hinaus darf nicht überraschen, dass – wenn auch erfolglos – versucht wurde, den Begriff Hardcore zur Vermarktung durch Nazis rechtlich zu sichern. »Ihr lest richtig! Gemeinsam haben wir es geschafft: Unser Anwalt hat uns soeben mitgeteilt, dass das Markenamt gegen den Neonazi Timo Schubert entschieden hat. Die von ihm für Kleidung angemeldete Wortmarke ›Hardcore‹ wurde aufgrund unseres Antrags am 28.12. offiziell gelöscht.«37
Sind die Einschätzungen der Fachleute der Hochschulen und Polizei hilfreich? »Was ein Sozialwissenschaftler unter Rassismus versteht, muss nicht zwangsläufig mit dem übereinstimmen, was ein Historiker oder ein Politiker darunter versteht.«38 Diese Aussage des Erziehungswissenschaftlers Steffen Schönfelder trifft nicht nur auf den Begriff Rassismus zu und auch nicht nur auf die genannten Berufsgruppen. Versetzen Sie sich noch einmal in die Ausgangsposition und damit in den Besuch des Konzerts der Trabireiter. In der Zwischenzeit haben Sie Informationen über Ihr Erlebnis eingeholt und unterrichten in einem Schreiben mit Mehrfachverteilung die Verantwortungsträger der betreffenden Kommune sowie die zuständige Polizeidirektion. Sie gehen nicht 36
Zentner 1974, S. 196.
37
Kein Bock auf Nazis. [www.keinbockaufnazis.de, 20.02.2010].
38
Schönfelder 2009, S. 28.
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davon aus, strafrechtlich relevante Vorgänge beobachtet zu haben, befinden sich aber im guten Glauben, dass die Schilderung des Erlebten für die Adressaten hilfreich ist. Zu Ihrer Überraschung lesen Sie im Antwortschreiben einer Polizeidirektion Einschätzungen, die Sie selbst nicht hilfreich finden, sondern Sie empören. Sie müssen lesen, dass Ihre angegebenen Publikationsquellen als nicht objektiv eingeschätzt werden, sondern »Gegnern des jeweiligen musikalischen Genres«39 zugeschrieben werden. Die nachweisliche Aktivität von Mitgliedern der Nazi-Szene wird als »Sinnsuche« bezeichnet und Ihre differenzierten Beobachtungen werden als »Vorbehalte« eingestuft. Abschließend wird bezüglich Ihrer Forderung nach einem konsequenten Handeln der Organisatoren eingeschätzt, dass »dem Veranstalter keine Vorhalte zu machen« sind. Nachdem Sie sich von diesem Schreiben erholt haben, beschweren Sie sich über dessen Inhalt schriftlich bei einer übergeordneten Polizeidienststelle. Ihnen wird versichert, das Antwortschreiben hätte so nicht verschickt werden dürfen und Sie werden zu einem klärenden Gespräch in eine Polizeidirektion eingeladen. Das Gespräch nimmt einen guten Verlauf. Auch die wertvollen Einschätzungen einer Hochschule zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit werden gewürdigt, aber als nicht sonderlich hilfreich im Sinne einer pragmatischen Umsetzung eingeschätzt. »Da einzelne Einstellungen und Verhaltensweisen fast nie isoliert auftreten, sondern fast ausschließlich in einem Komplex, ist es oft sehr schwierig von einem reinen Rassismus oder Antisemitismus zu reden. Die Konstrukte sind demnach miteinander verbunden und treten in einem, wie u. a. Heitmeyer es nennt, Syndrom auf. Dieses Zusammenwirken ist auch der Grund, weshalb ein einzelnes Phänomen kaum adäquat erfassbar ist. Daraus resultiert das teils diffuse Verständnis verschiedener gesellschaftlicher Akteure. […] Dadurch ergibt sich nicht nur eine Fülle von verschiedenen Begriffen, sondern auch eine ganze Reihe unterschiedlicher Verständnisse ein und desselben Begriffs. Dies macht sowohl die Kommunikation untereinander schwierig, als auch eine effektive Bekämpfung der betrachteten Einstellungen und Verhaltensweisen. Während noch darüber gestritten wird, welches Phänomen denn nun bekämpft wird oder bekämpft werden sollte, schaffen es die Akteure der Gegenseite, sich in der Gesellschaft zu etablieren und ihre Ideologien im Alltag zu verankern. Die Pluralisierung der Konzepte und Ansätze hat demnach nicht nur Vorteile, sondern auch den schwerwiegenden Nachteil, dass das gesellschaftliche Engagement dadurch ausgebremst und ein angemessenes Handeln fast unmöglich gemacht werden kann.«40 Deshalb fühlen Sie sich nach dem genannten Gespräch zwar halbwegs rehabilitiert, sind aber doch resigniert. 39 Die nachfolgenden kursivierten Zitate stammen aus der vorliegenden privaten Korrespondenz mit einer Polizeidirektion. 40
Schönfelder 2009, S. 28.
Was ist Nazi-Pop?
Was geschieht bei Provokation und Gesetzesbruch? »You still think swastikas look cool The real Nazis run your schools They’re coaches, businessmen and cops In the real fourth reich you’ ll be the first to go Nazi punks – Nazi punks – Nazi punks – Fuck Off!« Dead Kennedys41 Eine solche Aussage ist in der Popkultur hinsichtlich der gesellschaftlichen Situationsanalyse und der konsequenten Abwehr von Nazi-Pop eher selten. Noch heute gehört eine Coverversion dieses Titels zum Live-Programm der Band Napalm Death, die sich zwischen Grindcore und Death Metal bewegt. Dass es nicht nur fließende Grenzen zwischen einzelnen Subgenres der Popkultur gibt, sondern es auch vielfältige Ausprägungen von Nazi-Bezugsmustern gibt, beschreiben Christian Dornbusch und Jan Raabe am Beispiel eines Logos im Jenaer Fanzine Nobody’s Hero. »Als Logo für das seit 2000 erscheinende Heft fungiert der sogenannte Sunwheel-Punk: Ein Punk mit aufgestellten Haaren im Seitenprofil, dessen Kopf zu Zweidrittel aus dem Symbol der Schwarzen Sonne besteht. Dieses Zeichen entstammt der Wewelsburg bei Paderborn, die vom ehemaligen Reichsführer SS Heinrich Himmler als zukünftig geistig-politisches Zentrum für seine SS auserkoren war. […] Das Logo des Sunwheel-Punk wurde im Heft im Übrigen noch mit dem Slogan ›88 % Punk Rock‹ versehen.«42
Produkt der Nazi-Pop Marke Thor Steinar
41
Dead Kennedys: »Nazipunks Fuck off« von der EP In God we trust Inc., 1981.
42
Dornbusch/Raabe 2006, S. 62.
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Für dieses Beispiel gilt: Das Symbol der Schwarzen Sonne und die als Codierung der Nazi-Parole »Heil Hitler« genutzte Zahlenkombination 88 fallen nicht unter Tatbestände im Sinne der §§ 86, 86a StGB. Die Nazi-Parole »Heil Hitler« ist als »Grußform in Worten, aber auch mit ausgestrecktem Arm ohne Worte (Urteil OLG Celle, NJW 70, 2257)«43 ein Verstoß gemäß § 86a StGB. Bei Provokationen im Umfeld von Oi-Punk Konzerten durch das Tragen zweifelhafter Shirts (zum Beispiel Konzert der Trabireiter) werden auf der Ebene der Organisatorinnen und Organisatoren teilweise keine Grenzen gesetzt. »Hitlergrüße sowie NS-Symbolik sind eher verpönt, werden jedoch geduldet.«44 Definitiv strafbare Inhalte werden seitens der Teilnehmenden in der Regel vermieden. Auf der Ebene der Polizei sind (angezeigte) Gesetzesbrüche, d. h. konkrete Straftaten, Anlass zum Handeln. Die Polizei prüft unter diesem Gesichtspunkt »die polizeiliche Relevanz«. Wird bei Hinweisen auf eine Band und deren Tonträger festgestellt, dass »kein Titel der Band […] indiziert« ist, kann diese aus Polizeiperspektive als unbedenklich gelten. In Informationsmaterialien verschiedener Institutionen sind Hinweise auf Ordnungs- und Strafrecht enthalten. Die Polizei »möchte im Rahmen der politischen Aufklärung auf dem Gebiet des Rechtsextremismus einen aktuellen Überblick vermitteln, welche Kennzeichen, Symbole oder Verhaltensweisen […] unter die Tatbestände im Sinne der §§ 86, 86a, 130 (Volksverhetzung) und 131 (Gewaltdarstellung) StGB fallen.«45 In einfacher Weiterführung dieser Gesetzeslage wird dann auch gesamtgesellschaftlich bezüglich der Erscheinungen des Nazi-Pop allzu schnell festgestellt: Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Was erlaubt ist, bedarf kaum einer Hinterfragung, Kritik und Grenzsetzung. Wer Fragen stellt, Kritik übt und strengere Grenzen setzt, gilt in der jeweiligen Szene schnell als nicht zugehöriger und daher unkundiger Moralapostel. In diesen Fällen ist es der Normalfall, dass es der kritisierten Szene mit dem Reflex der Abwehr nicht schnell genug gehen kann. Voraussetzung dafür ist eine der Grundkonstruktionen der Popkultur, die im Nazi-Pop zur Falle wird: »Eine Aussage innerhalb der Pop-Kultur ist zugleich regressiv-fundamental (sie erscheint ›eindeutig‹) und polyvalent (sie ist beliebig lesbar).«46 Auf diese Weise haben sich Nazi-Pop und rechtsoffene Konzerte einen stabilen Platz in der Popkultur gesichert. Gibt es diesbezüglich Hilfe und Alternativen? Einen Diskussionsabend? Eine Demonstration? Widerspruch? Eine Veranstaltung? Den Griff zum Telefon? Das Fazit sollte sein, dass sich zuerst mit gesellschaftlicher Realität und dem Stellenwert der Popkultur innerhalb der Gesellschaft kritisch auseinandergesetzt werden muss. Sicherlich ist es wichtig in Bund, Land und Kommune bei 43
LKA Sachsen 2010.
44
Oire Szene. [www.oireszene.blogsport.de, 24.10.2009]
45
LKA Sachsen 2010.
46
Seeßlen 1999, S. 195.
Was ist Nazi-Pop?
einem Nazikonzert zu versuchen, die Nazis vom Platz zu bekommen, weil es wichtig ist, ihnen den Raum zu nehmen. Sicherlich ist es gut, das Handbuch für Antifas zu lesen und eine Demo zu organisieren. Aber dabei darf es nicht bleiben. Zu fragen wäre: Warum will ich die nicht auf dem Platz? Was sind die Motive, die ich ablehne: in der Musik, im Habitus, in der Symbolik? Warum lehne ich etwas ab? All diese Praktiken verbleiben oft dabei, gruppenbezogene menschenfeindliche Tendenzen aus einer bestimmten Richtung -nämlich rechts – wahrzunehmen und sofort aktiv werden zu können, weil das ja nichts mit »mir« zu tun hat, weil der reine Aktivismus eben nicht deutsche Zustände und ihre Ursachen in den Blick nimmt, sondern »die Nazis« und »den Nazi-Pop«. Darum soll es gehen. Das ist zumindest eine Grundlage für eine kompetente Rezeption. Und diese Kompetenz resultiert nicht einfach so aus der Hinwendung zur Popkultur. Im Gegenteil – Popmusik heute erreicht ein Level an sogenannter Heterogenität, die auch bedeuten kann: Egal, mach dir keine Gedanken, es ist alles Pop, es ist alles bunt, mach nur, das ist nicht politisch und selbst wenn, dann ist auch das witzig. Kombinier alle Elemente wie du willst miteinander, du bist ja Teil einer gebildeten und ideologiefreien deutsch-europäischen Gemeinschaft, das berechtigt dich zu allem: weil es egal scheint. Weil sich kaum jemand mehr richtig Gedanken macht. Aber genau darauf kommt es an!
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Die gute alte Schallplatte Imagewandel eines Tonträgerformates1
Elisabeth Heil
Bestandsaufnahme »Die LP ist tot – es lebe die LP« schrieb der Bundesverband der Musikindustrie (BVMI) in seinem Jahreswirtschaftsbericht des Jahres 20072. Die hier erfolgte Adaption der französischen Heroldsformel3 schien in Zeiten rückläufiger Umsätze physischer Tonträger vor allem eines einzuläuten: eine positive Trendwende im Vinyl-Absatz, der sich von 2006 bis 2011 mehr als verdoppelt hat4. Seit dieser positiven Bilanzierung durch den BVMI ist auch in der Presse eine quantitative Steigerung themenbezogener Artikel zu verzeichnen5. Nicht zuletzt angeregt durch die Auszeichnung »Die LP – Das Comeback 2008« im BVMI-Jahreswirtschaftsbericht von 20086 wird unter anderem von einem Vinyl-Comeback oder einer Vinyl-Renaissance geschrieben. Dabei beschränkt sich diese Themenfokussierung nicht allein auf den Tonträger und seinen steigenden Umsatz an sich7, sondern auch auf den Aufwärtstrend beim Verkauf von Schall1 Ein besonderer Dank geht an Burkhardt Seiler, den Inhaber des Zensor-Labels, für viele Anregungen und interessante Gespräche. 2 Es handelt sich um eine Zwischenüberschrift innerhalb des Kapitels »Absatz«. Siehe Bundesverband Musikindustrie 2008, S. 18. 3 Die französische Heroldsformel lautet: »Le roi est mort, vive le roi«. (Deutsch: ›Der König ist tot, es lebe der König‹). Vgl. die Ausführungen bei Großbölting/Schmidt 2011, S. 7. 4 Die hier zugrunde gelegten Zahlen beziehen sich auf die zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses aktuellsten vorliegenden Zahlen des BVMI für das Berichtsjahr 2011. Im Jahr 2006 wurden 300.000 Einheiten verkauft, im Jahr 2011 waren es 700.000 Einheiten. Das bedeutet eine Steigerung von über 133%. Vgl. Bundesverband Musikindustrie 2012, S. 23, Abb. 11. 5 Als Beispiele für diesen Zuwachs wurden Artikel dreier beliebiger Onlinezeitschriften (Spiegel Online [http://www.spiegel.de/], Zeit Online [http://www.zeit.de/], Der Tagesspiegel [http://www. tagesspiegel.de/]) in Bezug auf den Begriff »Schallplatte« in zwei Berichtszeiträumen von je fünf Jahren: 2002–2006 und 2007–2011 quantitativ ausgewertet [Stand: 22.02.2013]. Nachfolgend sind jeweils die einzelnen Zeitintervalle mit der Anzahl der Artikel aufgeführt, die auf die Suchanfrage »Schallplatte« Ergebnisse lieferten. Es wird dabei nicht gewichtet, wie präsent die Thematik in den jeweiligen Beiträgen ist: Spiegel Online: 81 (2002–2006) vs. 157 (2007–2011) | Zeit Online: 205 (2002–2006) vs. 311 (2007–2011) | Der Tagesspiegel: 98 (2002–2006) vs. 105 (2007–2011). 6
Bundesverband Musikindustrie 2009, S. 20.
7
Vgl. unter anderem Haupt 2011 und Hielscher 2009.
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plattenspielern8 und die Sehnsucht nach sozial-kommunikativer Kompetenz bzw. Beratung in Schallplattenläden9. Die konstanten jährlichen Absatzsteigerungen von über 10 % auf dem deutschen Musikindustriemarkt geben zunächst tatsächlich Anlass zu der Annahme eines Revivals. Doch bleibt die Frage nach dem Ausgangswert dieser Zuwachsrate und schließlich die ernüchternde Feststellung, dass der erreichte Wert von 700.000 LP-Verkäufen im Jahr 201110 dem Wert des Jahres 199411 entspricht. Damals gab diese Zahl aber weitaus weniger Anlass zu positiver Interpretation, weil erstmals die magische Millionengrenze unterschritten und die »Vinyl-LP« zugleich als Auslaufmodell mit den Worten: »fast vom Markt verschwunden« deklariert wurde12.
Tapete aus Vinylschallplatten im Café Abgedreht, Berlin
Die Wahrnehmung der Vinylschallplatte und das damit verbundene Image haben sich demnach, insbesondere seit 2007, entschieden verändert. Es muss also auch über die reinen Absatzzahlen hinausgehende Gesichtspunkte geben, die die positive Bewertung der Vinylschallplatte rechtfertigen oder zumindest beeinflussen. Ziel dieses Beitrags ist es, diesen Aspekten mit der Interpretation einiger ausgewählter Beispiele, wie der Einführung der Vinyl-CD 200713 oder Aktionen wie der Plattenladenwoche 8
Vgl. Schormann 2007 und Schömer 2012.
9
Vgl. Pohl 2006.
10
Bundesverband Musikindustrie 2012, S. 23, Abb. 11.
11
Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft 2001. S. 24, Abb. 11.
12
N.N. 1993, S. 117.
13
Vgl. Grannemann 2007.
Die gute alte Schallplatte
seit 200914 und Filmdokumentationen wie beispielsweise Sound it out (Regie: Jeanie Finlay, 2011) oder Vinylmania (Regie: Paolo Campana, 2010) nachzugehen. Dabei wird die Schallplatte als Objekt an sich in den Mittelpunkt geraten. Diese gewählte Konzentration hat eine mindere Beachtung des Sounds oder auch des Schallplattencovers zur Folge, bietet aber zugleich eine Möglichkeit, der Entwicklung der Schallplatte zu einem Objekt der Popkultur nachzuspüren.
Absatzzahlen einst und heute Der englische Musikologe Dave Laing betitelte im Januar 1992 einen Artikel mit der resignierenden Frage: A Farewell To Vinyl?15. Er zieht darin Bilanz der weltweiten Tonträgerindustrie (MC, CD, Singles, LP) im Zeitraum 1981–1990 und beruft sich dabei auf Zahlen der International Federation of the Phonographic Industry (IFPI) aus dem Jahr 1990. Besondere Aufmerksamkeit erhält das drastische Tempo, in dem die Verkaufszahlen der LP seit 1981 von Jahr zu Jahr fallen und die damit einhergehenden Befürchtungen, dass das Erreichen des 50-jährigen Jubiläums des LP-Formats im Jahre 1998 äußerst gefährdet sei. In der retrospektiven Betrachtung hat sich dieses NegativSzenario der aussterbenden Vinyl-LP nicht bewahrheitet – es gibt sie immer noch. Doch hat der analysierte Negativtrend, dem Mitte der 1990er-Jahre auf dem Weltmarkt Verkaufszahlen im zweistelligen und Anfang der 2000er-Jahre nur noch im einstelligen Millionenbereich folgten16, das Image eines totgesagten Formats nicht gerade widerlegt. Als Gründe für diesen nachhaltigen Einbruch nennt Laing die in globaler Hinsicht begrenzte Verbreitung der LP und die bewusste Entscheidung einiger Major Labels, die Produktion von Vinylschallplatten zugunsten der CD auslaufen zu lassen17. Diese bewusste Eindämmung der Vinyl-LP seitens der CD-fördernden Phonoindustrie kann – nach David Hayes – in drei Punkten zusammengefasst werden: So galt es, das Konsumverhalten der Schallplattenkäufer durch eine begrenzte Produktion zu beeinflussen, Retour-Vereinbarungen für unverkaufte Vinylbestände zu beschränken und den Großhandelspreis von CDs künstlich hoch zu halten, um bestmöglichen Profit zu erzielen18. Und nicht nur das Format an sich wurde durch Restriktionen belegt, sondern auch sein immaterieller Wert: die gespeicherte Musik. So führt Wolfgang Doebeling an, dass CD-Alben ein paar Wochen früher erhältlich waren als die zugehörige Vinyl-Version und bestimmte Bonus-Tracks dem Schallplattenkäufer gänzlich vorenthalten blieben, begründet durch das Argument der höheren Speicherkapazität einer Compact Disc (CD)19. Die beschriebenen restriktiven Maßnahmen seitens 14
Plattenladenwoche. [http://www.plattenladenwoche.de/plattenlaeden/, 01.02.2013].
15
Laing 1992, S. 109–110.
16
Vgl. IFPI 2010, S. 85.
17
Siehe Laing 1992, S. 109
18
Siehe Hayes 2006, S. 57.
19
Siehe Doebeling 2012, S 50.
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der Industrie deuten daraufhin, dass die CD nach der Markteinführung Anfang der 1980er-Jahre kein Selbstläufer war. Ebenso zeigt sich, in welcher Weise die Musikindustrie Einfluss nehmen und gewinnen kann. Dennoch muss dieses gezeichnete Bild dahingehend relativiert werden, dass es natürlich auch eine Vielzahl an begeisterten CD-Abnehmern gegeben hat, die keineswegs dem analogen Ton der Vinylschallplatte mit seinem authentischen Knistern und Knacken nachtrauerten. Durch die zunehmende Etablierung des digitalen Musikmarkts seit den späten 1990er-Jahren eröffnete sich die Möglichkeit, Musik losgelöst vom physischen Tonträger noch schneller und variabler, beispielsweise durch Download und Filesharing, zu nutzen. Dabei meint der Begriff »Digitaler Musikmarkt« in Anlehnung an seine Verwendung durch den BVMI nicht mehr allein die Unterscheidung zwischen digitalen und analogen Klangdaten, sondern einzig den Gegensatz in der Materialität ihrer Verfügbarkeit20. Unter Beachtung dieser Entwicklung ergab sich ein zusätzlicher konkurrierender Absatzmarkt innerhalb der Musikindustrie. Das nachfolgende Diagramm 1 21 zeigt die Absatzentwicklung der physischen Formate: Single, CD, MC, LP und des digitalen Musikmarkts für den Zeitraum 1991– 2011 in Deutschland.
Diagramm 1
20
Vgl. die Jahreswirtschaftsberichte des Bundesverbands der Musikindustrie 2005–2011.
21 Die für dieses Diagramm zugrunde gelegten Zahlen basieren auf veröffentlichten Zahlen der Jahresberichte der Phonographischen Wirtschaft und des Bundesverbands der Musikindustrie. Sie gliedern sich wie folgt: ›1991–1996‹ in Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft 2001, S. 24, Abb. 11. | ›1997–2000‹ in Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft 2007, S. 20, Abb. 5 | ›2001‹ in Bundesverband Musikindustrie 2011 S. 23, Abb. 11. | ›2002–2011‹ in Bundesverband Musikindustrie 2012, S. 23, Abb. 11. Die für den Absatz digitaler Musikprodukte entscheidenden Daten liegen erst ab 2004 vor.
Die gute alte Schallplatte
Deutlich zu erkennen ist der bereits beschriebene drastische Absatzrückgang der Vinyl-LP Anfang der 1990er-Jahre. So sank der Verkauf von 1991–1992 um fast 80 %, von 1992–1993 um weitere 70 % und unterschritt schließlich mit einem erneuten Rückgang von über 55 % im Jahr 1994 erstmals die Millionengrenze. Im darauffolgenden Jahr 1995 wurde schließlich mit nur noch 400.000 verkauften LPs der Tiefstwert der 1990er-Jahre erreicht. Dieser Wert stieg zum Ende des Jahrzehnts auf einen neuen kleinen Höchstwert von 900.000, dem ein Abfall bis zum niedrigsten Wert von nur noch 300.000 verkauften Einheiten im Jahr 2006 folgte. Seit 2007 ist ein jährliches Wachstum um durchschnittlich 100.000 verkaufte LPs zu verzeichnen, sodass 2011 wieder der Wert von 700.000 verkauften Einheiten des Jahres 1994 erreicht werden konnte. In der gesamten Zeitspanne von 1994–2011 wurde nie wieder die Millionengrenze überschritten; die Verkaufszahlen hatten sich auf einen Durchschnittswert von 538.888 eingependelt, der durch den Zenit des CD-Alben-Verkaufs im Jahr 1997 mit 209,2 Mio. verkauften Einheiten und steigender Zuwachsraten im digitalen Bereich größtenteils unbeeinflusst blieb. Mit dieser Bilanz steht die LP in ihrer Bedeutung für den Musikabsatz noch hinter der ebenfalls drastisch rückläufigen MC. Sie hat für das Berichtsjahr 2011 bei einem gesamten Musikabsatz von 206,8 Mio. Einheiten nur einen Anteil von 0,3 %. Dennoch ist die Vinyl-LP der einzige physische Tonträger, der seit 2007 einen Aufwärtstrend zu verzeichnen hat. Während also die 700.000 verkauften LPs im Jahr 1994 im Kontext eines Abwärtstrends zu sehen sind, entstand der vergleichbare Vinyl-LP-Absatz im Jahr 2011 aus einer Wachstumsphase heraus, wenn auch nur in einer Nische. Bis ins Jahr 2009 sahen die durch den BVMI veröffentlichten Absatzzahlen der Vinyl-LP sogar noch positiver aus. Erst seit dem Jahreswirtschaftsbericht von 2010 ist – durch einen erklärenden Zusatz zu den Veränderungsraten – davon auszugehen, dass die »Vorjahresdaten auf Basis der Veränderungsraten der Pieces (= Stückzahlen) aus der BVMI-Meldestatistik zurückgerechnet«22 worden sind. Die nachfolgende Abbildung (Diagramm 2) zeigt für den Zeitraum 2001–2009 die sich ergebende Differenz aus der Rückrechnung auf Basis der Veränderungsraten der Vorjahresdaten, die im Durchschnitt 422.222 Einheiten und für das Jahr 2009 sogar 700.000 verkaufte Vinyl-LPs beträgt. Die zugrunde gelegten Zahlen sind einerseits dem BVMI-Jahreswirtschaftsbericht von 200923 (obere Kurve) und andererseits den BVMI-Jahreswirtschaftsberichten aus den Jahren 201024 und 201125 (untere Kurve) entnommen.
22
Bundesverband Musikindustrie 2011, S. 23, Abb.-Unterschrift.
23
Bundesverband Musikindustrie 2010, S. 21, Abb. 9.
24
Bundesverband Musikindustrie 2011, S. 23, Abb. 11.
25
Bundesverband Musikindustrie 2012, S. 23, Abb. 11.
