BAND 1 Politik – Ethik – Poetik: Diskurse und Medien frühneuzeitlichen Wissens 9783050055947, 9783050051000

Die Wissensdifferenzierung und der damit einhergehende Aufbruch in eine heterogene Wissensgesellschaft machen die Frühe

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German Pages 271 [272] Year 2011

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BAND 1 Politik – Ethik – Poetik: Diskurse und Medien frühneuzeitlichen Wissens
 9783050055947, 9783050051000

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Politik – Ethik – Poetik

Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit Band 1

Herausgegeben von Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus, Claus-Michael Ort

Politik – Ethik – Poetik Diskurse und Medien frühneuzeitlichen Wissens Herausgegeben von Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus, Claus-Michael Ort

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-005100-0 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2011 www.akademie-verlag.de Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der Oldenbourg Gruppe. Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour Druck & Bindung: Druckhaus »Th. Müntzer« GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706

Inhalt

Vorwort.............................................................................................................................7 Steffen Martus Transformationen des Heroismus. Zum politischen Wissen der Tragödie im 18. Jahrhundert am Beispiel von J. E. Schlegels Canut ............................................15 Rainer Zaiser Die Diskursivierung der Ethik der Selbstsorge im Theater der französischen Klassik. Racines Bérénice und Corneilles Tite et Bérénice ............................................43 Anna-M. Horatschek Weibliche Strategien der Selbstartikulation in britischer religiöser Lyrik des 17. Jahrhunderts: Prämissen, Problemfelder, Perspektiven......................................57 Javier Gómez-Montero Wissen und Form. Zum rinascimentalen Dialog in Spanien ..........................................75 Angelika C. Messner Regulierungswissen und Regulierungspraktiken im chinesischen 17. Jahrhundert.....................................................................................97 Thorsten Burkard Heteronomie und Autonomie von Dichtung. Jacob Masens und Jacob Baldes Barockpoetiken im Vergleich ...................................119 Hans-Edwin Friedrich Die Transformation der Poetik im 18. Jahrhundert: Die Dramatik im Gattungsgefüge .................................................................................147

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Jörg Kilian Diskursivierung des Wissens im deutschen Lehr- und Fachgespräch von Luther bis Campe...................................................................................................163 Markus Hundt Diskursivierung von Wissen durch Sprache – der multimodale Ansatz von Georg Philipp Harsdörffer in den Frauenzimmer Gesprächspielen .............................177 Ludwig Steindorff Die Diskursivierung von Wissen aus Westeuropa im frühneuzeitlichen Russischen Reich........................................................................201 Dirk Westerkamp Grund oder Gabe? Thesen zur frühneuzeitlichen Verwandlung der Wahrheitssemantik .................................................................................................221 Victor Andrés Ferretti Dianoëtische Hirten. Zum Verhältnis von Bukolik und téchne bei Cervantes ................................................................................................................247 Zu den Autorinnen und Autoren...................................................................................265

Vorwort

Die Renaissance war eine glückliche Zeit: „O seculum! O literae!“ begeistert sich 1518 Ulrich von Hutten in einem viel zitierten Brief an Willibald Pirckheimer und stellt zuversichtlich fest: „Iuvat vivere!“1 Die Zeiten haben sich offenbar geändert. Von der Freude am Wissen sprechen heute nur wenige. Vielmehr ist von Reizüberflutung, von der Überforderung durch scheinbar grenzenlos wachsende Informationsmengen, von Orientierungslosigkeit im Datendschungel oder von der Unübersichtlichkeit der neuen Bildungslandschaften die Rede. Ratgeber, Kompendien, Enzyklopädien und andere Verfahren der Reduktion von Komplexität schießen aus dem Boden und drängen in einer solchen Fülle auf den Buchmarkt, dass man inzwischen schon glücklich ist, wenn ein Ratgeber für den richtigen Ratgeber, eine Einführung in die Einführungen oder eine enzyklopädische Erfassung von Enzyklopädien vorliegt – aber haben sich die Zeiten wirklich so sehr geändert? Wie ernst sind die Klagen über die Bücherflut in der Frühen Neuzeit zu nehmen? Warum entstehen gerade dort in schier unübersichtlicher Menge kompendienförmige Versuche, der Masse an Wissen Herr zu werden? Warum wird die Frage, wie sich große Wissensmengen speichern und aktiv verwalten lassen, gerade hier zum Problem?2 Geändert hat sich sicherlich die Innovationszuversicht, die nicht zuletzt die von der Frühen Neuzeit eröffneten utopischen Horizonte dokumentieren.3 Thomas Morus’ Utopia gibt 1516 einer ganzen Gattung ihren Namen, Tommaso Campanella skizziert in La città del sole 1602 eine Faszinationsszene sozialer Neuordnung, und Francis Bacon entwirft 1614 in der Nova Atlantis das Bild einer Gesellschaft, die der Korruption des Sündenfalls erfolgreich begegnet. Im Novum Organon heißt es: „[...] der Mensch hat nämlich durch den Sündenfall sowohl seinen Stand der Unschuld als auch seine Herrschaft über die Schöpfung verloren. Beides kann aber noch in diesem Leben zumindest teilweise wiedergewonnen werden; ersteres durch Religion und Glauben, letzteres durch

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Eduard Böcking (Hg.): Ulrichi Hutteni Equitis Germani Opera quae reperiri potuerunt omnia. Bd. 1. Briefe von 1506-1520. Leipzig 1859, S. 217. Stefan Rieger: Speichern/Merken. Die künstlichen Intelligenzen des Barock. München 1997. Vgl. im Überblick: Michael Winter: Compendium Utopiarum. Typologie und Bibliographie literarischer Utopien. Erster Teilband. Von der Antike bis zur deutschen Frühaufklärung. Stuttgart 1978.

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Die Herausgeber

die praktischen und theoretischen Wissenschaften“.4 In allen drei Visionen vom guten Leben spielt das Wissen eine zentrale Rolle: Das einzige Buch im Sonnenstaat Campanellas handelt von der ‚Weisheit‘, und auf den Stadtmauern sind alle wissenschaftlichen Erkenntnisse dokumentiert; bei Morus sorgt die „Pflege des Geistes“ wesentlich für das „Glück des Lebens“;5 und im Zentrum von Bacons neuer Atlantis steht das „Haus Salomons“, eine Institution für die Verwaltung und Produktion von Wissen, die eine Forschungssozietät beherbergt. Das „Kollegium der Werke der sechs Tage“ arbeitet an der „Erforschung und Erkenntnis des wahren und inneren Wesens aller Dinge [...], damit Gott als ihr Schöpfer um so größeren Ruhm ob ihres Baues empfange, die Menschen aber in ihrer Auswertung um so reichere Früchte ernteten [...]“. Und in einer letzten Aufgipfelung des Fortschrittsoptimismus heißt es: „Der Zweck unserer Gründung ist die Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der Natur und die Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen“.6 So einig sich alle drei Utopien also darin sind, dass sich die Bedingungen einer ‚neuen Zeit‘ wesentlich durch Wissen einstellen, so sehr unterscheiden sie sich in den Antworten auf die Frage, wie Wissen erworben, verwaltet, popularisiert, tradiert, erneuert oder anderweitig ins Spiel gebracht und aus dem Spiel genommen werden soll. Bereits die Tatsache, dass man den Reisenden, die Bacons Nova Atlantis erreichen, zwar den insularen Wissensbetrieb in all seiner Pracht vor Augen führt, sie bei der Abreise aber zu Stillschweigen verpflichtet, deutet auf ein hohes Problembewusstsein der frühneuzeitlichen Wissenstheorie für das hin, was im vorliegenden Band als ‚Diskursivierung von Wissen‘ verhandelt wird. Mit dieser Dynamisierung des Diskurs-Begriffs, die Michel Foucault selbst in der Formel „mise en discours“ gefasst hat,7 richtet sich die Aufmerksamkeit auf Wissensprozesse, die in der jüngeren Forschung in den Blick geraten sind. Zu denken ist beispielsweise an Untersuchungen zu „Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert“,8 an die Analyse „unsicheren Wissens“9 oder an die Ver__________ 4

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The Works of Francis Bacon. Faks.-Neudr. der Ausg. von James Spedding, Robert Leslie Ellis und Douglas Denon Heath, London 1857-1874 in 14 Bänden. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 19611991, S. 365 (Übersetzung von Thorsten Burkard). Thomas Morus: Utopia. Basel 1518, S. 86; Klaus J. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat. Morus Utopia, Campanella Sonnenstaat, Bacon Neu-Atlantis. Übersetzt und mit einem Essay ‚Zum Verständnis der Werke‘, Bibliographie und Kommentar. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 58. Francis Bacon: Operum Moralium et Civilium Tomus. London 1638, S. 367, 375; Heinisch: Der utopische Staat (wie Anm. 5), S. 194, 205. Michel Foucault: L’histoire de la sexualité. Bd. 1: La Volonté de savoir. Paris 1976, S. 20, 29. Frank Grunert/Friedrich Vollhardt (Hgg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007. Carlos Spoerhase/Markus Wild/Dirk Werle (Hgg.): Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550-1850. Berlin/New York 2009.

Vorwort

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handlung von „Wissensidealen und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit“.10 Das interdisziplinäre Forschungszentrum Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel konzentriert seine Forschungen seit 2008 auf solche wissensgeschichtlichen Aspekte. Auch wenn es als fragwürdige Verwischung kategorialer und epochaler Grenzen gesehen werden kann, wenn man „die Entstehung der Wissensgesellschaft“ in die Frühe Neuzeit verlegt,11 so liegt doch auf der Hand, dass in der Frühen Neuzeit Alternativen und im Zusammenhang damit die Konfliktpotentiale und der Reflexionsbedarf in den Wissensdomänen von Religion, Politik, Künsten, Wissenschaften und vielen anderen Bereichen anwachsen.12 So bildet insbesondere der erstaunliche Bestand an explizitem ,Meta-Wissen‘ über die Diskursivierungsbedingungen des Wissens selbst einen fruchtbaren Forschungsgegenstand und verweist auf Anforderungen bei der Verwaltung erweiterter Wissensmengen, auf die damit einhergehende Kontingenzsteigerung und auf das Folgeproblem verbindlicher Wissenslegitimierung. Bezeichnend ist, dass das „Inhalts-Register“ von Georg Philipp Harsdörffers Delitiae Philosopicae et Mathematicae. Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden Dritter Theil (1653) das „Wissen der Menschen“ als eigenes Lemma anführt und dass dieses Wissen unter didaktischen, lese-therapeutischen und wissensökonomischen Gesichtspunkten problematisiert wird: „Ob besser sey / von allen etwas / oder eine Sache allein vollständig wissen und verstehen?“.13 Harsdörffers Wissensreflexionen führen zu der abschließenden Frage, „[o]b mehr zu wünschen / daß einer alles wisse / das die Menschen wissen / oder alles das / was die Menschen nicht wissen?“14 Gerade in den Bereichen von Politik, Ethik und Poetik ist ein stark ansteigender Reflexionsbedarf zu beobachten. Dem ethisch-moralischen Wissen etwa stellt sich nach dem Verlust der „Moralsicherheit“ sowie der Ausbildung einer „Dissenskultur“ mit besonderer Nachdrücklichkeit die Frage, wann moralisches Wissen überhaupt eingesetzt werden sollte, wie mithin „Ethik als Reflexionstheorie der Moral“ zu positionieren ist.15 Modelle zur Begründung von politischer Herrschaft richten sich an diesem Problembewusstsein aus und entwickeln innovative Staatskonzeptionen, bei denen das Verhältnis __________ 10 11

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Wolfgang Detel/Claus Zittel (Hgg.): Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit/Ideals and Cultures of Knowledge in Early Modern Europe. Berlin 2002. Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hgg. unter Mitwirkung von Meinrad von Engelberg): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln/Weimar/Wien 2004. So etwa Niklas Luhmann: Ethik als Reflexionstheorie der Moral. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1989, S. 358-447. Georg Philipp Harsdörffer: Delitiae Philosophicae et Mathematicae. Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden Dritter Teil. Neudruck der Ausgabe Nürnberg 1653. Hg. u. eingeleitet von Jörg Jochen Berns. Frankfurt a.M. 1990, S. 22; vgl. auch S. 15-27. Harsdörffer: Delitiae Philosophicae et Mathematicae (wie Anm. 13), S. 625. Luhmann: Ethik als Reflexionstheorie der Moral (wie Anm. 12), S. 378, 390f.

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Die Herausgeber

zwischen der Politik (der makrosozialen Sphäre) und der Ethik und dem Ethos des Einzelnen (der mikrosozialen Sphäre) zur Debatte steht. Poetiken schließlich beziehen sich in wesentlichen Aspekten auf Fragen der Ethik und Politik, sei es in Überlegungen zu Produktions- und Rezeptionsverhältnissen, sei es in der Verhandlung über Gattungsund Stilhierarchien, die sich an stratifikatorischer Semantik orientieren, sei es im Ausloten der Spielräume, die sich Abweichungen von poetischen Normierungen eröffnen.16 Insgesamt erfüllt das anwachsende Reflexionswissen über die Text- und Bildmedien der Wissensarchivierung, Wissenspopularisierung und des Wissenstransfers sowie über ihre unterschiedlichen rhetorischen und narrativen Strategien eine wichtige Funktion für die Selbstbeschreibung frühneuzeitlicher Gesellschaften und für die Reflexion ihrer Selbststeuerung und symbolischen Integration (z. B. mittels der ‚Spracharbeit‘ der Sprachgesellschaften).17 Während der Frühen Neuzeit, die sich – bei allen regionalen Unterschieden – vom Zeitalter der ‚Renaissance‘, des ‚Humanismus‘ und der ‚Reformation‘ bis zur Französischen Revolution, also vom 14./15. Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erstreckt, wird Wissen somit qualitativ und quantitativ auf historisch neue Weise bestimmt und funktionalisiert. Es werden neue Regularitäten entwickelt, wie die impliziten oder expliziten, latent zirkulierenden oder manifest in Disziplinen institutionalisierten Wissensbestände produziert und archiviert, produktiv gemacht, anschlussfähig erhalten und kommuniziert oder auch variiert und verändert, subvertiert und disqualifiziert werden. Dabei ergeben sich eben jene symptomatischen Schwierigkeiten, die beim explosionsartigen Anwachsen und der Diversifizierung von Wissensmengen entstehen; hier wird die Verbreitung des Wissens zum drängenden Problem; hier gerät der Bestand an Wissen durch technologische, institutionelle, soziostrukturelle und kommunikative Veränderungen in einem Maß in Bewegung, dass sich den Zeitgenossen wie den Historikern das Bild einer Epochenwende aufdrängte, etwa hin zu einer Zeit des „unsicheren Wissens“ im Rahmen einer „probabilistischen Revolution“.18 __________ 16

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Mit Blick auf die Gattungshierarchie vgl. Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tübingen 2001, zu den ‚Spielräumen‘ der barocken Poesie siehe ferner Wilfried Barner: Spielräume. Was Poetik und Rhetorik nicht lehren. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Teil I. Hg. von Hartmut Laufhütte unter Mitwirkung von Barbara Becker-Cantarino u.a. Wiesbaden 2000, S. 33-67; vgl. im Anschluss daran: Jörg Wesche: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen 2004 und Stephanie Stockhorst: Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten. Tübingen 2008. Zur Funktion frühneuzeitlicher Selbstbeschreibungen von Gesellschaft siehe Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, S. 866-1055. Vgl. mit ausführlichen Angaben zur Forschungslage im Blick auf das 16. und 17. Jahrhundert: Carlos Spoerhase: Die „mittelstrasse“ zwischen Skeptizismus und Dogmatismus: Konzeptionen hermeneutischer Wahrscheinlichkeit um 1750. In: Spoerhase/Wild/Werle: Unsicheres Wissen (wie Anm. 9), S. 269-300.

Vorwort

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Freilich werden einfache Innovationsgeschichten den Prozessen der Diskursivierung von Wissen nicht gerecht. Dies gilt bekanntlich für den Buchdruck, der zwar revolutionär hinsichtlich der massenhaften Produktion gleicher Druckwerke war, aber die Errungenschaften der Manuskriptkultur in wesentlichen Momenten zunächst nur fortgeführt, intensiviert, erweitert und einer größeren Anzahl an Lesern zugänglich gemacht hat. Die Inhalte des Wissens haben sich allein aufgrund dieser Medienevolution nicht elementar verändert. So mag beispielsweise der Religionspolitiker und Philosoph Nikolaus von Kues in seinen Spekulationen über die Metaphysik des Möglichen zu beachtlichen Erkenntnissen gelangt sein, besonders häufig gelesen wurden aber im 16. und 17. Jahrhundert seine „Mutmaßungen über den jüngsten Tag“ von 1445, die das Weltende auf das Jahr 1734 datierten19 – vermutlich ging das Interesse an dieser Prognose ab 1735 erheblich zurück. Ein anderes Beispiel ist der Aufstieg der Ärzte zu führenden ‚Welterklärungsexperten‘, der gerade nicht aus ihren Behandlungserfolgen resultiert. Vielmehr erweist sich diese Karriere eines Berufsstandes als Effekt eines komplexen Zusammenspiels von sozialem Inszenierungsgeschick, Rücksichtnahme auf die Albernheiten von Patienten und der Besetzung institutioneller Positionen im frühneuzeitlichen Staat und Bildungswesen. Ärzte wurden zu Sachverständigen in juristischen Streitfällen, sie gelangten als Stadtärzte in öffentliche Ämter und sie verdrängten schrittweise andere Deutungsmächte wie etwa die Theologie aus deren angestammten Bereichen: An die Stelle der kirchlichen Dämonologie setzten sie beispielsweise eine medizinische, die den Teufel als durchaus physikalisch erklärbares, aus krankhaft veränderten Körperdünsten entstehendes Trugbild behandelte.20 Die Beiträge dieses Bandes, die vorläufige Forschungsergebnisse im Rahmen von Projektentwürfen präsentieren, akzentuieren je unterschiedliche Aspekte von Prozessen der Wissensdiskursivierung. Es kann dabei – in verschiedenen Kombinationen – um Fragen des institutionellen Anschlusses gehen, um die technisch-mediale Vermittlung, um die Etablierung konzeptioneller oder kommunikativer Systeme, die inhaltliche, formale oder prozedurale Entscheidungen regulieren und dabei beispielsweise ‚normale‘, ‚evidente‘ oder ‚legitime‘ Wissensansprüche in bestimmten räumlichen, zeitlichen oder sozialen Zusammenhänge etablieren. Wenn sich ein „Diskurs“ mit Michael Titzmann als ein „System“ verstehen lässt, „das die Produktion von Wissen regelt“,21 dann fokus__________ 19

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Wilhelm Schmidt-Biggemann: Wissen und Macht an der Schwelle zur Neuzeit. Ein Beispiel: Nikolaus von Kues. In: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach: Macht des Wissens (wie Anm. 11), S. 13-38, S. 24. Michael Stolberg: Frühneuzeitliche Heilkunst und ärztliche Autorität. In: ebd., S. 111-130. Michael Titzmann: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hg. von dems. Tübingen 1991, S. 395-438, hier S. 406f.; wissenstheoretisch vertiefend vgl. Claus-Michael Ort: Das Wissen der Literatur. Probleme einer Wissenssoziologie literarischer Semantik. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hg. von Tilmann Köppe. Berlin/New York 2011, S. 164-191.

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Die Herausgeber

siert die Analyse von „Diskursivierungen“ Prozesse der Übertragung, Speicherung oder Verarbeitung, die dabei ablaufen. Gefragt wird insbesondere, wie sich die Bedingungen der Möglichkeit ergeben, dass ‚etwas‘ verhandelbar wird, wie und wann ‚etwas‘ ins Spiel kommt und zum ‚Objekt‘ wird.22 Der hier vorliegende Sammelband ist aus einer internen Tagung des Kieler Forschungszentrums Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit im Jahr 2009 in Rendsburg hervorgegangen, auf der die Mitglieder des Forschungszentrums ihre Projekte vorgestellt haben, um zu gemeinsamen Fragestellungen, Terminologien und Methoden zu gelangen. Der Sammelband selbst ist also ein Dokument der Diskursivierung von Wissen. Schwerpunkte ergeben sich in den Bereichen des ethisch-politischen Wissens und der Diskursivierung des Selbst, des poetologischen Wissens, der Medialisierung in Dialogen und der (fiktionalen) Diskurse über Wissen: Steffen Martus untersucht am Beispiel von Johann Elias Schlegels Canut (1746) die Diskursivierung ethisch-politischen Wissens und dessen Fokussierung im Medium des Heroismus in der deutschsprachigen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Einen entsprechenden Ansatz verfolgt für die französische Literatur Rainer Zaiser, der das von Michel Foucault beschriebene Konzept der cura sui auf die französische Tragödie der Klassik (Racine und Corneille) anwendet. Die Rekonstruktion der Strategien weiblicher Selbstartikulation steht im Zentrum des Interesses von Anna-Margaretha Horatschek, die in ihrem Aufsatz das methodologische Fundament für die Analyse der Lyrik englischer Frauen des 17. Jahrhunderts legt. Javier Gómez-Montero widmet sich in seinem Beitrag zu spanischen Dialogen im 16. Jahrhundert der moralischen und sozialen Selbstkonstitution durch anthropologische und ethnographische Reflexionen. Angelika Messner analysiert die Veränderung sozialer Praktiken zur Vervollkommnung des Selbst und die Popularisierung des entsprechenden Wissens im China des 16. und 17. Jahrhunderts. Thorsten Burkard und Hans-Edwin Friedrich setzen sich in ihren Beiträgen mit der lateinischen bzw. deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts auseinander. Sie gehen der Frage nach, inwieweit die Konzepte von Heteronomie und Autonomie eine zentrale Rolle im jeweiligen poetologischen Wissensdiskurs spielen. Während dies für die deutsche Poetik am Beispiel der Dramentheorie des 18. Jahrhunderts vorgeführt wird, stellt Burkards Beitrag zwei lateinische Poetiken deutscher Jesuiten des 17. Jahrhunderts im Hinblick auf die genannte Dichotomie einander gegenüber. Im Hintergrund steht in beiden Fällen auch die Frage, wie sich die Formatierung des poetologischen Feldes in dem genannten Zeitraum gewandelt hat und wie poetische Produkte durch die beiden Konzepte legitimiert werden sollten. __________ 22

Vgl. dazu entsprechende Hinweise bei Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt a.M. 1991; ders.: Archäologie des Wissens. 8. Aufl. Frankfurt a. M. 1997, 49f., 54ff., 67f.; ders.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. 9. Aufl. Frankfurt a. M. 1997 (1. Aufl. 1977), S. 21, 31.

Vorwort

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In drei Beiträgen liegt der Fokus auf der Vermittlung von Wissen, seiner Medialisierung. So untersucht Jörg Kilian deutschsprachige Lehrdialoge zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert unter dem Aspekt der katechetischen (also starr konservierenden) bzw. sokratischen (für Transformationen offenen) Form der Wissensvermittlung. Das hier in nuce vorgestellte Projekt soll auch editorisch noch nicht erschlossene dialogische Quellen besser zugänglich machen. Hinsichtlich der behandelten Zeit sowie des Themas ähnlich gelagert ist der Aufsatz von Markus Hundt, der die Wissensvermittlung in Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspielen in den Blick nimmt. Auch in diesem Themenschwerpunkt wird der geographische Rahmen durch einen eigenen Beitrag erweitert: Ludwig Steindorff untersucht den Aspekt der Medialisierung beim Wissenstransfer von Westeuropa nach Russland zur Zeit Peters des Großen. Den Band beschließen zwei Beiträge, die von einer Metaebene aus das gesamte diskursive Feld des Wissens in den Blick nehmen: Dirk Westerkamp behandelt die Diskursivierung und Verwandlung des Wahrheitsbegriffs in der frühneuzeitlichen Philosophie. Im Zentrum der Betrachtung steht dabei der Zusammenhang zwischen der schrittweisen Detranszendentalisierung von Wahrheit und der rasanten Expansion von Gegenständen, Wissensformen und Erkenntnissen, deren Wahrheitsanspruch mittels eines mittelalterlichen Offenbarungswissens und seiner Wissensformatierungen nicht mehr adäquat begründbar ist. Victor Andrés Ferretti schließlich geht am Beispiel von Cervantes’ Don Quijote einem fiktionalen Diskurs über Wissen nach. Der vorliegende Sammelband bildet den Auftakt zu einer Buchreihe, die sich der Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit widmet. Die Herausgeber danken dem Akademie Verlag für seine Unterstützung und sein Engagement. Nicht vergessen seien die Mühen des unermüdlichen Koordinators unseres Forschungszentrums Steffen Ohlendorf, der die Beiträge des Bandes korrigiert und eingerichtet hat; gedankt sei schließlich auch den Kieler Hilfskräften Eltje Böttcher und Daniel Jäschke, die uns bei den Korrektur- und Vereinheitlichungsarbeiten gewissenhaft unterstützt haben. Wir wünschen dem – hoffentlich geneigten – Leser: Iuvet legere et legisse! Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus und Claus-Michael Ort Kiel und Berlin im Februar 2011

Steffen Martus Transformationen des Heroismus. Zum politischen Wissen der Tragödie im 18. Jahrhundert am Beispiel von J. E. Schlegels Canut

1. Forschungsperspektiven Die ‚hohen‘ Gattungen und ihre ‚Helden‘ sind in der Frühen Neuzeit privilegierte Orte der Diskursivierung politischen Wissens. Unter dem ‚Helden‘ verstehe ich im Folgenden nicht den Protagonisten einer Handlung, sondern ein kulturell spezifisches Paradigma.1 Wichtig ist dabei: Von den mythischen Helden der Antike an ist der Held in der Regel eine grenzgängerische, eine liminale Figur. Der Held trägt letztlich menschliche Züge und bleibt an die Normalität gebunden. Zugleich transzendiert er die durchschnittlichen Fähigkeiten und dies bisweilen ins Übermenschliche, Göttliche. In diesem Spannungsverhältnis kombiniert der Held oftmals Aktion und Passion, Tatkraft und Leidensfähigkeit (insbesondere im Sinn von Opferbereitschaft). Konzeptionen des Heroischen reflektieren insofern durchaus zwei Seiten: Macht und Ohnmacht des Subjekts, auch und gerade im Blick auf die strukturellen Bedingungen seines Handelns, die in transzendent (Schicksal, göttliche Ratschlüsse etc.) oder immanent unkontrollierbaren ‚Mächten‘ (soziale Bedingungen, Affekte, Laster etc.) symbolisiert werden. Nur aus diesem Grund ist der Tod des Helden (z. B. im Krieg) eine herausragende Gelegenheit seiner Heroisierung, und nur deswegen kann es scheiternde Helden geben, also Verlierer, die gleichwohl oder gerade wegen ihrer Niederlage nichts von ihren bewundernswert heroischen Qualitäten einbüßen. Bekanntlich verliert die positive Bewertung des Helden in der Aufklärung an selbstverständlicher Geltung. Seine übermenschlichen Eigenschaften geraten z. B. unter den Verdacht der ‚Unmenschlichkeit‘; oder man unterstellt ihm, eine uninteressante Figur zu sein, weil er wegen der Überschreitung von Normalität das Mitgefühl nicht reize. Nicht zuletzt in der Dramentheorie und Dramenpraxis werden entsprechende Argumente entwickelt und wirkmächtig verbreitet, wobei Lessing die zentralen Stichwörter dafür __________ 1

Zur Begriffsbestimmung und Konzeptionalisierung in der Frühen Neuzeit vgl. zum 17. Jahrhundert: Martin Disselkamp: Barockheroismus. Konzeptionen ‚politischer‘ Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002, S. 24ff.; zum 18. Jahrhundert: Nikolaus Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008, S. 47ff.

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Steffen Martus

vorgegeben hatte. Dieser oftmals als Privatisierung und Intimisierung gedeutete Prozess gilt zugleich als Entpolitisierung und trifft insbesondere die „heroische Tragödie“: Weil es in der Konstruktion des Helden immer wieder um Fragen der Macht und Ohnmacht geht, steht dort das Staatsinteresse im Zentrum – es handelt sich um „politische Trauerspiele“.2 Zwar weiß man, dass dem bürgerlichen Trauerspiel quantitativ nur ein geringer Anteil an der Dramenproduktion des 18. Jahrhunderts zukommt und dass in diesem Korpus wiederum die Tragödie nach dem Modell der Mitleidsdramaturgie Lessings eine Außenseiterposition einnimmt.3 Auch hat sich die Erforschung der „heroischen Tragödie“ von der paralysierenden Fixierung der Dramengeschichtsschreibung auf Lessing in bestimmten Fragestellungen befreit.4 Gleichwohl wurde die Dramengeschichte bislang als Fortschrittsgeschichte geschrieben und nicht als Geschichte der Zunahme dramatischer Möglichkeiten, so dass die gezielte Untersuchung der Politik der Aufklärungstragödie erstaunlicherweise bis heute ein Desiderat geblieben ist.5 Selbstverständlich spielt das „Staatsinteresse“ in den kanonischen Studien eine Rolle, aber dies mehr beiläufig und als eine Art kaum rekonstruktionsbedürftiger Rahmen, in dem dann andere Momente bevorzugt untersucht werden.6 Dies gilt gerade für jene __________ 2 3 4

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Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993, S. 7ff. So das Ergebnis der Untersuchung von Cornelia Mönch: Abschrecken oder Mitleiden. Das deutsche bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert. Versuch einer Typologie. Tübingen 1993. Vgl. zuletzt etwa Wolfgang Lukas: Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 bis 1770). Göttingen 2005; vgl. als frühes Beispiel einer breiter angelegten und zumindest sozialhistorisch interessierten Dramengeschichte für die zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Wolfgang Schaer: Die Gesellschaft im deutschen bürgerlichen Drama des 18. Jahrhunderts. Grundlagen und Bedrohung im Spiegel der dramatischen Literatur. Diss. Bonn 1963 – Politik kommt hier über die „höfische Welt“ primär als „extrafamiläre[r] Störfaktor“ zur Geltung (ebd., S. 147ff.). Für die Politik der Tragödie führen nicht weiter: Christian Erich Rochow: Das Drama des hohen Stils. Aufklärung und Tragödie in Deutschland (1730-1790). Heidelberg 1994; Horst Steinmetz: Das deutsche Drama von Gottsched bis Lessing. Ein historischer Überblick. Stuttgart 1987 (zu Canut S. 54ff.). Vgl. hingegen als ein beliebiges Beispiel für die Dramengeschichte des 17. Jahrhunderts, das sich durch die Aufarbeitung auch nicht-kanonischer Stücke sowie durch den Versuch einer regionalen Differenzierung des politischen Wissens der Tragödie auszeichnet: Klaus Reichelt: Barockdrama und Absolutismus. Studien zum deutschen Drama zwischen 1650 und 1700. Frankfurt a.M./Bern 1981. Für die Dramengeschichte gilt insofern das, was Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann für die Aufklärungsforschung insgesamt vor rund 20 Jahren konzediert haben: Die Frage nach der „Politisierung“ gilt einerseits einem „vernachlässigte[n] Thema“, andererseits geht es um „Versachlichung und Präzisierung eines geläufigen Bezugs- und Argumentationsrahmens“ – und weiter: „Es fehlt nicht an Studien zum Prozeß des allgemeinen Wandels der sozio-kulturell bestimmten Bewußtseins- und Verhaltensstrukturen, wohl aber an solchen zum politischen Bewußtseinswandel im Verlauf des 18. Jahrhunderts“ (Aufklärung als Politisierung – Politisierung als Aufklärung. In: Aufklärung als Politisierung – Politisierung als Aufklärung. Hg. von Hans Erich

Transformationen des Heroismus

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bahnbrechenden Arbeiten, die seit rund zwanzig Jahren zu einem besseren Verständnis der Dramengeschichte des 18. Jahrhunderts beigetragen haben. Sie bevorzugen andere Kontexte als den politischen: etwa die affekttheoretischen Dimensionen einer „Dramaturgie des Pathetischen und Erhabenen“ (Georg-Michael Schulz7), die Geschichte „literarischer Normen“, die das Drama exemplifiziert (Rosmarie Zeller8), den „Moraldiskurs“ (Wolfgang Lukas9, Wolfgang Ranke10), die poetologischen Bestimmungen im Allgemeinen (Albert Meier11, Heide Hollmer12, Peter-André Alt13) oder einzelne poetologische Elemente wie die hamartia-Lehre (Cornelia Mönch14). Im Folgenden will ich am Beispiel von Johann Elias Schlegels Canut exemplarisch Probleme und Fragestellungen aufzeigen, die sich ergeben, wenn die Tragödie der Aufklärung als eine Form der Diskursivierung politischen Wissens verhandelt wird. Schlegels Drama15 über den vorbildlichen Dänenkönig – in seiner Zeit hoch gelobt – sowie die Diskussion darüber (z. B. zwischen Lessing, Nicolai und Mendelssohn im Briefwechsel über das Trauerspiel) gelten als eine Umkehrstelle der Literaturgeschichte, wie Albert Meier pointiert zusammenfasst: „Der Heroismus hatte hier zum ersten Mal in Deutschland seine selbstverständliche Gültigkeit als ethisches Nervenzentrum der Tra__________

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Bödeker und Ulrich Herrmann. Hamburg 1987, S. 3-9, S. 3f.). Kurt Wölfels Beitrag (Politisches Bewußtsein und Politisches Schauspiel. Zum Thema ‚Aufklärung als Politisierung‘. In: ebd., S. 72-89) schließt zwar daran an, ist aber für meine Ausführungen wenig ertragreich, weil er sich auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und nur andeutungsweise auf die Dramenpraxis bezieht. Wolfgang Martens (Die deutsche Schaubühne im 18. Jahrhundert – moralische Anstalt mit politischer Relevanz. In: ebd., S. 90-107) setzt sich vornehmlich mit der Deutung des Aufklärungsdramas als Beitrag zur „Emanzipation“ des Bürgertums ab und reagiert auf diese These zu Recht skeptisch. Interessant sind die Belege zu einer Poetologie der „indirekten“ politischen Wirkung und Funktion des Dramas von Gottsched über Lessing bis Schiller (ebd., S. 95ff.). Warum allerdings vor allem darin die „politische[ ] Relevanz“ des Dramas bestehen soll (ebd., S. 103), bleibt unklar. Georg-Michael Schulz: Tugend, Gewalt und Tod. Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen. Tübingen 1988. Rosmarie Zeller: Struktur und Wirkung. Zu Konstanz und Wandel literarischer Normen im Drama zwischen 1750 und 1810. Bern/Stuttgart 1988. Lukas: Anthropologie und Theodizee (wie Anm. 4). Wolfgang Ranke: Theatermoral. Moralische Argumentation und dramatische Kommunikation in der Tragödie der Aufklärung. Würzburg 2009. Meier: Dramaturgie der Bewunderung (wie Anm. 2). Heide Hollmer: Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gottscheds „Schaubühne“. Tübingen 1994. Vgl. hier auch einen guten Forschungsüberblick: ebd., S. 1ff. – Bei Hollmer steht der Abgleich zwischen Dramenpraxis und Dramentheorie im Vordergrund, ohne dass Hinweise auf den politischen Gehalt (insbesondere im Blick auf die Naturrechtslehren von Christian Wolff und Gottsched; z. B. ebd., S. 157f.) vernachlässigt werden. Peter-André Alt: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Tübingen/Basel 1994. Mönch: Abschrecken oder Mitleiden (wie Anm. 3). Belege bei Albert Meier: Johann Elias Schlegel: Canut, Ein Trauerspiel. In: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung. Stuttgart 2000, S. 251-274, S. 252.

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gödie verloren“. Denn: „Heroische Ruhmbegier“ wird an der Figur Ulfos, des gleichermaßen intriganten wie unmoralischen Gegners des Protagonisten, als „verbrecherischer Ehrgeiz denunziert“, wohingegen „in der Geduld bzw. Verzeihensbereitschaft des Königs Canut ein konträres Moralverständnis erscheint“. Damit ist der wegweisende „Übergang vom heroischen zum empfindsamen Geschmack“ markiert.16 Canut steht für die „Krise des heroischen Trauerspiels“.17 Der vorliegenden Studie liegt die Hypothese zugrunde, dass sich parallel zu dieser geschmacksgeschichtlichen Entwicklung der politische Fokus der Tragödie im 18. Jahrhundert verschiebt. Ich gehe also nicht davon aus, dass dieser politische Fokus verloren geht, sondern dass sich daran der Übergang von vormodernen zu modernen Konzeptionen politischer Macht ablesen lässt. Zwei Momente sind von besonderer Bedeutung, um die politischen Dimensionen angemessen zu erfassen: Die Tragödie wird zumindest teilweise zu einem Medium, das nicht mehr primär Wissen über den Souverän zur Verfügung stellt; sie reflektiert (auch) Konzepte von Staatsbürgerschaft.18 Damit wiederum hängt die Entwicklung einer politischen Anthropologie zusammen, so dass Privatisierung und Intimisierung nicht zwingend als Aspekte der Entpolitisierung gedeutet werden sollten.19 Vielmehr erschließt sich das politische Wissen neue Berei__________ 16

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Meier: Dramaturgie der Bewunderung (wie Anm. 2), S. 9f. Vgl. jedoch in der tragédie classique bereits den Typus der unnachgiebigen Täterfigur, die Handlungsmacht gegen den König reklamiert: z. B. Gomes in Corneilles Cid (Johann Christoph Gottsched: Die Deutsche Schaubühne. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1741-1745. Mit einem Nachwort von Horst Steinmetz. Bd. 1. Stuttgart 1972 [Repr.], S. 356ff.) – auch hier hängen innere und äußere Herrschaftssicherung bzw. die Exterritorialisierung von Gewalt unmittelbar zusammen; oder Achill in Racines Iphigenia (ebd. Bd. 2, S. 59, 67f.). Dieter Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit. Johann Elias Schlegels Canut und die Krise des heroischen Trauerspiels. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 154171. Borchmeyer fordert zwar, dass die „politisch-rechtlichen Bezüge“ geklärt werden (ebd., S. 154), gibt dazu aber lediglich Hinweise. Wichtige Hinweise für die Schaubühnen-Dramen bei Hollmer: Anmut und Nutzen (wie Anm. 12): Für die hier vorgelegte Canut-Interpretation sind als Vergleichsfälle vor allem jene Dramen interessant, in denen die Eigenschaften der Untertanen bestimmt werden, so etwa im Fall von Schlegels Herrmann als Beitrag zur „Erziehung des Staatsbürgers“ (ebd., S. 156ff.), in Theodor Johann Quistorps Aurelius, oder Denkmaal der Zärtlichkeit, wo das Motiv vom „redlichen Mann am Hofe“ ausgeführt wird (ebd., S. 178ff.), oder in Ephraim Benjamin Krügers Mahomed der IV., wo der Fehler des Souveräns durch seinen Rat und das Eingreifen des Volkes ausgeglichen wird (ebd., S. 237). Übereinstimmend mit Lukas, der im Blick auf den Moraldiskurs die „Wende zur Anthropologie“ in der Frühaufklärung ansetzt und dabei den „Versuch der modellhaften Neuorganisation von sozialer Bindung im öffentlichen (Tragödie) wie privaten Raum (Komödie)“ heraushebt (Anthropologie und Theodizee [wie Anm. 4], S. 18, 349). Dabei gilt: Die „ideologische Sprengkraft“ dieser Anthropologisierung als Entdeckung der menschlichen „Natur“ besteht in der moralischen Indifferenz anthropologischer Regungen (ebd., S. 48ff.). Oder anders im Anschluss an Panajotis Kondylis: Auch im Bereich der politischen Anthropologie traktiert die Aufklärung das Problem,

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che.20 Die dramatische Diskursivierung von politischem Wissen betrifft mithin nicht allein die Politik, sondern auch das Politische, das die Funktionsfähigkeit politischer Institutionen und die Geltung politischer Normen und Werte sichert.21 Ich will in einem ersten Schritt an der Figur des Souveräns und in einem zweiten Schritt an der Figur des Untertanen zeigen, an welchen Stellen und mit welchen Fragen eine entsprechende Analyse einsetzen könnte – die Durchführung bleibt einem Forschungsprojekt vorbehalten, dessen Konturen hier nur skizziert werden sollen.

2. Souveränität und Nation Das „Trauerspiel“ Canut erscheint 1746 in Kopenhagen und handelt vom Kampf des ersten christlichen dänischen Königs22 gegen seinen Widersacher Ulfo, der – eigentlich schon besiegt – mit allen Tricks und Kniffen versucht, eine Armee gegen Canut zu mobilisieren. König Canut repräsentiert die Figur des menschenfreundlichen, wohltätigen Herrschers, und dies zeigt sich vor allem daran, dass er Ulfo mit allen Mitteln vergeben will, genauer: Er will dem Aufrührer „Gnade“ gewähren. Ulfo nimmt immer neue Anläufe zum Umsturz des Königs, er missbraucht das Vertrauen Canuts, wo immer sich ihm die Gelegenheit dazu bietet. Dieser macht ihm stets neue Angebote, die „Gnade“ des Herrschers anzunehmen. Verkompliziert wird der Plot durch die gattungstypische Liebeshandlung, in der Ulfo mit dem königstreuen Vasallen Godewin um Canuts __________

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wie sich ‚Sollen‘ und ‚Wollen‘ miteinander verbinden lassen (wiederum im Blick auf den Moraldiskurs: ebd., S. 173ff.). Symptomatisch dafür ist die Ambivalenz des Politik-Begriffs, der seit dem späten 17. Jahrhundert sowie im 18. Jahrhundert sowohl die ‚Staats-‘ als auch die ‚Privat‘-Politik umfasst, während zuvor und danach die staatspolitische Perspektive dominiert (Gotthardt Frühsorge: Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974, insbes. S. 48ff.). Die Untersuchungsrichtung entspricht durchaus dem, was Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann als Forschungsprojekt zur „Politisierung“ gefasst haben: die Analyse des „Zusammenhangs von staatlicher Verfassung, gesellschaftlichem Gefüge und individueller Situation“, die „nicht nur auf der Ebene der Reflexion und eines deutlichen Denk- und Handlungsprogramms“ verläuft. „Politisierung ist der komplizierte Prozeß der Verarbeitung von Erfahrung und ihrer diskursiven Vermittlung, der Sensibilisierung für angeblich Selbstverständliches, der Erkenntnis von Widersprüchen, des Ansprechbarwerdens und -machens für politische Meinungen und der Formulierung von Zielen“ (Aufklärung als Politisierung – Politisierung als Aufklärung [wie Anm. 6], S. 4). Eine andere methodische Fassung bei Thomas Lemke/Susanne Krassmann/Ulrich Bröckling: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Hg. von dens. Frankfurt a.M. 2000, S. 7-40 (hier auch zum Begriff „politisches Wissen“, S. 20). Zu den historischen Hintergründen: Georg-Michael Schulz: Die Überwindung der Barbarei. Johann Elias Schlegels Trauerspiele. Tübingen 1980, S. 101f.; zu den Quellen: Gustav Paul: Die Veranlassung und die Quellen von Johann Elias Schlegels Canut. Diss. Gießen 1915.

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Schwester Esthrite konkurriert. Am Ende bleibt dem unverbesserlichen Ulfo nur noch eine gleichsam gegensouveräne Geste: Er stürzt sich – ungewollt – in ein Schwert und entzieht sich damit jeder Bestrafung durch den König.23 Schlegel folgt mit seiner Tragödie verhältnismäßig strikt den Mustern der tragédie classique (insbesondere Pierre Corneilles)24 und – nicht ohne Widerspruch dazu – der klassizistischen Bewunderungsdramaturgie, wie Gottsched sie in seiner Critischen Dichtkunst formuliert hat. Sein eigener tragödientheoretischer Entwurf25 in der Schrift Über die Aufnahme des dänischen Theaters, der eher auf eine Vergrößerung der dramaturgischen Spielräume anstatt auf eine strikte Regulierung setzt und dabei dem „Vergnügen“ eine bemerkenswert eigenständige Rolle zumisst,26 kommt auf den ersten Blick nur in wenigen Aspekten als geeigneter Interpretationsrahmen in Frage. Gerade der dort formulierten Kritik an der Lehrsatzdramaturgie scheint Canut zu widersprechen, denn unter der großen pictura der Dramenhandlung steht am Ende als kurze subscriptio: „Doch ach! die Ruhmbegier, der edelste der Triebe, / Ist nichts als Raserei, zähmt ihn nicht Menschenliebe“ (S. 7327). Wichtig ist, dass Schlegel sein Drama damit vom Ende her nach wie vor in den Grenzen des „heroischen Trauerspiels“ hält. Denn was sich auf den ersten Blick als aufgeklärte, vielleicht sogar empfindsame Zügelung28 des Heldenanspruchs von Ulfo liest, ist zunächst die Erinnerung an die Doppelstruktur des Heroismus: Nur die Opferbereitschaft für andere (z. B. für ‚die Menschen‘) unterscheidet den Helden vom Fanatiker oder Verbrecher, der nach individueller Größe ohne Rücksicht auf Verluste strebt.

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Man kann dies schwerlich „einen autonomen Quasi-Selbstmord“ nennen (Lukas: Anthropologie und Theodizee [wie Anm. 4], S. 209). Meier: Johann Elias Schlegel: Canut, Ein Trauerspiel (wie Anm. 15), S. 253ff. Ausführlich zu Parallelen zwischen Canut und Dramen Corneilles: Ranke: Theatermoral (wie Anm. 10), S. 282ff. Zum Kontext nach wie vor anregend: Walther Rehm: Römisch-französischer Barockheroismus und seine Umgestaltung in Deutschland. In: ders.: Götterstille und Göttertrauer. Aufsätze zur deutsch-antiken Begegnung. München 1951, S. 11-61, 329-337 (zu Schlegels ‚griechischen‘ Tragödien S. 42f.). Zu Schlegels Poetologie insgesamt: Gerlinde Bretzigheimer: Johann Elias Schlegels poetische Theorie im Rahmen der Tradition. München 1986; auch: Elizabeth Wilkinson: Johann Elias Schlegel. A German Pioneer in Aesthetics. 2. verb. Aufl. Darmstadt 1973. Bei Corneille besteht zwar das „Primat des Vergnügens“, aber eines Vergnügens, das immer schon utilitaristisch rückversichert ist (Meier: Johann Elias Schlegel: Canut, Ein Trauerspiel [wie Anm. 15], S. 254f.). Seitenzahlen im Text verweisen auf folgende Ausgabe: Johann Elias Schlegel: Canut. Ein Trauerspiel. Im Anhang: Johann Elias Schlegel: Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters. Hg. von Horst Steinmetz. Stuttgart 1967. Zur „empfindsame[n] Unterwanderung des heroischen Trauerspiels“ in Schlegels Canut vgl. Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17); ihm folgend: Alt: Tragödie der Aufklärung (wie Anm. 13), S. 130f.

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Entscheidend ist also, dass der Held hier nicht abgewirtschaftet hat, sondern dass sein Heroismus auf bestimmte Werte und Normen hin perspektiviert wird – es handelt sich mithin um eine Transformation des Heroismus, nicht um dessen Negation.29 Bei aller Übereinkunft mit der Tradition des französischen Klassizismus bleibt weiterhin zu überlegen, inwiefern Canut die Charakterkunst Shakespeares beleiht – Schlegel hatte den englischen Autor in Deutschland als Theaterparadigma in der Schrift Vergleichung Shakespears und Andreas Gryphs (1741) gesetzt. Zwar rät auch Corneille dazu, Laster und Tugenden „lebhaft“ abzuschildern, aber Schlegel konzentriert sich in einer Art und Weise auf die Ausgestaltung seiner Charaktere, dass er das klassizistische Primat der Handlung zurückzustellen scheint.30 Tatsächlich ist die Handlungshemmung eines der zentralen Motive des Stücks.31 In der Canut-Vorrede erklärt Schlegel: „Ich habe diejenigen Umstände gewählet, die mir am bequemsten geschienen, Charaktere ins Licht zu setzen und Gemütsbewegungen zu erwecken, und dieses mit einer Freiheit, die schon längstens in Gedichten vergönnet gewesen“ (S. 8). Gerade also diese ‚Befreiung‘, die ‚Shakespearisierung‘ einer Dramaturgie, die sich für den (leidenschaftlichen) Einzelnen interessiert, betreibt im Gegenzug dessen Ruhigstellung. Dass es sich dabei hier weniger um eine pièce d’intrigue als um eine pièce de caractère handelt (S. 98), ist in Kombination mit dem nationalhistorischen Sujet der alten nordischen Geschichte von Bedeutung.32 Bereits Schlegel bearbeitet die Frage nach der Relevanz des shakespearesierenden Charakter-Dramaturgie als Teil der Diskussion um ein Nationaltheater: Darin, so erklärt Schlegel in der Vergleichung wie in den Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters immer wieder, unterscheiden sich Franzosen und Engländer, wobei die Dänen und die Deutschen Schlegel zufolge eher eine englische Wahlverwandtschaft empfinden.33 Für den politischen Formsinn der Tragödie, __________ 29 30 31

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So auch Ranke: Theatermoral (wie Anm. 10), S. 304ff. Meier: Johann Elias Schlegel: Canut, Ein Trauerspiel (wie Anm. 15), S. 255, 257. Ranke: Theatermoral (wie Anm. 10), S. 273ff., 301, zur „Vergeblichkeit“ von Ulfos Unternehmungen, die „von Beginn an“ durch „Vorausdeutungen und Kommentare“ signalisiert wird (S. 273) und die die „Stabilität jener Ordnung“ demonstriert, „gegen die Ulfo vergeblich zu rebellieren versucht“ (S. 275). Zur Nationalgeschichte im französischen Klassizismus vgl. Meier: Johann Elias Schlegel: Canut, Ein Trauerspiel (wie Anm. 15), S. 257f.; generell zum „Interesse am vaterländischen Stoff“: Zeller: Struktur und Wirkung (wie Anm. 8), S. 222ff. Schlegel: Canut (wie Anm. 27), S. 102, auch 77f.; ders.: Ästhetische und dramaturgische Schriften. Hg. von Johannes von Antoniewicz. Darmstadt 1970 (Repr.), S. 80ff. Zum zeitgenössischen Nationaldiskurs in Dänemark und zu Schlegels Reaktion darauf: Heinrich Detering: Die Nation der Poesie – Johann Elias Schlegel und die Seinen. In: Skandinavistik 24 (1994), S. 85-102, S. 86ff. – dagegen: Sigrit Schütz: Der übertrieben positive Nationalheld. Zum Problem des fehlenden tragischen Konflikts in Johann Elias Schlegels Trauerspiel „Canut“. In: Lessing Yearbook 12 (1980), S. 107-122. Allgemein zur Nationalismusforschung sowie zum „Vaterland-Diskurs[ ]“ im 18. Jahrhundert mit Akzent auf dem „imaginativen Charakter des Nationalismus“: Hans Peter Herrmann/Hans-Martin Blitz/Susanne Moßmann: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus,

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die gleichermaßen die Befreiung wie die Handlungshemmung von Individualität betreibt, ist dies in mindestens drei Hinsichten bemerkenswert: (1) Wenn Schlegel jene Fehler vermeidet, die er bei Shakespeare und Gryphius in der Vergleichung moniert und sich weitgehend an die Normen des klassizistischen Theaters (insbesondere die drei Einheiten) hält, sich aber gleichwohl in einer auffälligen Weise auf die Charakterdarstellung konzentriert, dann könnte man das Drama seiner Struktur nach als Entsprechung zum finalen Lehrsatz deuten: Es schränkt durch das klassizistische Korsett die ungehemmte Entfaltung der Charaktere, die in der Vorrede reklamierte „Freiheit“ der Gestaltung, offenbar selbst ein. Schlegel arbeitet damit an dem zentralen politischen Problem des Dramas, nämlich an der Frage, wie die absolutistische Herrschaft gesichert bzw. die legitime Gewalt an der Staatsspitze monopolisiert werden kann. Hierfür scheint eine bloß restriktive Form der Machtausübung nicht zu genügen. Schlegel setzt zumindest versuchsweise auf eine Mischung aus individueller Ermächtigung und staatspolitischer Hemmung.34 In der Vorrede zu Canut betont Schlegel neben der „Tapferkeit“ insbesondere die „Gerechtigkeit und Gütigkeit“ des historischen Dänen-Königs, der „die Einigkeit und das Blut seiner Untertanen“ besonders hoch geschätzt (S. 6) und diese mithin vor ungehemmten, gewalttätigen Handlungsweisen geschützt habe. Dem steht Ulfo gegenüber: Er war bei seiner großen Tapferkeit von sehr wildem Gemüte, ein Charakter, von welchem ich mich zu sagen getraue, daß er vormals bei den deutschen und nordischen Völkern sehr gemein war und daß die meisten unter ihnen die Tapferkeit für die einzige Tugend hielten. (S. 6)

Die formal erzeugte Beruhigung des ‚wilden Gemüts‘ ermöglicht zugleich die Staatsgründung, die das Drama gewissermaßen ex post in Szene setzt. Individualität wird damit promoviert, zugleich aber in bestimmten Grenzen gehalten. Dies lässt sich, so kann man mit Heinrich Detering argumentieren, bis in die liberalisierte und zugleich streng gebundene Verssprache des Dramas hinein verfolgen, in der die „individualisierten Redeweisen eben wiederum an- und ausgeglichen sind im höfischen Alexandriner“.35 An dieser Stelle lohnt ein Seitenblick auf die spätere Canut-Bearbeitung von Johann Gabriel Bernhard Büschel (1780), der Schlegels klassizistische Tragödie in Prosa übersetzt und sie dabei im Sinn des ‚Sturm und Drang‘ bearbeitet hat (s. u.).36 Während die Handlung und die Charaktere des Stücks im Lauf der Zeit immer stärker vom Ursprungstext abweichen, entsprechen die ersten Szenen noch eher Schlegels Vorlage. Man sieht an dieser Aktualisie__________

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Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1996, S. 15ff. (Zitat S. 20). Dies im Unterschied zu Ranke: Theatermoral (wie Anm. 10), S. 342f., der in Übereinstimmung mit der älteren Forschung, die Ulfo als Prototyp des Sturm-und-Drang-Helden versteht, auf dessen „wirkungsdynamisches Eigengewicht“ und damit auf die Diskrepanz von „szenische[r] Wirkungslogik“ und „argumentativer Diskurslogik“ zielt. Detering: Die Nation der Poesie (wie Anm. 33), S. 85-102., S. 92f. Johann Gabriel Bernhard Büschel: Schauspiele für die deutsche Bühne. Leipzig 1780, S. 91-162.

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rung recht gut, dass das Drama mit wenigen Handgriffen in das genieästhetische Paradigma befreiter Individualität übersetzbar war. Die Kalmierung des ‚wilden Gemüts‘ bedeutet für die von Schlegel in der Vergleichung Shakespears und Andreas Gryphs entworfenen Literaturgeschichte, dass die klassizistische Theaterreform der Aufklärung als Regulierung der ungebändigten Charakterdarstellung eine Art Parallelaktion zum Prozess der Staatengründung darstellt. Dies ist insofern interessant, als Schlegels Nationen-Konzept auf den ersten Blick kulturalistisch wirkt: Wenn sich für ihn der „Charakter“ einer Nation über „Sitten“, Geschichte, Sprache und Literatur definiert, dann sind dies Nationalcharakteristika, die bearbeitet werden können und sich mit einer humanistischen Einstellung vertragen – Godschalk, dem Canut zur Hilfe kommen will, ist ein „Slawen“-Prinz und zudem ein Heide. Auf diese Weise verbindet Schlegel im gemeinsamen Kampf gegen das Unrecht „Humanität“ und „patriotische[ ] Emotion“.37 Zu fragen ist, ob dies etwas an der privilegierten Stellung des „Vaterlandes“ ändert, wie Schlegel sie in Ueber die Liebe des Vaterlandes (1744) und an anderen Stellen ausführt: Die Hilfsbedürftigkeit des Menschen bei Geburt begründet demnach einen „Vertrag“ mit dem „Volk“ des Geburtslandes zur wechselseitigen Hilfe: „Du Land! in welchem mir das erste Licht erschienen, / Erzieh, und nähre mich, ich will dir wieder dienen“. Zwar sei man jederzeit zur Kritik an Missständen des eigenen wie zum Lob von Vorzügen eines anderen Landes befugt, aber das „Band“ ans „Vaterland“ bleibe unauflöslich („Es kann kein neues Band uns von dem alten trennen“).38 (2) Der Kampf gegen die Staatlichkeit durch das ‚wilde Gemüt‘ wird als nationalpolitisches Problem bearbeitet, und so konfiguriert die politische Form der Tragödie das ‚Nationale‘ auf eine bestimmte Art und Weise: Es geht dabei um unterschwellige nationale Vorlieben und Neigungen, die nur sehr schwer zu verändern bzw. zu bearbeiten sind. Zu untersuchen wäre, welche Nationalanthropologie Schlegel zugrunde legt bzw. wie die Anthropologie auf die Anforderungen durch einen nationalpolitischen Bezug reagiert. Dem Zusammenhang von Anthropologie und Drama hat man sich bislang in der Canut-Forschung ebenfalls nicht gewidmet, sondern nur mehr oder weniger vage von Vorformen der ‚Empfindsamkeit‘ gesprochen.39 Ich kann an dieser Stelle lediglich darauf hinweisen, dass gerade Ulfo, also der Charakter von gleichsam Shakespeare’__________ 37

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Detering: Die Nation der Poesie (wie Anm. 33), S. 93f. Zu diesem typisch frühaufklärerischen Nationalismus vgl. Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg 2000, S. 93ff. (forschungsgeschichtlich dazu: ebd., S. 9ff.). Johann Elias Schlegel: Werke. Hg. von Johann Heinrich Schlegel (1764-1773). Bd. IV. Frankfurt a.M. 1971 (Repr.), S. 117. Vgl. zu diesem Prioritäts-Prinzip auch: Johann Elias Schlegel: Herrmann, ein Trauerspiel. In: Johann Christoph Gottsched: Die Deutsche Schaubühne. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1741-1745. Mit einem Nachwort von Horst Steinmetz. Bd. 4. Stuttgart 1972 (Repr.), S. 1-68, S. 31; Die Horazier, ein Trauerspiel, aus dem Französischen des Hrn. Peter Corneille übersetzt von Friedr. Erdmann Freyh. von Glaubitz. In: ebd. Bd. 1, S. 1-78, S. 25. Als Stichwortgeber: Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17).

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schem Format, innerdramatisch für die Vertiefung der anthropologischen Dimension sorgt, weil er sich nicht kontrollieren lassen will: „Wer sieht den tiefen Grund von Ulfons Herzen ein?“ (S. 62), fragt Esthrite und spielt damit auf die Theorien vom fundus animae an, die in der Frühaufklärung als Deutungsmodell für Formen des Vorbewussten zur Verfügung stehen.40 Für die politische Anthropologie bzw. für eine Anthropologie des Politischen ist an dieser Stelle ein Vergleich mit Schlegels zweitem großem nationalhistorischem Gründungsdrama aufschlussreich: mit der Herrmann-Tragödie, die 1743 in Gottscheds Deutscher Schaubühne erscheint. In der Figur von Herrmanns Bruder Flavius, der von Römern erzogen wurde und damit zwischen seiner „Pflicht“ für die Deutschen und der Neigung zum „Feind“ handlungsunfähig hin- und hergerissen wird, gestaltet das Drama eine Form der Herrschaftstechnik, die nicht auf manifeste Gewalt setzt, sondern auf die Verführung durch die Mentalität einer feindlichen Nation.41 Da der „kühne Feind“ den „Trieb zur Freyheit […] in seiner Laster Joch“ zwingen will, lautet die Direktive für Herrmann im Blick auf sein „Volk“: „Du mußt es vor dem Feind und vor den Lastern schützen“.42 Der Kampf findet also auf freiem Feld und in der Psyche statt.43 Der Gegensatz zwischen dem aufrichtigen, pflichtbewussten Deutschland und dem frivolen, vergnügungssüchtigen Rom ist daher weniger als Entfaltung von Nationalstereotypen mit möglicherweise gallophoben Zügen interessant.44 Er liefert vielmehr ein Beispiel dafür, wie Politik mit den Mitteln unterschwelliger Beeinflussung gemacht werden kann und gemacht werden muss, wenn politische Einstellungen im ‚tiefen Grund des Herzens‘ verankert sind. __________ 40

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Hans Adler: Fundus Animae – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung. In: DVjs 62 (1988) S. 197-220; zur Besserungsresistenz von Ulfo: Ranke: Theatermoral (wie Anm. 10), S. 276. Zum Konzept der Verführung vgl. Lukas: „Verführung bzw. die potenzielle Verführbarkeit des Subjekts ist von Anfang an das zentrale Thema des Aufklärungsdramas schlechthin“ (Anthropologie und Theodizee [wie Anm. 4], S. 34, vgl. auch S. 48f. sowie zur politischen Verführung S. 261ff.). Schlegel: Herrmann (wie Anm. 38), S. 4f. Vgl. in diesem Zusammenhang die für den Zuschauer umgekehrte Wertung durch Ulfo: „Die Güte des Canut hat allen Mut erstickt. / Die Stolzen lieben schon der Herrschaft sanfte Bande, / Und ein Verzagter hält den Ehrgeiz fast für Schande“ (S. 31). Ausführlich zur „Wendung gegen sich“ im Moraldiskurs: Lukas: Anthropologie und Theodizee (wie Anm. 4), z. B. S. 27ff., 35ff., 245ff. Grundsätzlich bereits Meier: Dramaturgie der Bewunderung (wie Anm. 2), S. 312. Gottsched deutet die römischen Verhältnisse als Spiegel der aktuellen Zustände in Frankreich (Johann Christoph Gottsched: Die Deutsche Schaubühne. Bd. 4 [wie Anm. 38], S. 9f. [Vorrede]), womit Schlegel allerdings nicht einverstanden war (Schulz: Tugend, Gewalt und Tod [wie Anm. 7], S. 149) – warum Schulz meint, Gottsched „kaschiere“ die „Fremdheit des Stoffs“ durch diesen Bezug, ist mir unklar; differenziert argumentiert hier Hollmer: Anmut und Nutzen (wie Anm. 12), S. 160ff. Zu Schlegels Herrmann im Kontext anderer „Hermannsdichtungen“ (von Möser, Schönaich und Wieland) vgl. Blitz: Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 37), S. 97ff.