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Diagramm 2
Durch die Einbeziehung der Veränderungsraten werden die zunächst ermittelten Absatzzahlen des BVMI in den Jahreswirtschaftsberichten der Jahre 2007–2009, den Jahren des Aufwärtstrends der Vinyl-LP, nach unten hin korrigiert26 und die darauf bezogenen enthusiastischen Aussagen, wie das Durchbrechen der Millionengrenze im Jahr 200927, im Nachhinein relativiert. Dennoch lassen auch die korrigierten Zahlen noch Spielraum nach oben, da viele LP-Verkäufe über Spezialgeschäfte und Online-Communities erfolgen, die wegen fehlender Scannerkassen nicht in der Statistik des BVMI abgebildet werden können28. Ebenso nicht erfasst sind Secondhand-Verkäufe in Schallplattenläden, auf Flohmärkten und über das Internet29. Dabei sind es gerade Angebote in diesem Bereich, die den Erwerb der Vinylschallplatte in finanzieller Hinsicht oftmals erleichtern und die Sammlerleidenschaft von Raritäten oder Originalpressungen befriedigen. Auch wenn der Umsatz, der durch den Verkauf mit gebrauchten Schallplatten erzielt wird, für die Musikindustrie keine relevante Bedeutung hat, so stellt doch auch diese Form des Handels eine wichtige Rolle innerhalb des Musikkonsums und der öffentlichen Wahrnehmung der Vinyl-LP dar.
26 Die zugrunde gelegten Zahlen des »Diagramm 1« berücksichtigen die betreffenden Ver änderungsraten bereits. 27
Siehe Bundesverband Musikindustrie 2010, S. 21.
28
Ebd.
29 Neben den bekannteren Online-Versandmöglichkeiten Amazon und eBay ist in diesem Bereich vor allem die Plattform discogs [http://www.discogs.com] zu nennen, die derzeit 2.023.578 Einträge zu Vinyl enthält. [Stand 01.03.2013].
Die gute alte Schallplatte
Der wachsende Absatzmarkt seit 2007 wird zudem durch die Einrichtung gesonderter Schallplattenbereiche in Elektronikfachmärkten, wie beispielsweise denen der Media-Saturn-Holding GmbH, begleitet und unterstützt. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Etablierung eines solchen Bereichs findet sich im Media Markt des 2007 eröffneten Alexa-Centers, dem zweitgrößten Einkaufszentrum in Berlin. Im Berliner Kulturkaufhaus Dussmann gibt es für den Pop-Bereich seit Herbst 2012 sogar eine eigene Vinyl-Abteilung. Dass diese zum Aushängeschild für die gesamte Pop-Abteilung gemacht wird, ist implizit auf der Internetpräsenz von Dussmann ablesbar. Hier wird unter der Überschrift »Wo sich die Popstars drängeln« darauf verwiesen, dass Neuheiten und zeitlos gute Musik »natürlich auch auf Vinyl« erhältlich sind; gleichzeitig ist ein Foto der vorhandenen Schallplattenregale zu sehen, das an Bilder und Interieurs von intimeren Schallplattenläden erinnert30. Die genauen Umsätze, die explizit mit Vinyl-LPs in diesen Handelsformen erzielt werden, sind in der Statistik des BVMI nicht erfasst. Möglich ist aber die Ermittlung der Umsatzanteile am Musikverkauf, die zum Beispiel bei den Elektrofachmärkten, wie dem oben genannten Media Markt, in den Jahren 2006–2009 geringe Zuwächse zu verzeichnen hatten. Trotz des leichten Rückgangs zum Jahr 2011 lag diese Handelsform zu diesem Zeitpunkt immer noch vor dem Musikumsatz, der mit E-Commerce erzielt werden konnte31. Die Vinyl-LP hat also den Weg zurück in die für den Musikverkauf umsatzstärkste Handelsform – den Elektrofachmarkt – beschritten und damit die Möglichkeiten der Umsatz- und Absatzsteigerung erweitert.
Die Vinylschallplatte im Film Filme, in denen die Schallplatte als Requisit eingesetzt wird oder in denen die Vinyl-LP zum Thema wird, bieten die Gelegenheit, Kontexte und Images auf eine narrative oder auch subtile Art zu entwickeln und beim Rezipienten zu verankern. Varianten, der Schallplatte im Film eine Rolle oder Funktion zuzuschreiben, ergeben sich mehrere. Im Folgenden werden mit Hilfe von einigen Beispielen drei Gruppen unterschieden: Zunächst gelangt der Spielfilm, der den Schallplattenladen als einen der hauptsächlichen Handlungsorte präsentiert, ins Zentrum meiner Überlegungen; anschließend der Film, in dem die Vinyl-LP als fast beiläufiges Requisit zum Einsatz kommt; und schließlich der Dokumentarfilm, in dem Sammler, Schallplattenladenbesitzer oder auch Labelbetreiber zu Wort kommen. Die ausgewählten Filme sind exemplarisch. Sie dienen dazu, Tendenzen und Möglichkeiten der Integration von Sujets rund um das Thema Schallplatte aufzuzeigen, insbesondere seit dem Jahr 2000. Da es in diesem Zusammenhang vordergründig um die Schallplatte als Objekt bzw. als Warengruppe geht und weniger um die Geschichte einzelner Labels oder Sounds, ist an dieser Stelle auf die nähere Betrachtung von Filmen mit einer der30
Dussman das KulturKaufhaus – Abteilung Pop. [http://www.kulturkaufhaus.de, 15.02.2013].
31
Bundesverband Musikindustrie 2012, S. 41, Abb. 24.
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artigen Themenfokussierung, wie beispielsweise Standing in the Shadows of Motown (Regie: Paul Justman, 2002), Dreamgirls (Regie: Bill Condon, 2006) oder Cadillac Records (Regie: Darnell Martin, 2008), verzichtet worden, was aber keinesfalls bedeutet, dass diese Filme einen geringeren Einfluss auf die veränderte Wahrnehmung der Vinyl-LP und deren Kontext hat. Wie bereits der Titel erahnen lässt, zählt der Kurzfilm Im Schallplattenladen von 1934 (Regie: Hans H. Zerlett) zur ersten Kategorie32. Zwar steht dieser Film in keinem direkten Zusammenhang mit der eigentlich fokussierten und ausgewählten Zeitspanne, doch er bildet eine gute Vergleichsgrundlage für den Wandel der Atmosphäre im Schallplattenladen im 20. Jahrhundert. Karl Valentin spielt im Film einen Kunden, der mit seinen Fragen und seinem Wesen nicht nur die Nerven der Ladenverkäuferin Liesl Karlstadt strapaziert. Im Gespräch zwischen Kunde und Verkäuferin geht es sowohl um formal-technische Aspekte, wie die Nadel des Abspielgeräts oder die Form und das Material der Schallplatte, als auch um unterschiedliche Repertoires und Interpreten, deren Einspielungen auf Tonträger erhältlich waren. Die dargestellte Situation zeigt die Verkäuferin hinter einem Tresen vor einer Schallplattenregalwand in bedienender Funktion, während Karl Valentin die eher abwartende Rolle vor dem Verkaufstisch zugewiesen ist, der seine Wünsche äußert oder auch besingt. Bei jedem Vorspielen einer Schallplatte durch Liesl Karlstadt wird die Benutzung des Grammophons fast als Selbstverständlichkeit gezeigt. Der Film thematisiert aber nicht nur die Warengruppe: Schallplatte, sondern präsentiert ebenso das Plattenlabel Odeon. Dies geschieht durch die angebrachten Odeon-Plakate, die sichtbaren Label-Etiketten auf den Schallplatten und nicht zuletzt durch die Aufschrift auf der Schallplattenhülle. Hier handelt es sich um ein Product Placement, bei dem ein Markenprodukt gezielt in einem Spielfilm platziert wurde, um eine Werbewirkung zu erzielen33. Fast 70 Jahre später entstand der Film High Fidelity (Regie: Stephen Frears, 2000). Im Mittelpunkt steht wieder ein Schallplattenladen mit dem Namen »Championship Vinyl«. Wenn hier explizit »Vinyl« benannt wird, ist das nicht nur Ausdruck einer Vorliebe für die Vinyl-LP, sondern auch ein Statement gegenüber der CD. So wird beispielsweise im Vorspann des Films das Auflegen einer Vinylschallplatte, der Blick auf die Plattenrille und das leichte Knistern beim Abspielen über 37 Sekunden lang inszeniert, während beim Starten einer CD der Schwenk auf die Schublade des CD-Players nur knappe vier Sekunden in Anspruch nimmt (Vgl. Szene: 24:42 – 24:4634). Der Laden ist – im Vergleich zum Film von 1934 – größer und freier eingerichtet. Im Schaufenster hängen coloured Vinyl-LPs, in unmittelbarer Nähe steht ein großer bequemer Sessel und die mit Aufklebern beklebten Schallplattenregale sind für jeden Konsumenten frei zugänglich positioniert. Hier kann der 32 Die ersten 17,44 Minuten des 19-minütigen Films sind auf YouTube online verfügbar. [http:// www.youtube.com/watch?v=_iRZ_yNu6fQ, 20.02.2013]. 33 Zur Definition von »Product Placement« siehe unter anderem Newell/Salmon/Chang 2006, S. 576–578. 34
Die Zeitintervalle der Szenen sind jeweils in Minuten angegeben.
Die gute alte Schallplatte
Kunde, der im Film nicht älter als 35 ist (Vgl. Szene: 46:19 – 49:30), selbst in den Schallplattenfächern stöbern. Die Kommunikation im Laden findet nicht allein zwischen potenziellem Käufer und Verkäufer statt, sondern auch unter den Kunden. Die dargestellte Atmosphäre vermittelt den Eindruck von Familiarität. Diese Stimmung ist auf ganz bewusste Weise dem beschleunigten und unpersönlicheren Musikkonsum im Kaufhaus entgegengesetzt (Vgl. Szene: 14:12–14:53). Der Film spielt nicht nur im Schallplattenladen, sondern präsentiert den Tonträger auch in verschiedenen Facetten, zum Beispiel als Sammlergegenstand (Vgl. Szene: 19:38–20:16) oder als Arbeitswerkzeug des DJs (Vgl. Szene: 34:40–35:04). Dabei steht nicht ein Label, eine bestimmte Band oder Ähnliches im Fokus, sondern das gesamte Image des Formats. Hier ist demnach eine Mischung von »Generic«- und »Image Placement« 35 gegeben, wobei »Generic« die Platzierung der Warengruppe Schallplatte meint und »Image« unter anderem die beschriebenen Imagefaktoren der Ladenatmosphäre oder der vielfältigen Erscheinungsformen von Vinyl-LPs beinhaltet.
Im unabhängigen Schallplattenladen Zensor in Berlin-Schöneberg, 1979
In der zweiten Film-Kategorie wird die Schallplatte als Requisit auf subtile Weise in die Erzählstränge integriert und als Attribut einer Person zugeordnet. Als erstes Beispiel dient die Figur des Kommissar Dellwo, der bis 2010 im ehemaligen Frankfurter Ermittlerteam der Fernsehreihe Tatort des Ersten Deutschen Fern35 Zur unterschiedlichen Kategorisierung des »Product Placement« siehe Frank/Rennhak 2009, Kap. 2.1 (unpaginiert).
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sehens tätig war. In der Abschlussszene des Falls »Der tote Chinese« (Erstausstrahlung: 28.12.200836) befindet sich Hauptkommissar Dellwo allein in einem Zimmer seiner Wohnung, in dem nichts anderes steht, als eine Hi-Fi-Anlage mit Schallplattenspieler und eine Reihe an die Wand gelehnter Vinyl-LPs einer Plattensammlung. Er packt eine der Schallplatten aus der Hülle aus, legt diese auf den Plattenteller, befreit sie von Staub und startet die Musik. Es erklingt »The Healer« von Carlos Santana feat. John Lee Hooker. Diese Szene, die direkt in den Abspann überleitet, hat mit dem vorher gelösten Fall keinen direkten Zusammenhang, charakterisiert aber den Protagonisten als retrospektiven Vinyl-Liebhaber von Blues und Rockmusik. In einem späteren Fall von Kommissar Delwo, »Neuland« (Erstausstrahlung: 15.02.200937), wird eine Vinylschallplatte verschenkt; dabei handelt es sich um das 1969 erschiene Album Led Zeppelin II von Led Zeppelin. Die ebenso im Film zu hörenden Songs von Bob Dylan, Black Sabbath und den Doors schaffen den korrelierenden Kontext: Es erklingt Musik von Künstlern, die einen Großteil ihrer Alben bereits vor Einführung der CD auf Vinyl veröffentlichten.38 Ebenso mit der Requisite Vinyl-LP ausgestattet ist die Fernsehfigur Pia Koch. Sie gehört zum Figurenensemble der täglichen Serie Gute Zeiten Schlechte Zeiten39 des Fernsehsenders RTL. Pia, die seit 2009 in der Seifenoper zu sehen ist, arbeitet unter anderem als DJane. Dabei nutzt sie aber keinesfalls einen Laptop, sondern einen originären Schallplattenspieler und LPs aus ihrer Sammlung. Dadurch wird ein gewisser Grad an Originalität und Status repräsentiert.40 Zu den Orten, in denen Pia auflegt, zählen hauptsächlich Szene-Clubs. Dies erinnert an das DJ-Wirken in den Großstädten der 1990er-Jahre, geprägt durch die Techno-Szene. In Anlehnung an diese Vergangenheit bevorzugt auch Pia Schallplatten des Genres House. Hier wird eine Nische von Vinyl-Pressungen präsentiert, die – im Gegensatz zu den musikalischen Vorlieben des Kommissars Dellwo – in einer anderen Zeit und einer anderen Stilrichtung verankert sind. Der Generationenunterschied der Protagonisten bzw. ihrer Darsteller Jörg Schüttauf (*1961) und Isabell Horn (*1983) vermittelt zwar unterschiedliche Musikpräferenzen zugleich aber auch eine gewisse Altersunabhängigkeit des LP-Käufers. Somit bleibt die Gruppe der Vinyl-Liebhaber nicht auf jene beschränkt, die ihre Jugend noch vor der Einführung der CD erlebten.
36 Vgl. Informationen zum Tatort-Fall Der Tote Chinese im Archiv von DasErste.de. [http://www. daserste.de/unterhaltung/krimi/tatort/sendung/2008/der-tote-chinese-102.html, 10.02.2013]. 37 Vgl. Informationen zum Tatort-Fall Neuland im Archiv von DasErste.de. [http://www.daserste. de/unterhaltung/krimi/tatort/sendung/2009/neuland-102.html, 10.02.2013]. 38 Vgl. in diesem Zusammenhang die analoge Argumentation bezüglich der Gruppen Clash und Stiff Little Fingers bei Hayes 2006, S. 55. 39 Vgl. Pia Koch in der GZSZ-Wiki-Community. [http://www.gzsz-wiki.de/wiki/Pia_Koch, 20.02.2013]. 40
Vgl. die Ausführungen zu »DJs and vinyl« bei Shuker 2010, S. 72.
Die gute alte Schallplatte
Der Einfluss, den die subtile Integration der Vinylschallplatte in zwei der erfolgreichsten und quotenträchtigsten Formate ihrer Art im deutschen Fernsehen41 hat, sollte nicht unterschätzt werden. Auch wenn der Schallplatte in den genannten Beispielen keine handlungsbestimmende Rolle zugewiesen wird – man könnte es demnach mit einem »low plot placement«42 vergleichen – so ist durch die gewählte Platzierung in einer Fernsehserie bzw. -reihe und die Regelmäßigkeit der Ausstrahlung eine immer wiederkehrende Erinnerung an die Schallplatte gegeben. Dass die dadurch erreichte implizite Markenerinnerung an die Warengruppe sowohl die Einstellung als auch die unbewusste Wahlentscheidung gegenüber der Marke Vinyl-LP beeinflusst, konnte durch Studien für Markenplatzierungen in Filmen belegt werden.43 Noch subtiler wird die Einbindung der Vinylschallplatte in einen filmischen Kontext, wenn das Objekt an sich gar nicht mehr in Erscheinung tritt, dafür aber eine Allusion gegeben wird. Ein solches Beispiel stellt der Werbespot für den Schokoriegel Duplo (Version: Mai 2012) dar44. Hier lenkt der männliche Protagonist die Autos eines Kreisverkehrs mit einer Handbewegung, die dem Scratchen vergleichbar ist. Unterstützt durch den passenden Scratch-Sound wird dadurch die Kreisverkehr-Situation im Werbespot mit der kreisenden Bewegung einer Vinylschallplatte assoziiert. Filme wie Sound it out (Regie: Jeanie Finlay, 2011), Vinylmania. Wenn das Leben in 33 Umdrehungen pro Minute läuft (Regie: Paolo Campana, 2010), The Last Shop Standing. The Rise, Fall and Rebirth of the Independent Record Shop (Regie: Pip Piper, 2012) oder Wir werden immer weitergehen (Regie: George Lindt und Ingolf Rech, 2012) setzten das Thema Vinylschallplatte, insbesondere in den Jahren 2010–2012, in einen neuen filmischen Kontext, den des Dokumentarfilms bzw. der Reportage. Es geht ausdrücklich und ausschließlich um den Vinyl-Tonträger. Assoziationen an die gute alte Zeit des analogen Tonträgers werden bereits durch Filmplakate bzw. Verpackungen der erhältlichen DVDs geschaffen. So erinnert zum Beispiel das Plakat für den Film Sound it out an Fanzine- oder Plakatgestaltungen unabhängiger Plattenläden seit den späten 1970er-Jahren und das Cover zu Last Shop Standing an die alte gebrauchte aber auch gut gehütete Plattensammlung, während die DVD-Hülle für Vinylmania sogar die Haptik der Schallplattenrille aufgreift. Ein zentrales Thema ist der unabhängige Schallplattenladen und sein sozialer Kontext; er ist nicht nur Ort des Verkaufs, sondern auch Teil einer Musikkultur, in dem neue Bands und Musiker die Gelegenheit bekommen, in einem kleinen intimen Raum ihre Musik zu präsentieren. Dass es vordergründig nicht um den eigentlichen Profit geht, wird deutlich, 41 Vgl. die Einschaltquoten bei TV-Quoten ermittelt durch media control. [http://www.media -control.de/tv-quoten.html, 10.02.2013]. 42
Russel 2002, S. 307ff.
43
Siehe insbesondere die Ausführungen von Yang/Roskos-Ewoldsen 2007, S. 474 f.
44 Der Werbespot ist mit dem Song »Petite Sœur« des französischen Sängers Ben l’Oncle Soul aus dem Jahr 2010 unterlegt.
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wenn Uli Rehberg über seinen Hamburger Laden Unterm Durchschnitt sagt: »Ich hab einen Stundenlohn von 20 Pfennigen, darum gehts nicht, bzw. nicht nur. Es geht um den Austausch von Ideen«45. Hier wird auf eine ähnlich sozio-kommunikative Atmosphäre wie im Film High Fidelity angespielt. Durch die Aneinanderreihung von Erfahrungsberichten betroffener Personen verliert sich jedoch die objektive Distanz. Die Filme beantworten die aufgeworfenen Problemstellungen und Entwicklungen unmittelbar aus der betroffenen Gruppe des Vinyl-Liebhabers heraus. Auch der Kommentator in Vinylmania fungiert weniger als Dokumentar von Fakten, sondern vielmehr als enthusiastischer Erzähler, der implizit Bewertungen vornimmt. Deutlich wird das unter anderem bei der Abgrenzung zum digitalen Musikmarkt, wenn er sagt: »Hier reicht kein einfacher Mausklick, um Musik zu hören« (02:55). Vordergründiges Ziel ist also nicht unbedingt die objektive Darstellung, sondern die Idealisierung des Tonträgerformats mit einem Fokus sowohl auf die Ästhetik der Schallplatte, ihrer Hülle und ihres Sounds als auch auf den gesellschaftlichen Aspekt, wie der unmittelbaren Kommunikationsmöglichkeit im Schallplattenladen oder der Gemeinschaft der Schallplattensammler.
Sympathy for the Collector46 Schallplatten definieren sich nicht allein durch ihre Funktion, Trägermedium der Musik zu sein, sondern auch durch ihre äußere Erscheinung. Deutlich wurde dies bereits zu Beginn des 20. Jahrhundert, als der russische Agent der Gramophone Company Pan Rappaport dem englischen Musikproduzenten Frederick William Gaisberg beispielhaft erklärte, dass »Schallplatten scheener [sic] werden müssen«47. Das gesamte Gespräch der beiden ist in anekdotischer Form bei Haas überliefert: »Bei uns [in Russland] können sich nur reiche Leute ein Grammophon leisten. […] Die zahlen allerdings jeden Preis, das sind sie ihrer gesellschaftlichen Stellung schuldig. Und diese Herrschaften sind keineswegs immer so musikalisch, wie sie vielleicht annehmen, Mister Gaisberg. Sie wollen keine Platten hören, sie wollen sie ihren Gästen zeigen! […] Ja, und wer etwas zeigen will, Mister Gaisberg, der muss auch etwas wirklich Schönes in der Hand haben. Etwas fürs Auge – Worauf wollen Sie hinaus, Herr Rappaport – Ihre englischen Schallplatten sind zu hässlich – Gaisberg erschrak […] Wie kann etwas, das nur für das Ohr gedacht ist, für das Auge zu hässlich sein?«48 Vor dem Hintergrund der bereits betrachteten Entwicklung und Distinktion auf dem Tonträgermarkt gewinnt die hier gemachte Unterscheidung zwischen dem 45
Zitat von Uli Rehberg aus dem Film Wir werden immer weitergehen (Lindt/Rech 2012).
46 In Anlehnung an das gleichnamige Album der Rolling Stones aus dem Jahr 2002, das wiederum auf den Stones-Titel »Sympathy For The Devil« aus dem Jahr 1968 rekurriert. 47
Haas 1977, S. 77.
48
Ebd. Hervorhebung im Original.
Die gute alte Schallplatte
materiellen Objektwert einer Schallplatte und seinem immateriellen Inhalt, der Musik, an Bedeutung. Nicht selten ist heute bereits auf der Plattenhülle der Vermerk zu lesen, dass der entsprechende MP 3-Code mitgeliefert wird, so zum Beispiel bei der Back To Black-Reihe der Universal Music Group.49 Damit wird der MP 3-Datei der musikalische Gebrauchswert zugesprochen, während die Schallplatte indirekt zum Sammlerobjekt avanciert, das nur zu besonderen Anlässen vorgeführt werden könnte. Dadurch erlangt die Schallplatte eine künstliche Aura und den Status eines originalen Artefakts50, was einen Gegenentwurf zur digitalen Reproduzierbarkeit darstellt. Betrachtet man die Schallplatte als ein Kunstobjekt, könnte man den Begriff der »Aura« nach Benjamin in diesem Zusammenhang als eine vorgespiegelte »Einzigkeit des Kunstwerks« und dessen »ursprüngliche Art der Einbettung […] in den Traditionszusammenhang«51 interpretieren. Die Divergenz, die sich aus der Materialität der Schallplatte gegenüber der nicht fassbaren digitalen Musikdatei ergibt, spiegelt sich zugleich in seiner Wahrnehmung über die Sinne wieder. Während die Schallplatte als Objekt sowohl in visueller als auch in haptischer Hinsicht rezipiert werden kann, fehlen der flexiblen digitalen Musikdatei diese fassbaren Eigenschaften. Die Platte wird auf diese Weise zum Träger von Individualität und eigener Historizität52. Um diese Aura der technisch durchaus reproduzierbaren Vinylschallplatten aufrecht zu erhalten, gibt es die Möglichkeit, scheinbare »Einzigkeit«53 und Abgrenzung durch Besonderheit herzustellen, was sich zum Teil in vielfältigen Differenzierungen von Äußerlichkeiten und limitierten Editionen widerspiegelt. Ein erstes Beispiel in diesem Zusammenhang bietet die 7"-LP Pagan Muzak von NON (Boyd Rice) aus den Jahren 1978/1981, deren Wiederveröffentlichung 199954 in eine Zeit der leichten Vinyl-LP-Absatzsteigerung zum Ende der neunziger Jahre fällt. Anstatt eines zentralen Lochs im Mittelpunkt der Vinyl-Platte sind mehrere Löcher vorhanden, die auf dem Teller des Plattenspielers positioniert werden können. Dadurch wird eine aktive Einflussnahme des Rezipienten auf die Wiedergabe der 17 Loops möglich und die Determiniertheit einer gewöhnlichen Schallplatte aufgehoben55. Des Weiteren tauchen immer wieder außergewöhnlichen Erscheinungsformen, wie »colored-«, »etched-« oder »shaped-vinyl« und »picture-disc« für begrenzte Auflagen56 auf. Die Schallplatte wird auf diese Weise zum narrativen Bildträger und ihr Objektcharakter verstärkt sich. Diese besonderen Formen repräsentieren zwar keine 49
Vgl. Back To Black. [http://www.backtoblackvinyl.com, 16.02.2013].
50
Vgl. Shuker 2010, S. 67 und S. 78.
51
Benjamin 1980a, S. 480.
52
Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei McCourt 2005, S. 249f.
53
Benjamin 1980a, S. 480.
54 Vgl. die diskografischen Angaben in der online verfügbaren NON Discographie. [http://www. boydrice.com/discography/nondiscography.html, 22.02.2013]. 55 Die praktische Funktionsweise ist in einem auf YouTube eingestellten Präsentationsvideo gut nachvollziehbar. [http://youtu.be/aGj6wUDZrN4, 25.01.13]. 56
Moroder/Benedetti 2009, S. 15.; Seim 2009, S. 415f.
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Innovationen der Nullerjahre, doch in quantitativer Hinsicht hat sich ihre Verbreitung erhöht. Sie sind längst nicht mehr nur in kleineren Läden als Rarität zu finden, sondern können auch in den Schallplattenabteilungen der großen Elektronikfachmärkte erworben werden. Durch die Verleihung von Gold- und Platin-Schallplatten nicht nur für Vinyl-LPVerkäufe, sondern auch für alle anderen physischen und digitalen Tonträgerformate57, gelangt der Symbolwert der Schallplatte auf eine andere Ebene und dadurch auch die Abkopplung vom ursprünglichen »Funktionswert«58, Trägermedium der Musik zu sein. In diesem Zusammenhang wären ebenso die essbaren Schokoladen-Schallplatten zu nennen59 sowie die Neukontextualisierung der Schallplatte als visuelles Kunstobjekt in Ausstellungen60. Zugleich ist in diesem Kontext die Einführung von CD-Rohlingen im Vinyl-Design mit der anmutenden schwarzen Rillenoptik im Jahr 200261 und die Entwicklung der Vinyl-CD 200762 zu sehen. Es ist die bloße optische und haptische Erinnerung, auf die es hier hauptsächlich ankommt, nicht das originäre Klangerlebnis oder gar das ritualhafte manuelle Betätigen des Schallplattenspielers. Das Objekt Schallplatte wurde in den vorangegangenen Beispielen zusätzlich mit ästhetischem Interesse betrachtet und gewinnt somit »unabhängig [vom] funktionellen Aussagewert eine völlig neue Bedeutung«63. Dadurch ist sie nicht mehr nur Träger populärer Musik, sondern avanciert nun selbst zum Gegenstand der Pop-Art bzw. der Popkultur.
Imagekampagnen Das Image der Vinylschallplatte wird nicht zuletzt durch fördernde Maßnahmen im Medienfacheinzelhandel oder der Fokussierung auf das Thema »Vinyl« im journalistischen Printbereich beeinflusst. Die hier dargelegten Beispiele verfolgen nicht den Anspruch der Vollständigkeit, sondern zeigen einige Tendenzen und Möglichkeiten von Vermarktungsstrukturen auf. Mit Aktionen, wie dem weltweit zelebrierten Record Store Day jeweils am dritten Samstag im April64 sowie der seit 2009 jährlich im Oktober stattfindenden nationalen Plattenladenwoche rückt der Schallplattenladen mit deutschlandweit über 100 teil-
57
Vgl. Bundesverband Musikindustrie 2007.
58 Zum Verhältnis von »Funktionswert« und »ästhetischem Wert« bei Sammlerobjekten vgl. Benjamin 1980b, S. 389. 59 Siehe unter anderem die Stollwerck-Anzeige in Fliegende Blätter. Supplement, 1904, abgedruckt in Block/Glasmeier 1989, S. 272, als ein erstes Beispiel dafür. 60
Siehe beispielsweise die Ausstellungskataloge Block/Glasmeier 1989 und Schoonmaker 2010.
61
Vgl. Moritz 2002 und Seichter/Grüneklee 2002.
62
Vgl. Grannemann 2007.
63
Umberto Eco zit. nach Ragué Arias 1978, S. 9.
64
Record Store Day (Germany). [http://www.recordstoredaygermany.de/, 22.02.2013].
Die gute alte Schallplatte
nehmenden Läden ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung65. Aus diesem Anlass werden exklusive Schallplatten in Form von Sonderauflagen und limitierten Editionen angeboten, die sonst nicht erhältlich wären. Zusätzlich gibt es ein Angebot an Konzerten und Signierstunden. Es geht um die »Herausforderung, Plattenläden und Fachhandel […] noch stärker zu positionieren [… sowie] den Kultstatus von Plattenläden herauszustellen«, so der Initiator der »Plattenladenwoche« Jörg Hottas.66 Ein Umsatzplus und große Aufmerksamkeit sowie eine mediale Reichweite von mehr als 20 Millionen Kontakten67 zeigen, welchen positiven Niederschlag die Kampagne gefunden hat. Nicht zuletzt aufgrund dieser Veranstaltung widmete der deutsche Rolling Stone mit seiner Oktober-Ausgabe 2012 dem Tonträgerformat ein Themenheft68. In 12 Artikeln, Interviews und Schallplattenbesprechungen wird der Umgang mit dem Tonträger seit den 1980er-Jahren bis heute von verschiedenen Perspektiven reflektiert. Hinzu kommen vier Anzeigen für Schallplattenspieler, die in unterschiedlichen Preiskategorien für jeden möglichen Nutzer erhältlich sind. Doch die Zeitschrift Rolling Stone bot nicht nur eine Plattform für die intellektuelle Beschäftigung mit der Vinylschallplatte, sondern fungierte bereits zuvor als Vertriebsmedium von Vinyl-Singles einer limitierten Sammler-Edition. Als eindrucksvolle Beispiele dienen zum einen die Single The Roller der Band Beady Eye mit eingravierten (etched) Signaturen auf der B-Seite zur März-Ausgabe 201169 sowie die originalgetreue Nachpressung der allerersten Vinyl-Single Wir sind bereit / Jürgen Engler’s Party der Toten Hosen zur April-Ausgabe 201270. Die Tatsache, dass durch eine solche exklusive Zugabe auch die Ausgabe der Zeitschrift an sich zum Sammlerobjekt wurde, führte insgesamt zu einer Aufwertung beider Medien.
Ausblick Die Popularität und das Image der guten alten Schallplatte sind nicht allein durch Absatz- und Umsatzzahlen messbar, obgleich diese statistischen Angaben Indikatoren für Entwicklungen und deren Interpretationen sind. Wie anhand einiger ausgewählter Beispiele gezeigt werden konnte, konstituiert sich ihr Image aus der Integration in unterschiedlichste Kulturbereiche: Sie wird in Printmedien reflektiert, erlangt im Film Aufmerksamkeit, erhält als Objekt einen Platz in künstlerischen Ausstellungen und ist nicht zuletzt ein begehrter Gegenstand innerhalb einer Sammler65 Beim Record Store Day sind deutschlandweit derzeit 137 teilnehmende Shops gelistet [http:// www.recordstoredaygermany.de/?page_id=16, 7.03.2013] und bei der Plattenladenwoche 106 Läden. [http://www.plattenladenwoche.de/plattenlaeden/, 07.03.2013]. 66
Jörg/Sholz 2012, S. 6.
67
Ebd.
68
Rolling Stone 10/2012.
69
Rolling Stone 03/2011.
70
Rolling Stone 04/2012.
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gemeinschaft. Durch die bewusst gewählte Konzentration auf die Schallplatte als eigenständiges Objekt wurde einmal mehr offenbar, dass die Schallplatte nicht nur Trägermedium von Musikkultur ist, sondern selbst zu einem Teil der Pop-Art-Kultur wurde und wird. Ein tatsächliches Comeback des Tonträgerformats derzeitig anzunehmen, ist angesichts der aufgezeigten Gesamtsituation innerhalb des Musikmarkts m. E. nicht aufrecht zu erhalten. Dennoch kann positiv konstatiert werden, dass trotz der veränderten Musiknutzung, die unter anderem durch die Zunahme digitaler Musikprodukte beeinflusst wurde, die Vinyl-LP seit nunmehr fast 20 Jahren sich nahezu unbeeinflusst auf einen konstanten Absatz-Durchschnitt eingependelt hat. Im Gegensatz zur MP 3-Datei hat die Schallplatte die Möglichkeit gleichzeitig als fassbarer Träger von Geschichte zu fungieren. Nicht zuletzt deswegen gewinnt sie im Jahrzehnt der »Retromania«71 an Bedeutung. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Image-Entwicklung der Vinylschallplatte bleibt abzuwarten, ob und wie sich das Ansehen der MC, deren Erscheinungsbild mittlerweile bei Notizblöcken, beispielsweise von Brandbook oder zazzle, bei Kalender-Einbänden, zum Beispiel von Moleskine, bei Radiergummis oder auf T-Shirts auftaucht, verändern wird. Die Kassette hat aufgrund ihrer fassbaren Eigenschaften ebenso die Voraussetzungen zum Objekt narrativer Historizität einerseits und der Pop-Art andererseits zu avancieren. Darüber ist es möglich, ein neues Image zu erlangen, auch wenn die drastischen Umsatzrückgänge der MC eine solche Entwicklung zurzeit nicht vermuten lassen.
Detail aus der Vinylschallplatten-Tapete im Café Abgedreht, Berlin
71 In Anlehnung an den von Simon Reynolds gebrauchten Begriff »Retromania« vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere das Kapitel »Lost in the Shuffle. Record Collecting and the Twilight of Music as an Object« in Reynolds 2011, S. 68–128.
Learning by Feeling Medienkultur und Lernen mit Pop
Lothar Mikos
Populäre Medien sind aus dem Alltag der meisten Menschen nicht mehr wegzudenken. Die Deutschen schauen mehr Fernsehen als je zuvor. 225 Minuten1 täglich verbrachten die Zuschauer 2011 vor den TV-Geräten. Ob Comics und Krimis, Film und Fernsehen, Pop und Rock, sie werden viel genutzt und sind beliebt. Das trifft allerdings lediglich auf diejenigen zu, die sich dem Vergnügen an und mit den populären Medien hingeben. Dem öffentlichen Diskurs sind diese Vergnügungen oft noch immer suspekt. Sie entsprechen nicht dem Kunstgenuss der Hochkultur. Das Vergnügen wird ausgegrenzt, und die Ablehnung des Vergnügens dient als Mittel der Distinktion. Sie beruht auf der »manichäischen Entgegensetzung der einsamen Geistesklarheit des Intellektuellen einerseits und der Stumpfsinnigkeit des ›Massenmenschen‹ andererseits«2, mit welcher nach Kant der »Reflexions-Geschmack« der bürgerlichen Intellektuellen vom »Sinnen-Geschmack« der Massenmenschen3 unterschieden wird. In der Tradition der Aufklärung kann für die herrschenden bürgerlichen Eliten nur Information bzw. Bildung das Maß aller Dinge sein, Unterhaltung unterläuft diesen Anspruch, weil die populären und ästhetischen Vergnügungen der Massen sich dem rationalen Diskurs widersetzen und damit zumindest teilweise auch subversiven Charakter haben können.4 Die Unterscheidung stellt eine gesellschaftliche Diskurspraktik dar, die sich in den im Alltag zirkulierenden Geschmacksurteilen zeigt. Übersehen wird dabei häufig, dass es gerade die populären Texte der Medienkultur sind, die eine wesentliche Rolle bei der Konstruktion von Identität spielen. Denn im Genuss der populären Medien kommen informelle Lerneffekte zum Tragen. Das ist ein wichtiges, oft übersehenes Element. Populärkultur und Popkultur sind nicht gleichzusetzen. Popkultur bezieht sich auf musikalische Formen der Populärkultur, die sich aber nicht in der Popkultur erschöpft, sondern weit über diese hinausreicht, da sie die Aneignung aller Formen populärer Medien
1
AGF/GFK-Fernsehforschung zit. nach Statistisches Bundesamt 2012, S. 207.
2
Eco 1984, S. 23.
3
Vgl. auch Bourdieu 1984, S. 761 ff.
4
Vgl. Mikos 2000.
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Lothar Mikos
umfasst.5 Im Folgenden wird zunächst auf die Bedeutung des Vergnügens an der Populärkultur für die Sozialisation eingegangen, bevor dann die Idee des Lernens am Beispiel einer populären Fernsehsendung (Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!) und die Rolle populärer Musik für die Sozialisation exemplarisch dargestellt werden. Die Funktionen und Bedeutungen der hier verhandelten audiovisuellen, fernsehbezogenen Ebene sind auf die Ebene der Popmusik übertragbar. Die Projektion und emanzipatorische Umsetzung von Wünschen funktioniert durch ähnliche Prozesse.
Populärkulturelles Vergnügen und Sozialisation In den populärkulturellen Produkten werden die teilweise widersprüchlichen Erfahrungen und Interessen der Menschen aufgegriffen. Dadurch können sie im Konsum durchaus auch emanzipatorisches Potenzial entfalten, denn Populärkultur verlangt nach einer aktiven Produktion von Bedeutung.6 In der ihr artikulieren sich Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte der Menschen. Populärkultur als aktiver Prozess der Aneignung von Filmen, Fernsehen, Comics, Videospielen, Freizeit- und Vergnügungsparks, Einkaufszentren, Mode etc. funktioniert nicht, weil die Produzenten die Rezipienten permanent manipulieren, sondern weil die Gesellschaft ständig soziale Verhältnisse reproduziert, mit denen sich die Rezipienten symbolisch auseinandersetzen und ihre Position aushandeln müssen.7 Populärkultur ist daher in ihrer Bedeutung nicht festgelegt, sondern die Menschen produzieren mit den Produkten der Populärkultur ihre eigenen Bedeutungen, die dann allerdings wieder von den Medien aufgegriffen werden. Populärkultur ist in diesem Sinn einer der wesentlichsten Kampfplätze um symbolische Gewalt als ständiges Wechselspiel zwischen Macht und Widerstand, Disziplin und Disziplinlosigkeit, Ordnung und Unordnung, Regelhaftigkeit und Spontaneität – und damit ein Wechselspiel sozialer Kräfte und Verhältnisse. Sie wird von den Menschen gemacht, und zwar an der Schnittstelle zwischen Alltagsleben und dem Konsum der Produkte der Kulturindustrie.8 Der Populärkultur ist eine »populäre Ästhetik« eigen, die auf Teilnahme und emotionalem Engagement beruht. Wesentliche Elemente von Populärkultur resp. Popkultur sind Spaß, Vergnügen, Unterhaltung, Erholung und Lust.9 Das verweist einerseits auf die sinnlichen Qualitäten der Populärkultur. Andererseits wird ihr Potenzial deutlich, den Menschen – zumindest zeitweise – zu gestatten, den Zwängen des Alltags zu entkommen. Gleichzeitig ist sie damit tief im Alltag und im Alltagsbewusstsein verwurzelt.
5
Hier ist nicht der Ort, um ausführlich auf diese Differenzierung einzugehen.
6
Vgl. Fluck 1987, S. 43, vgl. auch Winter 2001.
7
Vgl. Fluck 1987, S. 39.
8 Vgl. das Kapitel »Understanding Popular Culture« in Fiske 1989, insbes. S. 5 f. und Fiske 1990, S. 144 ff. 9
Vgl. Bourdieu 1984, S. 64 ff.
Learning by Feeling
Hierin liegt auch ihre Funktion im Rahmen des Sozialisationsprozesses begründet, da sie als Kampfplatz um symbolische Gewalt die Spannungen und Konflikte zwischen dem herrschenden gesellschaftlichen Konsens und der subjektiven, individuellen Existenz ausdrückt, sodass die Individuen im Akt der Aneignung die Geltung der herrschenden Normen, Werte und Bedeutungen an der Relevanz für das eigene Alltagsleben messen können. »Indem sie [die Populärkultur, L. M.] zentrale Sozialisationsprobleme aufgreift und fiktional kompensiert, trägt sie zu lustvollem und wirksamem Ausgleich von Spannungen innerhalb des Sozialisationsprozesses bei; lustvoll, weil die herrschenden Normen und Wertvorstellungen temporär überschritten und dennoch bestätigt werden und damit das temporär verunsicherte Selbstbild stabilisiert wird; wirksam, weil die beiläufige unintentionale Form der Veranschaulichung und die symbolische ›Verschlüsselung‹ Lern- und Identifikationsprozesse begünstigen«.10 In der Aneignung populärer Medien können die Individuen Modelle alltäglichen Handelns erproben. Das wurde beispielsweise in einigen Studien zur Aneignung von Stars11 und von Filmen12 sehr deutlich gezeigt. Zugleich dient die Populärkultur der Aushandlung von Normen, Werten und Fragen des Lebensstils. In Bezug auf Stars stellt Wegener fest: »Über mediale Bezugspersonen werden Fragen von Stil und Habitus verhandelt. Bewertungen und damit die Formation eines eigenen Deutungsmusters vollziehen sich in Auseinandersetzung mit dem symbolischen Material der Medien.«13 Die Bedeutungsproduktion ist eng mit Vergnügen verknüpft. Vergnügen ist Bestandteil einer elementaren Ästhetik, die den populärkulturellen Praktiken zu Grunde liegt. Ein Moment des Vergnügens in der Rezeption populärer Texte liegt nach Fiske darin, das Verhältnis von Regeln und Freiheit zu erforschen. Das trifft nicht nur auf das sogenannte evasive Vergnügen zu, bei dem es um subversive Momente geht, die »den disziplinierenden Diskursen moderner Gesellschaft«14 zuwiderlaufen können, sondern vor allem um das Vergnügen, das aus der Produktion eigener Bedeutungen und Lesarten resultiert. Das Vergnügen am populärkulturellen Text entspringt aus den sozialen Erfahrungen der Menschen, die ihn gebrauchen. Das Vergnügen resultiert einerseits aus der »Lust am Text«, die von den polysemen Strukturen populärer Texte gefördert wird, andererseits aus der Möglichkeit, die Macht der eigenen Bedeutungsproduktion empfinden zu können, die nicht subversiv und widerständig sein muss, aber sein kann. Denn: »Im ›Populären‹ vermischen sich unterschiedliche Bedeutungen und politische Werte, die dominant, subordiniert oder oppositionell sein können – hier prallen sie aufeinander«.15 In der Populär—
10
Fluck 1979, S. 61.
11
Vgl. Fritzsche 2003, Wegener 2008.
12
Vgl. Wierth-Heining 2004.
13
Wegener 2008, S. 387f.
14
Vgl. Hepp 1999, S. 74.
15
Grossberg 1999, S. 224.
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Lothar Mikos
kultur spielt die aktive Auseinandersetzung mit den massenkulturellen Produkten, die zur Selbstermächtigung der Menschen beitragen kann, eine große Rolle.
Fernsehen und die Idee des Lernens Für die Zuschauer gilt, was Annette Hill »the idea of learning«16 genannt hat. Das Vergnügen beim Fernsehen geht bei ihnen mit informellen Bildungsprozessen einher. Gerade in den Sendungen, die dem »factual entertainment« zugerechnet werden können, wird Alltagshandeln Gegenstand von Sendungen17, weil sich die Sender zunehmend an der Lebenswelt ihrer Zuschauer orientieren müssen, um erfolgreich zu sein.18 Die zahlreichen Dokusoaps, die seit dem Ende der neunziger Jahre die öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen Fernsehprogramme bevölkern, legen ebenso Zeugnis davon ab wie die Boulevardmagazine, die täglichen Talkshows, die sogenannten Realityshows und die seit einiger Zeit beliebten Makeover- und Home-Improvement-Formate. Dieser Trend ist nicht neu, denn bereits in den Familienserien und Daily Soaps wurde ein emotionaler Realismus gepflegt, der sich insbesondere in den familiären Interaktionsstrukturen zeigte. Die neueren Formate übernehmen gewissermaßen eine Ratgeberfunktion zur Bewältigung alltäglicher Lebenssituationen. Dies kann aber nur gelingen, wenn das Publikum die Ratschläge in den eigenen Alltag übernimmt, sie also aktiv handelnd in die Tat umsetzt. Auch fiktionale Sendungen können diese Funktion übernehmen, denn in der Aushandlung von deren Bedeutung im Rahmen sozialer Kommunikation werden Lebensentwürfe und -konzepte entwickelt und Identitätsarbeit geleistet. Kinder und Jugendliche, die sich mit Gleichaltrigen über ihre Lieblingssoap wie GZSZ, über Realityshows wie Big Brother, über Datingshows wie Dismissed, über Castingshows wie Popstars oder über die neuen Videoclips von Popstars und Musikgruppen unterhalten, handeln in der sozialen Kommunikation nicht nur die Bedeutung des Gesehenen aus, sondern auch ihre Haltungen zur Welt, oder wie es Maya Götz einmal in Bezug auf die Daily-Soap-Rezeption von Mädchen formulierte, ihr Verständnis von »Sein-in-der Welt« und »Sein-in-Beziehung«.19 Für die Kinder und Jugendlichen wird das Fernsehen zur Vermittlungsinstanz von sinnstiftenden Inhalten, indem es verschiedene Sinnvorgaben als Wahlmöglichkeiten offeriert und damit symbolische Ressourcen für die Identitätsbildung20 liefert. Diese symbolischen Ressourcen müssen jedoch in der sozialen Kommunikation und Praxis zur Anwendung kommen.
16
Hill 2005, S. 79ff.
17
Vgl. Krotz 2001, S. 35.
18
Vgl. Mikos et al. 2000, S. 37ff.
19
Götz 2002, S. 311.
20
Vgl. Gauntlett 2002, S. 256.
Learning by Feeling
Die Aneignung von Medien im Alltag macht mehr als deutlich, welche große Rolle der lebensweltliche Kontext der Zuschauer, ihr Alltag, ihre biografischen Erfahrungen, ihre Identität und Subjektivität, ihre Norm- und Wertvorstellungen, ihre Moral und ihre ethischen Grundhaltungen spielen. Die Bedeutung des symbolischen Materials der Fernsehsendungen wird jedoch in der sozialen Kommunikation mit Freunden, Familienmitgliedern, Nachbarn, Arbeitskollegen etc. ausgehandelt. Kommunikatives Handeln21 spielt eine wichtige Rolle im Prozess der Vergesellschaftung und der Sozialisation. Da Handeln nur in Situationen möglich ist, die einen »im Hinblick auf ein Thema ausgegrenzten Ausschnitt einer Lebenswelt«22 darstellen, müssen sich die Akteure auf gemeinsames Wissen beziehen – und dieses Wissen wird teilweise von den Medien insbesondere dem Fernsehen zur Verfügung gestellt. Es geht dabei nicht nur darum, dass die lebensweltlichen Bezüge in den genannten Handlungsformen in Rezeptionssituationen eine Rolle spielen23, sondern dass dem symbolischen Material der Medien in alltäglichen Handlungsvollzügen eine besondere Bedeutung zukommt. Allseits verfügbare Medien wie das Fernsehen liefern nicht nur Normen und Werte, die angeeignet werden und im Alltag Verwendung finden, sie liefern auch Lebensmodelle und Zielvorstellungen, Präsentationsmuster und Rollenbilder, ja Muster der Verständigung und Koordinierung von Handlungsplänen. Gerade im Kontext der Diskussion um Mediensozialisationen kann nicht oft genug betont werden, dass die Auseinandersetzung mit dem medial bereitgestellten symbolischen Material im sozialen Leben stattfindet. Erst in der Kommunikation mit anderen Personen wird ausgehandelt, welche Bedeutung eine Fernsehsendung hat. Im Gespräch über die konsumierten Medienprodukte handeln Kinder und Jugendliche die eigene Position aus und fügen dem eigenen Leben eine weitere Sinnperspektive hinzu. Kinder und Jugendliche positionieren sich aber nicht nur im Gespräch mit Eltern und Geschwistern, sondern vor allem auch mit Gleichaltrigen. Mit den Peers werden Normen und Werte, Einstellungen und Rollenbilder ausgehandelt. Die Medien geben Anregungen, deren Bedeutung von den Kindern und Jugendlichen dann erst in der Kommunikation mit anderen entsteht. »Der Umgang mit Medien sowie das Reden über Medien trägt in Familien und Peer-groups insgesamt zu sozialem Lernen bei und fördert somit vor allem die pädagogische Zielsetzung der Empathie und Frustrationstoleranz: Miteinander reden und streiten; gegenseitig Toleranz zeigen; Kompromisse finden; auf den anderen Rücksicht nehmen; nachgeben können u. ä.«24 Während Kinder hier noch mehr auf das Gespräch mit Eltern und Großeltern vertrauen, setzen sich Jugendliche aufgrund der Ablösung vom Elternhaus stärker mit den gleichaltrigen Peers auseinander. Diese Gemeinschaft basiert unter anderem auf
21
Vgl. Habermas 1988.
22
Ebd., S. 194.
23
Vgl. Weiß 2001.
24
Barthelmes/Sander 1997, S. 327. Hervorhebung im Original.
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gemeinsamen ästhetischen Erlebnissen aus dem Umfeld der audiovisuellen Medien.25 Die Jugendlichen teilen nicht nur einen gemeinsamen Geschmack, sondern auch »gemeinsame Bedeutungen, Praktiken und Verpflichtungen«.26 Diese Vermischung von medialer und sozialer Kommunikation, die für moderne Lebenswelten typisch ist, führt dazu, dass die Bedeutung von Medien für die Identitätsbildung wächst. Der Kulturwissenschaftler Douglas Kellner27 geht daher davon aus, dass dem »Fernsehen und anderen Formen der Medienkultur eine Schlüsselrolle bei der Strukturierung zeitgenössischer Identität« zukommt. Einigkeit besteht daher darin, dass die Medien zunehmend eine bedeutende Rolle in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen spielen.
Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! und junge Zuschauer Wie Kinder und Jugendliche Normen und Werte anhand von populären Shows im deutschen Fernsehen aushandeln, mag folgendes Beispiel verdeutlichen. Zu Beginn des Jahres 2009 lief auf dem Sender RTL bereits die vierte Staffel der sogenannten Dschungelshow mit dem Titel Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! Bereits die erste Staffel hatte im Jahr 2004 nicht nur großen Erfolg bei den Zuschauern mit z. T. mehr als sieben Millionen Zuschauern pro Folge, sondern sorgte auch für öffentliche Erregung. In der Show ziehen zehn – mehr oder weniger – Prominente in den australischen Dschungel, um dort in einem Camp zu leben. Für ihre tägliche Nahrung müssen sie Aufgaben, sogenannte Dschungelprüfungen, bestehen, zum Beispiel sich von Kakerlaken überschütten lassen, Känguru-Hoden essen und vieles mehr. In einer Rezeptionsstudie mit 42 Kindern und Jugendlichen wurde untersucht, wie die jungen Zuschauer mit dem Format umgehen und ob sie dadurch sittlich gefährdet werden.28 Es zeigte sich, dass die Kinder und Jugendlichen die Sendung vor dem Hintergrund ihrer allgemeinen Fernsehinteressen bewerten, die bei den Jungs eher actionorientiert sind, während die Mädchen sich vor allem für Sitcoms und Soaps interessieren. So finden die Jungs die Sendung eher langweilig, haben aber Spaß an den Spielen, den Mädchen geht es eher darum, wie sich die Kandidaten im Dschungel verhalten. Sie fühlen eher mit den Kandidaten mit. Während die Studenten die Sendung eher langweilig finden, lehnen die männlichen Berufsschüler die Sendung aufgrund ihres mangelnden Alltagsbezuges ab. Hier zeigen sich bereits unterschiedliche Umgangsweisen, die auf verschiedenen Prozessen der Mediensozialisation basieren. Darauf wird zurückzukommen sein. 25
Vgl. ebd., S. 326.
26
Lash 1996, S. 273.
27
Kellner 1995, S. 237.
28
Vgl. Mikos 2007.