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(3) Dies wiederum ist entscheidend für Konzepte der Souveränität: Die Canut-Forschung ist sich einig darin, dass Canut das Idealbild eines aufgeklärten absolutistischen Herrschers darstellt.45 Unklar ist jedoch, welche Form des aufgeklärten Absolutismus in Szene gesetzt wird und welche Art der Herrschaft? Hinweise auf Probleme der absolutistischen Herrschaftsausübung ergeben sich aus Schlegels Projekt des Nationaltheaters: Die Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters votieren gegen einen harten Schnitt, mithin gegen eine Theaterreform aus dem Geist einer Souveränität, die ihre Zuversicht aus dem Glauben an den frühaufklärerischen Rationalismus zieht und von den Widerständen allenfalls irritiert sein kann. Empfohlen wird, den Regeln nicht zu „sklavisch“ zu folgen (z. B. S. 76). Schlegel setzt stattdessen auf eine Theaterreform, die „nach und nach“ zu einer Verbesserung führt, die sich auf „Erfahrung“ stützt und die die spezifische „Gewohnheit“ einer „Nation“, also die normative Kraft des Faktischen, einkalkuliert (z. B. S. 75f., 80). Er verhandelt demnach die Frage, wie sich eine „Nation“ regieren lässt, wenn sich ihre Vorlieben und Neigungen als relativ robust erweisen, wie also Einfluss genommen werden kann, wenn es keinen Grund für rationalistischen Instruktionsoptimismus gibt, und dies schon deswegen, weil „sklavische“ Folgsamkeit gar nicht erwünscht ist. Dabei setzt Schlegel auf eine allmähliche, zeitintensive Arbeit an den Einstellungen des Publikums. Aus diesem Grund votiert er auch gegen die direkte Belehrung, hält die Formulierung von Lehrsätzen, die er allerdings in Canut praktiziert, für wenig hilfreich und plädiert für eine beiläufige pädagogische Vermittlung („wie ein Mensch, der durch seinen Umgang unterrichtet und der sich hütet, jemals zu erkennen zu geben, daß dieses seine Absicht sei“). Dies wiederum – und damit schließt sich der Kreis – leiste insbesondere die „genaue und feine Abschilderung der Gemüter und Leidenschaften“, also die Vermittlung der „Kenntnis des Menschen“ (S. 86).46

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Schulz: Die Überwindung der Barbarei (wie Anm. 22), S. 91; ders.: Tugend, Gewalt und Tod (wie Anm. 7), S. 154; Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17), S. 155; Alt: Tragödie der Aufklärung (wie Anm. 13), S. 125, 129; Meier: Johann Elias Schlegel: Canut, Ein Trauerspiel (wie Anm. 15), S. 261f. Einen Überblick gibt: Dora Schulz: Das Bild des Herrschers in der Tragödie. Vom Barock bis zur Zeit des Irrationalismus. Diss. München 1931, S. 45ff. Zu diversen Vorläuferfiguren für Canut vgl. auch Lukas: Anthropologie und Theodizee (wie Anm. 4), S. 56, 153. Cäsar gehört jedoch nicht, wie Lukas meint, in diese Reihe: Catos These von der „Scheintugend“ seines Gegners wird im Text im Blick auf die Vorgeschichte beglaubigt – die Funktion dieser Rückblenden liegt in der Offenlegung der Motivationen. Vgl. dazu auch Horst Steinmetz: Nachwort. In: Schlegel: Canut (wie Anm. 27), S. 117-127, S. 119f.; Alt: Tragödie der Aufklärung (wie Anm. 13), S. 135f.; Meier: Johann Elias Schlegel: Canut, Ein Trauerspiel (wie Anm. 15), S. 272f. Im Übrigen formuliert auch Gottsched Vorbehalte gegen ein „Übermaß an direkter Belehrung“ (Hollmer: Anmut und Nutzen [wie Anm. 12], S. 150).

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3. Herrschaftstechniken des vollkommenen Souveräns Wenn Canut als Fürstenspiegel gelesen werden kann, dann sensibilisiert das Trauerspiel den Fürsten auch für die Beschränkung seiner souveränen Gestaltungsmacht durch die normative Kraft des Faktischen, somit durch die politische Anthropologie der Untertanen. Obgleich das Drama jenen historischen Prozess spiegelt, in dem die moralischen Normen der Politik nicht mehr nachgeordnet werden, sondern „absolut“ gelten,47 fällt der große Toleranzbereich Canuts auf. Man kann dies als Geste der Souveränität deuten (s. u.) oder als Einsicht in die Probleme, die sich beim ‚absolutistischen‘ Versuch der Regulierung von psychisch komplexen Untertanen ergeben – es handelte sich im zweiten Fall um eine Geste zurückgenommener Souveränität. Da Canut mit Rücksicht auf die Gefühle seiner Schwester agiert, die Ulfo sich durch eine Intrige zur Ehefrau gemacht hat, korreliert dieser Einbau eines Toleranzbereichs mit der empfindsamen Modellierung des Herrscherbildes.48 Wichtig ist zum einem, dass Canut einen privaten Freiraum zugesteht, der vom Staatsinteresse befreit ist: Irritiert muss Esthrite erfahren, dass sie in ihrem Beziehungsentscheidungen „stets frei“ gewesen sei (S. 25). Wichtig ist zum anderen, dass dieser Privatraum Einfluss auf die staatspolitischen Entscheidungen hat, so dass von einer „strikten Trennung des Politischen und Privaten“49 eigentlich nicht die Rede sein kann: Canut begründet seine Gnadenakte für Ulfo immer wieder mit der Geschwisterbeziehung zu Esthrite. In Canut ist damit – im Unterschied zur Normalform der heroischen Tragödie – die Vaterposition unbesetzt; der König wird als „Bruder“ eingeführt. Werden auf diese Weise die klaren Weisungsverhältnisse zwischen Vater und Kind in ein eher nivelliertes Sozialverhältnis übertragen, das vom Prinzip der ‚väterlichen Herrschaft‘ abweicht?50 __________ 47 48 49

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Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17), S. 156. Ebd., S. 165. Ebd., S. 165; dagegen ebd., S. 166, wo die Gefährdung der Herrschaft durch die Rücksichtnahme auf die Schwester bemerkt wird. Anders auch Wolfgang Braungart, der Canut vom Ende des Stücks her gesehen als Indiz für die Ausdifferenzierung „des familialen und politischen Bereichs“ versteht: Vertrauen und Opfer. Zur Begründung und Durchsetzung politischer Herrschaft im Drama des 17. und 18. Jahrhunderts (Hobbes, Locke, Gryphius, J.E. Schlegel, Lessing, Schiller). In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 2 (2005), S. 277-295, S. 291; anschlussfähig sind hingegen die grundlegenden Überlegungen von Braungart zum Status des Politischen im Blick auf die Tragödie: ebd., S. 277ff. Zum Vater als Herrscher vgl. Bengt Algot Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. München 1984, S. 48ff. Die Verschiebung in Canut reagiert unterschwellig auf das Problem, das insbesondere in den Horazier-Dramen verhandelt wird, ob nämlich ‚natürliche‘ Familien- oder ‚kontingente‘ Eheverhältnisse politisch wichtiger sind – tatsächlich ließe sich der Staat als Nation durch ein emotives Band nicht verbinden, wenn dabei nur familiäre Beziehungen eine Rolle spielen dürften. In Corneilles Horaziern meint Camilla: „Der Ehe reines Band geht Bändern der Natur, / Wie Gold dem Silber vor: Gelübde, Wunsch und Schwur / Sind für des Mannes Wohl; ihn liebreich zu umfassen, / Bekümmert man sich nicht die Aeltern zu verlassen“ (Gottsched: Die Deutsche Schaubühne. Bd. 1 [wie

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Vor diesem Hintergrund entwickelt Schlegel sein Politikkonzept im Widmungsgedicht zu Canut an Friedrich V.51 Die panegyrischen Verse gestaltet er als „Anrede Canuts des Grossen an Se. Majest. Friedrich den Fünften“, der „vergnügt, aufmerksam, hoffnungsvoll“ auf seinen Nachfolger schaut. Man könnte diese Leitvokabel weit ausdeuten: Wir haben es hier nicht mit dem melancholischen Herrscher des 17. Jahrhunderts zu tun, sondern mit einem optimistischen König, der seine Macht weniger in negativen Sanktionen als vielmehr in positiven Stimulationen äußert („Durch Wohlthun steiget man zum Himmel von der Erden“); mit einem „aufmerksamen“ Beobachter zu tun, der selbst die kleinen Zeichen der tief verborgenen Herzensregungen bemerken wird („Aus Gründen schließ ich es, aus Zeichen, die nicht trügen“);52 und mit einem Herrscher, der sich seiner herrschaftlichen Würde weniger durch Vergangenheitsbezug versichert, also durch genealogische Rückbindung und Ableitung, sondern sich stärker an der Zukunft orientiert – auch wenn dies eine performativ selbstwidersprüchliche Geste vor einem CanutDrama ist, zeigt sich der Titelheld einverstanden damit, dass sein „Ruhm“ durch Friedrich V. „begraben“ wird. Die Implikationen und konzeptionellen Anschlüsse dieses spezifischen Ensembles einer Regierungskunst, einer ‚Gouvernementalität‘, müssten im Blick u. a. auf Anthropologie, Staats- und Gesellschaftstheorie oder den jurischen Diskurs gedeutet werden.53 In dem in der Forschung bisweilen anzitierten,54 aber nie analysierten Aufsatz Daß die Belohnung der Verdienste das wahre Kennzeichen einer löblichen Regierung sey führt Schlegel entsprechend aus: Der souveränen Instanz, einer „Gottheit“ auf Erden, __________

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Anm. 16], S. 40). Sabina entgegnet: „Entziehe dem Gemüthe / Den neuen Bräutigam, und liebe dein Geblüte. / Es wäre lasterhaft ein Bündniß vorzuziehn, / Das man verändern darf, und einen Bund zu fliehn, / Den uns doch die Natur zu halten anbefohlen“ (ebd., S. 41). Zunächst aber hat Camilla das letzte Wort in diesem Auftritt: „Du hast vielleicht als Braut nicht recht getreu geliebt“ (ebd., S. 42). Zu Behrmanns Die Horazier vgl. kurz: Verf. in: Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. München 2001, S. 23f.; sowie ausführlich: Lukas: Anthropologie und Theodizee (wie Anm. 4), S. 51ff.; Ranke: Theatermoral (wie Anm. 10), S. 289ff. Das Widmungsgedicht ist in der Canut-Ausgabe des Reclam-Verlags nicht enthalten; hier zitiert nach: Johann Elias Schlegel: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schubert. Weimar 1963, S. 172f. Vgl. hier z. B. Canuts Neugierde auf Estrithes Gemütsverfassung: „Doch sage Godewin, wie hat sie dich empfangen? / Stieg ihr kein wallend Rot auf die beschämten Wangen? / Vermied nicht deinen Blick ihr schüchternes Gesicht?“ (S. 22). Offenkundig passt dieses Ensemble recht gut zu jenen Regierungskonzepten, die Michel Foucault etwa in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität als Reflexion über „Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“ untersucht (Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Hg. von Michel Sennelart, Frankfurt a.M. 2004). Einen guten Überblick über Foucaults Geschichte des Politischen liefert Thomas Lemke: Biopolitik zur Einführung. Hamburg 2007, S. 47ff. Schulz: Die Überwindung der Barbarei (wie Anm. 22), S. 98f.; Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17), S. 161ff.

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erschließen sich „mit einem durchdringenden Verstande die Eigenschaften der Seele in ihren Unterthanen“.55 Die Aufgabe des Fürsten bestehe nicht nur in der negativen „Sicherheit“ der Bürger, die wegen ihrer primären Triebkräfte ‚Ehrgeiz‘, ‚Wollust‘ und ‚Geiz‘ (den Leitaffekten der „unvernünftigen Liebe“ innerhalb der thomasianischen Anthropologie)56 vor dem Bürgerkrieg geschützt werden müssten – diese „Sicherheit“ komme allen gleichermaßen zu, wohingegen die „Belohnung der Verdienste“ zur ungleichmäßigen Differenzierung der Gesellschaft beitrage.57 Während Hobbes, der in der Canut-Forschung als staatstheoretische Instanz angeführt wird (s. u.), dem Souverän Belohnungen ebenso wie Bestrafungen lediglich negativ dazu empfiehlt, die Menschen „zum Dienst am Staat“ zu ermuntern,58 besteht laut Schlegel die Aufgabe des Fürsten sehr viel mehr in der positiven Motivation, in der Verführung zur „Vollkommenheit“: „Es ist also der leichteste Weg, alles, was wahre Vollkommenheit bey den Menschen genannt werden kann, beliebt zu machen; wenn man diese Vollkommenheiten zu Mitteln macht, dergleichen Güter zu erhalten, die zwar an sich schlechter sind, als sie, die aber die Einbildungskraft des menschlichen Geschlechtes stärker reizen und an sich ziehen“.59 Der Fürst setze seine „Gnade“ ein, um die „Seelen der Unterthanen zu edeln Bemühungen“ aufzumuntern; er rege einen „Wettlauf nach ihrer eigenen Vollkommenheit“ an. Wie „Gott“ sei er daher derjenige, „der über die Seelen herrscht, und sie vollkommener macht“. Und dies gelinge nur, wenn er „die Herzen der Menschen in ihren innersten Winkeln genau durchsuchet“ habe.60 Zumindest im Ansatz wird damit ein Ensemble von Herrschaftstechniken sichtbar, dessen Entwicklung das 18. Jahrhundert durchgängig fasziniert hat und das für die Bestimmung von Macht von großer Bedeutung ist. Diese Regierung zielt auf die „Seelen“ der Untertanen, um sich deren Körper dienstbar zu machen – dass Canut sich in Ulfo täuscht, zeigt insofern nur, wie groß die Herausforderung für den Fürsten ist, wenn er sich auf dieses Projekt der Seelenregierung einlässt. Der Dienst an der Regierung wird weniger als Aufgabe von Rechten und als Übernahme von Pflichten gedeutet, sondern als Möglichkeit der Selbstentfaltung – Ulfo macht auf diese diskursive Strategie ex negativo aufmerksam, seine Argumente sind aber nicht anschlussfähig. Die Vergangen__________ 55 56 57 58

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Johann Elias Schlegel: Werke. Hg. Von Johann Heinrich Schlegel (1764-1773). Bd. III. Frankfurt a.M. 1971 (Repr.), S. 326. Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim/New York 1971, S. 211. Schlegel: Werke. Bd. III (wie Anm. 55), S. 332f. Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. u. eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzt von Walter Euchner. Frankfurt a.M. 1984, S. 141. Schlegel: Werke. Bd. III (wie Anm. 55), S. 327. Schlegel folgt damit den naturrechtlichen Theorien seines akademischen Lehrers Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit, Darinn alle Philosophische Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden, Zum Gebrauch Academischer Lectionen entworfen. Teil 2. Leipzig 1733, S. 22ff. Schlegel: Werke. Bd. III (wie Anm. 55), S. 334f.

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heit dient dabei kaum mehr dazu, wie Ulfo meint, die Gegenwart für die Zukunft in einem schlichten Übertragungsverhältnis zu instruieren. Sie dient eher dazu, die in der Vergangenheit unter Beweis gestellte Tüchtigkeit nun in eine Art Latenz zu übersetzen. Das passt in das absolutistische Regierungskonzept, denn dieses konzentriert sich auf die Bestimmung des souveränen Machtzentrums, auf die Bestimmung des Souveräns gegenüber den nivellierten Untertanen und auf die Bestimmung eines Territoriums, in dem Sicherheit herrscht und das Gewalt nur an seinen Rändern zulässt. Damit aber geht es um „ein Feld der Unabsehbarkeit“, das mit Maßnahmen im Blick auf mögliche zukünftige Störungen behandelt wird. Politisches Handeln zielt damit auch auf die „Verwaltung ungeschehener, aber denkbarer Ereignisse“.61 Im Zusammenhang mit diesem Herrscherbild ist eine dramengeschichtliche Besonderheit von Schlegels Canut wichtig: Die Titelfigur weist keinen Fehler auf – ihre Anlage läuft damit der aristotelischen hamartia-Lehre zuwider.62 Es handelt sich um keinen mittleren, sondern um einen vollkommenen Helden. Man hat Schlegel daher in die Nachfolge Corneilles gestellt, dessen Doktrin der poetischen Gerechtigkeit ein glückliches Ende für die Tragödie möglich macht. Insbesondere am Kaiser von Corneilles Cinna ou la Clémence d’Auguste, der jederzeit zum Verzeihen bereit ist, konnte sich Schlegels Canut gut orientieren; erinnert sei aber auch an Schlegels Herrmann-Drama, aus dem der Titelheld am Ende als strahlender Sieger hervorgeht.63 Über Corneilles Cinna ergibt sich zwanglos der Bezug auf einen wichtigen Text der FürstenspiegelTradition: auf Senecas De clementia, für den Cinna ein zentrales Exempel darstellt.64 Zwei Momente sind daran wichtig – zum einen: Die Milde gilt als Ausweis souveräner Gewalt. Seneca meint: „Töten gegen das Gesetz kann jeder, retten niemand außer mir“.65 Die Formulierung gehört in jenes Paradigma, das Michel Foucault in den Apho__________ 61 62

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Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Thomas Frank/Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt a.M. 2007, S. 183f. Dazu und zu der nicht-aristotelischen Dramaturgie bei Schlegel: Alt: Tragödie der Aufklärung (wie Anm. 13), S. 132ff.; generell zum vollkommenen Helden: Zeller: Struktur und Wirkung (wie Anm. 8), S. 88ff.; hier auch zum ‚glücklichen Ende‘: ebd., S. 110f. Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17), S. 167ff. – zu Recht macht Borchmeyer darauf aufmerksam, dass die ‚Milde‘ bei Canut Ausdruck seiner Mitleidsfähigkeit ist, während sie bei Corneille politischem Kalkül entspricht; gleichwohl versucht auch Canut durch seine Gnadenakte Ulfo dem Staat dienlich zu machen, weil er sieht, wie brauchbar dessen Ehrsucht ist. Meier: Johann Elias Schlegel: Canut, Ein Trauerspiel (wie Anm. 15), S. 261f.; Schulz: Tugend, Gewalt und Tod (wie Anm. 7), S. 150f. Vgl. demgegenüber in Ephraim Benjamin Krügers Mahomed der IV. einen an sich idealen Fürsten, dem tatsächlich seine ‚Zärtlichkeit‘ zum Verhängnis wird, weil sie ihn handlungsunfähig macht (Hollmer: Anmut und Nutzen [wie Anm. 12], S. 234f.; hier auch zu den beiden von Gottsched in der Schaubühne verbreiteten Tragödien-Modellen: dem „Vorbild-Modell“ und dem „Fehler-Modell“, ebd., S. 275). L. Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. Sonderausgabe. Bd. 5. Über die Milde. Über die Wohltaten. Lateinischer Text von François Préchac. Hg. von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1995, S. 47ff. Ebd., S. 37.

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rismus vom „Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen“, gefasst hat.66 Bei Seneca heißt es weiter: „[…] wenn er das Leben gibt, er gesellschaftlichen Rang gibt denen, die in Gefahr sind und es verdient haben, ihn zu verlieren, dann tut er, was nur dem Herrn des Staates erlaubt ist. Das Leben wird nämlich auch dem Höhergestellten entrissen, aber nur dem Niedrigerstehenden geschenkt“.67 Zum Zweiten: Diese souveräne Haltung geht nicht in der Funktion als Aspekt einer Sanktionsgewalt auf. Denn Akte der Milde sind laut Seneca nur dort angemessen, wo sie zur zukünftigen Besserung beitragen; das bloße „Mitleid“ wird von ihm als „Fehlhaltung“ abgewertet, weil es untätig mache.68 Tatsächlich ist „Mitleid“ für Canut entweder ein aktives Element (Godewin: „Wer stets voll Mitleid straft, stets freudenvoll belohnet, / […] Den hat selbst die Natur zum Throne schon bestimmt“; S. 64) oder ein Störfaktor (S. 72).69 Übereinstimmend mit Seneca erklärt er am Ende: „So wie die Strengigkeit, hat auch die Güte Schranken: / Wer die nicht fest erhält, macht selbst sein Ansehn wanken“ (S. 72). Auf milde Weise jedenfalls stiftet der Herrscher Loyalitäten, die die Untertanen dazu motivieren, ihr Leben für ihn zu opfern.70 Eine Politik der Milde steht nicht allein für souveräne Regierungsgewalt, sondern reagiert auch auf die Sorge um die stabile Nachfolgebereitschaft der Untertanen. Milde begründet „verläßliche“ politische Loyalität, „weil häufige Strafe den Haß weniger unterdrückt, den aller reizt“; „Milde macht also die Herrscher nicht nur sittlicher, sondern sicherer […]“.71 Es sei ein Irrtum, so Seneca, zu meinen, „sicher sei dort ein König, wo nichts vor dem König sicher ist; Sicherheit muß mit Sicherheit auf Gegenseitigkeit ausbedungen werden“.72 Es handelt sich um eine Politik, die die unbeabsichtigten Nebenfolgen ins Kalkül zieht und vor allen Dingen die Auswirkungen ihrer Ausführungen als solche berücksichtigt: Die Bestrafung von Verbrechen stimuliert nach Seneca eben die Ausübung dieser Ver__________ 66

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Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. 9. Aufl. Frankfurt a.M. 1997, S. 165. Für Schlegels Herrmann stellt Schulz fest, dass die Helden auffällig wenig von Todesbereitschaft sprechen und stattdessen eine „lebenszugewandt[e]“ Tugend vertreten (Schulz: Tugend, Gewalt und Tod [wie Anm. 7], S. 150). So auch zur Einschätzung des Todes in Canut: „Der Tod ist hier nicht mehr letzter und unüberbietbarer Beweis für die vollendete Tugendhaftigkeit“ (ebd., S. 159). Seneca: Philosophische Schriften. Bd. 5 (wie Anm. 64), S. 39. Ebd., S. 21, 27. Zur „clementia“ als „risikoreicher Wechsel auf die Zukunft“: Ranke: Theatermoral (wie Anm. 10), S. 327. Dagegen Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17), S. 168f., der allerdings keinen Beleg anbringt („Güte“ ist kein „Mitleid“). Zu Recht weist Borchmeyer zudem auf die vor-empfindsamen Werte der tragédie classique, insbesondere Racines, hin, dessen Werke „Lieblingslektüre des empfindsamen 18. Jahrhunderts“ gewesen sind (ebd., S. 170f.). Zur RacineRezeption vgl. Alexander Nebrig: Rhetorizität des Stils. Der deutsche Racine in französischer Tradition und romantischer Modernisierung. Göttingen 2007. Seneca: Philosophische Schriften. Bd. 5 (wie Anm. 64), S. 31. Ebd., S. 45, 57. Ebd., S. 79. Zum Prinzip „gegenseitiger Anerkennung“ und „Reversibilität“ vgl. Ranke: Theatermoral (wie Anm. 10), S. 314, 328.

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brechen, wohingegen der Verzicht auf Strafgewalt zu einer friedlichen Stimmung beiträgt.73 „Wer entspannter herrscht, dem wird besser gehorcht […].“74 Auf der Hand liegt jedoch: Seneca geht, zumindest was Ulfo in Schlegels Canut betrifft, fehl in der Annahme, dass derjenige, dem ein Akt der Milde das Leben schenke, sich selbstläuferisch für den Ruhm des mildtätigen Herrschers hingeben werde.75 Er selbst formuliert die Probleme einer Politik der Milde in einer zweiten Schrift: In De Beneficiis betont Seneca, dass das „Wohlthun“, das Canut in Schlegels Widmungsgedicht an Friedrich V. seinem Nachfolger empfiehlt, zwar „die menschliche Gesellschaft am meisten zusammenhält“ („quae maxime humanam societatem adligat“), dass die in der Wohltat verborgene Herrschaftsgeste aber zu Problemen führen kann – „es zerfetzt die Seele und bedrängt sie [„lacerat animum et premit“] die häufige Erwähnung von Wohltaten“.76 Gerade bei ehrgeizigen, sich selbst überschätzenden und sich selbst bewundernden Menschen sei dies zu beobachten, etwa bei Politikern und Militärs wie Ulfo.77 Derjenige, der durch Wohltaten herrschen will, muss folglich auf heimliche Wege ausweichen, um seine Ziele zu erreichen, weil er den Gefühlshaushalt der Untertanen, ihre Scham- und Ehrgefühle, einzuberechnen hat. Auf jeden Fall sind „zärtliche“ Rücksichtnahme und „Herrschaft“ keine Gegensatzpaare.78 Dieter Borchmeyer hat zwar auf Seneca-Referenzen hingewiesen, vermisst aber die Göttlichkeit des Souveräns in Canut, der durch die Vermenschlichung des Monarchen an die „Grenzen des Absolutismus“ vorstoße. Georg-Michael Schulz stellt fest: In Canut besetze der Herrscher wie generell im „aufgeklärten Absolutismus“ nicht mehr die Stelle des „Stellvertreter[s] Gottes“.79 Man wird dies modifizieren müssen. Erste Hinweise lassen sich bereits bei Seneca finden, für den der milde Kaiser als ‚Gott auf Erden‘ figuriert, der sich am Vorbild der mildtätigen Götter orientiert.80 Undankbarkeit, wie sie Ulfo in extremem Maß praktiziert, sei daher kein Grund, auf Wohltaten zu verzichten – so „werden auch die unsterblichen Götter von ihrer so großzügigen und nicht zögernden Güte durch ungläubige und sie nicht beachtende Menschen keineswegs abgeschreckt: sie bleiben ihrem Wesen treu und helfen allen“.81 Entsprechend schreibt __________ 73 74 75 76 77 78 79

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Seneca: Philosophische Schriften. Bd. 5 (wie Anm. 64), S. 85, 87. Ebd., S. 87. Ebd., S. 83. Ebd., S. 113, 159. Dies auch zur historischen Rückbindung von Lukas: Anthropologie und Theodizee (wie Anm. 4), S. 145ff. Seneca: Philosophische Schriften. Bd. 5 (wie Anm. 64), S. 193, 195, 417ff. Und dies gilt zumal für das 18. Jahrhundert: Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit (wie Anm. 50), insbes. S. 34ff. Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17), S. 171; Schulz: Die Überwindung der Barbarei (wie Anm. 22), S. 93; etwas differenzierter: ebd., S. 105f. Hier ein instruktiver Vergleich von Ulfo und Miltons Satan in Paradise Lost (ebd., S. 106ff.). Seneca: Philosophische Schriften. Bd. 5 (wie Anm. 64), S. 3, 41. Ebd., S. 101, ausführlicher dazu S. 341ff.

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Schlegel in seiner „moralischen Rede“ über die Belohnung der Verdienste, diese sei die „schönste Aehnlichkeit Gottes und eines Fürsten“.82 Noch wichtiger aber ist ein konkretes Muster für Schlegels Canut, das Friedrich von Hagedorn, der Schlegel persönlich kannte,83 1738 in einer Fabel mit dem Titel „Der Beleidiger der Majestät“ geradezu idealtypisch ausformuliert hat.84 Darin wird ein Hochverräter wie Ulfo, der bei Schlegel eben als „Beleidiger“ des Königs geführt wird (z. B. S. 37f.), mit mehreren Fäden über einem Abgrund aufgehängt – über Ulfo heißt es, „kein tiefer Abgrund“ schrecke ihn ab; er erkenne nicht, dass er „am Abgrund“ auf „Hülfe“ angewiesen sei (S. 54, 63). Nach und nach werden in Hagedorns Fabel die einzelnen Fäden mit dem Ziel durchtrennt, den „Beleidiger“ zur Einsicht zu bewegen. Der Hochverräter bleibt indes stur. Er verspielt alle Chancen, die der König ihm gibt, bis am Ende auch der letzte Faden durchtrennt wird und er in den Abgrund stürzt. Dieses Bild souveräner Großmut und menschlicher Verbohrtheit85 wird von Hagedorn folgendermaßen allegorisch aufgelöst: Der Herr, der Heilige, der Richter unsrer Väter, Ist der Monarch voll Huld; der Mensch der Missethäter; Ein Faden jedes Jahr, das Er zur Buße gönnt; Die Kluft der ew’ge Pful, der jeden Frevler brennt, Der wider eignes Heil mit frecher Unart streitet, Und den nicht Huld noch Ernst den Weg des Lebens leitet.

Man sieht: Canut, der Ulfo immer neue Chancen anbietet, folgt genau dem Muster der göttlichen Vorsehung und ihrer „Gnade“ – dies ist die Leitvokabel für Canuts Handeln aus Sicht der Untertanen. Er ist der Souverän einer absolutistischen Staatslehre lutherischer Prägung.86 Daraus resultiert die zentrale Forderung an den Missetäter in Hage__________ 82 83 84 85

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Schlegel: Werke. Bd. III (wie Anm. 55), S. 330. Vgl. auch das Gedicht „An den Herrn von Hagedorn“ in: Schlegel: Werke. Bd. IV (wie Anm. 38), S. 114ff. Friedrich von Hagedorn: Versuch in poetischen Fabeln und Erzehlungen. Hamburg 1738, S. 5f. Aus dem Problem der falschen Selbsteinschätzung leitet Arnd Beise den Verlust des Tragischen ab, den er bei Schlegel und insbesondere bei Christian Weise konstatiert – es geht nicht um einen unlösbaren Konflikt, sondern um mangelhafte Erkenntnis: Untragische Trauerspiele. Christian Weise und Johann Elias Schlegels Aufklärungsdrama als Gegenmodell zur Märtyrertragödie von Gryphius, Gottsched und Lessing. In: Wirkendes Wort 47 (1997), S. 188-204, insbes. S. 191 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Irritation von Schulz angesichts der eigentümlichen christlichen Einsprengsel im Herrmann-Drama: Tugend, Gewalt und Tod (wie Anm. 7), S. 148. Interessant für die Frage nach dem Gründungsdrama ist Schulz’ Beobachtung, dass Herrmann sich wegen des fehlenden staatlichen Orientierungsrahmens (der ja durch seine Aktion erst geschaffen wird) alternativ an religiösen Normen orientiert (ebd., S. 149). Nur weil Lukas diese Zusammenhänge wie die Figur Godewins übersieht (und an dessen Stelle Esthrite als ideale Figur des Untertans einsetzt) und Godschalk nicht angemessen einbezieht, kann er behaupten: „Was offiziell als positive, aufgeklärte Norm beschworen wird, erweist sich faktisch als nicht durchsetzbar, da die Zähmung durch Sanftmut eine Illusion bleibt […]“ (Lukas: Anthropologie und Theodizee [wie Anm. 4], S. 152, 154). – Godewin, der durchaus Ulfo’sches Potential hat, wie man am

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dorns Fabel wie in Schlegels Canut: Die Aufrührer können sich „Gnade“ erwirken, indem sie sich „schuldig“ bekennen. Mit anderen Worten: Die Aufrührer sollen sich als gute Lutheraner erweisen. Luther hatte ins Zentrum seiner Theologie den schuldigen Menschen gestellt. Der Gläubige wartet auf die Erlösung durch Gott, die dieser „sola gratia“, also allein durch seine „Gnade“ gewährt. Auch von Ulfo verlangt der Herrscher nur Schuldbewusstsein. Dieser aber erklärt: „Mein Ruhm kennt seinen Grund, er ruht auf kühnen Werken. / Durch Reue schwächt ich ihn, mein Tod soll ihn bestärken“ (S. 66). Diese Absicht auf die „kühnen Werke“ läuft ins Leere, weil Werkgerechtigkeit für König Canut eine zweitrangige Bedeutung hat. Die Forderungen nach Schuldbewusstsein und Ruhe sind im Blick auf die Herrschaftstechniken der Seelendurchleuchtung interessant, ebenso aber im Blick auf die Verfahren, die nur schwer berechenbares Handeln regierungsfähig machen: Wem Gott oder wem der Souverän ‚Gnade‘ gewährt, ist ja durchaus geheimnisvoll.87 Vor allem aber bleibt – anders als bei Hagedorn, wo es um abzählbare Halterungen geht – in Canut unklar, wann und warum die Grenzen der ‚Gnade‘ erreicht sind. Es gibt gewissermaßen kein Gesetz dafür, wann Gnade gewährt oder verwehrt wird, aber genauso wenig gibt es ein Gesetz dafür, wem Gnade gewährt wird. Der Souverän und der Untertan bewegen sich in Grauzonen des Unkalkulierbaren, Latenten, Potentiellen – oder mit einem der Zentralbegriffe der zeitgenössischen Poetologie: des Möglichen. Die Vollkommenheit der Titelfigur hat Konsequenzen für die Gesamtanlage der Tragödie, insbesondere für die verhandelte Konfliktsituation. Die Göttlichkeit der Titelfigur entrückt diese jeder Konkurrenz. Das wiederum heißt: Ulfo kann gar nicht der Gegenspieler Canuts sein. Ulfo schätzt sich irrtümlicherweise als Antagonist des Königs ein. Tatsächlich findet er in der dramatischen Figuration letztlich keinerlei Gelegenheit, Canut anzugreifen. Diese Konstellation verhindert, dass Canut die soziale Funktion des Helden als einer liminalen Figur, als einer Figur zwischen Macht und Ohnmacht, erfüllt. Daraus ergibt sich die Frage: Wer ist der Held dieses Dramas? Für die Antwort auf diese Frage könnte der konfessionelle Hintergrund der Absolutismuskonzeption wichtig sein. Denn es gibt eine beachtliche Tradition der lutherischen Staatstheorie, die sich mit Problemen der Ethik des Staatsdieners beschäftigt.88

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Duell sieht (s. u.), hat sich eingepasst, wohingegen Ulfo schlicht den Typus des uneinsichtigen Sünders repräsentiert. Vgl. dazu die Deutung von Senecas De clementia und Corneilles Cinna in: Koschorke u. a.: Der fiktive Staat (wie Anm. 61), S. 202ff. Wolfgang Martens: Der patriotische Minister. Fürstendiener in der Literatur der Aufklärungszeit, Weimar/Köln/Wien 1996, S. 10ff.

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4. Der Staatsbürger als Held Wenn die zentrale Konfliktlinie nicht notwendig zwischen Canut und Ulfo verläuft, dann muss man sich nach einem anderen Kontrahenten umsehen: Das eigentliche Gegenüber von Ulfo ist Godewin – und diese beiden, Ulfo und Godewin, verhandeln die Probleme des Heroismus. Viele Beiträge zur Canut-Forschung schenken Godewin, dem treuen Gefolgsmann Canuts, keine oder nur geringe Beachtung.89 Aber gerade er exemplifiziert die Mentalität eines Staatsbürgers. Vor allem: Godewin ist wie Ulfo ehrgeizig und versteht daher die Ambitionen des Aufrührers sehr gut. Sein Ehrgeiz hindert ihn jedoch nicht daran, Canut gehorsam zu sein. Für ihn gibt es – mit dem Titel eines Gedichts von Schlegel formuliert – „das Glück Mitbürgern zu gehorchen“.90 Godewin spiegelt sich in der Großmütigkeit des Herrschers,91 wohingegen Ulfo sich an Ruhm und Ehre mit dem Herrscher messen will. Daher deutet Ulfo Godewins Treue gegenüber Canut als Feigheit, als eine Art mentaler Niederlage: „Du bist bei allem Mut ein Herz, das sklavisch zaget […].“ Und weiter polemisiert er: „Du hast nicht das Gefühl, das sich in Helden regt“ (S. 30). Für Canut hingegen ist Godewin ein idealer Untertan, weil er die richtigen inneren Einstellungen aufweist – auch bei dieser Figur geht es also zunächst nicht um politische Werkgerechtigkeit, obgleich der Wert aller männlichen Beteiligten immer schon durch große Taten in der Vergangenheit beglaubigt wurde. Mit anderen Worten: Godewins Form des Heroismus vermag das, was für Ulfo eine Niederlage bedeutet, in das eigene Rollenmodell zu integrieren.92 Man kann an diesen Auseinandersetzungen einen historischen Paradigmenwechsel nachvollziehen,93 der für die Tragödie eine besondere Herausforderung bedeutet hat. __________ 89

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Für Meier ist Esthrite die heimliche Hauptfigur des Stücks (Johann Elias Schlegel: Canut, Ein Trauerspiel [wie Anm. 15], S. 263f., 270ff.); so auch: W. Daniel Wilson: J. E. Schlegels „Canut“: Esthrite and a Fixation of Literary History. In: Lessing Yearbook 14 (1982), S. 209-224 – hier allerdings ohne angemessene historische Einordnung des Dramas. Beachtung findet Godewin bei Schulz: Die Überwindung der Barbarei (wie Anm. 22), S. 96; ders.: Tugend, Gewalt und Tod (wie Anm. 7), S. 153f.; Alt: Tragödie der Aufklärung (wie Anm. 13), S. 127f. Insbesondere Borchmeyer stellt fest: „Ulfos unmittelbarer Gegenspieler ist Godewin […]“. Allerdings kann er sich schwer entscheiden, ob man es mit einem „typische[n] Repräsentanten eines Adels“ zu tun hat, „der seine Rechte vollständig und bedingungslos auf den König übertragen hat“, oder ob Godewin für „Werte“ einsteht, die „recht bürgerlich-beamtenmäßig anmuten[ ]“ (Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit [wie Anm. 17], S. 160). Schlegel: Werke. Bd. IV (wie Anm. 38), S. 132. Ranke: Theatermoral (wie Anm. 10), S. 311. Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17), S. 160, zum positiven Begriff von „Verzagtheit“. Pointiert dazu: Schulz: Die Überwindung der Barbarei (wie Anm. 22), S. 104; Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17), S. 156f. Vgl. hingegen die anachronistischen Deutungen Ulfos als prototypischem Vertreter des Sturm und Drang: Eugen Wolff: Johann Elias Schlegel. Berlin 1889, z. B.: S. 132ff.; Hermann Schonder: Johann Elias Schlegel als Übergangsgestalt. Diss. Berlin 1940, S. 28f.; Kurt May: Johann Elias Schlegels „Canut“ im Wettstreit der

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Denn gerade für diese ‚heroische Gattung‘ stellte sich die Frage, ob Heldentum unter den Bedingungen gottgleicher Souveränität überhaupt noch möglich ist. Der Aufrührer Ulfo orientiert sich in Schlegels Canut an einem archaischen Ehrbegriff, den Thomas Hobbes im Leviathan folgendermaßen beschreibt: Ehrenvoll ist jeder Besitz, jede Handlung oder Eigenschaft, die Beweis und Zeichen von Macht sind. […] Es spielt auch für die Ehre keine Rolle, ob eine Handlung gerecht oder ungerecht ist, wenn sie nur groß und schwierig und folglich ein Zeichen von Macht ist.94

Ulfo folgt genau diesen Vorgaben, bemerkt allerdings, wie unzeitgemäß seine Einstellung mittlerweile geworden ist: Find ich denn überall, so eifrig ich hier suche, Kein Herz, das edel sei und das der Herrschaft fluche? […] Sind diese Zeiten denn so ganz von Helden leer? Ist denn ihr ganzer Schmuck Canut und niemand mehr? Wo sind die Jahre hin, da nur der Streit ergetzte, Da jeder nur sich selbst der Krone würdig schätzte, Da, wenn ein tapfrer Arm kaum seine Kraft erkannt, Er, untertan zu sein, für sich zu schimpflich fand, Sich aus dem Staube hub, ein Heer zusammenraffte Und sich Gelegenheit zu großen Taten schaffte, Da sich ein edler Geist durch Trutz und Unruhe wies Und widerspenstig sein doch kein Verbrechen hieß? (S. 30f.)

__________

94

geistesgeschichtlichen und formgeschichtlichen Forschung. In: ders.: Form und Bedeutung. Interpretationen deutscher Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1957, S. 13-41; Peter Wolf: Die Dramen Johann Elias Schlegels. Ein Beitrag zur Geschichte des Dramas im 18. Jahrhundert. Zürich 1964, S. 148ff. (zu Ulfo), 170ff. (zusammenfassend); kritisch gegenüber der Sturm-und-Drang-These, aber ebenso anachronistisch im Blick auf Ulfo als Repräsentanten der „dying world of aristocratic values“: G.L. Jones: Johann Elias Schlegels „Canut“. The Tragedy of Human Evil. In: Lessing Yearbook 6 (1974), S. 150-161 (Zitat S. 159). Hobbes: Leviathan (wie Anm. 58), S. 70f. Hinweise auf Hobbes bei: Schulz: Die Überwindung der Barbarei (wie Anm. 22), S. 95, 98; ders.: Tugend, Gewalt und Tod (wie Anm. 7), S. 155; Alt: Tragödie der Aufklärung (wie Anm. 13), S. 125ff.; in diese Richtung auch Meier: Johann Elias Schlegel: Canut, Ein Trauerspiel (wie Anm. 15), S. 268f. (hier zugleich der Hinweis auf Corneilles Theorie des erhabenen Verbrechers bzw. der ‚Größe‘, die auch einem Laster zugeschrieben werden kann; ausführlich dazu: Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit [wie Anm. 17], S. 159). Das Problem bleibt allerdings, dass man Ulfo mit Hobbes interpretatorisch gut in den Griff bekommt, nicht aber Canut – dieser ist durchaus kein „aufgeklärter Regent im Sinn der Hobbes’schen Staatslehre“ (Alt: Tragödie der Aufklärung [wie Anm. 13], S. 130), denn diese interessiert sich nicht für den ‚gnädigen‘ Herrscher. Man sieht das schon an den Proportionen des Kapitels zu „Strafen und Belohnungen“ im Leviathan: Mit dem Strafen beschäftigt sich Hobbes mehr als dreimal so ausführlich wie mit dem Belohnen (Leviathan [wie Anm. 58], S. 237ff.). Auch hier gilt: „Belohnungen“ zielen darauf, dem „Staat“ einen „Vorteil“ zu verschaffen (ebd., S. 266). Zu einem ähnlichen Konflikt von verschiedenen Ehr-Konzeptionen in Friedrich Lebegott Pitschels Darius vgl.: Hollmer: Anmut und Nutzen (wie Anm. 12), S. 138f.

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Steffen Martus

Hätte Ulfo Hobbes Leviathan lesen können, dann wäre ihm auch der Grund dafür klar geworden, warum er keine Nachfolgebereitschaft zu motivieren vermag: Ulfos Umgebung hat den Gesellschaftsvertrag geschlossen und das Recht zur Gewaltausübung an den Souverän delegiert. Bei Hobbes heißt es weiter: „[…] bei den Menschen galt es bis zur Gründung großer Staaten nicht als Schande, ein Pirat oder Wegelagerer zu sein […]“. Mit der Staatsgründung aber, so darf man folgern, verändert sich der Begriff von Ehre fundamental.95 Ehre muss sich nun in ein politisches und soziales System einpassen können, das auf Staatlichkeit gründet. Die Konkurrenz um Ehre kann nicht mehr bedeuten, dass man mit dem Souverän konkurriert. Die Ehrkonflikte müssen unterhalb der politischen und sozialen Spitzenposition ausgetragen werden. Man muss, mit anderen Worten, dem Souverän unterlegen sein, und man darf diese Unterlegenheit nicht als Defizit verbuchen. Genau diese Implikation der Souveränität wird in Schlegels Drama problematisiert. Damit stellt sich zugleich noch einmal die Frage: Wie ist unter diesen Bedingungen einer konstitutiven Niederlage Heldentum noch möglich? Ulfos Irritation ist also durchaus verständlich. Um noch einmal die entscheidenden Stellen zu zitieren: Du bist bei allem Mut, ein Herz, das sklavisch zaget, […] Dein Arm, der nur gehorcht, übt sich umsonst im Streiten: Die Ehre, die dich flieht, die kennst du nur von weiten. Du hast nicht das Gefühl, das sich in Helden regt. […] Du tust aus blöder Furcht, was auch ein Sklave thut. (S. 30)

So stellt sich die scheinbar paradoxe Frage, wie ‚sklavisches‘ Heldentum möglich ist. Auch darauf hat im Übrigen Seneca in De beneficiis bereits geantwortet und z. B. die Bereitschaft des Sklaven, sein Leben für den Herrn selbstlos zu opfern, als eine Möglichkeit gesehen, ‚Wohltaten‘ von ‚unten‘ nach ‚oben‘ zu verteilen. Mehr noch: Es handelt sich dabei sogar um eine „besonders große“ Wohltat, die der Sklave erbringt, „weil ihn davon abzuschrecken nicht einmal die Knechtschaft vermochte“.96 Bei aller Verstaatlichung gibt es im Text freilich mit dem Duell noch einen Restbestand an archaischer Ehrbegierde, der in die neue Zeit hineinragt. Hobbes schreibt dazu: „[...] heutzutage sind in diesem Teil der Welt private Duelle ehrenhaft und werden es, obwohl sie ungesetzlich sind, so lange sein, bis angeordnet wird, die Ehre gebühre denen, die die Herausforderung ablehnen, und den Herausforderern Schande […]“.97 Ähnliches geschieht in Canut: Ulfo fordert Godewin zum Duell, dieser nimmt die Herausforderung an – diese Situation zeigt wie die Beziehung der beiden Kontrahenten zu __________ 95

96 97

Ranke: Theatermoral (wie Anm. 10), u. a. S. 282ff., weist darauf hin, dass bei Schlegel – im Unterschied zu Corneille – der Ausnahmezustand als Bewährungssituation des Helden nicht mehr gegeben ist. Seneca: Philosophische Schriften. Bd. 5 (wie Anm. 64), S. 245ff. (Zitat S. 249). Hobbes: Leviathan (wie Anm. 58), S. 71; dazu: Schulz: Die Überwindung der Barbarei (wie Anm. 22), S. 98f.; Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17), S. 161ff.

Transformationen des Heroismus

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Estrithe, dass Schlegel zwischen Ulfo und Godewin viele Ähnlichkeiten bestehen lässt. Beide verstoßen gegen das Privileg des Souveräns zur legitimen Ausübung von Gewalt, gegen das Prinzip der Monopolisierung von Gewalt an der Staatsspitze, wobei Schlegel damit ein Motiv aufnimmt, das in Corneilles Cid an prominenter Stelle behandelt wurde. Ein Regierungsproblem für den spanischen König besteht darin, dass er zwar das Duell zwischen dem künftigen Cid und dessen Widersacher verbieten und insofern einen Streit zwischen konfligierenden Untertanen schlichten kann, dass dies aber wenig ausrichtet, so lange sich die Kontrahenten „nur zum Scheine“ vertragen werden: „im Herzen wird der Haß wohl unaufhörlich blühn, / Und eine schlimme Frucht zuletzt zusammen ziehn“.98 Der König muss daher auch das Innere der Untertanen durch sein Regierungshandeln erreichen. In Le Cid fehlen ihm dazu die Mittel, so dass er am Ende das Duell zulässt, jedoch betont, dass das nie wieder geschehen soll.99 Aber ist dieser Instruktionsoptimismus plausibel? Während bei Corneille der Titelheld im Duell siegt, besteht die Pointe bei Schlegel darin, dass Godewin unterliegt und trotzdem als Vorbild gelten soll. Nun wird deutlich, wie kompliziert die Anforderungen an den staatsbürgerlichen Heroismus sind. Canut erläutert seinem Untertan: Es war dir rühmlicher, dies Schwert besiegt verlieren, Als es zum Untergang des Nebenbürgers führen. Brauch künftig es allein für mich und für mein Reich, Aus Pflicht und nicht aus Zorn. Umarmt euch, liebet euch! (S. 45f.)

Godewin konvertiert die Niederlage in einen Sieg, indem er heroische Qualifikationen verinnerlicht:100 „Besiegt sein ist kein Schimpf, und stark sein ist kein Ruhm. / Die Ehre bleibt allein des Herzens Eigentum“ (S. 46). Und daraus folgert Godewin: „So sollst du […] / Gestehn, daß man besiegt noch edel bleiben kann“ (S. 47).101 Diese Transformation des Heroismus verzeichnet Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit bemerkenswerter Genauigkeit. Dort heißt es: __________ 98 99 100

101

Gottsched: Die Deutsche Schaubühne. Bd. 1 (wie Anm. 16), S. 352; vgl. weiter zum Duell: ebd., S. 357f., 361, 390ff. Ebd., S. 392. Mit Hinweisen auf Wolff und Gottsched: Schulz: Die Überwindung der Barbarei (wie Anm. 22), S. 96; ders.: Tugend, Gewalt und Tod (wie Anm. 7), S. 155; Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17), S. 164; Alt: Tragödie der Aufklärung (wie Anm. 13), S.128; Ranke: Theatermoral (wie Anm. 10), u. a. S. 295, 318, 322, 324, 331f. – hier der Hinweis, dass im Konflikt zwischen Godewin und Ulfo demonstriert wird, wie wichtig die „Haltung“ ist (S. 324). Dies ist nicht zuletzt deswegen interessant, weil sich Godewin damit dem „Regiment des Ehrbegriffs“ entzieht, das im 17. Jahrhundert „absolute Herrschaft über Leib und Seele“ ausgeübt hat und damit eine Art ethisches Analogon nicht nur zur lenkenden Gottheit oder zum Schicksal darstellt, sondern auch zum Souverän (so in Fortführung von Peter-André Alt: Der Held und seine Ehre. Zur Deutungsgeschichte eines Begriffs im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 37 [1993], S. 81-108, S. 83f. – zu Canut, S. 87f.).

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Steffen Martus Der Hêld, […], eigentlich eine mit vorzüglicher Leibesstärke begabte Person. In dieser Bedeutung war es ehedem sehr gebräuchlich, da nicht nur die Tapferkeit noch größten Theils in der Leibesstärke bestand, sondern da auch diese noch für die erste und glänzendste Fähigkeit gehalten wurde. In den spätern Zeiten nannte man Personen, welche mit einer vorzüglichen Herzhaftigkeit begabet waren, Helden, besonders, wenn sie einen pflichtmäßigen und für viele vortheilhaften Gebrauch davon machten […].102

Nach wie vor ist der „Gebrauch“ der „Fähigkeit“ wichtig, aber der Heroismus darf hier auch latent sein.103 Das bedeutet einen fundamentalen Transformationsprozess. Noch besteht die Gefahr, dass Godewin übersehen wird. Bezeichnenderweise kämpft Godewins Gegenspieler Ulfo um seine ostentative Sichtbarkeit. Fehlende Außenwahrnehmung interpretiert er als Inexistenz: „Kein Unglück ist so groß, als lebend tot zu sein“ (S. 13), d. h.: als keine Aufmerksamkeit zu erhalten. Wie also wird die Tragödie so umgestaltet, dass sie eine Figur sichtbar macht, die zuvor keinen Platz im tragischen Aufmerksamkeitsraster hatte? Und wie arbeitet sie daran, dass diese Figur nicht übersehen wird? Ulfos Unverständnis gegenüber der Position Godewins ist jedenfalls ebenso aufschlussreich wie Esthrites Irritation gegenüber ihrem Bruder, der ihr die Entscheidung der Partnerwahl frei gelassen hat, wohingegen sie selbstverständlich davon ausging, dass sie der von Ulfo gefälschten Weisung des Königs zur Heirat nachzukommen hatte (S. 25). Beides verdeutlicht, wie komplex, wie provokativ und zugleich wie unwahrscheinlich die Transformation des Heroischen war, die den Staatsbürger in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückt. Möglicherweise kann sich diese Staatsbürgerkunde, die das „Unterliegen“ aufwertet, auf eine „christlich beeinflusste Ethik“ berufen,104 deren sich historisch verändernde Schwerpunkte dann einbezogen werden müssten. In jedem Fall aber werden einige der Implikationen deutlich, die die Transformation des Heroismus mit sich bringen: Ehrenvolle Konflikte werden an die Staatsgrenzen verlagert, ehrfähige Gewalt wird nationalisiert.105 Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den Souverän und verteilt __________ 102

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Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Zweyter Theil. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1796, S. 1094. Ein Problem dieser Potenzialisierung von Heroismus besteht z. B. darin, wie sich heroische Handlungsmacht, die man – wie Godewin – in der Vergangenheit bewiesen hat, in dauerhaftes Renommee übersetzen lässt, ohne weiterhin gewalttätig zu sein. In Corneilles Cid wird dies am alten Vater des Titelhelden entwickelt, der sich gegen den ‚rebellischen‘ Gegner nicht durchsetzen kann und daher auf die ‚Rache‘ durch seinen Sohn angewiesen ist. Dies wiederum führt zu Problemen, wie sich dessen ‚Rache‘ mit der Monopolisierung von Gewalt durch den Souverän verträgt. Die Lösung liegt in der Verlagerung der Konflikte nach außen, also im Kampf gegen die „Mohren“ (Gottsched: Die Deutsche Schaubühne. Bd. 1 [wie Anm. 16], z. B. S. 341). Schulz: Die Überwindung der Barbarei (wie Anm. 22), S. 103. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Thomas Wirtz’ Hinweis auf die Gemeinschaftsbildung über den Ausschluss von Ulfo: Gerichtsverfahren. Ein dramaturgisches Modell in Trauerspielen der Frühaufklärung. Würzburg 1994, S. 343, 401 (hier immer wieder auch Bemerkungen zur Konzeption des ‚Untertan‘, z. B. S. 355ff., 370).

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sich zugleich auf ein Staatsgebiet (Canut: „Brauch künftig es [das Schwert, S.M.] allein für mich und für mein Reich“; S. 45). Für die Verteilung politischen Wissens in kulturellen Räumen wäre hier interessant, dass Schlegel sein Drama nicht nur als dänisches Nationaldrama schreibt, sondern dass er dies auch in Dänemark tut, denn die Aufklärung verläuft in den skandinavischen Literaturen in unterschiedlicher Weise. So orientiert sich etwa Schweden eher an Frankreich, wohingegen in Dänemark Positionen der deutschen Aufklärung stark vertreten sind. Dies liegt an den deutschen Einwohnern und nicht zuletzt an der Rolle, die diese gerade auf staatspolitischer Ebene gespielt haben. In der Nationalkonkurrenz bilden sich „pränationale Diskurse“ in Dänemark heraus.106 Heinrich Detering hat dies als Kontext für Schlegels Canut rekonstruiert. Er macht darauf aufmerksam, dass sich insbesondere seit den 1730er Jahren ein dänischer Patriotismus gegen den deutschen Einfluss ausbildet. Schlegel, der 1743 als Privatsekretär des sächsischen Gesandten nach Dänemark kommt, interessiert sich also „inmitten der aufbrechenden Nationalismen […] für die Nation der Poesie – für diejenige ‚Gemütsbeschaffenheit‘ der Nation, die in ihrer Poesie sichtbar wird […] und für dasjenige Bild der Nation, das in ihrer Poesie konstruiert wird“.107 Um eine entsprechende Staatsbürgermentalität auszubilden, muss der Affekthaushalt in einer bestimmten Weise aufgebaut werden: Teils geht es um affektive Beruhigung und Selbstkontrolle, teils um die positive affektive Besetzung von Loyalitäten, teils um die Verlagerung von Affektäußerung an die Grenzen des Staats. Wie genau wird diese politische Anthropologie gestaltet? Wie verändert sich das politische Wissen im Blick auf seine Anthropologisierung? Wie wird es diskursiviert? Indem der Held in der Tragödie des 18. Jahrhunderts als repräsentative Figur bestätigt, subvertiert, modifiziert oder verabschiedet wird, reflektieren die literarischen Auseinandersetzungen die gleichsam un- oder vorpolitischen Bedingungen des Funktionierens von Politik, und dies an einer Gelenkstelle des politischen Diskurses, der von vormodernen zu modernen Konzeptionen politischer Macht überleitet. Damit steht die politische Theorie vor einem ganzen Bündel an Problemen der politischen Praxis: Wie soll man die mentalen Voraussetzungen von Nachfolgebereitschaft sichern?108 Wie sehen die verhaltenstech__________ 106

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Jürg Glauser (Hg.): Skandinavische Literaturgeschichte. Unter Mitarbeit von Annegret Heitmann u. a. Stuttgart/Weimar 2006, S. 80f. Zur Differenzierung dieser Thesen vgl. Regina Jucknies/Stephan Michael Schröder: Generationenprojekt und nordeuropäische Literaturgeschichten. Rezension über: Jürg Glauser (Hg.): Skandinavische Literaturgeschichte. Stuttgart 2006. In: IASLonline [02.05.2009], (Download vom 28.8.2009). Detering: Die Nation der Poesie (wie Anm. 33), S. 89. Selbstbeherrschung und Unterordnung sind hier zwei Seiten einer Medaille. Schulz meint hingegen angesichts der aus seiner Sicht von Canut nur behaupteten persönlich-privaten Freiheit von Esthrite: „Canuts Ordnung“ lebe „vom unbedingten Gehorsam der Untertanen, die sich gerade nicht erkühnen, frei über sich selbst herrschen zu wollen“ (Die Überwindung der Barbarei [wie Anm. 22], S. 97f.).

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nischen und -ethischen Korrelate von Politik aus? Welche Rolle spielen Beziehungstypen wie ‚Freundschaft‘, ‚Familie‘ oder ‚Liebe‘ innerhalb eines politischen Systems? Das heißt: Im Streit um Formen des Heroismus geht es nicht nur um die Leitungskompetenz an der Staatsspitze, sondern heroische Konzeptionen stehen als Reflexionsmedien von Konzeptionen des „Staatsbürgers“ zur Debatte. Auffällig ist in jedem Fall, dass in wichtigen heroischen Tragödien der folgenden Zeit weniger die Könige, als vielmehr die Untertanen im Blickpunkt stehen: In Lessings Philotas dankt der König am Ende ostentativ von der Bühne ab; Goethes Götz von Berlichingen trägt seine Streitigkeiten auf der Ebene unterhalb des Kaisers aus und wird von diesem bei allen Kämpfen immer als treuester Diener akzeptiert (s. u.); in Schillers Fiesco liefert sich am Ende ein Held nach dem Muster von Lessings Emilia Galotti aus freien Stücken der Staatsgewalt aus. Die Helden als Staatsbürger demonstrieren, wie wichtig intrinsische Motivation für die Staatspolitik ist. Gerade die Souveränität der Staatsmacht ist angewiesen auf die Selbststeuerung des Staatsbürgers. Indem die Helden also die Staatsgewalt akzeptieren, depotenzieren sie diese zugleich – sie zeigen ihre Eigenständigkeit. Sie entfalten das Gewaltpotenzial des Staatsbürgers, das nun politisch verwaltet und in der Tragödie gestaltet wird. Die tragischen Figuren belegen damit, dass eine Transformation des Heroismus im 18. Jahrhundert vom Souverän zum Staatsbürger führt bzw. dass die Tragödie weniger souveränes als vielmehr staatsbürgerliches Wissen diskursiviert. Wenn einige Interpreten in Ulfo den Prototyp des Sturm und Drang-Helden gesehen haben, dann ist das nicht deswegen richtig, weil Ulfo für individuelles Freiheitsbegehren und entfesselte Subjektivität steht. Vielmehr präfiguriert Ulfo diesen Heldentypus, weil gerade auch die Helden des Sturm und Drang zum Experimentierfeld einer neuen Form der Macht werden: zu jener Macht, die der Held als Staatsbürger sich selbst antun muss.109 Daher ist Ulfo zwar eine archaische Figur, die keinen Ort mehr in einer neuen Zeit findet. Zugleich aber werden bestimmte heroische Kompetenzen von diesem Typus weitergereicht. Oder anders: Mit Ulfo werden latente Gefahren und Bedrohungen auf die Bühne gebracht, die mit dem Tod der Figur nicht beseitigt sind.110 In dieser Hinsicht ist Büschels Canut-Renovierung für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts signifikant. Es ist durchaus plausibel, dass Goethes Götz von Berlichingen ein wichtiger Einflussfaktor war, nicht aber als Vorbild für die Gestaltung einer Zeitwende,111 denn genau dieses Motiv fällt in der Bearbeitung weitgehend unter den Tisch.112 Im Zentrum steht dafür die „Analogie von individueller und nationaler Identi__________ 109

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Ausführlich dazu im Blick auf Goethes Götz von Berlichingen: Verf.: Staatskunst – die Politik der Form im Kontext der Gallophobie bei Goethe, Möser und Herder. In: Gallophobie im 18. Jahrhundert. Akten der Fachtagung vom 2./3. Mai 2002 am Forschungszentrum Europäische Aufklärung. Hg. von Jens Häseler und Albert Meier unter Mitarbeit von Olaf Koch. Berlin 2005, S. 89-122. Vgl. dazu Wirtz’ Betonung der „Koexistenz“ der Figuren „in der einen Spielzeit“: Gerichtsverfahren (wie Anm. 105), S. 344. So jedoch Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit (wie Anm. 17), S. 158. Reste finden sich z. B. bei Büschel: Schauspiele (wie Anm. 36), S. 113.

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tät“,113 also das Problem, wie sich der geforderte Heroismus des Staatsbürgers damit vereinbaren lassen soll, dass er zugleich Untertan ist, bzw. wie man Untertan sein und zugleich latent mit dem Souverän konkurrieren kann. Büschel spitzt diese Problemstellung zu, indem er Ulfo aufwertet und zu einem liebenden und – zumindest kurzzeitig – empfindsamen Menschen macht114 und indem er Canut nun tatsächlich seine quasigöttliche Position nimmt.115 Der tätige Untertan muss sich mit einer Fiktion abfinden. Er soll für den König eintreten – wie Ulfo dies für Godewin konzediert – „als ob“ er für sich selbst kämpfen würde.116 Gerade scheiternde Helden oder sogar Verbrecher117 exemplifizieren staatsbürgerliche Kompetenzen, weil Patriotismus paradoxerweise auf der Missachtung des Gesetzestextes beruht: Staatsbürgern muss es um den ‚Geist‘ des Gesetzes gehen, damit sie das abstrakte Allgemeine zu ihrer persönlichen Sache machen können. Der ‚Buchstabe‘ des Gesetzes prägt ihren Habitus der Idee nach auf eine Weise, dass der direkte Hinweis darauf unnötig wird. Beherrscht vom ‚Geist‘ des Gesetzes agieren sie selbstläuferisch. Der entscheidende Vergleichspunkt von Büschels Canut und Goethes Götz ist daher das Verhältnis der ‚Rebellen‘ zum Kaiser. So berichtet Weislingen fassungslos, dass der Kaiser Götz’ Bündnispartner Franz von Sickingen verteidigt hat, und dies mit einem aufschlussreichen Argument: „Er ist mein treuer Diener, sagt er [der Kaiser, S.M.], hat er’s [Sickingen, S.M.] nicht auf meinen Befehl gethan, so that er doch besser meinen Willen als meine Bevollmächtigte, und ich kann’s gut heissen, vor oder nach“118 – die Problemkonstellationen von Kleists Prinz Friedrich von Homburg, einem Drama der Staatsbürgerschaft, sind damit umrissen. Verständlicherweise will der Kaiser Götz gern in seiner Armee haben,119 denn den Patrioten, nicht den Söldnertruppen oder gepressten Soldaten gehört – zumindest konzeptionell – die Zukunft, also Menschen, die emotional mit einem Abstraktum so verbunden sind, dass sie dafür mehr oder weniger freiwillig

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Detering: Die Nation der Poesie (wie Anm. 33), S. 92. Genau in dieser Szene kommt Ulfo auch zur staatspolitischen Vernunft: „Ich gebe der Natur mein Leben zurück – dem König und dem Reiche Sicherheit – deiner Seele Frieden – und so laß mich sterben“ (Büschel: Schauspiele [wie Anm. 36], S. 155). Canut will z. B. der „Freund“ von Ulfo sein (ebd., S. 121, 144f.). Umgekehrt findet Ulfo nun einen Weg, mit dem Souverän zu kämpfen: Der Gefangene deutet Canuts Strafe als Sieg – „ich sterb’ als ein Mann in dessen Tod ein mächtiger König seine Sicherheit findet, weist du einen rühmlichern?“ (ebd., S. 158). Ebd., S. 111. Bei Schlegel hingegen meint Ulfo: „Du fochtest, wie man soll, wenn man um Ehre ficht“ (S. 29). Vgl. Verf.: Verbrechen lohnt sich. Die Ökonomie der Literatur in Schillers Verbrecher aus Infamie. In: Euphorion 99 (2005), S. 243-271. Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden. Hg. von Hanna Fischer-Lamberg. Bd. 3. Unveränderte Neuausgabe. Berlin/New York 1999, S. 269. Ebd., S. 233.

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ihr Leben riskieren.120 Die Tragödie des 18. Jahrhunderts diskursiviert das dafür notwendige politische Wissen, und dies nicht zuletzt als Transformation des Heroismus.

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Allgemein zur ‚Erfindung‘ der Nation nach dem Siebenjährigen Krieg in Preußen: Eckhart Hellmuth: Die „Wiedergeburt“ Friedrichs des Großen und der „Tod fürs Vaterland“. Zum patriotischen Selbstverständnis in Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Nationalismus vor dem Nationalismus? Hg. von Eckhart Hellmuth und Reinhard Stauber. Hamburg 1995, S. 2354 (zur Frage nach „Patriotismus“ und „Nationalismus“ insbes. S. 23f., zum „Tode für das Vaterland“ S. 40ff.). Zur differenzierten Sicht auf die repressive Menschenführung in der friederizianischen Armee vgl. Werner Gembruch: Staat und Heer. Ausgewählte historische Studien zum ancien régime, zur Französischen Revolution und zu den Befreiungskriegen. Hg. von Johannes Kunisch. Berlin 1990, z. B. S. 169ff., 182, 239ff. Weitere Literatur, die die historische Grenze zwischen dem Aufklärungsmilitär und dem Krieg nach der Französischen Revolution überspielt, bei Daniel Hohrath: Spätbarocke Kriegspraxis und aufgeklärte Kriegswissenschaften. Neue Forschungen und Perspektiven zu Krieg und Militär im „Zeitalter der Aufklärung“. In: Die Kriegskunst im Lichte der Vernunft. Militär und Aufklärung im 18. Jahrhundert. Teil 2. Hg. von Daniel Hohrath und Klaus Gerteis. Hamburg 2000, S. 5-47, 38f.

Rainer Zaiser Die Diskursivierung der Ethik der Selbstsorge im Theater der französischen Klassik. Racines Bérénice und Corneilles Tite et Bérénice

Wenn sich Literatur ganz allgemein als ein privilegierter Verhandlungsort von ethischen Prinzipien bezeichnen lässt, dann gilt die Ausnutzung dieser Disposition in ganz besonderem Maße für die Literatur der französischen Klassik, in der fast alle Gattungen, sei es direkt oder indirekt, in den Dienst einer moralischen Reflexion treten. Bezeichnend ist hierfür, dass gerade im Zeitraum zwischen 1660 und 1680, der in konventionellen Literaturgeschichten als der Höhepunkt der französischen Klassik angesehen wird,1 in Frankreich die ausgeprägteste Form der europäischen Moralistik entstanden ist, wie es unter anderem durch die Werke von La Rochefoucauld, La Bruyère und La Fontaine dokumentiert ist. Hier handelt es sich allerdings um eine spezifische Form der moralischen Reflexion, die auf keine Auseinandersetzung mit tradierten ethischen Wissensdiskursen zurückzuführen ist, sondern aus der unmittelbaren Beobachtung menschlicher Verhaltensweisen resultiert. Auf dieser Basis entfaltet die französische Moralistik eine Art Ethik des dezentrierten Subjekts, die sich zunächst vor allem selbst dekonstruiert,2 bevor sie indirekt auch die vorherrschenden moralischen Wissensdiskurse in ihrem absoluten Gültigkeitsanspruch untergräbt. In der Vorstellung vom dezentrierten Subjekt läuft nämlich die Kartographierung des menschlichen Ichs eher in einer terra incognita aus,3 als dass sie auf fest umrissene Koordinaten stoßen würde, die dem Subjekt eine gewisse moralische Orientierung geben könnten. Das soziale, ethische oder anthropologische Wissen, mit dem sich das Subjekt im moralistischen Diskurs des 17. Jahrhunderts zu definieren versucht, ist deshalb nur ex negativo zu fassen als etwas, das ambivalent, relativ und in ständiger Bewegung ist und zu keinen Kernaussagen vordringt. Karlheinz Stierle, von dem der Begriff des „dezentrierten Subjekts“ stammt, hat __________ 1 2

3

Vgl. unter anderem Roger Zuber/Micheline Cuénin: Littérature française 4. Le classicisme, 16601680. Paris 1984. Vgl. hierzu Jutta Weiser: Vertextungsstrategien im Zeichen des désordre. Rhetorik, Topik und Aphoristik in der französischen Klassik am Beispiel der Maximes von La Rochefoucauld. Heidelberg 2004. Vgl. zur Metaphorik der Kartographie und der terra incognita bei der Beschreibung moralistischer Diskurse Louis van Delft: Literatur und Anthropologie. Menschliche Natur und Charakterlehre. Münster 2005, S. 30-35 und S. 41-43.

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diesen Identitätsschwund des Individuums auch unter der Bezeichnung „negative Anthropologie“ beschrieben und darin eines der wesentlichen Kennzeichen der Literatur der französischen Klassik erkannt, und zwar auch über die einschlägigen Texte der Moralistik hinaus.4 Wenn man von der sicherlich zutreffenden Feststellung ausgeht, dass sich im dramatischen Werk Racines oder in den religionsphilosophischen Schriften Pascals sowie in den Aphorismen, Charakterportraits und Fabeln der bereits genannten französischen Moralisten immer wieder ein Diskurs manifestiert, der das menschliche Ich in vielen Facetten ausleuchtet, ohne dabei zu einer Identitätsbestimmung zu gelangen, dann hat dieser Diskurs sicherlich auch eine ethische Dimension, denn er untergräbt jene etablierten moralischen Wissensdiskurse, die aus festen Regularien bestehen und damit auf das Subjekt eine identitätsbildende Wirkung haben. Auch wenn dadurch eine latente Disqualifizierung von vorhandenen Wissensbeständen über das moralische Subjekt Mensch stattfindet, erfolgt hier keine Etablierung eines neuen, positiv markierten Wissens. Die Erfahrung, dass sich der Mensch in seiner Beziehung zu sich selbst, zu den anderen und zum Göttlichen nicht eindeutig definieren kann, ist zwar auch ein Wissen, aber es lässt den Einzelnen letztlich moralisch allein und macht ihn entweder unendlich ohnmächtig und leidend, wie es die Tragödien Racines unter Beweis stellen, oder unendlich selbstbezogen und narzisstisch, wie es La Rochefoucauld für die Verhaltensrituale der höfischen Gesellschaft unter dem Stichwort des „amour propre“ diagnostiziert hat. Deshalb wäre es lohnend, der Frage nachzugehen, ob dieser subversive Diskurs, der im Grunde die Elaborierung von moralischen Parametern kategorisch negiert, nicht auch Anschlüsse an eine positiv besetzte Ethik gefunden hat, die zwar genauso die existierenden moralischen Wissensformationen der Epoche in Frage stellt wie die Moralistik, aber eben nicht wie die letztere in einer Poetik der moralischen Unverbürgtheit aufgehoben ist, sondern die Festlegung auf einen moralischen Standpunkt wagt. Die These des vorliegenden Beitrages besteht nun darin, dass sich die Existenz einer solchen Ethik mit dem von Michel Foucault entwickelten Konzept der Selbstsorge als Ausdruck einer Lebenskunst fassen lässt. Dies soll nachgewiesen werden am Beispiel von zwei Tragödien des klassischen französischen Theaters, die zwar aus der Feder von zwei verschiedenen Autoren stammen, aber denselben Stoff zum Gegenstand haben, zeitgleich entstanden sind und im Abstand von nur wenigen Tagen uraufgeführt wurden: Racines Bérénice und Corneilles Tite et Bérénice. Der Vergleich dieser beiden Stücke, der erwartungsgemäß natürlich schon mehrfach angestellt wurde,5 ist für die __________ 4

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Vgl. Karlheinz Stierle: Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil. In: Französische Klassik. Theorie, Literatur, Malerei. Hg. von Fritz Nies und Karlheinz Stierle. München 1985, S. 81-128. Zu dem Begriff „dezentriertes Subjekt“ siehe S. 108. Vgl. Georges May: Tragédie cornélienne, tragédie racinienne. Urbana 1948; H.T. Barnwell: The Tragic Drama of Corneille and Racine. An Old Parallel Revisited. Oxford 1982; Georges Forestier: Où finit Bérénice commence Tite et Bérénice. In: Onze études sur la vieillesse de Corneille, dédiées à la mémoire de Georges Couton, publiées par l’ADIREL sous la direction de Madeleine Bertaud. Boulogne 1994, S. 53-75.

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bisherige Forschung vor allem deshalb reizvoll gewesen, weil die beiden Dramatiker durch die Auswahl desselben Stoffes nicht nur miteinander rivalisierten, sondern auch eine unterschiedliche Dramenästhetik und ein unterschiedliches Menschenbild vertraten. Der ältere Corneille, der seine Anfänge im Barocktheater nie ganz verleugnen konnte und sein Stück mit einer komplexeren Handlung und gedrechselteren Rhetorik als sein Rivale ausstattete, unterlag in der Gunst des Publikums dem viel jüngeren Racine, der nie Schwierigkeiten damit hatte, die Prinzipien der klassischen Dramenästhetik einzulösen, und somit sein Stück mit einer schlichten, konzentrierten Handlung und einer klaren, eingehenden Rhetorik versah. Hinzu kommt ein an feudalaristokratische Moralvorstellungen orientierter willensstarker Held bei Corneille, der in Opposition steht zu dem Helden Racines, der seinen Leidenschaften verfallen ist und einem unbestimmten Schicksal ausgeliefert zu sein scheint. Was den Vergleich der beiden Stücke für unseren Zusammenhang jedoch besonders reizvoll macht, ist die Tatsache, dass sie über die zuletzt genannten weltanschaulichen Differenzen hinaus ein gemeinsames Potential entfalten, das einer Ethik des Subjekts Vorschub leistet und damit eine individuelle Moral gegen jene moralischen Wissensansprüche setzt, deren Wahrheit eine größere Gemeinschaft behauptet und in eine dominante gesellschaftliche Praxis überführt. Bevor diese Ethik des Subjekts am Beispiel der beiden Tragödien belegt werden soll, möchte ich zunächst die vorherrschenden moralischen Wissensdiskurse der französischen Klassik umreißen und die wichtigsten Punkte von Foucaults ethischem Konzept der Selbstsorge in Erinnerung rufen. Paul Bénichou hat in seiner 1948 erschienenen, aber heute immer noch lesbaren Studie über die moralischen Dogmen der französischen Klassik mit dem Titel Morales du Grand Siècle drei ebenso dominante wie konkurrierende Diskurse aus der moralischen Reflexion des französischen 17. Jahrhunderts herausfiltriert. Er unterscheidet  erstens eine „Moral des Heldentums“, die die Größe der menschlichen Natur in den Blick nimmt und die gesellschaftlichen Werte von Ehre und Ruhm über das persönliche Begehren des Individuums stellt;  zweitens eine „christliche Moral“, die sich aus dem Jansenismus speist, der französischen Variante der augustinischen Glaubenslehre, und die Sündhaftigkeit und Nichtigkeit der menschlichen Natur betont, deren Rettung nur durch einen willkürlichen Gnadenakt eines als abwesend begriffenen Gottes möglich ist;  und drittens eine „mondäne Moral“, die sich den Bedingungen der realen Welt stellt und weder eine idealisierte Größe des Menschen einfordert noch ein vernichtendes Verdikt über seine defizitäre moralische Integrität ausspricht, sondern seine Schwächen im Umgang mit den anderen durchleuchtet, ohne ihn gleich zu einem gefallenen Wesen zu erniedrigen.6 __________ 6

Vgl. zu dieser Unterscheidung Paul Bénichou: Morales du Grand Siècle. Paris 1948, S. 12.

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Zeugnis über diese moralischen Praktiken legen nach Bénichou vor allem die literarischen Gattungen und die theologisch geprägten Schriften der Epoche ab. In seiner Studie belegt er, dass die Diskursivierung der Moral des Heldentums exemplarisch in den Tragödien Corneilles erfolgt, jene der christlich augustinischen Moral im Theater Racines und im theologischen Schrifttum des Klosters Port-Royal, zu dem auch das religionsphilosophische Werk Pascals zu zählen ist, und schließlich die Diskursivierung der mondänen Moral in den Komödien Molières.7 In allen drei Fällen haben wir es mit einer normbildenden Ethik zu tun, die sich eine bestimmte soziale Gruppe zu eigen gemacht hat. Die auf Ruhm und Ehre basierende Ethik des Heldentums floriert vor allem in den Adelskreisen der vorabsolutistischen Zeit und dokumentiert das Selbstbewusstsein einer sich als unabhängig definierenden gesellschaftlichen Elite, die noch einmal vehement gegen die absoluten Machtansprüche der Krone aufbegehrt, bevor die Thronbesteigung Ludwigs XIV. im Jahre 1661 diesen Widerstand endgültig bricht. Die christliche Moral des sündhaften Menschen, dem nur die Option offensteht, ein Leben in Demut, Einsamkeit und Askese zu führen, wurde nicht nur in dem wirkungsmächtigen Kloster Port-Royal gelehrt, in dem im Übrigen Racine zur Schule ging und Pascal verkehrte, sondern sie fand auch Anhänger unter dem sogenannten Amtsadel, den sich Ludwig XIV. in seinem Verwaltungsapparat aufgebaut hatte. Wie Lucien Goldmann in einer einschlägigen Studie nachgewiesen hat,8 lässt sich die Erfolgsgeschichte der rigorosen Moral des Jansenismus in der Epoche der französischen Klassik gerade durch die Entstehung dieser neuen sozialen Schicht erklären, deren Vertreter durch Ämterkauf in den Adelsstand erhoben wurden und durch den jährlichen Zwang zur Erneuerung dieses Privilegs in eine permanente Abhängigkeit vom König gerieten, der jedes Mal willkürlich darüber entscheiden konnte, ob er seine Zustimmung dazu geben wollte oder nicht, ähnlich wie es nach der Glaubenslehre der Jansenisten der Willkür Gottes überlassen bleibt, dem Menschen seine Gnade zu schenken oder ihm diese zu verweigern. Die mondäne Moral, die das Mittelmaß zwischen Heroismus und Bescheidung sucht und die Schwächen der Menschen in ihrer alltäglichen Lebenspraxis genauso entlarvt wie kultiviert, wird zur Verhaltensnorm von jener bürgerlichen und aristokratischen Gesellschaft, die sich im näheren und weiteren Umkreis des Hofes von Ludwig XIV. bewegte und von jenem völlig entpolitisiert wurde, wie es Norbert Elias in seinem Buch über die höfische Gesellschaft in der Frühen Neuzeit beschrieben hat.9 In den Vorder__________ 7

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Vgl. neben den entsprechenden Kapiteln in Bénichous Buch auch seine prägnante Zusammenfassung: „[...] une rencontre heureuse, ou plutôt, si l’on y réfléchit, la nature ordinaire des choses a voulu que les trois conceptions fondamentales que nous venons de définir se rencontrassent presque à l’état pur chez les trois moralistes les plus grands de ce siècle, Corneille, Pascal, Molière.“ (Bénichou: Morales [wie Anm. 6], S. 12). Vgl. Lucien Goldmann: Le Dieu caché. Etude sur la vision tragique dans les Pensées de Pascal et dans le théâtre de Racine. Paris 1956. Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1969.

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grund tritt hier eine Ethik der Selbstinszenierung, die mehr vom Schein als vom Sein dominiert wird und sich zum Beispiel in der Figur des Bürgers abzeichnet, der zum Edelmann werden will, oder in der Figur des Aristokraten, der sich auf das Spiel mit der Liebe kapriziert, um gesellschaftlich Erfolg zu haben.10 Alle diese moralischen Systeme, die ganz bestimmte Verhaltensweisen, Sittenkodices oder Handlungsstrategien zu den Regularien des guten oder auch schlechten Funktionierens einer ganz bestimmten Gemeinschaft machen, werden konterkariert durch die moralische Reflexion der Moralisten im engeren Sinne, für die es letztlich keine ethischen Regularien mehr gibt, sondern nur noch einen unendlichen Prozess der fragmentarischen Aneignung und Verwerfung von Facetten eines ständig changierenden menschlichen Wesens, wie es La Rochefoucauld am radikalsten beschrieben hat.11 Zwischen den beiden gerade genannten Positionen, d. h. zwischen der Kultur moralischer Normierungspraktiken und der Kultur ihrer dekonstruktivistischen Aufhebung etabliert sich jedoch in der französischen Klassik, um einen anachronistisch wirkenden, aber durchaus passenden Begriff aus der Postkolonialismus-Diskussion zu gebrauchen, ein dritter kultureller Raum, der ethisch neu besetzt wird. Ähnlich wie es der von Homi K. Bhabha geprägte Begriff postuliert,12 versammeln sich in diesem dritten Raum durchaus Elemente der einen und der anderen kulturellen, sprich hier moralischen Praxis, ohne dass dabei jedoch eine Symbiose stattfindet. Vielmehr entsteht etwas ganz Neues, das sich in erster Linie als Differenz zu den dominanten kulturellen Diskursen definiert. Michel Foucaults Aufarbeitung der antiken Ethik der Selbstsorge öffnet uns den Blick __________ 10

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Vgl. zum Aspekt der Liebe als gesellschaftliche Kommunikationsform und Strategie Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M. 1982. Das beste literarische und zugleich emblematische Beispiel, das diese Strategie veranschaulicht, ist die sogenannte „Carte de Tendre“, eine geographische Karte der Liebeswege, die zu Erfolg oder Misserfolg in Sachen Liebe führen, abgebildet in Madeleine de Scudérys Roman Clélie, der in zehn Bänden zwischen 1654-1660 erschienen ist. Vgl. hierzu seine berühmte Maxime über den „amour propre“, die mit dem folgenden Fazit endet: „Voilà la peinture de l’amour-propre, dont toute la vie n’est qu’une grande et longue agitation; la mer en est une image sensible, et l’amour-propre trouve dans le flux et le reflux de ses vagues continuelles une fidèle expression de la succession turbulente de ses pensées et de ses éternels mouvements.“ (La Rochefoucauld: Œuvres complètes. Introduction par Robert Kanters. Chronologie et index par Jean Marchand. Edition établie par L. Martin-Chauffier, revue et augmentée par Jean Marchand. Paris 1964 [Bibliothèque de la Pléiade], Maxime 563, S. 485). Vgl. zum postkolonialen Gebrauch des Begriffes Homi K. Bhabha: The Commitment to Theory. In: Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London/New York 1994, S. 19-39, vor allem S. 37-39; und Jonathan Rutherford: The Third Space. Interview with Homi Bhabha. In: Identity: Community, Culture, Difference. Hg. von Jonathan Rutherford. London 1990, S. 207-221, S. 211: „[...] hybridity to me is the ‚third space‘ which enables other positions to emerge [...] hybridity puts together the traces of certain other meanings or discourses. [...] The process of cultural hybridity gives rise to something different, something new and unrecognisable, a new area of negotiation of meaning and representation“.

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auf diesen dritten Raum, der sich im ethischen Diskurs der französischen Klassik auftut und bisher noch keine nähere Betrachtung erfahren hat. Grundgelegt hat Foucault die Ethik der Selbstsorge in seiner Histoire de la sexualité, in der es bekanntlich weniger um eine historische Rekonstruktion von gesellschaftlichen Praktiken und institutionellen Regeln im Umgang mit Sexualität und Körperlichkeit geht, als vielmehr um das menschliche Begehren an sich und um die individuellen Techniken seiner ethischen Modellierung und Beherrschung. Diese Ausrichtung zeigen vor allem der zweite und der dritte Band der Histoire de la sexualité, wie es bereits in den entsprechenden Untertiteln L’usage des plaisirs – Der Gebrauch der Lüste und Le souci de soi – Die Sorge um sich angedeutet wird.13 Im Gegensatz zu den moralischen Systemen, die darauf ausgelegt sind, das libidinöse Begehren des Menschen durch direkte oder indirekte gesellschaftliche Zwänge und Verbote zu steuern bzw. zu unterdrücken, interessiert sich Foucault vor allem für jenen moralischen Diskurs, den sich das Individuum selbst setzt, indem es sein Begehren aus freien Stücken reflektiert und kontrolliert. Solche „Technologien des Selbst“14 oder „Praktiken des Selbst“15 sieht Foucault in einer ganzen Reihe von philosophischen und medizinischen Traktaten der griechischen Antike vom vierten vorchristlichen Jahrhundert sowie in griechischen und lateinischen Schriften der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte dokumentiert. „Diese Texte“, so schreibt Foucault, „waren als Operatoren gedacht, die es den Individuen erlauben sollten, sich über ihr eigenes Verhalten zu befragen, darüber zu wachen, es zu formen und sich selber als ethisches Subjekt zu gestalten; ihnen kommt also eine ,etho-poetische‘ Funktion zu […]“.16 Die „etho-poetische Funktion“ dieser Texte liegt allerdings nicht nur darin begründet, dass sie den Individuen die Möglichkeit einräumen, sich ihre moralischen Verhaltensregeln selbst zu erschaffen, sondern auch darin, dass sich diese Individuen dadurch zu etwas Besonderem formen, das dem Vergleich mit der Ästhetik eines Kunstwerkes standhalten könnte. Die Ethik der Selbstsorge mündet somit in eine Lebenskunst. Foucault verbindet die Selbstpraktiken des Individuums __________ 13

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Vgl. Michel Foucault: Histoire de la sexualité, II. L’usage des plaisirs. Paris 1984 (dt. Übersetzung: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit. 2. Auflage. Frankfurt a.M. 1989); Michel Foucault: Histoire de la sexualité, III. Le souci de soi. Paris 1984 (dt. Übersetzung: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit. 3. Auflage. Frankfurt a.M. 1989.) Vgl. hierzu im französischen Original „technologies de soi“, Foucault: Histoire de la sexualité, II (wie Anm. 13), S. 18 und in der deutschen Übersetzung „Selbsttechnologien“, Foucault: Der Gebrauch der Lüste (wie Anm. 13), S. 18. Vgl. hierzu im französischen Original „pratiques de soi“, Foucault: Histoire de la sexualité, II (wie Anm. 13), S. 21 und in der deutschen Übersetzung „Selbstpraktiken“, Foucault: Der Gebrauch der Lüste (wie Anm. 13), S. 21. Der Gebrauch der Lüste (wie Anm. 13), S. 20-21, im französischen Original Histoire de la sexualité, II (wie Anm. 13), S. 21.

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explizit mit einer „art de vivre“17 und einer „esthétique de l’existence“18 oder bezeichnet sie als die „Künste der Existenz“, für die er die folgende Erklärung gibt: Darunter sind […] Praktiken zu verstehen, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht.19

Wie sehen diese Selbstpraktiken nun aber im Einzelnen aus? Foucault entwickelt auf der Basis der von ihm untersuchten Texte ein ganzes Spektrum sogenannter „règles de conduite“, Verhaltensregeln,20 die sich das Individuum zur Selbstdisziplinierung auferlegt. Unter den menschlichen Lüsten nimmt dabei die Betrachtung der Libido zwar einen großen Raum ein, aber nicht den einzigen. Foucault bezieht sich bei seinen Überlegungen auch auf Beispiele aus dem Bereich des Ernährungsverhaltens und – wenn auch im geringeren Umfang – aus dem Bereich des politischen Machtbegehrens. Was sich dabei jedoch als gemeinsame Verhaltensregel ableiten lässt, ist der Wille zur Kontrolle, zur Mäßigung, ja zur Enthaltsamkeit im Hinblick auf den Umgang mit den Lüsten. Ein sittlich integres Subjekt hält sein Begehren in der Balance eines „juste milieu“,21 eines richtigen Mittelmaßes, das weder den Exzess noch die absolute Abstinenz kennt. Symptomatisch für diese Auffassung ist der Stellenwert, den die antike Diätetik in Foucaults Betrachtungen einnimmt.22 Diese stellt in allen seinen Untersuchungen letztlich nicht nur die Metapher für den Umgang mit den Lüsten im allgemeinen bereit, sondern ist auch die conditio sine qua non für die Ausbildung eines moralischen Subjekts. In der Diätetik vereinigen sich die Ermöglichungs- und Realisierungsbedingungen der cura sui als Lebenskunst. So resümiert Foucault: __________ 17

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Vgl. Michel Foucault: L’écriture de soi. In: Michel Foucault: Dits et écrits, 1954-1988. Edition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange. Tome IV, 1980-1988. Paris 1994, S. 415-430, S. 417. Vgl. ebd., S. 415. Foucault: Der Gebrauch der Lüste (wie Anm. 13), S. 18, im französischen Original Foucault: Histoire de la sexualité, II (wie Anm. 13), S. 18. Vgl. zu den Begriffen Foucault: Histoire de la sexualité, II (wie Anm. 13), S. 20; Foucault: Der Gebrauch der Lüste (wie Anm. 13), S. 20. Vgl. Foucault: Histoire de la sexualité, II (wie Anm. 13), S. 87: „[…] le sujet choisit délibérément des principes d’action conformes à la raison, qu’il est capable de les suivre et de les appliquer, qu’il tient ainsi, dans sa conduite, le ,juste milieu‘ entre l’insensibilité et les excès […].“ Vgl. auch Foucault: Der Gebrauch der Lüste (wie Anm. 13), S. 86: „[…] daß das Subjekt überlegt vernunftgemäße Handlungsprinzipien wählt und sie befolgen und anwenden kann, daß es so in seinem Verhalten die richtige Mitte zwischen der Unempfindlichkeit und dem Überschwang einhält […]“. Vgl. das Kapitel „Diätetik“, in Foucault: Der Gebrauch der Lüste (wie Anm. 13), S. 125-179 oder das entsprechende Kapitel „Diététique“, in Foucault, Histoire de la sexualité, II (wie Anm. 13), S. 127-183.

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Rainer Zaiser Die Praktik der Diät als Lebenskunst ist also etwas anderes als ein Ensemble von Vorsichtsmaßregeln zur Vermeidung von Krankheiten und zu ihrer Heilung. Es handelt sich darum, wie man sich als ein Subjekt konstituiert, das um seinen Körper die rechte, notwendige und ausreichende Sorge trägt. Eine Sorge, die das Alltagsleben durchläuft; die aus den größeren und kleineren Tätigkeiten der Existenz eine Angelegenheit der Gesundheit und der Moral macht [...].23

Neben der Gesundheitsdiät und den damit verbundenen Aktivitäten der Körperpflege und der maßvollen Körperertüchtigung subsumiert Foucault im dritten Band seiner Histoire de la sexualité unter diese „größeren und kleineren Tätigkeiten der Existenz“, die in den Prozess einer Arbeit an sich selbst eingebunden sind, auch Lektüren und Meditationen sowie Gespräche und den brieflichen Austausch mit Vertrauten, Freunden oder Erziehern. Aus der cura sui ist folglich die Kommunikation mit den anderen nicht ausgeschlossen. Letztere kann vielmehr eine bereichernde Wirkung auf die moralische Formung des Subjekts haben.24 Des Weiteren ist für unseren Zusammenhang noch relevant, dass die „Technologien des Selbst“ auch in eine politische Funktion treten, insofern als sie zu den Garanten eines moralisch verantwortungsbewusst handelnden Regenten werden. Dieses positiv gezeichnete Herrscherbild, das nicht von Status, Rang und Macht determiniert wird, sondern von einer selbst kultivierten Tugendhaftigkeit des Regierenden, sieht Foucault auf prägnante Weise bei Plutarch formuliert, dessen Position er folgendermaßen zusammenfasst: Das erläutert Plutarch in seiner Abhandlung An einen ununterrichteten Fürsten: man kann nicht regieren, wenn man nicht selbst regiert ist. Wer aber soll den Regierenden lenken? Das Gesetz, gewiß; allerdings darf man es nicht als das geschriebene Gesetz verstehen, sondern eher als die Vernunft, den lógos, der in der Seele des Regierenden lebt und ihn nie verlassen darf.25

Die Kultur der cura sui formt also nicht nur die moralischen Subjekte einer Gemeinschaft aus, die die gesunde ethische Basis für deren Funktionieren darstellen, sondern auch jene Subjekte, die als Vorsteher solcher Gemeinschaften deren moralisch verantwortungsvolle Leitung übernehmen. Diese besteht aber im Wesentlichen nicht in der Führung der anderen, sondern in der Erkenntnis, dass sich die anderen selbst führen können und dass die Macht des Vorstehers nur darin besteht, mit seinem eigenen Lebensstil als Vorbild hierauf einzuwirken: „Leitung und Richtschnur bei seiner Herrschaft über andere sollen ihm seine persönlichen Tugenden als verständiger Mensch sein“.26 Dieses ebenso individuelle wie __________ 23 24 25 26

Foucault: Der Gebrauch der Lüste (wie Anm. 13), S. 140, Vgl. das französische Original in Foucault: Histoire de la sexualité, II (wie Anm. 13), S. 143. Vgl. hierzu Foucault: Die Sorge um sich (wie Anm. 13), S. 71 und Foucault: Histoire de la sexualité, III (wie Anm. 13), S. 71. Foucault: Die Sorge um sich (wie Anm. 13), S. 121 und Foucault: Histoire de la sexualité, III (wie Anm. 13), S. 123. Foucault: Die Sorge um sich (wie Anm. 13), S. 123 und Foucault: Histoire de la sexualité, III (wie Anm. 13), S. 125.

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politische Ethos geht nach Foucaults Beobachtungen allerdings im Zuge der Entstehung des Christentums verloren, das im Hinblick auf die moralische Führung des Einzelnen etwas hervorbringt, was sich letztlich auch der moderne Staat in säkularisierter Form zu eigen gemacht hat, nämlich die Ausübung der Pastoralmacht, wie es Foucault nennt.27 Damit ist im buchstäblichen Sinne die Sorge des Hirten um seine Herde gemeint und im moralischen Sinne die christliche Seelenführung, bei der ein Einzelner den anderen seine Fürsorge schenkt, von ihnen aber auch die Einhaltung der von ihm vermittelten moralischen Gebote einfordert. Dieses Modell der Fremdführung lässt sich in gewisser Weise auch auf die moderne Staatsmacht übertragen, die durch ihr Ordnungsgefüge dem Einzelnen den Freiraum beschränkt, sich als ein individuelles Moralsubjekt selbst zu formen. Vor diesem Hintergrund ist für Foucault im Konzept der cura sui vor allem auch ein Widerstandspotential angelegt gegen all jene Herrschaftsformen, die das Individuum in die Pflicht von moralischen Verboten oder anderen Verhaltensnormen nehmen.28 Mit dem Konzept der Selbstsorge eröffnet sich also im Diskursfeld der Ethik ein Raum, dessen Geschichte noch lange nicht vollständig geschrieben ist. Foucault hat selbst darauf hingewiesen, dass er nur die antiken Ursprünge dieses Diskurses freigelegt habe und dass abgesehen von vereinzelten Studien wie Jakob Burckhards Betrachtungen über das Individuum in der Renaissance29 und Stephen Greenblatts Buch über die Selbstgestaltung des Renaissancemenschen30 diese Nischen, in denen einzelne Subjekte mit einer individuell erarbeiteten Ethik die vorherrschenden moralischen Diskurse unterlaufen, noch auszuleuchten seien.31 Eine solche Nische tut sich auch zwischen den dominanten Diskursfeldern der französischen Klassik auf, die sowohl in moraltheologischer wie auch in politischer Hinsicht ganz besonders die Ausübung der Pastoralmacht kultiviert hat. Nirgends tritt die Fremdführung des Individuums so eklatant zutage wie in der augustinisch-jansenistischen Glaubenspraxis und im absolutistisch regierten Staat, die beide die vollkommene Unterwerfung des Subjektes unter ihre Leitprinzipien verlangen, im ersten Fall im Sinne einer Glaubensmoral, eingefordert in der Regel durch den sogenannten „directeur de conscience“, den geistigen Führer, im zwei__________ 27

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Vgl. Foucault: Der Gebrauch der Lüste (wie Anm. 13), S. 18: „Diese ,Existenzkünste‘, diese ,Selbsttechniken‘ haben […] einiges von ihrem Gewicht und von ihrer Autonomie verloren, als sie mit dem Christentum in die Ausübung einer Pastoralmacht integriert wurden und später in erzieherische, medizinische oder psychologische Praktiken.“ Vgl. im französischen Original Foucault: Histoire de la sexualité, II (wie Anm. 13), S. 18. Vgl. hierzu die Ausführungen in Hans Herbert Kögler: Michel Foucault. Stuttgart/Weimar 1994, S. 158-164. Vgl. Jakob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. 11. Auflage. Stuttgart 1988, das Kapitel „Entwicklung des Individuums“, S. 97-124. Vgl. Stephen Greenblatt: Renaissance Self-fashioning: From More to Shakespeare. Chicago/London 1980. Vgl. Foucault: Histoire de la sexualité, II (wie Anm. 13), S. 18-19 und Foucault: Der Gebrauch der Lüste (wie Anm. 13), S. 18-19.

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ten Fall im Sinne von politischen Entmündigungsstrategien, die von der Figur des Regenten betrieben werden. Dass die Literatur dieser Epoche die Möglichkeit nutzt, zumindest auf subtile Weise zu diesen Herrschaftsdiskursen einen Gegendiskurs zu entwerfen, der an das antike Ethos der cura sui anschließt, soll im Folgenden am Beispiel der Bearbeitungen des Berenike-Stoffes verdeutlicht werden. Ich werde zunächst auf Racines Stück eingehen, das im November 1670 eine Woche vor Corneilles entsprechendem Stück uraufgeführt wurde, und dann nur noch einen kurzen Blick auf letzteres werfen, um auf die Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Bearbeitungen aufmerksam zu machen. „Titus reginam Berenicen […] ab Urbe dimisit invitus invitam“ – „Titus verbannte die Königin Berenike aus der Stadt gegen seinen und gegen ihren Willen.“ Dieser Satz stammt aus der Feder des römischen Geschichtsschreibers Sueton, der ein Werk über das Leben der zwölf römischen Caesaren geschrieben hat,32 und dieser Satz wird von Racine gleich zu Beginn des Vorwortes zu seinem Stück zitiert,33 um auf seine Quelle hinzuweisen. Aber nicht nur das: der Satz enthält auch den Kern und die gesamte Tragik der Geschichte, die Racine zu einem Dramenplot zusammengeschmiedet hat. Titus, Sohn des römischen Kaisers Titus Flavius Vespasianus, ist leidenschaftlich in Bérénice, eine Königin aus Palästina, verliebt, und alle Zeichen sprechen dafür, dass er sie bald heiraten wird. Bérénice wohnt schon seit längerer Zeit am römischen Kaiserhof und sie erwartet von Titus einen Heiratsantrag, als sein Vater Vespasianus stirbt und er dessen Nachfolge antreten soll. Allerdings ist gerade das Ereignis dieser Thronbesteigung der neuralgische Punkt, an dem die Liebe zwischen Titus und Bérénice in die Krise gerät, und wahrscheinlich auch der latente Grund, warum Titus ahnungsvoll die Heirat mit Bérénice bislang verzögert hat. Als sich diese Heirat aufgrund des Umstandes, dass Titus zum neuen römischen Kaiser gekrönt werden soll, aufdrängt, spricht sein Vertrauter ihm gegenüber unumwunden das aus, was er im Grunde selbst schon immer gewusst hatte: Rom hasst nichts so sehr, wie eine fremde Königin als Ehefrau an der Seite seines Kaisers zu sehen, und diese ablehnende Haltung ist nicht nur eine Gefühlssache, sondern basiert auf einem schon lange in Rom etablierten und unumstößlichen Gesetz, das selbst die Skrupellosesten der Caesaren wie Caligula oder Nero nicht anzutasten gewagt hatten.34 Titus ist folglich einem öffentlichen moralischen Druck ausgesetzt, der ihn in __________ 32 33

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Vgl. Sueton: De vita XII Ceasarum libri VIII. Vgl. Jean Racine: Bérénice, Tragédie. In: Jean Racine: Œuvres complètes, I. Théâtre – Poésie. Edition présentée, établie et annotée par Georges Forestier. Paris 1999 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 447-509, S. 450. Zitiert wird im Folgenden nach dieser Ausgabe. Vgl. Racine: Bérénice, Akt II, Szene 2, vv. 377-380 u. 397-402: „Rome, par une Loi qui ne se peut changer, / N’admet avec son sang aucun sang étranger, / Et ne reconnaît point les fruits illégitimes / Qui naissent d’un Hymen contraire à ses maximes. / […] Depuis ce temps, Seigneur, Caligula, Néron, / Monstres, dont à regret je cite ici le nom, / Et qui ne conservant que la figure

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seinen intimsten Belangen fremdbestimmt und seine Herzensangelegenheit zum öffentlichen Fall macht, über den die „voix publique“,35 die Stimme der Öffentlichkeit entscheidet. Hier verhält sich die Diskurshoheit pikanterweise umgekehrt: der Herrscher wird durch die moralische Macht, die das Volk ausübt, fremdbestimmt, aber diese Umkehr der Machtverhältnisse ist in diesem Fall der Gattung der Tragödie und dem Thema der Liebe geschuldet. Die Tragödie verlangt eben das Leid oder die Opferrolle eines sozial hochgestellten Helden, der bei Racine immer wieder auf den Prüfstand einer tragischen Liebe gestellt wird. Ansonsten lassen sich hier aber genau jene Mechanismen der Herrschaftsausübung feststellen, die Foucault unter dem Begriff der Pastoralmacht beschrieben hat und die dem Individuum seine authentischen Handlungsmöglichkeiten rauben. Ja mehr noch: diese Mechanismen werden von Titus selbst reflektiert. Er glaubt sich von ganz Rom bei seinen Handlungen in der neu eingetretenen Situation nach dem Tod seines Vaters überwacht, er fühlt, wie ein schweres Joch ihn dazu nötigt, auf das zu verzichten, was sein eigentliches Ich begehrt, und er erkennt, dass er seine Liebe opfern muss, um das Gesetz nicht zu brechen, dessen Respektierung von ihm das römische Volk und der römische Senat verlangt.36 Bérénice begegnet dieser Entscheidung zum Verzicht allerdings nicht so rational, wie sie Titus getroffen hat: „la triste Bérénice“,37 wie sie sich selbst bezeichnet, zeigt ihm ihr vollkommenes Unverständnis darüber, dass er bereit ist, ihre Liebe der Staatsraison zu opfern und macht ihm den Vorwurf, einem ihr ungerecht erscheinenden Gesetz einen höheren Stellenwert beizumessen als dem persönlichen Interesse ihrer gegenseitigen Liebe: Rome a ses droits, Seigneur. N’avez-vous pas les vôtres? Ses intérêts sont-ils plus sacrés que les nôtres?38

Diese rhetorischen Fragen lassen sehr gut die den Rechtfertigungsstrategien von Titus entgegengesetzte Position von Bérénice erkennen, die sich hier in gewisser Weise schon auf den ethischen Diskurs der Selbstsorge des Individuums zubewegt. Im Gegensatz zu Titus, der in seiner Replik auf diese Worte noch einmal betont, dass ihm die von Rom vorgeschriebenen Gesetze Befehl sind,39 leistet Bérénice Widerstand gegen diese Ordnungsmacht, indem sie ihre eigenen Interessen auf ebenbürtige Weise ins Spiel bringt __________

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d’Homme / Foulèrent à leurs pieds toutes les Lois de Rome, / Ont craint cette Loi seule, et n’ont point à nos yeux / Allumé le Flambeau d’un Hymen odieux“. Vgl. ebd., Akt II, Szene 2, v. 344. Vgl. ebd., Akt II, Szene 2, vv. 462-472: „Je sentis le fardeau qui m’était imposé. / Je connus que bientôt, loin d’être à ce que j’aime, / Il fallait, cher Paulin, renoncer à moi-même, / […] Rome observe aujourd’hui ma conduite nouvelle. / Quelle honte pour moi! Quel présage pour elle, / Si dès le premier pas renversant tous ses droits, / Je fondais mon bonheur sur le débris des Lois! / Résolu d’accomplir ce cruel sacrfice, / J’y voulus préparer la triste Bérénice“. Vgl. ebd., Akt IV, Szene 5, v. 1184. Vgl. ebd., Akt IV, Szene 5, vv. 1151-1152. Vgl. ebd., Akt IV, Szene 5, vv. 1157-1159: „Rome me fit jurer de maintenir ses droits; / Il les faut maintenir. Déjà plus d’une fois / Rome a de mes pareils exercé la constance“.

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und dabei auf deren individuellen Gesetzescharakter bzw. durch den Vergleich mit dem Heiligen auf deren Unantastbarkeit hinweist. Der sich an dieser Stelle aporetisch zuspitzende Konflikt, der zur Folge hat, dass sich Bérénice nunmehr mit dem Gedanken an den Freitod beschäftigt,40 findet im fünften Akt schließlich zu einer Peripetie, die zunächst eine Lösung des Konfliktes in Aussicht zu stellen scheint. Titus ringt sich durch, auf den Thron zu verzichten und zusammen mit Bérénice wegzugehen, sie zu heiraten und in weiter Ferne von Rom mit ihr zusammenzuleben.41 Auch wenn dieser Entschluss von Titus als ein Akt der Besinnung auf sich selbst gewertet wird,42 vollzieht er damit noch keinen wirklichen Übergang zur cura sui, denn er beurteilt seinen Widerstand gegen die ihm von Rom abverlangte moralische Pflicht als eine „lâche conduite“,43 als ein feiges Verhalten, und die Hingabe an seine Liebesneigungen als eine unwürdige Schwäche.44 Nach wie vor definiert sich Titus also vor dem Horizont der anderen und ihres Herrschaftsdiskurses, während sich Bérénice vom moralischen Druck der Gemeinschaft völlig freimacht und ihre Liebe vorbehaltlos, ohne Kompromisse oder Gewissensbisse, bejaht. Die Bewahrung dieser Liebe ist aber nur dadurch zu erreichen, dass sie sich von Titus trennt, da dieser ihr mit dem Gedanken, ein abgedankter Kaiser ohne Reich und Hof zu sein, nur halbherzig folgen würde. Bérénice gewinnt ihr Selbstverständnis dagegen nicht aus diesen Insignien der Macht, die letzten Endes in dem Stück die Symbole eines Selbstverlustes sind, sondern aus dem ihr eigenen Gefühl der Liebe: „J’aimais, Seigneur, j’aimais, je voulais être aimée. / […] Adieu, Seigneur, régnez, je ne vous verrai plus“,45 dies sind die Worte, mit denen sie sich von Titus verabschiedet. Nur durch diese Trennung und durch den Verzicht auf die Realisierung ihrer Liebe kann sie die Reinheit dieser Liebe bewahren. Racines Bérénice wird damit zu einer Figur der Selbstsorge par excellence, die aus dem Verzicht den höchsten Grad der moralischen Integrität bei der Kultivierung ihrer eigenen Liebe gewinnt und damit zum ethischen Leitbild für den Umgang mit der „amour la plus tendre et la plus malheureuse“, mit der zugleich zärtlichsten und unglücklichsten Liebe der Welt wird. Zum Abschluss noch ganz kurz der angekündigte Epilog zu Corneilles Tite et Bérénice. Abgesehen davon, dass Corneille die Liebeshandlung dadurch verkompliziert, __________ 40

41

42 43 44 45

Vgl. ebd., Akt IV, Szene 7, vv. 1223-1226: „Antiochus [à Titus:] Qu’avez-vous fait, Seigneur? L’aimable Bérénice / Va peut-être expirer dans les bras de Phénice. / Elle n’entend ni pleurs, ni conseil, ni raison. / Elle implore à grands cris le fer et le poison“. Vgl. ebd., Akt V, Szene 6, vv. 1410-1414: „Je dois vous épouser encor moins que jamais. / Oui, Madame. Et je dois moins encore vous dire / Que je suis prêt pour vous d’abandonner l’Empire, / De vous suivre, et d’aller trop content de mes fers / Soupirer avec vous au bout de l’Univers“. Vgl. ebd., Akt V, Szene 6, vv. 1395-1396: „Mon amour m’entraînait, et je venais peut-être / Pour me chercher moi-même, et pour me reconnaître“. Vgl. ebd., Akt V, Szene 6, v. 1415. Vgl. ebd., Akt V, Szene 6, vv. 1416-1418: „Vous verriez à regret marcher à votre suite / Un indigne Empereur, sans Empire, sans Cour, / Vil spectacle aux humains des faiblesses d’amour“. Vgl. ebd., Akt V, scène dernière, v. 1491 und v. 1506.

Die Diskursivierung der Ethik der Selbstsorge

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dass er Bérénice eine Rivalin zur Seite stellt, die aus Machtbegehren an einer Ehe mit dem angehenden Kaiser interessiert ist, sind für unseren Zusammenhang vor allem die Veränderungen bedeutsam, die Corneille im Vergleich zu Racine in den Schluss des Stückes einschreibt. Hier verkündet nämlich unerwarteter Weise der Senat, dass Rom einstimmig in die Ehe zwischen Titus und Bérénice einwilligen will.46 Trotz dieses Glückswechsels optiert aber Bérénice auch in Corneilles Stück für den Verzicht auf eine Ehe mit Tite, denn sie befürchtet, dass Rom eines Tages die zu ihren Gunsten bewilligte Aufhebung des Gesetzes, dass der römische Kaiser keine fremde Königin heiraten darf, bereuen und sich wieder nach der alten Gesetzeslage zurücksehnen würde.47 Die Gefahr, dass durch den zunächst einfacheren Weg der Eheschließung ihr Glück und ihr Ansehen längerfristig beschädigt werden könnte, führt sie zu dem Entschluss, auf die Erfüllung ihrer Liebe zu verzichten und sie dadurch gleichzeitig in ihrer Absolutheit zu retten. So gesteht sie gegenüber Titus: „Votre cœur est à moi, j’y règne, c’est assez“.48 In Corneilles Figur der Bérénice kommt somit genauso wie bei Racines Protagonistin der Wille zur Selbstsorge eines Individuums zum Ausdruck, das durch seine selbsterwählte integre Lebensführung die eigene Apotheose erfährt und sich dadurch dem Druck der gesellschaftlich dominanten moralischen Systeme entzieht. Dies ist aber letztlich eine Hybris gegenüber dem absolutistischen Regime und wird um den Preis des gesellschaftlichen Rückzugs und der Einsamkeit erkauft. Deshalb lastet auf diesen Figuren die Bürde einer Tragik, die nicht mehr aus der Konfrontation mit einer göttlichen, sondern mit einer politischen Ordnungsmacht resultiert.

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Vgl. Pierre Corneille: Tite et Bérénice, Comédie héroïque. In: Corneille, Œuvres complètes, III. Textes établis, présentés et annotés par Georges Couton. Paris 1987 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 989-1053, Akt V, Szene 5, v. 1672: „D’une commune voix Rome adopte la Reine“ (p. 1050). Alle folgenden Zitate stammen aus dieser Ausgabe. Vgl. Corneille: Tite et Bérénice, Akt V, Szene 5, vv. 1694-1706: „Il n’y faut qu’un brutal qui me haïsse en vous, / Aux zèles indiscrets tout paraît légitime, / Et la fausse vertu se fait honneur du crime. / […] On nous aime, faisons qu’on nous aime à jamais. / D’autres sur votre exemple épouseraient des Reines / Qui n’auraient pas, Seigneur, des âmes si Romaines, / Et lui feraient peutêtre avec trop de raison / Haïr votre mémoire, et détester mon nom“. Ebd., Akt V, Szene 5, v. 1714.

Anna-M. Horatschek Weibliche Strategien der Selbstartikulation in britischer religiöser Lyrik des 17. Jahrhunderts: Prämissen, Problemfelder, Perspektiven

Der Fokus auf Texte der Frühen Neuzeit macht es notwendig, Begriffe und Konzepte wie ‚Autorschaft‘, ‚Text‘, ‚Genre‘, ‚Diskurs‘, ‚Erfahrung‘ und natürlich ‚Selbst‘ oder ‚Subjektivität‘ mit Blick auf zeitgenössische Schreib-, Lese- und Publikationspraktiken in vielerlei Hinsicht zu spezifizieren und zu modifizieren und zu den Diskussionen über diese Konzepte im Rahmen des theoretical turn in Beziehung zu setzen. Der Fokus des Projekts auf religiöse Lyrik von Frauen erfordert außerdem die Einbeziehung von Vorannahmen eines uns fremden Diskursuniversums, insbesondere was Religion und gender betrifft. Die folgenden Überlegungen decken in diesem Sinne einige Rahmenbedingungen für die Publikation literarischer Texte im England des 17. Jahrhunderts auf, legen meine theoretischen methodologischen Definitionen und Prämissen offen, bieten erste beispielhafte Illustrationen für die Fremdheit diskursiver Vorannahmen im England der Frühen Neuzeit und umreißen den Horizont meiner Forschungsziele. Die Ausführungen bieten – natürlich – noch keine themenorientierten Forschungsergebnisse, sondern verstehen sich als Sondierung in einem erst ansatzweise zugänglichen Terrain. Sie sind gedacht als Diskussionsgrundlage, deren Ziel erreicht ist, wenn sie Denkanstöße geben, Fragehorizonte eröffnen und Korrekturvorschläge oder kritische Anmerkungen der – so hoffe ich – geneigten Leserschaft auslösen.

1. Prämissen 1.1 Das Subjekt als Diskursphänomen Es zählt zu den Allgemeinplätzen einer theorieorientierten Literatur- und Kulturwissenschaft der Gegenwart, die Transformation von Wissenssystemen als das Ergebnis ihrer Einbettung in gesamtgesellschaftliche Umbrüche zu begreifen. „The nature of knowledge cannot survive unchanged within [a] context of general transformation.“1 Literarische Texte partizipieren an diesen Prozessen, insofern sie die Veränderungen archivie__________ 1

Jean Francios Lyotard: The Postmodern Condition. A Report on Knowledge. Manchester 1986, S. 4.

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ren, illustrieren, reflektieren und auch initiieren. „Literature functions […] in three interlocking ways: as a manifestation of the concrete behavior of its particular author, as itself the expression of the codes by which behavior is shaped, and as a reflection upon those codes.“2 Im Fokus kulturwissenschaftlicher Untersuchungen stehen vor allem politischgesellschaftliche und mediale Umbrüche als signifikante Kontexte für Veränderungen von Wissensdiskursen. Beide Aspekte finden ihren Niederschlag in der Auseinandersetzung mit der englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. So deutet Manfred Pfister die verblüffenden conceits in den relativ hermetischen Texten der Metaphysical Poets als Symptom dafür, dass die „Wissenssysteme […] nicht mehr verbindlich genommen, sondern zu Bildspendern eines metaphorischen Spiels degradiert werden. Gerade darin, dass die Metaphysik hier zum Spielmaterial unter anderen wird, liegt der antimetaphysische Ansatz, die frühneuzeitliche Modernität der Metaphysical Poetry.“3 Die Skepsis gegenüber den grand narratives kultureller Autoritäten wie Kirche und König rührt von der Jahrhunderte anhaltenden Umbruchsituation in Großbritannien, die die religiös verankerten Legitimationsansprüche kultureller, politischer und gesellschaftlicher Machtmonopole unterminiert und gleichzeitig die Wissenssysteme und Weltentwürfe in Frage stellt, in die sie eingelagert sind. Das 17. Jahrhundert in Großbritannien ist gezeichnet von fundamentalen Verwerfungen in politischer und – untrennbar damit verbunden – in religiös-kirchlicher Hinsicht. Die gewaltsame Explosion von Interessen und Diskursen, die in der Ermordung von Charles I. 1649, dem puritanischen Interregnum unter Cromwell und der Restauration Charles’ II. 1660 kulminierten, bildet das Ergebnis von repressiven Maßnahmen der Stuarts, die nach dem Tod von Elisabeth I. 1603 das öffentliche Leben bestimmten. Seit der Abspaltung der Anglikanischen Kirche von Rom 1534 durch Heinrich VIII. kommt es in rascher Folge zu rapiden Umbrüchen der religionspolitischen Konstellationen, die sich gegenseitig ausschließende religiös verankerte Weltauslegungen und Werte des Anglikanismus, Protestantismus/Puritanismus und Katholizismus vertreten und diese mit herrschaftspolitischer Gewalt durchsetzen. So sehen sich z. B. die Puritaner, die unter Elisabeth I. noch selbstverständlicher Teil der Staatskirche waren, nach ihrem Tod durch die Dogmatisierung der protestantischen Episkopalordnung unter James I. (1603-1625) und Charles I. (1625-1649) in die Opposition gedrängt und als Dissenters verfolgt. Öffentliche Äußerungen entscheiden auf der Basis der jeweiligen Rechtsparameter nicht nur über den Zugang zu Ämtern, sondern häufig auch über Leben und Tod. Berry und Tudeau-Clayton führen das Interesse an den Verschiebungen innerhalb der Wissensformationen der Renaissance, das in der Anglistik seit Greenblatt einen Boom __________ 2 3

Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. Chicago/London 1984, S. 4. Manfred Pfister: Die Frühe Neuzeit. Von Morus bis Milton. In: Englische Literaturgeschichte. Hg. von Hans Ulrich Seeber. 2. Auflage. Stuttgart 1993, S. 43-148, hier S. 104.

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erlebt, darauf zurück, dass die durch die Erfindung des Buchdrucks um 1450 bewirkten Umbrüche in mancherlei Hinsicht mit durch digitale Medien hervorgerufenen epistemologischen Veränderungen in der Gegenwart zu vergleichen sind. [T]he digital age’s transformation of the ways in which knowledge is organized, stored and transmitted has recently been compared to the revolutionary and destabilizing effects of the advent of print culture after 1455, producing a recognition, in the work of a new generation of bibliographers, that ‘there is no last word in textual matters’.4

McNeely und Wolverton dagegen betonen, „that books hardly spoke for themselves; their reception in the Republic of Letters was conditioned by the conventions of letter writing, even and especially in print.“ Given the epochal importance of Johannes Gutenberg (ca. 1398-1468) and his printing press, we might ask, why is the book not the central institution organizing knowledge at this time? Nearly all the great scholars of early modernity gained their fame through books. But while the printing press emerged in the fifteenth century and book production exploded in short order, the book remained a mere technology of communication, albeit a revolutionary one. For all its utility in transmitting knowledge across both space and time, the book never became a reliable or comprehensive means of reorganizing it. [Instead] the conventions of epistolary humanism [the Republic of Letters] helped, even in print, to determine whether and how new knowledge would be recognized as such.5

Während Berry und Tudeau-Clayton allzu sehr – in den Worten von Manfred Frank – „dem Fetischismus der Autotransformation eines Abstraktums wie der Sprache“6 oder, in diesem Fall, der Schriftlichkeit oder des Buches verfallen, setzen McNeely und Wolverton das Konzept einer vorgängigen, durch mediale Umbrüche unberührten Subjektivität voraus, die als legitimierende Autorität qua Autorschaft die Wahrheit des Wissens verbürgt. Diese Vorstellung eines relativ autonomen, selbstmächtigen Subjekts, die auch frühere Studien zu Selbstkonzepten in englischen Gedichten des Mittelalters und der Renaissance dominiert,7 lässt sich allerdings aus einer diskursanalytischen Perspektive nicht halten. Veränderungen in Wissensdiskursen, seien sie thematisch, medial oder institutionell bedingt, implizieren immer Veränderungen in der Konzeptualisierung des epistemischen Subjekts und des Objekts von Wissen. Für die Renaissance radikalisiert __________ 4

5 6

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Philippa Berry/Margaret Tudeau-Clayton (Hgg.): Textures of Renaissance Knowledge. Manchester/New York 2003, S. 2. Das Zitat im Zitat entstammt Neil Rhodes/Jonathan Sawday (Hgg.): The Renaissance Computer. Knowledge Technology in the First Age of Print. London/New York 2000, S. 11. Ian F. McNeely/Lisa Wolverton: Reinventing Knowledge. From Alexandria to the Internet. New York/London 2008, S. 138 und 134. Manfred Frank: Subjekt, Person, Individuum. In: Die Frage nach dem Subjekt. Hg. von Manfred Frank, Gérard Raulet und Willem van Reijen. (Neue Folge 430) Frankfurt a.M. 1988, S. 7-28, hier S. 23. Vgl. Mariann Sanders Regan: Love Words. The Self and the Text in Medieval and Renaissance Poetry. Ithaca/London 1982.

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sich diese Kontextabhängigkeit von Subjektivität, da hier die von Jacob Burckhardt8 1860 vorgebrachte und zuletzt von Greenblatt vertretene These gilt, dass die Subjektivierung von Wissen – oder das Subjekt als Knotenpunkt oder Produzent von Wissen – erst mit den Wissensdiskursen der Frühen Neuzeit hervorgetrieben wurde und diese in der Folge fundamental prägte (auch wenn Mediävisten neuerdings Vorformen bereits im 12. oder sogar im 6. und 7. Jh. finden).9 Verschiedene Kritiker vertreten die Ansicht, dass diese Veränderungen „were most dramatically marked in England“.10 Aus dieser Perspektive verstehe ich Subjektivität als ein im weitesten Sinne intertextuelles Diskursphänomen, als einen kommunikativen Ort der Selbstartikulationen, wo diskursiv generierte kulturelle Semantiken verhandelt werden. Diese Semantiken sind untrennbar verwoben mit der kulturellen Praxis medial, institutionell und machtpolitisch gesteuerter Kommunikationsbedingungen. Eine solche kulturtheoretische Perspektive impliziert in den Worten von Reckwitz, dass kulturelle Formen […] nicht vermeintlich vorkulturellen Individuen äußerlich [sind]; das Subjekt ist hier nicht das Individuum, sondern die sozial-kulturelle Form der Subjekthaftigkeit, in die sich der Einzelne einschreibt. […] Diese Perspektive auf Subjekt und Moderne ist eine kulturtheoretische. [Subjektivität] lässt sich […] als ein Katalog kultureller Formen entziffern, die definieren, was unter einem vollwertigen Subjekt zu verstehen ist, und die sich in seiner körperlich-mentalen Struktur in Form von spezifischen Dispositionen, Kompetenzen, Affektstrukturen und Deutungsmustern einprägen. Die Kultur der Moderne stellt sich nun nicht als Ort der Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft, sondern als eine Sequenz sozialkultureller Subjektformen, von ‚Subjektivationen‘, von Subjektkulturen dar – Subjektkulturen, die selbst ihren Ort als kontingente Sinngeneratoren allerdings regelmäßig unsichtbar machen und vorgeben, ‚das Subjekt freizulegen‘.11

Die Konzeptualisierung von Subjektivität als Diskursphänomen heißt nicht, dass der Einzelne den Zuschreibungen völlig passiv ausgesetzt ist, wie Judith Butler darlegt: __________ 8 9

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Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Basel 1860. Vgl. Colin Morris: The Discovery of the Individual, 1050-1200. 2. Auflage. Toronto 1987; John F. Benton: Consciousness of Self and Perceptions of Individuality. In: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century. Hg. von Robert L. Benson, Giles Constable mit Carol D. Lanham. 2. Auflage. Toronto 1991, S. 263-95; Carolyn Walker Bynum: Did the Twelfth Century Discover the Individual? In: Jesus as Mother: Studies in the Spirituality of the High Middle Ages. Hg. von ders. Berkeley 1982, S. 82-103; Jerrold E. Seigel: The Idea of the Self. Thought and Experience in Western Europe Since the Seventeenth Century. Cambridge 2005, S. 52 und 664; Barbara H. Rosenberg: Was there an emotional Self in the Early Middle Ages? [Vortrag] Presidential Session: Toward a New History of the Self, AHA Annual Meeting, Hilton Hotel, Chicago, 3. Jan. 2003, nach Seigel: Self, S. 52 und 664. Lionel Trilling: Sincerity and Authenticity. 2. Auflage. New York/London 1974 nach Dietmar Jaegle: Das Subjekt im und als Gedicht. Eine Theorie des lyrischen Text-Subjekts am Beispiel deutscher und englischer Gedichte des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1995, S. 41. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2006, S. 10f.