Learning by Feeling
Eine 13-jährige Gymnasiastin lehnt die Sendung eher ab, weil sie mit den Kandidaten mitfühlt, wenn sie eklige Prüfungen bestehen müssen. Eine ihrer Klassenkameradinnen findet die Sendung dagegen eher lustig: »Also, ich fand jetzt die Sendung auch nicht wirklich gut, aber ich fand die auch immer ziemlich lustig irgendwie. So dumme Sachen, die da wirklich machen, zum Beispiel diese komischen Prüfungen. Da fand ich manchmal ganz lustig, dass die sich da überhaupt überwunden haben.« Überhaupt bewundern die Kinder und Jugendlichen trotz ihres Wissens über die Inszenierungsstrategien und den Spielcharakter der Show die Kandidaten. Mut spielt bei den jüngeren Befragten eine wesentlich größere Rolle als bei den Älteren, die diesen Aspekt nicht erwähnen. Sie mögen es nicht, wenn sich die Kandidaten den Prüfungen verweigern. Dieses Verhalten widerspricht anscheinend dem Ideal, wie man sich ihrer Meinung nach in einer solchen Situation verhalten sollte. Schließlich ist es der Sinn einer Mutprobe, dass man seinen Mut zeigt. Gelingt dies nicht, steht man als Versager da. Die Rezeption der Sendung als Spiel ermöglicht einen »geregelten Tabubruch«.29 Die Regelverletzungen sind ästhetisch inszeniert und können kritisch thematisiert werden. Dabei unterscheidet sich die »Spiel-Wirklichkeit« vom gewöhnlichen Leben und ermöglicht damit eine distanzierte Rezeption, in der andere ethische Maßstäbe gelten. Zu dieser distanzierten Rezeptionshaltung trägt auch die komische Inszenierung bei. Von allen Befragten am meisten geschätzt werden die Dschungelprüfungen, die selbst von den Ablehnern der Sendung als witzig empfunden werden. Für alle Diskussionsteilnehmer ist es lustig, die Prominenten in Grenzsituationen zu sehen. Hierbei werden die üblichen sozialhierarchischen Beziehungen und die ihr inhärenten sozialen Konventionen umgekehrt. Dadurch ist in der Form des Lachens das zulässig, was sonst verboten ist.30 Anstelle von Identifikation lässt sich die Rezeptionshaltung eher als empathisch beschreiben, bei der zwar die Gefühle der Figuren übernommen werden, das Bewusstsein der Differenz zwischen Zuschauer und Kandidat jedoch erhalten bleibt. Dabei kann sich die Empathie auch auf Personen richten, die negativ bewertet werden. Wichtig für die Nutzung der Sendung durch die Jugendlichen ist, dass sie sich zwar in die Lage der Figuren versetzen und deren Gefühle nachempfinden können, jedoch keine Rollenvorbilder zu übernehmen scheinen. Die empathischen Vorgänge sind eher auf der Ebene körperlicher Aneignung angesiedelt, die innerhalb der Sendung durch die ästhetische und dramaturgische Inszenierung von Ekel und Angstsituationen geschaffen werden. Die Empathie ist dabei unabhängig von der Moral der Zuschauer, »da Empathie der moralischen Dimension entbehrt, ist es für den Zuschauer nicht notwendig, die Werte der handelnden Figuren zu übernehmen«.31
29
Hausmanninger 1992.
30
Bachtin 1990, S. 54.
31
Mikos 2008, S. 179.
331
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Trotz eines anscheinend eher vom privaten Nutzenkalkül bestimmten Wertesystems orientieren sich die befragten Kinder und Jugendlichen an gesellschaftlichen Normen und Werten, wie der Achtung anderer, Ehrlichkeit und Fairness, die eine wichtige Bedeutung für ihr eigenes Leben haben. Da sie jedoch von der Sendung keinen Bezug zu ihrem Alltag herstellen, scheinen die moralischen Urteile in diesem Fall nicht unbedingt verpflichtend zu sein. Das Fernseherlebnis und ihr eigener Alltag gelten als zwei getrennte Bereiche, in denen je eigene Wertmaßstäbe und moralische Kriterien eine Rolle spielen. Dennoch übertragen sie ihre alltäg lichen Wertvorstellungen auf die Sendung. Wenn sie zum Beispiel der Ansicht sind, dass Spielregeln verletzt werden, tritt der komische Rezeptionsmodus in den Hintergrund und sie entwickeln Mitleid mit den Kandidaten, weil sie einen wichtigen Wert, der auch in ihrem Alltag eine Rolle spielt, verletzt sehen: Fairness. Die gering gebildeten Kinder sehen daher in den Dschungelprüfungen einen didaktischen Sinn und vermuten, dass man da etwas lernen kann. Sie tun dies nicht, weil die Sendung ihnen dies vorgibt, sondern weil ihnen aus ihrem eigenen schulischen Alltag bekannt ist, dass Prüfungen einen didaktischen Sinn haben. Das Beispiel zeigt, dass insbesondere Kinder und Jugendliche sich anhand auch populärer Sendungen im Fernsehen mit gesellschaftlichen Normen und Werten, Rollenmustern, Modellen von Problemlösungen, Lebensweisen und Lebensstilen, kurz: mit allen Aspekten, die zu einer gelingenden Sozialisation und Identitätsarbeit gehören auseinandersetzen. Die aktive Auseinandersetzung mit dem symbolischen Material des Fernsehens bereitet Vergnügen, denn sie trägt zur Selbstermächtigung bei. Ein wesentlicher Aspekt des Vergnügens liegt darin, dass auf unterhaltende Weise informelle Lernprozesse stattfinden.
Populäre Musik und Sozialisation Popkulturelle Praktiken sind zunächst nichts anderes als spezifische kulturelle Praktiken, die Akteure mit popkulturellem Material ausüben. Sie sind symbolische Praktiken, die an die soziale Praxis der Alltagswelt gebunden sind. Damit sind sie in einem Feld sozialer Auseinandersetzungen zu verorten und müssen – wie alle kulturellen Praktiken – in ihrer Beziehung zu soziostrukturellen Merkmalen wie Klasse, Schicht, Milieu, Geschlecht, Ethnizität, Alter, Geografie und Chronologie gesehen werden. Kultur wird hier im Sinn der Cultural Studies als »ganze Lebensweise«32 verstanden, die in politische, ökonomische und gesellschaftliche Strukturen verstrickt ist. Die Analyse kultureller Praktiken muss daher die »Beziehungen zwischen den Elementen einer ganzen Lebensweise«33 in den sie strukturierenden Kontexten berücksichtigen. Die im Alltag angesiedelten kulturellen Praktiken sind so immer kontextabhängig und damit sozial strukturiert. In ihnen entfaltet sich, wie Rainer Winter im An32
Vgl. Williams 1977.
33
Williams 1977, S. 50.
Learning by Feeling
schluss an John Fiske bemerkt, die soziale Zirkulation von Bedeutungen.34 Da sich diese Bedeutungen innerhalb der Beziehungen zwischen den Elementen einer ganzen Lebensweise realisieren, können sie nicht nur auf diskursive Praktiken reduziert werden. Die Symbolik kultureller Praktiken ist daher nicht nur auf der diskursiven Symbolebene angesiedelt, sondern auch auf der präsentativen Symbolebene.35 Das trifft insbesondere auf popkulturelle Praktiken zu. Die Unterscheidung zwischen der diskursiven Symbolik von Sprache und Schrift und der präsentativen Symbolik von Bildern und anderen kulturellen Ausdrucksformen wie Musik und Tanz geht auf Susanne K. Langer36 zurück. Die Besonderheit des Visuellen kennzeichnet Langer zum Beispiel wie folgt: »Visuelle Formen – Linien, Farben, Proportionen usw. – sind ebenso der Artikulation, d.h. der komplexen Kombination fähig wie Wörter. Aber die Gesetze, die diese Art von Artikulationen regieren, sind von denen der Syntax, die die Sprache regieren, grundverschieden. Der radikalste Unterschied ist der, dass visuelle Formen nicht diskursiv sind. Sie bieten ihre Bestandteile nicht nacheinander, sondern gleichzeitig dar, weshalb die Beziehungen, die eine visuelle Struktur bestimmen, in einem Akt des Sehens erfasst werden«.37 Bilder sind ebenso wie Musik und Tanz keine linearen diskursiven Symbole, sondern simultane präsentative – und diese präsentativen Symbole sind »besonders geeignet für den Ausdruck von Ideen, die sich der sprachlichen ›Projektion‹ widersetzen«.38 Bilder sind daher zum Beispiel konkreter als abstrakte Worte, sie vermitteln räumliche Perspektiven, sie sind unmittelbarer und emotionaler, und sie sind in ihrer Bedeutung offener.39 Präsentative Symbole zielen nicht auf semantische Eindeutigkeit wie die linearen, diskursiven Symboliken von Sprache und Schrift, sondern auf eine sinnlich-symbolische Praxis, in der sich eher Emotionen denn Kognitionen ausdrücken. Das ist eines der wesentlichen Charakteristika von Musik: »Die wahre Macht der Musik besteht darin, dass sie, was das Gefühlsleben anlangt, auf eine Weise ›lebenswahr‹ ist, wie die Sprache es niemals zu sein vermag; denn was ihre sinnhaltigen Formen – im Gegensatz zu den Worten der Sprache – auszeichnet, ist gerade die Ambivalenz des Inhalts«.40 Daher eignet sich gerade Musik als popkulturelle Praxis zur subjektiven Bedeutungskonstruktion im Feld der sozialen Auseinandersetzungen des Alltags. In präsentativen Symbolen wird Emotionalität artikuliert.41 Sie sind Ausdruck sinnlich-symbolischer und sinnlich-unmittelbarer Interaktionsformen und fungie34
Winter 2001, S. 11.
35
Vgl. Mikos 2001, S. 184ff.
36
Langer 1965, S. 86ff.
37
Ebd., S. 99.
38
Ebd.
39
Doelker 1997, S. 52ff.
40
Langer 1965, S. 238.
41
Lorenzer 1986.
333
334
Lothar Mikos
ren als Mittler zwischen den bewussten Interaktionsformen, die sich in den sprachlich diskursiven Symbolen ausdrücken, und den unbewussten Interaktionsformen. Die sinnlich-symbolischen Symbole sind die bevorzugte »Domäne der Phantasie«: »Die sinnlich-unmittelbaren Symbole stellen wegen ihrer größeren Nähe zu den unbewussten Praxisfiguren nicht nur die Repräsentanten für Gefühle und für nicht verbal artikulierbare Lebensbeziehungen, sondern sie sind näher auch den unbewussten Praxisfiguren verbunden, die nicht in Sprache aufgenommen werden können, weil sie den sozialen Normen widersprechen«.42 Sie können nicht in Worte gefasst werden, denn sie repräsentieren die Erfahrungen der sinnlichen Auseinandersetzung mit der Welt, wie die Erfahrung des Raumes oder Erfahrungen, die nur in Musik oder Tanz ausgedrückt werden können. Es ist Aufgabe der Künste – mithin auch der populären Künste – die unbewussten Praxisfiguren und Erlebniserwartungen in sinnlich-unmittelbare Symbole und sinnlich-symbolische Interaktionsformen, in präsentative Symbole zu überführen, »um so neue Lebensentwürfe in der sinnlichen Erfahrung zur Debatte zu stellen«.43 Populäre Medien wie Film, Fernsehen sowie Rock- und Popmusik tragen nicht nur auf der diskursiven Ebene zum gesellschaftlichen Diskurs bei, sondern auch auf der Ebene der präsentativen Darstellungsmittel wie Bilder, Töne, Musik, indem sie sowohl individuelle wie kollektive unbewusste Thematisierungssequenzen kommunizierbar machen. In dieser Funktion besitzen sie »symbolische Prägnanz« im Sinne Cassirers, der darunter die Art versteht, »in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt«.44 Die präsentativen Symboliken der populären Medien strukturieren die Rezeption und die Aneignung durch die Akteure im Hinblick auf symbolische Prägnanz vor und können so zu unmittelbaren ästhetischen Erlebnissen und Erfahrungen führen. Diese ästhetischen Erlebnisse finden gewissermaßen in einem Erfahrungsraum statt, der von »konjunktivem Erkennen«45 geprägt ist. »Dieser Erfahrungsraum bezeichnet einen durch gemeinsames Erleben konstituierten Weltbezug, auf den hin alle vergangenen und zukünftigen Erfahrungen innerhalb einer Gemeinschaft ausgerichtet sind«.46 Er bildet damit eine Grundlage kollektiver Orientierungen für mindestens zwei handelnde Subjekte, aber auch für Klein- und Groß-Gruppen sowie für Gemeinschaften und möglicherweise Gesellschaften, denn die »Kulturgemeinschaft ist […] die umfassendste Erweiterung einer konkreten, konjunktiven Erfahrungsgemeinschaft«.47 In diesem Erfahrungsraum spielen unmittelbar ästheti42
Ebd., S. 59.
43
Ebd., S. 60.
44
Cassirer 1982, S. 235.
45
Mannheim 1980, S. 211f.
46
Schäffer 1996, S. 26. Hervorhebung im Original.
47
Mannheim 1980, S. 226.
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sche, sinnlich-symbolische Erfahrungen eine zentrale Rolle. Sie liegen auf der Ebene sogenannter strukturidentischer Erfahrungen. Die in einer Situation gemeinsam Handelnden nehmen sich dabei als habituell oder stilistisch verwandt wahr, ohne dass sie dies kommunikativ manifestieren müssten.48 Ihr Handeln kann als eine Form kultureller Praxis gesehen werden, in der über das gemeinsame sinnliche Erlebnis implizit kommuniziert wird. Die Akteure kommunizieren und handeln auf einer Ebene, die nicht mit der rituellen Ebene des praktischen Sinns nach Bourdieu49 zu verwechseln ist, auf der praktisches Wissen eine Rolle spielt. Handeln auf der präsentativen Symbolebene in konjunktiven Erfahrungsräumen folgt keinem praktischen Wissen, sondern unbewussten Praxisfiguren sinnlicher Erfahrung. Dennoch hat es mit dem praktischen Wissen gemeinsam, dass es eng mit den »performativen Techniken des Alltags«50 verbunden ist. In der Kreativität »elementarer Ästhetiken«, wie Willis51 sie beschrieben hat, verbinden sich die unbewussten Praxisfiguren allerdings mit verschiedenen Wissensformen im Akt der Bedeutungs(re)konstruktion. Erst in dieser Kombination entsteht die von Gabriele Klein beschriebene »Ästhetisierung der Denkformen«. Darunter versteht sie das »Einbeziehen des Sinnenhaften in den Prozess des Erkennens, die Verbindung von Sinnlichkeit und Sinngebung«.52 Diese Ästhetisierung der Denkformen zeigt sich insbesondere in der Aneignung von Musik. In seiner Studie über »Jugend-Stile« kam Paul Willis zu der Erkenntnis, »dass die Sounds und Rhythmen der Popmusik tatsächlich in der Lage sind, bestimmte Arten von Bedeutung und von Lust zu tragen und in ihren Hörern bestimmte Gefühle zu erwecken«.53 Die präsentative Symbolik der Rockmusik ermöglicht ein »Verstehen ohne Sprache«. So spielen denn auch die Musik-Medien »in den verschiedenen Alltagssituationen eine weit größere Rolle als die BildschirmMedien«.54 Die ästhetische Dimension der Musik erhält ihren besonderen Wert durch die Schaffung geschützter Erfahrungsräume, von den eigenen Zimmern über Jugendzentren bis hin zur Clubkultur. Dabei spielt die präsentative Symbolform des Tanzes55 eine wesentliche Rolle, ist sie doch stark mit der Erfahrung und dem Erlebnis von Musik verknüpft. In diesen Erfahrungsräumen kann die Musik ihre ganze Kraft entfalten, denn die Songs »können als affektive Strategien benutzt werden, um mit den Erfahrungen des Alltagslebens klar zu kommen, sie zu bewältigen und erträglich zu machen«.56 Songs werden zum Schlüssel zu eigenen lebensgeschichtlichen Themen und Gefühlen und »zum Motto von aktuellen Situationen, Stimmungen 48
Vgl. Schäffer 1996, S. 27.
49
Bourdieu 1987, S. 147ff.
50
Klein 2001, S. 254.
51
Willis 1991, S. 38ff.
52
Klein 1999, S. 220ff.
53
Willis 1991, S. 85.
54
Barthelmes/Sander 1997, S. 195.
55
Vgl. dazu Klein 1999, S. 127ff.
56
Willis 1991, S. 85.
335
336
Lothar Mikos
oder Vorstellungen«57 – und sie vermitteln darüber hinaus das Gefühl, nicht allein auf der Welt zu sein, sondern sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen zu können. Diese Gemeinschaft ist zunächst nicht zu verwechseln mit jugendlichen Subkulturen oder jugendkulturellen Lebensstilen. Es ist stattdessen eine virtuelle Gemeinschaft, die sich um Medientexte wie Songs, Musikstile, Ästhetik von CD-Covern etc. bildet. Sie ist im Gegensatz zu sogenannten »realen« Gemeinschaften nicht an die körperliche Präsenz ihrer Mitglieder in einem Raum zu einem bestimmten Zeitpunkt gebunden. Ähnlich der »Fernsehgemeinde« als virtueller Gemeinschaft aller, die eine bestimmte Fernsehsendung schauen, bilden sich hier virtuelle bzw. imaginierte ästhetische Gemeinschaften, die allerdings zu »Geschmacksgemeinschaften« werden können, wie Scott Lash diese Formen posttraditioneller Vergemeinschaftungen bezeichnete: »Einer Geschmacksgemeinschaft anzugehören, die als wirkliche Gemeinschaft besteht, bedeutet gemeinsame Bedeutungen, Praktiken und Verpflichtungen. Es bedeutet, die Unterscheidung von Konsument und Produzent aufzuheben. Das gilt etwa für die Fans von Janes Addiction, die den Auftritten der Gruppe in Großbritannien folgen und auch bei Vorstellungen auf dem Kontinent dabei sind; sie kleiden sich wie die Gruppe, schreiben Fanpost und geben manchmal die Fanzines heraus. Das ist eine Gemeinschaft«.58 Denn die Fans handeln, wie Lash unter Bezugnahme auf Bourdieu feststellt, als soziale Akteure in einem Feld, in dem sie zugleich Produzenten und Konsumenten eines kulturellen Produkts sind.59 Populäre Medien dienen gewissermaßen als Rohmaterial, das subjektiv bearbeitet wird, sie »sind gleichsam Requisiten, mit denen die eigenen und als authentisch erfahrenen Gefühle erzeugt werden«.60 Das spielt insbesondere bei der Aneignung von Musik eine Rolle, denn »die Musikvorlieben orientieren sich nicht nur an der Musik, sondern auch an den Stilen jugendkultureller Szenen und Ausdrucksformen«.61 Das Konzept der »Proto-Gemeinschaften« von Paul Willis ist gewissermaßen zwischen den imaginierten Gemeinschaften und den »wirklichen« Geschmacksgemeinschaften (Lash) angesiedelt: »Es sind soziale Gruppen, die nicht durch direkte Kommunikation, sondern durch gemeinsame Stile, Moden, Interessen, Gefühle, Positionen und Leidenschaften verbunden sind – an denen sie bisweilen simultan durch die Kommunikationsmedien ›über den Äther‹ teilhaben«.62 Betont wird hier der gemeinschaftsbildende Charakter der kulturindustriellen Produkte, wie er sich am deutlichsten wohl in den sogenannten Fankulturen zeigt, die sich innerhalb subkultureller Zusammenhänge oder jugendlicher Lebensstile um einzelne populäre Texte wie Bands (siehe das Beispiel Janes Addiction bei Lash), 57
Barthelmes/Sander 2001, S. 108.
58
Lash 1996, S. 273f.
59
Vgl. Lash 1996, S. 274.
60
Eckert/Reis/Wetzstein 2000, S. 402.
61
Barthelmes/Sander 2001, S. 108.
62
Willis 1991, S. 175.
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Fernsehserien, Filme oder Sportstars bilden.63 Solche Fankulturen »basieren auf kommunikativen Konstellationen zwischen populären Texten und aktiven Aneignungsprozessen der Konsumenten«.64 Die Gemeinschaftsbildung spielt dabei eine wichtige Rolle, denn Fans »ziehen scharfe Trennlinien zwischen dem, was in ihren Fanbereich gehört, und dem davon Ausgeschlossenen«.65 Das trifft vor allem auf jugendliche Fans zu, die sich einerseits von den Erwachsenen abgrenzen und andererseits ihre Gruppenzugehörigkeit deutlich markieren.66 Fans konstituieren sich über distinktive ästhetische Differenzprozesse. Die starke Betonung auf diesen Gruppenprozessen in den jugendlichen Subkulturen bzw. in den sich um jugendliche Lebensstile bildenden Gemeinschaften67 übersieht, dass Individualität eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. David Muggleton hat in seiner empirischen Subkulturstudie, in der er die klassischen Subkulturkonzepte einer kritischen Revision unterzog, denn auch festgestellt, dass Subkulturen »Manifestationen von Selbstausdruck, individueller Autonomie und kultureller Vielfalt« sind.68 Aus dieser Spannung zwischen Individualität und Gruppenbindung in der Aneignung von Kulturwaren entsteht die besondere Attraktivität von präsentativen symbolischen Ausdrucksformen wie Musik. Denn im konjunktiven Erfahrungsraum kann der Musikkonsument sich zugleich im gemeinsamen Weltbezug als Mitglied einer Geschmacks- oder Protogemeinschaft, einer jugendlichen Subkultur, eines jugendkulturellen Lebensstils fühlen und sich in seiner individuellen Autonomie und seinem Selbstausdruck bestärkt sehen. Diese Spannung kennzeichnet nicht nur das authentische Gefühl des Erlebens von Musik im konjunktiven Erfahrungsraum, sondern auch die Aneignung der Musik in den sozialen Strukturen der Lebenswelt. Sie ist einer der Gründe für das Vergnügen an den populären Medien.
Schlussbemerkungen Dieses Vergnügen zeigt sich insbesondere in Fanpraktiken und der »Liebe« zu populären Stars. Cornel Sandvoss hat Fansein als einen »Spiegel des Konsums« bezeichnet, denn darin spiegeln sich die Strukturen der populären Kultur. Fansein als kultureller Praxis kommt daher eine wichtige Bedeutung zu: »In its proliferation, its growing importance in the construction of identity and its social and cultural classification, fandom has something to say about the very substance, premisses and consequences of contemporary life«.69 Das Vergnügen an populärer Musik und ihren Protagonisten 63
Vgl. Fiske 1997, Winter 1997.
64
Mikos 1994, S. 38.
65
Fiske 1997, S. 58.
66
Vgl. Winter 1997, S. 46.
67 Vgl. dazu Vollbrecht 1997. (Auf die Unterschiede zwischen beiden Konzepten kann hier nicht näher eingegangen werden). 68
Muggleton 2000, S. 167.
69
Sandvoss 2005, S. 4.
337
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Lothar Mikos
resultiert unter anderem aus den informellen Lerneffekten und dem symbolischen Ausdruck, die mit der Aneignung der Objekte popkultureller Begierden einhergehen. Populäre Musik und populäre Medien dienen als Ausdruck nicht nur einer persönlichen Lebensphilosophie des Konsumenten und der Konsumentin, sondern in der Aneignung können allgemeine Aspekte der Regulierung von sozialen Beziehungen und der Auffassungen von Arbeit und Leistung verhandelt werden.70 Der amerikanische Kulturwissenschaftler Lawrence Grossberg71 hat am Beispiel der Rockmusik gezeigt, wie das affektiv sinnliche Erleben der Musik das Gefühl vermitteln kann, eine gewisse Kontrolle über das eigene Leben zu haben und somit zur affektiven Ermächtigung der Menschen beitragen kann. In diesem Sinn haben populäre Medien eine mehrere Lebensbereiche umfassende wichtige Funktion im Prozess der Sozialisation und der Konstruktion von Identität. Sie tragen zur ästhetischen, kulturellen und sozialen Bildung bei, auch wenn sie das moralische Empfinden der an einer Hochkultur orientierten bürgerlichen Elite verletzen. Sie dienen als kommunikative Ressource. In der weiteren kommunikativen Aneignung werden anhand der populären Medien und der Popkultur die Normen und Werte der Gesellschaft vor dem Hintergrund der eigenen Lebensbedingungen verhandelt. Darin liegt ihr wesentlicher Nutzen für die Sozialisation. Gerade für die Medien- und Kulturforschung ist es wichtig, genauer auf die Prozesse der Aneignung zu schauen, weil erst durch die Kenntnis der mit dem Vergnügen an populären Texten verbundenen Lernprozesse die gesellschaftliche Bedeutung populärer Medien und der Popkultur erfasst werden kann. Dazu gehören neben musikzentrierten Kulturen auch viele Formen aktueller Fernsehkultur.
70
Vgl. Wegener 2008, S. 382ff.
71
Grossberg 1992, S. 85.
Ordinary People Gewöhnliche Leute als Unternehmer ihrer Popkultur
Katja Kaufmann und Carsten Winter
Im Fokus unserer Diskussion stehen nicht klassische Unternehmer und ihr kommerzielles Handeln, sondern die »gewöhnlichen« Leute in ihrem sich medial verändernden Alltag. Wir werden zeigen, warum sie in diesem Alltag zu Unternehmern ihrer Popkultur werden, je mehr sie ihren Alltag und darüber ihre Popkultur mit digitalen Netzwerkmedien1 verändern. Erstmalig in der Geschichte der Medienkultur ist der Umgang gewöhnlicher Leute mit diesen neuen digitalen Netzwerkmedien nicht mehr »banal« im Sinne von Meaghan Morris2, die Cultural Studies-Forschung kritisierte, insofern sie nur bestätigt, was wir seit Williams3 und hierzulande spätestens seit dem Konstruktivismus4 wissen: Unsere Sozialisation, Gefühle, Überzeugungen und gesellschaftlichen Beziehungen fließen in unsere Orientierung, Wahrnehmung und »decoding-Praktiken« immer ein, was sie kulturell einzigartig macht. Das gilt insbesondere für unseren Umgang mit Popkultur. Sie wird üblicherweise als kreative Aneignungskultur in der Tradition der Cultural Studies verstanden von Williams über Hall und Fiske bis zu John Storey5, mit dem wir hier für expansive und inklusive Cultural Studies plädieren6. Popkultur ist demnach ein kommerziell konstituierter Zusammenhang immer glokalerer »encoding«- und »decoding«-Prozesse, ein »kommerzialisierter«, gesellschaftlicher Bereich, wie Christoph Jacke mit Bezug auf Storey in dieser Traditionslinie argumentiert, in dem »industriell produzierte« und »medial vermittelte« Themen von überwiegenden Teilen der Bevölkerung – egal, welcher 1 Diese Klassifikation von digitalen Netzwerkmedien als Quartärmedien geht auf die am Einsatz von Technologie ansetzende Unterscheidung von Medien nach Harry Pross (1970) zurück. Danach sind Primär- oder Menschmedien, wie zum Beispiel Träger medialer Rollen wie »Prediger« oder »Prophet«, dadurch charakterisiert, dass sie zur Produktion öffentlicher Kommunikation ohne Tech nologie auskommen, während Sekundär- oder Druckmedien, wie Zeitschrift oder Buch, Technologie zur Produktion von medialer Kommunikation benötigen. Tertiär- oder elektronische Medien, wie Radio oder Fernsehen, wiederum benötigen Technologie zur Produktion und Reproduktion. Quartär- oder digitale Netzwerkmedien erfordern zusätzlich zu Technologie zur Produktion und Reproduktion noch Software sowie Übertragungs-Technologie. 2
Morris 2003.
3
Williams 1983.
4
Schmidt 1994.
5
Storey 2003.
6
Ebd., S. 179f.