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[…] for if the subject is constituted by power, that power does not cease at the moment the subject is constituted, for that subject is never fully constituted, but is subjected and produced time and again. That subject is neither a ground nor a product, but the permanent possibility of a certain resignifying process, one which gets detoured and stalled through other mechanisms of power, but which is power’s own possibility of being reworked.12

Die Möglichkeit – und Notwendigkeit – der ständigen resignification – der ‚ReSemantisierung‘ – eröffnet für Butler die Möglichkeit der aktiven Teilnahme an und Intervention in die „conceptual mastery“13 von kulturell dominanten Diskursen. Diese Aktivität nennt sie agency. „My suggestion is that agency belongs to a way of thinking about persons as instrumental actors who confront an external political field.“14 Agency unterscheidet sich grundsätzlich von den Autonomievorstellungen eines selbstmächtigen Subjekts, denn […] it is clearly not the case that “I” preside over the positions that have constituted me, shuffling through them instrumentally, casting some aside, incorporating others, although some of my activity may take that form. The “I” who would select between them is always already constituted by them. The “I” is the transfer point of that replay, but it is simply not a strong enough claim to say that the “I” is situated; the “I”, this “I”, is constituted by these positions, and these “positions” are not merely theoretical products, but fully embedded organizing principles of material practices and institutional arrangements, those matrices of power and discourse that produce me as a viable “subject”. […]15

1.2 Sprache, Schrift, Text Die fundamentalen Verschiebungen der Frühen Neuzeit in kulturell dominanten Semantiken, die den Menschen betreffen und die philosophisch und theoretisch als ‚Subjektivierung‘ systematisiert wurden, finden nicht nur, aber zum großen Teil in der Sprache statt. „Self-fashioning is always, though not exclusively, in language.“16 Literarische Publikationen trugen auf signifikante Weise zur Subjektivierung von Wissen bei, textimmanent als Manifestation der spezifischen diskursiven Position des Sprechers, als Ausdruck von herrschenden Codes, die diese Position bedingten, und als Reflexion auf diese Codes. Als kulturelle Fakten bildeten die Texte aber auch eine aktive dialogische Intervention in die zunehmend öffentlicher werdende Debatte über theologische und standes- oder staatspolitische Fragen […]. Schon der Renaissance-Humanismus und die Reformation, die jene wesentlichen Modernisierungsimpulse setzten, deren Aufarbeitung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einem zumindest vorläufigen Ausgleich führen

__________ 12

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Judith Butler: Contingent Foundations. Feminism and the Question of “Postmodernism”. In: Feminist Contentions. A Philosophical Exchange. Thinking Gender. Hg. von Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell und Nancy Fraser. New York/London 1995, S. 35-58, hier S. 47. Ebd., S. 38 Ebd., S. 46. Ebd., S. 42. Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning (wie Anm. 2), S. 9.

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Anna-M. Horatschek sollte, waren ja vor allem auch literarische, textbezogene, Phänomene: In beiden ging es um das Zugänglichmachen und Auslegen von Texten, um die Wiedergewinnung eines ursprünglichen Wortlauts und Wortsinns von Texten, den antiken Klassikern und der Heiligen Schrift. Die Freiheiten, die sich dabei die Humanisten und die Reformatoren in einem an die Wurzeln gehenden, einem radikalen Hinterfragen der tradierten Annahmen über Gott und seine Schöpfung, den Menschen und seine gesellschaftlichen Ordnungen herausnahmen, waren von keiner kirchlichen und staatlichen Autorität mehr ganz unter Kontrolle zu halten.17

2. Problemfelder 2.1 Begriffe und Konzepte Der Begriff der Öffentlichkeit und Konzepte wie ‚Literatur‘, ‚Genre‘ oder ‚Autorschaft‘ sind mit Bezug auf das 17. Jahrhundert in England nur in sehr eingeschränkter Weise an Vorstellungen der Gegenwart anschließbar. „In seventeenth-century England literary activity was exclusively oriented to the concerns of the classically educated males who formed the ruling class. This is not to say that the mass of the people had no culture, but that popular culture was not expressed in literary forms.“18 Während im 17. Jahrhundert nur etwa 11% der Frauen ihren Namen schreiben konnten, beherrschten um die Mitte des 18. Jahrhunderts knapp 40% aller Frauen und 60% der männlichen Bevölkerung diese Kulturtechnik, die Lesefähigkeit war in allen Fällen weiter verbreitet.19 In den Gebieten der seit den 1550er Jahren von Schottland kommenden calvinistischen Reformbewegungen durch John Knox lag der Prozentsatz der Literalität bei Männern und Frauen um etwa 10% höher, denn die Absage an die Autorität der Katholischen oder Anglikanischen Kirche wurde bekanntlich kompensiert durch das lutherische sola scriptura, die unbedingte Zentralität des Bibeltextes. Dieses protestantische Dogma führte dazu, dass die Nachfrage nach religiösen Schriften sehr hoch war. Die beträchtlichen Unterschiede der Lese- und Schreibfertigkeiten in der Bevölkerung ließen den Philosophen John Locke der Meinung sein, „that his contemporaries lived at different cognitive levels“.20 Das Urteil impliziert eine bereits im 17. Jahrhundert vorzufindende Stigmatisierung der Analphabeten, die in der Auffassung wurzelte, sie seien „scarce to __________ 17 18 19 20

Pfister: Morus bis Milton (wie Anm. 3), S. 45f. Germaine Greer/Jeslyn Medoff/Melinda Samsone/Susan Hastings (Hgg.): Kissing the Rod. An Anthology of 17th Century Women’s Verse. London 1988, S. 1. Vgl. Harvey J. Graff: The Legacies of Literacy. Continuities and Contradictions in Western Culture and Society. Bloomington/Indianapolis 1987, bes. S. 162f. und 234f. Keith Thomas: The Meaning of Literacy in Early Modern England. In: The Written Word. Literacy in Transition (Wolfson College Lectures 1985). Hg. von Gerd Baumann. Oxford 1986, S. 97132, S. 115. Zur literarischen Funktionalisierung dieser Stigmatisierung im 19. Jahrhundert vgl. Annegreth Horatschek: ,In true gossip’s fashion?‘ Das domestizierte Bewusstsein der Nelly Dean. In: Poetica 21.3-4 (1989), S. 353-388.

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be reckoned among rational creatures“.21 Wer überhaupt schreiben konnte, gehörte zu einer privilegierten Schicht, wer gar Gedichte verfasste, schickte sich an „to storm the highest bastion of the cultural establishment, the citadel of sacred ‘poetry’“.22 2.2 Publikationspraxis Soweit sich die Publikationspraktiken des 17. Jahrhunderts aus den nur selektiv zugänglichen und veröffentlichten Texten rekonstruieren lassen, gab es sehr viele, auch lyrische Texte, die nur in Manuskript-Abschriften zirkulierten und nicht gedruckt wurden, andererseits fanden viele Texte ihren Weg in die Druckerpresse, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Hier spielten Standeszugehörigkeit, religiöses Bekenntnis und gender eine entscheidende Rolle. Graham weist außerdem darauf hin, dass „gentry families in the seventeenth century cannot be simply viewed as private domains, and distinctions between the private and public need to be made cautiously in relation to this period“.23 Autorzuschreibungen sind oft zweifelhaft, da beispielsweise Männer bei bestimmten Themen zur Verkaufsförderung unter weiblichem Pseudonym veröffentlichten oder Frauen, die – abgesehen von Quäkerinnen – aus Standes- oder Sittlichkeitsgründen ihre Identität verbergen wollten, nur mit Initialen publizierten. Korrekturen und Verbesserungen eigener Texte durch bekannte Personen vor der Publikation galten als besondere Auszeichnung; für einen Großteil der verschwindend wenigen Frauen, die bewusst unter ihrem Namen veröffentlichten, darf man annehmen, dass sie mittellos und für ihren Unterhalt auf die Unterstützung von großzügigen, aber nicht selbstlosen Männern angewiesen waren.24 Die Biographie von Aphra Behn, der vielleicht bekanntesten Autorin des 17. Jahrhunderts, eignet sich durchaus zur Illustration. 2.3 Diversität Religiöse Texte spielten im England des 17. Jahrhunderts aus verschiedenen Gründen bei diesen öffentlichen Verhandlungen über „Einstellungen zu Modellvorstellungen von Welt“25 im Allgemeinen sowie bei der Subjektivierung von Wissen im Besonderen und bei den damit implizierten Wissensdefinitionen eine herausragende Rolle. Zum einen dominierten religiöse Themen rein quantitativ die zeitgenössischen Publikationen. Seit der Einführung des Buchdrucks in England durch William Caxton 1476 __________ 21 22 23 24 25

Thomas: The Meaning of Literacy (wie Anm. 20), S. 117. Greer: Anthology (wie Anm. 18), S. 1. Elspeth Graham: Women’s Writing and the Self. In: Women and Literature in Britain 1500-1700. Hg. von Helen Wilcox. Cambridge 1996, S. 209-233, hier S. 211. Für weitere Einzelheiten vgl. Greer: Anthology (wie Anm. 18), S. 1-31. Lothar Fietz: Fragmentarisches Existieren. Wandlungen des Mythos von der verlorenen Ganzheit in der Geschichte philosophischer, theologischer und literarischer Menschenbilder. Tübingen 1994, S. 103.

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behandelten bis 1640 mehr als 40% aller in England gedruckten Bücher religiöse Themen, zwischen 1600 und 1640 lag der Prozentsatz sogar noch höher. In Jaggards Catalogue von 1619 z. B. zählen fast drei Viertel, in William Londons Catalogue of the most Vendible Books in England (1657-1658) die Hälfte aller aufgeführten Bücher zur religiösen Literatur.26 Insbesondere die Lyrik lotet die Situation des Einzelnen in der Welt neu aus und entwirft dabei in den spezifischen religiösen Diskursen von Anglikanismus, Protestantismus/Puritanismus und Katholizismus unterschiedliche Antworten auf Scholastik, Neuplatonismus und die Kopernikanische Wende. Gemeinsam ist ihnen das Interesse an Selbstartikulationen und Selbstbeschreibungen. Manfred Pfister bemerkt: „Man wird dann lange warten müssen, bis zur Romantik, bis sich das Ich in lyrischen Texten wieder so insistierend und intensiv zum Thema machen wird“.27 Zum Zweiten wird die Emergenz einer neuzeitlichen Subjektivität seit Max Webers Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/1905, zweite überarbeitete Auflage 1920) mit einem heilsgeschichtlich motivierten, an Leistungsund Belohnungsdenken geknüpften Arbeitsethos in calvinistisch fundierten religiösen Gruppen angloamerikanischer Prägung in Zusammenhang gebracht. Kritisiert wird an dieser These die mangelnde Differenzierung zwischen unterschiedlichen Gruppen wie Puritanern und Quäkern, was sich aus Webers eher ideengeschichtlich orientiertem Interesse erklärt. Bei dem hier umrissenen kulturwissenschaftlichen Ansatz allerdings sind diese Differenzen überaus signifikant, denn die religionspolitischen Aufspaltungen in Anglikanismus, Katholizismus, Calvinismus und Puritanismus mit weiteren Untergruppen wie den Quäkern und die daraus erwachsende Notwendigkeit für den Einzelnen, sich zu rasch und radikal wechselnden diskursiven Umfeldern zu verhalten, schafft in Großbritannien bereits im frühen 17. Jahrhundert typisch ‚moderne‘ Subjektivierungsbedingungen, die Reckwitz auf dem Kontinent erst für den Beginn des 18. Jahrhunderts postuliert, nämlich spezifische kulturelle Formen […], denen entsprechend sich der Einzelne als ‚Subjekt‘, das heißt als rationale, reflexive, sozial orientiere [sic], moralische, expressive, grenzüberschreitende, begehrende etc. Instanz zu modellieren hat und modellieren will. […] Kennzeichnend für die Moderne ist gerade, dass sie dem Subjekt keine definitive Form gibt, sondern diese sich als ein Kontingenzproblem, eine offene Frage auftut, auf die unterschiedliche, immer wieder neue und andere kulturelle Antworten geliefert und in die Tat umgesetzt werden. Die Kultur der Moderne ist durch Agonalitäten strukturiert, sie besteht aus einer Sequenz von Kulturkonflikten darum, wie sich das moderne Subjekt modellieren soll und kann, Modellierungen, die immer wieder meinen, eine universale, natürliche Struktur ans Licht zu bringen. […] Gleichzeitig sind diese Subjektkulturen nicht eindeutig und homogen gebaut, sie

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Vgl. Douglas Bush: English Literature in the Earlier Seventeenth Century. Oxford 1966, S. 310. Zur Bücherzensur unter Henry VIII. und Thomas More vgl. Isobel Grundy: Restoration and Eighteenth Century (1660-1780). In: Oxford Illustrated History of English Literature. Hg. von Pat Rogers. Oxford/New York 1987, S. 214-273, bes. S. 242ff. Pfister: Morus bis Milton (wie Anm. 3), S. 45.

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sind vielmehr durch eine spezifische Hybridität gekennzeichnet: Subjektkulturen erweisen sich als kombinatorisches Arrangement verschiedener Sinnmuster, und Spuren historisch vergangener Subjektformen finden sich in den später entstehenden, subkulturelle Elemente in den dominanten Subjektkulturen, so dass sich eigentümliche Mischungsverhältnisse ergeben.28

Um die Elemente der Hybridität isolieren zu können, werde ich nicht nur religiöse und politische Bedingungen der Emergenz berücksichtigen, sondern auch z. B. medizinische Diskurse über Innerlichkeit, gender-Diskurse, national-ethnische Alteritätsdiskurse oder Verhandlungen über Präsenz und agency in Neoplatonismus und Schriften zu mittelalterlichen Magie-Vorstellungen als wirkmächtige Diskursfelder einbeziehen, aus denen sich die Selbstartikulationen speisen. Der literarische Text gilt dabei als Knotenpunkt komplexer Diskursverschränkungen aus Philosophie, Theologie, Biographie, Medizin, gender-Diskursen und sozialen und politischen Vorgaben gewalthabender Institutionen. 2.4 Textmaterial Ein großes Problem liegt darin, dass das Textkorpus dieser Zeit nur sehr selektiv veröffentlicht und bearbeitet ist. Während Metaphysical Poets wie John Donne, Andrew Marvell und George Herbert seit T.S. Eliots einflussreichem Essay The Metaphysical Poets (1921) nach jahrhundertelanger Obskurität wieder beachtet und publiziert wurden, gibt es vor allem in der Lyrik von Frauen offenbar noch eine große Zahl von Texten in Bibliotheken und Privatbesitz, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Jede Textauswahl wird daher von Zufällen, Auslassungen und Unsicherheiten bestimmt sein. Der programmatische Eklektizismus des New Historicism mag hier als akademisch akzeptable Legitimation dienen, mit Blick auf das Thema der Wissensformation bietet die Forschungssituation ein konkretes Beispiel für die institutionell qua Kanonisierung kanalisierte diskursive Produktion von Wissen über das 17. Jahrhundert. 2.5 Periodisierung Aufgrund der insularen Sonderwege ergeben sich für die englische Literatur besondere Probleme bei der Periodisierung und Epochenbezeichnung der Frühen Neuzeit. Sie richten sich entweder nach den politischen Wechseln, da diese jeweils fundamental die Situation des Literaturbetriebes veränderten, oder sie werden um Shakespeare gruppiert. Manfred Pfister kommt meinem Projekt entgegen, wenn er eine zusammenfassende Periodisierung des 16. und 17. Jahrhunderts – „Von Thomas Morus [Sir Thomas More, um 1477-1535] zu John Milton [1608-1674]“ – vorschlägt, denn am Hofe Heinrichs VIII. setzt eine neue poetische Selbstdarstellung und Selbstinszenierung des Ich ein. Sie führt zu den großen Sonettzyklen des Jahrhundertendes (Sidney, Spenser, Shakespeare) und spaltet sich dann auf in die gegenläufigen Stiltendenzen der bis zur Dunkelheit

__________ 28

Reckwitz: Subjekt (wie Anm. 11), S. 10 und 14f.

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Anna-M. Horatschek semantisch komplexen Metaphysical Poetry und der klassizistischen Eleganz der Dichtung Ben Jonsons und der Sons of Ben, der Cavalier Poets.29

Dennoch bleibt der Begriff der Frühen Neuzeit problematisch, denn er suggeriert einerseits einen Bruch mit dem Mittelalter und damit einen radikalen Neuanfang, andererseits einen kontinuierlichen Zusammenhang mit der Moderne, der allzu leicht als Entwicklung gedeutet wird. Der Preis wäre eine Blindheit für die Differenz der damaligen Jahrhunderte zur heutigen Zeit und für die Diskontinuitäten in den Subjektivierungskonstellationen und -strategien. Dazu noch einmal Reckwitz: „In der Geschichte der Moderne lösen unterschiedliche Subjektordnungen einander ab, ein Prozess der Diskontinuität, der weder an ein Ende zu kommen scheint noch der linearen Logik des Fortschritts oder des Verfalls folgt“.30 Andererseits bin ich auf die Selbst- und Subjektdebatten der Gegenwart als Ausgangspunkt meiner Fragestellungen angewiesen.

3. Perspektiven In Anbetracht der hier skizzierten Überlegungen spreche ich mit Blick auf die Frühe Neuzeit nicht von Subjektivität oder Individualität, sondern von Selbst-Diskursen oder – noch vorsichtiger – von Selbstartikulationen. Zum einen wirkt die amorphe Gestalt der Selbstartikulation der Versuchung entgegen, eine gegenwartszentrierte kontinuierliche Subjektivierungsgeschichte zu konstruieren; als Zweites öffnet die Vagheit des Begriffs die Analyse für unterschiedliche Selbstperspektivierungen als „Subjekt, Person, Individuum“ – um den Titel eines Aufsatzes von Manfred Frank zu zitieren;31 drittens verweist der Begriff der Selbstartikulation auf spezifische Repräsentationsstrategien, die in Abhängigkeit von der diskursiven Position der Sprecherin oder des Sprechers der Verknappung der Diskurse durch eine resignification im Sinne von Judith Butler entgegen arbeiten. Das Material, an dem diese agency der Neu-Semantisierung sich abarbeitet, sind kulturell dominante und in England häufig politisch repressiv durchgesetzte Diskurse. Diese Diskurse dramatisieren und präskribieren laut Foucault Regeln des Sprechens über sich und die Welt durch implizite und explizite Handlungsanweisungen, die die unendliche Vielzahl von verbal möglichen Weltdeutungen und Sprechweisen einerseits begrenzen und andererseits das Sagbare in eine bestimmte Form zwängen und damit ‚verknappen‘. In meinen Analysen werde ich mich vor allem auf drei spezifische Strategien der Selbstartikulationen konzentrieren, die gegen diese Regeln der Verknappung arbeiten und die ich für zentral halte. Diese Strategien betreffen voice, Alterität und Präsenz. __________ 29 30 31

Pfister: Morus bis Milton (wie Anm. 3), S. 44f. Reckwitz: Subjekt (wie Anm. 11), S. 14. Vgl. Frank: Subjekt, Person, Individuum (wie Anm. 6) und ders.: Die Unhintergehbarkeit von Individualität: Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ‚postmodernen‘ Toterklärung. 2. Auflage. Frankfurt a.M. 1988.

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3.1 Selbstartikulation als Voice Eine Gruppe von Verknappungsregeln bilden jene ‚Gesetze‘, die festlegen, wer wann was sagen darf. Man weiß, daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann. Tabu des Gegenstandes, Ritual der Umstände, bevorzugtes oder ausschließliches Recht des sprechenden Subjekts [...].32

Diese ‚Regeln‘ sind häufig in Alltagspraktiken und autoritätsgebundenen Vorgaben impliziert. Für mein Projekt betrifft das z. B. Stand, Bildung, Literalität, gender usw., die es einer Person erlauben, überhaupt verallgemeinernde Aussagen über religiöse Fragen mit dem Gestus der ‚Wahrheit‘ und der Autorität zu treffen und diese womöglich noch zu veröffentlichen, wobei bei der ‚Veröffentlichung‘ die zeitgenössischen Formen des gebundenen Manuskripts, des Drucks, des Pamphlets etc. als ‚Gradierungen‘ von Öffentlichkeit zu berücksichtigen sind. Der Begriff voice bezeichnet Strategien gegen jene Verknappungsregeln, die den Personenkreis der ‚sprechenden Subjekte‘ begrenzen. Ein Beispiel soll diese Vorgehensweise illustrieren, und zwar ein Auszug aus einem Prolog „To the Reader“ zu einem 1652 erschienenen Buch mit dem Titel Eliza’s Babes: Or, the Virgins-Offering: Being Divine Poems and Meditations. (London: Laurence Blaiklock, 1652). Über die Biographie der Autorin Eliza gibt es keinerlei Informationen. […] rising one day, from my Devotions, it was suggested to my consideration, that those desires were not given me, to be kept in private, to my self, but for the good of others. And if any unlike a Christian shall say; I wrote them, for mine owne glory. I like a Christian, will tell them; I therefore sent them abroad; for such a strict union is there betwixt my deare God and mee, that his glory is mine, and mine is his; and I will tell them too, I am not asham’d of their births; for before I knew it, the Prince of eternal glory had affianced mee to himself; and that is my glory. […] And was so great a Prince, not ashamed to avow so great affliction and love to mee, and shall I be ashamed to returne him publique thankes, for such infinite and publique favours? […] Methinks it is not enough for my self onely to doe it, but I must send out my Babes, to doe it, with mee, and for me: And if any shall say, others may be as thankefull as shee, though they talk not so much of it; Let them know that if they did rightly apprehend the infinite mercies of God to them, they could not be silent.33

__________ 32 33

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. [Nachdruck der ersten Auflage von 1966] Frankfurt a.M. 1995, S. 7. A2r und A2v-A3r nach Ingrid Hotz-Davies: The Creation of Religious Identities by English Women Poets from the Seventeenth to the Early Twentieth Century. Soulscapes. (Studies in Women and Religion 42) Lewiston 2001, S. 33 und 35.

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Ähnliche Vorworte oder Einsprengsel finden sich in bemerkenswerter Anzahl in den – allerdings erst sehr selektiv zugänglichen – Texten von Frauen des 17. Jahrhunderts.34 Für alle schreibenden Frauen bestand eine zentrale Strategie der Selbstartikulation darin, ihre Forderung nach öffentlichem Gehör zu legitimieren. Denn eine öffentliche Äußerung bedeutete die Transgression eines zentralen Genderstereotyps, das Suzanne Trill zusammenfasst als „Chaste, Silent and Obedient“.35 Während die Keuschheit selten in Frage gestellt wurde, waren Schweigen und Gehorsam Themen, die in Texten von Frauen insbesondere aus den reformierten Konfessionen sehr zentral diskutiert wurden. Diese Diskussion dramatisiert die Instabilität der Kategorie ‘woman’: it highlights the fact that the characteristics associated with that category are socially constructed rather than naturalised or universal givens. It is my contention that women’s involvement with religion in this period brings the instabilities of this category to the fore.36

In meiner Deutung manifestieren diese Diskussionen agency im Sinne von Judith Butler, also die Intervention einer einzelnen Person in diskursive Konstellationen qua ReSemantisierung, ohne damit die Kategorie des Subjekts voraussetzen zu müssen. Eliza greift in diesen wenigen Zeilen auf verschiedene Versatzstücke aus bestehenden Diskursen zurück: das Stereotyp der schweigsamen, aufs Private beschränkten Frau als relative creature, deren Aufgabe darin besteht, für Andere da zu sein; das Gebären von Kindern, durch das nach 1. Timotheus 2,15 Frauen ihre Seele retten können,37 der Bezug auf männliche Autoritätsinstanzen wie Vater oder Ehemann, die einer Frau überhaupt öffentliche Identität verleihen. Dieses Diskursmaterial wird allerdings massiv umgedeutet, indem z. B. das emanzipatorische Potential der me-and-my-god-Dyade, die sich auch in religiöser Lyrik von Männern findet, gegen patriarchale Hierarchien ausgespielt wird durch den two-husband-Topos, der eines der zentralen Bilder einer weiblichen Beziehung zu Gott darstellte: Das öffentliche Bekenntnis zu Christus, der sich als ‚Prince of eternal glory‘ der Sprecherin verlobt hat, besitzt Vorrang vor den von irdischen Männern vertretenen Forderungen nach unterwürfiger Schweigsamkeit. Auch bei __________ 34

35 36 37

Hotz-Davies: Religious Identities (wie Anm. 33), führt vier Anthologien mit Texten wie lifewritings oder Gerichtsprotokollen, Gebeten, Meditationen und Gedichten von Frauen des 17. Jahrhunderts auf, dazu wenige Ausgaben von Einzelautorinnen. Vgl. auch Graham: Women’s Writing (wie Anm. 23), bes. S. 210ff. Suzanne Trill: Religion and the Construction of Femininity. In: Women and Literature in Britain 1500-1700. Hg. von Helen Wilcox. Cambridge 1996, S. 31. Ebd. Vgl. Die Merian Bibel. Mit den Kupferstichen von Matthäus Merian. Nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Köln 1996 (revidierter Text 1964), S. 230: „Eine Frau lerne in der Stille mit aller Unterordnung. Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie sich über den Mann erhebe, sondern sie sei stille. Denn Adam ist am ersten gemacht, danach Eva. Und Adam ward nicht verführt, das Weib aber ward verführt und ist der Übertretung verfallen. Sie wird aber selig werden dadurch, dass sie Kinder zur Welt bringt, wenn sie bleiben im Glauben und in der Liebe und in der Heiligung samt der Zucht“.

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Männern findet sich das Bild von Christus als himmlischem Bräutigam, was im Rahmen der gender-fluidity dazu führt, dass männliche Sprecher sich in eine weiblich markierte Position setzen. Dass diese Metaphern allerdings eine diskursiv völlig unterschiedliche Funktion je nach der geschlechtsmäßigen Subjektposition des Sprechers oder der Sprecherin und damit auch völlig unterschiedlichen diskursiven Sprengstoff besitzen, zeigen mehrere belegte Fälle, in denen Frauen sich weigerten, eine arrangierte Ehe einzugehen, um nicht ihrem himmlischen Ehemann Christus untreu werden zu müssen. Aus Elizas Gedichten lässt sich schließen, dass auch sie zunächst zu dieser Gruppe zählte, dann allerdings – nachdem sie sich widerwillig hatte überreden lassen – von der Ehe positiv überrascht war.38 Der Vergleich der Autorschaft mit der Geburt eines Kindes dient bei den Metaphysical Poets dazu, in Abgrenzung von weiblichen Stereotypen männliche Autorität für die Kopfgeburten des poetischen Selbst zu definieren. Die physische Geburt eines Kindes wurde dagegen in Anlehnung an 1. Mose 3,16 als göttliche Strafe speziell für Frauen gedeutet. Eliza und andere Dichterinnen wie Anne Bradstreet oder Emilia Lanier nehmen mit der Aneignung dieser Autorschaftsmetapher eine radikal neue Deutung der biblischen Narration vor. Die Einforderung und die gleichzeitige Dramatisierung der Teilhabe an der kulturellen Autorität einer conceptual mastery fallen in diesem Akt des weiblichen Schreibens für eine Öffentlichkeit zusammen. Die Transgression allerdings bestand nicht in der Überschreitung einer naturalisierten diskursiven Grenze männlich-weiblich, sondern in der Aufkündigung eines hierarchisch konzeptualisierten Verhältnisses zwischen Männern und Frauen in einem teleologischen one-sex-model, das die Frau definiert als „ein durch Mangel an Männlichkeit charakterisiertes Wesen. Es gibt keine spezifisch weiblichen biologischen, physiologischen oder psychologischen Attribute, vielmehr sind alle Besonderheiten des ‚schwächeren‘ Geschlechts defizitäre Erscheinungsformen dessen, was dem ‚starken‘ Geschlecht eigen ist“.39 Da es keine essentialistisch gedachten Unterschiede zwischen dem Mann und dem unterentwickelten lesser man, der Frau gibt, finden die gender-Verhandlungen mit Blick auf Selbstartikulationen also in einem völlig anderen Diskursuniversum statt als dem heutigen. Der kurze Prolog macht aber auch deutlich, dass Eliza ihre Legitimierung in dem göttlich-väterlichen Ursprung ihrer Motive sieht, der – wie sie in verschiedenen Gedichten expliziert – der eigentliche Autor ihrer Stimme ist. Damit bedient sie sich für die Begründung der Wahrheit ihres Anspruchs selbst eines wichtigen „Prinzip[s] der Verknappung des Diskurses“, nämlich des Autors „als Prinzip der Gruppierung von Dis__________ 38 39

Zur typisch englischen Konvention, ziemlich spät zu heiraten, vgl. Rogers: Oxford Illustrated History (wie Anm. 26), S. 288. Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte. Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung. Stuttgart 1997, S. 24.

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kursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhaltes[. D]ie Zuschreibung an einen Autor [ist] ein Index der Wahrheit“. Diese ‚Wahrheit‘ bedarf der ständigen direkten und indirekten Wiederholung, um ihre Überzeugungskraft zu bewahren. Die wichtigste Form der institutionalisierten Wiederholung von gesellschaftlich gesetzten ‚Wahrheiten‘ besteht für Foucault im Kommentar, dem „Spiel einer Kritik, die endlos von einem Werk spricht, das gar nicht existiert“. Die wichtigsten Kommentare westlicher Gesellschaften zu ihren häufig nirgendwo explizit ausformulierten Vorannahmen sind für Foucault „die religiösen und die juristischen Texte, auch die literarischen Texte mit ihrem so merkwürdigen Status, bis zu einem gewissen Grade die wissenschaftlichen Texte“.40 Elizas Text – als religiöser Text und als Literatur – ist also gleichzeitig Produkt, Nutznießer und Kommentar mit Bezug auf die Instanz ‚Gott‘, die den Text erzeugt, Elizas voice legitimiert und die Wahrheit verbürgt. Als Kommentar im Sinne Foucaults allerdings erzeugt Elizas Text die Instanz des Erzeugers als repräsentativen Statthalter ihrer Subjektposition. Mit dem Bezug auf ein männlich konnotiertes other in der Transzendenz, ob als Vater, Bräutigam oder Ehemann gefasst, ist die imaginäre Subjektivität der schreibenden Frau von Anfang an als gespaltene angelegt, gespalten zwischen Identität und Alterität, Immanenz und Transzendenz, weiblich und männlich, Internalisierung und Projektion.41 Diese Spaltungsphänomene, die jeder Selbstartikulation eingeschrieben sind, analysiere ich unter dem folgenden Aspekt. 3.2 Selbstartikulation als Differenzierung von Identität und Alterität Eine wichtige Gruppe der Verknappungsregeln nach Foucault bilden die Ausschließungen, die den jeweiligen Diskurs nach außen abschirmen und auf subtile Weise Machtansprüche und (unterdrücktes) Begehren regulieren. Sie bestehen in Verboten und Grenzziehungen zwischen Vernunft und Wahnsinn, Wahr und Falsch, ,us‘ and ,them‘ als Markierungen für die als Realität anerkannten und die vernachlässigenswerten oder auch gewaltsam zu unterdrückenden Wirklichkeitsdeutungen. Diese Ausschließungen spielen bei Selbst- und Subjektformationen eine zentrale Rolle, auch in der Frühen __________ 40

41

Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France – 2. Dezember 1970. Hg. von Wolf Lepenies und Henning Ritter. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1977, S. 17f. Der Kommentar hat die Aufgabe, „das schließlich zu sagen, was dort schon verschwiegen artikuliert war. Er muß [...] zum ersten Mal das sagen, was doch schon gesagt worden ist, und muß unablässig das wiederholen, was eigentlich niemals gesagt worden ist“ (ebd.). Diese Beobachtung widerspricht der These von Jerrold Seigel: The Idea of the Self (wie Anm. 9), S. 36, die er von seinem Studium von Locke, Mandeville, Hume und Adam Smith ableitet: „It was Britain beginning in the early modern period, and still in the nineteenth century, that fostered the readiest acknowledgment that all three dimensions [the bodily or material, the relational, and the reflective dimensions of the self, ebd., S. 5] could interact positively while retaining their separate characters“.

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Neuzeit, wie Berry herausstellt. Die Untersuchung von medizinischen, philosophischen und literarischen Kanontexten zeigt regelmäßig denial or negation of a disturbing epistemic difference or alterity. This difference may be of gender […], race […], or class […] the alterity of the ancient pagan past […] or of the material particularity of verbal or visual textures [...]. These forms or modes of difference frequently overlap.42

Auch Greenblatt betont: „Self-fashioning is achieved in relation to something perceived as alien, strange, or hostile“.43 Grundsätzlicher formuliert Judith Butler: No subject is its own point of departure; and the fantasy that it is one can only disavow its constitutive relations by recasting them as the domain of a countervailing externality. Indeed, one might consider Luce Irigaray’s claim that the subject, understood as a fantasy of autogenesis, is always already masculine. Psychoanalytically, that version of the subject is constituted through a kind of disavowal or through the primary repression of its dependency on the maternal. And to become a subject on this model is surely not a feminist goal. The critique of the subject is not a negation or repudiation of the subject, but, rather, a way of interrogating its construction as a pregiven or foundationalist premise.44

In dem zitierten Prolog sind allerdings nicht etwa – wie man erwarten würde – männlich und weiblich als Alteritäten konstruiert, sondern Immanenz und Transzendenz, irdische und göttliche Männlichkeit, diskursives Stereotyp und individuelle Erfahrung. In diesem Zusammenhang ist für mein Projekt von besonderem Interesse, inwiefern die Dichotomien sich je nach Sprecherposition unterscheiden oder überschneiden und inwiefern sie unterschiedlich funktionalisiert werden. 3.3 Die Konstruktion von Präsenz als Selbstartikulation Eine weitere Gruppe von Strategien der Verknappung stellen die „internen Prozeduren“ dar, die den Diskurs selbst systematisieren und durch verschiedene Formen der Klassifikation der Welt den Aspekt des Zufälligen nehmen. Die internen Prozeduren äußern sich als Kategorisierung der Wirklichkeitsaussagen nach vorgegebenen Klassifizierungsrastern wie Disziplinen, Doktrinen oder autorgebundenen Aussagen.45 Diese Stra__________ 42 43 44 45

Berry: Renaissance Knowledge (wie Anm. 4), S. 3. Greenblatt: Self-Fashioning (wie Anm. 2), S. 9. Butler: Contingent Foundations (wie Anm. 12), S. 42. Vgl. Foucault: Ordnung des Diskurses (wie Anm. 40), S. 21f. und 23f.: „Eine Disziplin ist nicht die Summe dessen, was bezüglich einer bestimmten Sache Wahres gesagt werden kann; sondern sie setzt Bedingungen fest und Vorannahmen, die beachtet werden müssen, damit innerhalb der Disziplin etwas als richtig oder falsch gilt. [...] Innerhalb ihrer Grenzen kennt jede Disziplin wahre und falsche Sätze, aber jenseits ihrer Grenzen läßt sie eine ganze Teratologie des Wissens wuchern. [...] es gibt dort die unmittelbare Erfahrung, die imaginären Themen der Einbildungskraft, die unvordenkliche Überzeugungen tragen und immer wieder erneuern; aber vielleicht gibt es keine Irrtümer im strengen Sinn, denn der Irrtum kann nur innerhalb einer definierten Praxis auf-

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tegien legitimieren den Wahrheitsanspruch, indem sie sich auf institutionelle Formationen wie Kirche, Bibelexegese, oder auch institutionell abgesicherte Wahrheitsmarkierungen wie die persönliche Erweckungserfahrung bei den Puritanern berufen. Diese Berufung auf eine persönliche Erleuchtungserfahrung insbesondere bei Puritanern und Quäkern des 17. Jahrhunderts als Rechtfertigung für den Bruch mit diskursiven Vorgaben ist eine ganz eigene Strategie der Selbst-Ermächtigung, denn auch das, was als ‚Erfahrung‘ Legitimationsfunktion für Wahrheitsansprüche übernimmt, ist ein Konzept „[that] is at once always already an interpretation and is in need of interpretation. What counts as experience is neither self-evident nor straightforward; it is always contested, always therefore political“.46 Zum einen werde ich auf Unterschiede dieser Legitimationsstrategien bei verschiedenen religiösen Weltbildern, Ständen und bei Männern und Frauen achten. Vor allem jedoch geht es mir hier um die ästhetische Realisierung dieser Selbstartikulationen als ‚Präsenz‘. Vier Aspekte interessieren mich dabei besonders: (a) Metaphern der Präsenzbürgschaft wie Seele, Gott oder die allseits verbreitete Lichtmetaphorik (the inner light), vor allem jedoch nicht-okularzentrische Motive wie die Stimme, das Riechen oder sexuelle Ekstase-Erfahrungen als Selbst-Metaphern. Im 17. Jahrhundert werden Körper, Leiden, Ekstase – wahrgenommen im Rahmen der Humorallehre und der aristotelischen und biblischen gender-Zuschreibungen – zu Medien, die der Beschreibung religiöser Erlebnisse Präsenz verleihen sollen. Die extreme Aufladung spiritueller Phänomene mit Sexualmetaphern, die bislang fast nur bei den Metaphysical Poets untersucht wurde, möchte ich auf die Möglichkeit hin prüfen, ob dort Alternativen zum okularzentrischen Subjektkonzept der Moderne47 angelegt sind, die gegenwärtig unter Begriffen wie membrane self oder acoustic self diskutiert werden. Solche Konzeptionen ermöglichen die völlig neue Konzeptualisierung der Relationen von Individuum und Umwelt.48 (b) Als Zweites möchte ich in diesem Zusammenhang an konkreten Beispielen die von Foucault in The Hermeneutics of the Subject vertretene These prüfen, dass im 17. Jahrhundert der Wandel von einer Wissensform, die er spirituality nennt, zu derjenigen der philosophy stattfindet. __________

46 47

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tauchen und entschieden werden; hingegen schleichen Monstren herum, deren Form mit der Geschichte des Wissens wechselt“. Joan W. Scott: Experience. In: Feminists Theorize the Political. Hg. von Judith Butler und Joan W. Scott. New York 1992, S. 22-40, hier S. 37. Zur Problematik dieser Privilegierung des Visuellen für philosophische Subjekt- und Wahrheitsbegriffe vgl. Frank: Subjekt, Person, Individuum (wie Anm. 6) und Hans Blumenberg: Das Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung. In: Studium Generale 10 (1957), S. 432-447. Zur Relevanz dieser Modelle für die literaturwissenschaftliche Deutung vgl. Anna-Margaretha Horatschek: The Auditory Self. Self-Constitution by Text, Voice, and Music in English Literature [Shakespeare, G. Eliot]. In: Anglistentag 2004 Aachen. Proceedings. Hg. von Lilo Moessner und Christa M. Schmidt. Trier 2005, S. 225-235.

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We will call […] ‘philosophy’ the form of thought that asks, not of course what is true and what is false, but what determines that there is and can be truth and falsehood and whether or not we can separate the true and the false. We will call ‘philosophy’ the form of thought that asks what it is that enables the subject to have access to the truth and which attempts to determine the conditions and limits of the subject’s access to the truth. If we call this ‘philosophy’, then I think we could call ‘spirituality’ the search, practice, and experience through which the subject carries out the necessary transformations on himself in order to have access to the truth. […] which may be purifications, ascetic exercises, renunciations, conversions of looking, modifications of existence, etc., which are, not for knowledge but for the subject, for the subject’s very being, the price to be paid for access to the truth. […] Spirituality postulates that the truth is never given to the subject by right. […] It postulates that for the subject to have right of access to the truth he must be changed, transformed, shifted, and become, to some extent and up to a certain point, other than himself. The truth is only given to the subject at a price that brings the subject’s being into play. For as he is, the subject is not capable of truth. […] It follows that from this point of view there can be no truth without a conversion or a transformation of the subject.49

Das Textkorpus von puritanisch geprägten Sprechern gehört auf den ersten Blick dem Bereich der spirituellen Wissenskonzeptualisierung an, allerdings bezieht es sich stilistisch und auch mit Blick auf die Wahrheitskonzeptionen eindeutig auf das neue, philosophisch-(natur)wissenschaftlich definierte, mit Bacon assoziierte Wissenskonzept.50 Diesem Widerspruch möchte ich nachgehen. Damit zusammen hängt (c) Verräumlichung/Verinnerlichung als Präsenzmetaphorik. Ein besonderes Augenmerk gilt der – in der Forschung umstrittenen – These von Verinnerlichungstendenzen beim self-fashioning der Frühen Neuzeit. Es geht mir hier nicht in erster Linie um die ideengeschichtliche Einordnung von Innerlichkeitskonzepten etwa im Rahmen des Neoplatonismus und der Augustinus-Rezeption, sondern um die zeitgenössische Innerlichkeitsdebatte, wie sie sich im medizinischen Diskurs bei öffentlichen Autopsieveranstaltungen oder in politischen Diskursen darstellt, die z. B. unter James I. die Opazität eines hermetischen, vor der Außenwelt verborgenen Innenraumes als Machtzentrum thematisieren, und um mögliche Unterschiede zwischen weiblich und männlich kodierten Innerlichkeitskonzepten, wie sie von Frenk bei Shakespeare herausgearbeitet werden.51 Dabei ist zu unterscheiden zwischen männlichen Konstrukten einer weiblichen Innerlichkeit wie in Richard Crashaws A Hymn to the Name and Honor of the Admirable Saint Teresa und den von Frauen selbst konstruierten Bildern. (d) Verzeitlichung als Präsenzstrategie. Dieser Aspekt liegt mir ganz besonders am Herzen, denn hier möchte ich nicht die Semantik von Begriffen, sondern ästhetische __________ 49

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Michel Foucault: The Hermeneutics of the Subject. Lectures at the College de France 1981-1982. Hg. von Frédéric Gros, François Ewald und Alessandro Fontana. Übers. von Graham Burchell. New York 2005, S. 15. Vgl. dazu Pfister: Morus bis Milton (wie Anm. 3), S. 52f. Joachim Frenk: ,Stabbing the Centre‘. Innenräume in Shakespeares The Winter’s Tale und The Tempest. In: Innenwelten vom Mittelalter zur Moderne. Interiorität in Literatur, Bild und Psychologiegeschichte. Hg. von Claudia Olk und Anne-Julia Zwierlein. Trier 2002, S. 79-94.

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Anna-M. Horatschek

Merkmale als Evokation von Präsenzmomenten und ‚Erfahrung‘ untersuchen. Ich beziehe mich dabei auf Julia Kristevas These, dass durch Spuren archaischer – in ihrer psychoanalytischen Diktion ‚semiotischer‘ – und das heißt präverbaler Differenzierungsstrategien wie Rhythmus, Reim und Klangfarbe „[p]oetic discourse measures rhythm against the meaning of language structure and is thus always eluded by meaning in the present while continually postponing it to an impossible time-to-come“.52 Grundsätzlich geht es dem Projekt in dezidierter Absetzung von einer rückwärtsgewandten Kontinuitätsstiftung um unterschiedliche Selbstartikulationen im Rahmen der sehr spezifischen religiösen, sozialen und kulturellen Kontexte in der religiösen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Da mich an den frühneuzeitlichen Subjekt-Inszenierungen vor allem Differenzen und hybride Konstellationen interessieren, sollen Gedichte von Männern und Frauen, Aristokraten und Bürgerlichen, Katholiken, Anglikanern, Puritanern und Quäkern komparatistisch interpretiert werden. Sie sollen untersucht werden auf latente Spuren der Vergangenheit, Reaktionen auf dominante Herausforderungen der Gegenwart und emergente Formierungen, die sich erst im Rückblick als zukunftsweisend erkennen lassen. Das Ziel besteht nicht darin, die Befunde dieser Untersuchung zu einer Art typischem Subjekt- oder Selbstbild der Zeit zusammenzuführen, sondern die Ergebnisse als „Diskursfragmente“53 einer hybriden Selbst-Gestalt stehen zu lassen, als „a cultural phenomenon [that] constitutes within the history of thought a decisive moment that is still significant for our modern mode of being subjects“.54

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Julia Kristeva: The Ethics of Linguistics. In: Modern Criticism and Theory. A Reader. Hg. von David Lodge. London/New York 1988, S. 230-293, hier S. 238. Ebenfalls findet sich die Analyse von strukturellen Analogien zwischen poetischer Form und Subjektgestalten in Anthony Easthope: Poetry as Discourse. London/New York 1983 (z. B. die Kapitel Discourse as Subjectivity und Pentameter and Subjectivity); Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a.M. 1978; Paul Oppenheimer: The Birth of the Modern Mind. Self, Consciousness, and the Invention of the Sonnet. New York/Oxford 1989; Dietmar Jaegle: Subjekt im und als Gedicht (wie Anm. 10); Christoph Reinfandt: Romantische Kommunikation. Heidelberg 2003, bes. S. 89171. Michel Foucault: Das Leben der infamen Menschen. Hg. und übers. von Walter Seitter. Berlin 2001, S. 14. Foucault: Hermeneutics of the Subject (wie Anm. 49), S. 9.

Javier Gómez-Montero Wissen und Form. Zum rinascimentalen Dialog in Spanien

Literarische Texte genießen als symbolische Formen von Kultur und aufgrund ihres ästhetischen Status das besondere Privileg, diskursive Signaturen zu tragen, die sie von pragmatischen Diskursen – denen es um wissenschaftlich erprobtes Wissen geht – unterscheiden. Angesichts dieser Andersartigkeit spielt fiktionale Literatur – auch als Ausdruck der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis und als Austragungsort einer Auseinandersetzung von Ideen, Lebensentwürfen und Weltbildern – historisch eine wichtige Rolle für die Konstituierung, Legitimierung, Tradierung, Hierarchisierung und Transformierung von Wissen; zudem kann sie Alternativen zu Wissensbeständen aufzeigen, die in unterschiedlichen historischen und geographischen Kontexten sozial oder institutionell akzeptiert sind. Daher gilt Literatur als verlässlicher Indikator für Veränderungen in etablierten Wissensbeständen, und wenn literarische Texte schon keine Vorreiterfunktion bei der Herausbildung von Wissensbeständen übernehmen, so haben sie doch als Reflexionsraum und als Matrix für sich herausbildende neue Denkmuster und Erkenntnismodelle jenseits institutioneller Normen eine entscheidende Bedeutung. Auf die Renaissance bezogen hat sich Klaus W. Hempfer „die Textbasierung von Erkenntnis und Wahrheit“1 zur methodologischen Prämisse gemacht und zudem darauf hingewiesen, dass Fiktion „als Explikation der episteme“ dienen könne.2 Bestimmte Formen der literarischen Vermittlung begünstigen die erwähnte Austarierung von Wissen und Erkenntnis bzw. die Erprobung neuer Wege für die Wahrheitsfindung, indem __________ 1 2

Andreas Kablitz/Gerhard Regn (Hgg.): „Vorwort“. In: Renaissance – Episteme und Agon. Festschrift für Klaus W. Hempfer. Heidelberg 2006, S. 7-9, hier: S. 7. Klaus W. Hempfer: Ariosts Orlando Furioso – Fiktion und episteme. In: Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989-1992. Hg. von Hartmut Boockmann, Ludger Grenzmann, Bernd Moeller und Martin Staehelin. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. 3. Folge 208) Göttingen 1995, S. 47-85, hier S. 85. Vgl. dazu Winfried Wehle (Hg.): Über die Schwierigkeit (s)ich zu sagen. Horizonte literarischer Subjektkonstitution. (Analecta Romanica 63) Frankfurt a.M. 2001, sowie die zwei Bände von Reto Luzius Fetz/Roland Hagenbüchle/Peter Schulz (Hgg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. (European cultures 11) Berlin 1998.

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sie die einzelnen Aussagen in einen kommunikativen Vermittlungsprozess einspannen. Daher ist die Wahl der literarischen Gattung, die als Vehikel der Argumentation fungiert, keineswegs irrelevant, zumal diese als Medium von Erkenntnis zumindest implizit Spuren der Diskursivierung von Wissen und Erkenntnis in sich trägt, die beschrieben werden können. Die Gattungszugehörigkeit setzt bereits die Reflexion über das zu vermittelnde Wissen voraus, so dass die Wahl einer bestimmten Gattung nicht naiv ist oder lediglich literaturhistorisch begründet wird, sondern durchaus metadiskursiven Aspekten verpflichtet sein kann. Diese metadiskursiven Spuren begründen, optimistisch gedacht, einen heuristischen Mehrwert der Fiktion, der etwa im Rahmengespräch des frühneuzeitlichen Dialogs bzw. in der autofiktionalen Anlage der rinascimentalen Epistel enthalten ist – wenn es sich nicht bereits um einen als solchen deklarierten fiktionalen Text handelt. Ein Traktat, ein Kommentar, eine Rede oder eine Streitschrift werden im Gattungssystem der Renaissance3 natürlich eher einer geschlossenen Form zugerechnet werden dürfen als beispielsweise der auf narrative sowie argumentative Interaktion im Dazwischen angelegte Dialog oder die auf die Wahrnehmung einer einzelnen Person festgelegte private Epistel. Zudem lassen sich symptomatische Beispiele herausarbeiten, bei denen die Gattungsform besonders durchlässig ist für ein Stilregister, das im situativen Rahmen des privaten Gesprächs Gegenstände offen, flexibel und kontrovers zu verhandeln erlaubt. Dies alles betrifft die medialen Bedingungen der Vermittlung von Erkenntnis über Ich und Welt bzw. Individuum und Gesellschaft, wie sie auch in der Renaissance von Bedeutung sind; damit sind zugleich die Diskursivierung subjektiven Erkennens und ihre literarische Vermittlung betroffen. Eingehend erläutert Hempfer die Rolle der Gesprächssituation im rinascimentalen Dialog als ein wesentliches Mittel zur „Komplexitätspotenzierung des argumentativen Diskurses“:4 Der Dialog sei ein durch und durch performatives Genus, dessen Darstellungsebene (der Handlungs- und Geschehenszusammenhang) eine wesentliche Rolle für die Argumentkonstitution spiele, sodass Situationsrahmen und Kontexte, Figurenarsenal und Redeweisen auch sinnkonstituierend der argumentativen Ebene hinzuzufügen sind.5 Gattungsform, Stilregister, der situative Handlungs- oder Gesprächsrahmen sowie die zur Diskussion stehenden Gegenstände ergänzen einander und ergeben insgesamt die Rahmenbedingung dafür, dass literarische Texte Selbst und Welt eingehend erforschen __________ 3

4

5

Solche Formen setzen sich von den genuin mittelalterlichen Gattungen der disputatio und der quaestiones, insbesondere aber des soliloquium ab (vgl. Mischa von Perger: Vorläufiges Repertorium philosophischer und theologischer Prosa-Dialoge des lateinischen Mittelalters. In: Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter. Hg. von Klaus Jacobi. [ScriptOralia 115] Tübingen 1999, S. 435-494). Klaus W. Hempfer: Lektüren von Dialogen. In: Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien. Hg. von Klaus W. Hempfer. (Text und Kontext 15) Stuttgart 2002, S. 1-38, hier S. 19. Ebd., S. 19-22.

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können, und zwar nicht spekulativ, sondern auf der Grundlage einer geschilderten Lebenserfahrung, die vielfältige Bereiche des Wissens umfasst. Insbesondere beim Dialog – doch durchaus auch beim privaten Brief – lässt sich unschwer der Weltbezug des formulierten Denkens voraussetzen, was eine Annäherung von Text und geschichtlicher bzw. sozialer Welt mit sich bringt und wiederum die Erschließung zeitgenössischer kultureller Praktiken in der literarischen Darstellung ermöglicht.

1. Problemstellung und Untersuchungsgegenstand Mittlerweile habe ich für ein Forschungsprojekt ein umfangreiches Korpus spanischsprachiger Dialoge aus der Mitte des 16. Jahrhunderts zusammengestellt, das ich im Folgenden vorstellen werde und das die Produktivität eines solchen Ansatzes auf die Probe stellen soll.6 Entscheidend ist dabei die Untersuchung von Gegenständen, die die Aspekte der Selbstkonstitution, vor allem in ihrer moralischen und gesellschaftlichen Dimension, mit anthropologischen und ethnographischen Fragen verknüpfen. Als roter Faden, der sich durch die ausgewählten Texte zieht, kann über die Gesprächsmimesis hinaus die subjektive Erschließung und Durchdringung disparater Räume gelten. Dabei kann es sich sowohl um Alltagsräume (Stadt, gesellschaftliche Institutionen und ihre Ausstrahlung) handeln als auch um exotische, ferne Räume wie neuentdeckte Länder in Amerika und Afrika oder entlegene Gebiete Nord- und Osteuropas bzw. erst kürzlich erschlossene Teile Asiens, die durch vorgetäuschte oder tatsächliche, gelehrte oder gelebte Kenntnis bekannt geworden sind. Anhand von Beispielen aus einer breiten Palette von Wissensbeständen werden Strukturfragen ins Auge gefasst, die in den literarischen Werken verhandelt werden und die gleichermaßen Text-, Welt- und Selbstkonstitution betreffen. __________ 6

Vgl. zu literarhistorischem Kontext und epistemologischem Rahmen u. a. die grundlegende Studie von Ana Vian Herrero zur Lukian-Nachahmung: El diálogo lucianesco en el Renacimiento español. Su aportación a la literatura y al pensamiento moderno. In: El diálogo renacentista en la Península ibérica. Hg. von Roger Friedlein. (Text und Kontext 23) Stuttgart 2005, S. 51-95. Vgl. nun die von Ana Vian Herrero und Consolación Baranda Leturio koordinierte Datenbank DIALOGYCA BDDH . – In der spanischen Dialogforschung, in der die Studien von Ana Vian Herrero und die ihrer Schüler und Kollegen (z. B. Jesús Gómez: El diálogo en el Renacimiento español. Madrid 1988, sowie El diálogo renacentista. Madrid 2000, und José L. Ocasar Ariza, Herausgeber der Coloquios de Palatino y Pinciano von Juan de Arce de Otárola [Madrid 1995]) maßgeblich sind, ist eine ideengeschichtliche und gattungsgenealogische Ausrichtung relevant, weshalb auch einschlägige Arbeiten zur Geschichte des philosophischen Skeptizismus und zur formalen und thematischen Prägung durch Lukian, Cicero und Erasmus einen wichtigen Hintergrund bilden (etwa die Monographien von Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Darmstadt 1999; Richard H. Popkin: The History of scepticism from Erasmus to Spinoza. Berkeley 1979, und neuerdings auch Jeremy Robbins: The challenges of uncertainty. London 1998).

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Das Untersuchungskorpus bilden literarische Dialoge, die zwischen 1555 und 1570 entstanden sind und die disparate Räume der bekannten und unbekannten Welt und deren jeweilige gesellschaftspolitische Organisation bzw. ihre geographische und anthropologische Beschaffenheit ins Visier nehmen. Dazu gehören Antonio de Torquemadas Jardín de flores curiosas (1570), der im fünften und sechsten Buch den Blick gen Norden richtet, um dem spanischen Leser die Länder Nordeuropas vorzustellen,7 und der anonym erschienene Bericht Viaje de Turquía (1557), der einen Vergleich zwischen den christlichen Nationen Europas und dem osmanischen Reich vornimmt.8 Die vergleichende Betrachtung des Jardín de flores curiosas und der Viaje de Turquía erlaubt es einerseits, die Modi des Weltbezuges in beiden Werken zu kontrastieren. Diese sind jeweils von eigenem Erleben oder von gelehrten Lektüren geleitet, wobei die Zurücknahme der für trügerisch gehaltenen Bilder der Imagination durch kritische Wissensaneignung bei Antonio de Torquemada ebenso entscheidend ist wie die Orientierung an der praktischen Lebenserfahrung in der Viaje de Turquía. Der grundlegende Aspekt der Geschichtlichkeit bzw. der Fixierung auf empirische Welterfahrungen tritt bei den genannten Dialogen so deutlich hervor, dass darin geradezu ein Paradigma der Diskursivierung von Wissen im gegebenen Kontext ausgemacht werden kann. Die Form des Dialogs eignet sich vorzüglich, um Problematiken der Kontingenz und der Gegenüberstellung von Ego und Alter, d. h. von Eigenem und Fremdem, Bekanntem und Unbekanntem, Individuellem und Kollektivem zu verhandeln und um die Spannungen zu reflektieren, die die Selbstfindung der Person und die Organisation der Gesellschaft in einer zunehmend säkularisierten Ordnung bestimmen. So verwundert es auch nicht, dass dabei höchst selten theologische Themen debattiert und keineswegs Verhaltensnormen statuiert werden; vielmehr kommt es auf die kulturelle Erschließung __________ 7

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Das Werk avancierte gewissermaßen zum Bestseller, der 1579 ins Französische, 1590 ins Italienische, 1600 ins Englische und 1626 ins Deutsche übersetzt wurde. Der Jardín wird nach folgender Ausgabe zitiert: Antonio de Torquemada: Obras completas 1. Manual de escribientes. Coloquios satíricos. Jardín de flores curiosas. Hg. und eingel. von Lina Rodríguez Cacho. Madrid 1994. In einer späteren Untersuchung werden sich zu diesen zwei Werken andere gesellen. Zunächst kommen die Coloquios de la verdad von Pedro Quiroga (1569) in Betracht, die Europa mit der Neuen Welt konfrontieren und dabei freimütig die Kolonialpolitik der spanischen Krone an den Pranger stellen. Diese Kritik, die durch differenzierte anthropologische Argumente unterstützt wird, tritt umso deutlicher hervor, als sie einem indianischen Ureinwohner in den Mund gelegt wird. Das Reisemotiv (nun von Salamanca nach Valladolid) kehrt als situativer Rahmen ferner in einem weiteren, recht umfangreichen Dialog wieder, der in einem fortgeschrittenen Stadium des Projekts unter spezifischen Gesichtspunkten untersucht werden soll: Es geht um die Coloquios de Palatino y Pinciano des Juan de Arce de Otárola (um 1550), deren Rahmen eine siebzehntägige Reise bildet, in deren Verlauf die zum großen Teil aus Studenten bestehende Reisegesellschaft sehr unterschiedliche Lebensbereiche im zeitgenössischen Spanien reflektiert (vgl. Jesús Gómez: Boccaccio y Otárola en los orígenes de la novela. In: Estudios sobre el diálogo renacentista español. Antología de la crítica. Hg. von Asunción Rallo Gruss und Rafael Malpartida Tirado. [Thema 47] Málaga 2006, S. 269-289).

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eines individuellen und gesellschaftlichen Selbstbezuges an. Gesprächsrahmen und Reisestruktur erlauben eine miszellenartige Aneinanderreihung von Themen, die weder eine systematische Durchdringung erfordern noch enzyklopädisch bearbeitet werden müssen. Ferner fällt bei dem vorgeschlagenen Textkorpus auf, dass die breite Palette an diskutierten Themen eher mit menschlicher Kultur und Zivilisation als mit Religion und Moral zu tun hat. Das gesellschaftliche Bewusstsein schlägt sich also in einem ethisch modellierten Selbst- und Weltentwurf nieder, der sich nach dem Maßstab selbstgesetzten menschlichen Erkenntnisvermögens konstituiert und sich selbst legitimiert. Generell lässt sich für das Textkorpus erkenntnisgeschichtlich festhalten, dass Wissens- oder Erkenntnisformen, die nicht unmittelbar der Sanktionierung durch andere Autoritäten bedürfen (wie Gott, Kirche, Staat, Gesellschaft, Familie, Tradition), unmittelbar vom Augenblick ihrer Erzeugung oder Entstehung abhängen, also vom Kontext, von der Perspektive, der Argumentation sowie allgemein von den diskursiven Strategien der Vermittlung oder Darstellung. Hierin liegt die prekäre Beschaffenheit allen Erkennens begründet, in der gleichwohl auch ein Prinzip der Selbstbestätigung wurzelt, nämlich die Unbeständigkeit der Erkenntnis, die Pluralität der Wahrheiten, die Schwierigkeit der Erkenntnissicherung oder der stete Wandel der Bedingungen des Urteils. Es mangelt nicht an Versuchen, die genannten Phänomene als epochentypische Aspekte zu systematisieren – etwa mit Blick auf die Renaissance-Episteme9 oder auch hinsichtlich der Literatur des sogenannten spanischen Siglo de Oro.10 Darüber hinaus indizieren die erörterten Zusammenhänge zweifelsohne Transformationen im frühneuzeitlichen Wissenssystem in den Schlüsseljahren des Tridentinischen Konzils (15451563). Bereits Klaus W. Hempfers Arbeiten korrigierten Michel Foucaults unbekümmertes Plädoyer für die Analogie als Denkfigur der Renaissance und unterstrichen ihre Zurückdrängung zugunsten perspektivischen Denkens und einer agonalen Pluralisierung der Wahrheit(en). Demnach werde der Widerstreit und der Streit zum „Signum der Renaissance“,11 die somit als Epoche einer nicht harmonisierbaren Pluralität der Welten12 und einer kompetitiven Geltung von nebeneinander bestehenden Wahrheitsansprüchen gelten kann. Andreas Kablitz führte am Beispiel von Pietro Bembos Asolani __________ 9

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Vgl. Klaus W. Hempfer: Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die ‚epistemologische Wende‘. In: Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Hg. von Klaus W. Hempfer. (Text und Kontext 10) Stuttgart 1993, S. 9-45. Vgl. Wolfgang Matzat/Bernhard Teuber (Hgg.): Welterfahrung – Selbsterfahrung. Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit. (Beihefte zur Iberoromania 16) Tübingen 2000. Vgl. auch meinen Aufsatz: Celestina, Lozana, Lázaro, Urdemalas y la subjetividad. A propósito del lenguaje y los géneros de la ‚escritura realista‘ del Renacimiento. In: El personaje literario y su lengua en el siglo XVI. Hg. von Consolación Baranda Leturio und Ana Vian Herrero. Madrid 2006, S. 285-340. Kablitz/Regn: Renaissance (wie Anm. 1), S. 7-9, hier S. 8. Vgl. Wolf-Dieter Stempel/Karlheinz Stierle (Hgg.): Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. (Romanistisches Kolloquium 4) München 1987.

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aus,13 wie der Text zum Ort der Vermittlung zwischen verschiedenen Alternativen werden kann, was gewiss einen Konflikt zwischen möglichen Interpretationen auslöst. Eine solche Unentschiedenheit, der der literarische Text schon aufgrund offener und flexibler Strukturen – wie beim Dialog – gerecht wird, nimmt divergente Diskurse und unter Umständen auch rivalisierende Autoritäten in sich auf. Die Konzeption von Pluralisierung und Agon findet einen späten, aber sehr prägnanten Ausdruck in der Denkfigur des distingo, deren Wirkungskraft in der literarischen Darstellung ich bei Montaigne und Cervantes nachgegangen bin.14 Dieses distingo greift einen Satz Michel de Montaignes auf („Distingo est le plus universel membre de ma logique“)15 und erhebt sich zur diskursiven Leitfigur im Horizont jener Subjektkonstitution, die im Zeichen der imaginativen, reflexiven und ethischen écriture von Montaignes Essais gedeiht und der auch die epistemología poética16 des Quijote verpflichtet ist; darin schreiben sich sowohl die Diskussion um die auctoritates bei Antonio de Torquemada (d. h. um die Legitimierung des Wissens) als auch das Selbsterfahrungskonzept ein, das sich in der Viaje de Turquía herausbildet und das auch Ausdruck einer Subjektivierung im frühneuzeitlichen Wissen ist. An beiden Texten sollen im Folgenden Vorgehensweisen und Diskursivierungsprofile vorgeführt und am Beispiel eines zentralen Aspekts das geltende Modell der Wissensdiskursivierung auf den Prüfstand gestellt werden. Anhand des Jardín de flores curiosas gilt es, die Bedingungen der Akzeptanz des Wunderbaren bzw. der Gültigkeit von auctoritates – insbesondere wenn sie offenkundige Brüche von Naturgesetzen akzeptieren – und die der Validierung gelehrten Wissens tout court zu diskutieren. In der narrativ angelegten Viaje de Turquía geht es um die Selbstfindung des Protagonisten, der während einer zweijährigen Gefangenschaft in Konstantinopel (etwa 1553-1555) dank einer eingehenden Erkundung der Stadt zur Selbsterkenntnis gelangt und eine Transformation in einen neuen Menschen durchlebt (gewissermaßen im Sinne eines frühneuzeitlichen Bildungsromans avant la lettre). __________ 13 14

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Andreas Kablitz: Die Problematisierung des antiken Dialogs in Bembos Asolani. In: Kablitz/Regn: Renaissance (wie Anm. 1), S. 73-148; vgl. auch Hempfer: Lektüren (wie Anm. 4). Vgl. Javier Gómez-Montero: Con el Quijote y Montaigne en los albores de la subjetividad moderna. In: El Quijote y el pensamiento moderno. Hg. von José Luis González Quirós und José María Paz Gago. Madrid 2007, S. 405-429, und ders.: Modelle einer écriture subjective bei Montaigne und Cervantes (distingo, imaginatio, Zeitlichkeit). In: Das Subjekt in Literatur und Kunst. Festschrift für Peter V. Zima. Hg. von Simona Bartoli, Dorothea Böhme und Tatjana Floreancic. Tübingen 2011 (im Erscheinen). Michel de Montaigne: Essais, II, 1, S. 319. In: Œuvres complètes. Textes établis par Albert Thibaudet et Maurice Rat. Paris 1962. Der Begriff epistemología poética im spanischen Original ist Klaus W. Hempfers Konzept der Fiktion bzw. des fiktionalen Textes als Explikation der episteme verpflichtet, das der Berliner Literaturwissenschaftler im Sinne einer Wahrheitsproblematik oder einer im literarischen Werk evident werdenden epistemologischen Konfiguration am Beispiel des Orlando furioso ausgeführt hat, vgl. auch hierzu Hempfer: Orlando furioso (wie Anm. 2).

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2. Fragen der Welterfahrung und des Vermittlungsrahmens des Wissens. Zu Antonio de Torquemadas Jardín de flores curiosas Die Entdeckung Amerikas 1492 stellt einen markanten Höhepunkt dar innerhalb der Stationen abendländischer Welterweiterung im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts. Die Strategien kultureller Aneignung fremder Räume schwanken grundsätzlich zwischen den Polen der Empirie und der Imagination:17 Kartierung, Besitzergreifung, pragmatischer Austausch einerseits und selbstzentrierte Konstruktion von Bildern auf der Grundlage von tradierten Stereotypen und oft davon affizierten Reiseberichten andererseits sind bestimmende Paradigmen des abendländischen Umgangs mit der Neuen Welt und dem Fernen Osten sowie mit dem Norden Europas, insbesondere mit Skandinavien, Russland und den angrenzenden Gebieten.18 Antonio de Torquemadas Dialog Jardín de flores curiosas (1570) ist an einem Schnittpunkt anzusiedeln – zwischen pragmatischer Diskursivierung des Wissens, die beispielsweise geographische Kenntnisse im Kontext zeitgenössischer Handelsbeziehungen oder im Dienste machtpolitischer Strategien betrachtet, und historiographischer bzw. landeskundlicher Erschließung (nach Darstellungen wie der Abhandlung De gentibus septentrionalibus von Olaus Magnus von 1555) einerseits sowie poetischer Gestaltung (auf der Grundlage sowohl dieser als auch weiterer gelehrter Quellen wie der Schriften des Johannes Magnus oder der mittelalterlichen, 1534 gedruckten Historia Danica des Saxo Grammaticus oder fiktionaler Texte wie Ariosts Orlando furioso,19 1516-1532) andererseits. Das erste der insgesamt sechs Bücher und vor allem aber der letzte Teil des fünften Buches und das sechste Buch tragen

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So lautete auch die Fragestellung eines Romanistischen Kolloquiums in Würzburg im Jahre 2002, dessen Tagungsband eine Reihe von Themen behandelte, die für den skizzierten Zusammenhang relevant sind: Gerhard Penzkofer/Wolfgang Matzat (Hgg.): Der Prozeß der Imagination. Magie und Empirie in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit. (Beihefte zur Iberoromania 21) Tübingen 2005. Der abschließende Sammelband des Graduiertenkollegs Imaginatio borealis an der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel (Dennis Hormuth/Maike Schmidt [Hgg.]: Norden und Nördlichkeit. Darstellungen vom Eigenen und Fremden. [Imaginatio Borealis. Bilder des Nordens 21] Frankfurt a.M. 2010) zeigt Voraussetzungen und Praktiken des Wissens um den Norden in den Geisteswissenschaften auf. Vgl. Manuela Boccignone: Der Norden ist die äußerste Grenze, der Norden ist jenseits der Alpen. Poetische Bilder des Nordens von Petrarca bis Tasso. (Schriften zur Literaturwissenschaft 23) Berlin 2004, S. 63-89. Zur Überlagerung solcher Modelle und zu deren poetischer Produktivität in Cervantes’ septentrionalem Liebes- und Abenteuerroman Los trabajos de Persiles y Sigismunda (1617) vgl. meinen Beitrag: L’Europe entre le Même et l’Autre. La connaissance des Nouveaux Mondes au XVIe siècle dans la littérature espagnole. In: Parole de l’Autre et genres littéraires, XVIe-XVIIe siècles. Hg. von Pierre Servet und Marie-Hélène Prat-Servet. (Cahiers du Gadges 5) Lyon 2007, S. 55-74.

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sowohl sachliche Informationen als auch legendenhafte Geschichten über den europäischen Norden zusammen.20 Für Antonio de Torquemada ist das Nebeneinander solch unterschiedlicher Modelle des Wissens zwischen Empirie und Imagination charakteristisch. Einerseits werden topographische Besonderheiten wenig differenziert als Orte der Wildheit charakterisiert und dem Leser klimatische Gegebenheiten anhand von Stereotypen nahe gebracht (kalt, rau, monatelang anhaltende Dunkelheit oder immerwährendes Tageslicht), wobei befremdliche Sitten und Gebräuche der Einwohner sowie Auffälligkeiten in der Tier- und Pflanzenwelt besonderes Interesse hervorrufen. Demgegenüber wird andererseits ein Wissensmodell zur Schau gestellt, das auf Gelehrsamkeit und der Autorität der Quellen gründet, erworben durch das Ansehen des Verfassers oder durch persönlich angeeignete Kenntnisse, wobei das Berichtete, insbesondere aber Abweichungen von den Naturgesetzen auf rationale Angemessenheit hin überprüft werden. Auch wenn die Vermittlungsform bei Antonio de Torquemada zu einer enzyklopädischen Wissensaneignung tendiert, mittels derer überaus Disparates zusammengestellt werden kann, spielt die Validierung der Aussagen eine entscheidende Rolle, insbesondere dann, wenn die Ausführungen wenig glaubwürdig anmuten, weil sie bizarre und ungewöhnliche novedades zum Gegenstand haben. In diesem Zusammenhang erhält die Wahl der Dialogform zur Vermittlung eines derart disparaten Wissensbestandes eine strukturell eminente Bedeutung, weil die Gesprächspartner den Beglaubigungsnachweis des Seltenen, Sonderbaren oder Außergewöhnlichen einfordern bzw. ihrerseits liefern können. Der Dialog erlaubt zudem die Kontrastierung verschiedener Wissensoptionen und eine ausdrückliche Diskussion des Wahrheitsstatus der Aussagen, was zweifelsohne Ausdruck von Antonio de Torquemadas problemorientiertem Gegenwartsbewusstsein ist. Der Prolog geht von einer nie zuvor gekannten Ausweitung des Wissensrahmens und der Welterkenntnis als Epochenkennzeichen aus: Es tan poderosa la Naturaleza y tan varia en sus cosas, y el mundo tan grande, que cada día vienen a nuestra noticia muchas novedades, de las quales V.S.R., como prudentíssimo, no se maravillará; y aunque o todas o las más avrá oýdo y leýdo, holgará de ver recopiladas aquí algunas dellas, con otras materias curiosas y peregrinas.21

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So heißt es in der Tabla de los colloquios: „El primero Tratado es de aquellas cosas que la Naturaleza ha hecho y haze en los hombres fuera de la natural y común orden […]. El quinto trata de las tierras septentrionales […], y cómo les nasce y se les pone el sol y la luna differentemente que a nosotros, con otras cosas nuevas y curiosas. El sexto trata de muchas cosas admirables que ay en las tierras del Septentrión, de que en éstas no se tiene noticia“ (Torquemada: Jardín [wie Anm. 7], S. 501). Ebd., S. 504.

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Da mit dem Werk gerade die Divulgation solcher Prodigia und Mirabilia22 sowie die Vermittlung landeskundlicher Kenntnisse über neu erschlossene Räume intendiert wird – in der Nachfolge und vielleicht als konsequente Weiterführung des Kuriositätenkabinetts, das Pe(d)ro Mexía 1540 in der Silva de varia lección vorgelegt hatte23 –, erlaubt der Dialog eine bewusste Konfiguration der Gesprächspartner,24 deren unterschiedliche Positionen folgendermaßen skizziert werden könnten: Während Bernardo, der discreto, als Träger der curiositas – im Sinne von Wissbegierde – fungiert und Luys als Zweifler bzw. als keineswegs naiver Zuhörer das Gespräch in Gang hält, gilt Antonio, der den größten Teil der Redepartien übernimmt, mit seiner Gelehrsamkeit als auctoritas. Daraus geht zwar schon hervor, dass Antonios Gelehrsamkeit als Fundament des vermittelten Wissensbestandes gilt, auch wenn er keineswegs blind den Büchern vertraut (z. B. achtet er bei den Verfassern der Quellen darauf, dass sie aus eigener Anschauung, möglichst als Augenzeugen berichten).25 Doch dies macht nicht weniger deutlich, dass die Gesprächspartner von der hohen Qualität ihres Wissens überzeugt sind.26 Da die Validierung des Wissens nicht immer möglich ist, bleibt der Zweifel legitim und die Autorität Gottes unangetastet, der die Natur seiner Ratio und seinem Willen gemäß erschuf (übrigens, so heißt es, sei die Natur ohnehin nicht einmal annähernd zu ergründen, da kein noch so großer Wissensdrang sie vollständig entziffern könne). Das Übernatürliche bleibt weitgehend auf Wunder beschränkt.27 Insgesamt ist bei den Prodigia allerdings durchaus Zurückhaltung geboten, und im Laufe des Textes offenbaren sich zudem zahlreiche Leerstellen im Wissen. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, diese Aspekte anhand einiger weniger Stellen aus dem Jardín de flores curiosas zu analysieren, an denen Wunderbares und Magisches vorgeführt, zugleich aber auch problematisiert wird.28 Dabei kommen immer wieder Wissensfragen in Verbindung mit der Vermittlungsproblematik zur Sprache. Ich beginne mit der Beschreibung eines Gebietes im Nordwesten Russlands, das __________ 22

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Vgl. den von Ignacio Arellano Ayuso herausgegebenen Tagungsband: Loca ficta. Los espacios de la maravilla en la Edad Media y Siglo de Oro. (Biblioteca áurea hispánica 26) Madrid/Frankfurt a.M. 2003 (vgl. insb. die Beiträge von Christoph Stosetzki und Díaz de Revenga). Asunción Rallo Gruss: Maravilla y erudición en el humanismo español. El Jardín de flores curiosas de Antonio de Torquemada. In: La maravilla escrita. Antonio de Torquemada y el Siglo de Oro. Hg. von Juan Matas Caballero und José Manuel Trabado Cabado. León 2005, S. 111174. Zur Kommunikationssituation im Dialog vgl. Bernd Häsner: Leonardo Brunis Dialogus ad Petrum Paulum Histrum. Darstellung und Selbstkonstruktion einer humanistischen Kommunikationskultur. In: Hempfer: Möglichkeiten (wie Anm. 4), S. 115-162. Vgl. Rallo Gruss: Maravilla (wie Anm. 23), S. 118. Ebd., S. 146-149. Ebd., S. 126. Der Doyen der spanischen Anthropologie, Julio Caro Baroja, hat ein interessantes Porträt des Phantastischen – auch unter Berücksichtigung der descriptio borealis – vorgelegt: Jardín de flores raras. Barcelona 1993, S. 125-144.

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Biarmia genannt wird und das in etwa der heutigen Halbinsel Kola entspricht (insb. S. 827-831). Diese Passage gibt Aufschluss darüber, in welchem Maße konkurrierende Wissensmodelle bei der descriptio borealis im Jardín de flores curiosas wirksam sind und wie sie verhandelt werden. Die Autorität herkömmlicher kosmographischer Schilderungen wird bereits in der Einführung des Themas mit dem Verweis auf die zeitgenössische Gelehrsamkeit („autores muy modernos“, S. 826) desavouiert. Um seit der Antike etabliertes geographisches Wissen zu korrigieren, wird die Augenzeugenschaft von Reisenden ins Feld geführt, unter ihnen Sigismund von Herberstein, einem Gesandten der habsburgischen Krone in Moskau, der zwei ausgedehnte Russland-Reisen unternahm (1516-1518 sowie 15261527) und die Rerum Moscoviticarum Commentarii verfasste, und Jakob Ziegler, dem Verfasser einer Skandinavien-Karte (Schondia) aus dem Jahr 1532. Diesen Gewährsmännern zufolge seien etwa die sogenannten Montes Rifeos und die sogenannten Montes Hiperbóreos gar nicht in Biarmia zu situieren (wie etwa die antiken Autoren Solinus und Pomponius Mela behaupten), denn Biarmia weise kaum Erhebungen auf. Eine grundsätzliche Unzuverlässigkeit ergibt sich hier aus offenkundigen Widersprüchen: Der legendäre, bereits bei Homer als paradiesisch gepriesene Lebensraum der Hyperboreer werde von den antiken Geographen fälschlicherweise in das sogenannte Hohe Biarmia (d. h. in Biarmias Norden) verlagert, doch jene Provinz des damaligen Moskauer Staates, den Torquemada als Moscobia bezeichnet, sei schließlich, so einer der Gesprächsteilnehmer, „tierra de cristianos“ – und daher nicht so unzugänglich, wie angenommen (S. 827) –, was auch auf weitere „tierras debajo del Polo Ártico y a su alrededor“ (etwa Biarmia, Finmarchia und Escrifinia) zutreffe. In Anbetracht der Demontage antiken Wissens („los […] antiguos“, S. 827, wobei sogar Plinius d. Ä. in Frage gestellt wird) bleibt indes die Frage: Welches sind die modernen auctoritates, die Glaubwürdigkeit beanspruchen dürfen? Torquemadas Antwort lautet: „Joan Magno Goto y Alberto Cranzio, alemán, Joan Saxo de Dacia, Mochovita Polonio, y mejor que todos Olao Magno, Arçobispo upsalense“ (S. 828). Olaus Magnus, „der Bedeutendste von allen“, wurde 1490 in Schweden geboren, und strebte noch als Bischof von Uppsala nach der Reformation im römischen Exil (wo er 1557 starb) eine kulturelle Aufwertung der östlichen Anrainergebiete innerhalb des katholischen Europa an. Für die Region des Mare Balticum über Skandinavien bis hin zum Polarkreis genießt er als gebürtiger Schwede und als privilegierter Augenzeuge („testigo de vista“, S. 836) außerordentliches Ansehen bei Torquemada.29

__________ 29

Maike Sach: Andere, fremde Nordländer. Die Darstellung von Russen auf der Carta Marina und in der Historia de gentibus septentrionalibus des Schweden Olaus Magnus. In: Hormuth/Schmidt: Norden (wie Anm. 18), S. 41-72.

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Doch auch das Wissen eines Olaus Magnus hat seine Grenzen,30 und so muss der Wortführer Antonio bei der Frage nach den Hyperboreern kapitulieren: „hasta agora no se ha podido saber ni entender más“ (S. 836). Ob die antiken Gelehrten und Dichter recht hatten, weil die zeitgenössischen Experten die Existenz der Hyperboreer nicht leugnen – wie der kluge Bernardo anmerkt –, muss für Antonio offen bleiben („Todo puede ser possible“, S. 838). Für unseren Zusammenhang entscheidend ist dann seine Hinwendung zu den Lebensformen der Menschen, deren Tagesablauf im Sommer wie auch im Winter technischen Entwicklungen Vorschub leistet. Der Gebrauch von Schneeschuhen oder der Einsatz künstlicher Lichtquellen, die bei der Bewältigung des Alltags unter widrigen Naturverhältnissen unerlässlich sind, werden als eigenständige kulturelle Praktiken erfasst; insbesondere weist der Verfasser auf den offenbar unerwarteten Gebrauch der Ratio hin und erwähnt Disziplin und Organisation, die auch bei diesen Menschen das Zusammenleben regeln: Pues naturaleza dotó a esas gentes del uso de la razón, creed que buscarán sus formas y maneras para hallar las cosas que fueren necessarias para sustentar la vida humana; y por ventura tendrán mayor astucia y diligencia en ello de la que nosotros pensamos; y no les faltará discreción para repartir el tiempo y saber aprovecharlo, comiendo a sus oras ciertas y durmiendo de la mesma manera. Tendrán entre sí sus leyes y ordenanças harán también sus ayuntamientos y confederaciones. (S. 838)

Eine solche Aussage ist besonders bemerkenswert, da den „pueblos septentrionales“ (S. 843) in der Renaissance eine besondere Neigung zu Zauberei und Aberglauben nachgesagt wurde, so dass der Norden Kontinentaleuropas zum Raum des Wunderbaren schlechthin stilisiert werden konnte. Die Spezifizität der gesellschaftlichen Organisation und die kulturelle Unterschiedlichkeit des Nordens (hier bezogen auf die baja Biarmia, Niederbiarmien, aber wohl auch für andere Provinzen des russischen Reiches gültig) werden hier aber selbstverständlich zugestanden. Wir können also bereits festhalten, dass bei Antonio de Torquemada der Norden nicht nur als empirischer Raum im Sinne der Kosmographen und Geographen, sondern auch als gesellschaftlicher Raum aufgefasst wird. Es handelt sich um Heteroimagines, die in Relation zum eigenen Raum gesetzt werden und die durch die Autorität zeitgenössischer Kenner und Reisender, also vorzugweise durch die authentische Erfahrung anderer, beglaubigt werden, wobei antike und mittelalterliche auctoritates konsequent überprüft werden. Antonio de Torque__________ 30

In diesem Sinne wird gelegentlich auf Widersprüche bei Olaus Magnus hingewiesen, etwa wenn Antonio Luys’ Zweifel („mi dubda“, S. 835) an der Situierung Biarmiens in De gentibus septentrionalibus („hallarse a ochenta y seys grados cerca de la altura del Polo Àrtico“) bestätigt: „LUYS: No sé yo cómo puede ser esso, pues dezís que no trata de haber visto ni llegado a las provincias de Biarmia, que, según la cuenta que avéys dicho que hazen los cosmógraphos de los grados, quando llegan a los ochenta, están ya cerca de donde el año se reparte en un día y una noche. ANTONIO: Razón tenéys de dudar, que también yo avía mirado en ello; y lo que me parece es que él cuenta los grados differentemente, o que la letra deve estar errada“ (Torquemada: Jardín [wie Anm. 7], S. 838f.).

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madas Wissensmodell lässt die mythischen und vorrationalen Stufen des Wissens hinter sich und strebt zugleich – besonders im Falle libresker Überlieferung – die Validierung des Außergewöhnlichen und Wunderbaren an, wofür Biarmia (ein Ort mit einer ungewöhnlich hohen Anzahl unbekannter Dinge, „tierra llena de tantas novedades“, S. 830) als herausragendes Beispiel dient.31 Ein symptomatischer Beleg dafür, wie vorsichtig die Frage nach dem Status magischen Wissens bei den Nordländern angegangen wird – symptomatisch, weil sich darin die Problematik einer vielschichtigen Wissensarchäologie niederschlägt –, ist die mehrfache Thematisierung der Provinz der Neuros, wo während der Sommermonate, so die antike Überlieferung, Menschen zu Wölfen mutieren. Der Wortführer Antonio gibt hierbei zu bedenken, dass die magischen Künste dortiger Zauberer aus alten Zeiten („hechizeros o encantadores“, S. 827) der Grund für die Verbreitung derartiger Nachrichten gewesen sein könnte. Diese dürften allerdings heute keinen Glauben mehr beanspruchen, weil dies „contra toda razón de naturaleza“ (S. 827) und „fuera de su orden natural“ (S. 828) sei. Doch Antonio beschränkt sich nicht auf die Ablehnung antiken Wissens. Er führt vielmehr eine Erklärungsgrundlage für jene Legende der Neuros an, indem er auf Zusammenkünfte von Zauberern hinweist, die sich als Wölfe verkleidet hätten – eine Tatsache, die moderne autores bestätigten: Si algún fundamento de verdad pudo tener, es por lo que todos los autores modernos affirman: que, como en estas provincias ay tantos encantadores y hechizeros, tienen sus tiempos determinados en que se juntan y hazen sus congregaciones, y para esto todos toman las figuras de lobos. (S. 867)

Dann allerdings wird Antonio rückfällig. An einzelnen Tagen, so räumt er ein, finde zweifelsfrei eine Verwandlung statt („esta diabólica gente se transfigura“, S. 868; „no ay que dudar de que hagan esta transfiguración“, ebd.), und zwar aufgrund dämonischer Einwirkung („tienen algún concierto o pacto con el demonio“, S. 867f.). Wie lässt sich diese Kehrtwendung erklären? Zum einen war Magie, sei sie nun dämonologisch oder naturwissenschaftlich legitimiert,32 als wirklichkeitskonforme Wissensform in der Renaissance weithin akzeptiert, und zwar unbeschadet des Fortschritts der Naturwissenschaften und der Technik,33 durch welchen magisches Wissen immer mehr als Sache

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Als Indikator hierfür ist die Diskussion um den Besitz magischen Wissens in „todos los de las provincias de Biarmia, Scriphinia y Finmarchia y otras que están junto a ellas, según la fama común del mundo exercitan esta arte de nigromancia, principalmente los de Finlandia y Laponia“ (ebd., S. 851) besonders aufschlussreich. Vgl. Eugenio Garin: Magia ed astrologia nella cultura del Rinascimento (zuerst 1950), und Considerazioni sulla magia del Rinascimento (zuerst 1953). In: ders.: Medioevo e Rinascimento. Studi e ricerche. 3. Aufl. Bari 1980, S. 141-178. Vgl. José Antonio Maravall: Antiguos y Modernos. Visión de la historia e idea del progreso hasta el Renacimiento. 2. Aufl. (Alianza Universidad 458) Madrid 1986, S. 455-476 und S. 551-575.

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der Ungebildeten (vulgo) abgetan wurde.34 Zudem führt Antonio weitere Elemente für eine rationale Plausibilisierung an. Er erwähnt, dass auch auf der iberischen Halbinsel Fälle einer solchen Transformation vom Menschen zum Tier bekannt seien und verweist auf die Werwölfe im nordwestlichen Galicien (S. 870)35 und auf jene beiden Affenmenschen, die – wie sein Dialogpartner Luys zu berichten weiß – aus der widernatürlichen Verbindung einer Portugiesin mit einem Affen hervorgegangen seien (S. 590f.). Und in Galicien kenne man überdies das Geschlecht der mariños, die sich als Nachkommen einer Meeresgottheit ausgeben („que descienden de uno de estos tritones o pescados que dezimos“, S. 585).36 Derartige Verwandlungen und Beispiele von hybriden Wesen knüpfen zweifelsohne an eine reiche Tradition innerhalb des europäischen Volksmärchen- und Legendenschatzes an, in die sich auch die Gründungslegende des dänischen Königshauses einreiht, das der Verbindung eines Bären mit einer jungen Schwedin entstammen soll. Von dieser Gründungslegende berichtet Antonio am ersten Gesprächstag, nicht ohne dabei auf seine Quelle – Johannes Magnus’ Historia de omnibus Gothorum et Sveorum regibus von 1554 – zu verweisen (S. 588-590). Das Urteil über die Glaubwürdigkeit beider Geschichten wird letztlich in der Schwebe gehalten, denn Antonio beruft sich auf die Autorität seiner Quelle, die das Prodigium als Ausnahme von den Naturgesetzen zulässt. Luys hingegen schwankt von Fall zu Fall. Einerseits widerspricht er Antonios vertrauenswürdiger Quelle nicht („Por cierto la historia paresce ser fabulosa para que auctores tan graves la affirmen por verdadera, pero bien podemos creerla [...]“, S. 590), andererseits akzeptiert er die Geschichte über die Genealogie der mariños keineswegs – und zwar unter Rückgriff sowohl auf theologische als auch auf wissenschaftliche Argumente („Una cosa me paresce a mí que ay de por medio para tenerlo por fábula antes que para darle crédito, y es que ya que la naturaleza diera lugar a que de un ayuntamiento como ésse se engendrara alguna cosa, que fuera algún monstruo, y no hombre racional, como dezís que lo fue“, S. 585). Die Achtung vor der Quelle ist also eine idée fixe der Gesprächspartner; gleichwohl hindert sie dieser Respekt nicht daran, letztlich doch einen skeptischen Abstand zu wahren, wie Antonio zu erkennen gibt:

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Vgl. Juan Huarte de San Juan: Examen de los ingenios [1. Aufl. 1575]. Hg. von Guillermo Serés. Barcelona 1989, S. 337. Vgl. Luis Sánchez Laílla: Mecanismos de verosimilitud en Cervantes y Torquemada (a propósito de licántropos). In: Salina: Revista de lletres 17 (2003), S. 83-88; Näheres zum Wahrscheinlichkeitskonzept bei Díez Fernández bei José Ignacio: Veracidad y verosimilitud en los Siglos de Oro. El Jardín de flores curiosas de Antonio Torquemada. In: Nociones de literatura. Hg. von José Antonio Hernández Guerrero. Cádiz 1995, S. 147-158. Hier geht es um die Tritonen, die mit den Nereiden der antiken Mythologie verwandt sind und die Olaus Magnus ins Nordmeer bei Norwegen versetzt hatte (Kap. XXI) – wie übrigens im Anschluss daran auch Antonio de Torquemada (Jardín [wie Anm. 7], S. 583).

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Javier Gómez-Montero Yo no affirmo estas cosas por tan verdaderas que tenga por peccado el no creerlas, pero, en fin, dízelas un hombre tan grave y que escrivió tan bien y verdaderamente todo lo demás que paresce que se le haría agravio si en esto se le dexasse de dar crédito. (S. 557)

Die unterschiedliche Positionierung der Gesprächspartner öffnet also einen weiten Raum für den Austausch kontroverser Argumente und für die voneinander abweichenden Bewertungen von Einzelfällen. Die geographische und zeitliche Nähe vergleichbarer Begebenheiten helfen den Gesprächsteilnehmern dabei, unglaubwürdige Ereignisse, die sich im weit entfernten Norden zugetragen haben sollen, zu validieren. Bemerkenswert ist zudem, dass unter Berücksichtigung des Fiktionsrahmens, in den das Gespräch eingebettet ist, das Thema ‚Gens septentrionalis und magisches Wissen‘ an drei verschiedenen Tagen zur Sprache kommt und somit als besonders brisant gelten muss.37 Antonio versucht immer wieder, Legenden und Wirklichkeit des Nordens bzw. Mythos und geschichtliches Ereignis in Relation zu setzen. Zwar verwirft er tradiertes Volkswissen, Aberglauben und Vorurteile, wie beispielsweise die pauschale Begründung der Propheten Jesaja (14,13) und Zacharias (2,6), der zufolge sich der Teufel in der nördlichen Hemisphäre häufiger zeige als in anderen Zonen (so heißt es in einer Randglosse auf S. 850: „se muestran los demonios más que en otras“, bzw. im Text: „el demonio está más suelto y tiene mayor libertad que en otras partes“);38 gleichwohl führt er aber zahlreiche Beispiele wunderbarer Begebenheiten und magischer Praktiken von Hexen, Zauberern und Nigromanten an, die er dort verortet.39 Diese vorsichtige Unentschiedenheit offenbart eine grundlegende Schwierigkeit, die als „confusión“ bezeichnet wird: BERNARDO.- Dexemos esto, porque nos embaraçamos, y el señor Antonio prosiga lo començado de los pueblos septentrionales, que no es materia para que la embaracemos con otra ninguna. ANTONIO.- Bien sería si yo estuviesse tan instructo en ella que pudiesse tratarla tan particularmente como se requiere, y aunque la culpa sea de lo poco que yo sé y entiendo,

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Das Erzählmuster hat nie an Beliebtheit eingebüßt, und Bärenmenschen und Werwölfe finden sich allerorten in der europäischen Folklore. Insbesondere der conte fantastique im 19. Jahrhundert griff das Thema wieder auf, etwa in der Erzählung Lokis von Prosper Mérimée, in der die Bärennatur eines litauischen Grafen dessen russischer Braut in der Hochzeitsnacht zum Verhängnis wird. „Essas auctoridades tienen tantas interpretaciones y applícanse por tantas causas que bien podremos dezir que se dixeren por la que vos dezís“ (Torquemada: Jardín [wie Anm. 7], S. 851). Demzufolge, so wäre zu schließen, genießt das Alte Testament keine uneingeschränkte Autorität in Hinblick auf die kulturellen Praktiken der Völker und bei der empirisch-geographischen bzw. naturwissenschaftlichen Welterschließung. Ich muss in diesem Rahmen auf weitere Ausführungen verzichten, z. B. über Zauberer, die gegen Bezahlung Stürme entfachen (ebd., S. 851) und die bei Olaus Magnus, Kap. XVIII, eindrucksvoll in einem Holzschnitt dargestellt werden, oder über Hinweise, wie Städte mit Zaubermitteln (encantamientos, ebd., S. 831) verteidigt werden können.

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tampoco quiero dezir que la tengo toda, porque la gran confusión de los autores que la escriven y tratan, ansí antiguos como modernos, me hará que yo también baya confuso, como ya ayer la entendistes. (S. 843)

Es bleibt festzuhalten, dass Antonio de Torquemada mit kritisch begründeter Gelehrsamkeit mythisches Wissen überwindet und gleichzeitig das sich auf das Prinzip einer auctoritas berufende Wissensmodell problematisiert, denn selbst die auctoritates – antike ebenso wie moderne Gelehrte – geraten miteinander in Konflikt und lassen den Gesprächsteilnehmer Antonio in einer desolaten Verwirrung zurück. Dennoch deutet die Privilegierung einer starken Instanz der Wissensvermittlung, als deren Sprachrohr Antonio fungiert (was eine verbreitete Akzeptanz des formulierten Wissens impliziert), auf die Fortführung einer akademischen Diskussionspraxis hin. Epistemologisch ist indes die Konkurrenz von magischem und empirisch-rationalem Wissen interessant, das heißt sowohl die Akzeptanz von Wunderbarem als auch von tradiertem Wissen und verifizierter Erkenntnis. Je unerschlossener das Gebiet, je geringer die Informationen der Reisenden und je unzuverlässiger die Quellen der Kosmographen und Historiker sind, desto mehr verfällt die Darstellung dem Mythischen und Wunderbaren. In der Summe definiert sich Biarmia in Antonio de Torquemadas Jardín de flores curiosas als kultureller Raum voller Ambivalenzen; Torquemada entzaubert den Orbis septentrionalis und versucht gleichwohl, einige für Südeuropäer exotisch anmutende Eigenarten sowie fremde Lebensweisen verständlich zu machen. Infolgedessen kann der Dialog nicht den Anspruch auf lückenlose, stets zuverlässige Dokumentation erheben, und das hat eben auch mit der Wahl der Dialogform zu tun. Aber was leistet der Text? Er verbannt jedwede Form von Allegorisierung, verzichtet auf Komplexitätsreduktion, indem er Paradoxa festhält, und gewährt dem Polyperspektivismus Einlass. Häsner definiert diese Kriterien als typisch für den rinascimentalen Dialog, der sich dadurch von der monologischen Traktatform unterscheidet.40 Hinzu kommt der poetische Status des Textes, der Spielräume für eine unterhaltsame Darstellung von unbekannten, merkwürdigen und erstaunlichen Dingen eröffnet, so dass die admiratio letztlich ein wichtigeres Kriterium für die Wahl des Stoffes ist als die Glaubwürdigkeit des Erzählten. Hinsichtlich der Inszenierung einer Kommunikationssituation stellt sich die Frage nach den Bedingungen der Vermittlung, die beim rinascimentalen Dialog besonders relevant sind, denn eine Untersuchung der Diskursivierung subjektiven Wissens und ihrer (literarischen) Repräsentationsmodi in der Renaissance muss der Herausbildung eines individuellen Bewusstseins Rechnung tragen, das in der literarischen Fiktion aufscheint. Dabei ist die Rolle der Erzählerfigur oder des Vermittlers von Wissen ebenso zu berücksichtigen wie die in den Text eingearbeiteten Fiktionalitätssignale. Die Polyphonie der Sprecher und Erzählstimmen ist der Ausweis eines spielerischen Vermittlungskonzepts unter Rückgriff auf die Fiktion, wobei die verhandelten, unterschiedlich angeleg__________ 40

Häsner: Kommunikationskultur (wie Anm. 24), S. 115.

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ten Wirklichkeitsbilder miteinander in Konflikt geraten können, sich bisweilen sogar auszuschließen scheinen und letztlich doch in einer perspektivischen Repräsentationsstruktur verbunden bleiben. So erhält der Text eine Dichte, die den Verlust metaphysischer Garantien kompensiert und das Konfliktpotential aktiviert, das in der Auffassung von der Natur als ratio divina einerseits und der Unzulänglichkeit einer auf Erfahrung oder praktischem Wissen begründeten Garantie andererseits besteht. Die erkenntnispragmatische Geltung des eigenen Bewusstseins bleibt freilich noch ungeklärt. Diese knappen Hinweise sollen genügen, um die Komplexität des im Jardín de flores curiosas ausgebreiteten Wissensmodells festzuhalten, das zwar eigene Erfahrung und rationale Überprüfung als Mittel der Selbstvergewisserung anerkennt, sich aber in Ermangelung endgültiger Validierung auf Autoritäten stützen muss. Dennoch gilt gelehrtes Wissen nicht als Passepartout, vielmehr erfordert der Umgang mit ihm Vorsicht und ein sehr differenziertes Urteilsvermögen.

3. Von der Welt- zur Selbsterfahrung: Selbstfindung in Konstantinopel (zur Viaje de Turquía) Im letzten Abschnitt soll in der gebotenen Kürze auf einen zweiten spanischen Renaissance-Dialog eingegangen werden, in dem im Zusammenhang mit der Erschließung fremder Räume eine narrative Selbstkonstitution des Protagonisten erfolgt. Die anonyme Viaje de Turquía (1557)41 enthält den dialogisierten Erzählbericht eines am 4. August 1553 auf dem Mittelmeer gefangen genommenen Christen, der in der Folge nach Konstantinopel verbracht wird, wo er sich als Arzt ausgibt. Unter Rückgriff auf die erzählerischen Mittel einer fiktiven Autobiographie erklärt der Protagonist und Erzähler, dem der Autor den folkloristischen Namen Pedro de Urdemalas gibt,42 seine Bewegungsfreiheit genutzt zu haben, um die multikulturelle Weltstadt unter Suleyman dem Prächtigen kennenzulernen und zu beschreiben. Nach zwei Jahren gelingt ihm die __________ 41

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Zwei Textausgaben stehen zur Verfügung: Viaje de Turquía. La odisea de Pedro de Urdemalas. Hg. von Fernando García Salinero. 4. Aufl. (Letras hispánicas 116) Madrid 1995, sowie Viaje de Turquía. Diálogo entre Pedro de Hurdimalas y Juan de Voto a Dios y Mátalas Callando. Hg. von Marie-Sol Ortolá. (Nueva biblioteca de erudición y crítica 16) Madrid 2000. Nach der ersten wird zitiert, auch wenn Ana Vian Herrero ausgeführt hat (Los manuscritos del Viaje de Turquía. Notas para una edición crítica del texto. In: Boletín de la Real Academia Española 68 [1998], S. 455496), dass García Salinero den ausführlichen Index bzw. die Tabla und die Turcarum Origo (Passagen, die von ihr und Florencio Sevilla herausgegeben wurden; vgl. Florencio Sevilla/Ana Vian Herrero: Para la lectura completa del Viaje de Turquía. Edición de la Tabla de materias y de la Turcarum Origo. In: Criticón 45 [1989], S. 5-70) unterschlägt. Marie-Sol Ortolá gab erst 2000 den vollständigen Text heraus. Zur Diskussion dieser Frage und zu weiteren kompositorischen Aspekten des Textes vgl. MarieSol Ortolá: Un estudio del Viaje de Turquía. Autobiografía o ficción. (Colección Támesis: Serie A, Monografías 87) London 1983.

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Flucht, die ihn nicht nur durch die Ägäis, sondern vor allem durch italienische und französische Städte führen wird, bis er – als Jakobspilger verkleidet – an den Toren einer nordkastilischen Stadt zwei Jugendfreunde aus Alcalá de Henares trifft, denen er zwei Tage lang von seiner abwechslungsreichen Abenteuerreise berichtet. Da ich mehrfach thematische, kompositorische, erzähltechnische und quellengeschichtliche Aspekte dieses in vielfacher Hinsicht wertvollen Zeugnisses humanistischer Erzählliteratur dargelegt habe,43 werde ich hier lediglich auf den Zusammenhang zwischen Weltaneignung und Selbstermächtigung eingehen. Der in diesem Werk vermittelte gelehrte Wissensbestand, der demjenigen des Jardín de flores curiosas trotz der veränderten geographischen Orientierung durchaus kommensurabel ist, wird hier einerseits im Medium der Selbsterfahrung vermittelt,44 andererseits verknüpft der Erzähler alles, was er über das Land, über Sitten und Gebräuche, über die soziale und institutionelle Organisation des osmanischen Reiches und seiner Hauptstadt zu berichten weiß, mit der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit – dazu gehört Ungewöhnliches und Erschreckendes, Nachahmenswertes und auch Fremdbleibendes. Über einen Ost-WestVergleich hinaus, der für die christlichen Nationen und deren soziale Institutionen häufig nicht eben vorteilhaft ausfällt, kommt es auf den Entwicklungsprozess, auf die innere Transformation des Helden zu einem homo novus, an, den die in der islamischen Türkei gewonnenen Erkenntnisse über sich selbst und die Welt auslösen. Im Medium der Selbstfiktionalisierung stilisiert der Erzähler sich und seinen Lebensweg zum Exempel. Dadurch, dass er sich selbst in einen historischen Raum begibt und in einer empirisch nachvollziehbaren Topographie agiert, gelingt es ihm, sein Bewusstsein im Spiegel literarischer Darstellung zu verräumlichen, indem er die bereisten Städte mustert und zu sich selbst in Beziehung setzt. Geradezu beeindruckend ist die Positivierung Konstantinopels als multikultureller Ort und Inbegriff sozialer Ordnung, religiöser Koexistenz und menschlichen Fortschritts: En resoluçión, mirando todas las qualidades que una buena çibdad tiene de tener, digo que, hecha comparaçión a Roma, Veneçia, Milán y Nápoles, París y León, no solamente es mala comparaçión compararla a éstas, pero parésçeme, vistas por mí todas las que nombradas tengo, que juntas en valor y grandeza, sitio y hermosura, tratos y probisión, no son tanto juntas, hechas una pella, como sola Constantinopla; y no hablo con pasión ni informado de sola una parte, sino oídas todas dos, digo lo que dicho tengo, y si las más particularidades os hubiese de dezir, había neçesidad de la vida de un hombre que sólo en eso se gastase. (S. 498)

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Javier Gómez-Montero: „Mi romería va por otros nortes...“. De la Peregrinatio al itinerarium urbis en el Viaje de Turquía. In: Zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Religion, Mythologie, Weltlichkeit in der spanischen Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit. Hg. von Wolfram Nitsch und Bernhard Teuber. (Hispanistisches Kolloquium 3) München 2008, S. 171-187, und ders.: Diálogo, autobiografía y paremia en la técnica narrativa del Viaje de Turquía. Aspectos de la influencia de Erasmo en la literatura española de ficción durante el siglo XVI. In: Rallo Gruss/Malpartida Tirado: Estudios (wie Anm. 8), S. 227-267. Interessanterweise kaschiert der Erzähler immer wieder die Bücherquellen seines Wissens, und die Forschung geht davon aus, dass der Autor nie in Konstantinopel war.

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Als pratiques d’espace45 stellen sowohl Pedros parcours durch Konstantinopel als auch seine spätere Flucht über Rom nach Santiago eine Irrfahrt dar, die allerdings zunehmend Sinn erhält und schließlich die symbolische Struktur einer säkularisierten Pilgerfahrt annimmt. Konstantinopel wird aufgrund seiner polyphonen sozialen Textur zum Modell für das christliche Europa. Die Stadt hat keinen poetischen, sondern einen historischen Status: Hafen und Bazar werden als pulsierendes Wirtschaftszentrum ebenso porträtiert wie die Straßen der Kleinhändler und Handwerker im Galata-Viertel, die Badehäuser und die Alltagswelt der Bewohner.46 Doch als Arzt hat Pedro auch Zugang zum Topkapi-Palast und sogar zum Harem, wo er die Tochter des Sultans behandelt und so wertvolle Kenntnisse über Verwaltung und Organisation des Staates gewinnt. Insofern liefert die Viaje de Turquía eine unterhaltsame und abwechslungsreiche Landeskunde des osmanischen Reiches, seiner Geschichte, Feste und Religionen. Die Zentrierung auf die Hauptstadt ist besonders signifikant, ebenso wie die Tatsache, dass gerade dort Pedros Transformation zum wahren Christen stattfindet, nachdem er sich auch unter Strafandrohung geweigert hatte, zum Islam zu konvertieren. Eine Entsprechung zwischen Mensch und Stadt zeichnet sich ab, denn in dem Maße, wie dort in Konstantinopel die Transformation des Raumes zu einem sozialen Ort realisiert wird, vollzieht sich Pedros Selbstfindungsprozess. Mehrfach kommentieren die Gesprächspartner diese Wandlung zum Besseren: MATA.- Agora digo que no es mucho que sepa tanto Pedro de Urdimalas, pues tanto ha peregrinado. En verdad que venís tan trocado, que dubdo si sois vos. Dos horas y más ha que estamos parlando y no se os ha soltado una palabra de las que solíais, sino todo sentencias llenas de philosofía y religión y themor de Dios. (S. 123)

Unmittelbar im Anschluss an die erste Begegnung nach Pedros Rückkehr aus Konstantinopel stellt der Dialogpartner Mátalas Callando also fest, dass sich Pedro in der Fremde ein humanistisch geprägtes Wissen angeeignet hat und seither ein Leben in Gottes__________ 45 46

Michel de Certeau: Pratiques d’espace. In: L’invention du quotidien. I. Arts de faire. Hg. von Michel de Certeau. Paris 1990, S. 139-191. „PEDRO.- En la ribera del Hellesponto (que es una canal de mar la qual corre desde el mar Grande, que es el Euxino, hasta el mar Egeo) está la çibdad de Constantinopla, y podríase aislar, porque la mesma canal haze un seno, que es el puerto de la çibdad, y dura de largo dos grandes leguas. Podéis estar seguros que en todo el mar Mediterráneo no hay tal puerto, que podrán caber dentro todas las naos y galeras y barcas que hoy hay en el mundo, y se puede cargar y descargar en la escala qualquier nabe sin barca ni nada, sino allegándose a tierra. La exçellentia mayor que este puerto tiene es que a la una parte tiene a Constantinopla y a la otra a Gálata. De ancho terná un tiro de arcabuz grande. No se puede ir por tierra de la una çibdad a la otra si no es rodeando quatro leguas; mas hay gran multitud de barquillas para pasar por una blanca o maravedí cada y quando que tubierdes a qué. Quasi toda la gente de mar, como son los arraezes y marineros, viben en Gálata, por respecto del tarazanal, que está allí, [...].“ (S. 485f.). Auch wenn die descriptio der Stadt mit einem Zitat der Cosmographia universalis des Sebastian Münster beginnt, wendet sich Pedro bald der Beschreibung von sozialen Stadträumen zu.

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furcht führt. Dementsprechend betont er zum Abschluss des ersten Gesprächstages, dass die erlittenen Mühen Pedros Äußeres ebenso wie sein Inneres verändert haben: MATA.- ¡Quántas fatigas, quántas tribulaçiones, quántos millones de martirios ha padesçido y quán emendado y otro de lo que solía ser, y gordo y bueno viene! (S. 378)

Andererseits bestätigt der zweite Gesprächsteilnehmer Juan de Voto a Dios ausdrücklich die Fülle an erworbenen Kenntnissen, die Sprachen, Länder, Menschen und Fachwissen betreffen, so dass Pedro zu einem kritischen Urteilsvermögen („juicio asentado“) gelangt und im Gespräch mit Gelehrten durchaus zu einem „buen philósopho“ avanciert sei. JUAN.- Tengo para mí que él biene muy docto en su facultad, porque no es posible menos un hombre que tenía la abilidad que acá vistes, aunque la empleaba mal, y que entiende tan bien las lenguas latina y griega, sin las demás que sabe, y buen filósopho, y el juicio asentado, y lo que más le haze al caso haver visto tantas diversidades de regiones, reinos, lenguajes, complexiones; conversado con quantos grandes letrados grandes hay de aquí a Hierusalem, que uno le daría este abiso, el otro el otro. (S. 378f.)

Rom hingegen verkörpert in der Viaje de Turquía die Hölle auf Erden: Ein korrupter Klerus, Ämterkauf und Kurtisanenwirtschaft sind dominante Motive, denen gegenüber die herrlichen Basiliken, die Prachtbauten und Denkmäler der Stadt – ebenfalls Gegenstände der descriptio urbis – verblassen. Einer der Gesprächspartner nimmt die Stadtsatire auf, indem er als Lieblingsbeschäftigungen der Römer Gelage, Trinkorgien und Hurerei nennt („banquetear y borrachear y rufianar“, S. 347). Diese Darstellung gipfelt in Pedros Bemerkung, dass nicht die Galeeren die Hölle seien, sondern Rom selbst: „Yo pensaba que la galera era el infierno abreviado pero mucho más semejante me paresçió Roma“ (S. 344). Unschwer lässt sich eine Degradierung der heiligen Stadt feststellen, vom caput mundi zur cauda mundi, wie Francisco Delicado in der Lozana andaluza formuliert. Pedro verlässt Rom, das anders als Konstantinopel keinen ausführlichen Kommentar verdient, nach nur fünfzehn Tagen: Vine en Roma, con propósito de holgarme allí medio año, y vila tan rebuelta que quinçe días me paresçió mucho, en los quales vi tanto como otro en seis años. (S. 341f.)

Der fingierte Pilger lässt die Pilgerstadt par excellence also links liegen und setzt sein itinerarium urbium fort. Er wandert weiter gen Westen, wahrscheinlich durch Burgos, Guipúzcoa, Alava und Vitoria, mit der Absicht, nach Beendigung des Gespräches geläutert in Santiago de Compostela einzutreffen. Jedenfalls zeitigt sein Bericht ungeahnte Wirkung, denn der dritte Gesprächspartner namens Juan de Voto a Dios, zu deutsch Johannes Gottesfromm oder „Gott ergeben“, kündigt an, sein Leben ändern und künftig gottgefällig handeln zu wollen („apartarme de mi mala vida pasada“, S. 502). Er war ein Wanderprediger, der Almosen eintrieb und als falscher Jerusalempilger Messen und Reliquien verkaufte, aber den dabei erwirtschafteten Ertrag für sich behielt. Juan ahmt also Pedro nach, dessen angelesener Wissensbestand über Länder und Menschen durch Selbsterfahrung überholt wurde. Wichtig ist dabei vor allem, dass Pedro de Urdemalas

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seine durch eigene Erlebnisse gewonnenen Kenntnisse über die Welt und die Menschen zuvorderst im Wissen über sich selber und über den Menschen an sich umsetzt, und so soll die Korrektur seines Lebenswandels nachhaltig bis zum Lebensende Gültigkeit bewahren: PEDRO.- Cada día del mundo natural tenemos veinticuatro horas de vida menos, y como en el estado que nos tomare la muerte según aquél ha de ser la mayor parte de nuestro juicio, parescióme que valía más la emienda tarde que nunca, y ésa fue la causa porque me determiné a dexar la ociosa y mala vida. (S. 123)

Auffällig ist dabei die Autonomie des Selbstwerdungsprozesses. Parallel zur Selbstsetzung menschlicher Erkenntnis hat sich die Welt von der Natur als ratio divina entfernt, und die Stadt wird zum Raum menschlicher Kultur und Zivilisation, in dem die ratio naturalis allerdings an Substanz einbüßt. Dies erklärt schließlich, dass zur moralischen Läuterung des Protagonisten auch eine kulturell ausgerichtete Vervollkommnung tritt, die neben dem Zugewinn an Wissen auch den Spracherwerb als Mehrwert der Reise deklariert, wie in der Dedicatoria an Philipp II. 1557, unmittelbar vor seiner Thronbesteigung zu lesen ist: Aquel insaçiable y desenfrenado deseo de saber y conosçer que natura puso en todos los hombres [...] no puede mejor executarse que con la peregrinaçión y ver de tierras estrañas, considerando en quánta angustia se enzierra el ánimo y entendimiento que está siempre en un lugar sin poder extenderse a especular la infinita grandeza deste mundo. (S. 87)

Zwischen peregrinatio und itinerarium urbium, zwischen sacrum und profanum spannt sich ein selbstbestimmter Selbstwerdungsprozess des Menschen, der an der religiösen Verwurzelung der conditio humana festhält, zugleich aber in die säkulare Geschichte menschlicher Gesellschaften hineinwächst. Zuletzt sei auf die Relevanz der Textkonstitutionsverfahren hingewiesen, die über weite Teile vom autobiographischen Erzählbericht bestimmt, aber auch vom Einschluss kommentierender Abschnitte, Anekdoten, Kuriositäten und Apophthegmata gelehrten Ursprungs geprägt werden. Auf den letzten Seiten des Dialogs wird es ausgerechnet der ‚bekehrte‘ Gesprächspartner Juan sein, der die Quintessenz von Pedros Erkenntnissen und des nunmehr von ihm verkörperten Menschenbildes auf den Punkt bringt, und zwar mit Hilfe dreier Apophthegmata, die er Erasmus’ 1549 in spanischer Übersetzung veröffentlichten Sammlung entnehmen konnte.47 Die drei Anekdoten sollen einen Ratschlag des Dichters Simonides an König Pausanias von Sparta illustrieren, der aufge__________ 47

Vgl. die spanische Übersetzung der 1533 von Erasmus zusammengestellten Sammlung der Apophthegmata Plutarchs durch Francisco Thamara (Desiderius Erasmus: Libro de Apothegmas que son dichos graciosos de muchos reyes y príncipes illustres, que algunos philoósophos insignes y memorables de otros varones antiguos que bien hablaron para nuestra doctrina y exemplo. Antwerpen 1549).

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fordert wurde, sich stets daran zu erinnern, dass er nur ein Mensch sei („aconsejarle que no olvide de que era un hombre“, S. 503): JUAN.- Por tema del sermón tomo el refrán del vulgo: que del predicador se ha de tomar lo que dize, y no lo que haze; y en recompensa de la buena obra que al prinçipio me hizistes de apartarme de mi mala vida pasada, quiero, representando la venidera, que hagáis tal fin quales prinçipios abéis llebado, y todo se hará fáçilmente menospreçiando los regalos de acá que son muy benenosos y inficionan más el alma que todas las prisiones y ramos de infieles. Puédese colegir de toda la pasada vida la obligaçión en que estáis de servir a Dios y que ningún pecado venial hay que no sea en bos mortal, pues para conosçerlos sólo vos bastáis por juez. Simónides, poeta, oyendo un día a Pausanias, rey de Laçedemonia, loarse quán prósperamente le habían susçedido todas las cosas, y como burlándose preguntó alguna cosa dicha sabiamente, aconsejóle que no se olvidase de que era hombre. Esta respuesta doy yo sin demandármela. Philippo, rey de Maçedonia, teniendo nueba de tres cosas que prósperamente le havían susçedido en un día, puestas las manos y mirando al çielo dixo: ¡Oh fortuna, págame tantas feliçidades con alguna pequeña desventura! no ignorando la grande invidia que la fortuna tiene de los buenos sucesos. Therámenes, uno de los treinta tiranos, habiendo sólo escapado quando se le hundió la casa con mucha gente, y teniéndole todos por beato, con gran clamor: ¡Oh fortuna! dize, ¿para quándo me guardas? No pasó mucho tiempo que no le matasen los otros tiranos. (S. 502f.)

Wie rasch zu erkennen ist, reichert Juan die Anekdoten mit zahlreichen Sentenzen berühmter Männer an (Philipp von Makedonien, Theramenes, Platon, Euripides und Paulus), was auf die Beliebtheit des Verfahrens zumindest in den romanischen Literaturen der Zeit schließen lässt. Einerseits vermengen sich Narration und Digression, Erzählbericht und reflektierender Kommentar dank der Möglichkeiten, die die Dialogstruktur zur gepflegten Konversation wie auch zur kontroversen Verhandlung von Disparatem bietet. Andererseits wird in diesem Text eine Form des Selbstbezugs deutlich, die dem Prozess der Selbstwerdung, also dem Lebensweg als individuell gelebter Zeit gerecht wird. In dieser Konstellation kulminiert indes die Selbstbehauptungskraft eines menschlichen Urteils, dessen Vermögen sich sowohl aus einem kritischen Umgang mit tradiertem, libreskem Wissen als auch aus dem Bedürfnis nach einem Sinnzusammenhang speist, der der Abfolge einzelner Erlebnisse unterlegt wird. Eine besondere Relevanz erhält hierbei die Tatsache, dass sich die Viaje de Turquía des narrativen Modells der Reise bedient, um die Konstitution eines individuellen Bewusstseins mittels neuer Erkenntnisse über die Gesellschaft in Orient und Okzident nachzuzeichnen, wobei durchgehend die Alltagswelt in den Blick gerät. Diese Kompositionsstruktur und die Gattungsform erlauben bei der Viaje de Turquía die lose Aneinanderreihung vielfältiger Exempla und Fabeln, digressiver Beobachtungen und Reflexionen, Kurzerzählungen und Anekdoten, Sprüche, Chreiai und Apophthegmata, Facezien und Witze, mittels derer sich ein Menschen- und Weltbild herausbildet, das keineswegs normativ, sondern empirisch und historisch Konturen gewinnt. Festgehalten sei schließlich, dass nicht nur für den Protagonisten Pedro, sondern auch für seinen Zuhörer Juan biographische Erfahrungen – der Königsweg für eine persön-

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liche renovatio, wie Pedro sie unter Beweis gestellt hat – die Grundlage zur Selbsttransformation in einen homo novus liefern. Somit gibt das Rahmengespräch die entscheidenden Antworten auf die brisanten Fragen, die der Dialog aufwirft und am Beispiel einer Episode aus Pedros vita eingehend behandelt. Dabei – und dies muss hervorgehoben werden – bleiben Himmel und Erde, Jenseits und Diesseits gleichermaßen im Fokus der Freunde, wie zum Abschluss der Gespräche des zweiten Tages betont wird: Kein Geschöpf wird sie von der Liebe und ihrer innigen Beziehung zu Gott trennen können („criatura ninguna nos podrá apartar del amor y afiçión que tengo a Dios“, S. 504). Mit dieser Ausrichtung bedingen Wissen und Form einander: Die écriture muss einen angemessenen Weg finden, nicht anders, als das Selbst sich im Zuge der Welterschließung formt. Das vorläufige Fazit: Sowohl im Sinne einer (pseudo)biographischen narratio als auch im Rahmen einer digressiven Erkenntnisermittlung bestätigt sich der rinascimentale Dialog als herausragendes Medium individueller Selbst- und Weltaneignung im literarischen Diskurs der Frühen Neuzeit.

Angelika C. Messner Regulierungswissen und Regulierungspraktiken im chinesischen 17. Jahrhundert

Die Reflexion des eigenen methodischen Ortes Vor dem Hintergrund zunehmender Globalisierung ist das Verhältnis von Raum und Kultur, das mit dem Aufkommen der Nationalstaaten eine – vielleicht nur vorübergehende – essentialistische Allianz eingegangen ist, neu zu denken. Im Zuge dessen bedürfen die so genannten Area Studies, deren Hauptaugenmerk per se auf territorial verorteten Kulturen lag, im akademischen Feld einer Neupositionierung, was nicht ohne Einbezug der so genannten Kernfächer geschehen kann. Area Studies umfassen neben Sinologie, Indologie und Afrikanistik u. a. auch Nordistik, Anglistik und Italianistik. Sie sind weniger im ,Eigenen‘ als vielmehr im ,Anderen‘ verortet: German Studies finden sich z. B. selten an deutschen Universitäten, wohl aber an nordamerikanischen und chinesischen. Europa Studien generieren sich gegenwärtig im Schlepptau der EU-Aktivitäten überall auf der Welt, und an ihrem Beispiel zeigen sich die Fallstricke des Weglassens partikularer empirischer Realitäten aus dem Studienrepertoire: Theoriebildung lässt sich nicht mehr ohne die Frage nach dem methodischen Ort1 bewerkstelligen. Neue Einsichten in die Verflechtungen mehrerer unterschiedlicher Wissenstraditionen sowie der „kontinuierlichen Verdichtung von ökonomischen und migratorischen Weltzusammenhängen“ in der Neuzeit2 verlangen den verstärkten Fokus auf Veränderung/en: Inmitten der Verflechtungsprozesse von Kulturen stellt sich das Wissen als grundsätzlich veränderlich heraus und es zeigt sich, dass mit der Bewegung von Wissen (von einem Ort zu einem anderen) dieses auch seine Inhalte und Gestalten verändert.3 __________ 1

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Shalini Randeira: Jenseits von Soziologie und soziokultureller Anthropologie. Zur Ortsbestimmung der nichtwestlichen Welt in einer zukünftigen Sozialtheorie. In: Soziale Welt 50 (1999), S. 373382. Jürgen Osterhammel (Hg.): Weltgeschichte. Stuttgart 2008, S. 9-32, hier: S. 19. Siehe auch: Anette Völker-Rasor (Hg.) mit einem Geleitwort von Winfried Schulze: Frühe Neuzeit. (Oldenbourg Geschichte Lehrbuch) München 2006, S. 69-106. Siehe in Bezug auf China und das 17. Jahrhundert Chu Pingyi 祝平一: Shenti, linghun yu tianzhu, mingmo qingchu xixue zhongde renti shengli zhishi 身體, 靈魂 與天主, 明末清初西學中的人體 生理知識. In: Xin Shixue 新史學 7 (1996), S. 47-98; Angelika C. Messner: Some Remarks on

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Angelika C. Messner

Gefragt ist dementsprechend nicht nur die Eruierung der Geltungsbedingungen von Begrifflichkeiten (,Wissen‘ und ,Wissenschaft‘, ,Expertise‘ und ,Fähigkeiten‘, ,Skills‘) in den unterschiedlichen Momenten der Beobachtung, sondern auch die detailgenaue Beschreibung historisch und kulturell verankerter empirischer Realitäten, ohne dabei in die Falle neuer geschlossener ,Kulturräume‘ zu treten. Dieses Spannungsverhältnis gewinnt an Bedeutung für die Generierung neuer Begrifflichkeiten in der Theoriebildung. Wenn in germano- und eurozentrischen Perspektiven auf die Vielfalt empirischer Realitäten methodische und theoretische Grundlagen von inner- und außereuropäischen Wissenstraditionen ausgeschlossen werden, so birgt dieser Ausschluss grundsätzliche methodologische Probleme für alle Fächer.4 Mit Blick auf die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte sind analog hierzu nicht mehr eine ‚Universale Erfindungsgeschichte großer Geister‘, sondern in praxeologischer Perspektive die Rekonstruktionen kleinteiliger Handlungen und Wissenspraktiken anvisiert. Fokussiert werden zunehmend Praktiken bzw. die materielle Kultur, der Umgang mit Dingen und Instrumentarien sowie deren Entwicklung und Veränderungen.5 Wissen und Handeln sind hier bereits im Verbund gesehen, mehr noch: weil beide als grundlegend im Materiellen verankert gedacht sind, ohne notwendig (textlich) expliziert zu sein, können Praktiken als aus inkorporierten Wissensreservoiren sinnhaft vollzogene und regulierte Körperbewegungen und als die eigentliche Grundlage des Kulturellen/Sozialen verstanden werden. Historische Untersuchungen sind grundsätzlich auf verschriftete bzw. unterschiedlich explizierte Diskurse verwiesen, die ihrerseits, wenn diese als soziale Praktiken (der Repräsentation etwa) begriffen werden, nicht als den materiell verankerten Praktiken __________

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Semantics and Epistemological Categories in early Scientific Translations. In: Monumenta Serica Journal of Oriental Studies 53 (2005), S. 429-459; Erhard Rosner: Über die Einflüsse der Jesuitenmission des 17. und 18. Jahrhunderts auf die Medizin in China. In: Medizinhistorisches Journal 5 (1970), S. 106-114. In Bezug auf China im 19. und frühen 20. Jahrhundert siehe Lydia H. Liu: Translingual practice: literature, national culture and translated modernity China, 1900-1937. Stanford 1995; Michael Lackner/Iwo Amelung/Joachim Kurtz (Hgg.): New Terms for New Ideas. Western Knowledge and Lexical Change in Late Imperial China. (Sinica Leidensia 52) Leiden/Boston/Köln 2001; Michael Lackner/Natascha Vittinighoff (Hgg.): Mapping Meanings. The Field of New Learning in Late Qing China. (Sinica Leidensia 64) Leiden/Boston 2004. Siehe hierzu etwa das „Freiburger Memorandum zur Zukunft der Regionalstudien in Deutschland am Beispiel ausgewählter Weltregionen“. Dezember 2005. In: GIGA Diskussionsforum/Discussion Forum, Area Studies & Comparative Area Studies (ACAS-Net) oder den Tagungsbericht „Wege des Wissens. Transregionale Studien“ am Wissenschaftskolleg zu Berlin, Max Liebermann-Haus Berlin – 14. bis 16. Juli 2005. Anzuführen als richtungsweisend für die so genannten science studies sind die Arbeiten von Bruno Latour/Steve Wolgar: Laboratory Life: the Construction of Scientific Facts. Princeton 1979; Peter Galision: Image and Logic: A Material Culture of Microphysics. Chicago/London 1997; Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalanalyse und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinanalyse im Reagenzglas. Göttingen 2001 und Karin Knorr Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. Erw. Neuauflage. Frankfurt a.M. 2001.