340
Katja Kaufmann und Carsten Winter
Schicht oder Klasse zugehörig – mit Vergnügen »genutzt und weiterverarbeitet« werden7. Irgendwann war es »banal« zu wissen, dass Leute industriell produzierten und medial vermittelten Inhalten nicht entweder rein affirmativ oder oppositionell gegenüberstehen (ähnlich wie sie für oder gegen zum Beispiel eine religiöse kulturelle Orientierung waren) und sie Angebote der Popkultur eigensinnig, widerspenstig und mit Vergnügen nutzen und weiterverarbeiten. Heute ist es für einige fast schon banal, dass gewöhnliche Leute Kulturunternehmer werden, Teil einer neuen »kreativen Klasse«, die ständig wächst und deren Vertreter Kultur auch ohne kommerzielle Interessen zum Vergnügen anderer produzieren und verteilen. Popkultur ist heute nicht mehr so ausschließlich wie vor sieben Jahren »kommerziell« und »industriell produziert«. Der Ausdruck »Unternehmer« im Titel »Gewöhnliche Leute als Unternehmer ihrer Popkultur« deutet nicht an, dass das Unternehmertum im herkömmlichen Sinn den Alltag gewöhnlicher Leute durchdrungen hat oder dass wir als Autoren besonders zynisch sein wollen. Er bringt auf den Punkt, was wir als wichtigsten empirischen Befund der aktuellen Transformation der oben beschriebenen von einigen wenigen für viele andere produzierten und verteilten »Push-Popkultur« in eine neuartige »Pull-« oder »On-Demand-Popkultur« vorstellen und diskutieren wollen: Der Umgang gewöhnlicher Leute mit digitalen Netzwerkmedien ist nicht mehr angemessen als »decoding« im Sinne Halls zu verstehen, und er ist auch nicht mehr »banal« im Sinne von Meaghan Morris. Denn dieser Umgang kann gewöhnliche Leute zu Produzenten und Verteilern und deshalb zu Kultur-Unternehmern machen; zu Leuten, die Bedeutungen kreativ arrangieren, verändern, hinterfragen usf. und sie dann medial, also überpersonal für andere wahrnehmbar verteilen. Entscheidend ist, dass sie, obwohl sie nun produzieren und verteilen, nicht als Kulturunternehmer im herkömmlichen Sinn verstanden werden können, weil sie nicht unbedingt kommerziell, also allein für Geld tätig sind. Diese neuen Kulturproduzenten und -verteiler kennzeichnet vielmehr oft ihre Marktferne und ihre Verwobenheit mit ganz anderen sozialen und medial konstituierten Netzwerken und Produktions- und Tausch-Zusammenhängen, in denen immer mehr als »Gabe« gegeben wird, weil dieses Geben kaum noch Transaktionskosten erzeugt. Auch deshalb geht es mehr als jemals zuvor in diesen Netzwerken um soziale und kulturelle Produktivität und darum, neue Freiräume und Möglichkeiten zu produzieren, zu verteilen, zu tauschen, zu schenken und dabei zusammenzuarbeiten – wobei hier die notwendig auch entstehenden Zwänge nicht übersehen werden sollen, die im Zuge der Generalisierung von Erwartungen an den Umgang mit neuen Medien immer entstehen8. 7
Vgl. Jacke 2004, S. 10.
8 Vgl. dazu ausf. Winter (2008), wo gezeigt und entfaltet wird, warum die Entwicklung von Medien immer zugleich neue Freiräume und Zwänge begründet: Sie setzen als alternative Formen von und für mediale Kommunikation bestehende unter Druck. Über ihre Verbreitung entsteht partiell immer auch die Erwartung, sie zu nutzen.
Ordinary People
Maßgeblich ist die Produktion und Verteilung von bedeutsamer Kommunikation als Kultur auch im Sinne von Michel de Certeaus Theorie der Alltagspraktiken und der Kunst des Handelns in der Populärkultur9. Am Beispiel einer Formulierung von John Storey in diesem Argumentationszusammenhang lässt sich gut zeigen, wie sehr sich aktuell die Bedingungen und Voraussetzungen der Produktion und Verteilung der Popkultur verändern. 2003 betont Storey noch: »Wir müssen […] nicht nur begreifen, wie die Produktion ein bestimmtes Sortiment von Waren für den Konsum produziert, wir müssen auch begreifen, auf welch vielfältige Weisen die Menschen diese Waren aneignen, bedeutsam machen und verwenden, sie in den gelebten Alltagspraktiken zu Kultur machen«10. Wir meinen, dass es heute genau daran fehlt; an einem Verständnis der sich verändernden Bedingungen und Folgen medialer Produktion und Verteilung der von gewöhnlichen Leuten für gewöhnliche Leute täglich produzierten und verteilten bedeutsamen Orientierungen, Angebote und Informationen. Eine neue Reflexion – auch und gerade in der Wissenschaft – kann jedoch erst dann einsetzen, wenn wir Begriffe entwickelt und erprobt haben, mit denen etwas Neues als Neues unterscheidbar entdeckt, erforscht, beschrieben und dargestellt werden kann. Die folgenden drei Kapitel arbeiten heraus, was für gewöhnliche Leute als Unternehmer ihrer Popkultur jetzt dieses »Neue« ist: Neu ist zunächst, dass die Produktion von Orientierung und Bedeutsamem als Kultur nun immer mehr das Ergebnis alltäglicher Kreativität wird – einer Kreativität, die bislang noch keine Bedingung der Produktion und Verteilung von Popkultur war. Neu sind weiter der Ort, die Reichweite und Unmittelbarkeit der mit digitalen Netzwerkmedien konstituierten Popkultur im »Raum der Ströme«11, dessen Gestaltung die Voraussetzungen und Bedingungen der Selbstverhältnisse gewöhnlicher Leute verändert. Deshalb wandelt sich in der Folge auch die Beziehung des Einzelnen zu klassischen Unternehmen: Denn als Unternehmer seiner eigenen Popkultur in digitalen Netzwerkmedien werden seine Möglichkeiten strategischer, während Unternehmen nur die Taktik bleibt, wie abschließend vor einer kurzen Kritik der Popkulturforschung und einem kleinen Fazit argumentiert wird.
Kulturproduktion als Ergebnis alltäglicher Kreativität Die Veränderungen im alltäglichen Umgang von gewöhnlichen Leuten mit Medien sind vor dem Hintergrund einiger tiefgreifender interdependenter Entwicklungen zu sehen. Die zunehmende weltweite Vernetzung von Menschen und Daten im Sinne einer technischen und medialen Konnektivität12 verändert unsere Gesellschaft und
9
Vgl. Winter, 2007, S. 260.
10
Storey 2003, S. 171.
11
Castells 2001, S. 431–484.
12
Vgl. Hepp et al. 2006.
341
342
Katja Kaufmann und Carsten Winter
unser gesamtes Leben. Castells13 konzeptualisiert diese Transformation als »Aufstieg einer Netzwerkgesellschaft«, in der der Umgang mit Kommunikation in Form von Informationen und Orientierung der zentrale Wertschöpfungsfaktor wird. Die hier agierenden Menschen sind nach Florida14 immer häufiger Teil einer sogenannten »Kreativen Klasse«, deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Akteure ein gewandeltes Verständnis ihrer kreativen Wertprozesse leben, indem sie selbstständiger und eigenmotivierter wertschöpfen, als es vergleichbare Akteure bisher taten. Tatsächlich wird Kreativität in der Netzwerkgesellschaft zu einem Kernkonzept, da die die Konnektivität konstituierenden Medien jedem (beinahe) unabhängig von technischer Ausstattung und Know-how erlauben, Wissen und Kultur zu produzieren und zu verteilen. Mit Williams hat diese Kreativität, diese »schöpferische Vorstellungskraft«15 zu Recht nichts mit dem traditionellen Genie-Begriff zu tun, sondern es ist die Fähigkeit zu einem alltäglichen Gestaltungs- und Entwicklungsprozess, der durch Netzwerkmedien nun einfach viel offenbarer werden kann. Früh hat er gezeigt, dass »die Realität, so wie wir sie erfahren, eine menschliche Schöpfung darstellt, dass unsere gesamte Erfahrung eine menschliche Version der Welt ist, in der wir leben«16 und die wir im Modus der Kommunikation fortwährend verändern. Konzepte wie »Produsage«, »Prosumer« oder »Web2.0« machen diesen Wandel im Umgang mit Medien greifbar, der keine klassische Nutzung oder Rezeption mehr ist, sondern eben ein Schaffungs-Prozess. Immer häufiger entstehen dabei nutzergemachte Medienangebote, die als Konkurrenzprodukte zu proprietär hergestellten Kulturangeboten auftreten und leicht zigtausende und sogar Millionen erreichen können, die diese wiederum weiterentwickeln und kommentieren können. Castells17 identifiziert diese Reichweite einfacher Menschen in ihrer Mediennutzung als neue Quelle von Macht. Ihm zufolge ist Macht in der Netzwerkgesellschaft insbesondere und vor allem Macht über Kommunikation durch Macht über Medien. Sowohl das Gefüge der Macht als auch das Gefüge der Medien verschiebt sich mit der Verbreitung digitaler Netzwerkmedien aktuell zugunsten gewöhnlicher Leute, sodass Castells18 ihnen neue Möglichkeiten der »mass self-communication« als eine neue, nur ihnen eigene Form von Macht zuerkennt. Hier befinden sich Einzelne auch in Hinblick auf das Netzwerk in veränderten Machtpositionen und erreichen möglicherweise sogar die Positionen von »Programmers« oder »Switchers«19. Diese neuen Phänomene zeigen sich etwa in Form von Blogs oder auch an so grundlegenden Kulturgütern wie einer Enzyklopädie. Bekanntestes Beispiel ist die 13
Castells 2001.
14
Florida 2002.
15
Williams 1983, S. 31.
16
Williams 1983, S. 23, Hervorhebung im Original.
17
Castells 2009.
18
Ebd.
19
Ebd.
Ordinary People
freie Online-Enzyklopädie Wikipedia, die in der Lage war, sich gegen die altehrwürdige Encyclopedia Britannica durchzusetzen. Benkler20 bezeichnet solche Produktionsprozesse als »Commons-based Peer Production« und erkennt Kreativität ebenfalls als Grundeigenschaft für den Umgang eines jeden Menschen mit Kultur an: »If we are to make this culture our own, render it legible, and make it into a new platform for our needs and conversations today, we must find a way to cut, paste, and remix present culture.«21. Wer hätte sich so etwas vor 15 Jahren vorstellen können? Wer hätte es selbst vor zehn Jahren bei der Gründung des Wikipedia-Projekts für möglich gehalten? Für viele ist es sogar heute noch unverständlich. Und doch ist es unsere Realität, in der wir alle leben, unsere Kultur, die bedeutsam für uns ist und die wir alltäglich selbst mit unserer eigenen Kreativität entwickeln. Der zentralste und offenkundigste Befund unserer Betrachtung dieser neuen Popkultur ist die Tatsache, dass diese neuen medialen Produktions- und Verteilungsprozesse immer mehr zu (Re-)Konstituenten unserer Beziehungen und wir damit zu den Produzenten unserer eigenen Kultur werden. Unser Alltag ist heute im Prozess der »Mediatisierung«22 mehr denn je mit dieser neuen Gruppe von Medien – den Netzwerkmedien – verbunden. Der Umgang mit diesen Netzwerkmedien ist ein ganz anderer als der mit Sekundär- oder Tertiärmedien, bei denen die Produktion, Vernetzung und Gestaltung von Inhalten und Beziehungen durch gewöhnliche Leute einfach nicht denkbar war, und führt vielmehr zum »Aufstieg einer neuen Beziehungskunst«23. Immer mehr Beziehungen sind medial konstituiert, immer seltener existieren Verbindungen über einen »Bedeutungszusammenhang, der kulturell als unverrückbar gilt«24. Stattdessen entwickeln Menschen in medial konstituierten Netzwerken ihre Beziehungen unabhängig von Raum und Zeit25. Es gibt nicht mehr die eine Kultur, denn »[w]as uns zunehmend kulturell zugehörig macht und kulturell unterscheidet, sind unser Umgang mit Bedeutung und von uns geschaffenen Bedeutungs-Arrangements und Konnektivitäten, die ein immer größerer Teil unserer Kultur werden«26. Zentral für das Verständnis dieser neuen Vorgänge und der Relevanz kreativer Gestaltung ist die Erkenntnis, dass Mediennutzung mit digitalen Netzwerkmedien vor allem Medienentwicklung ist, sowohl als Entwicklung der Kommunikationsinhalte als auch als Entwicklung der Medien als einer spezifischen technologischen und kulturellen Form selbst27. Denn Technologie kann ihr Potenzial nicht aus sich selbst 20
Benkler 2006.
21
Ebd., S. 300.
22
Krotz 2007.
23
Vgl. Winter 2006a.
24
Winter 2011.
25
Winter 2006a.
26
Winter 2011.
27
Vgl. Williams 2003.
343
344
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heraus nutzen; Möglichkeiten zur Mediennutzung entstehen nicht einfach bloß oder werden nur entdeckt. Stattdessen geht der Nutzung von Medien bereits ein Handeln voraus, das diese Medien erst erschafft: durch die »generative Kraft« »tüchtig sozial Handelnder«, die als Virtualität bezeichnet werden kann28. Diese Fähigkeit, Virtualität zu schaffen und zu nutzen, ist nichts anderes als die alltägliche Kreativität nach Williams29, deren Kern auch Bröckling in der Phantasie »als Vermögen zur Vergegenwärtigung des (noch) Nichtexistenten«30 sieht. Kulturproduktion wird so auch in sozialer Hinsicht immer mehr zum Ergebnis alltäglicher Kreativität.
Digitale Netzwerkmedien als Produktionsmittel mediatisierter Selbstverhältnisse Jeder Umgang mit Medien ist heute also eine Medienentwicklungsherausforderung für gewöhnliche Leute. Was bedeutet diese Herausforderung nun aber für Menschen und ihre Beziehungen, ihr Selbstkonzept und ihre Selbstverhältnisse? Welche Rolle spielt Mediatisierung für deren Umgang mit Bedeutung in der Alltags- und Popkultur? Wie werden hier neue kulturelle Selbstverhältnisse möglich? So, wie sich unser Alltag, unser gesamtes Leben mediatisiert, durchdrungen wird von Medientechnologie, so ist auch die Gestaltung von Selbstverhältnissen ein zunehmend mediatisierter Prozess, in dem angesichts der beschriebenen Veränderungen mehr Freiraum, aber auch mehr Eigenverantwortung besteht. Sloterdijk spricht nicht umsonst von einer »anthropotechnischen Wende«31, in der eine Elastizität von Selbstverhältnissen nötig werde. Anders als bei vorhergehenden Epochenwechseln geht es diesmal nicht um eine einmalige Anpassung, eine Kurskorrektur. In einer mediatisierten Netzwerkgesellschaft, die auf Kreativität und Entwicklung beruht, ist vielmehr tatsächlich eine »neue Beziehungskunst«32 gefragt, als Fähigkeit, Beziehungen zu Menschen, Kultur und Ideen zu gestalten. Genauso ist hier aber die Gestaltung der eigenen Selbstverhältnisse nötig, denn auch sie sind nicht mehr festgelegt durch nicht selbstverantwortete Merkmale wie Rasse, Klasse oder Nationalität33. Stattdessen findet der Einzelne sich in einem Prozess neuer Verantwortlichkeit für die Gestaltung des eigenen Selbst und seiner Selbstverhältnisse wieder, die nun möglich, aber eben auch nötig wird durch eigenes, freies, genuin kreatives, im oben beschriebenen Sinn, virtuelles Handeln, das zunehmend in und mit Medien stattfindet und sich über den Entwicklungscharakter definiert. Die Relevanz seines Handelns für seine Selbstver28
Winter/Dürrenberg 2011, S. 8.
29
Williams 1983.
30
Bröckling 2007, S. 156.
31
Sloterdijk 2009, S. 9–36.
32
Winter 2006b.
33
Vgl. ebd.
Ordinary People
hältnisse ist dem Einzelnen dabei durchaus bewusst, wie diese Selbstreflexion eines jungen Mannes zu seiner Social-Media-Nutzung erkennen lässt: »Und auch, wenn Facebook das Gegenteil behauptet, geht es erst mal gar nicht um die Inhalte: Bei allem, was ich dort tue, schwingt – vielleicht, das will ich gar nicht ausschließen, nur in meinem Kopf – immer das Bild mit, das ich dabei von mir anlege. Bei dem das, was ich aktiv an Notizen, Links und Fotos poste, nur ein kleiner Teil ist. Genauso wichtig sind Freundeslisten, Profilbild, Gruppenmitgliedschaften, Kommentare, wann man bei wem den ›Gefällt mir‹-Button klickt, und so weiter und so fort: Alles, was ich tue, wird sofort ans gesamte Netzwerk übermittelt. […] [Dieser Ausschuss], von dem ich einerseits glaube, dass Leute ihn sehen wollen, aus welchen Gründen auch immer, von dem ich andererseits aber auch denke, er könnte meinem Publikum etwas über mich erzählen, was sie sonst vielleicht nicht erzählt bekämen. Und von dem ich glaube, er könnte den Leuten etwas über mich erzählen, was ich ihnen gerne erzählen würde, das ist wichtig, glaube ich.«34
Creators
Critics
Collectors
Joiners
Spectators
Inactives
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The Social Technografics ladder nach Li, Bernoff (2008), S. 43
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Fischer 2010, S. 27–30.
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Katja Kaufmann und Carsten Winter
Als Medienentwickler, als tüchtig sozial Handelnde haben ganz normale Leute heute also viel größere Freiheiten zur Gestaltung ihrer Selbstverhältnisse, ihrer Kultur und ihrer Beziehungen als je zuvor. Sie können bestimmen, welche Formen von Kommunikation sie nutzen. Dass es hier tatsächlich individuelle Vorlieben für bestimmte Formen von Kommunikation gibt, veranschaulicht auch die »Social Technographics Ladder« des Marktforschungsinstituts Forrester Research sehr gut35. Die Social technographics ladder unterteilt sechs Gruppen: Angefangen von den »Inactives« über die »Spectators«, »Joiners« und »Collectors« bis hin zu den »Critics«, den »Conversationalists« und schließlich den »Creators« benutzen Menschen demnach verschiedene Gruppen von Medien und handeln in ihnen unterschiedlich. Diese Unterteilung ist dabei nicht als neue Form von Zielgruppensegmentierung zu sehen. Vielmehr macht die »Ladder« deutlich, dass Menschen sich selbst ganz unterschiedliche Möglichkeitsräume eröffnen, die sicherlich auch Kompetenzräume sind. Denn der Raum, der hier durch digitale Netzwerkmedien erstmalig als »Raum der Ströme«36 greifbar wird, der endlos ist, immer »da« und in dem Abstände nicht mehr in Metern gemessen werden können, eröffnet völlig neue Möglichkeiten und erfordert völlig neue Kompetenzen. In diesen neuen Räumen gestalten nicht nur Künstler, wie etwa Musikschaffende, sondern immer mehr gewöhnliche Leute mit ihrem Handeln in kulturellen Produktionsprozessen selbst. Lash und Lury bezeichnen diese Metamorphose des Umgang mit Medien als »Thingification of media«37, durch die andere mediale Produktionsprozesse möglich werden und durch die kulturelle und soziale Werte an die Stelle von ökonomischen Werten treten können. Medien sind also nicht nur reine Technologien, sondern haben weitaus mehr auch mit Kultur zu tun, weshalb es sich umso mehr lohnt, zwischen technologischer und kultureller Form eines Mediums zu unterscheiden, wie es sich bereits bei Williams38 findet. Medien sind nicht mehr (nur) technologische und kulturelle Formen von und für Vermittlung. Sie sollten, so Williams, zusätzlich als Instrumente zur Veränderung der Bedingungen dieser Vermittlung sowie der Vermittlung selbst verstanden und konzeptualisiert werden. Medien sind demnach technologische und kulturelle Formen und als ›Mittel‹ variable Konstituenten gesellschaftlicher Beziehungen. Der selbstständige, frei entscheidende Unternehmer, der gleichzeitig keine Wahl hat als zu handeln, scheint hier ein gutes Sinnbild für die Verantwortung, der sich der Nutzer heute gegenüber sieht. Denn ein Unternehmer ist tatsächlich nichts anderes als ein kreativ Handelnder: »Der kreativ Handelnde gleicht demnach einem erfolgreichen Unternehmer: Er spekuliert auf die Zukunft und sucht seine Chancen jenseits
35
Bernoff 2010; vgl. auch Li/Bernoff 2008 und siehe Abb. S. 345.
36
Castells 2001.
37
Lash/Lury 2007, S. 85–108.
38
Williams 2003.
Ordinary People
der ausgetretenen Pfade.«39. Zuerst findet sich dieses Verständnis des Unternehmers bei Schumpeter. Er erkennt dessen besondere Funktion in der »Neu- und Anderskombination von Produktionsmitteln40 die später zur »schöpferischen Zerstörung«41 wird. Schumpeters »Unternehmer« ist auch heute noch Sinnbild eines aktiven und gestaltenden Unternehmers, eine Gestalt, wie Bröckling richtig beschreibt: »die aus vertrauten Routinen ausbricht und neue Wege beschreitet, doch sieht er [Schumpeter] in ihm weniger den findigen Spekulanten als den schöpferischen Zerstörer und Innovator«42. Diese Definitionen von Unternehmertum beschreiben also in der Tat heutiges Medienhandeln. Ja, steckt nicht in Schumpeters »»Blick« […] die Fähigkeit, die Dinge in einer Weise zu sehen, die sich dann hinterher bewährt, auch wenn sie im Moment nicht zu begründen ist, und das Wesentliche fest und das Unwesentliche gar nicht auffasst«43 bereits die »Virtualität« heutiger Mediennutzer, wenn diese gestalterisch und verantwortlich tätig werden wollen44? Entsprechend dürfen wir uns verabschieden vom Nutzer als Certeaus »verkannte[m] Produzenten«45, der bereits Kultur konstituiert, geschaffen, kreiert und bestehende kulturell bedeutsame Beziehungen in Frage gestellt hat – nur leider ohne, dass es für viele andere sichtbar und bedeutsam werden konnte. Hingegen verändert der Umgang mit Quartär- oder digitalen Netzwerkmedien – als einer zur Produktion und zur Verteilung von etwas – kulturelle Praktiken und den Umgang mit Bedeutung grundlegend, da dies viel sichtbarer und folgenreicher für andere sein kann. Deshalb ist es nicht mehr banal im Sinn von Meaghan Morris. Ganz im Gegenteil: Weil die bislang fast ausschließlich industrielle und kommerzielle Produktion und Verteilung der Artefakte und Bedeutungen die Popkultur ergänzt und transformiert, sollte der Nutzer mehr denn je auch als Unternehmer verstanden werden, als zunehmend maßgeblicher Protagonist der sich verändernden Popkultur.
Vom Taktiker zum Strategen: Das Selbst muss gestaltet werden Durch die Gestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeit ist diese neue Art der Mediennutzung also kein Umgang mit Bedeutungen mehr, sondern ein produktives Entwickeln von Kultur, das man als strategisches Handeln bezeichnen könnte, denn Strategie ist nach Certeau definiert über das Verfügen von Macht, durch die Mög39
Bröckling 2007, S. 169.
40
Schumpeter 1997, Kap. 2.III insbes. S. 116.
41
Schumpeter 2005, S. 138.
42
Bröckling 2007, S. 115.
43
Schumpeter 1997, S. 125.
44
Vgl. Winter/Dürrenberg 2011.
45
Winter 2007, S. 30.
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lichkeit, einen Ort als und für etwas Eigenes schaffen zu können: »Als Strategie bezeichne ich die Berechnung (oder Manipulation) von Kräfteverhältnissen, die in dem Moment möglich wird, wenn ein mit Willen und Macht versehenes Subjekt (ein Unternehmen, eine Armee, eine Stadt oder eine wissenschaftliche Institution) ausmachbar ist. Sie setzt einen Ort voraus, der als etwas Eigenes beschrieben werden kann.«46. In Netzwerkmedien beschreiben Nutzer mediale Orte als etwas Eigenes. Das unterscheidet beispielsweise Plattformbetreiber, die eine Gestaltung entsprechender »Orte« durch gewöhnliche Leute als Geschäftsmodell haben, von MedieninhalteAnbietern und macht sie oft sehr erfolgreich, wie zum Beispiel zuerst MySpace und heute vor allem Facebook: Nach dem Lesen, Schreiben und im Netz »surfen« lernen Nutzer heute digitales Publizieren als neue Kulturkompetenz, die die gestalterisch tüchtige Generation Internet für sich entdeckt hat – hier wird vieles virtuell neu möglich und kann neu und inhomogen integriert werden47 – und macht also die Gestaltenden zu Strategen in der Popkultur. Auch immer mehr klassische Unternehmen finden sich plötzlich in der Position wieder, mit etwas umgehen zu müssen, was nicht mehr ihnen, sondern den Nutzern als neuen »Kulturunternehmern« gehört. Sie stellen zwar noch die Technologie zur Verfügung, aber die Entwicklung und Gestaltung geschieht durch den einzelnen Nutzer, an dessen eigenem Ort Unternehmen dann wiederum in Form von Werbung o. Ä. aktiv werden (möchten). Ihnen bleibt dabei jedoch entsprechend Certeaus Definition nur die Taktik: »Im Gegensatz zu den Strategien […] bezeichne ich als Taktik ein Handeln aus Berechnung, das durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt ist […] Die Taktik hat nur den Ort des Anderen«48. Oder besser: sollte es demnach die Strategie von Kulturunternehmen heute sein, taktischer zu werden, indem sie Nutzern Orte für strategisches Handeln geben? Und was heißt es nun für den Einzelnen, strategisch zu handeln? Worauf bezieht sich diese Strategie? Welche neuen Herausforderungen stellen sich ihm? Strategisch zu handeln heißt, wie oben definiert, einen eigenen Ort im neuen Raum der Ströme zu entwickeln, zu besitzen und natürlich auch zu teilen. Aber bedeutet das im Umkehrschluss nicht auch, dass man sich nicht länger auf Fremdes, auf Orte des Anderen in seinem Handeln verlassen oder beziehen kann? Der ganz normale Nutzer ist also nicht nur zum entwickelnden Unternehmer geworden, nein, er steht damit nun viel stärker in der Verantwortung, denn er muss gestalten, sonst existiert kein eigener Ort und damit auch kein eigenverantwortlich veränderbares Selbstkonzept, keine Selbstverhältnisse, die heute erwartet und zugleich kaum mehr von außen vorgegeben und/oder an fremden Orten verankert sind. Hier liegt die große Herausforderung für gewöhnliche Leute in einer media46
Certeau 1988, S. 87, Hervorhebung im Original.
47
Vgl. Winter 2006b.
48
Certeau 1988, S. 89, Hervorhebung im Original.