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nachgeordnet anzusehen sind.6 Im Gegenteil, wenn die Rekonstruktion jeweils spezifischer Codes in den Texten auf Verhaltens/Handlungs- und Wissensordnungen gleichermaßen abhebt, so lässt sich dies als kombinierte Praktiken- und Diskursanalyse veranschlagen.7 Auch wenn Wissen im Sinne des epistemologischen Kontextualismus grundsätzlich als das zu gelten hat, „was zur Zeit der Zuschreibung“ dafür gehalten wird,8 hilft diese relativistische Prämisse nicht, wenn die Dynamiken der unterschiedlichen Wissensmodi (knowing how und knowing that) und deren Konstitutionen und Transformationen in unterschiedlichen Zeit- und Raumkonstellationen im Zentrum der Untersuchung stehen soll.9 Rückschlüsse auf jeweils geltende Wissensverständnisse sind erst als Ergebnis der Untersuchungen zu erwarten, denn die Prozesse der Generierung und Transformation von Wissen lassen sich – so wird hier argumentiert – nur in den Dimensionen der Anwendungen/Verwendungen sozialer Praktiken (,gelebtes Wissen‘) rekonstruieren, wie auch Bedeutungsgeschichte sich nur als Verwendungsgeschichte schreiben lässt.10 Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden in sieben Abschnitten unterschiedliche Ebenen der Annäherung an die Leitfrage „Wie verändern sich soziale Praktiken zur Vervollkommnung des Selbst inmitten einer Kultur des Wohlstands und Reichtums (16.-17. Jahrhundert im chinesischen Kontext)?“ versucht: Zunächst diskutiere ich die Relevanz der Epochenkategorie ,Neuzeit‘ in der chinesischen Geschichtswissenschaft. Darauf folgt eine knappe Beschreibung der wichtigsten sozioökonomischen, demographischen, politischen und literarischen Prozesse in der Zeit zwischen etwa 1500 und 1800, die in der Forschung mit den vergleichsweise tiefgreifendsten Umbrüchen assoziiert sind. Im dritten Abschnitt bewegen wir uns inmitten von Verflechtungssituationen: __________ 6

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Auch wenn Diskurse und Praktiken bislang als gegensätzliche Dimensionen in den Geschichtswissenschaften behandelt werden. Siehe hierzu beispielhaft den Beitrag: Liebe: Diskurse und Praktiken. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 18 (2007) H. 3. Zu dem Versuch, die Praxistheorie für die Generierung einer Kulturtheorie zu benutzen, siehe Wenke Nitz: Tagungsbericht Praxistheoretische Ansätze in der Geschichtswissenschaft. Chancen und Grenzen. 25.02.2005-26.02.2005, Konstanz. In: H-Soz-u-Kult, 04.04.2005, (Stand 15.1.2011). Siehe hierzu Andreas Reckwitz: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation. In: Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Hg. von Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann. Frankfurt a.M. 2008, S. 188-209, hier S. 206. Siehe die Definition bei Bertram Kienzle: Wissen, Indexikalität und Sozialität. In: Zeitschrift für Semiotik 21 (1999) H. 1, S. 29-41, hier S. 39. Siehe hierzu auch neuerdings Klaus W. Hempfer/Anita Traninger: Einführung. In: Dynamiken des Wissens. Hg. von dens. (Rombach Wissenschaften. Reihe Scenae 6) Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2007, S. 7-21. Zum Begriff ,gelebtes Wissen‘ siehe Martin Gierl: Religiöses Wissen. Wissenschaft und die Kommunikation mit Gott 1650-1750. In: Die Frühe Neuzeit als Epoche. Hg. von Helmut Neuhaus. (Historische Zeitschrift. Beihefte 49) München 2009, S. 91-105. Zu den Herausforderungen einer neueren historischen Semantik siehe Ralf Konersmann: Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik. Frankfurt a.M. 1994.

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China in den Augen Mitteleuropas, vermittelt durch die Berichte von Jesuitischen Gelehrten und die Signifikanz Chinas für die anbrechenden Aufklärungsdiskurse; der Austausch chinesischer Gelehrter mit jesuitischen Gelehrten am chinesischen Kaiserhof. Der vierte Abschnitt leitet via begriffsgeschichtlicher Spuren die Frage nach den Bedeutungsebenen von Wissen in der chinesischen Geschichte ein. Hierzu gehören Wissensordnungen im fünften Abschnitt und, im sechsten Teil, Fragmente veränderter epistemischer Situationen im 15. und 16. Jahrhundert. Der siebte und letzte Abschnitt zeigt einzelne Reflexe und Dimensionen der veränderten Episteme, wie sie im Zusammenhang mit Wissen und Handeln im 17. Jahrhundert sichtbar werden: Regulatives Wissen und seine Wirklagen (Wissen um Effekte, Wirksamkeiten) im ,Großen (makrokosmisch-politischen) und Kleinen (mikrokosmischen Körperraum)‘ wird in dieser Zeit zunehmend verschriftet und popularisiert.

1. Zur Periodisierung ,Neuzeit‘ in China ,Neuzeit‘ bezeichnet, wie ,Antike‘ und ,Mittelalter‘ auch, eine Kategorie europäischer Selbstbeschreibung mit universalhistorischem Gültigkeitsanspruch. Im ‚RenaissanceHumanismus‘ war mit Neuzeit die Jetztzeit gemeint und deren Aufbruch hin zur Selbstermächtigung des Menschen über die eigene Geschichte bzw. über das Andere schlechthin.11 Die Expansion in neue Räume (Exploration und Landnahmen auch via Kartographierung ‚irdischer‘ und ‚himmlischer‘ Gebiete) ging mit deren Ein- und Unterordnung in die europäische ‚Ordnung der Dinge‘ einher. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert erlangt der Terminus ‚Neuzeit‘ Hochkonjunktur unter Intellektuellen und Historikern außereuropäischer – insbesondere chinesischer, jüdischer und türkischer – Provenienzen. Sie erarbeiten mit Hilfe der Kategorie ‚Neuzeit‘ eine neue Periodisierung ihrer eigenen Zivilisationen, um auf diese Weise die Anbindung an die internationale Staatengemeinschaft zu erwirken. Die Frage, inwiefern bzw. mit Hilfe welcher Modifikationen diese eurozentristische Kategorie für außereuropäische Zivilisationsräume als richtungsgebende Perspektive der historischen Forschung eingesetzt werden kann, stellte sich erst später, als in Abkehr von imperialen und kolonialen Abhängigkeiten auf indigene Entwicklungen geschaut wurde, um die Interpretation/en der eigenen Geschichte erneut selbst in die Hand

__________ 11

Vgl. hierzu die überblicksartigen Ausführungen in Renate Dürr/Gisela Engel/Johannes Süßmann: „Einleitung“. In: Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs. Hg. von Renate Dürr u. a. (Historische Zeitschrift. Beihefte 35) München 2003, S. 1-21; Osterhammel: Weltgeschichte (wie Anm. 2), S. 9-32; Natalie Zemon Davis: What is Universal about History? In: Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien. Hg. von Gunilla Budde, Sebastian Conrad und Oliver Janz. Göttingen 2006, S. 15-20.

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zu nehmen.12 Hierbei nimmt, wie zu zeigen sein wird, im chinesischen Kontext der Themenkomplex ,Wissen, Wissenschaft und Technik‘ eine herausragende Rolle ein. Traditionell war in China, beginnend mit dem 1. vorchristlichen Jahrhundert, die chronologische Abfolge von Kaiser-Dynastien als Periodisierung geläufig.13 Hierbei sind zwar herrschaftsgeschichtliche Zäsuren aber keine sozio-ökonomischen, demographischen und kulturellen Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten berücksichtigt. Die Anstrengungen, die chinesische Geschichte in diesem Sinne neu zu strukturieren, standen zunächst im Zeichen politischer Notwendigkeiten: So wurde, wie schon angedeutet, für China im frühen 20. Jahrhundert retrospektive eine Neuzeit konstruiert, um den Anschluss an die Staatengemeinschaft historisch zu legitimieren. Dieses Postulat gründete sich, wie nachfolgend gezeigt wird, auf Befunden, wonach die Zahl der wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften Chinas im 10. Jahrhundert exorbitant angestiegen war. Unabhängig davon überwog in der westlichen und chinesischen Geschichtsschreibung des späten 19. bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die Sicht, wonach der gewaltige chinesische Vorsprung (gegenüber westlichen Entwicklungen) ab 1600 in Stagnation oder gar in einen sukzessiven Rückgang von wissenschaftlicher Produktivität mündete.14 Der führende japanische Historiker im 20. Jahrhundert Naitõ Konan (1866-1934) datierte den Beginn der chinesischen Neuzeit (kinsei 近世) auf das 10. Jahrhundert (mit dem Beginn der Song-Dynastien, 960-1279). An diese Frühe (erste) Phase schließe im 14. Jahrhundert die Späte (zweite) Phase an, die bis zum Ende der Kaiserzeit, 1911, andauerte. Dieses Modell diente mit Modifikationen als Grundlage für eine Vielzahl von Forschungsarbeiten,15 die insbesondere die wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlich-technischen sowie militärischen Veränderungen im 10. Jahrhundert fokussieren __________ 12

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Siehe Sebastian Conrad/Shalini Randeria: Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Hg. von dens. unter Mitarbeit von Beate Sutterlüty. Frankfurt/New York 2002, S. 9-49; Gerhard Hauck: Die Gesellschaftstheorie und ihr Anderes: Wider den Eurozentrismus der Sozialwissenschaften. Münster 2003. Beginnend mit dem Shiji 史記, kompiliert von Sima Qian 司馬遷 (ca. 145-86 v. Chr.) in den Jahren zwischen 104-87 v. Chr. Reprint. Beijing 1962. Siehe hierzu insbesondere Achim Mittag: Die Konstruktion der Neuzeit in China. Selbstvergewisserung und die Suche nach Anschluss an die moderne Staatengemeinschaft. In: Dürr u. a. (Hg.): Eigene und fremde Frühe Neuzeiten (wie Anm. 11), S. 139-164. Siehe auch die konzise Übersicht in Sabine Dabringhaus: Geschichte Chinas 1279-1949. (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 35) München 2006, S. 114-118. Siehe hierzu Joshua A. Fogel: Politics and Sinology. The Case of Naitổ Konan (1866-1934). Cambridge, Mass. 1984, S. 168-185; Harriet T. Zurndorfer: China and „Modernity“: The Uses of the Study of Chinese History in the Past and the Present. In: Journal of Economic and Social History of the Orient 40 (1997) H. 4, S. 461-485. Wolfram Eberhard: Geschichte Chinas. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1971, S. 236, datiert den Beginn der chinesischen Neuzeit mit dem ersten Jahr der Song-Dynastie (960).

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und die beiden Song-Dynastien als Zeit eines massiven Modernisierungsschubes herausstellen.16 Im weiten Sinne als Modifikation dieser Periodisierung ist auch eine andere, heute vor allem in den USA geläufige, Epochenkategorie zu sehen: ,Late Imperial China‘17 (Späte Kaiserzeit) umfasst den gesamten Zeitraum zwischen dem 10. und dem 19. Jahrhundert. Beide Termini, ,Neuzeit‘ (xiandai 現代) und ,Late Imperial China‘, heben die Modernität Chinas im gesamten Millennium (von etwa 1000 bis 1900) im Vergleich zur westlichen, indischen und islamischen Welt hervor. Die retrospektive Periodisierung ‚Neuzeit‘ in China basiert auf dem Paradigma der Moderne und wird im gegenwärtigen chinesischen Kontext in reduktionistischer Weise mit Zivilisation, Fortschritt und Wissen gleichgesetzt. Wenn die Neuzeit in China an die 600 Jahre vor der entsprechenden Epochenschwelle in Europa einsetzt, so lässt sich dies außerdem in der politischen Rhetorik der Volksrepublik China zur Stärkung des nationalen Selbstvertrauens verwenden.18 Hierbei spielen die frühen Erfindungen – das Papier wird um +150, der Buchdruck um +800, das Schießpulver um +850, der Kompass im 11. Jahrhundert erfunden – eine zentrale Rolle. Das von Joseph Needham (19001995) und Mitarbeitern 1954 initiierte und bis heute fortgeführte Großprojekt „Science and Civilization in China“ bzw. die in den jeweiligen Bänden19 versammelten ,Daten und Fakten‘ dienen im chinesischen Kontext von Anbeginn als Beweisgrundlage für die Selbstbehauptung gegenüber dem Westen. Needhams Prämisse, wonach Wissenschaft eine von Raum und Zeit unabhängige Größe sei, und das ‚große Meer des Wissens‘ aus vielen einzelnen Flüssen und Nebenflüssen gespeist worden sei, deren chinesische Ursprünge erst aufgedeckt werden müssten, war außerdem dem Paradigma der ,wissenschaftlichen Revolution‘ im 17. Jahrhundert verpflichtet, die so nicht stattgefunden __________ 16 17

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Siehe hierzu stellvertretend Dieter Kuhn: Die Song-Dynastie (960 bis 1279). Eine Gesellschaft im Spiegel ihrer Kultur. Weinheim 1987. Die akademische Zeitschrift Late Imperial China trägt diese Epochenkategorie im Titel. Für eine andere Kategorie, die ,Ming-Qing-Periode‘ (vom 14.-20. Jh.), existieren ebenfalls einflussreiche Fachzeitschriften, siehe z. B. MingQing yanjiu. Dipartimento di Studi Asiatici. Università degli Studi Napoli „L’Orientale“. Siehe hierzu Iwo Amelung: Die „Vier Großen Erfindungen“: Selbstzweifel und Selbstbestätigung in der chinesischen Wissenschafts- und Technikgeschichtsschreibung. In: Selbstbehauptungsdiskurse in Asien: China – Japan – Korea. Hg. von Iwo Amelung, Matthias Koch, Joachim Kurtz, Eun-Jeung Lee und Sven Saaler. (Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanstudien 34) München 2003, S. 243-274. Gegenwärtig umfasst dieses Projekt bereits 24 Bände, die bis heute als das Standardwerk zur chinesischen Wissenschafts- und Technikgeschichte gelten. Eine Übersicht findet sich unter (Stand 12.02.2011). Kritisch angemerkt werden neuerdings die eigenwilligen Interpretationen chinesischer Primärquellen und darüber hinaus manch fehlerhafte Stelle. Siehe Karine Chemla: The Rivers and the Sea: Analysing Needham’s Metaphor for the World History of Science. In: Situating the History of Science. Dialogues with Joseph Needham. Hg. von S. Irfan Habib und Dhruv Raina. Oxford 1999, S. 220-244.

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hat.20 Mit Blick auf das eurozentristische Meta-Narrativ des evolutionistisch fortschreitenden Erfolges waren Wissenschaft und Technik im China des 19. u. 20. Jahrhunderts vergleichsweise gering ausgebildet. Dies führte zum sogenannten ‚Needham Rätsel‘, nämlich der Frage, warum die Wissenschaftliche Revolution nach einem Vorauseilen Chinas bis um 1600 nicht auch dort stattgefunden habe.21 Im Anschluss an Needham und im Gegenzug zu der Narration eines Versagens anderer Kulturen im Vergleich zur westlichen suchen Forscher chinesischer, indischer und koreanischer Provenienz seit den 1980er Jahren die Geschichte von ‚Wissenschaft, Erfindungen und Entdeckungen‘ in der östlichen Hemisphäre sowie Verflechtungen mit der westlichen Hemisphäre zu rekonstruieren. Transferprozesse von wissenschaftlichen Konzepten und technischen Lösungen zwischen China und dem Westen vor dem 17. Jahrhundert lassen sich jedoch schwer beweisen. Die Frage nach dem Wissen in der chinesischen Geschichte hat also eine lange (westliche) Geschichte, doch ist sie über weite Strecken hinweg geprägt von der Narration des Versagens im Vergleich zur westlichen Kultur.

2. Die Jahre 1500 bis 1800: Blüte und Umbruch Schon früh wurde auf das Paradox aufmerksam gemacht, wonach China ausgerechnet unter der vielfach gefürchteten und verschmähten Fremdherrschaft der Qing 清 (16441912) eine herrschaftspolitische und wirtschaftliche Blütezeit erlebte, die bereits in der späten Ming-Zeit (16. Jahrhundert) ihren Anfang genommen und dann gegen 1800 ihren Höhepunkt erreichte.22 Diese Befunde drängen die oben angesprochene Frage danach, warum die moderne Wissenschaft nicht in China sondern in der westlichen Hemisphäre ‚stattfand‘, in den Hintergrund. Fokussiert wird nicht mehr der Rückgang wissenschaftlicher Produktivität im China seit etwa 1600, sondern vielmehr das 17. Jahrhundert als vergleichsweise tief- und weitreichendste Umbruchs- und Transformationszeit in der gesamten Geschichte.23 Der distinkte Zeitraum von ca. 1500 bis __________ 20 21

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Siehe hierzu Steven Shapin: Die wissenschaftliche Revolution. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. [zuerst 1996 als „The Scientific Revolution“] Frankfurt a.M. 1998, S. 9. Für eine Umdeutung der Frage siehe Nathan Sivin: Why the Scientific Revolution Did Not Take Place in China – Or Didn't It? Reprinted in: Science in Ancient China: Researches and Reflections. Variorum Collected Studies Series. Brookfield 1995. Siehe hierzu Herbert Franke/Rolf Trauzettel: Das chinesische Kaiserreich. Frankfurt a.M. 1968, S. 275, und ausführlich und materialreich Mario Sabattini/Paolo Santangelo: Storia della Cina. Dalle origini alla fondazione della Republica. Roma/Bari 1986, S. 545 ff. Siehe hierzu überblicksartig Helwig Schmidt-Glintzer: China im Wandel im 17. Jahrhundert. In: Historische Wendeprozesse. Ideen, die Geschichte machten. Hg. von Klaus E. Müller. Freiburg/Basel/Wien 2003, S. 128-145. Diese Einschätzung ist nicht nur das Ergebnis neuerer Forschung, sondern sie wird auch in zeitgenössischen Briefen und Tagebüchern gespiegelt: Offenbar waren sich bereits Zeitgenossen der Ausmaße der Veränderungen bewusst. Siehe hierzu die Be-

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ca. 1800 wird dabei nicht mit dem Terminus ‚Neuzeit‘, sondern als Epoche der Blüte und des Umbruchs im größeren Rahmen ‚Späte Kaiserzeit‘ benannt. Diese Periodisierung resultiert aus der zusammenschauenden Lektüre von literarischen und medizinischen Texten, Briefliteratur, privaten Geschichtsaufzeichnungen, so genannten Pinselnotizen (biji 筆記),24 Lokalchroniken sowie Archivmaterial aus den erst seit kurzem zugänglichen Historischen Archiven in Beijing und in Nanjing, die bislang ungesichtetes, demographisch und wirtschaftsgeschichtlich relevantes Material bereithalten. Diese historiographische Neuorientierung löst auch allmählich die bislang in der Volksrepublik China forcierte marxistische Perspektive ab, wonach dem Feudalzeitalter eine kapitalistisch geprägte Periode folgte, um schließlich in die sozialistische Phase zu münden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass andererseits gerade die in diesem Rahmen durchgeführten Forschungen an volksrepublikanischen Universitäten und Akademien für Wissenschaften seit den 1970er Jahren materialreiche Grundlagen für den neuen kulturwissenschaftlichen Ansatz bereitstellten. Das 17. Jahrhundert hat tief greifende ökonomische und sozialpolitische Veränderungen erbracht, die nicht am Jahr des Dynastie-Wechsels (1644) festzumachen sind. Seit der frühen Kaiserzeit war die politische Macht in China mit den Gentry-Gelehrten25 __________

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richte zeitgenössischer Kommentatoren wie Wang Danqiu 王丹丘 oder Gu Qiyuan 顧起元 (1565-1628). Eine teilweise Aufarbeitung dieser Quellen liefern David Der-Wie/Shang Wei: „Introduction“. In: Dynastic Crisis and Cultural Innovation. From the Late Ming to the Late Qing and Beyond. Hg. von dens. (Harvard East Asian Monographs 249) Cambridge, Mass./London 2005, S. 1-21; sowie Wai-yee Li: „Introduction“. In: Trauma and Transcendence in Early Qing Literature. Hg. von Wilt L. Idema, Wai-yee Le und Ellen Widmer (Harvard East Asian Monographs 250) Cambridge, Mass./London 2006, S. 1-70. Siehe auch Chun-shu Chang/Shelley Hsueh-lun Chang: Crisis and Transformation in Seventeenth-Century China. Society, Culture, and Modernity in Li Yü’s World. Michigan 1992, die die gewaltige kulturelle Transformation im 17. Jahrhundert anhand literarischer Zeugnisse, insbesondere des Li Yu 李漁 (1611-1680), belegen. Siehe hierzu Herbert Franke: Some Aspects of Chinese Private Historiography in the Thirteenth and Fourteenth Centuries. In: Historians of China and Japan. Hg. von W. G. Beasley und E. G. Pulleyblank. London 1961, S. 115-134; Helwig Schmidt-Glintzer: Die 3000jährige Entwicklung der poetischen, erzählenden und philosophisch-religiösen Literatur Chinas von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bern/München/Wien 1999. Gentry (shishen 士紳, xianghuan 鄉宦 oder xiangshen 鄉紳) meint in der westlichsprachigen Forschungsliteratur üblicherweise die Han-chinesischen Eliten vor 1900: diese hatten – je nachdem – die lokale wirtschaftliche und soziale Macht als Großgrundbesitzer oder/und die politische Macht auf lokaler, auf Provinzebene bzw. auf Gesamtreichsebene als Beamte in der kaiserlichen Bürokratie inne. Gelehrte, häufig auch als ,Literati‘ (Scholaren) bezeichnet, waren diejenigen Mitglieder der Gesellschaft, welche ihren Status als kulturelle Elite durch klassische Gelehrsamkeit sowie durch literarische Publikationen erlangten und aufrechterhielten. Der kulturelle Status beider Gruppen überlappte sich häufig, zumal beide auf einen höchstmöglichen Titel bei den Beamtenprüfungen ausgerichtet waren und damit ihren jeweiligen Status begründeten. In Betracht gezogen werden muss außerdem, dass sich der Status jeweils an der Perspektive des Betrachters misst. Aus der Sicht der einfachen Landbevölkerung konnten ,verarmte Scholaren‘ als Vertreter

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verbunden. Die Ablösung der Arbeitssteuern durch Geldsteuern im 15. Jahrhundert führte zu geringerer direkter Einflussnahme von Seiten des Kaiserhofes auf Dorf- und Stadtebene. Die Zahl der Gebildeten wuchs zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert drastisch an: Während um 1500 einem Lizenziaten (shengyuan 生員)26 noch 2.200 „NichtLizenziaten“ gegenüberstanden, waren es zweihundert Jahre später (um 1700) nur noch 300. In diesem Zeitraum verringerte sich die Aussicht auf eine Position im öffentlichen Verwaltungsapparat entscheidend: Waren um 1500 noch etwa 20.400 Posten zu besetzen, so blieben für die angewachsene Zahl an Lizenziaten und höheren Titelträgern im Jahr 1625 nur 24.680 Posten.27 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war den meisten Lizenziaten eine Position auf Provinz-, Präfektur- und Hauptstadtebene verwehrt. Damit ist zumindest teilweise zu erklären, dass seit dem 15. Jahrhundert die privat betriebenen Schreib- und Drucktätigkeiten massiv und sukzessive ansteigen, versprachen diese nicht zuletzt Einkommensmöglichkeiten außerhalb der konventionellen Karriereschiene. Zur gleichen Zeit herrschten zwischen 1596 und 1626 beinahe jedes Jahr Unruhen in den Städten und Handelszentren (wie in Suzhou und Hangzhou im Süden und in Beijing im Norden des Landes). Die Lage der Bauern schien aussichtslos, sie vermochten die erhöhte Steuerlast wegen der durch die Silberabfuhr ausgelösten Finanzkrise28 nicht zu tragen. Die ,kleine Eiszeit‘ brachte ungewöhnliche Kälte und Trockenheit mit sich: Geringe Ernteerträge führten zu Hungersnöten und schließlich zu Seuchen und PestEpidemien in den Regionen von Zhejiang und Süd-Zhili in den 1630 und 1640er Jahren. Neben klimatischen Veränderungen, Steuerausfall, Währungsverfall und Epidemien sind außerdem demographische Veränderungen maßgeblich an den geschilderten Umbruchprozessen beteiligt.29 __________

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der Gentry angesehen werden. Eine weitere Diskussion dieser Klassifikationen als finanzpolitische Kategorien liefert John W. Dardess: Confucianism and Autocracy: Professional Elites in the Founding of the Ming Dynasty. Stanford 1983, S. 14-19; Ping-ti Ho: The Ladder of Success in Imperial China. New York 1962, S. 67; Sun Liping 孫立平: Keju zhi, Yizhong jinying zaishengchan de jizhi 科舉制 一種經英再生產的機制. 戰略與管理. In: Zhanlue yu guanli 18 (1996) H. 5, S. 38-45, hier S. 40-45; Xia Xianchun 夏咸淳: Wanming shifeng yu wenxu 晚明士風 與文學. Beijing 1994, S. 16ff. Während der Ming- und Qing-Zeit auch zhusheng 諸生 oder xiucai 秀才 genannt, d. i. ein Gelehrter, der die Prüfungen auf Präfekturebene bestanden und somit die Bedingung für die Teilnahme an den Beamtenprüfungen auf Provinz-Ebene (zur Erlangung des juren 舉人Titels) sowie auf der Hauptstadt-Ebene (zur Erlangung des jinshi 進士Titels) erfüllt hat. Siehe Benjamin Elman: A Cultural History of Civil Examinations in Late Imperial China. Berkeley/Los Angeles 2000, S. 140-141. Zwischen 1550 und 1650 herrschte die so genannte ,Silber-Ära‘ bedingt durch hohes Silberaufkommen aus Mexiko: Doch nachdem die holländischen und britischen Seefahrernationen in die Handelsimperien der katholischen Spanier und Portugiesen eindrangen, um ihre eigene Machtsphäre zu vergrößern, führte dies zu einem gewaltigen Rückgang von Silberimporten nach China, dies hatte die Hortung von Silber und den Verfall des Kupfer-Silber-Verhältnisses zur Folge. Siehe hierzu Samuel A. M. Adshead: The seventeenth century general crisis. In: Asian Profile 1 (1973) H. 2, S. 271-280; Frederik Wakeman Jr.: China and the Seventeenth-Century Crisis. In:

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3. China-Diskurs im neuzeitlichen Europa Für den europäischen Raum herrscht weitestgehender Konsens darüber, dass die Produktion neuen Wissens und die Herausbildung von ‚Wissenschaftlichkeit‘ bzw. die Entfaltung einer wissenschaftlich begründeten ‚Projektemacherei‘ im 17. Jahrhundert kumulierte.30 China spielte hierbei eine bedeutende Rolle, denn es figurierte im mitteleuropäischen 17. Jahrhundert in nahezu allen Wissensgebieten wie Philosophie und Philologie, Staats- und Morallehre, aber auch in neu aufkeimenden Fachrichtungen wie Wirtschaftsethik und Steuermoral sowie in neu entstehenden Disziplinen wie Geographie, Biologie, Botanik und Medizin, als Quelle des Wissens und vorbildlicher Moral. In Einzeluntersuchungen zu bestimmten Personen und/oder zu bestimmten Transferleistungen einzelner Wissensbereiche ist dies oft Gegenstand gewesen31 sowie neuerdings in systematischen Untersuchungen des China-Bildes im Europa der Neuzeit.32 Jesuitische Gelehrte wie Matteo Ricci (Li Madou 利瑪竇, 1552-1610), der als erster Hofastronom den Kalender erstellte, erlangten hohes Ansehen am Kaiserhof.33 Ricci __________

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Late Imperial China 7 (June 1986) H. 1, S. 1-26; Lynn A. Struve (Hg. u. Übers.): Voices from the Ming-Qing Catalysm: China in Tigers’ Jaws. New Haven/London 1993. Siehe z. B. Jan Lazardzig: Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin 2007, S. 7-25; Helmut Zedelmaier: Gelehrtes Wissensmanagement in der Frühen Neuzeit. In: Neuhaus: Die Frühe Neuzeit als Epoche (wie Anm. 10), S. 77-89. Siehe hierzu David E. Mungello: Curious Land. Jesuit Accomodation and The Origins of Sinology. Honolulu 1989; Lionel M. Jensen: Manufacturing Confucianism. Chinese Traditions and Universal Civilization. Durham/London 1997; Siehe auch Benjamin A. Elman: On Their Own Terms. Science in China, 1550-1900. Cambridge, Mass./London 2005. Vgl. hierzu etwa das Projekt „China-Diskurs in europäischen Enzyklopädien“ unter (Stand 18.2.2001) sowie die als Kooperationsprojekt des IZ (Internationales Zentrum Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit) an der FU Berlin und der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel in den Jahren 2007-2007 durchgeführte systematische Erschließung sämtlicher China-bezogener Quellen, wie sie sich in den führenden europäischen Zeitschriften jener Zeit finden. Vgl. hierzu Wenchao Li: Die christliche ChinaMission im 17. Jahrhundert. Verständnis, Unverständnis, Mißverständnis. (Studia Leibnitiana Supplementa 32) Stuttgart 2000. Siehe auch die Kapitel zum „Sinophilismus und Sinophobie der Gelehrten“ in Eun-Jeung Lee: „Anti-Europa“. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung. Münster/Hamburg/London 2003. Zwischen 1582 und 1742 wirkten in China 456 Jesuiten als Mathematiker, Geographen, Maler und Gartenarchitekten. Sie betreuten in China 151 Kirchen. Nach Schätzungen der damaligen Gesellschaft Jesu zählte man im Jahre 1675 in China etwa 300.000 konvertierte Katholiken. Siehe Erik Zürcher/Nicolas Standaert/Adrianus Dudnik (Hgg.): Bibliography of the Jesuit mission in China ca. 1580-ca.1680. (Centre of Non-Western Studies 5) Leiden 1991. Siehe auch: Nicolas Standaert u. a. (Hgg.): Handbook of Christianity in China. Bd. 1: 635-1800. (Handbuch der Orientalistik 15) Leiden 2001. Speziell zur Hofastronomie im 17. Jahrhundert siehe Chu Pingyi: Scientific Dispute in the Imperial Court: The 1664 Calendar Case. In: Chinese Science 14 (1997), S. 7-34.

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gilt bis heute als eine Art Personifizierung der Kontakte zwischen dem neuzeitlichen Europa und dem China des 17. Jahrhunderts. Die von ihm begründete „Akkomodationsmethode“ bedeutete, sich mittels Aneignung der chinesischen Sprache, Schrift und Wissen die chinesische Kultur ‚einzuverleiben‘, um sich im Interesse der Missionierung mit den konfuzianischen Beamten anzufreunden. Die Jesuiten passten sich auch in Kleidung und Höflichkeitsformen an die chinesische Welt an und sie respektierten die chinesischen Riten der Ahnenverehrung als zivile Praktiken. Dieser Respekt für die chinesischen Riten führte später zum ,Ritenstreit‘ und zum vorläufigen Ende der ChinaMission im 18. Jahrhundert. Die Schriften und Reiseberichte von Matteo Ricci, Nicolas Trigault (1577-1628),34 Michele Ruggieri (1543-1607),35 Martino Martini (16141661)36 und anderer wurden sukzessive aus dem Lateinischen bzw. Italienischen ins Deutsche übersetzt und gedruckt.37 China erlangte in gelehrten und populärwissenschaftlichen Zeitschriften an Exponiertheit, so dass man von einem ,China-Diskurs‘ im frühneuzeitlichen Europa sprechen kann. Einer der bekanntesten Verbreiter von Wissen über China, Gottfried W. Leibniz, propagierte ausdrücklich die Übernahme chinesischen Wissens, damit sich in Europa unter chinesischer Anleitung eine „natürliche Theologie“ herausbilden möge.38 Im China des 17. Jahrhunderts hingegen geriet nicht Europa, sondern, wenn überhaupt, nur einzelne Länder via jesuitischer Vermittlung in den Wahrnehmungshorizont chinesischer Gelehrter und Hofbeamter.39 Neben Übersetzungen aus einzelnen Wissensgebieten wie Mathematik40, Mnemotechnik, Medizin sowie theologischer Erwägungen agierten jesuitische Gelehrte am chinesischen Kaiserhof als Astronomen, als Kunst- und __________ 34 35

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Siehe Luca Fezzi: Osservazioni sul De Christiana Expeditione apud Sinas Suscepta ab Societate Iesu di Nicolas Trigault. In: Rivista di Storia e Letteratura Religiosa 35 (1999) H. 3, S. 541-566. Siehe Yves Camus: Jesuit journeys in Chinese studies. Macau 2007. Zu Athanasius Kircher, der selbst nie in China gewesen war, aber eine zentrale Rolle in den Wissensverflechtungen des 17. Jahrhunderts spielte, siehe Paula Findlen (Hg.): Athanasius Kircher. The last man who knew everything. New York 2004. Siehe Franco Demarchi/Riccardo Scartezzi (Hgg.): Martino Martini. A humanist and scientist in seventeenth century China. Trento 1996. Siehe z. B. China in the Sixteenth Century: The Journals of Matteo Ricci: 1583-1610. Translated into Latin by Father Nichola Trigault and into English by Louis J. Gallagher SJ. New York 1953. Siehe die ausführliche Analyse der deutschsprachigen Drucke der Berichte der Chinareisenden in der Frühen Neuzeit in Reinhold Jandesek: Das fremde China. Berichte europäischer Reisender des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. (Weltbild und Kulturbegegnung 3) Pfaffenweiler 1992, S. 222-336. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Novissima Sinica. Das Neueste von China. Hg. und kommentiert von Heinz-Günter Nesselrath und Hermann Renbothe. Köln 1979, S. 19. Zu den zeitlich vorausgehenden Wahrnehmungsdimensionen von Ost und West siehe Folker Reichert: Begegnungen mit China. Die Entdeckung Ostasiens im Mittelalter. Sigmaringen 1992. Siehe Catherine Jami: Western Mathematics in China, Seventeenth Century and Nineteenth Century. In: Science and Empires. Hg. von Patrick Petitjean, Catherine Jami und Anne Marie Moulin. (Boston Studies in the Philosophy of Science 136) Dordrecht/Boston/London 1992, S. 79-88.

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Portraitmaler sowie als Zeichner von geographischen Karten des Reiches. Die Reichweite dieser vereinzelten Transferprozesse war insgesamt gering. So ließen die Jesuiten, die für den Kangxi 康熙-Kaiser (1645-1722) die erste Chinakarte mit einem Gradnetz anfertigten, in ihrem Atlas den Längengrad 0 durch Beijing laufen. Trotz des großen Gefallens, den chinesische Gelehrte schon an Matteo Riccis Weltkarte von 1602 gewonnen haben, blieb die traditionelle chinesische Ästhetik und Nutzung von Karten jedoch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bestehen.41 Ähnliches gilt für die Übersetzung anatomischer Texte ins Chinesische, die am Kaiserhof geheim gehalten werden sollten, die aber dennoch ‚nach draußen‘ gelangt sind. Jedoch finden sich erst im 19. Jahrhundert vereinzelte Belege für eine Rezeption dieser Texte in indigenen medizinischen Denk- und Handlungsmustern.42

4. Wissen im chinesischen Kontext Die Kategorie Wissen (zhi 知) erlangt mit dem Aufbau der Staatsverwaltung im 8. Jahrhundert v. Chr. eine wichtige Rolle. Im Rahmen einer komplexer werdenden Verwaltung ermöglichten die in privaten Akademien erlernten Kenntnisse zusammen mit der bezeugten Loyalität zum Herrscher die Ablösung der Blutsbande als Verbindungsglied zum Herrscher. Die Gebildeten bzw. Gelehrten (shi士) und angehenden Beamten sollten aber nicht nur mit dem Wissen um Staatsführung und Verwaltung vertraut sein, sondern insbesondere auch mit den Leittugenden der Pietät und Unbestechlichkeit. Die Beamtenrekrutierung via Staatsprüfungen war seit dem 14. Jahrhundert, als die Interpretation der kanonisierten neokonfuzianischen Lerninhalte offiziell sanktioniert wurde, die alleinige Rekrutierungspraxis der Staatselite.43 Auch wenn später die Inhalte immer wieder geändert wurden,44 blieb die Struktur bis 1905 bestehen. Die immer wieder auf__________ 41

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Siehe hierzu Angelika C. Messner/Martina Siebert: Science and Technology. In: The Chinese Civilization. Bd. 2: From the Fall of the Han Dynasty to the Decline of the Qing Dynasty. Hg. von Mario Sabattini und Maurizio Scarpari. Venezia/Rome 2010. Siehe hierzu Chu Pingyi 祝平一: Shenti, linghun yu tianzhu, mingmo qingchu xixue zhongde renti shengli zhishi (wie Anm. 3); Erhard Rosner: Über die Einflüsse der Jesuitenmission des 17. und 18. Jahrhunderts auf die Medizin in China. In: Medizinhistorisches Journal 5 (1970), S. 106-114; Angelika C. Messner: Some Remarks on Semantics and Epistemological Categories in early Scientific Translations. In: Monumenta Serica. Journal of Oriental Studies 53 (2005), S. 429-459; Bridie Andrews Minehan: An Introduction to the Yi Lin Gai Cuo. In: Yi Lin Gai Cuo (Correcting the Errors in the Forest of Medicine) by Wang Qing-ren. Translated and commented on by Yuhsin Chung, Herman Oving and Simon Becker. Boulder 2007, S. v-xiv. Siehe hierzu Joseph W. Esherick/Mary Backus Rankin (Hgg.): Chinese Local Elites and Patterns of Dominance. Berkeley 1990. Siehe auch Rudolph G. Wagner: Neue Eliten und die Herausforderung der Moderne. In : Länderbericht China. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im chinesischen Kulturraum. Hg. von Carsten Hermman-Pillath und Michael Lackner. Bonn 1998, S. 118-134. Siehe hierzu Benjamin Elman: A Cultural History of Civil Examinations (wie Anm. 27).

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flammenden Diskussionen um das Verhältnis von ethisch-generalistischen Lerninhalten einerseits und eher fachspezifischen Qualifikationen andererseits wurde letztendlich stets zugunsten ersterer entschieden. Die Kategorie Wissen (zhi 知) war damit durchgängig integraler Teil von ethischer Verpflichtung, ästhetischer Empfindung und auch sinnlicher Wahrnehmung. Wissen ist auch Teil der Formel „Untersuchung der Dinge, um das Wissen zu erweitern“ (gewu zhizhi 格物致知),45 die mit dem 12. Jahrhundert handlungsleitend für alle Lernenden wird. Diese Formel setzt voraus, dass in allen Dingen ein Prinzip, eine Struktur (li 理) existiert, die zu ergründen sei, um das Wissen zu erweitern. Das Ergründen bestand konventionell darin, die memorierten kanonisierten Klassiker auf Hinweise zu durchforsten. Die Formel sollte außerdem verbindliche Anleitung sein zur Verfeinerung bzw. zur Durchführung des Programms der ethischen Selbst-Vervollkommnung durch Kultivierung. Gleichzeitig diente sie als Ausgangspunkt für „konkrete Untersuchungen“ (shice 實測) bzw. „konkrete, praktische Studien“ (shixue 實學), die im 16. und 17. Jahrhundert besonderen Stellenwert erlangten,46 und als Legitimierung technischer Neuerungen. In diesem Zusammenhang spricht die Forschung von der Genese einer Epistemologie empirischen Wissens im 17. Jahrhundert.47 Andererseits insistiert die Forschung in der Regel darauf, dass im historischen China ein spezifisches Äquivalent für das lateinische „scientia“ fehle und sich Wissen niemals vom Kontext gelöst habe.48 Hierbei wird jedoch zumeist fokussiert auf Wissenskonfigurationen bzw. Erfindungen und deren Einbindung und Praxis in den unterschiedlichen Bereichen, wie etwa die Schraube, die Bohrungen im Bergbau, den Buchdruck oder die Seiden- und Porzellanherstellung. Stößt die Forschung hierbei beispielsweise auf die handwerklichen industriemäßigen Produktionsweisen im 16. und 17. Jahrhundert, wird nach dem Zusammenhang zwischen Produktion in Modulen und ästhetischen Gesichtspunkten gefragt.49 Im Feld der kurativen Strategien (z. B. Regulierungswissen) sind Neu-Formationen von Identitäten im sozialen Raum, etwa als herausragender Arzt, zu beobachten. Diese spe__________ 45

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Eine Präzisierung der alten Losung gewu zhishi 格物致識 aus dem daxue 道學-Kapitel des Liji 禮記 (Buch der Riten), dem umfangreichsten der Fünf Klassiker (Wu jing 五經) aus dem 4.3. vorchristlichen Jahrhundert. Darüber besteht weitestgehender Konsens. Vgl. auch Dagmar Schäfer: Der Außenstehende: Song Yingxing 宋應星 (1587-1666?). In: Kritik im alten und modernen China. Hg. von Heiner Roetz. (Jahrbuch der Deutschen Vereinigung für China Studien 2) Wiesbaden 2006, S. 165-178, hier S. 175. Siehe Joseph Levenson: The Abortiveness of Empiricism in Early Ch’ing Thought. In: ders.: Confucian China and its Modern Fate: A Trilogy. Bd. 1. Berkeley 1968. Vgl. Fenzel, Birgit: Made im alten China. In: MaxPlanckForschung. Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft (2008) H. 3, S. 27-31, hier S. 29. Siehe hierzu insbesondere Lothar Ledderose: Ten Thousand Things. Module and Mass Production in Chinese Art. (The A. W. Mellon Lectures in the Fine Arts, 1998, The National Gallery of Art, Washington, D.C., Bollingen Series XXXV: 46) Princeton, N.J. 2000.

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zifischen Neu-Formationen scheinen einher gegangen zu sein mit neuen ätiologischen Herausforderungen wie Epidemien in ungekannten Ausmaßen und Ursachen, denen mit herkömmlichen Mitteln nicht beizukommen war.50 Aber auch Verschiebungen und Neuformierungen von Selbst-Konzepten und Karrieremustern sowie allgemein veränderte emotionale Gestimmtheiten und Befindlichkeiten haben eine Rolle gespielt. Als eine Konstante in der chinesischen Wissens- und Wissenschaftsgeschichte finden sich jedoch auch hier, als Bestandteil der Diskursivierung von konkretem praktischen, physiologischen sowie kurativen Wissen, Argumentationen auf der Basis kosmologischer und moralischer Vorgaben.

5. Wissensordnungen Die chinesische Geschichte hat unzählige private und offizielle Bibliothekskataloge und Bibliographien hervorgebracht, die als gedruckte Werke wiederum zum integralen Bestandteil von Gelehrsamkeit wurden und auf diesem Weg die jeweiligen Ordnungen des Wissens ausmaßen und festschrieben. Die bibliographischen Ordnungen dieser Kataloge deckten mehr oder weniger klar definierte Bereiche und Traditionslinien des gelehrten Schrifttums ab, und sie wurden immer wieder an neue Gegebenheiten, wie das vermehrte Aufkommen von Schriften mit neuen Thematiken bzw. neuen Perspektiven, angepasst. Wissensfelder fusionierten oder wurden ausdifferenziert, was insgesamt den Wandel der Bewertungen und Definitionen der Wissensbereiche reflektiert. So lassen sich die kaiserlichen Bibliographien vom 1. nachchristlichen bis ins 19. Jahrhundert hinein als Spiegelungen der Wissenslandschaften in ihren offiziell wahrgenommenen Umrissen ausmachen. Im 8. Jahrhundert, als der Konfuzianismus sich als Fundament der Staatsideologie festigte, zeigt sich eine gewaltige Umstrukturierung: Kenntnisse in praktischen Wissensfeldern wie Kampfkunst, Numerologie sowie Methoden und Rezepte verloren für die Beamtenrekrutierung sukzessive an Exponiertheit. Die praktisch ausgerichteten Bereiche wurden nun in die gelehrten kanonischen Schriften – in ihrer Viererklassifikation: Jingbu 經部 (Klassiker), Shibu 史部 (Geschichte), Zibu 子部 (Philosophie), Jibu 集部 (Schöne Literatur) – integriert oder neben diesen als eigene Traditionslinien und Schulen benannt.51 Dabei zeigt sich ein durchgängiges Bemühen darum, neue Wissensinhalte möglichst aus Traditionen abzuleiten und außerdem Unorthodoxes __________ 50

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Diese Phänomene wurden in der Habilitationsschrift der Verfasserin (Zirkulierende Leidenschaften: Re-Konstruktion von Emotionswissen im China des 17. Jahrhunderts. Kiel 2007) abgehandelt. Siehe hierzu Martina Siebert: Die bibliographische Kategorie der pulu. Abhandlungen und Auflistungen zu materieller Kultur und Naturkunde. Wiesbaden 2006; sowie Christoph Kaderas: Die Leishu der imperialen Bibliothek des Kaisers Qianlong (reg. 1736-1796): Untersuchungen zur Chinesischen Enzyklopädie. (Asien- und Afrika-Studien der Humboldt Universität zu Berlin 4) Wiesbaden 1998.

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auszuklammern. So weist man seit dem 7. Jahrhundert im Zusammenhang mit den Sektionen Medizin, Kalender und ‚Fünf Wandlungsphasen‘ (wu xing 五行) auf die Schwierigkeit hin, zwischen Orthodoxie und den durch ‚geringe Menschen‘ verbreiteten Irrtümern und Schwindel zu unterscheiden und eine Grenze zu ziehen. Zahllosen Schriften zur Alchemie wurde auf diese Weise ihre Aufnahme in die offizielle bibliographische Ordnung der Wissenslandschaft verwehrt. Erst das Daozang 道藏 (Daoistischer Kanon), eine umfangreiche Kompilation aus dem 15. Jahrhundert, enthält solche Texte. Als China unter der Herrschaft der Qing-Dynastie (1644-1911) bis dahin nicht gekannte geographische Ausmaße erreichte, evozierten die räumlichen Expansionen die Notwendigkeit, Wissen über die Ethnien, Fauna und Flora zu erlangen und mithin Explorationen in neue Räume des Wissens zu unternehmen.52 So sollten jesuitische Kartographen zwischen 1708 und 1718 zusammen mit Lokalbeamten die Grenzen des expandierenden Reiches vermessen und Lokalbeamte außerdem ethnographische Erkundungen über die neu eingegliederten nicht-hanchinesischen Völker einholen.53 Außerdem sollten die Wissensbestände aus allen Zeiten systematisch geortet und klassifiziert werden, was unschwer als Maßnahme zur Eigenrepräsentation zu entziffern ist. Doch diese auf Herrschaftslegitimierung verweisende Interpretation reicht nicht aus, um etwa zu erklären, warum der Kaiser jesuitische Gelehrte am Hof aufforderte, Anatomien aus der westlichen Welt zu übersetzen. Nun erscheinen auch bislang marginalisierte Bereiche wie die Mathematik (suanfa 算法) und Astronomie (tianwen 天文) im Rahmen der vom Kaiserhof lancierten Mammutprojekte zur Eruierung von Wissen als distinkte Wissensfelder. Die Interpretation der Anordnungs- und Klassifikationsschemata in den großangelegten enzyklopädischen Hof-Projekten im 18. Jahrhundert gestaltet sich jedoch insgesamt als schwierig, zumal die annähernd neunhunderttausend (852.408) Seiten des Gujin tushu jicheng 古今圖書集成 (Sammlung von Karten und Schriften aus alter und neuer Zeit), 1726 dem Thron vorgelegt, zwar in 6 Kategorien, aber in 32 Sektionen (dian 典) und 10. 000 Subsektionen (bu 部) unterteilt sind.54 In keinem Falle reicht es aus, Begriffe zu übersetzen und Listen zu erstellen; diese enthüllen nichts von den Wissenstraditionen, die in den seit dem 10. Jahrhundert erstellten Katalogen der Ursprünge von Dingen inklusive der technischen und zivilisato__________ 52

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Siehe Laura Hostetler: Qing Colonial Enterprise. Ethnography and Cartography in Early Modern China. Chicago/London 2001. Zu den früheren Missionskartographen in China siehe Lothar Zögner: China cartographica. Chinesische Kunstschätze und europäische Forschungsdokumente. Berlin 1983, S. 33-57; Helaine Selin (Hg.): Encyclopaedia of the History of Science, Technology and Medicine in Non-Western Cultures. Dordrecht 1997, S. 569-570. Das Reich erstreckte sich nun im Nordosten über die Mongolei, Tibet, Mandschurai, Turkestan (Xinjiang) und im Südwesten über Yunnan und Guangxi. Eingegliedert wurden nach und nach Dsungaren (über das heutige Xinjiang herrschende Stämme), mongolische Stämme, Tibeter, muslimische Turkvölker im Nordwesten und im Süden Ethnien aus Guangxi, Guizhou und Yunnan. Vgl. Qinding gujin tushu jicheng 欽定古今圖書集成. Kompiliert von Chen Menglei 陳夢雷, Jiang Tingxi 蔣廷锡 u. a. [1726]. 80 Bde. Chengdu 1988.

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rischen Neuerungen verschriftet worden sind,55 und sie erklären nicht, warum bestimmte Wissensfelder im 17. Jahrhundert von der Bildfläche verschwinden, während andere an Exponiertheit gewinnen.

6. Veränderte epistemische Situationen (Transformationen) Die Episteme, d. h. das Geflecht von Sichtweisen, die jeweils definieren, was als ‚Wissen‘ galt, schien sich vom 15. Jahrhundert an grundlegend zu verändern. Nicht nur, dass der Hof zum 16. Jahrhundert hin kaum noch Texte aus dem Bereich Literatur drucken lässt, auch Klassiker verschwinden zunehmend aus dem offiziellen Druck-Repertoire. Proportional zum Rückzug des Kaiserhofes aus der Bereitstellung offiziell sanktionierter Texte für die Examensanwärter floriert der Buchmarkt mit privat verfassten und gedruckten Schriften als Orientierungs- und Lehrmaterial für die Examina. Außerdem erscheinen, zusätzlich zu den Lernhilfen und zusätzlich zu Romanen, Lyrik und Kurzgeschichten, beginnend mit dem 15. Jahrhundert so genannte Beratungs- und Moralschriften (shanshu 善書) auf dem Buchmarkt.56 Der Befund, wonach im 15. Jahrhundert eine Renaissance buddhistischen und daoistischen Denkens einsetzt, basiert auf Indizien der hochgradigen Popularisierung dieser Handbücher, denn sie sind Amalgame aus den drei Lehren Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus. Die Losung „die drei Lehren sind eins“ (sanjiao heyi 三教合一) 57 findet sich zu dieser Zeit in verschiedenen Wissensfeldern expliziert, insbesondere auch in medizinischen Texten.58 Diese Losung verkörpert eine unterschwel__________ 55

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Vgl. Fenzel: Made im alten China (wie Anm. 48), S. 29. Was es mit diesen Texten auf sich hat, untersucht Martina Siebert am MPI für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Sie fragt danach, wie bei der Aneignung des Neuen das Bekannte (Alte) als überwunden oder als nicht überwunden diskursiviert wurde. Siehe hierzu Cynthia J. Brokaw: The Ledgers of Merit and Demerit. Social Change and Moral Order in Late Imperial China. Princeton, N.J. 1991. Diese Losung geht mindestens bis in die Yuan-Zeit (1279-1368) zurück. Siehe hierzu Joachim Gentz: Die Drei Lehren (sanjiao) Chinas in Konflikt und Harmonie. In: Religionen nebeneinander. Modelle religiöser Vielfalt in Ost- und Südasien. Hg. von Edith Franke und Michael Pye. Berlin 2006, S. 17-40. Es ist bekannt, dass der Gründer der Ming-Dynastie Ming Taizu 明太租 (1328-1398) bei seinem Bestreben, wirkkräftige Institutionen zu begründen, sich gleichzeitig auf die populären Traditionen des Buddhismus, Daoismus und Manichäismus berief. Siehe hierzu John D. Langlois Jr./Sun K’o-K’uan 孫克寬: Three Teachings Syncretism and the Thought of Ming T’ai-tsu. In: Harvard Journal of Asiatic Studies 43 (1983) H. 1, S. 97-117. Zur Differenzierung von Synkretismus und Eklektizismus siehe Judith A. Berling: The Syncretic Religion of Lin Chao-en. New York 1980, S. 9-10. Siehe beispielsweise bei Zhao Xianke 趙縣可 (späte Ming-Zeit): Yi Guan 醫貫 (Durchdringendes Wissen zur Medizin). Repr.von 1617. Beijing 1982. Siehe hierzu erste Auslotungen in Angelika C. Messner: Negotiations of benevolence and body politics in historical contexts. In: Humanism in China. Tradition and Modernity. Hg. von Carmen Meinert. Bielefeld 2010.

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lige Unterwanderung des offiziell sanktionierten neokonfuzianischen Kanons, denn auch andere Texte, vornehmlich Darlegungen kosmologischer Konstellationen und zur Führung des Familienhaushalts oder des Staates werden seit dem 15. Jahrhundert privat und in großem Umfang, bei entsprechendem Rückgang offiziell verfasster Werke, publiziert.59 Privat verfasst werden auch zunehmend Handbücher für den Alltagsgebrauch (riyong leishu 日用類書), die wie die Enzyklopädien (Leishu 類書) überhaupt direkte Einblicke in die aktuelle Ordnung des Wissens jener Zeit gewähren. So finden sich im 1613 erschienenen Tushu bian 圖書編, einem illustrierten Kompendium,60 ganz beiläufig eingestreut, Umwertungen neokonfuzianischer Sichtweisen: Wenn die Tugend zu nähren, das gleiche ist, wie seinen eigenen Leib zu nähren (養德養身非二),61 dann verweist dies auf Vorstellungen zum moralischen und physischen Selbst, die zuvor marginalisierte, daoistische und buddhistische Sichtweisen favorisieren und die konventionell gültigen neokonfuzianischen Leitvorstellungen implizit infrage stellen.

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Quelle: Zhongguo guji shanben mulu 中國古籍善本書目 (Chinesischer Verbandskatalog seltener Bücher). Hg. von der Zhongguo guji shanben shumu bianji weiyuan hui 中國古籍善本書目編輯 委員會. Shanghai: Jingbu 經部 (Klassiker). 2 Bde. 1989; Congbu 叢部 (Collectania/Sammlungen). 1 Bd. 1990; Shibu 史部 (Geschichte). 2 Bde. 1993; Zibu 子部 (Philosophie). 2 Bde. 1996; Jibu 集部 (Schöne Literatur). 3 Bde. 1998. Das Tushu bian ist insgesamt reich bebildert; beispielsweise finden wir eine Kopie der Mappa mundi von Matteo Ricci, die aufschlussreiches Material zur Rolle der Missionskartographen in China bietet. Autor ist Zhang Huang 章潢 (1527-1608), mit Höflichkeitsnamen (zi 字) Ben Qing 本清 und Rufnamen (hao 號) Dou Jin 斗津. 1577 kompilierte er das Tushu bian in 127 juan. Das handschriftliche Original wurde erst drei Jahrzehnte nach seiner Fertigstellung, im Jahre 1613, in Druck gegeben. Wan Shanglie 萬尚烈 (fl. ca. 1640) bezahlte die Anfertigung der Druckplatten aus eigener Tasche, als er als Vizepräfekt von Shaowu 邵武 (in der heutigen Provinz Fujian) diente. Im Jahre 1613, als er Sekretär im Justizministerium war, schrieb Wan den Prolog, in dem er eröffnet, dass ihn zwei Männer bei der Finanzierung der Druckplatten unterstützt hatten. Außerdem bat er 10 Jahre später den Vizekriegsminister um ein Vorwort. Das Tushu bian basiert offenbar auf den vormalig mehr als 200 Schriften des Autors. In seinen Ausführungen zur Kosmologie nimmt er Bezug auf Yuan Dong 遠洞 (auch bekannt unter Li Shouqin 李守欽 oder auch als Dong Yuan zhen ren 洞遠貞人 [Der Wahre Mensch Dong Yuan] oder auch Su An 粛 庵), einen Arzt aus der Ming-Zeit. Vgl. Tushu bian, juan 68, 2b-3a. Ausführungen zum Leben und der Beschaffenheit des Menschen (von juan 67 bis juan 125) nehmen den größten Raum der gesamten Kompilation ein. Die letzten beiden juan (126 und 127) sind als eine Art Konkordanz zum Yijing (Buch der Wandlungen) sowie zum Shijing (Buch der Lieder) hinzugefügt. Solcherlei Darlegungen nehmen mit 57 juan der insgesamt 127 juan beinahe die Hälfte der gesamten Enzyklopädie ein. Nun ist die MakroMikrokosmos-Analogie, selbst mit dem Staat auf einer Zwischenebene zwischen Mensch und Kosmos, nichts Neues. Als neu erscheint aber die Gewichtung, die sich nicht nur im Tushu bian sondern auch in dem ebenfalls enzyklopädisch angelegten Werk, dem Sancai tuhui 三才圖會 (1609) von Wang Qi 王圻 (fl. 1565-1614) zeigt.

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7. Handlungswissen – ethisches Wissen Als im 16. Jahrhundert qingzhi 情志 (Gefühle)62 zum Dreh- und Angelpunkt einer sich neu generierenden Lebensart wurden, entstanden auch neue Ausdrucksmöglichkeiten, Fühl- und Befindlichkeitsmuster („Kult der Emotionen“).63 Neben den Quantifikationslisten von Verhaltensweisen gemäß karmischer Vergeltungskausalität, wie sie in den Moralhandbüchern als neue handlungsleitende Orientierungstexte seit dem 15. Jahrhundert zirkulieren, figuriert qingzhi (Gefühl, Liebe, Leidenschaft) in literarischen Schriften dieser Zeit als zentrale Konstante, als herausragender intrinsisch menschlicher Wesenszug, als natürlicher und notwendiger Ausdruck menschlichen Seins. Die Komposita qingshu 情書 (Liebesbrief), qingci 情詞 (Liebeslied) und qingshi 情詩 (Liebesgedicht) erscheinen im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert erstmalig als Topoi in enzyklopädischen Handbüchern für den täglichen Gebrauch sowie in Anleitungen zum richtigen Verfassen von Briefen.64 Weil Liebe und Leidenschaft sowie Begehren (yu 慾) als wichtigste Merkmale wahren Menschseins zelebriert wurden, ist in der Forschung die Rede von einer romantischen Bewegung, die im westlichen Kontext für die Emanzipation der Gefühle steht, sowie mit Humanismus, Subjektivismus und Individualismus.65 So wird der Vergleich mit der europäischen Aufklärung gesucht, da auch hier subjektive Gefühle als Handlungsimpulse und als Begründungen für Kritik an herrschenden Normen gelten. Neben den Moralhandbüchern gelangen nun auch vermehrt Schriften zur „Lebenspflege/Nähren des Lebens/Kultivierung des Lebens“ (yangsheng 養生) auf den Buchmarkt. Lebenspflege-Texte und -Praktiken waren von jeher __________ 62

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Vgl. die neueste überblicksartige Skizze zur Begriffsbestimmung von ,Gefühl‘ in der westlichen Hemisphäre in Ulrich Mees: Zum Forschungsstand der Emotionspsychologie – eine Skizze. In: Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze. Hg. von Rainer Schützeichel. Frankfurt a.M./New York 2006, S. 104-123. Bei Feng Menglong 馮夢朧 (1574-1646): Qingshi 情史. In: Feng Menglong quanji 馮夢朧全集, Bd. 7. Jiangsu 1993, ist die Rede von der Lehre der Emotionen (qingjiao 情教). Siehe hierzu u. a. Wong Siu-kit: Ch’ing in Chinese Literary Criticism. In: Chinese Approaches to Literature from Confucious to Liang Ch’i-ch’ao. Hg. von Adele Austin Rickett. Princeton, N.J. 1978, S. 121-150, der hier dezidiert vom „cult of emotions“ spricht, um die Omnipräsenz von qing in der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts zu benennen. Siehe auch Sophie Volpp: The Literary Consumption of Actors in Seventeenth-Century China. In: Writing and Materiality in China. Essays in Honour of Patrick Hanan. Hg. von Judith T. Zeitlin und Lydia H. Liu mit Ellen Widmer. (Harvard Yenching Institute Monograph Series 58) Cambridge, Mass./London 2003, S. 133-183, hier S. 152154. Siehe hierzu eingehend Kathryn Lowry: Duplicating the Strengh of Feeling. The Circulation of Qingshu in the Late Ming. In: Zeitlin/Liu/Widmer: Writing and Materiality (wie Anm. 63), S. 239-272, hier S. 240-241. Siehe hierzu Richard G. Wang: The Cult of Qing: Romanticism in the Late Ming Period and in the Novel Jiao Hong Ji. In: Ming Studies 33 (August 1994), S. 12-55, hier S. 12; Maram Epstein: Competing Discourses: Orthodoxy, Authenticity, and Engendered Meanings in Late Imperial Chinese Fiction. Cambridge, Mass./London 2001, S. 16ff.

Regulierungswissen und Regulierungspraktiken

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mit daoistisch-religiös und alchemistisch induzierten Techniken assoziiert. Sie waren im 10. Jahrhundert, als der öffentlich und privat betriebene Buchdruck erstmals florierte, gedruckt und verbreitet worden. Die Popularisierung dieser Schriften erreichte jedoch erst im 16. und 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt.66 Die Traditionen der Kultivierung des Selbst (xiushen) und die Lebenspflege (yangsheng) propagierten von jeher Zurückhaltung und Bescheidenheit, ja hinsichtlich Ernährung und Sexualität möglichst Abstinenz von Prasserei und Überfluss. Die Lebenspflege-Praktiken verweisen nicht nur auf physiologisch wirksame Vorbeugetechniken von Krankheiten; sie sind, wie die konfuzianisch induzierten Selbstkultivierungspraktiken auch, nicht zu trennen von Visionen spiritueller und moralisch/ethischer Vervollkommnung. Dass Schriften zur Lebenspflege im 16. und 17. Jahrhundert auffallend stark in Kreisen nachgefragt werden, die sich – inmitten von Wohlstand und Reichtum, insbesondere in den südöstlichen Regionen – neuen Vorlieben wie ausgeprägter Sammlertätigkeit (von Büchern, Schmetterlingen, Pflanzen, Steinen, Tuschesteinen, Pinseln etc.), der Thematisierung von Geschmack (hinsichtlich Essen, Kleidung, Garten- und Wohnarchitektur) sowie exzentrischen Lebensformen (ausgiebige Reisetätigkeit, Zelebrierung von Stadteremitentum etc.) hingeben,67 erscheint nur auf den ersten Blick als paradox. Ein integraler Gedanke der alternativen Agenda der Wissenserlangung und Wissenserweiterung zur Selbstvervollkommnung, stammte von Wang Yangming 王陽明 (14721529):68 Jeder, unabhängig von Schicht und Bildungsstand, sei prinzipiell fähig, seine Vervollkommnung zu erlangen, denn jeder Mensch besitze das eingeborene gute (moralische/ethische) Wissen (liangzhi 良知) auf subjektiver Basis. Diese (alternative) Schiene der Kultivierung des Selbst bewegt sich durchaus entlang gelehrter Argumentationsrhetorik, so auch die Epistemologie der „Einheit von Wissen und Handlung“ (zhixing heyi 知行合一). Die umfassend empathische Ausstattung des Menschen ist als „Wissen“ benannt (das gute, intuitive Wissen: liangzhi), das sich in konkreten Situationen als Handlung manifestiert: kein abstraktes Räsonieren, sondern konkretes HandlungsWissen. Diese Wissens-Kategorie ist integral für die Etablierung von Denkbewegungen im 16. und 17. Jahrhundert, die bei sehr divergierenden politischen und philosophischen __________ 66

67

68

Siehe hierzu die Titel im Nationalen Gesamtkatalog der Chinesischen Medizin: Quanguo zhongyi tushu lianhe mulu 全國中醫聯合目錄. Hg. von Zhongguo zhongyi yanjiuyuan tushuguan 中國醫 研究圖書館. Beiing 1991, S. 606-611. Stellvertretend für die expandierende Forschungsliteratur zu diesem Phänomen sei hier allein auf Graig Clunas: Empire of Great Brightness. Visual and Material Cultures of Ming China, 13681644. London 2007, verwiesen. Siehe hierzu Epstein: Competing Discourses (wie Anm. 65); Victoria Cass: Dangerous Women: Warriors, Grannies, and Geishas of the Ming. Lanham/Boulder/NewYork/Oxford 1999, S. 15-16; Patrick Hanan: The Vernacular Chinese Story. Cambridge, Mass. 1981, S. 4; Kang-i Sun Chang: The Late Ming Poet Ch’en Tzu-lung: Crises in Love and Loyalism. New Haven 1991, S. 3-9.

116

Angelika C. Messner

Perspektiven den Blick auf eigene konkrete Anschauung und praktische Verwertbarkeit von Wissen schärfen wollen.69 Damit drängen sich Fragen nach den Modi von Wissenskonstituierungen im Spannungsfeld von Praxis und Theorie im 16. und 17. Jahrhundert auf; Fragen nach den Texturen und Konturen des Übergangs von einem über die Etikette definierten Selbst hin zu einem experimentierenden Selbst, des Übergangs von einem äußerlich standardisierten Selbst hin zu einem subjektiven Innen; Fragen nach den Distinktionen in den Ordnungen des Wissens qua orthodox und heterodox (zheng 正 und xie 邪) oder qua privat und offiziell; Fragen nach der Relevanz so genannter existentieller Notwendigkeiten, die im 16. und 17. Jahrhundert ,neu‘ auf dem ,Markt der Bedrohungen‘ erscheinen wie die Pest und Geschlechtskrankheiten oder die Themen ,Liebeskummer‘ und ,Kinderlosigkeit‘, die ebenfalls seit dem 15. Jahrhundert an Exponiertheit gewinnen. Wenn Wissen nicht in Separation von Handeln/Praxis (in einer bestimmten Situation) definiert wird (wie bei Wang Yangming im 15. Jahrhundert), suchen wir vergeblich nach der Opposition ,Glaube hier – Wissen dort‘, wie sie in mitteleuropäischen Zusammenhängen virulent war. Fragen lässt sich vielmehr, wie sich die Tendenzen zu deutlich pragmatisch und praktisch versierten Wissensaneignungsformen zu dem zeitgleich verstärkt eingeforderten Wissen um die kosmologische Einordnung des Menschen verhält, oder auch wie sich die Adjustierungen an den Sichtweisen auf den menschlichen Körper als (neues) Körperwissen in medizinischen und literarischen Texten der Zeit zu politisch induzierten Denklagen verhalten.

__________ 69

Wozu die oben erwähnten Losungen „Konkrete Untersuchungen“ (shice 實測), „Konkrete, praktische Studien“ (shixue 實學), „Lernen, die Welt zu ordnen“ (jingshi zhi xue 經世之學), „Umfassendes Lernen“ (boxue 博學) sowie „Ergründen des Prinzips“ (qiongli 窮理) gehörten.

Regulierungswissen und Regulierungspraktiken

117

Zeittafel

Frühe Kaiserzeit

Mittlere Kaiserzeit

Späte Kaiserzeit

Xia



21. Jh. –

16. Jh. v.Chr.

Shang



16. Jh. –

11. Jh.

Zhou



11. Jh. –

256

westliche Zhou

西周

11. Jh. –

771

östliche Zhou

東周

770 –

256

Chunqiu-Periode

春秋

770 –

476

Zhanguo-Periode

戰國

481 –

221

Qin



221 –

206

Han



206 v.Chr. –

Drei Reiche (Sanguo)

三國

220 –

280

Jin



220 –

265

westliche Jin

西晉

265 –

317

östliche Jin

東晉

317 –

420

Süd- und Norddynastien

南北朝

420 –

581

Sui



589 –

618

Tang



618 –

907

5 Dynastien (Wudai)

五代

907 –

960

Liao



916 – 1124

westliche Liao

西遼

1125 – 1201

Xixia

西夏

1032 – 1226

Song



960 – 1279

nördliche Song

北宋

960 – 1126

südliche Song

南宋

1127 – 1270

Jin



1115 – 1234

Yuan



1280 – 1267

Ming



1368 – 1644

Qing



1644 – 1911

220 n.Chr.

Thorsten Burkard Heteronomie und Autonomie von Dichtung. Jacob Masens und Jacob Baldes Barockpoetiken im Vergleich

In den fünfziger Jahren des 17. Jahrhunderts erscheinen mit Jacob Masens Palaestra eloquentiae ligatae (zuerst 1654 und 1657) und Jacob Baldes Dissertatio de studio poetico (1658) zwei lateinische Poetiken, die zwar beide von deutschen Jesuiten verfasst wurden, aber kaum unterschiedlicher hätten ausfallen können. Auf der einen Seite Masens so voluminöse wie systematische dreibändige Regelpoetik, auf der anderen Seite Baldes knapper, assoziativer Essay,1 der programmatisch auf die Erteilung von praecepta verzichtet. Auf der einen Seite eine erschöpfende Darstellung sowohl der Dichtkunst im Allgemeinen als auch aller größeren poetischen Gattungen, auf der anderen Seite ein unsystematisches Hin- und Herspringen, das sich im Hauptteil an den literaturtheoretischen Gedichten des Horaz orientiert, um schließlich einigermaßen überraschend in eine humoralpathologische Abhandlung und den Preis der satirischen Gattung zu münden. Auf der einen Seite der belehrende Gestus des enzyklopädisch veranlagten Schulmeisters, auf der anderen Seite der als deutscher Horaz gefeierte Großmeister der neulateinischen Dichtung, der mit souverän-überlegener Attitüde die Summe seines Lebenswerkes zieht und sich über eine Gliederung des Stoffes und dessen fassliche Vermittlung sichtlich keine Gedanken machen möchte. Auf der einen Seite der spröde, teilweise unbeholfene und übertrieben metikulöse Lehrbuchstil, auf der anderen Seite eine elegante und brillante Diktion, die die Lektüre zu einem Vergnügen macht, wenn man bereit ist, sich auf Baldes zuweilen aberwitzige Gedankensprünge einzulassen. Diesen eher äußerlichen Unterschieden entsprechen die fast diametral entgegensetzten Konzeptionen von Dichtung, die in den beiden Werken zu fassen sind und die sich simplifizierend auf die Formel reduzieren lassen, dass die Grundlage von Masens Palaestra die Heteronomie von Dichtung ist, während man Baldes Dissertatio als Manifest der poetischen Autonomie lesen kann. Diese poetologische Dichotomie soll im Folgenden in ihren Grundzügen skizziert werden. __________ 1

In der Münchener Ausgabe von 1729 umfasst Baldes Dissertatio knapp 40 Seiten (Jacob Balde: Opera poetica omnia. 8 Bde. München 1729 [Nachdruck Frankfurt a.M. 1990. Hg. und eingeleitet von Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand], hier Bd. 3, p. 319-357).

120

Thorsten Burkard

1. Balde und Masen: Leben und Werke Jacob Balde (1604-1668) und Jacob Masen (1606-1681) zählen zweifellos zu den produktivsten und bedeutendsten deutschen Jesuiten des 17. Jahrhunderts. Der 1604 im alemannischen Elsass geborene Balde wurde durch die Wirren des BöhmischPfälzischen Krieges nach Bayern verschlagen, wo er schnell im Orden und am Münchener Hofe Karriere machte und zu einem der angesehensten neulateinischen Dichter wurde. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn war er Hofprediger (1638-1640) und Hofhistoriograph (1640-1648) des Kurfürsten Maximilian I. von Bayern (reg. 1597-1651), der ihn mit der Anfertigung einer bayrischen Geschichte beauftragte – dieses Balde selbst lästige Projekt ist jedoch nie über dürftige Anfänge hinausgekommen.2 Die letzten vierzehn Jahre seines Lebens verbrachte er im Herzogtum Pfalz-Neuburg, wo er unter anderem als Beichtvater des Landesfürsten Philipp Wilhelm (reg. 1653-1690) tätig war.3 Baldes Œuvre ist fast zur Gänze in lateinischer Sprache geschrieben und umfasst in der postumen Münchener Gesamtausgabe von 1729 acht Bände;4 in den ersten beiden Bänden sind die lyrischen Werke der vierziger Jahre (Lyrica und Sylvae) versammelt, denen der Elsässer seinen europaweiten Ruhm zu einem Großteil verdankt. Balde ist vor allem Dichter; Prosaschriften und Prosapassagen nehmen nur einen geringen Teil des Gesamtwerks ein, für die nüchtern-trockene Fachliteratur war er offensichtlich zu künstlerisch veranlagt (an Bildung und Begabung fehlte es ihm zweifelsohne nicht). Dementsprechend sprühen auch seine poetologischen Abhandlungen von Witz und Geist und lassen – wie wir noch sehen werden – die strenge Systematik der zeitgenössischen Poetiken vermissen. Genau das entgegengesetzte Naturell ist der zwei Jahre jüngere, aus dem Rheinland stammende und vor allem in Köln als Lehrender der Societas Jesu wirkende Jacob Masen: Sieht man von seinen früh entstandenen Theaterstücken ab,5 so kann man ihn mit Fug und Recht als Fachschriftsteller und Historiker bezeichnen. Neben seinen uns hier allein interessierenden poetologischen Schriften finden sich beispielsweise theologische __________ 2

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Zu Balde als (verhindertem) Geschichtsschreiber vgl. jetzt Katharina Kagerer: Die Jesuiten und der Hof. Matthäus Rader, Andreas Brunner und Jacob Balde als Landesgeschichtsschreiber im 17. Jahrhundert. In: Serenissimi Gymnasium. 450 Jahre bayerische Bildungspolitik vom Jesuitenkolleg zum Wilhelmsgymnasium München. Hg. von Julius Oswald SJ, Rolf Selbmann und Claudia Wiener. Regensburg/Rom 2010, S. 43-59 mit Literatur. Philipp Wilhelm ist auch Masens Palaestra gewidmet. Vgl. Anm. 1. Sieben seiner Theaterstücke hat Masen als Musterstücke der dramatischen Gattung seiner Palaestra beigegeben; in diesem seinem poetologischen Hauptwerk finden sich noch weitere Dichtungen, die wohl teilweise auch eigens zu dem Zweck, als Musterstücke zu dienen, verfasst worden sind. Zu einer Aufzählung dieser Specimina vgl. Thorsten Burkard: Moralisierender jesuitischer Klassizismus. Jacob Masens Palaestra eloquentiae ligatae. In: Norm und Poesie. 4. Tagungsgespräch der Deutschen Neulateinischen Gesellschaft Februar 2010. Hg. von Beate Czapla und Roswitha Simons (im Druck), Fußn. 10, 22, 31.

Heteronomie und Autonomie von Dichtung

121

Abhandlungen (etwa zur ökumenischen Frage); seine letzten Lebensjahre widmete er Chroniken von Trier und Paderborn – und damit ausgerechnet der Gattung, an der der Poet Balde gescheitert war. Der Unterschied zwischen dem Theoretiker und dem Dichterfürsten spiegelt sich auch im Forschungsstand wider: Während das wissenschaftliche Interesse an Balde seit der Pionierarbeit von Eckart Schäfer aus dem Jahr 19766 wieder stark zugenommen hat und in den letzten drei Jahrzehnten zahlreiche kommentierte Editionen, Sammelbände und Aufsätze hervorbrachte,7 kann man von einer MasenForschung kaum sprechen.8 Beim Vergleich der beiden Poetiken kann man in der Tat den Eindruck gewinnen, dass die eine von einem reinen Theoretiker verfasst ist, der in der Dichtkunst lediglich ein Mittel zum Zweck sieht, während die andere fast eine Liebeserklärung an die Dichtung von einem ihrer begabtesten Jünger darstellt.9 Wir wollen im Folgenden versuchen, diesen Gegensatz herauszuarbeiten und zu zeigen, inwiefern in Masens Palaestra die Dichtung als heteronom bestimmt aufgefasst wird, während in Baldes Dissertatio der Versuch unternommen wurde, dem Leser ihre Autonomie ins Bewusstsein zu bringen (ohne jedoch die heteronomen Komponenten schlichtweg zu leugnen). __________ 6 7

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9

Eckart Schäfer: Deutscher Horaz. Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissus, Jacob Balde. Wiesbaden 1976. Baldes Wiederentdecker ist kein geringerer als Johann Gottfried Herder, der den Elsässer insbesondere durch seine Übersetzungen vor dem Vergessen gerettet hat. Aus dem 19. Jahrhundert ist vor allem Georg Westermayers immer noch einschlägige Biographie zu nennen: Jacobus Balde (16041668), sein Leben und seine Werke. Eine literärhistorische Skizze. München 1868 (Nachdruck Amsterdam/Maarssen 1998. Hg. von Hans Pörnbacher und Wilfried Stroh). Eine umfassende, ständig aktualisierte Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur findet sich auf der Münchener Homepage von Wilfried Stroh: ; auf dem Stand von 2004 ist das Literaturverzeichnis in: ders.: Baldeana. Hg. von Bianca-Jeanette Schröder. (Münchner Balde-Studien 4) München 2004, hier S. 313-363. Immer noch grundlegend zu Masen: Nikolaus Scheid: Der Jesuit Jakob Masen, ein Schulmann und Schriftsteller des 17. Jahrhunderts. Köln 1898 (Erste Vereinschrift der Görres-Gesellschaft); zu seinen rhetorischen Werken und dem Speculum imaginum veritatis occultae: Barbara Bauer: Jesuitische ars rhetorica im Zeitalter der Glaubenskämpfe. (Mikrokosmos 18) Frankfurt a.M. 1986, S. 319-545. Zu Masens Werken vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographie zu den Drucken des Barock. Bd. 4. 2. Aufl. Stuttgart 1991, S. 2673-2695 (dort auch Literatur). Moderne Ausgaben und Übersetzungen seiner Werke fehlen (von wenigen Ausnahmen abgesehen). Rein äußerlich haben wir es nach der Plett’schen Terminologie mit einer regulativ-topischen Poetik (Masens Palaestra) und einer argumentativen Poetik (Baldes Dissertatio) zu tun. Eine argumentative Poetik entwickelt theoretische Standpunkte, oft in polemischer Art und Weise; eine topische Poetik stellt Ausdrücke, Wendungen und Loci zur Verfügung (vgl. Anm. 53), eine regulative Poetik vermittelt systematisch praecepta (Heinrich F. Plett: Renaissance-Poetik. Zwischen Intuition und Innovation. In: Renaissance-Poetik. Renaissance Poetics. Hg. von dems. Berlin 1994, S. 1-20, hier S. 15-20). Zur Einordnung der Dissertatio innerhalb der argumentativen Poetik vgl. Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. v-vi.

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Thorsten Burkard

2. Jacob Masens Palaestra eloquentiae ligatae Die ersten beiden Teile von Masens insgesamt etwa 1500 Seiten umfassender Palaestra eloquentiae ligatae (etwa ‚Schule der gebundenen Beredsamkeit‘)10 wurden 1654 veröffentlicht, der dritte und letzte Teil 1657; zu Masens Lebzeiten erschien noch eine erweiterte Neuauflage (1661/1664).11 Das Werk ist für den Schulunterricht gedacht, richtet sich also in erster Linie an die lernende Jugend und deren Lehrer. Der didaktische Charakter wird weniger in den einzelnen theoretischen Kapiteln deutlich, die häufig langatmig, unnötig repetitiv und vor allem recht komplex sind, als vielmehr in den Sammlungen von gelungenen Ausdrücken,12 mythologischen Realien und den bereits erwähnten Musterdichtungen.13 Während im ersten Teil die Dichtkunst im Allgemeinen behandelt wird, sind die beiden anderen Teile einzelnen Gattungen gewidmet, Elegie, Epik und Lyrik der zweite, dem Drama (also Tragödie, Komödie und den Mischformen) der dritte. Den gattungsspezifischen Teilen sind entsprechende Musterbeispiele aus Masens eigener Feder beigefügt, u. a. das Epos Sarcotis und die Komödie Rusticus imperans.14 Nach Masens Auffassung ragen in der Neuzeit (oder zumindest unter den Zeitgenossen) zwei Lyriker hervor:15 der polnische Jesuit Maciej Kazimierz Sarbiewski (Mathias Casimirus

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Das Substantiv eloquentia bezeichnet allgemein die sprachliche Ausdrucksfähigkeit (zumeist in bonam partem) und kann daher bereits in der Antike auch auf poetische Werke bezogen werden. Vor einer Überinterpretation ist daher zu warnen, vgl. dazu Burkard: Klassizismus (wie Anm. 5), Fußn. 38. Im Folgenden wird die Palaestra zitiert nach der postumen Ausgabe von 1682/1683, die mit den Ausgaben von 1661 (Pars I-II) bzw. 1664 (Pars III) identisch ist. Zur Palaestra eloquentiae ligatae sind in letzter Zeit zwei Aufsätze erschienen: Peter Orth: Jacob Masens Übungsplatz für die gebundene Beredsamkeit. Die Palaestra eloquentiae ligatae (1654-1657). In: Analecta Coloniensia 6 (2006), S. 171-196 und Burkard: Klassizismus (wie Anm. 5). Am Ende des ersten Buches des ersten Teils (cap. 21-33, p. 82-168) steht eine umfassende mythologische Enzyklopädie mit einem eigenen Index. Das dritte Kapitel des zweiten Buches des ersten Teils bietet ein kleines Synonymenlexikon (p. 177-184). Seit der zweiten Auflage findet sich im dritten Teil ein achtzig Seiten umfassender Anhang mit nachahmenswerten plautinischen Reden, Ausdrücken und Wörtern (p. 497-575). Vgl. o. Anm. 5. Vgl. o. Anm. 5. Die Sarcotis erlangte in den beiden folgenden Jahrhunderten Berühmtheit, weil man behauptete, John Miltons erstmals 1667 erschienenes Werk Paradise Lost sei ein Plagiat von Masens Epos. Mit dem Ausdruck „cultissima hac aetate“ (‚in diesem hochgebildeten Zeitalter‘) ist entweder die gesamte Neuzeit oder (ungefähr) die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts gemeint (vgl. auch „huius aevi“ im Zitat in der übernächsten Anmerkung).

Heteronomie und Autonomie von Dichtung

123

Sarbievius, 1595-1640)16 und – Jacob Balde.17 Die Qualität ihrer Dichtungen sei sogar mit der horazischen Lyrik zu vergleichen.18 Masen empfiehlt diese beiden Dichter auch in inhaltlicher Hinsicht, da sie im Gegensatz zu den antiken Poeten wie etwa Horaz und Catull erotische Sujets aussparten („castigatiores, imò et eruditè pios“).19 Stilistisch hebt Masen an Balde besonders seine ‚geistreichen und kraftvollen Formulierungen‘ („argutè nervoséque dicta“) hervor; darin zeige sich seine erlesene Urbanität und seine ‚anmutige Diktion‘ („amoena dictio“) in einem niedrigeren Stoff („humilior materia“).20 Balde wird also bereits zu seinen Lebzeiten als Musterdichter für Jesuitenzöglinge empfohlen. Der Aufbau von Masens allgemeiner Dichtungslehre (Pars I) ist klar strukturiert und leicht nachvollziehbar: Auf die Behandlung der beiden Officia oratoris der Inventio (lib. 1) und der Elocutio (lib. 2) wird im dritten (erst 1661 hinzugefügten) Buch die Metrik behandelt. Diese Anordnung spiegelt Masens Hierarchisierung dieser drei Teile wider: Der Schwerpunkt liegt auf der Inventio und damit auf der Sachebene, auf der Ebene der Signifikate. Diese Gewichtung wird von Masen explizit ausgesprochen:21 __________ 16

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Über den in der Tat bedeutenden Dichter Sarbiewski informieren jetzt die Beiträge des von Eckart Schäfer herausgegebenen Sammelbandes Sarbiewski. Der polnische Horaz ([NeoLatina 11] Tübingen 2006). An anderer Stelle bezeichnet Masen Balde als ‚den gebildetsten sowie gefälligsten Verfasser zeitgenössischer lyrischer Dichtung‘ („eruditissimus juxta ac lepidissimus hujus aevi Lyricae Poësis scriptor Jacobus Balde“, Palaestra, Pars II, Poesis Elegiaca, p. 104). Masen berichtet an dieser Stelle, dass Balde eine deutsche Ode auf Maria geschrieben und einige andere Dichter dazu aufgefordert habe, ein Pendant zu diesem Gedicht in lateinischen Versen zu verfassen. Bei dieser Gelegenheit sei Masens Marienhymnus entstanden, den er ebd., p. 105-116 abdruckt. Aus dem Kontext scheint übrigens hervorzugehen, dass Balde die anderen Dichter brieflich um ihre Mitwirkung gebeten hat. Palaestra, Pars II, Poesis Lyrica, cap. 1, p. 325. Weiter unten (ebd., cap. 4, p. 333) zitiert Masen eine eher unauffällige Periphrase Baldes (aus sylv. 2, Apiarium 6,3). Im sechsten Kapitel der Poesis Lyrica (p. 345-347) vergleicht Masen Horaz’ Gedicht auf eine Amphore (carm. 3,20) mit Baldes Imitation (vgl. dazu Jean-Louis Girard: L’humour de Jakob Balde: Lyr. 1,12, parodie et palinodie de Hor. Carm. 3,21. In: Balde und Horaz. Hg. von Eckard Lefèvre. Tübingen 2002, S. 73-76 mit Literatur). Auch wenn Masen es nicht explizit sagt, so gefällt ihm an Baldes Parodie vermutlich vor allem, dass daran die schädliche Wirkung des Alkohols deutlich wird (Masen bemerkt übrigens an dieser Stelle, dass man Horaz nur in purgierter Form lesen sollte). Vgl. dazu unten im Haupttext die Behandlung des Alkohols bei Masen und Balde. Palaestra, Pars II, Poesis Lyrica, cap. 6, p. 344f. (‚züchtiger [scil. sind sie], vielmehr auch auf gebildete Weise fromm‘). Palaestra, Pars II, Poesis Lyrica, cap. 4, p. 334f. Masen nennt das sechste Buch der Sylvae (1. Aufl. 1643) als Beispiel. In cap. 6, p. 345 spricht er von Baldes elegans argutaque urbanitas. Man beachte übrigens, dass hier ein Bruch mit der antiken Rhetorik vorliegt, für die die beiden wichtigsten Officia oratoris (also diejenigen, die die eigentliche Aufgabe des Redners ausmachen) Elocutio und Actio waren (Cicero, Orator 44; 51; De officiis 1,2; Quintilian, Institutio oratoria 8, prooem. 13-17). Daher behandelt der Hauptunterredner Crassus in Ciceros Dialog De

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Thorsten Burkard

Das wesentliche Charakteristikum von Dichtung ist für ihn der Inhalt, die „idonea fictio“ (‚geeignete Fiktion‘). Erst an zweiter Stelle steht eine ‚gehobene Ausdrucksweise‘ („oratio minime vulgaris“). Das Metrum schließlich ist nur eine Äußerlichkeit, dem Körper eines Menschen vergleichbar, während die ‚Seele‘ („anima“) der Dichtung die conceptus, die fictiones poeticae, die fabula darstellen.22 Masen verweist für diese Begriffsbestimmung explizit auf das sechste Kapitel der aristotelischen Poetik23 und deutet Aristoteles damit in entscheidender Weise um, indem er letztlich die Form in den Dienst des Inhalts stellt. Diese Umdeutung aristotelischen Gedankenguts wird insbesondere an Masens Behandlung der Kategorie der Wahrscheinlichkeit deutlich. Bezog Aristoteles den Begriff in erster Linie auf die innere Handlungslogik, so versteht Masen unter der verisimilitudo die mögliche Repräsentation einer Wahrheit bzw. Wirklichkeit.24 Zudem verdoppelt Masen den Wahrheitsbegriff und mit ihm auch die Wahrscheinlichkeit – und das ist eine in seinem poetologischen System konsequente, aber unaristotelische Erweiterung. Er unterscheidet nämlich zwischen einer historischen und einer figurierten verisimilitudo, also zwischen einer nicht-bildhaften und einer allegorischen oder symbolischen Wahrscheinlichkeit. Das ideale Kunstwerk vereinigt beide Wahrscheinlichkeiten, wobei für Masen eindeutig die verisimilitudo figurata (oder translata), die übertragene Darstellung einer tieferen Wahrheit, die der Rezipient entschlüsseln muss, den höheren Stellenwert einnimmt.25 Diese ideale Verbindung sei an einem Beispiel erläutert: Die Schilderung einer Jagd in Vergils Aeneis mag der Wahrscheinlichkeit auf der ersten Ebene entsprechen (also den historischen Gegebenheiten des 2. Jahrtausends v. Chr. angemessen Rechnung tragen), sie entbehrt aber einer tieferen verisimilitudo. Diese würde erst dann ins Spiel kommen, wenn der Autor die Jagd als Symbol für eine allgemeine Wahrheit verstanden hätte, wenn etwa die Jäger sinnbildlich für die Schlauen, die Gejagten hingegen für die Ängstlichen stünden.26 Zumindest auf der zweiten Ebene koinzidieren also verisimilitudo und veritas, Wahrscheinlichkeit und Wahrheit. Dichtung wird in einer solchen Auffassung in der Tat ‚philosophischer‘ (so Aristoteles’ Begriff im neunten Kapitel der Poetik), da sie auf ein Allgemeines zielt (ebd.) – aber diese Didaktisierung von Kunst ist nur scheinbar iden__________

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oratore im dritten und letzten Buch eben diese beiden Officia (vgl. Cicero, De oratore 3,19-227). Wir werden auf diesen wichtigen Unterschied noch zurückkommen. Balde wird die Seelenmetaphorik originell umdeuten (cap. 67): Für ihn ist die novitas die zweite Seele – des Dichters! Das bedeutet, dass es einen unkreativen und nicht-innovativen Dichter per definitionem nicht geben kann. Vgl. dazu ausführlich unten III. zu Baldes Dissertatio. Palaestra, Pars I, lib. 1 a.A., p. 1 und ebd. cap. 1, p. 2; Aristoteles, Poetik cap. 6, 1450a39f. Vgl. etwa Aristoteles, Poetik cap. 15, 1454a34-37. Zu Masens (für die Frühe Neuzeit nicht untypische) Umdeutung der aristotelischen Poetik vgl. Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin 2009, hier erster Teil passim, bes. S. 113f. und S. 115; Burkard: Klassizismus (wie Anm. 5), passim, etwa Fußn. 44. Zu Masens verisimilitudo-Begriff vgl. Burkard: Klassizismus (wie Anm. 5), passim. Palaestra, Pars I, lib. 1, cap. 10, p. 22f.

Heteronomie und Autonomie von Dichtung

125

tisch mit Aristoteles’ Vorstellungen, in Wahrheit liegen Welten zwischen diesen beiden Theorien.27 Dichtung wird also von Masen in doppelter Weise heteronom bestimmt: Zum einen muss sie die Realität möglichst naturgetreu wiedergeben;28 zum anderen sollte diese ‚historische‘ Realität auf eine tiefere Wahrheit verweisen.29 Im Prinzip haben wir es hier mit einer recht unpoetischen (ver)doppelten Referenzsemantik zu tun (die man auch an historische Werke anlegen könnte), was die Frage aufwirft, ob die eigentlich ästhetische Komponente von Dichtung bei Masen gänzlich auf der Strecke bleibt. Diese Frage ist zu verneinen. Wäre Dichtung nichts anderes als die Vermittlung unverbrüchlicher Wahrheiten, so wäre das aus der Antike tradierte rhetorisch-poetische Instrumentarium, das Masen in seiner Poetik zu lehren sucht, überflüssig. Die ästhetische Einkleidung der zu vermittelnden Wahrheit ist in Masens Augen durchaus notwendig, um den Leser zu unterhalten und in eine dauerhafte Spannung zu versetzen. Mit anderen Worten: Wer sich langweilt, kann auch nicht belehrt werden. Das ist aber nicht die einzige Funktion der Ästhetik in dieser Theorie. Masen empfiehlt die Vermeidung des direkten Sprechens, damit der Leser durch die Enträtselung der Botschaft, durch das mühevolle Auffinden des eigentlich Gemeinten, sich dieses nur umso tiefer einprägen kann. Erst der ästhetische Umweg garantiert das dauerhafte Memorieren.30 Es wäre also ein Irrtum, wenn man glauben würde, Masen verabschiede in einem an frühchristliche Ressentiments erinnernden Skeptizismus gegenüber Poetik und Rhetorik das Ästhetische ohne Wenn und Aber. Das eigentlich Künstlerische ist ihm aber nur Mittel zum Zweck. Wenn Ästhetik nicht mehr auf ein externes Ziel bezogen wird (womöglich mit dem Extrem der ars gratia artis), wenn sie womöglich die Botschaft zu vernebeln droht, so ist sie aus dem Kunstwerk zu verbannen. Der Maßstab für das Gelingen guter Dichtung ist somit zuerst und vor allem das Quantum an (zweifacher) Realität, das sie vermitteln will, und erst in zweiter Linie die Vermittlungsstrategien, die aber nicht um ihrer selbst willen oder wegen ihres ästhetischen Wertes betrachtet werden, sondern allein im Hinblick darauf, ob sie die Übermittlung der Botschaft an den Rezipienten garantieren können oder nicht. In den damals gängigen Begriffen aus der horazischen Poetik formuliert: Das delectare ist nur erlaubt, wenn es dem prodesse dient.

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Zum neunten Kapitel der Poetik vgl. jetzt den Kommentar von Arbogast Schmitt (Darmstadt 2008), hier S. 381-397, zu unserem Problem v. a. 392f. So kritisiert Masen etwa die anachronistische Begegnung von Dido und Aeneas in der Aeneis (in der Tat ‚lebte‘ Aeneas am Ende des 2. Jahrtausends, Dido aber im 9. Jahrhundert) (Palaestra, Pars I, lib. 1, cap. 7, p. 11). Vgl. zu dieser Forderung nach der doppelten Wahrscheinlichkeit/Wahrheit Palaestra, Pars I, lib. 1, cap. 6, p. 10. Vgl. zu diesem Grundzug von Masens Dichtungstheorie Burkard: Klassizismus (wie Anm. 5), passim.

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Was sind nun die tieferen Wahrheiten, die die Dichtung (oder Kunst allgemein)31 laut Masen vermitteln sollte? Man würde vielleicht erwarten, dass Masen in erster Linie an spezifisch christliche, katholische oder jesuitische Inhalte denken würde, und in der Tat legt Masen hierauf Wert32 – der Schwerpunkt liegt aber woanders: Es geht ihm vor allem um allgemeine moralische und lebenspraktische Botschaften.33 Diese widersprechen natürlich bei Masen weder der christlichen Religion noch der katholischen Konfession, sie sind aber eben nicht spezifisch christlich. So sollen etwa das Löwenfell und die Keule des Hercules auf seine Tapferkeit, die zwölf Arbeiten auf seine verschiedenen virtutes verweisen.34 Da sich – zumindest theoretisch – jeder Text und jedes Bild auch auf dieser zweiten Ebene deuten lässt, sind grundsätzlich alle Gegenstände für die Dichtung geeignet – abgesehen freilich von den res turpes, den unmoralischen Handlungen und Gegenständen.35 Aus diesem Grunde müssen nach Möglichkeit moralisch eindeutige Personen in der Dichtung dargestellt werden. Mit Aristoteles’ mittlerem Charakter kann Masen konsequenterweise nichts anfangen: Die (moralischen) Helden sollen belohnt, die Schurken hingegen bestraft werden.36 Die moralische Grauzone wird de facto verboten, da sie die Gefahr einer verhängnisvollen Fehldeutung in sich birgt. Fassen wir zusammen: Eine für Masen ideale Dichtung ist aufgeladen mit Bedeutung; kein einziges Element der Inhaltsebene darf bedeutungslos bleiben. Dabei wird Bedeutung referenzsemantisch verstanden (und nicht etwa strukturell oder funktionalistisch): Alle Bestandteile eines Gedichtes sollen auf ein textexternes Wahrheitssystem verweisen,37 entweder auf historische oder naturwissenschaftliche Tatsachen oder/und auf tiefere moralische und theologische Lehrsätze. Ideal ist eine Verbindung beider Ebenen. Was Masen daher konsequenterweise gänzlich ablehnt, sind Stellen, an denen __________ 31

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Die Bildtheorie in Masens Speculum imaginum veritatis occultae (zuerst Köln 1650) ist mutatis mutandis im Wesentlichen dieselbe wie die Dichtungskonzeption der Palaestra. Vgl. dazu Bauer: Jesuitische ars rhetorica (wie Anm. 8) und Burkard: Klassizismus (wie Anm. 5). So behandelt Masen im Speculum folgendes Emblem: Ein Winzer schneidet die vertrockneten Zweige eines Weinstocks ab; das Lemma hierzu lautet: „vitiosa seces“ (‚Schneide Fehlerhaftes ab‘) – ein Anagramm für ‚Societas Jesu‘: Die Jesuiten dulden nämlich keine unmoralischen Mitglieder (Speculum, wie Anm. 88, p. 671). Vgl. auch Bauer: Jesuitische ars rhetorica (wie Anm. 8), S. 476. Palaestra, Pars I, lib. 1, p. 19. An dieser Stelle erwähnt Masen übrigens auch eine naturphilosophische Deutung der zwölf Arbeiten des Hercules. Vgl. Palaestra, Pars I, lib. 1, cap. 2, p. 4 zum Ausschluss erotischer Sujets. Palaestra, Pars II, Poesis Heroica, cap. 1, p. 133f.: Ein Protagonist dürfe allenfalls unmoralisch handeln, wenn danach auch seine Bestrafung dargestellt werde. Hier steht Masen Platon näher als Aristoteles; Platon hatte im Staat (Politeia 3,392-395) die Darstellung von Schurken etwa auf der Bühne verboten, weil diese sowohl die Schauspieler (die sich ja in ihre Rollen hineinversetzen müssten) als auch die Zuschauer negativ beeinflussen würden (Platon spricht hier die Attraktivität negativer Rollenmuster an). Im Gegensatz dazu könnte man die aristotelische Poetik als ein Regelwerk über die textinternen Beziehungen bezeichnen (die natürlich ein Weltwissen voraussetzen, aber eben voraussetzen, nicht denotieren).

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Ereignisse geschildert werden, die auf der ersten Ebene inhaltsleer (also in seiner Terminologie unwahrscheinlich/unwahr) sind, aber trotzdem nicht erkennen lassen, wo ihre tiefere Wahrheit liegen soll.38 Die radikale Aufladung eines Gedichtes mit Bedeutung soll nach Möglichkeit auch für die ‚Begleitumstände‘ (Masen nennt sie „adjuncta“) gelten, die nicht beliebig sein dürfen, sondern eine ‚sinnvolle Fiktion‘ („fingendi ratio“) enthalten müssen. Wie weit diese ‚Pansemantik‘ gehen kann, sei an einem Beispiel demonstriert: Beispielsweise müsste der geschwätzige Verräter Battus in Ovids Metamorphosen laut Masen nicht in einen Stein (2,687–707), sondern in eine Elster (als ein Sinnbild der Geschwätzigkeit) verwandelt werden. Dieses Beispiel ist aufschlussreich, weil es zeigt, wie stark in Masens Denken die allegorischen Codes verwurzelt sind. Man könnte ja argumentieren, dass Verrat ein besonders schweres Vergehen ist, ein Verräter daher möglichst schwer bestraft werden muss und es eine härtere Strafe darstellt, in einen Stein als in eine Elster verwandelt zu werden. Masen denkt aber in den Kategorien der kodifizierten Allegorie, die die Bedeutungen der einzelnen Dinge vorgibt und nach der eine Elster eben für Geschwätzigkeit steht (ein Stein aber nicht). Diese Ratio steckt auch hinter Masens réécriture der anderen ovidianischen Verwandlungssagen.39 Eine weitere Funktion der adjuncta besteht darin, die Sache an sich wahrscheinlich, glaubhaft erscheinen zu lassen (vor allem fiktive Ereignisse und Handlungen) – die Einzelteile erfüllen also auch hier eine heteronome, sachbezogene Aufgabe.40 Was die Ausdrucksseite (Elocutio und Metrik) angeht, so ist ihre Funktion eindeutig: Sie dient lediglich der eingängigeren Vermittlung der textexternen Botschaft. Vor allem hier finden auch die antiken Gottheiten noch einen Platz, die ansonsten von Masen fast gänzlich verabschiedet werden, da ihre Darstellung nicht der Wahrheit auf der ersten Ebene entspricht, so dass immer deutlich sein muss, was sie in figurierter Weise bedeuten sollen. In der Elocutio dürfen sie aber etwa in Form von Metonymien (etwa ‚Neptun‘ für das ‚Meer‘) verwendet werden.41 Diese kurze Skizze der Palaestra wird vermutlich den Eindruck erwecken, dass es sich hierbei um ein trockenes Lehrwerk handelt, dessen Autor nicht in der Lage ist, die ästhetischen Qualitäten von Dichtung zu erfassen. Damit würde man Masen aber Unrecht tun. Seine ausführlichen Bemerkungen zur Ästhetisierung verdienten eine ausführlichere Würdigung. Obwohl die Ebene der delectatio ganz im Dienste des prodesse aufgeht, beobachtet Masen sehr fein und kann Gedichte durchaus treffend beurteilen; die Originalität seiner Gedanken ist bei weitem noch nicht ausgelotet und wäre etwa die Aufgabe eines gründlichen Kommentars. Die ästhetische Komponente ist also durchaus __________ 38 39 40 41

Palaestra, Pars I, lib. 1, cap. 7, p. 13f.: Der Dichter müsse durch bestimmte Hinweise dem Leser den Weg zur verborgenen Wahrheit weisen. Palaestra, ebd., p. 14. Palaestra, ebd., cap. 5, p. 17. Palaestra, Pars I, lib. 1, cap. 7, p. 16. Zu anderen Möglichkeiten, Götter einzubinden, nämlich in Form von Allegorien, vgl. ebd., cap. 11, p. 26.

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präsenter, als es die vorstehenden Ausführungen vermuten lassen. Das ist auch leicht erklärbar: Wie soll ein Schüler oder überhaupt ein angehender Dichter dichten lernen, wenn man ihm nicht das Handwerkszeug der Inventio und vor allem der Elocutio vermittelt?

3. Jacob Baldes Dissertatio de studio poetico Das genaue Gegenteil von Masens Poetik ist Baldes Dissertatio praevia de studio poetico.42 Eigentlich handelt es sich hierbei nicht um ein separates Werk, sondern um die Vorrede (daher auch das Adjektiv praevia, etwa ‚vorgängig, einleitend‘) zu der Verssatire Vultuosae torvitatis encomium,43 in der es um den Gegensatz zwischen einem schönen Äußeren und einem hässlichen Inneren (und umgekehrt) geht.44 Wie so oft bei Balde – und überhaupt in der (Frühen) Neuzeit – wird aber eine Vorrede zu grundsätzlichen poetologischen Äußerungen genutzt, die übrigens im Falle der Dissertatio nur in den letzten Kapiteln eine Einleitung zu dem eigentlichen Werk bieten. Man wird hier demnach auch Baldes Wunsch erkennen dürfen, nach dem Abschied von der lyrischen Dichtung eine Summe all seiner poetischen Erfahrungen zu ziehen. Und in der Tat beschäftigt sich ein Großteil der Dissertatio mit der Dichtkunst im Allgemeinen, wobei Lyrik, Epos und Drama im Vordergrund stehen. Erst am Ende führt die Behandlung der satirischen Gattung zum Torvitatis encomium.45 Baldes Dissertatio ist nicht systematisch aufgebaut und unterscheidet sich schon dadurch von den üblichen Renaissance- und Barockpoetiken. Es finden sich nicht einmal die damals durchaus üblichen Zusammenfassungen der einzelnen Themen (oder praecepta) in margine. Heute würde man ein solches Werk wohl am ehesten als Essay be__________ 42

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Kommentierte Ausgabe der Dissertatio mit Übersetzung von Thorsten Burkard ([Münchner Balde-Studien 3] München 2004); dort S. viii-xi ein knapper Überblick über die ältere Forschung. Vgl. seitdem: Ulrich Winter: Baldes novitas – ein barock-jesuitisches Rhetorikon? In: Pontes III. Die antike Rhetorik in der europäischen Geistesgeschichte. Hg. von Wolfgang Kofler und Karlheinz Töchterle. (Comparanda 6) Innsbruck/Bozen/Wien 2005, S. 281-291 sowie die beiden Beiträge von Christoph Friedrich Sauer in: Balde und die römische Satire. Hg. von Gérard Freyburger und Eckard Lefèvre. (NeoLatina 8) Tübingen 2005, S. 13-24 und S. 107-146. Das Torvitatis encomium findet sich im dritten Band der Gesamtausgabe von 1729 (wie Anm. 1), p. 357-393. Spezialliteratur zu dieser Satire fehlt abgesehen von: Thomas Baier: Baldes satirische Dichtungslehre im Zeichen der Torvitas. In: Freyburger/Lefèvre: Balde (wie Anm. 42), S. 245255. Zur Erklärung des seltsamen Titels (etwa ‚Lobrede auf das finstere Aussehen‘) vgl. Baier ebd., S. 248f., der unter anderem auf den horazischen Ausdruck „vultus torvus“ (Epistulae 1,19,12) verweist. Welches Werk Balde wohl mehr am Herzen lag, zeigt allein die Tatsache, dass die ‚Vorrede‘ länger ist als die Satire selbst. Balde hatte sich 1651 mit der Gedichtsammlung Medicinae gloria der satirischen Gattung zugewandt, die er bis zu seinem Tode pflegen wird.

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zeichnen. Versuchen wir zunächst, einen groben Überblick über diese etwa 40 Seiten lange ‚Vorrede‘ zu geben: Die Dissertatio ist einem Ponticus Crescentius Marcona gewidmet; dabei handelt es sich zweifelsohne um ein Pseudonym, hinter dem sich vielleicht ein Neuburger Schüler Baldes verbirgt.46 Wichtiger als die konkrete Identifikation des speziellen Adressaten ist aber die Tatsache, dass Balde sich an die angehenden neulateinischen47 Dichter in ihrer Gesamtheit wendet, vor allem natürlich an die Zöglinge der Jesuiten. Da Crescentius Balde offenbar um poetische Unterweisung gebeten hat,48 positioniert dieser zunächst einmal in einer einleitenden Passage49 sein Werk ex negativo in Relation zum damaligen Schulbetrieb, um Missverständnisse zu vermeiden: Er habe keineswegs die Absicht, ein grammatikalisches oder poetologisches Hand- oder Lehrbuch zu schreiben und somit die ohnehin schon unendliche Zahl der praecepta zu wiederholen oder womöglich noch zu vermehren. Kompendien zur Poetik gebe es allein schon von Mitgliedern des Jesuitenordens genügend – und an dieser Stelle verweist er den wissbegierigen Crescentius explizit (unter anderen) an Jacob Masen, der ‚erst kürzlich in recht glänzender Weise‘ einen großen Vorrat an praecepta herausgegeben habe;50 mit dieser Umschreibung kann nur die Palaestra gemeint sein. Mag hier auch der Ordensbruder in einem Atemzug mit den angesehenen Theoretikern Jacobus Pontanus (1542-1626) und Alessandro Donati (1584-1640) genannt werden,51 so ist doch andererseits deutlich, dass die beiden nach diesen drei genannten Autoren von Balde um einiges mehr geschätzt werden – sie sind nämlich die einzigen, die er seinem Adressaten vorbehaltlos empfiehlt, vermutlich, weil sie gerade nicht den trockenen Lehrbuchstil pflegten, sondern – wie Balde in seiner __________ 46

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Vgl. zu dem Pseudonym und zur möglichen Identifikation Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. 73f. Balde verwendet in seinen Werken – leider – häufig Pseudonyme, was es fast unmöglich macht, seine Adressaten zu identifizieren. Der Name Crescentius könnte immerhin darauf hindeuten, dass der Adressat noch ‚wachsen‘ muss, also in der Poesie noch lange nicht zur Perfektion gelangt ist. Wie in Masens Palaestra so wird auch in Baldes Dissertatio ausschließlich die lateinische Dichtung behandelt. Es könnte sich bei dieser Bitte natürlich auch um eine Fiktion Baldes handeln. Zum Topos ‚Schreiben auf die Bitte eines Freundes hin‘ bei Balde vgl. Thorsten Burkard: Die Vorreden zu den Werken Jacob Baldes. In: Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche. Hg. von Thorsten Burkard, Günter Hess, Wilhelm Kühlmann und Pater Julius Oswald SJ. (Jesuitica 9) Regensburg 2006, S. 166-182, hier S. 168f. Dissertatio, cap. 1. Die Kapitelzählung stammt nicht von Balde, sondern folgt meiner Ausgabe (wie Anm. 42), die sich an der Absatzeinteilung in der Überlieferung orientiert. Eine Konkordanz zu den Seitenzahlen der Ausgabe von 1729 findet sich ebd., S. 357f. Dissertatio, ebd.: „Copiosa [scil. praecepta] jam olim, non sine insigni delectu, vel ex sola Societate nostra tradidere Doctissimi Viri; Iacobus Pontanus, Alexander Donatus; novissimè Iacobus Masenius, perquàm nitidè“. Masens Palaestra hat Pontanus’ Regelwerke in den Schulen teilweise ersetzt; Masen nennt selbst Donati neben Julius Caesar Scaliger und Gerhard Johannes Vossius als seine Vorbilder (Palaestra, Vorrede an den Leser, ohne Paginierung [*p. 5r]).

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Dissertatio – versucht haben, durch eine unsystematische, lebendige Darstellung den Leser zu fesseln.52 Nur wenn diese beiden Crescentius intellektuell ‚zu hoch‘ („sublimiores pro captu“) sein sollten, solle er sich Pontanus, Donati und Masen zuwenden! Masen ist also bestenfalls die dritte Wahl – abgesehen von der zwischen den Zeilen stehenden Spitze, dass angesichts so vieler bereits vorhandener Lehrbücher eigentlich schon Masens Palaestra überflüssig gewesen ist. Immerhin gesteht Balde ihm zu, dass seine ‚Vorratskammern‘ (wie die von Pontanus und Donati)53 den Dichternovizen nicht nur leichter, sondern auch ‚reichhaltiger säugen‘ („uberiùs lactant“). Aber selbst dieses Lob wird relativiert, denn Balde warnt vor dem Übermaß an praecepta in diesen Lehrwerken, die die zarten Pflanzen der Lernenden ertränken könnten.54 Baldes Sympathie für Masens in der Tat voluminöses Regelwerk hält sich sichtlich in Grenzen, und dieser Umstand legt die These nahe, dass die Dissertatio zumindest teilweise auch ein Gegenentwurf zu Masens Umgang mit Dichtung und Dichtungstheorie darstellen sollte.55 Die folgenden Kapitel (cap. 2-4) richten sich gegen die handwerklichen Fehler und Irrtümer der zeitgenössischen Dichter. Schon hieran kann man den von Masen abweichenden Ansatz erkennen: Baldes Dissertatio entspringt der Beobachtung eines – in seinen Augen beklagenswerten – Zustandes, dem man abhelfen muss, es handelt sich gewissermaßen um eine kommentierte Bestandsaufnahme der verfehlten dichterischen Praxis, die Balde um sich herum beobachten muss und vor der er seine Leser nachdrücklich warnen möchte. Insbesondere geißelt er in der Dissertatio immer wieder die mangelnde Selbsterkenntnis der Dichter, die ihre – de facto künstlerisch schwachen – poetischen Produkte für rundherum gelungen halten.56 Baldes Dissertatio folgt hier – wie so oft – Horaz’ literaturtheoretischen Gedichten, in denen ebenfalls die Selbstver__________ 52 53

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Es handelt sich um die beiden römischen Jesuiten Famianus Strada (1572-1649) und Vincenzo Guiniggi (1587/1588-1653); vgl. dazu Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. 81f. Die Promptuaria (‚Vorratskammern‘) waren Sammlungen von gelungenen Ausdrücken oder ganzen Sentenzen (vgl. auch Anm. 12). Nimmt man das Wort im strengen Sinne, so reduziert Balde den Nutzen der drei Poetiken auf ihre Beispielsammlungen – das würde zum praktischen Ansatz der Dissertatio passen. Nicht zufällig zitiert Balde weiter unten auch das berühmte Seneca-Wort: „Longum iter est per praecepta, breve per exempla“ (cap. 2, Kursivierung im Original; Seneca, Epistulae 6,5). Selbst hinter dem scheinbar lobenden Adverb nitidè, mit dem Balde Masen bedenkt, könnte sich noch eine weitere (gelehrte) Bosheit verbergen, vgl. dazu Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. 82. Hinzufügen könnte man noch, dass nitidus nicht nur ‚schimmernd, glänzend‘, sondern auch ‚fett‘ bedeuten kann und Balde sich zuvor über die dicken Wälzer beklagt hat. Ein weiterer Seitenhieb gegen Masen könnte in der Aussage versteckt sein, dass die gelehrten Kommentatoren zwar die Dichter erklären können, aber nicht in der Lage sind, selbst produktiv tätig zu werden (cap. 6, vgl. Anm. 101). Masen hatte in seiner Palaestra zu Illustrationszwecken die zwölf Bücher von Vergils Aeneis kommentiert (Pars I, lib. 1, cap. 16, p. 47-61). In cap. 37 sagt Balde beispielsweise, dass es viele vom Kaiser gekrönte Dichter gebe, deren dichterische Erzeugnisse so schlecht seien, dass man die Autoren eigentlich mit Unkraut bekränzen sollte!

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liebtheit der zeitgenössischen Poetaster verspottet wird;57 auch Horaz’ Ars Poetica nimmt ihren Ausgang bei den Fehlern der Dichter.58 Ganz im Gegensatz zu dieser Selbstgefälligkeit stellt Balde für die Dichter seiner Zeit die höchsten Maßstäbe auf: Sie müssen versuchen, die antiken Vorbilder zu erreichen (wenn nicht sogar zu übertreffen). Dass die antiqui der Maßstab für Balde sind, wird an der fast schon provokanten Formulierung deutlich, dass ihre Art der Dichtung ‚heilig und solide‘ („sacra, solidáque“) gewesen sei (cap. 3). Masen hatte demgegenüber (wie bereits gesehen) an den dezidiert heidnischen Elementen der antiken Dichtung Anstoß genommen und die Darstellung antiker Gottheiten nur ausnahmsweise erlaubt. Wenn Masen auch den Gebrauch der lateinischen Sprache mit Nachdruck postuliert,59 so sind ihm doch die Inhalte der antiken Dichtungen sichtlich suspekt. Daher spielt bei ihm das Verhältnis zwischen den neulateinischen Dichtern und den antiken Klassikern fast überhaupt keine Rolle. Dahingegen widmet sich der Praktiker Balde dieser Problematik ausführlich in den Kapiteln 5-13 unter der Leitfrage, wie ein moderner Dichter die bewunderten Vorbilder imitieren und zugleich das Postulat der novitas beachten kann, so dass aus der Imitatio eine erfolgreiche Aemulatio wird. Der Imitator muss sich die kanonischen Dichtungen der Alten aneignen (dies versinnbildlicht Balde mit der traditionellen Speisemetaphorik)60 und ein Werk hervorbringen, das nach der reinen Latinität der Alten ‚duftet‘.61 In Baldes Augen ist es dem spätantiken Epiker und Panegyriker Claudian (um 400) in idealer Weise gelungen, das Alte mit dem Neuen zu verbinden.62 Balde stellt also die Notwendigkeit der Imitatio nicht im Mindesten in Frage, ganz im Gegenteil. Die Vorstellung, dass ein Rückgriff auf die Klassiker unabdingbar ist, findet sich auch in der horazischen Ars Poetica.63 Balde betont allerdings beim Verhältnis von Vorbild und Nachahmer den Aspekt der novitas sehr stark, während sich Horaz überhaupt nicht dafür zu interessieren scheint.64 Im ausführlichen Hauptteil der Dissertatio (cap. 14-58) bietet Balde seinem Leser eine Art Horaz-Kommentar, in dem er vor allem Stellen aus Horaz’ literaturtheoretischen __________ 57 58 59

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Vgl. etwa Horaz, Epistulae 2,2,106-108. Das berühmte Mischwesen am Anfang der Ars Poetica (v. 1-5) ist ja nichts anderes als die Illustration eines misslungenen, da uneinheitlichen Gedichtes. Vgl. die Widmung an den Pfalzgrafen Philipp Wilhelm zu Beginn des Werkes (p. *3): Die lateinische Sprache garantiere immer noch den Bestand des Römischen Reichs; ihr Untergang würde den Untergang des ganzen Romani Imperii corpus nach sich ziehen. Das 17. und 18. Jahrhundert war offensichtlich nicht in der Lage, die Wahrheit dieser weitsichtigen Prophezeiung zu erkennen. Dissertatio, cap. 9, vgl. dazu Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42) ad loc. Dissertatio, cap. 7 a.E. Dissertatio, cap. 9. Horaz, Ars Poetica 268f. (dort bezogen auf die griechischen Vorbilder der römischen Dichter). Vgl. zu diesem Unterschied zwischen Balde und Horaz Wilfried Stroh: Plan und Zufall in Jacob Baldes dichterischem Lebenswerk. In: Burkard u. a.: Kontext (wie Anm. 48), S. 198-244, hier S. 236.

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Gedichten65 assoziativ bespricht – eine plausible systematische Gliederung dieses Teils hat sich bisher noch nicht finden lassen. Auf den Horaz-Kommentar folgt eine Darlegung der Humoralpathologie (cap. 59-64); erst dann geht Balde auf die Absicht des satirischen Vultuosae torvitatis encomium ein (cap. 65-67), um schließlich an das Ende des Werks einen teilweise hymnischen Preis der Satire zu setzen (cap. 68-73). Schon dieser kurze Überblick zeigt, dass wir es hier nicht mit einer durchstrukturierten Poetik zu tun haben. Das wird noch augenfälliger durch den Bruch zwischen den ersten 58 Kapiteln einerseits, in denen es um die novitas geht, und den Schlusskapiteln, in denen vor allem die Satire und die mit dieser Gattung verbundenen Probleme behandelt werden. Wenden wir uns zunächst den Kapiteln 1-58 zu. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, wie ein Dichter etwas Neues hervorzubringen vermag, das an die poetischen Leistungen der Alten heranreicht und sogar weitere Werke anregen kann (so dass der moderne Poet seinerseits zum Klassiker wird). Die Perspektive auf die Dichtung ist also eine ganz andere als bei Masen – in der Dissertatio spricht der Dichter, der sich mit einem ganz konkreten Problem konfrontiert sieht: Wie kann man aus dem Material und den Verfahrensweisen, die die antiken Dichter zur Verfügung stellen, etwas Neues schaffen? Interessierte sich Masen eher unter dem Aspekt der Attraktivität für die novitas (nur das Ungewöhnliche vermag den Rezipienten zu fesseln und für die Aufnahme der Wahrheit empfänglich zu machen), so wird diese bei Balde zu einer Forderung um ihrer selbst willen: Ein Gedicht hat nur dann eine Existenzberechtigung, wenn es neu ist, wenn es dem Dichter gelingt, eine paradoxe Forderung zu erfüllen: nämlich auf den Spuren der Alten zu wandeln, aber zugleich eigene Wege einzuschlagen.66 Diese Forderung zieht sich durch die Dissertatio und betrifft augenscheinlich alle Ebenen eines Kunstwerks: die sprachliche und stilistische Ausformung, die poetische Gestaltung und den Inhalt.67 Um diesem Postulat gerecht zu werden, bedarf es zweier Voraussetzungen: Zum einen muss man die vorbildhaften antiken Texte im Geiste parat haben, zum anderen ist es nötig, Stil und Stoff miteinander in Einklang zu bringen, mit anderen Worten: das äußere Decorum zu beherrschen.68 Das Decorum-Postulat begegnet auch bei Ma__________ 65

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Also aus der Ars Poetica und den beiden Briefen des zweiten Epistelbuches. Daneben zieht Balde auch Horaz’ Satiren und seine anderen Briefe heran; ein Überblick über die kommentierten Stellen bei Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. 360f. Vgl. Dissertatio, cap. 9: „multorum votum, paucorum est donum, ab Veterum auctoritate non recedere; ab iisdem tamen, propriis inventis, novis loquendi modis, tropis, atque figuris ex vitali cordis fonte manantibus, recedere“ (‚Viele wünschen es sich, aber nur wenigen ist es gegeben, sich von der Autorität der Alten nicht zu entfernen, sich von ihnen aber mit eigenen Erfindungen, neuen Redeweisen, Tropen und Figuren, die aus dem lebendigen Quell des Herzens fließen, doch zu entfernen‘). Vgl. das Zitat aus cap. 9 in der vorigen Anmerkung und Dissertatio, cap. 17. Vgl. etwa cap. 10 a.E. Zu Recht hat Winter: Rhetorikon (wie Anm. 42), S. 288f. auf das Spannungsverhältnis zwischen novitas einerseits und decorum/aptum andererseits hingewiesen.