Ordinary People
tisierten Welt: Sie müssen die Kompetenzen besitzen (bzw. sich aneignen), Medien zu entwickeln und so Orte für Eigenes zu gestalten. Sie müssen Kreativität einsetzen, um größtmögliche Virtualität für Medien zu entfalten. Ja, sie haben kaum eine andere Wahl, als ihre Möglichkeiten zu nutzen, um ihr Selbstkonzept, ihre Beziehungen und ihre Kultur zu gestalten. Wieder einmal scheint Durkheims Frage auf, die ja bekanntlich als Problemstellung die Soziologie maßgeblich mitbegründet hat: Wie kann es sein, dass wir zugleich immer freier und abhängiger werden? Denn all diese Möglichkeiten bringen eben nicht nur mehr Freiheit, sondern auch neue Zwänge. Strategischer zu werden bedeutet vor allem, verantwortlicher zu werden für Macht, Freiheit und Zwang. Es geht um die eigene Leistungsfähigkeit und die Wahrscheinlichkeit, an Kommunikationsprozessen beteiligt zu sein, ohne die kein Entwickeln von Medien stattfindet. Wenn jeder Umgang mit Medien heute für gewöhnliche Menschen ein Akt der Medienentwicklung ist, dann braucht es hinter dem einzelnen Umgang mit einem Medium tatsächlich eine Strategie im Sinne einer Vorstellung des Selbstkonzepts und der Selbstverhältnisse, die angestrebt werden. Im Sinne der Medien, die einzusetzen sind, um die Menschen zu erreichen, die einem wichtig sind und denen man wichtig ist. Dabei ist es insbesondere diese neue Selbstverantwortung für Verbundenheit, die vor allem eine soziale Verbundenheit ist, die angesichts der Komplexität von Kommunikationsvirtualitäten und Kommunikationsmöglichkeiten wahrlich herausfordernd ist. Die Anforderung, unter den gegebenen und sich weiter verändernden Bedingungen unternehmerisch tätig zu werden und tüchtig sozial zu handeln, ist dabei eine Herausforderung, die Menschen durchaus nicht annehmen wollen oder der sie nicht gewachsen sind. Denn jeder muss für sich selbst entscheiden, welche Zeit und Energie er in das Erlernen und Beherrschen dieser neuen technischen Möglichkeiten steckt, um Virtualität zu entfalten. Davon wird abhängen, wie sich der eigene Umgang mit Bedeutung verändert, wie und wo man sich kulturell positioniert und positionieren kann und ob und wie sich in unserer Gesellschaft der Umgang mit Scheitern entwickeln wird. Ein positiver Umgang mit Misserfolgen würde nicht zuletzt vor allem mehr Freiheit für Erfahrungen und Kreativität öffnen. Auf der anderen Seite können von der Bewältigung dieser Herausforderung auch andere einen Vorteil haben: Denn wenn die Tüchtigkeit und unternehmerische Einstellung als kulturelle und soziale Wertschöpfungsform anerkannt wird, so können auch Unternehmen und Künstler davon profitieren. Das zeigt das Beispiel eines Berliner Künstlers, der mit seinen Fans zusammenarbeitet, die eben selbstmotiviert »im Auftrag der eigenen Selbstverhältnisse« unterwegs sind und ihm so bei seiner eigenen Wertschöpfung helfen: »Es ist häufig so, dass Leute mich anschreiben und sagen ›Ey, mir gefällt deine Musik‹. Nehmen wir mal einen aus Südfrankreich. Und der fragt dann: ›Wann kommst du denn mal nach Südfrankreich und spielst hier?‹. Dann sage ich: ›Du, ich habe momentan in Südfrankreich null Anfragen, aber wenn du irgendwelche Promoter oder Clubbetreiber kennst, dann sprich die doch einmal
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an und gib denen meinen Namen‹. So funktioniert das häufig – dass man seine Fans für sich arbeiten lassen kann. Dass die mit ihren Kumpels sprechen und eventuell selbst eine Party machen. Wie zum Beispiel letztes Wochenende in Oslo. Da waren zwei junge Burschen, die fanden das gut, was ich mache und die haben sich mit einem Promoter zusammengesetzt und eine Party auf die Beine gestellt – jetzt auf eigene Kosten. Das finde ich ziemlich gut, dass das funktioniert. So kann man sich ein größeres Netzwerk aufbauen und ohne, dass man irgendwelche Clubbetreiber oder Promoter direkt kennt, kann man über Umwege eben doch an die herankommen. Man muss halt mit den Leuten sprechen und sich auch mal die Zeit nehmen und einmal mit denen quatschen oder wenn die eine Frage haben, die auch beantworten. Das ist viel Arbeit und kostet viel Zeit«49. Gesucht wird hier die Nähe zu Künstlern, Unternehmen und weitere Beziehungen vor allem als Mittel zum Zweck; zur Gestaltung des eigenen Ortes, des eigenen Selbstkonzepts.
Auch in der Forschung muss neu entwickelt werden Für klassisch unternehmerisch Tätige bedeuten diese Entwicklungen zweierlei: Zum einen sind es nun die Nutzer, die strategisch agieren und über Eigenes verfügen. Unternehmen sind keineswegs mehr die alleinigen Produzenten, ja, befinden sich immer mehr in der Rolle der taktisch Agierenden, die mit Fremdem umgehen müssen. Hier könnte eine Aufgabe sein, Plattformen und »Material« für die Entwicklung eigener Orte und eigener Selbstverhältnisse bereitzustellen. Auf der anderen Seite müssen und können Unternehmen diese Tüchtigkeit der Nutzer in ihren eigenen Wertschöpfungsaktivitäten zukünftig berücksichtigen, um Win-win-Situationen zu erreichen und unter den veränderten Bedingungen selbst erfolgreich zu sein, wie es heute bereits nicht wenige Künstler vormachen. Aus wissenschaftlicher Perspektive drängt sich hingegen insbesondere die Frage auf, wieso es – angesichts dieser großen Herausforderungen im Alltag für ganz normale Nutzer, mit digitalen Netzwerkmedien für sich Orte im Raum der Ströme zu erschaffen, an denen und über die sie ihre mediatisierten Selbstverhältnisse entwickeln können – dazu bisher nur so wenige Studien auf Handlungsebene gibt. Möglicherweise liegt die Herausforderung für Forschung denn auch gar nicht in der Empirie, sondern der Theorie. So helfen die bestehenden und üblicherweise für diesen Bereich herangezogenen Ansätze wie Cultural Studies und Domestizierungsthese nur wenig, da sie sich eben noch im bipolaren Universum der Produzenten und Nutzer befinden, ganz egal, wie inhaltlich und zeitlich offen die Aneignung und Aushandlung in den einzelnen Forschungsperspektiven angelegt ist. Hier wird beim widerständigen Prozess, in dem etwas Fremdes zu etwas Eigenem gemacht wird, ver49 Interview im Rahmen des IJK-Projekts zur Erforschung der Wertschöpfungspotenziale in der Berliner Musikwirtschaft in Kooperation mit der Berlin Music Commission 2010–2011. (IJK = Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der »Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover«)
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harrt. Der Entwicklungscharakter von Medienhandeln ist nirgends vorgesehen, weil Mediennutzung ihn bis vor kurzem und als diese Ansätze entwickelt wurden, noch nicht hatte. Sogar Castells oder Benkler zeigen hier keine Lösung auf, denn sie erkennen und beschreiben zwar die neuen Möglichkeiten – das, was sich dort ändert –, aber nicht für den Einzelnen auf der Handlungsebene. Dieses neue, gestalterische Umgehen mit Medien kann mit bestehenden Theorien also anscheinend erst gar nicht angemessen konzeptualisiert und erforscht werden. Und selbst die derzeit viel beanspruchte Akteur-Netzwerk-Theorie ist nicht dynamisch genug konzeptualisiert, Handeln im Sinne genuiner Entwicklung und Gestaltung zu fassen. Die Erforschung der Menschen und der Medientechnologien im Alltag ist jedoch umso dringender, als die Entwicklung gerade erst an Fahrt aufnimmt, wie auch die parallel entstehende Medienentwicklungsforschung zeigt. Wie wird es in einigen Jahren sein, wenn die Mediatisierung weiter fortgeschritten ist und die Mehrheit der Menschen womöglich weltweit ihre Beziehungen, ihre Selbstkonzepte, ihre Kultur in digitalen Netzwerkmedien gestalten und entwickeln? Ein Verständnis dieser Prozesse ist gerade auch deswegen nötig, weil sie so grundlegend Alltag und Popkultur verändern und Unternehmen – nicht nur im Bereich Kultur – sich darauf einstellen müssen50. Momentan scheinen sowohl viele Nutzer selbst als auch die damit konfrontierten Unternehmen überfordert. Hier müsste künftige Forschung zur Popkultur als lebensweltlichem Kontext von immer mehr Leuten vor dem Hintergrund der aufgezeigten Mediatisierung, der Transformation unserer medialen und damit unserer meisten Beziehungen ansetzen. Eine solche Forschung müsste sowohl an den Praktiken wie auch an den Beziehungen und Medien anknüpfen und der Art und Weise, wie diese verbunden sind und aber immer auch verändert und reprogrammiert werden. Wir hoffen, mit dieser Analyse einen Beitrag für ein notwendig komplexeres empirisches Verständnis der neuartigen Herausforderungen geleistet zu haben, denen sich gewöhnliche Leute heute im Alltag ihrer Popkultur stellen müssen. Einem Alltag, in dem Kultur schließlich zu etwas Eigenem, Strategischem wird, für das sie in einem kreativen Gestaltungsprozess selbst verantwortlich sind.
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Vgl. Winter 2011.
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Danksagung
All it takes is a little push. Impulse sind das eine, Ausdauer ist das andere. Es bedurfte eines langen Atems, die verschiedenen Gesprächsstränge und Konstellationen zusammenzuführen. Im Ringen um Konsistenz und Präzision gilt unser Dank ganz besonders Elisabeth Heil, die eine immense Redaktions- und Puzzlearbeit leistete, um die Quellen und Textteile zu lektorieren. Hinzu kommt ihr pointierter und scharfer Blick auf die schlingernde und schillernde Welt des Pop, der uns an vielen Stellen eine facettenreiche Präzisierung des Bandes ermöglichte. Stefanie Sachsenröder sei für die umfangreiche und fluxe Transkription der Interviews, Florian Hadler und Zeljko Maric für die Recherchen und die wissenschaftlichen Begleitungen gedankt. Natürlich muss so ein Buch gut aussehen, noch dazu, wenn es sich um Popkultur handelt. Wie immer konnten wir uns auf die Originalität, Zuverlässigkeit und Genauigkeit bei Satz und Layout verlassen. Beides lag in der Hand und Tastatur Anne-Katrin Breitenborns. Für Layout und Umsetzung des beiliegenden Posters sei Sascha El-Khatib von we-concept gedankt, der geduldig und in filigraner Layoutarbeit das Poster gestaltete. Wir danken ebenfalls dem Verlag für seine Bereitschaft, das Konzept des Buches mit dem Poster mitzutragen. Nicht zu vergessen in dieser Danksagung sind die vielen, eingangs erwähnten, popdiskursiv mäandernden Diskussionen im Kesselhaus der KulturBrauerei Berlin, an denen neben den Herausgebern auch Jörg Riedel, Arkadi Junold, Verena Kriz und Martin Böttcher teilnahmen. Diese stets produktiven Runden legten den Grundstein für die Idee und das Konzept dieses Bandes.
Autoren, Gesprächspartner, Themen
Bader, Mareike DJ, PR- und Eventmanagerin, Berlin Autorin des Segments Black Music des Posters Konstellationen im Gravitationsfeld Pop
Birke, Sören Geschäftsführer Kesselhaus / Maschinenhaus der KulturBrauerei in Berlin, Musiker und Aufsichtsratsvorsitzender der Berlin Music Commission Das Musicboard ist das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit der Berliner Musikakteure und entstand aus dem Wunsch, Musikschaffen weiterhin zu ermöglichen sowie dem Clubsterben entgegenzuwirken. Das aktive Fördern populärer Musik, sowohl als attraktives Kulturgut wie auch als wirtschaftlicher Zukunftsfaktor, scheint der richtige Weg zu sein, um konkurrenzfähig zu sein und Berlins Internationalität sowie Interkulturalität gerecht zu werden. Wer waren die Akteure der Kampagne MUSIK 2020 BERLIN, die einen Schulterschluss der Berliner Netzwerke erreichten und in ihrem Positionspapier die Probleme der Branche und Lösungsansätze aufzeigen? Die Kampagne verschaffte sich durch Aktionen und aktive Lobbyarbeit auch politisch Gehör. Mit einem Budget von 1 Mio. Euro startete im Januar 2013 das Musicboard, um die Berliner Musikinfrastruktur zu unterstützen. Autor des Segments Black Music des Posters Konstellationen im Gravitationsfeld Pop
Böttcher, Martin DJ und Musikjournalist, Berlin Autor des Segments Techno | Electronica des Posters Konstellationen im Gravitationsfeld Pop
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Gravitationsfeld Pop
Bonz, Jochen PD Dr., Privatdozent am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen sowie Dozent an anderen Universitäten und Hochschulen Welche Wirklichkeitsmodelle bietet Pop, und wie ist der universalistische Anspruch der Popkultur zu verstehen? In seinem philosophischen Exkurs geht Jochen Bonz diesen Fragen nach und arbeitet Schnittstellen zwischen individuellen Wirklichkeitskonstruktionen und zahlreichen Referenzen aus dem medialen Popkosmos heraus. Wofür steht das Populäre, welche Symbolordnungen sind damit verbunden, und wie durchdringen diese Zeichenwelten die medialen Sphären? Lässt sich das Medium Popkultur definieren? Signieren, Re-signieren? Vielfältig scheint das Populäre nicht nur in den Medienwelten auf. Die Bedeutungen changieren, Jochen Bonz ist diesen Bewegungen auf der Spur.
Borkowsky, Christoph Ethnologe und Chef-Piranha Im Interview erklärt Borkowsky den Zusammenhang von Weltmusik, Westberlin und Sommerlöchern. Wie konnten sich die Heimatklänge und erfolgreiche Musikmessen, wie die WOMEX, etablieren? Wie funktioniert Teamgeist, Sinnstiftung und Rentabilität in der Weltmusikszene, und wie steht es um die Planbarkeit von Kulturevents in Zeiten von Krise und Digitalisierung?
Breitenborn, Uwe Dr., Medienwissenschaftler, lehrt und forscht im Bereich Kommunikation | Medien an der Hochschule Magdeburg-Stendal sowie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Im gesamten Universum der Popkultur beeinflussen Kräftekonstellationen die Bewegungen der Akteure. In ihrem Blick auf Popkultur setzen Thomas Düllo und Uwe Breitenborn auf konkrete Miniaturen aus den Maschinenräumen der Popkultur und finden hierbei Gleichnisse, die die Gravitationsmetapher im Feld der Popkultur nutzen. Aktive Teilhabe an Popkultur ist vielfach auch ein Ermutigungsprogramm, weil im gegenhegemonialen und gegenkulturellen Impuls der Verortung und Raumaneignung erfahrbar wird, wie in der Popkultur Einspruch erhoben wird und sich in den Repräsentationsweisen des Pop das Nicht-Integrierte und Minorisierte artikulieren lässt. Im Background dieser Kompetenz ist zugleich ein Pragmatismus am Werk, der beispielsweise in jenen popkulturellen Praktiken aufscheint, die sich legitim bei den ästhetischen Avantgarden bedienen und in der Verwendung ihrer
Autoren, Gesprächspar tner, Themen
Mittel in Musik, Film oder Werbung zum Prozess der Normalisierung und Gewöhnung an die Moderne beitragen. Was vermag also Pop? Welche konkreten Prozesse laufen in der Kulturwirtschaft, insbesondere Berlins, ab? Und braucht all dies nur einen kleinen push? Autor des Segments Metal des Posters Konstellationen im Gravitationsfeld Pop
Düllo, Thomas Prof. Dr. habil., Universitätsprofessor an der Universität der Künste (UdK) Berlin im Bereich Verbale Kommunikation Auch darauf weisen Thomas Düllo und Uwe Breitenborn in ihrem gemeinsamen Beitrag hin: Entscheidend ist nicht populär oder nicht-populär, sondern dass Produkte der Popkultur zum Zerlegen und Wiederzusammensetzen, zum Aneignen und Verarbeiten, zur Identitätsbildung aktivieren. Vielleicht ist dies auch entscheidender, als Neues kontra Retro gegeneinander auszuspielen. Denn das Neue ist selten das radikal Neue, sondern Folge eines Kontextwechsels. Autor des Segments Jazz | Avantgarde des Posters Konstellationen im Gravitationsfeld Pop
Goiny, Christian Medien- und haushaltspolitischer Sprecher der CDU im Abgeordnetenhaus Berlin Langsam erkennt die Politik, dass Popmusik und Clubkultur einen wichtigen Wirtschaftsfaktor Berlins darstellen. Das vom Senat geförderte Musicboard ist ein Schritt, um Förderinstrumente und Netzwerke zu optimieren, aber auch Wirtschaftsförderung und Support der Infrastruktur ist gefragt. Moderne Urbanität ist in Zukunft ohne Popkultur nicht mehr denkbar. Wie kann in den Bezirken Berlins ein tolerantes Miteinander zwischen aufregender Clubkultur und wohlstandsorientierten, grün-konservativen Stadtmilieus geschaffen werden? Die Kreativ- und Popkulturwirtschaft ist schließlich Teil einer neuen, urbanen Mittelschicht. Kann Berlin die Nr. 1 unter den Welthauptstädten der Popmusik werden?
Gorny, Dieter Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Musikindustrie e.V. (BVMI) Im Interview spricht Dieter Gorny über die Entstehung einer neuen Kultur, über die Relativität des Alters, über Trashbands und Star-Soufflés, die Addition von Teilmärkten der Musik, Wertschöpfungsketten und funktionierende Märkte. Die Ideo-
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Gravitationsfeld Pop
logisierung des Tonträgermediums wird als ein zentrales Problem thematisiert und kritisch hinterfragt.
Hadler, Florian Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theorie und Praxis der Kommunikation an der Universität der Künste Berlin (UdK) Autor des Segments HipHop des Posters Konstellationen im Gravitationsfeld Pop
Hallenberger, Gerd Prof. Dr., Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft, Köln Was ist eigentlich Popkultur? Was ist Angebot und Nutzen dieses Feldes? Der moderne Mensch steht oft vor der Entscheidung, welche Identität er in beruflichen oder privaten Zusammenhängen annehmen soll. Das mediale popkulturelle Angebot für Sinnfindungsprozesse ist reichlich. Der Nutzen auch? Auf der Suche nach diesen kognitiven Pop-ups ist Gerd Hallenberger in »Good Old Britannica« fündig geworden und diskutiert diese Frage anhand der englischen Disco-Gottheiten Pet Shop Boys. Im Close-Reading-Verfahren wird hier eine exemplarische Songanalyse vorgenommen, die das popkulturelle Spiel der Identitäten veranschaulicht.
Heil, Elisabeth Musikwissenschaftlerin und Musikerin aus Berlin sowie Doktorandin an der Hochschule für Musik Würzburg Mit Aussagen wie: »Die LP ist tot – es lebe die LP« oder »Die LP – Das Comeback 2008« schien der Bundesverband der Musikindustrie in Zeiten rückläufiger Absatzzahlen auf dem physischen Tonträgermarkt eine enorme Trendwende bei der Vinyl-LP zu konstatieren. Die objektive Betrachtung zeigt aber, dass gerade dieser Tonträger in seiner Bedeutung für den Musikabsatz an letzter Stelle steht und im Jahr 2011 genauso viele bzw. genauso wenige Einheiten verkauft wurden wie im Jahr 1994. Dennoch hat sich sowohl die Wahrnehmung als auch das Image der Vinylschallplatte gegenüber dem Vergleichsjahr stark gewandelt. Im Beitrag werden exemplarisch Aspekte aufgezeigt, die das positive Image der Schallplatte beeinflussten und immer noch beeinflussen. Dabei wird der Objektcharakter herausgestellt sowie die Integration in die verschiedenen Bereiche der Popkultur.
Autoren, Gesprächspar tner, Themen
Hofmann, Simone Geschäftsführerin der Firma Fête Company, organisiert i. A. der Senatskanzlei seit 1995 jährlich die Fête de la Musique – Fest der Musik in Berlin. Sie ist Chevalier de L’ Ordre des Arts et des Lettres (Ritter des Ordens für Kunst und Literatur), verliehen vom Französischen Kulturministerium im März 2009. Fête de la Musique ist eine internationale Kulturmarke. Musikalische Vielfalt, Zurückeroberung öffentlicher Räume, Freiheitsgedanken – das sind Aspekte dieses Berliner Events. Die regelnde Praxis schafft Hürden, die nicht so einfach zu bewältigen sind, die Förderung reicht kaum aus. Mangelt es an institutioneller Akzeptanz? Letztlich geht es bei diesem Fest um ein ritualisiertes Ereignis, dass aus dem urbanen Popkosmos Berlins nicht wegzudenken ist. Die Managerin berichtet von ihren Erfahrungen und gibt eine bedenkenswerte, ambivalente Prognose für die Zukunft der Berliner Kultur ab.
Jacke, Christoph Prof. Dr., Universitätsprofessor für Theorie, Ästhetik und Geschichte der Populären Musik an der Universität Paderborn In seinem collagenhaften Essay zeigt Christoph Jacke nochmals die Bedeutung des Spex-Magazins für den deutschsprachigen Diskursraum. Anhand dieser einflussreichen Popkulturzeitschrift lassen sich historische Diskurslinien und personelle Vernetzungen aufzeigen, die den Stellenwert dieses Mediums an der Schnittstelle von Popjournalismus, individueller Fachexpertise und Wissenschaft belegen. Zugleich ist Jackes Beitrag ein Plädoyer für eine akademische Aufwertung des popkulturellen Themenfeldes.
James, Peter Leiter des Popbüros Region Stuttgart, Vorstandsmitglied beim Verband unabhängiger Musikunternehmen e.V. (VUT) Im Interview spricht Peter James über Lobbyarbeit sowie Chancen und Risiken neuer Förderstrukturen. Politik und Musikbranche tun sich noch schwer mit dem Gedanken, Popkultur zu fördern oder gar zu subventionieren. An vielen Stellen herrscht hier noch Unkenntnis. Dabei bieten Förderwerke eine gute Plattform, um junge Bands nach vorn zu bringen. Professionelles Agieren ist eine wichtige Voraussetzung für Erfolg. Wie schafft man kommerziell entlastete Räume, um Kreativität zu fördern? Wie können junge Bands unterstützt und begleitet werden? Erfahrungen damit gibt es vielerorts; Peter James erzählt von seinen aus Berlin, Hamburg und Baden-Württemberg.
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Junold, Arkadi Musikwissenschaftler und Verleger (Arkadien Verlag) aus Berlin Arkadi Junolds Beitrag leitet die Genese des Begriffs Kulturpolitik aus den Musikerzünften der Ständegesellschaft her. In der höfischen Gesellschaft und im Mäzenatentum sind Keime heutiger kulturpolitischer Institutionen zu finden. Mit dieser Perspektivierung wagt er einen Blick über den Tellerrand. Die Ausführungen erklären die historische Entwicklung der bestehenden Kulturinstitutionen und gehen der Frage nach, wieso nach wie vor gerade der etablierte, klassikorientierte Kanon so hoch gefördert wird, nicht aber andere Musikformen. Kann dieses Modell in eine Popförderung transferiert werden, oder rasen hier die beiden Kulturzüge auf parallelen Gleisen?
Kaufmann, Katja Junior Scientist am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien Gemeinsam mit Carsten Winter plädiert Katja Kaufmann für ein komplexeres empirisches Verständnis der Popkultur als Kommunikation. In ihrem Beitrag werden Transformationsprozesse weg von einer »Push-Popkultur« hin zu einer neuartigen »Pull-Popkultur« beschrieben. In und mit digitalen Netzwerkmedien werden gewöhnliche Leute zu Unternehmern ihrer Popkultur. Die Produktion von Orientierungen, Bedeutungen, Praktiken und damit von umfassenden Lebensweisen als Kultur ist zunehmend das Ergebnis einer größeren Freiheit. Deren Ausgestaltung nehmen immer mehr gewöhnliche Leute als (nicht notwendig kommerzielle) Unternehmer ihrer Popkultur ernst. Sie überlassen ihre neuen Freiheitsmöglichkeiten nicht dem Kreativitätsdispositiv. Diese neuen netzwerkmedialen Produktions- und Verteilungsprozesse werden mehr und mehr zu (Re-)Konstituenten sozialer Beziehungen, über deren Interpretationen wir Unternehmer unserer eigenen Kultur werden. Von der Erkenntnis und Anerkennung dieser Tüchtigkeit und der damit einhergehenden unternehmerischen Einstellung (als kulturelle und soziale Wertschöpfungsform) profitieren Unternehmer und Künstler, wenn sie zu diesen neuen Freiheiten beizutragen vermögen.
Kiel, Martin Dr., IT-Manager, Kulturwissenschaftler und Leiter des Instituts für Investigative Ästhetik, Hagen Im Interview thematisiert Martin Kiel Denkbilder als aufklärerische Akte, Themenarchipele und den Prozess der markierenden Ästhetisierung von Themen. Können Denkbilder dem Bildanalphabetismus, der unsere bilderüberflutete Gegenwart kenn-
Autoren, Gesprächspar tner, Themen
zeichnet, eine durchdringende Reflektion entgegensetzen, die die Inszenierungen von Macht essenziell hinterfragt? Das Interview ist letztlich ein Plädoyer für Stifte und philosophische Mal-Sets, ein Plädoyer gegen anästhesierenden Bildkonsumismus.
Kiltz, Eva Managerin des Verbandes unabhängiger Musikunternehmen e.V. (VUT), Berlin Im Gespräch beschreibt Eva Kiltz die Verbandsarbeit des VUT und eröffnet verschiedene Perspektiven auf wirtschaftliche, strukturelle und kulturelle Interessenslagen und damit verbundene Konfliktszenarien. Wie ist der Stand der Interessensvertretungen in Berlin? Was müssen solche Zusammenschlüsse leisten können? Welche Strukturen fördern den Erfolg unabhängiger Labels, und welche staatlichen Förderungen im Popkulturbereich sind überhaupt sinnvoll?
Kretschmar, Olaf »Gemse« Diplom-Philosoph, Marketingwirt, Clustermanager und Vorstandsvorsitzender der Berlin Music Commission Im Interview erklärt Gemse die soziale Bedeutung von Clubkultur, die Berliner Clubszene als Teil von Wertschöpfungsketten und Referenzsystemen. Clubs sind vor allem soziale Orte, Musik steht nicht an erster Stelle. Der Club ist ein Text, den die Gäste schreiben. Gemse gibt Einblicke in diffundierende Kreativität, Clubenergie und Wirkungstiefen von Sounds.
Kriz, Verena Studium der Amerikanistik, Filmwissenschaft und Kunstgeschichte. Sie arbeitet beim Berliner Radiosender FluxFM Autorin des Segments Independent | Alternative des Posters Konstellationen im Gravitationsfeld Pop
Kühnert, Nora Genderforscherin und Kulturanthropologin, Göttingen
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Kühnert Eiko Kulturwissenschaftler, Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig (FZML) Was ist eigentlich Nazi-Pop? Und wer goutiert ihn? Nora und Eiko Kühnert gehen einer bis dato eher selten formulierten Frage nach und greifen damit ein politisch relevantes Thema auf. Wie kann eine zivilgesellschaftlich orientierte Gemeinschaft sich davon abgrenzen, wenn Nazi-Pop Mainstream wird? Eine nicht ganz einfache Frage, deren Reichweite von vielen noch unterschätzt wird.
Leichsenring, Lutz YOUNG TARGETS Berlin/London, Pressesprecher Clubcommission Berlin e. V. sowie Autor und Berater Der Ruf als Mode-, Kunst- und Musikstadt oder als »Silicon Valley Europas« eilt Berlin in der ganzen Welt voraus und verschafft der Stadt in New York, London oder Tokyo ein überaus positives Image. Ein erheblicher Anteil dessen ist auf die Clubszene zurückzuführen. Seit Anfang der neunziger Jahre prägt die Berliner Club- und Veranstalterszene das musikalische Berlin; nachhaltiger vielleicht als jeder andere Faktor. Jedoch ist nicht alles Gold, was glänzt. So wurde die Clubszene als Impulsgeber für andere Branchen von den politischen Verantwortlichen deutlich unterschätzt. Heute steht die Szene im Kampf um Räume mit internationalen Investoren im Wettbewerb und unter hohem Kommerzialisierungsdruck. Zudem herrschen in den einzelnen Bezirken unterschiedliche Rahmenbedingungen, welche Wohnbebauung begünstigen und dadurch Konflikte zwischen Anwohnern und Clubs entstehen lassen.
Lucker, Katja Musikbeauftragte des Landes Berlin, Geschäftsführerin des Musicboards Berlin Mit der Gründung des Musicboards hat die Stadt Berlin ein Instrument auf den Weg gebracht, dass die Infrastruktur des Popgeschehens stabilisieren und Akteure mit ihren Projekten fördern möchte. Im Interview spricht Katja Lucker über das Potenzial des Musicboards Berlin, über Lobbynachwuchs, neue Förderkonzepte und einen popkulturellen Generationenmix. Für die internationalen Branchen ist Berlin der Hotspot. Es ist aber ein Manko, dass man in Berlin offensichtlich nicht so richtig Geld verdienen kann. Welche neuen Wege lassen sich hier beschreiten? Wie kann die Popkulturwirtschaft vernetzt und gefördert werden? Und letztlich stellt sich auch die Frage, wie sich die Mainstream- und Subkulturgeschichte Berlins für die aktuellen Prozesse aktivieren lässt? Lohnt es sich, über ein Poparchiv oder gar ein Berliner Popmuseum nachzudenken?
Autoren, Gesprächspar tner, Themen
Mikos, Lothar Prof. Dr. habil., Professor für Fernsehwissenschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) »Konrad Wolf« in Potsdam-Babelsberg, Geschäftsführender Direktor des Erich Pommer Instituts g GmbH für Medienrecht, Medienwirtschaft und Medienforschung Lothar Mikos widmet sich mit seinen fernsehbezogenen Beispielen Prozessen sozialen Lernens durch Popkultur. Neuere Studien zum Fernsehkonsum in Deutschland belegen, dass das Fernsehen als Leitmedium längst noch nicht abgeschrieben ist. Im Gegenteil: Die Deutschen schauen mehr Fernsehen als je zuvor. 225 Minuten täglich verbrachten die Zuschauer 2011 vor den TV-Geräten. Was Ihnen die Kanäle bieten, hat oft eine starke Verlinkung zur Popkultur. Wir haben es hier mit einer Verzahnung medialer Faktoren zu tun, die einen starken Bezug zum Feld der Popkultur aufweisen. Popkultur – ob Musik oder Fernsehen – ist ein wesentlicher Faktor sozialen Lernens.
Paulus, Aljoscha Musiker sowie strategischer Medien- und Musikforscher mit Masterabschluss im Medienmanagement an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH) Der gemeinsame Beitrag mit Carsten Winter handelt von Musikschaffenden und ihren neuen Möglichkeiten im Umgang mit Netzwerkmedien als ihren Produktionsmitteln. Mit Bezug auf eine Untersuchung zu Wertschöpfungsperspektiven der Berliner Musikwirtschaftsakteure wird im Rahmen eines Verständnisses von Musik als Prozesszusammenhang ihrer Produktion, Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung gezeigt, wie und warum immer mehr Musikschaffende mit diesen neuen Mitteln immer mehr Leute auf neuartige Weisen an ihrer Kunst teilhaben lassen und was dies für klassische und etablierte Akteure der Musikwirtschaft bedeutet.
Ströver, Alice Geschäftsführerin der Besucherorganisation Freie Volksbühne Berlin e. V., Staatssekretärin a. D., Kultur- und medienpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen und bis Oktober 2011 Vorsitzende des Ausschusses für Kulturelle Angelegenheiten im Berliner Abgeordnetenhaus Im Interview spricht Alice Ströver über Stadtentwicklung, Räume kreativen Lebens, über die unterschiedlichen Bewertungshaltungen zu Klassik und Rock und den daraus resultierenden Fördernotwendigkeiten. Ganz klar, hier muss sich einiges ändern. Alice Ströver erklärt die Berliner Kulturförderung aus politischer Perspektive und gewährt persönliche Einblicke in ihre kulturpolitische Arbeit.
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Gravitationsfeld Pop
Wagemann, Philip Philosoph, Kultur- und Musikwissenschaftler, IT-Manager bei der Aperto AG, Berlin Der Mainstream der Minderheiten ist in seiner heutigen Form syntaktisch und nicht mehr nur semantisch wesentlicher Teil der Organisation des wirtschaftlichen Lebens. Die stilistischen und habituellen Technologien der Popular Culture haben sich in der Strukturierung von projektorientierter Arbeit derart niedergeschlagen, dass diese zum Teil selbst popkulturellen Mechanismen folgt. Wagemann seziert die Attraktivität des Agilen, die dazu führte, dass Rebellionspraktiken des Pop in allen, zuvor meist als popfern deklarierten, Bereichen auftauchen. Möglicherweise erleben wir die erste Post-Nerd-Generation von Nerds, die paradessent Business-Etiketten unterwandern und gleichzeitig unternehmerisches Denken in hochkonzentrierter Form zur Aufführung bringen?
Wiese, Klemens Kulturwissenschaftler und Senior Manager Event- und Venuevermarktung bei Gemeinsame Sache GmbH & Co. KG, Berlin Die sich gegenseitig befeuernde Rezeption medialer Ereignisse innerhalb sich stetig fragmentierender Industriegesellschaften hat für alle Beteiligten höchstmögliche Mobilität, Informiertheit und Wahlfreiheit zur Folge. Gleichzeitig bleibt keine Zeit mehr für langfristige Loyalitäten auf Fan-Seite, denn die nächste Attraktion lauert schon um die Ecke. Neben dem Aufbau von neuen Talenten scheint es die vornehmliche Aufgabe der Veranstalter zu sein, mit dem richtigen Augenmaß auf Trends zu reagieren und sich dafür zu interessieren, was das Publikum wirklich möchte. Zahlreiche Tools stehen dafür bereit. Eine hohe Expertise über die Entwicklungen im Markt und über musikalische Trends sichert die Wahrscheinlichkeit, prosperierende Nischenmärkte frühzeitig zu identifizieren. Neben zahlreichen digitalen Verwertungsprozessen stieg der Live Entertainment-Bereich zu einer zentralen Kategorie auf.
Wilke, Thomas Dr., Medienwissenschaftler am Institut für Medienwissenschaft der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen Eine höchst elaborierte Auseinandersetzung mit der Genese und den aktuellen Prozessen der DJ-Kultur liefert Thomas Wilke. Welche Funktionen haben DJs im Popkultur-Kosmos und welchen Wandel ihrer Funktionalitäten haben sie im Laufe der Zeit erfahren? Analoge DJ-Kultur vs. Digital DJing, das sind die Pole, in denen sich diese Produzenten von Popkultur heute bewegen. Ein Wandel der Erfahrungsstrukturen sowie die radikale Erweiterung und Veränderung des Arbeitsmaterials
Autoren, Gesprächspar tner, Themen
Musik stellt DJs vor neue Herausforderungen. Der Beitrag analysiert Potenziale, die das Handlungskonzept DJ in Hinsicht auf technische Weiterentwicklungen vorantreiben.
Winter, Carsten Prof. Dr. habil., Universitätsprofessor, lehrt strategisches Medien- und Musikmanagement am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung (IJK) an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH) Gemeinsam mit Katja Kaufmann plädiert er vor dem Hintergrund seiner langjährigen Forschungen zur Entwicklung von Medien, zum Aufstieg neuer medialer Beziehungskünste und zum Wandel einer »Push-« in eine »Pull-« oder »OnDemand-Kultur« für ein komplexeres empirisches Verständnis der Popkultur als Medienkultur-Kommunikation. Gewöhnliche Leute werden durch ihre zunehmende Nutzung digitaler Netzwerkmedien als Produktionsmittel zu Unternehmern ihrer Popkultur. In dem mit Aljoscha Paulus verfassten Beitrag geht es um Musikschaffende und ihre neuen Möglichkeiten im Umgang mit Netzwerkmedien als Produktionsmittel.
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Autoren, Gesprächspar tner, Themen
Die Herausgeber Sören Birke, M. A., Jg. 1966, Studium Kulturwissenschaft und Theaterwissenschaft / Kulturelle Kommunikation. Seit 2002 Geschäftsführer Kesselhaus / Maschinenhaus in der KulturBrauerei Berlin (Consense Gesellschaft zur Förderung von Kultur mbH). Aufsichtsratsvorsitzender der Berlin Music Commission und Mit-Initiator der Berlin Music Week, der Kampagne MUSIK 2020 BERLIN und des Musicboards Berlin. Seit 1982 aktiver Musiker in zahlreichen Bands und Projekten mit mehr als 600 Liveauftritten: Mundharmonika, Maultrommel, Duduk, Hu-Lu-Si, Feedbacks, Blues, Rock, Pop, Ethno-Meditation. Studien zur Geschichte der Mundharmonika und Veröffentlichung einer Monografie (Maulhobel, Zauberharfe, Schnutenorgel: Eine Kulturgeschichte der Mundharmonika, 2010). Dr. Uwe Breitenborn, Jg. 1966, Studium Kulturwissenschaft, Soziologie und Theaterwissenschaft, 2002 Promotion mit einer Arbeit über TV-Entertainment-Programme. Forscht und lehrt als Medienwissenschaftler derzeit an den Bereichen Kommunikation | Medien der Hochschule Magdeburg-Stendal sowie der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Bis 2008 Forschungskoordinator beim Deutschen Rundfunkarchiv (DRA). Autor mediengeschichtlicher Bücher und Beiträge zur Fernseh- und Rundfunkgeschichte (unter anderem: Wie lachte der Bär, 2003). Studien auch zur Musikkultur beispielsweise mit Schwerpunkt Feedbacksounds (Akustische Rückkopplung, 2009). Mitglied in diversen Gremien, unter anderem Vorstand des Studienkreises Rundfunk und Geschichte. Tätigkeit auch als Lektor, DJ und Soundmonteur in Berlin. Produktion von Feedbackkrachern, Theatermusiken und kruden Werken mit Frontmembran und Machwerk. Prof. Dr. Thomas Düllo, Jg. 1954, lehrt Verbale Kommunikation und Texttheorie an der Universität der Künste Berlin im Bereich »Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation« (GWK). Gestartet als Literaturwissenschaftler, Lehrer und Journalist, konvertiert zum Kulturwissenschaftler. Promotion über Joseph Roth, Habilitation über »Kultur als Transformation«. Lehr- und Forschungsstationen Münster, Magdeburg und Berlin. Im Fokus von Forschung, Lehre und Publikationen: Kulturwissenschaft; Text, Kontext & Narration; Praxiszugänge und Praxistheorie; Materialität der Kommunikation; das Wissen der Künste und seine Vermittlung; kulturwissenschaftliche Konsumforschung; Lesarten des städtischen Raums & der Popular Culture; Transformationsforschung. Veröffentlichungen unter anderem: Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, 2011; Theorie und Praxis der Kulturwissenschaften, 2008 (hrsg. zus. mit Jan Standke); Cultural Hacking. Kunst des Strategischen Handelns, 2005 (hrsg. zus. mit Franz Liebl).
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Gravitationsfeld Pop
Brutale Haie (1992): Doitschtum. Skull Records: SKR 005. Buggles, The (1979): Video Killed The Radio Star. Island Records: WIP 6524. Buggles, The (1980): »Video Killed The Radio Star«. Auf: The Age Of Plastic. Island Records: ILPS 9585. Cardigans, The (2005): Super Extra Gravity. Universal Music: 987 283-7. Coldplay (2005) »Gravity«. Auf: Talk. Parlophone: 0946 3 50717 2 6. Dark Tranquillity (2010): »Out of Gravity«. Auf: We are the void. Century Media: 8655-2. Dead Kennedys (1981): »Nazi Punks Fuck Off«. Auf: In God We Trust, Inc. Alternative Tentacles: VIRUS 5. Die Toten Hosen (2012): Wir Sind Bereit / Jürgen Engler’s Party. Totenkopf | Rolling Stone Exclusive Vinyl: TOT 2. Dritte Wahl (2001): »Dummheit kann man nicht verbieten«. Auf: Halt mich fest. Dröönland Production | Rausch Records: dpcd 011/CD 0.08. Dyk, Paul van; Heppner, Peter (2004): Wir sind wir. Urban: 9867314. Eminem (2002): »Lose Yourself«. Auf: Various Artist: Music From And Inspired By The Motion Picture 8 Mile. Shady Records | Interscope Records | UMG Soundtracks: 493 530-2. Epic Soundtracks (1992): Rise Above. Rough Trade: R 2932. Faithless (1998): God is a DJ. Cheeky Records: CHEKDJ 12.028. Fehlfarben (2002): Knietief Im Dispo. Studio !K7: !K7135LP. Fugazi (1990): »Merchandise«. Auf: Repeater. Dischord Records: Dischord 44. Haza, Ofra (1987): Im Nin’Alu. WEA International Inc.: 247 909-0. Hooker, John Lee; Santana, Carlos; The Santana Band (1989): »The Healer«. Auf: Hooker, John Lee: The Healer. Chameleon Music Group: D1-74808. Jackson, Michael (1982): Thriller. Epic: QE 38112. Kamerun, Schorsch (2006): »Bloß weil ich friere, ist noch lang nicht Winter«. Auf: Various Artists: Operation Pudel 2006 ZD 50. Pudel Produkte: INDIGO CD 881942. Kaminer, Wladimir (2000): Russendisko. BMG Wort: 74321768702. Kanté, Mory (1987): Yé Ké Yé Ké. Barclay: 887 048-7. Kunze, Heinz Rudolf (2007): »Die Welt ist Pop«. Auf: Klare Verhältnisse. Sony BMG Music Entertainment: 82876 86029 2.
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Laibach (1992): »Regime of coincidence, state of gravity«. Auf: Kapital. Mute: CD STUMM 82. Led Zeppelin (1969): Led Zeppelin II. Atlantic: ATL-SD 8236. Madonna (2000): »Music«. Auf: Music. Maverick: 9362-47865-2. MIA. (2004): »Was es ist«. Auf: Stille Post. Columbia: COL 516120 2. Neil Young & The Bluenotes (1988): »This Note’s For You«. Auf: This Note’s For You. Reprise Records: 925719-1. NON (Rice, Boyd) (1981): Pagan Muzak. Graybeat Records: GB 3301. NON (Rice, Boyd) (1999 [1981]): Pagan Muzak. (Reissue). The Grey Area: PAGAN1. Opus (1984): »Live is Life«. Auf: Live is Life. Polydor: 825 542-1. Orlog (2008): Elyson. Det Germanske Folket: GER025. Pavement (1994): »Gold Soundz«. Auf: Crooked Rain, Crooked Rain. Rough Trade: RTD 131.1679.2. Pet Shop Boys (1985): West End Girls. Parlophone: 12R 6115. Pet Shop Boys (1986): »Suburbia«. Auf: Please. Parlophone: PCS 7303. Pet Shop Boys (1986): »West End Gilrls«. Auf: Please. Parlophone: PCS 7303. Pet Shop Boys (1987): »Rent«. Auf: Actually. Parlophone: PCSD 104. Pet Shop Boys (1988): Left to My Own Devices. Parlophone: 12R 6198. Pet Shop Boys (1988): »Left to My Own Devices«. Auf: Introspective. Parlophone: 064-79 0868 1. Pet Shop Boys (1991): DJ-Culture. Parlophone: 12R 6301. Pet Shop Boys (1991): »Left to My Own Devices«. Auf: Discography (The Complete Singles Collection). Parlophone: 168 7 97994 1. Pet Shop Boys (1993): Left to My Own Devices. Parlophone: CDR6198/ 20 3080 2. Pet Shop Boys (1999): »You Only Tell Me You Love Me When You’re Drunk«. Auf: Nightlife. Parlophone: 7243 5 21857 2 6. Pet Shop Boys (2000): Closer To Heaven. Pet Shop Boys Partnership Ltd. (ohne Label-Nummer) Pet Shop Boys (2002): Release. Parlophone: 7243 5 38150 2 8. Pet Shop Boys (2003): »Left to My Own Devices«. Auf: PopArt – The Hits. Parlophone: 07243 594837 2 6.
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Gravitationsfeld Pop
Pet Shop Boys (2006): »Left to My Own Devices«. Auf: Concrete. Parlophone: 00946 379489 2 7. Pet Shop Boys (2009): Love etc. Parlophone: 50999 695332 2 8. Pet Shop Boys (2009): Yes. Parlophone: 50999 695347 2 0. Pet Shop Boys (2010): »Left to My Own Devices«. Auf: Ultimate. Parlophone: 50999 919395 2 4. Pet Shop Boys (2010): »Left to My Own Devices«. Auf: Pandemonium. (CD & DVD). Parlophone: 50999 6 28083 2 3. Pet Shop Boys (2012): Elysium. Parlophone: 50999 695347 2 0. Pet Shop Boys (2012): Leaving. Parlophone: R 6879 / 5099923257726. Pet Shop Boys (2012): »Leaving«. Auf: Elysium. Parlophone: 50999 695347 2 0. Pet Shop Boys (2012): Winner. Parlophone: CDR 6869 | 9 14189 2 0. Pet Shop Boys (2012): »Winner«. Auf: Elysium. Parlophone: 50999 695347 2 0. Pet Shop Boys and Harvey, Jonathan (2001): Closer To Heaven (Original Cast Recording). Epic: 504516 2. P!nk (2003): God Is A DJ. Arista: 828765838917. Placebo (2000): »Special K«. Auf: Black Market Music. Elevator Music Ltd.: CDFLOOR13 | Virgin: 7243 8 50049 2 6. Portishead (1994): Dummy. Go! Beat: 828 522-2. Prodigy (1997): Smack my bitch up. XL Recordings: XLT 90. Rodriguez, Sixto (1970): Cold Fact. Sussex: SXBS 7000. Rodriguez, Sixto (1971), Coming from Reality. Sussex: SXBS 7012. Rolling Stones, The (1968): »Sympathy for the Devil«. Auf: Beggars Banquet. Decca: SKL 4955. Rolling Stones, The (2002): Sympathy for the Collector. Not On Label (The Rolling Stones): RSRC 001. Sleipnir (2004): »Antifa«. Auf: Exitus … Bis Ganz Europa Fällt. Boundless Records: ohne Katalognummer. Smiths, The (1986): Panic. Rough Trade: RT 193. Sportfreunde Stiller (2006): »54, 74, 90, 2006«. Auf: You Have To Win Zweikampf. Universal Music: 985 717 3. Stevens, Sufjan (2006): Silver & Gold. Asthmatic Kitty Records: AKR610.
Verzeichnis AV-Medien
Stevens, Sufjan (2006): Songs for Christmas. Asthmatic Kitty Records: AKR028. Stevens, Sufjan (2010): The Age of Adz. Asthmatic Kitty Records: AKR077. Sun Ra And His Solar Arkestra (2002 [1966]): Visits Planet Earth. (Reissue). El Saturn Records: 9956-11. Tennant/Lowe (2005): Battleship Potemkin. Parlophone: 00946 340803 2 3 | EMI Classics: 340 8032. The The (1989): »Gravitate to me«. Auf: Gravitate to me. Epic: EMU T9. Type O Negative (1992): »Gravity«. Auf: The Origin Of The Feces. Roadrunner Records: RR 9174-2. U2 (1991): Achtung Baby. Island Records: 212 110. U2 (1991): »One«. Auf: Achtung Baby. Island Records: 212 110. White, Matthew E. (2013): Big Inner. Domino: WIGCD307. Who, The (1965): »The Kids Are Alright«. Auf: My Generation. Brunswick: LAT 8616. Yo La Tengo (1997): »Center Of Gravity«. Auf: I Can Hear The Heart Beating As One. Matador: OLE 222-2.
Hörfunksendungen Der Ball ist rund: Musiksendung im Hörfunk des Hessischen Rundfunks – hr3. Jahr: 1984–2008. Redaktion und Moderation: Klaus Walter. Podiumdiskothek: Musiksendung im Jugendradio DT 64 des Berliner Rundfunks. Jahr: 1973–1989. Inhaltliche Verantwortung: Stefan Lasch und Hartmut Kanter.
Filmografie Akte – Reporter kämpfen für sie. Reportagemagazin des deutschen Privatsenders Sat. 1., seit 1995. Produktion und Moderation: Ulrich Meyer. American Graffiti. USA, 1973. Regie: George Lucas. Avatar. Aufbruch nach Pandora. USA, 2009. Regie: James Cameron. Beat Street. USA, 1984. Regie: Stan Lathan.
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Gravitationsfeld Pop
Big Brother. Realityshow zunächst auf dem deutschen Privatsender RTL II, dann auf Premiere, Sky Deutschland, Clipfish und Sat.1. Deutschland [Niederlande], seit 2000 [seit 1999]. Idee und Verantwortung: John de Mol und Paul Römer. Cadillac Records. USA, 2008. Regie: Danell Martin. Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Deutschland, 1981. Regie: Ulrich Edel. Der Tote Chinese. Film aus der Reihe Tatort des ARD. Deutschland, 2008. Regie: Hendrik Handloegten. Die Sendung mit der Maus. Kinderreihe des ARD, seit 1971. Idee: Gert Kaspar Müntefering. Die ultimative Chart Show. Musikshow des deutschen Privatsenders RTL, seit 2003. Produktion: i & u TV. Moderation: Oliver Geissen. Dismissed. Datingshow USA, seit 2001 auf MTV. Idee: David Eilenberg und Mike J. Nichols. DJs – Die Kunst des Auflegens. Kurzfilm, Deutschland, 2007. Autor: Gerhard Schick. [Siehe Goethe-Institut: http://www.goethe.de/KUE/flm/prj/kub/mus/de3955879. htm, 20.01.2011]. Dreamgirls. All You Have to do is dream. USA, 2006. Regie: Bill Condon. DSDS – Deutschland sucht den Superstar. Castingshow des deutschen Privatsenders RTL, seit 2002. Idee: Simon Fuller. Duplo. Werbespot Sieh’s doch mal Duplo. Deutschland, 2012/2013. [http://www.you tube.com/watch?v=QXb9YASpuYA, 20.02.2013] Durch die Nacht. Dokumentarfilmserie des ZDF für den deutsch-französischen Kulturkanal ARTE, seit 2002. Inhaltliche Verantwortung: Edda Baumann-von Broen, Cordula Kablitz-Post, Martin Pieper und Hasko Baumann. Feiern – Don’t forget to go home. Deutschland (HFF »Konrad Wolf« PotsdamBabelsberg), 2006. Regie: Maja Classen. Götz Alsmanns Nachtmusik. Klassik-Show des öffentlich-rechtlichen Senders ZDF zunächst als Eine große Nachtmusik, 2005–2010. Idee und Moderation: Götz Alsmann. Gute Zeiten Schlechte Zeiten (GZSZ). Fernsehserie des deutschen Privatsenders RTL, seit 1992. Idee: Reg Watson. High Fidelity. USA/UK, 2000. Regie: Stephen Frears. Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! (Dschungelcamp): Realityshow des deutschen Privatsenders RTL, seit 2004.
Verzeichnis AV-Medien
Im Schallplattenladen. Deutschland, 1934. Regie: Hans H. Zerlett. [Online unter: http://www.youtube.com/watch?v=_iRZ_yNu6fQ, 20.02.2013] Inglourious Basterds. USA (New York), 2009. Regie: Quentin Tarantino. Last Shop Standing. The Rise, Fall and Rebirth of the Independent Record Shop. UK, 2012. Regie: Pip Piper. Mystery Train. USA / Japan, 1989. Regie: Jim Jarmusch. Making of »The Prodigy – Smack My Bitch Up« in Ableton. Ukraine, 2009. Regie und Produktion: Jim Pavloff. [http://www.youtube.com/watch?v=eU5Dn-WaElI, 20.01.2011]. Neuland. Film aus der Reihe Tatort des ARD. Deutschland, 2009. Regie: Manuel Flurin Hendry. Panzerkreuzer Potemkin. Russland, 1925. Regie: Sergei Eisenstein. Pet Shop Boys – PopArt (The Videos). UK, 2003. DVD-Produzent: Dan Ruttley. Parlophone-DVD: 07243 490930 9 6. Popstars. Castingshow zunächst auf dem deutschen Privatsender RTL II dann auf ProSieben. Land: Deutschland [Neuseeland]. Jahr: seit 2000 [seit 1999]. Idee/1. Produzent: Jonathan Dowling. Rockpalast. Konzert- und Musiksendereihe des WDR, seit 1974. Begründer: Peter Rüchel. Saturday Night Fever. USA, 1977. Regie: John Badham. Searching for Sugar Man. Schweden / UK, 2012. Regie: Malik Bendjelloul. Sound it Out. The very last record shop in Teesside. UK, 2011. Regie: Jeanie Finlay. Sparkasse: Werbespot Sie verstehen was vom Auflegen. Wir vom Anlegen. Deutschland, 2007/2008. Produzent: Sparkasse Finanzgruppe Hessen-Thüringen. [http:// www.youtube.com/watch?v=hGMzgQtp7IQ, 20.01.2011]. Standing in the Shadows of Motown. USA, 2002. Regie: Paul Justman. Star Wars. Science-Fiction-Filmreihe USA, seit 1977. Drehbuchautor, Produzent und Regisseur: George Lucas. The Dark Night. USA / UK, 2008. Regie: Christopher Nolan. The Dome. Livemusik-Show auf dem deutschen Privatsender RTL II und Musiksender VIVA, 1997–2012. Produktion: MME Me, Myself & Eye Entertainment GmbH.
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Gravitationsfeld Pop
The Work Of Director Chris Cunningham. A Selection of Music, Short Films, Video Installations And Commercials. USA (New York), 2003. (Vol. 2: Directors Label-DVDs). Palm Pictures. TV Total. Comedy- und Late-Night-Show auf dem deutschen Privatsender ProSieben, seit 1999. Idee und Moderation: Stefan Raab. Unser Star für Oslo. Castingshow zum Eurovision Song Contest 2010 als Kooperation der deutschen Fernsehsender ARD und ProSieben. Deutschland, 2010. Idee: Stefan Raab. Vinylmania. Wenn das Leben in 33 Umdrehungen pro Minute läuft. Italien, 2012 [2010]. Regie: Paolo Campana. INDIGO-DVD: 967408. Wetten, dass…?. Deutschsprachige Fernsehshow der Sender ZDF und ORF, seit 1981. Idee: Frank Elstner. Wir werden immer weitergehen. Deutschland, 2012. Regie: Georg Lindt und Ingolf Rech.
Personen- und Namensregister
A ABBA 103, 131 ABC 185 Absolute Beginner 249 AC/DC 128, 130 Adorno, Theodor W. 143, 174, 256 Adoro 130 Agnostic Front 294 Ahlers, Michael 205 AKD & Koljeticut 77 Alphaville 11 Alsmann, Götz 129, 202 Anderson, Tom 159 Animal Collective 128 Antony and the Johnsons 218 Apfelmann 211 Arcade Fire 244 Ärzte, Die 52, 54, 121, 303 Assange, Julian 239, 240 Auster, Paul 195
B Bachauer, Walter 42 Bach, Johann Sebastian 160 Baecker, Dirk 213 Baker, Josephine 158 Baldauf, Anette 214 Balzer, Jens 51 Barlach, Ernst 195 Barrow, Geoff 185 Barthes, Roland 25, 26, 195
Bartók, Béla 90 Batman 9 Baudrillard, Jean 204 Bauman, Zygmunt 67 Bayer, Felix 184 Beady Eye 323 Beatles, The 17, 27, 30, 59, 122, 158, 169 Beatsteaks 52, 122 Becher, Hans-Josef (p Juppy) 228 Beck 29 Beck, Ulrich 173 Beethoven, Ludwig van 228 Ben l’Oncle Soul 319 Bendjelloul, Malik 24 Bendzko, Tim 104 Benjamin, Walter 196, 321 Benkler, Yochai 343, 351 Berger, Edgar 121 Berliner Philharmoniker 47, 124, 159 Bernoff, Josh 136, 345 Berry, Chuck 60 Beyer, Marcel 203 Bhabha, Homi K. 185 Bieber, Justin 128 Bierce, Ambrose 298 Birke, Sören 51 Black Eyed Peas 115 Black Sabbath 318 Blair, Tony 237 Blanco, Roberto 228 Bloch, Ernst 16 Blumfeld 211, 248, 289
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Gravitationsfeld Pop
Blümner, Heike 176, 177, 180, 183, 188 Bohlen, Dieter 169 Böhme, Gernot 186 Böhning, Björn 54 Böhse Onkelz 295, 297, 298 Böker, Carmen 213 Bonz, Jochen 205, 214 Borkowsky, Christoph 38, 40, 44 Bourdieu, Pierre 179, 199, 335, 336 Bowie, David 58, 60, 103, 281 Brandenburg, Inge 267 Brandt, Willy 42 Brecht, Bertolt 44 Brewster, Bill 68 Brinkmann, Lars 212 Bröckling, Ulrich 344, 347 Broughton, Frank 68 Brown, James 10, 15–19 Bruckmeier, Karl 25 Brutale Haie 299 Buckley, Lord 24 Buckley, Tim 19 Buggles, The 116 Bukowski, Charles 37 Bunz, Mercedes 204, 205 Burchill, Julie 176 Büsser, Martin 205, 206, 210, 216 Butler, Judith 204
C Calvino, Italo 29 Campana, Paolo 311, 319 Can 127 Cardigans, The 11 Carey, Mariah 18 Castells, Manuel 342, 351 Certeau, Michel de 341, 347, 348 Che Guevara, Ernesto 285, 287, 303 Chicks on Speed 119 Chilton, Alex 19 Christoph, Ralph 212
Chung, Mark 234 Cicero, Roger 130 Clarus, Nadja 53, 54 Clash, The 13, 318 Classen, Maja 259 Coldplay 11, 130, 131 Condon, Bill 316 Console (p Martin Gretschmann) 239 Cope, Julian 24 Corbin, Anita 187 Corbjin, Anton 58 Cpt. Kirk 248 Crowley, Dennis 239, 240 Cunningham, Chris 185, 187 Cyrus, Miley 128
D D´Alembert, Jean-Baptiste le Rond 192 Dark Tranquillity 11 Dath, Dietmar 209, 215 David, Jacques-Louis 200 Davis, Miles 243 Dax, Max 209, 210 Dead Kennedys 305 Debord, Guy 23, 204 Debussy, Claude 285 Deep Purple 131 Delay, Jan 228, 249 Dellwo, Fritz 317, 318 Depeche Mode 123 Depp, Johnny 167 Didi-Huberman, Georges 21 Diederichsen, Diedrich 178, 180, 183, 185, 202, 203, 205–207, 209, 211, 212, 214–219, 241, 242 Die Happy 104 Diepgen, Eberhard 157, 228 Dion, Celine 18 Dire Straits 128 DJ Alex 64 DJ Dr. Motte (p Matthias Roeingh) 154
Personen- und Namensregister
DJ Grizu 77 DJ Illvibe 78 DJ PJ NFX 61 DJ Soko (p Robert Soko) 39 DJ Spooky 66 DJ Sven Väth (p Väth, Sven) 78 DJ Techtools 77 DJ Westbam (p Westbam) 71, 78 Doebeling, Wolfgang 42, 311 Doors, The 30, 318 Dornbusch, Christian 305 Drake, Nick 24 Drechsler, Clara 203, 205 Dresdner Sinfoniker 281 Dritte Wahl 297 Duffett-Smith, James 159 Dumbsky, Ale 249 Durkheim, Émile 349 Dyk, Paul van 52 Dylan, Bob 17, 21, 116, 318
E Ean Golden 77 Eco, Umberto 199 Ehlert, Harald 47 Eisenberg, Johannes 298 Eisenstein, Sergej Michailowitsch 280 Eisler, Hanns 274 Eismann, Sonja 213, 214 Ek, Daniel 159 Embryo 248 Eminem 10 Engelmann 24 Eno, Brian 17 Epic Soundtracks (p Kevin Paul Godfrey) 210 Erikson, Rocky 19 Eshun, Kodwo 20
F Faithless 62 Faith No More 128 Fall, The 211 Fantastischen Vier, Die 153 Faulstich, Werner 206 Faust 45 Featherly, Kevin 208 Fehlfarben 219 Finlay, Jeanie 311, 319 Fischer, Helene 56 Fisher, Mark 179 Fiske, John 327, 333, 339 Fitzgerald, Ella 267 Flint, Keith 70 Florida, Richard 84, 86, 342 Foucault, Michel 63, 212 Fox, Peter 130, 268 Frank, Dirk 208 Frears, Stephen 316 Frei.Wild 300 Fried, Jason 243 Frith, Simon 204, 208 Fugazi 121
G Gahan, Dave 123 Gaier, Ted 249 Gaisberg, Frederick William 320 Garrett, David 130 Gates, Bill 238 Gibbons, Beth 185 Godfrey, Kevin Paul (p Epic Soundtracks) 210 Goethe, Johann Wolfgang von 168 Goetzke, Andrea 54 Goetz, Rainald 63, 71, 203, 205, 211 Goiny, Christian 85 Goldenen Zitronen, Die 248, 249 Gorny, Dieter 42, 51, 56, 148, 234
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Gravitationsfeld Pop
Höller, Christian 62, 237 Hooker, John Lee 318 Horak, Roman 212 Horkheimer, Max 126 Horn, Isabell 318 Hottas, Jörg 323 Houston, Whitney 18, 19 Howlett, Liam 70 Huck, Christian 174 Hügel, Hans-Otto 63, 205, 206
Götz, Maya 328 Grateful Dead 60, 123 Greenblatt, Stephen 20, 21 Grether, Kerstin 206, 210, 214 Gretschmann, Martin (p Console) 239 Grizzly Bear 128 Grönemeyer, Herbert 130, 228 Grossberg, Lawrence 338 Groß, Thomas 248 Groys, Boris 17 Gurk, Christoph 51, 203, 205, 210, 212 Gut, Gudrun 49, 54
I
H
Ich & Ich 130 Iron Maiden 123
Haas, Walter 320 Hack, Steffen 259 Hahn, Alois 174 Hall, Stuart 339, 340 Handke, Peter 196 Hansson, David Heinemeier 243 Häntzschel, Jörg 18 Harter, Til 57 Hassemer, Volker 54, 227, 228 Hayes, David 311 Haza, Ofra 40 Hebdige, Dick 181, 183, 212 Heitmeyer, Wilhelm 304 Heller, Volker 161 Hell, Richard 23 Hells Angels 300 Helms, Dietrich 205, 214 Hendrix, Jimi 59, 60, 193 Heppner, Peter 294, 298 Hickethier, Knut 218 Hill, Annette 328 Himmler, Heinrich 305 Hinz, Ralf 205 Hitler, Adolf 295, 297, 302, 303 Hitzler, Roland 173, 174 Hoffmann, Bolko 295 Holert, Tom 203, 207
J Jacke, Christoph 63, 294, 339 Jackson, Michael (King of Pop) 18, 30, 130, 158, 168, 179, 228, 240, 280 Jagger, Mick 165, 166 Jah Wobble 202 James, Peter 146 Janes Addiction 336 Jarmusch, Jim 26 Jay-Z 113, 115 Jesus 240 Joker 9, 32, 33 Jones, Richard 159 Jones, Steve 208 Juppy (p Hans-Josef Becher) 228 Justman, Paul 316
K Kamerun, Schorsch 210 Kaminer, Wladimir 27 Kampeter, Steffen 234 Kante 211 Kanté, Mory 40 Kant, Immanuel 325 Karlstadt, Liesl 316
Personen- und Namensregister
Karnik, Olaf 205, 212 Kater Holzig 229 Kellner, Douglas 330 Kennedy, Nigel 130 Keys, Alicia 115 Kiel, Martin 195 Kings of Leon 130, 131 Kiss 125 K.I.Z. 300 Kleiner, Marcus S. 62 Klein, Gabriele 335 Kloiber, Herbert 124 Klütz, Tim 205 Koch, Daniel 269 Koch, Pia 318 Koether, Jutta 203 Kohl, Helmut 228 Kösch, Sascha 203 Kracauer, Siegfried 195 Kraftklub 300 Kraftwerk 127, 239 Krämer, Sybille 175 Kretzschmar, Olaf 54 Kreye, Andrain 18 Kritzfeld, Ron 298 Krüger, Andreas 54 Kuhn, Doris 213 Kummer, Tom 210 Kunze, Heinz Rudolf 215
L Lacan, Jacques 178, 179 Lady Gaga 50, 130 Laibach 11, 211 Laing, Dave 174, 311 Laitzsch, Juliane 22 Lakomy, Rainer 53 Landser 295 Langer, Susanne K. 333 Lang, Jack 157 Lash, Scott 336, 346
Latham, Paul 130, 131 Latour, Bruno 173, 175, 183, 186, 187 Led Zeppelin 60, 128, 318 Lehmkuhl, Stefan 54 Lehrer, Tom 24 Leichsenring, Lutz 54 Lethem, Jonathan 15, 16 Lévi-Strauss, Claude 131 Liars 113 Li, Charlene 136, 345 Lindenberg, Udo 130 Lindner, Rolf 212 Lindt, George 319 Lowe, Chris 280, 281, 285, 288 Lucker, Katja 49, 101 Luhmann, Niklas 204, 216 Lull, James 136 Lünenborg, Margreth 208 Lunikoff (Verschwörung) 296, 298 Lury, Celia 346 Lütjens, Nina 54
M Madness 27 Madonna 26, 30, 50, 70, 115, 123, 130, 280 Maffay, Peter 128 Maffesoli, Michel 67 Mahler, Gustav 250 Manet, Édouard 23 Mangelsdorff, Albert und Emil 274 Manthe, Lutz T. 110 Marcus, Greil 21 Maresch, Rudolf 206 Margulies, Jonathan 51 Marley, Bob 228 Marr, Johnny 29 Martin, Darnell 316 Marx, Karl 252 Massmann, Björn 58 Maye, Harun 206, 216
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Gravitationsfeld Pop
McLuhan, Marshall 193 McRobbie, Angela 176–178 Meinecke, Thomas 201, 203, 205, 209, 211 Menuhin, Yehudi 42 MIA. 294, 298 Michel, Jean François 148 Miller, Felix 159 Milli Vanilli 167 Minnelli, Liza 281 Moessinger, Irene 41 Monroe, Marilyn 176 Morin, Christian 51 Morricone, Ennio 185 Morris, Meaghan 339, 340, 347 Morrison, Van 182 Morrissey 70 Mosler, Tomas 285 Motörhead 123 Mozart, Wolfgang Amadeus 268 Muggleton, David 337 Muse 130, 131 My Bloody Valentine 128
N Naidoo, Xavier 130 Napalm Death 305 Nebel, Carmen 56 Neidhart, Didi 14 Neil Young & The Bluenotes 117 Netrebko, Anna 113 Neumann, Bernd 229, 255 New Order 11 Niemczyk, Ralf 62 Nieswandt, Hans 126, 205 Nietzsche, Friedrich 17, 116 NON (p Boyd Rice) 321 Notwist, The 239
O Ody, Joachim 212 Ohrbooten 104 Oktoberklub 42 Oldham, Will 210 Opitz, Sven 184 Opus 125 O’Reilly, Tim 240, 241 Orlog 295, 296, 298
P Pantha du Prince 49 Pavement 116 Pavloff, Jim 70 Peel, John 182, 183 Pet Shop Boys 61, 275, 280–283, 285, 287–289 Picciotto, Danielle de 154 Pink Floyd 30, 166 Piper, Pip 319 Pixies 128 Placebo 9 Plewka, Jan 60 P!nk 62 Police, The 30, 128 Portishead 185, 187 Poschardt, Ulf 61 Potts, Paul 128 Powers, Ann 212 Presley, Elvis 26, 27, 30, 116, 158, 228 Prince 18 Prodigy, The 70 Pross, Harry 339 Pyke, Steve 182
Q Queen Elizabeth II. 147
Personen- und Namensregister
R Raabe, Jan 305 Raab, Stefan 129 Rachmaninow, Sergei W. 160 Rammstein 50, 52, 127, 232, 281 Ramones 24, 59 Rampling, Danny 68 Rappaport, Pan 320 Rappe, Michael 205, 212, 214 Rattle, (Sir) Simon 159, 166 Rech, Ingolf 319 Reed, Lou 23, 168 Regner, Sven 155 Rehberg, Uli 320 Reiser, Rio 228 Reitsamer, Rosa 214 Renger, Rudi 207, 208 Renner, Tim 54, 217 Rennicke, Frank 295 Reynolds, Simon 14, 16, 324 Rice, Boyd (p NON) 321 Richman, Jonathan 23 Riesman, David 174 Riesselmann, Kirsten 213 Rihanna 18, 46 Robertson, Royal 24 Rodriguez, Sixto 24 Roeingh, Matthias (p DJ Dr. Motte) 154 Rohde, Carsten 206 Rolling Stones, The 17, 30, 50, 119, 130, 131, 169, 276, 320 Ross, Diana 18
S Sade 175, 176, 180 Sandvoss, Cornel 337 Santana, Carlos 318 Saussure, Ferdinand de 180, 192 Savage, Jon 283, 284 Schick, Gerhard 78
Schifrin, Lalo 185 Schmidt, Siegfried J. 20, 21, 198 Schmidt, Torsten 62 Schneider, Apunkt 24 Schönberg, Arnold 274 Schönfelder, Steffen 303 Schröder, Burkhard 296, 298 Schubert, Timo 303 Schulz, Axel 54 Schulze, Gerhard 173 Schumacher, Eckhard 63, 70 Schumpeter, Joseph Alois 347 Schüttauf, Jörg 318 Schweiger, Til 52 Schwenkow, Peter 228 Scorpions 127 Scritti Politti 185 Seeßlen, Georg 301 Seier, Andrea 175 Seiler, Burkhardt 309 Selig 60 Senefelder, Alois 93 Seurat, George 68 Shakar, Alex 192 Shakira 37, 46 Shankar, Ravi 42 Siemons, Mark 206 Silbereisen, Florian 56 Silbermond 130 Sleipnir 302 Sloterdijk, Peter 344 Smith, Patti 176 Smiths, The 29, 70 Soko, Robert (p DJ Soko) 39 Somuncu, Serdar 297 Söndermann, Michael 253 Sonic Youth 211 Sportfreunde Stiller 294, 298 Springfield, Dusty 281 Stäheli, Urs 174 Stein, Thomas M. 249 Sterne, Die 120
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Gravitationsfeld Pop
Stevens, Sufjan 24, 25 Stiewe, Rembert 205, 215 Stiff Little Fingers 318 Stiglegger, Marcus 300 Stiksel, Martin 159 Storey, John 26, 339, 341 Storms, Christian 212 Strauss, Richard 92, 93 Studer, Wayne 283, 285 Suicide 23 Sunn O))) 128 Sun Ra 20, 25
V
T
Wagemann, Philip 196 Wagner, Richard 228 Walter, Klaus 217 Waltz, Matthias 183, 185 Warburg, Aby 16, 20–23, 25, 198 Warhol, Andy 158, 165, 168, 254 Weber, Max 63 Wegener, Claudia 327 Weidenmüller, Horst 54 Weingärtner, Katharina 214 Weischenberg, Siegfried 207, 208 Weiss, Christina 148 Weller, Paul 182 Welt, Wolfgang 203 WestBam 71, 78 Whites, Matthew E. 24 Who, The 202 Wicke, Peter 64 Wikström, Patrik 138 Williams, Raymond 339, 342, 344, 346 Williams, Robbie 50, 281 Willis, Ellen 212 Willis, Paul 21, 181–183, 299, 335, 336 Winehouse, Amy 18 Winter, Carsten 133, 138 Winter, Rainer 212, 332 Wir Sind Helden 122 Wonder, Stevie 18 Wowereit, Klaus 99
Tägert, Philip 240 Tarantino, Quentin 302 Tardes, Gabriel 173 Tennant/Lowe 281 Tennant, Neil 280–283, 285, 286, 288 Terkessidis, Mark 205, 206, 212 The The 11 Theweleit, Klaus 193, 297 Thompson, Hunter S. 300 Thorak, Josef 296 Thornton, Sarah 179 Timberlake, Justin 130 Tocotronic 211 Tokio Hotel 127 Ton Steine Scherben 248, 303 Toten Hosen, Die 232, 323 Trabireiter 291, 293, 296, 299, 301, 303, 306 Troubadix 295 Turbonegro 217 Turbostaat 300 Turner, Tina 281 Type O Negative 10
U U2 30, 58, 115
Valente, Caterina 267 Valentin, Karl 316 van Halen, Eddie 243 Väth, Sven 78 Velvet Underground, The 24, 168, 180 Venker, Thomas 205, 208, 217 Verdi, Giuseppe 93 Volksverhetzer 299
W
Personen- und Namensregister
Y Yo La Tengo 10 Young, Neil 117
Z Zappa, Frank 182 Zerlett, Hans H. 316 Zielinski, Siegfried 17 Žižek, Slavoj 204 Zorn, Carsten 174
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Abbildungsverzeichnis
S. 11 Anne-Katrin Breitenborn | S. 13 Yves Brockenbach | S. 31 Sören Birke | S. 39 Sören Birke | S. 42 Robert Soko | S. 43 Robert Soko | S. 51 Sören Birke | S. 55 Uwe Breitenborn | S. 57 Sören Birke | S. 58 Sören Birke | S. 59 Uwe Breitenborn | S. 65 K1Club | S. 73 www.djhero.com, screenshot 20.01.2010 | S. 75 www.djay-software.com, screenshot 20.01.2010 | S. 76 www.vestax.de, screenshot 20.01.2010. Mit freundlicher Genehmigung von Robert Wong (Vestax) | S. 81 Sören Birke | S. 82 Sören Birke | S. 84 Lutz Leichsenring | S. 85 Lutz Leichsenring | S. 87 Lutz Leichsenring | S. 97 Sören Birke | S. 105 Sören Birke | S. 108 Sören Birke | S. 115 Uwe Breitenborn | S. 138 Carsten Winter | S. 139 Carsten Winter, Aljoscha Paulus | S. 171 Sören Birke | S. 176 Arista/ BMG. Foto: Robert Mapplethorpe | S. 182 Steve Pyke, aus Polhemus 1994, S. 53 | S. 187 Anita Corbin, aus McRobbie et al. 1982, S. 112 ff | S. 197 Sören Birke | S. 202 Spex – Musik zur Zeit: 1980, Heft 1. Mit freundlicher Genehmigung von Joerg Sauer (Spex) | S. 204 Spex – Musik zur Zeit: 1990, Heft 119. Mit freundlicher Genehmigung von Joerg Sauer (Spex) | S. 211 Spex – Das Magazin für Popkultur: 1999, Heft 219. Mit freundlicher Genehmigung von Joerg Sauer (Spex) | S. 217 Spex – Magazin für Popkultur: 2003, Heft 264. Mit freundlicher Genehmigung von Joerg Sauer (Spex) | S. 218 Spex – Magazin für Popkultur: 2009, Heft 318. Mit freundlicher Genehmigung von Joerg Sauer (Spex) | S. 223 Sören Birke | S. 224 Johannes Martin | S. 231 Sören Birke | S. 233 Sören Birke | S. 238 Abb. oben: http://nerdarama.com/wp-content/up loads/2009/02/supercomputer-nerd.jpg, 27.02.2011 | S. 238 Abb. unten: http://www.morgenpost.de/berlin/article828349/Wie_Computerhacker_wirklich_sind.html., 27.02.2011 | S. 239 http://www.poplexikon.com/images/artists/0002/0522/console-_huge.jpg, 27.02.2011 | S. 240 Abb. rechts: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/ ce/Julian_Assange_20091117_Copenhagen_2.jpg, 14.03.2011 | S. 240 Abb. links: Cover von Business Punk, Ausgabe 01/2010. Scan: Philip Wagemann | S. 244 Abb. oben links: http://www.ableton.com/downloads/download_file ?file=press/live_8_screenshotS. zip, 27.02.2011 | S. 244 Abb. oben rechts: http://www.infforum.de/images/Gantt. jpg, 27.02.2011 | S. 244 Abb. unten links: http://www.ableton.com/downloads/download_file?file=press/live_8_screenshotS. zip, 27.02.2011 | S. 244 Abb. unten rechts: http://www.infoq.com/articles/agile-kanban -boards, 20.02.2011. | S. 252 http://www. initiative-musik.de, 30.09.2013 | S. 259 Uwe Breitenborn | S. 264 Sören Birke | S. 265 Sören Birke | S. 265 Sören Birke | S. 267 Olaf »Gemse« Kretschmar | S. 282 http:// www.discogS. com/viewimages?release=143967, 30.09.2013 | S. 289 http://www.
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Gravitationsfeld Pop
discogS. com/viewimages?release=43745, 30.09.2013 | S. 292 Eiko Kühnert | S. 295 Eiko Kühnert | S. 302 Eiko Kühnert | S. 305 Eiko Kühnert | S. 310 Mit freundlicher Genehmigung von Sven Wagner (Abgedreht) | S. 312 Elisabeth Heil | S. 314 Elisabeth Heil | S. 317 Mit freundlicher Genehmigung von Burkhardt Seiler (Zensor) | S. 324 Mit freundlicher Genehmigung von Sven Wagner (Abgedreht) | S. 345 Aus Li / Bernoff, 2008, S. 43
Cultural Studies Karin Bruns, Ramón Reichert (Hg.) Reader Neue Medien Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation 2007, 542 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-89942-339-6
María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung (2., vollständig überarbeitete Auflage) März 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1148-9
Rainer Winter Widerstand im Netz Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation 2010, 168 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-555-0
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Cultural Studies Rainer Winter (Hg.) Die Zukunft der Cultural Studies Theorie, Kultur und Gesellschaft im 21. Jahrhundert 2011, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-985-5
Rainer Winter, Elisabeth Niederer (Hg.) Ethnographie, Kino und Interpretation – die performative Wende der Sozialwissenschaften Der Norman K. Denzin-Reader 2008, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-903-9
Rainer Winter, Peter V. Zima (Hg.) Kritische Theorie heute 2007, 322 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-530-7
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Cultural Studies Marian Adolf Die unverstandene Kultur Perspektiven einer Kritischen Theorie der Mediengesellschaft
Marcus S. Kleiner Medien-Heterotopien Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie
2006, 290 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-525-3
2006, 460 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-578-9
Marc Calmbach More than Music Einblicke in die Jugendkultur Hardcore
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2007, 282 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-704-2
2006, 322 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-433-1
Marc Dietrich, Martin Seeliger (Hg.) Deutscher Gangsta-Rap Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen
Philipp Meinert, Martin Seeliger (Hg.) Punk in Deutschland Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven
2012, 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1990-4
November 2013, 312 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2162-4
Thomas Düllo Kultur als Transformation Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover
Sebastian Nestler Performative Kritik Eine philosophische Intervention in den Begriffsapparat der Cultural Studies
2011, 666 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 45,80 €, ISBN 978-3-8376-1279-0
Claudia C. Ebner Kleidung verändert Mode im Kreislauf der Kultur 2007, 170 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-618-2
Moritz Ege Schwarz werden »Afroamerikanophilie« in den 1960er und 1970er Jahren 2007, 180 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-597-0
2011, 312 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1891-4
Miriam Strube Subjekte des Begehrens Zur sexuellen Selbstbestimmung der Frau in Literatur, Musik und visueller Kultur 2009, 244 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1131-1
Tanja Thomas, Fabian Virchow (Hg.) Banal Militarism Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen 2006, 434 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-356-3
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