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sen, aber dort dient das Decorum als Schutz gegen die Überfunktion des Stils gegenüber dem Inhalt, dem immer die Priorität zukommt; das Decorum wird also heteronom legitimiert.69 Bei Balde steht zwar auch die Vorstellung im Hintergrund, dass eine Vernachlässigung des Decorum eine Unterfunktion des Inhalts nach sich zieht – aber er bangt nicht so sehr um die Eindeutigkeit der poetischen Botschaft als vielmehr um die Angemessenheit und Geschlossenheit des Kunstwerks. Das bedeutet freilich nicht, dass er für inhaltsleere Kunst eintreten würde,70 aber der Focus ist gegenüber Masen spürbar verschoben. Bezeichnend ist etwa, wie Balde den berühmten Horaz-Vers „aut prodesse volunt aut delectare Poetae“ aus der Ars Poetica71 argumentativ einsetzt: Er zitiert ihn, wie aus dem Kontext deutlich wird, nur wegen des delectare.72 Hier gibt es keineswegs ein Beharren „auf der didaktischen Funktion von Dichtung“.73 Vielmehr ist (vermutlich) das genaue Gegenteil wahr: Gerade weil die Aufgabe des prodesse unumstritten ist, muss Balde die Autonomie der Dichtung wieder in ihr Recht setzen.74 Baldes Einstellung gegenüber dem Aspekt der delectatio manifestiert sich deutlich in dem folgenden Satz: „Quisquis à Musis delectamenta sequestrat; aceto submersus intereat“ (‚Jeder, der die unterhaltenden Elemente von der Dichtung trennt, soll im Essig ertrinken!‘).75 In dem auf diesen Satz folgenden Kapitel (cap. 29) nennt Balde eben die drei Wirkungen, die auch laut Masen von einem Gedicht ausgehen sollen (delectare, monere, movere) – er hierarchisiert sie aber bezeichnenderweise im Gegensatz zu diesem nicht.76 __________ 69

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Die Forderung, das Decorum zu beachten, ist bei Masen die zweite Hauptregel der Elocutio (Palaestra, Pars I, lib. 2, cap. 9, p. 173); das Decorum wird ausführlich im 15. Kapitel des zweiten Buches des ersten Teils dargestellt. Das zeigt sich schon daran, dass er in cap. 10, wo er eine Beschreibung des idealen Gedichtes gibt, fordert, dass dieses mit gewöhnlichen Wörtern eine reichhaltigere Semantik hervorbringen solle, als es ein bombastisches Poem je leisten könnte (Dissertatio, cap. 10: „quod [… plus] significat communibus verbis, quàm aliud quodvis ampullantibus promittat“). Zu Baldes Theorie von der Anwendung des schlichten Stils zur Erzeugung der gewünschten Effekte vgl. Burkard: Vorreden (wie Anm. 48), S. 175-182. Horaz, Ars Poetica 333. Balde zitiert den Vers statt mit aut – aut mit et – et. Vgl. dazu Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. 122. Dissertatio, cap. 7, vgl. auch weiter unten: „venustum Carmen“ (‚anmutiges Gedicht‘). Ein Gedicht muss anziehend sein, „illecebrae“ haben (cap. 7 und cap. 20). So Winter: Rhetorikon (wie Anm. 42), S. 288. Ebenso wenig lässt sich in der Dissertatio erkennen, dass Balde „wohl eher widerwillig“ das Gewicht auf das delectare verlagere (ebd.). Wenn Winter ebd. behauptet, dass laut Balde mit einem ingeniösen Einfall auf indirekte Weise Interesse für die „letztlich religiöse Wahrheit“ geweckt werden solle, so deutet er Masens Ansatz in die Dissertatio hinein. Das soll übrigens nicht heißen, dass Balde diesem Ansatz nichts abgewinnen konnte; nur findet er sich in der Dissertatio nicht einmal implizit. Vgl. auch Anm. 91. Dissertatio, cap. 28. Vgl. zu dieser Stelle Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. 227f. Bei Masen findet sich diese Trias Palaestra, Pars I, lib. 1, cap. 7, p. 14. An erster Stelle steht für ihn natürlich das lehrhafte Element (hier mit monere ausgedrückt).

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Sprach in der Palaestra – überspitzt formuliert – ein Moralist zu Moralisten, um darzulegen, wie man moralische Wahrheiten am effektivsten vermitteln kann, so spricht in der Dissertatio ein Dichter zu Dichtern über (antike und moderne) Dichter. Daher verwundert es auch nicht, dass sich Balde recht unverhohlen zu einem recht unchristlichen Gedanken bekennen kann, der in Masens Palaestra, soweit ich sehe, keine Rolle spielt, ja keine Rolle spielen kann: zu der Vorstellung vom (ewigen) Dichterruhm.77 So lehnt er in cap. 35 die Gelegenheitsdichtung vehement ab. Der Dichter soll sich solcher Aufträge rasch entledigen, da sie keinen Ruhm versprechen.78 In Wirklichkeit erniedrigen die jeweiligen Auftraggeber die Dichtkunst in entwürdigender Weise zu einer Sklavin, wenn sie derartige ‚Eintagsfliegen‘ („dialia“) einfordern.79 Da sich kein Mensch dafür interessiert („quis talia curat?“)80 und man sich auch keine Hoffnung auf Ruhm machen kann,81 muss der Dichter seine Zeit hier nicht mit handwerklichen Problemen verschwenden: Wenn er sich nicht darauf versteht, eine Zypresse darzustellen, soll er sich mit einer Eibe begnügen.82 Dagegen hatte Masen zu Beginn seines Inventio-Kapitels darauf hingewiesen, dass bei Gelegenheitsgedichten der Stoff von außen vorgegeben sei und man sich nun überlegen müsse, welche Gattung angemessen wäre83 – für Balde wäre das verlorene Liebesmüh; ob man eine Fürstenhochzeit in einer Elegie oder mit einer Ode feiert, ist ihm offenbar herzlich gleichgültig.84 Balde fordert vielmehr Dichtungen, die die Zeit überdauern („aetatem latura“), deren Wert also gerade nicht von einer einzigen Gelegenheit abhängig ist.85 Zur Bekräftigung dieses Appells ruft er die einschlägigen Stellen aus der augusteischen Dichtung auf wie etwa Horaz’ geflügeltes Wort __________ 77

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Vgl. zusätzlich zu den im Haupttext genannten Stellen noch: „vis et tu digito monstrari“ (‚willst du, dass man auch auf dich mit dem Finger zeigt [scil. weil du eine Berühmtheit bist]?‘, mit Anspielung auf Horaz, Carmina 4,3,21f.) in cap. 7; man solle sich einem Kritiker anvertrauen, dem die fama und die gloria des Dichters am Herzen liegen (cap. 40). Dissertatio, cap. 35: „raptim petita, raptim da, securus famae“ (‚Schnell Gefordertes liefere auch schnell, ohne an Ruhm zu denken‘). Dissertatio, cap. 35: „Sed jam dialia petuntur ab iis, qui Musas servire cogunt turpissimam servitutem“ (‚Aber nun verlangen diejenigen, die die Musen zur schändlichsten Knechtschaft zwingen, Werke, die kaum einen Tag überdauern‘). Vgl. auch die Aussage über die gute Melancholie im humoralpathologischen Teil: „servire tamen nescia suam voluntatem, suae libertatis decretum pro imperio jocandi exspectat“ (cap. 64). Dissertatio, cap. 35. In der damaligen Zeit gibt es bekanntlich auch viele anonyme Kasualgedichte, vgl. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 82. Dissertatio, ebd.: „si non potes figere cupressum; fige taxum“. Diese Empfehlung stellt eine Kontrastimitation zu Horaz, Ars poetica 19-22 dar. Palaestra, Pars I, lib. 1, cap. 1, p. 5. Zudem lehnt er die schmeichelhafte Geste solcher Dichtungen ab (Dissertatio, cap. 38). Dissertatio, cap. 35. Schon in cap. 6 hatte er von einer „justae magnitudinis Poesis“ gesprochen, womit wohl vor allem die Dauerhaftigkeit der wahren und großen Dichtung gemeint ist (vgl. Burkard: Dissertatio [wie Anm. 42] ad loc.).

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„Exegi monumentum aere perennius“.86 Die Gelegenheitsdichtung wird am Anfang der Dissertatio abwertend als ein Werk von ‚Verseschmieden‘ („versificatores“) bezeichnet (cap. 4); ihr wird auch das Emblem zugerechnet87 und damit diejenige Gattung, die Masen in einem stattlichen Band behandelt hat.88 Die an alle (angehenden) Dichter gerichtete Forderung, ewige Werke hervorzubringen, bringt es – paradoxerweise? – mit sich, dass Balde in den Kapiteln 1-58 der Dissertatio fast nirgends auf den Inhalt von Dichtung eingeht.89 So wird die moralische Komponente vollkommen ausgespart. Und – was bei einem Jesuiten vielleicht noch mehr verwundern wird: Man begegnet keinerlei Bezugnahmen auf spezifisch christliche Stoffe. Im Gegenteil: Balde macht sich lustig über Dichter(linge), die glauben, die Religiosität des Sujets veredele ein Gedicht – weit gefehlt: ‚als ob wir nicht auch bei der Verehrung der Heiligen nachlässig und barbarisch sein könnten!‘90 Es ist vielleicht nicht ganz gerecht, hier Balde gegen Masen auszuspielen, da letzterer die grundsätzliche Kritik sicherlich unterschreiben würde: Der Missstand wäre ihm jedoch – nicht ganz zu Unrecht – gleichgültig, da er ja mit seiner Poetik zeigen möchte, wie man aus dem gut Gemeinten das gut Gemachte werden lässt. Andererseits zeigt sich hier deutlich die unterschiedliche Ponderierung der beiden Ordensbrüder.91 Da Balde derart konsequent die Reflexion christlicher Themen meidet, könnte seine Dissertatio, von einigen wenigen Nebenbemerkungen abgesehen, von einem Heiden geschrieben sein – auch hierin ist seine Poetik der genaue Kontrapunkt zu Masens Palaestra. Interessant ist in diesem Zusammenhang Baldes Erläuterung seines von Horaz übernommenen Postulates, der Dichter dürfe nicht mittelmäßig sein (dazu gleich mehr): Er begründet diesen Anspruch nämlich damit, dass die Rezipienten von Dichtern immer „Responsa Deorum“ erwarten würden, weil man annehme, dass sie in Kontakt mit den __________ 86

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Dissertatio, cap. 38 (Horaz, Carmina 3,30,1); daneben zitiert er ebd. auch das (nach Horaz 3,30 gestaltete) Ende der ovidianischen Metamorphosen und Vergils „maius opus moveo“ (Aeneis 7,45 – Vergil meinte dort allerdings etwas anderes). „Tales [scil. versificatores] vestiunt muros, suspendunt emblemata eqs.“ (cap. 4). Jacob Masen: Speculum imaginum veritatis occultae. 3. Aufl. Köln 1681. Der Inhalt spielt natürlich insofern eine Rolle, als beispielsweise die Ablehnung der Gelegenheitsdichtung eine Forderung nach großen Stoffen impliziert. Mit ‚Inhalt‘ sei hier speziell die Aussage, die Botschaft von Dichtung gemeint. Dissertatio, cap. 36: „quasi verò non et in Coelitibus colendis possimus esse socordes, ac barbari.“ Das Wort coelites ist unübersetzbar, da es in der Antike die Götter, zu Baldes Zeit häufig die Heiligen bezeichnete, so dass es hier vermutlich als Sammelbegriff für alle religiös zu verehrenden Personen verwendet wird. Eindeutig verfehlt ist daher für die Dissertatio Thills Aussage: „Die religiösen Intentionen stehen […] im Vordergrund, die rhetorischen Mittel müssen ihnen dienen“ (Andrée Thill: Religiöse Dimensionen der argutia-Poetik am Beispiel Jacob Baldes. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Bd. 2. Hg. von Dieter Breuer. [Jahrestreffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung 7] Wiesbaden/Wolfenbüttel 1995, S. 771-778, hier S. 772). Vgl. auch Anm. 74.

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Göttern („Superi“) stünden. Das klingt zunächst nach einer inhaltlichen Bestimmung: der Dichter als Seher, als Verkünder tieferer Wahrheiten. Doch Balde gibt dem Gedanken eine andere Richtung: Die Dichter müssten aufgrund dieser Publikumserwartung die normale Art zu sprechen transzendieren und sogar die unbedeutendste Sache stilistisch nobilitieren.92 Es geht Balde also hier ausschließlich um die Form. Der Dichter wird durch seine Elocutio zum Dichter.93 Damit hebt Balde in der Dissertatio genau diejenige differentia specifica hervor, die die Poesie von anderen Betätigungen unterscheidet. Wir hatten gesehen, dass Masen demgegenüber die Dichtung vom Inhalt her definierte und daher die Forderung aufstellte, man müsse auch unbedeutende Stellen semantisieren (während Balde seinerseits die stilistische Ausarbeitung fordert). Auch hieran werden wieder die unterschiedlichen Ansätze der beiden Theoretiker deutlich. Im Gegensatz zu Masen, der sich (wie die meisten Theoretiker seit der Mitte des 16. Jahrhunderts) vor allem auf die aristotelische Tradition beruft, bezieht sich Balde durchweg auf Horaz als theoretisches Vorbild. Diese Bezugnahme lässt sich leicht erklären:94 Zunächst einmal ist Horaz das Vorbild für die Lyrik schlechthin – wie auch Baldes kleines Florilegium aus dessen Oden zeigt.95 Auch die Wendung zur Satire am Ende des Werkes kann sich auf den Horatius satiricus berufen – wenn sich auch Balde stärker an Juvenal orientiert.96 Zudem wirft Balde in seiner Dissertatio einen kritischen Blick auf den Dichtungsbetrieb seiner Zeit, was Horaz knapp 1700 Jahre zuvor in seiner Ars Poetica ebenfalls getan hatte. Beiden Dichtern ist dabei ein Anliegen gemeinsam: Ein Dichter muss sein Metier beherrschen und darf sich nicht auf den (wie auch immer legitimierten) Inhalt seiner Dichtung oder sein (zumeist ohnehin nicht vorhandenes) ingenium verlassen. Beide theoretischen Werke sind – ihrer mangelnden Systematik zum Trotz – durchaus Protreptikoi für die ars, für die Beherrschung des Handwerks, des dichterischen Rüstzeugs, und zugleich scharfe Verurteilungen einer Geniepoetik (wenn dieser anachronistische Begriff hier erlaubt ist), deren Adepten glauben, mit Äußerlichkeiten den Status eines verehrten Dichters erlangen zu können. Dabei treffen sich der Römer und der Elsässer aber insbesondere in einem Punkte, der für unseren Zusammenhang entscheidend ist: in der Forderung nach einem Gedicht, das aus sich heraus, also autonom vollkommen ist. Zu Beginn seines ‚Kommentars‘ zitiert Balde die ersten beiden Verse aus der folgenden Horaz-Passage:97 __________ 92 93 94 95

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Dissertatio, cap. 33. Dieselbe Forderung findet sich auch in cap. 19 und cap. 23. Dasselbe gilt ja nach antiker Überzeugung auch vom Redner; vgl. dazu Anm. 21. Vgl. zum Folgenden Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. xxf. Dissertatio, cap. 12. Mag auch die etwa 25-zeilige Sammlung der gelungenen Wendungen aus Horaz (Balde zitiert wohl aus dem Gedächtnis) dem Nachweis dienen, dass sogar die horazischen cimmelia begrenzt sind und zudem viel Verbotenes (nämlich Erotica) enthalten, so führt sie dennoch gleichsam en passant vor Augen, wie unerreichbar der Venusiner ist. Vgl. Dissertatio, cap. 69. Dissertatio, cap. 15.

Heteronomie und Autonomie von Dichtung mediocribus esse poetis non homines, non di, non concessere columnae. Ut gratas inter mensas symphonia discors et crassum unguentum et Sardo cum melle papaver offendunt, poterat duci quia cena sine istis, sic animis natum inventumque poema iuvandis, si paulum summo decessit, vergit ad imum. (Ars Poetica 372b-378)

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Um das Wichtigste knapp zu paraphrasieren: Horaz ist der Meinung, dass Dichter unter keinen Umständen mittelmäßig, durchschnittlich („mediocres“) sein dürfen, während er in den Versen zuvor (v. 369-372a) die Dichtung von anderen Berufen unterschieden hatte: Rechtsanwälte könnten es sich beispielsweise erlauben, durchschnittlich zu sein. Gemeint ist offenbar, dass es in Berufen, die auf einen speziellen Zweck ausgerichtet sind, genügt, diesen Zweck zu erreichen, wofür eine mittelmäßige Ausführung und Begabung ausreichend sein kann. Demgegenüber muss die Dichtung, deren Aufgabe es ist, die Menschen zu unterhalten (in v. 377 verwendet Horaz dafür das Verb „iuvare“), immer fehlerfrei sein: Verfehlt ein Gedicht das qualitative Maximum („summum“) auch nur knapp, so nähert es sich schon dem Minimum („imum“).98 Für Balde ist die Dichtkunst die anspruchsvollste ars (cap. 3 a.A.). Denn in der Poesie – und jetzt kehrt der horazische Gedanke wieder – muss man die gesamte Klaviatur beherrschen; fehlt nur eine einzige Fähigkeit, so kommt ein schwaches Gedicht heraus. Um die herausragende Stellung der Poesie zu verdeutlichen, zieht Balde die Philosophie zum Vergleich heran.99 Während es dort genüge, die großen Philosophen zu verstehen und adäquat wiedergeben zu können, werde vom Dichter Kreativität, eben novitas verlangt.100 Wer dagegen wie ein Philosoph die Dichtung betreibe, bleibe ein Kommentator, der zwar den Vergil verstanden habe (wie ein Aristoteliker Aristoteles und ein Platoniker Platon) – aber deswegen noch kein Vergilianer sei. Der Ruhm der Aeneis verbleibe bei Vergil (cap. 6f.).101 Der Stellenwert, den die Dichtkunst bei Balde einnimmt, wird noch deutlicher, wenn man sein Bild vom Dichter mit dem seines Ordensbruders vergleicht. Masen unterscheidet im Speculum imaginum veritatis occultae zwischen dem ‚Maler‘ („pictor“) und __________ 98

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In der Ars Poetica wird darüber hinaus auch eine moralistische Auffassung vertreten, vgl. den vielleicht am häufigsten zitierten Vers der lateinischen Literatur ars 333 über delectare und prodesse (vgl. auch v. 309-318). Balde lässt diesen Punkt im Horaz-Teil aber außer Acht. In cap. 9 a.A. wird der Dichter kurz mit dem orator verglichen, der laut Balde ebenso unkreativ ist wie der Philosoph. Der Vergleich zwischen Dichter und Philosoph findet sich Dissertatio, cap. 5-7. Balde versteigt sich sogar zu der Behauptung, dass man sich die philosophischen Fächer innerhalb von drei Jahren aneignen könne (cap. 6), dagegen genügen seiner Meinung nach für die Dichtung nicht einmal fünf Jahre (cap. 25), man muss vielmehr mindestens mit einem Dezennium rechnen (cap. 16). Vgl. Baldes Fazit zu den Kommentatoren: „De lauro scribunt, sed laurum non gestant. praecipiunt aliis, quae ipsi exsequi non valent“ (‚Über den Dichterlorbeer schreiben sie, sie tragen ihn aber nicht. Sie geben anderen Vorschriften, die sie selbst nicht in die Tat umsetzen können‘, cap. 6).

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dem ‚Ikonographen‘ („iconographus“). Ersterer gibt die Wirklichkeit wieder, ohne auf eine tiefere Wahrheit zu verweisen, während der wahre Künstler dem poeta gleicht, da er auf die „significatio translata“, die übertragene Bedeutung, zielt.102 Der Begriff ‚Dichter‘ wird von Masen inhaltlich bestimmt und kann somit als fächerübergreifender Terminus verwendet werden, so dass das für die Poesie oder die Malerei Spezifische zweitrangig wird. In Masens Sichtweise machen ein bildender Künstler (‚Ikonograph‘) und ein Dichter dasselbe – abgesehen davon, dass sich das Akzidenz des Mediums unterscheidet.103 Dahingegen setzt Balde den Dichter mit einem anderen Künstler gleich, er sagt in cap. 29: „Poeta cantor est“ (‚der Dichter ist ein Sänger‘).104 Nicht zufällig wählt sich Balde hier die am wenigsten semantische und somit ‚inhaltsleerste‘ aller Künste aus. Wie der Sänger verpflichtet ist, seine Kunst zu beherrschen, den richtigen Ton zu treffen und seinen Gesang der Instrumentalbegleitung anzupassen, so muss der Dichter den anzuwendenden Stil (er)kennen und darauf achten, dass sein Gedicht harmonisch und melodisch, eben euphonisch klingt. Programmatisch ist auch der Titel Dissertatio de studio poetico zu deuten: Balde geht es um das gesamte Gebiet der Dichtkunst, nicht allein um die ars, also die Regeln. Dichtung ist ebenso harte Arbeit (labor), Fleiß, Begabung, Begeisterung (um mit Goethe zu sprechen: „heißes Bemühen“), Übung (exercitatio) und Geschmack (iudicium).105 Balde überspringt die praecepta und wendet sich an den Leser, der die Grundlagen bereits beherrscht und nun zu lernen hat, sie richtig anzuwenden, der seinen Geschmack noch schulen muss.106 Diese Ignoranz gegenüber dem poetischen Normensystem hat zwei Gründe: Balde ist sich einerseits zu fein, nach Art eines Poetik-Dozenten Vorschriften zu erteilen.107 Andererseits kann die unreflektierte Anwendung der praecepta, __________ 102 103

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Masen: Speculum (wie Anm. 88), lib. 1, cap. 2, p. 68-70 und lib. 4, cap. 34, p. 440-442. Der Vergleich von Maler und Dichter findet sich auch in Baldes Dissertatio (cap. 24). Die Malkunst dient ihm aber dazu, dem Leser vor Augen zu führen, wie viel handwerkliches Wissen nötig ist, damit jemand Maler werden kann – dasselbe gilt dementsprechend auch für die Poesie. Im Gegensatz zu Masen sind die Gemeinsamkeiten keineswegs inhaltlicher Natur (i.S.d. Identität des Sujets): Beide Künstler verschaffen dem Rezipienten Freude, der eine visuell, der andere akustisch („hi oculos pascunt, isti aures“, ebd.) – dass Maler (bzw. Dichter) eine tiefere Wahrheit wiedergeben können, spielt an dieser Stelle überhaupt keine Rolle. Vgl. auch den Orpheus-Vergleich in cap. 10 und Horaz’ Verweis auf die „symphonia“ in dem oben gegebenen Zitat aus der Ars Poetica. Zum Titel vgl. Stroh: Plan (wie Anm. 64), S. 236 Fußn. 216 und Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. ivf. Vgl. auch „Rectè scribendi studium, laborem dici“ (cap. 49: ‚die Bemühung um das richtige Schreiben heiße harte Arbeit‘); überhaupt sind die cap. 47-54 dem Lob des labor gewidmet. Das ist einerseits ein Topos (vgl. Quintilian, Institutio oratoria 10,1,4); andererseits trifft diese Beschreibung auf die Dissertatio durchaus zu. Vgl. Dissertatio, cap. 1: „Non vacat mihi, post tot emissa Poemata, hac aetate declivi, non vacat, inquam eqs.“ (‚Ich habe keine Zeit, da ich nun schon so viele Gedichte herausgegeben habe, in

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die mechanische Applikation von vorgefertigten Ausdrucksweisen, wie sie die Thesauri und Promptuaria bieten, kein großes Gedicht hervorbringen. Die Umsetzung der Theorien der Poetiken führt lediglich zu parodiae,108 zu Centonen aus Versen der antiken Dichter, aber nicht zu einem eigenständigen ästhetischen Gebilde. Wenn auch die Kenntnis bestimmter Faustregeln notwendig ist (und Balde wird in der Dissertatio nicht müde, die Bedeutung einer soliden Ausbildung zu betonen), so bedarf es doch vor allem des iudicium, um überhaupt beurteilen zu können, wann eine Regel anzuwenden ist und ob ein Einfall des eigenen ingenium genial oder lediglich genialisch ist.109 Kurzum: Die Poetiken sind nicht in der Lage, den Eleven zu einer innovativen Leistung zu führen. Sinnvoll ist daher die Lektüre der Klassiker – aber selbst dies genügt nicht, wenn nicht zudem noch die eigene Kreativität hinzukommt. Warum fehlt in der Dissertatio fast jeder Bezug auf Aristoteles? Zum einen interessiert sich Baldes in erster Linie formale oder strukturelle Poetik sichtlich nicht für die typisch aristotelischen Themen Wahrscheinlichkeit, Mimesis und Katharsis, die seit dem 16. Jahrhundert immer wieder in den lateinischen und volkssprachlichen Poetiken traktiert worden sind und auch bei Masen eine zentrale Rolle spielten. Zum anderen – und das ist wohl der gewichtigere Grund – bezieht sich ein poetologischer Text, der in der Mitte des 17. Jahrhunderts auf die aristotelische Poetik rekurriert, in der Regel nicht auf diese, sondern auf den Diskurs über dieses Grundlagenwerk, der sich recht weit von Aristoteles entfernt hatte, wie wir bereits bei der Behandlung von Masens Palaestra gesehen haben. In diesem Diskurs firmierte Aristoteles’ Poetik vor allem als moralische, also primär inhaltsbezogene Poetik – und gerade darum geht es Balde erst am Ende der Dissertatio, als er mit der Satire eine gänzlich ‚unaristotelische‘ Gattung behandelt.110 Auch andere Traditionsstränge fehlen in Baldes Dissertatio übrigens fast gänzlich. Es finden sich kaum Hinweise auf die auf Platon zurückgehende und seit dem Florentiner Neuplatonismus verbreitete Vorstellung vom furor poeticus.111 Auch die christliche Eloquentia sacra fehlt. Präsent ist hingegen natürlich die klassische Rhetorik, ohne die

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meinem schon zur Neige gehenden Alter [scil. praecepta zu verfassen], nein, dazu habe ich wirklich keine Zeit‘). Die damalige Verwendung des Begriffs parodia entspricht unserem ‚Cento‘ (der natürlich aus antiken Werken angefertigt wird). Balde bekämpft diese parodiae in cap. 12 der Dissertatio. Vgl. auch Winter: Rhetorikon (wie Anm. 42), S. 286: Balde widersetze sich „einer nach präskriptiven Normen produzierten Dichtung. Allem Anschein nach will er die systematisch kodifizierte Normatizität von barocker Poesie nicht anerkennen“. Die Satire gilt spätestens seit Horaz (vgl. Satiren 1,10,64-67) als rein römische Gattung, vgl. auch Quintilians berühmten Satz: „Satura quidem tota nostra est“ (Institutio oratoria 10,1,93). Vgl. aber immerhin den unten zu behandelnden humoralpathologischen Teil.

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sich bereits in der Antike nicht über Dichtung reden ließ, da sie das literaturtheoretische Vokabular sowie die entsprechenden Kategorien zur Verfügung stellte.112 Kehren wir zu unserer Kernthese zurück, wonach Baldes Dissertatio in gewisser Weise auch eine Auseinandersetzung mit der Palaestra darstellen sollte. Ein großes Anliegen von Masen ist der Kampf gegen das – von ihm als typisch deutsch angesehene – Laster der Trunksucht.113 Einige seiner Dramen wie etwa die Bacchi schola eversa und auch der Rusticus imperans hatten nicht zuletzt (auch) diese Zielrichtung. Als ob er sich nachgerade einen Spaß mit Masens ernstem Anliegen machen wollte, fordert Balde, dass man gegen jeden, der von einem Dichter Abstinenz verlange, mit den härtesten Strafen vorgehen müsse.114 Maßvoller Weingenuss könne inspirierend sein, aber man dürfe umgekehrt auch nicht dem Fehlschluss erliegen, dass Alkohol dichterische Fähigkeiten ersetzen oder erzeugen könne. Masens moralische Empörung wird man in Baldes Argumentation vergeblich suchen. In diesem Zusammenhang sei auf eine weitere mutmaßliche Spitze gegen Masen hingewiesen. Im 27. Kapitel empört sich Balde über die Spektakeltragödie seiner Zeit und zählt typische Figuren auf, denen in Dramen zu Unrecht die Hauptrolle zugewiesen werde, – darunter auch den „Rusticus titubans“ (‚hin und her schwankender Bauer‘). Es ist zumindest nicht unwahrscheinlich, dass Balde mit dieser Formulierung auf Masens Rusticus imperans anspielt, da in dieser Komödie die Handlung durch einen ausgiebigen Umtrunk der Titelfigur in Gang kommt.115 Mit Baldes Verweis auf den Alkohol als mögliche Inspirationsquelle kommt ein Aspekt ins Spiel, den Masen aus seiner Poetik sichtlich fernhalten möchte: das Körperliche, die physiologischen Funktionen. Dieses Element wird von Balde ausführlich an anderer Stelle einbezogen, indem er die Humoralpathologie, die Vier-Säfte-Lehre, mit Bezug auf die Eignung zur Poesie darstellt (cap. 59-64).116 Eine Behandlung dieser medizinischen Theorie war für Masen aus poetologischer Sicht unnötig. Seinem Optimismus zufolge kann jeder Mensch – unabhängig von seinem Temperament – ein Dichter werden, wenn er das entsprechende Regelwerk beherrscht.117 Dem stellt Balde ein ent__________ 112 113

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Zu den fünf Traditionssträngen (klassische Rhetorik, christliche Rhetorik, Horaz, Aristoteles, Platon) vgl. Plett: Renaissance-Poetik (wie Anm. 9), S. 9-13. Vgl. etwa Palaestra, Pars III, lib. 1, cap. 7, § 2, p. 38 und Harald Burger: Jacob Masens Rusticus Imperans. Zur lateinischen Barockkomödie in Deutschland. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 8 (1967), S. 31-56, hier S. 42f. Dissertatio, cap. 43-46, die witzige Aufzählung der Strafen in cap. 45. Vgl. zu dieser möglichen Anspielung Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. 217f. Baldes Darstellung der Säftelehre und ihre Applikation auf geistige Arbeit (hier: Poesie) sind nicht originell; neu ist jedoch, soweit ich sehe, die Aufnahme eines entsprechenden Kapitels in eine Poetik. „Raros ad poesin nasci, formari multos [scil. sentio]“ (‚Nur wenige werden meiner Meinung nach für die Dichtung geboren, geformt hingegen viele‘, Palaestra, Vorrede an den Leser, ohne Paginierung [*p. 5r]); vgl. ebd., Pars I, lib. 1, cap. 1, p. 4f.: Dort relativiert Masen die Vorstellung von der Inspiration und kündigt an, lehren zu wollen, wie man fictiones finden könne.

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schiedenes ‚Nein‘ entgegen. Er rückt in der Streitfrage „nascantur Poetae an fiant“ die Natura in den Vordergrund (cap. 58)118 und kommt von dort zu den vier Temperamenten. Es stellt sich heraus, dass nicht jede Konstitution in gleicher Weise zum Dichten befähigt: Die Phlegmatiker sollten lieber die Finger von der Poesie lassen, den flatterhaften Sanguinikern und den hitzigen Cholerikern gelingen nur ephemere, kurzatmige Produkte. Allein der Melancholiker,119 der in sich auch sanguinische und cholerische Elemente vereinigt, ist der ideale Dichter. Allen anderen nützt das poetologische Regelwerk wenig; sie müssten – dies sagt Balde zwar nicht, aber es wäre die logische Konsequenz – zunächst einmal ihre physische Konstitution ändern, etwa durch eine entsprechende diätetische Behandlung (wir erinnern uns an die Empfehlung eines mäßigen Alkoholgenusses). Die Vorstellung, dass es nicht jedem gelingen kann, ein guter Dichter zu werden, erscheint auch an anderen Stellen der Dissertatio.120 Die richtige Anlage, die des guten Melancholikers, in dem das optimale Gleichgewicht dreier Temperamente herrscht, ist die notwendige Grundlage für einen echten Dichter. Dieser Melancholiker vereint in sich die Gegensätze und kann daher das Leben mit einem überlegenen und gelassenen Lächeln darstellen. Während bei Masen Dichtung aus der Anwendung der praecepta fließt, ist die Poesie bei Balde ein Kind des Charakters. Der sanguinischcholerische Melancholiker hat der Welt und ihren Genüssen entsagt und steht gerade darum wie ein Stoiker über den nur äußerlichen Dingen. Wir erkennen hier unschwer einen Vorläufer des späteren Geniegedankens. Wir haben bisher bei der Analyse von Baldes Dissertatio den Schluss des Werkes, den Preis der Satire (cap. 68-73), beiseitegelassen.121 Wurde die inhaltliche Ausrichtung von Gedichten bis zu diesen Kapiteln allenfalls en passant zum Thema, so kehrt sich das Verhältnis im Finale um: Balde rühmt die Gattung der Satire als Beschützerin des Rechts, der Tugend, der Wahrheit und der Religion sowie als Nemesis des Unrechts, des Lasters und der Schmeichelei,122 ja, er singt der Satire in cap. 71 einen regelrechten Hymnus: __________ 118

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Im Torvitatis encomium wird das Verhältnis wieder umgekehrt: „Labore omnia constare. Quidquid Natura dederit, arte perfici“ (Encom. Oeconomia xxv, Balde: Opera [wie Anm. 1], Bd. 3, p. 398). Bereits in cap. 7 hatte Balde den angehenden Dichter dazu aufgefordert zu prüfen, ob ihm die poetische Inspiration wirklich zuteil geworden ist. Balde trennt hier noch einen guten von einem schlechten Melancholiker (cap. 63f.), vgl. dazu Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. 298-300. Vgl. etwa Dissertatio, cap. 24: „tota spes plurimorum Adolescentum dehiscit“ (‚Die ganze Hoffnung so vieler junger Leute wird enttäuscht‘). Zum Zusammenhang des humoralpathologischen Teils mit dem Abschnitt zur Satire vgl. Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. 322f. Schon in der Antike wurde die Satire entsprechend definiert, vgl. etwa Diomedes, Ars Grammatica lib. III: „Satira dicitur carmen apud Romanos nunc quidem maledicum et ad carpenda hominum vitia archaeae comoediae charactere conpositum“ (Grammatici Latini. Hg. von Heinrich Keil. Bd. 1. Leipzig 1857, p. 485,30f.).

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Ad Satyram revertor: bonarum mentium tutelam, malarum frenum; amicam Veritatis, scelerum inimicam; assentationis extirpatricem, insontium patronam; Iustitiae ministram. Haec amplissimum aperit Eloquentiae campum, virtutibus aream, ingeniis forum, Religioni templum, Prudentiae Curiam, probis coelum, impiis Avernum.

Mehr noch: Nicht nur ihr Kampf für das Gute hebt die Satire über die anderen Gattungen heraus, sondern sie vermag auch verschiedenartige Wirkungen auf ihre Rezipienten auszuüben: Sie kann unterhalten und verstören, ‚schmeicheln‘ und ‚donnern‘.123 Kurzum: Die Satire ist nicht nur ein Instrument der sozialen, moralischen und religiösen Regulierung, sondern sie bietet auch inhaltlich und formal eine Vielfalt, die keine andere Gattung zu bieten hat.124 Balde behauptet denn auch, dass sie fast an die höchste Gattung (d. h. das Epos) heranreiche.125 So ist es nur konsequent, wenn Balde sie als eine Gattung bezeichnet, für die es einer gewissen Reife bedarf und die man daher erst im vorgerückten Alter in Angriff nehmen sollte.126 Balde würde also gerne ernsthafte Satiren auf die herrschenden Laster und die gesellschaftlichen Verhältnisse schreiben – aber bedauerlicherweise ist das unmöglich, da ihn die christliche Nächstenliebe und die Empfindlichkeiten seiner Zeitgenossen daran hindern. Somit gibt es nur einen Ausweg: das Schreiben von Satiren auf harmlose Verfehlungen127 – und in der Tat hat Balde in seiner satirischen Schaffensphase mitnichten gesellschaftskritische Invektiven verfasst, sondern beispielsweise eine Satire gegen das Tabakrauchen.128 Baldes poetische Praxis seiner Neuburger Jahre ist somit in doppelter Hinsicht das Ergebnis von Resignation: Zum einen kann er das große Epos nicht schreiben, weil es keine rühmenswerten Gegenstände mehr gibt, die ihn zu einer solchen dichterischen Großtat inspirieren könnten;129 zum anderen kann er aus gesellschaftlichen Gründen nur harmlose Satiren schreiben – wie eben jetzt im Falle seines Torvitatis encomium. Wäre es hingegen erlaubt, in Satiren offen die Wahrheit auszusprechen, dann könnte ein neuerer Dichter __________ 123

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Dissertatio, cap. 71. Interessant ist, dass Balde an dieser Stelle die für die Satire angemessene Wahl der Wörter verteidigt (nämlich auch Wörter, die man ‚auf dem Fleischmarkt kaufe‘ – eine Formulierung von Julius Caesar Scaliger, vgl. Burkard: Dissertatio [wie Anm. 42], ad loc.). Das ist ein Topos in den Poetiken der damaligen Zeit, vgl. dazu Burkard: Vorreden (wie Anm. 48), S. 172f. Dissertatio, cap. 69. Dissertatio, cap. 71. Die Vorstellung, dass eine Gattung für ein bestimmtes Lebensalter besonders geeignet ist, findet sich bereits in der Antike (vgl. etwa Properz 3,5). Auch die Dissertatio weist satirische Elemente auf, so wird etwa (wie bereits angeführt) die Selbstverliebtheit der zeitgenössischen Poetaster aufgespießt. Gegen die Philautia richtet sich auch das Torvitatis encomium (Dissertatio, cap. 72). Satyra contra Abusum tabaci (Ingolstadt 1657); vgl. dazu und zu Sigmund von Birkens Übersetzung: Hartmut Laufhütte: Ökumenischer Knaster. Sigmund von Birkens Truckene Trunkenheit und Jacob Baldes Satyra contra abusum tabaci. In: Burkard u. a.: Kontext (wie Anm. 48), S. 114132. Balde plante eine Tillias (ein Epos auf den ligistischen Feldherrn Tilly), die aber offenbar nie in Angriff genommen wurde. Für Tillys Nachfolger empfand er offenbar weniger Respekt, wie man seinen Gedichten zum Dreißigjährigen Krieg entnehmen kann.

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Werke verfassen, die der Poesie der Alten gleichkämen.130 Man wird vermuten dürfen, dass hier mit den Veteres lediglich die Satirendichter gemeint sind. Auch ein anderer Gedanke des Horaz-Kommentars kehrt in den Schlusskapiteln wieder: die Wahrung der Autonomie des Schriftstellers.131 Der Dichter gibt sich selbst seine Gesetze und wartet nicht auf Befehle von oben – damit schließt sich der Kreis zu Baldes herablassender Haltung gegenüber der Kasualdichtung. Mit dieser stolzen Verachtung des Hoflebens vergleiche man Masens diverse Widmungen in seiner Palaestra (also in ein und demselben Werk!), mit denen er mehrere hochgestellte Persönlichkeiten bis hinauf zum Papst – durchaus erfolgreich – zu erreichen suchte.132 Für unseren Zusammenhang ist vor allem wichtig, dass Balde im Satirenteil dezidiert (aber – wie er selbst weiß – vergeblich) engagierte Literatur fordert, nämlich Satiren, die gegen konkrete herrschende Missstände zu Felde ziehen und sich nicht im Allgemeinmenschlichen verlieren. Wie ist diese überraschende Betonung des Heteronomen, diese Kehrtwendung gegenüber der restlichen Dissertatio zu erklären? Zunächst einmal muss Balde nach 58 Kapiteln endlich einmal auch auf das Werk eingehen, zu dem die Dissertatio als Vorrede dienen soll; eine Einführung zum Inhalt des Torvitatis encomium versteht sich dabei von selbst. Des Weiteren zeigt sich an dieser neuen Ausrichtung der Schlusskapitel lediglich, dass man Baldes Dissertatio missverstehen würde, wenn man sie auf eine rein autonome Lesart festlegen würde. Man darf bei aller Begeisterung für Baldes hervorragende und schillernde Dichtkunst nicht vergessen, dass viele seiner Dichtungen durchaus eindeutige Aussagen haben, dass er beispielsweise moralische, religiöse und politische Gedichte verfasste, in denen er unmissverständlich Stellung bezog, seine Meinung äußerte und auch unbequeme Wahrheiten aussprach. Interessant ist auch, welche Werke der neueren Literatur Balde ausdrücklich hervorhebt:133 John Barclays (1582-1621) im Jahre 1621 erschienenen Roman Argenis und die __________ 130

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Dissertatio, cap. 72 (das vorletzte Kapitel der Dissertatio); vgl. zu Baldes Satirentheorie summarisch Burkard: Vorreden (wie Anm. 48), S. 171-175 (mit kritischer Diskussion von: Doris Behrens: Jacob Baldes Auffassung von der Satire. In: Jacob Balde und seine Zeit. Akten des Ensisheimer Kolloquiums 15.-16. Oktober 1982. Hg. von Jean-Marie Valentin. [Jahrbuch für Internationale Germanistik A 16] Bern/Frankfurt a.M./New York 1986, S. 109-126) sowie die Beiträge in dem von Freyburger und Lefèvre herausgegebenen Sammelband (wie Anm. 42). Baldes Insubordination gegenüber politischen und ästhetischen Normen und Zwängen hat vor allem Dieter Breuer wiederholt hervorgehoben (z. B. Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979, hier S. 249f.), wobei Balde in seiner Darstellung allzu sehr zu einem Rebellen stilisiert wird. Balde war freilich nicht so weltabgewandt, wie man aufgrund dieser Stellen und einiger Gedichte (vgl. etwa die Abdolonymus-Ode, Lyrica 1,1) meinen könnte. Seinen Elegienzyklus Urania victrix von 1663 widmete er Papst Alexander VII. (Dieses Werk ist übrigens auch ein gutes Beispiel für christliche Dichtung im Sinne von Masen. Es wäre ein Fehler, Baldes Aussagen in der Dissertatio absolut zu setzen.) Dissertatio, cap. 55; cap. 64. Zu Barclays Argenis vgl. Capucine Carrier: Trediakovskij und die Argenida. (Specimina philologiae Slavicae 90) München 1991; Susanne Siegl-Mocavini: John

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erbaulichen Dichtungen des Jesuiten Angelinus Gazet (1568-1653).134 Im Falle der Argenis hebt Balde ausdrücklich hervor, dass sie so gelungen sei, dass sie sogar ihrerseits wieder epigonale Werke anregen könne; in der Tat erschienen in schneller Folge Übersetzungen in die Volkssprachen, u. a. von keinem geringeren als Martin Opitz (1626). Verblüffend an Baldes hohem Lob ist vor allem, dass es sich bei Barclays Argenis gar nicht um Poesie im antiken Wortsinne handelt, sondern um einen Prosaroman, der gesellschaftliche und politische Probleme behandelt, indem er die Staatslehre mit dem historischen Roman verbindet und so eine neue Gattung begründet. Zweifelsohne hält Balde Barclays Werk sowohl in formaler135 als auch in inhaltlicher Hinsicht für herausragend und innovativ. Vielleicht glaubte er sogar, in der Argenis, einem Werk der epischen Gattung, die (prosaische) Aeneis der neulateinischen Literatur sehen zu dürfen? Die ersten 58 Kapitel der Dissertatio mit ihrer deutlichen Akzentuierung des Autonomiegedankens dürfen also nicht isoliert betrachtet werden. Balde will hier insbesondere vor einem Missverständnis warnen, nämlich vor dem Irrglauben, dass die Beherrschung der antiken Versatzstücke und die richtige Gesinnung schon genügen würden, um zu einem großen Dichter zu werden. Wahr ist vielmehr, dass lediglich das studium, d. h. harte Arbeit und die richtige Einstellung gegenüber dem Dichterberuf, unvergängliche Werke hervorbringen können.

4. Fazit In den vorstehenden Ausführungen wurde der Versuch unternommen, Masens Palaestra als eine Poetik zu lesen, in der die Heteronomie von Dichtung vertreten wird, und andererseits Baldes Dissertatio als eine Verfechterin der Autonomie zu interpretieren. Darüber hinaus sollte wahrscheinlich gemacht werden, dass Baldes kurzer Essay zumindest teilweise eine Antwort auf Masens voluminöse Regelpoetik darstellen sollte. Bereits im Laufe unserer Darlegungen wurde deutlich, dass diese einfache dichotomische Schematik nicht immer anwendbar ist. Viele Aussagen, die sich in einer der beiden Poetiken finden, würden von dem jeweils anderen Theoretiker ohne Zögern ge__________

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Barclays Argenis und ihr staatstheoretischer Kontext. Untersuchungen zum politischen Denken der frühen Neuzeit. Tübingen 1999 mit weiterer Literatur; eine moderne Ausgabe der Argenis mit Übersetzung wurde besorgt von Mark Riley und Dorothy Pritchard Huber (2 Bde. Assen 2004). Noch lebende Dichter werden also nicht rühmend erwähnt – geschweige denn Masens Dramen (vgl. Anm. 115). Baldes Ordensbruder Michael Radau hat die Argenis als Musterbeispiel für den ordo artificialis bezeichnet – und zwar in einem Atemzug mit Vergils Aeneis (Orator extemporaneus. 2. Aufl. Amsterdam 1661, hier 1,2 quaest. I, p. 61). Das ist nur eines von vielen Beispielen für das hohe Ansehen, dessen sich das Werk im 17. Jahrhundert erfreuen konnte; vgl. Carrier: Trediakovskij (wie Anm. 133), S. 16.

Heteronomie und Autonomie von Dichtung

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billigt werden, zumal beide Poetiken letztlich klassizistische Standpunkte vertreten.136 Weder propagiert Balde in der Dissertatio eine ars gratia artis, noch leugnet Masen die ästhetische Komponente von Literatur. Entscheidend ist aber die jeweilige Hierarchisierung, die auf die unterschiedlichen Ansätze der beiden Jesuiten zurückzuführen ist. Masen geht vom Inhalt der jeweiligen Kunst (sei es Dichtung, sei es Malerei) aus, Balde hingegen vom dichterischen Individuum (das bei Masen überhaupt keine Rolle spielt), seinem Nachruhm (der für Masen allenfalls untergeordnet ist) und dem Spezifischen von Poesie überhaupt. Letzteres erblickt er in der Ästhetisierung, während für Masen das Sujet den Kern, das Definiens, die Substanz von Dichtung konstituiert. Dass beide als Theoretiker wie auch als Dichter im Großen und Ganzen auf demselben ideologischen Boden stehen, lässt sich kaum bezweifeln, aber Balde bleibt auch in seinen weltanschaulichen, engagierten Gedichten Dichter, d. h. ihm wird die ästhetische Komponente nicht zu einem reinen Mittel zum Zweck. Umgekehrt sollte man auch nicht verschweigen, dass sich in Masens Werk viele ästhetisch hochinteressante Beobachtungen finden. Masen ist originell und besitzt durchaus ein Gespür für Dichtung und ihre Reize. Daher wäre es eine lohnende Aufgabe, die viel zu wenig beachtete Palaestra auf ihren theoretischen Innovationsgehalt hin zu untersuchen. Glücklicherweise haben wir es hier nämlich mit einem Theoretiker zu tun, der zu feinsinnig ist für seine eigene Theorie. Was Baldes Dissertatio angeht, so bleibt die Frage, ob sich sein Konzept der Autonomie mehr auf den Dichter oder auf die Dichtung selbst bezieht. Allerdings ist der Dichter bei ihm bei weitem noch nicht in dem Sinne autonom, dass er zum regelgebenden Genie avancieren würde.

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In beiden Poetiken wird der einseitige, manieristische Argutismus abgelehnt, bei Masen explizit, bei Balde implizit. Es ist hier nicht der Ort, auf dieses komplexe Problem näher einzugehen. Masen gilt der Forschung als Vermittler des Argutismus im deutschen Sprachraum, vgl. auch den Titel seines ersten theoretischen Werkes zur Epigrammatik (und eben nicht zur ganzen Poesie!): Ars nova argutiarum (zuerst Köln 1649). Vgl. dazu aber Burkard: Klassizismus (wie Anm. 5) a.E. Zu Baldes Ablehnung des Argutismus in der Dissertatio vgl. Burkard: Dissertatio (wie Anm. 42), S. xxiii-xxxvi. In der Dissertatio wie in der Palaestra spielt der letztlich klassizistische Gedanke des Decorum eine ganz wesentliche Rolle. Ganz verfehlt ist der Gedanke, dass unter anderem der (vermeintliche) Argutist Masen „diejenigen [scil. argutistischen] Vorstellungen [entwickelt], von denen sich Balde leiten lässt.“ (Winter: Rhetorikon [wie Anm. 42], S. 287 mit Verweis auf Schäfer: Deutscher Horaz [wie Anm. 6], S. 157-160).

Hans-Edwin Friedrich Die Transformation der Poetik im 18. Jahrhundert: Die Dramatik im Gattungsgefüge

Im 18. Jahrhundert verändert sich bekanntlich die deutsche Dichtung grundlegend. Mit der Autonomieästhetik kommt es zur Entwicklung eines poetologischen Modells, das sich von der traditionellen bis auf die antike zurückgehenden Poetik radikal unterscheidet. Diese Veränderung ist in der älteren Forschung als Durchbruch zu einem endlich erreichten Telos von Poesie verstanden worden, dem gegenüber nur mehr wenige ältere Werke noch bestehen konnten. Zuletzt hat Heinz Schlaffer in seiner Kurzen Geschichte der deutschen Literatur diese Position noch einmal nachdrücklich vertreten.1 Mittlerweile liegen jedoch auch wertneutrale Beschreibungen dieses Wandels vor, die auf Luhmanns Modell der funktionalen Differenzierung zurückgreifen und die Ausdifferenzierung der Kunst als entscheidende Modifikation beschreiben.2 Die Veränderung der Poetik in diesem Zeitraum ist in der Semantik ihrer Programmschriften deutlich zu greifen. Diese verändern sich nicht nur in den inhaltlichen Bestimmungen, sondern auch in Stil und Anlage. Der Versuch einer Critischen Dichtkunst ist eine akademische Abhandlung, Shakespear ein poetischer Text. Die innere Ordnung und Systematik der Poetik wird radikal verändert. Eine Reihe von hierarchisch geordneten Einzelgattungen wird am Ende des 18. Jahrhunderts zu den, wie Goethe in den Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan formuliert, „drei echte[n] Naturformen der Dichtung“3 zusammengefasst. Für die Autonomieästhetik ist diese Bestimmung der drei Naturformen der Dichtung – epische, lyrische, dramatische – die kanonisierte Grundlage des Gattungssystems. Damit unterscheidet sie sich wesentlich von der traditionellen Systematik, die noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts als maßgeblich tradiert wurde. Unter der epischen Naturform etwa fasst Goethe alle erzählenden Formen wie den Roman und das Epos, __________ 1 2 3

Vgl. Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München 2002. Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, S. 215ff. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 11.1.2: West-östlicher Divan. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Katharina Mommsen und Peter Ludwig. München/Wien 1998, S. 194. Zur Herausbildung der Gattungstrias im 18. Jahrhundert vgl. Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968, S. 57ff.

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Novelle und Märchen. Eine solche Zusammenstellung war für die traditionelle Systematik undenkbar. Sie ignoriert die grundlegende Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa; sie durchkreuzt die Hierarchie der Gattungen, indem sie mit Epos und Roman zwei an den entgegengesetzten Orten liegende Gattungen zusammenzieht. Im Übrigen ist die Kunstfähigkeit der Prosagattungen auch gar nicht sicher gegeben, selbst wenn die Praxis dem zunehmend entspricht. Schiller betrachtete bekanntlich den Romanschriftsteller immer noch lediglich als „Halbbruder des Dichters“.4 Die Veränderungen des Gattungssystems lassen sich prägnant am Beispiel der Transformation der Dramentheorie skizzieren. Als heuristischer Ausgangspunkt für die Rekonstruktion dieser Entwicklung bietet sich Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst an, der erstmals 1721, zuletzt in der vierten überarbeiteten Auflage 1751 erschienen ist. Die vier Auflagen zeigen die allgemeine Anerkennung von Gottscheds Poetik5 sehr klar; die einzelnen Auflagen geben zu erkennen, dass Gottsched die Entwicklungen verfolgte und ihnen Rechnung trug. Mit dem dezidierten Rückgriff auf die Ars Poetica des Horaz, die mit einer Übersetzung im Paralleldruck dem Versuch vorangestellt ist, und der klaren Orientierung an Aristoteles und den antiken Autoritäten ist sie als systematische Poetik entworfen, die die gesamte Tradition zusammenstellt und sich der Gegenwart als Lehrbuch anempfiehlt. Zugleich tradiert sie den Bestand der Barockpoetiken, was angesichts von Gottscheds unmissverständlich geäußerter Abneigung gegen große Teile der Barockdichtung bemerkenswert ist. Schließlich bot der Versuch der nachfolgenden Generation ex negativo eine ideale Folie für die Ausarbeitung wichtiger autonomieästhetischer Konzeptionen und Überlegungen. Bei Gottsched zeigen sich jedoch schon Tendenzen, die von der Tradition weg- und zu einer Neukonzeptualisierung führen, die der Critischen Dichtkunst eine Scharnierstellung zuweisen.6 Grundlegend für seine Poetik ist der Ansatz, das Wesen der Poesie philosophisch zu bestimmen, die Poesie zu begründen und sie nach vernünftigen Prinzipien zu regulieren. Damit setzt er sie, um sie aufwerten zu können, unter folgenschweren Druck. Insbesondere auf die Präsentation und Bewertung der älteren Dichtungen wirkt sich das deutlich aus; nicht zu unterschätzende Transformationsimpulse __________ 4

5 6

Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese und Siegfried Seidel. Hg. von Norbert Oellers. Bd. 20: Philosophische Schriften. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann. Hg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 462. Vgl. Phillip Marshall Mitchell: Die Aufnahme von Gottscheds Critischer Dichtkunst. In: Daphnis 16 (1987), S. 457-484. Vgl. Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell’arte und Théâtre Italien. Stuttgart 1965, S. 168ff.; Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Bad Homburg/Berlin/Zürich 1970, S. 92ff.; Andreas Härter: Die Rhetorik der ‚verblümten Redensarten‘ in Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst. In: Colloquium Helveticum 30 (1999), S. 25-44; zu Gottscheds Innovationsansprüchen vgl. Steffen Martus: Gründlichkeit. J. C. Gottscheds Reform von Zeit und Wissen. In: Scientia Poetica 6 (2002), S. 28-58.

Die Transformation der Poetik im 18. Jahrhundert

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für die Gattungssystematik und die Dichtungsregeln gehen ebenfalls davon aus. Ein Beispiel bietet die Lehre von den drei Einheiten. Gottsched kann sie nicht mehr einfach nur unter Berufung auf die Tradition anführen. Zu welchen Problemen der Zwang zu vernünftiger Begründung führt, zeigt sich bei der kuriosen Begründung für die Einheit des Ortes. Die Zuschauer bleiben auf einer Stelle sitzen: folglich müssen auch die spielenden Personen alle auf einem Platze bleiben, den jene übersehen können, ohne ihren Ort zu ändern.7

Diese zentrifugalen Resultate des Versuchs, die Poetik nach Vernunftprinzipien heteronom zu reformulieren, lasse ich außer Acht, um mich auf die groben Entwicklungslinien zu konzentrieren. Hier zeigt der Blick auf die literarhistorische Entwicklung, dass die beiden Hauptgattungen der Dramatik, die Tragödie und die Komödie, nicht mehr als homogene Gattungen bestehen. Zwar orientiert sich der Hauptstrom nach wie vor an den traditionellen Vorgaben, daneben haben sich aber schon früh Muster entwickelt, die ihnen nicht mehr vollgültig entsprechen und für das Gattungssystem Sprengkraft entwickeln. Für die Komödie ist das die comédie larmoyante, das ‚weinerliche Lustspiel‘; für die Tragödie das bürgerliche Trauerspiel.8 Gellerts Ausführungen in der Abhandlung Pro comoedia commovente (1751) kommentierte Michael Conrad Curtius entsprechend: Dieses wirft alle bisherigen Erklärungen der Lustspiele über den Haufen, weil diese neue Art von Lustspielen unter der allgemeinen Art der Komödie begriffen sein muß, in den meisten Stücken nichts Lächerliches anzutreffen ist.9

Beide Formen können sich als Alternativen so gut behaupten, dass experimentelle Veränderungen der Dramatik bei ihnen ansetzen können. Lessings Dramen im Anschluss an Miss Sarah Sampson entsprechen sämtlich nicht mehr den Vorgaben Gottscheds, die er in seiner frühen Dramatik noch respektiert hat.

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9

Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Darmstadt 1963, S. 615; künftig zitiert mit G und Angabe der Seitenzahl. Vgl. Hinck: Lustspiel (wie Anm. 6), S. 190ff.; Alois Wierlacher: Das bürgerliche Drama. Seine theoretische Begründung im 18. Jahrhundert. München 1968; Horst A. Glaser: Von der Comédie larmoyante zum Bürgerlichen Trauerspiel. Oder: Diderot versus Lessing. In: „Die in dem alten Haus der Sprache wohnen“. Helmut Arntzen zum 60. Geburtstag. Hg. von Thomas Althaus und Burkhard Spinnen. Münster 1991, S. 99-108. Michael Conrad Curtius: Abhandlung von den Personen und Vorwürfen der Komödie [1753]. In: Die Entwicklung des bürgerlichen Dramas im 18. Jahrhundert. Ausgewählte Texte. Hg. von Jörg Mathes. Tübingen 1974, S. 11-13; Zitat S. 12.

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1. Im ersten Abschnitt der vierten Auflage der Critischen Dichtkunst stellt Gottsched die von den Alten entwickelten Gattungen der Reihe nach dar.10 Hauptstück X widmet sich den „Tragödien, oder Trauerspielen“, das folgende Hauptstück XI den „Komödien, oder Lustspielen“. Im 2. Abschnitt werden „Erfindungen der neuen Zeit“ gewürdigt; das IV. Hauptstück handelt von „Opern oder Singspielen, Operetten und Zwischenspielen“, das V. von „Wirtschaften, Mummereyen, und Balletten“, das VI. von „Schäferspielen, Vorspielen und Nachspielen“. Die Anordnung gibt zugleich die Hierarchie der einzelnen Gattungen wieder. Die Hauptformen der Komödie und Tragödie bilden aufgrund ihrer internen Beschaffenheit und Beschreibung eine Einheit, während die anderen Formen eher stofflich bestimmt werden. Die Notwendigkeit der Aufnahme neuer Formen zeigt eine Entwicklungstendenz an, die das Gattungssystem als offene, veränderbare Größe ausweist. Gottsched integriert alle Gattungen durch den Bezug auf drei Grundbestimmungen. Die historische Entwicklung zur Vollkommenheit ist die eine, die Vernunft die andere, die Natur die dritte.11 Jedes Hauptstück enthält neben der Beschreibung der Gattungsregeln und der Beurteilung der vornehmsten Beispiele auch eine ausführliche Gattungsgeschichte. So wird den antiken Vorgaben folgend beschrieben, dass die Tragödie „ihren Ursprung aus gewissen Liedern“ habe, die „dem Bacchus zu Ehren gesungen wurden“ (G 603), mitgeteilt, der Name rühre daher, dass „man dem besten Sänger einen Bock zum Gewinnste zuerkannte“ (G 603); dem folgen die Innovationen des Thespis und die der kanonischen Dichter: Aischylos „erfand zuerst die Idee der Hauptperson in einem solchen Spiele: welches vorher nur ein verwirrtes Wesen, ohne Verknüpfung und Ordnung, gewesen war“ (G 604). Schließlich hat man „um diese Zeit die erhabne Schreibart in die Tragödie eingeführet [...]: denn vorher war ihr Vortrag voller Zoten und gemeiner Possen gewesen; so, wie auch ihr Inhalt ganz satirisch war“ (G 604f.). Als Fazit hält Gottsched fest, daß die Tragödie an ihrem Ursprunge ganz was anders gewesen ist, als was sie hernach geworden. Aus den abgeschmacktesten Liedern besoffener Bauern, ist das ernsthafteste und beweglichste Stück entstanden, welches die ganze Poesie aufzuweisen hat. (G 605)

Es gibt eine historische Entwicklung, die teleologisch auf Perfektion zuläuft.12 „Bei den Griechen war also, selbst nach Aristotels Urteil, die Tragödie zu ihrer Vollkommenheit gebracht“ (G 606). Die Vollkommenheit einer Gattung gibt das Entwicklungsziel vor, ist sie erreicht, bildet sie den Maßstab für weitere Werke. Diese Vollkommenheit ist geschichtsunabhängig gedacht. Die Regeln der attischen Tragödie und die als Norm ver__________ 10 11 12

Vgl. Scherpe: Gattungspoetik (wie Anm. 3), S. 44ff. Vgl. Herrmann: Naturnachahmung (wie Anm. 6). Vgl. Thomas Pago: Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 2003, S. 173ff.

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standenen Darlegungen des Aristoteles geben vor, wie die seitherige Dramenproduktion in ihrer Gesamtheit zu beurteilen ist. Da die französischen Dichter und Theoretiker den Griechen am nächsten kommen, rangieren ihre Werke unter den modernen an höchster Stelle.13 Im Fall der Komödie zeigen die abfälligen Bemerkungen über Zoten und gemeine Possen sowie der Hinweis auf den Verlust der aristotelischen Ausführungen zur Komödie, dass Gottsched sie im Grunde zu einer witzigen Tragödie mit gutem Ausgang macht. Daher wird die Komödie als Gattung per se kritisch gesehen und fast ganz auf Lasterkritik beschränkt. Die Komödie sei, im Gegensatz zur Tragödie, bei den Griechen „nicht“ „zur Vollkommenheit“ (G 633) gebracht worden, was auch Aristoteles gesehen habe. Hier ist also noch weitere Perfektion möglich, wenn auch auf wesentlich schlechterer Grundlage.14 Das zweite Prinzip ist die Vernunft. An den Barockpoetiken vermisste Gottsched – wie er in der Vorrede zum praktischen Teil der 6. Auflage der Weltweisheit ausführt – „einen recht vernünfftigen Begriff, von dem wahren Wesen der Dichtkunst; aus welchem alle besondern Regeln derselben hergeleitet werden könnten“.15 Vernunft wird in zweierlei Weise der Poesie abverlangt. Zum einen müssen die Grundlagen der Poetik mit ihr vereinbar sein; wo sie es nicht sind, entscheidet die Tradition: da Aristoteles die Einheit der Zeit vorgegeben habe, unterstellt ihm Gottsched vernünftige Gründe, die er, mehr oder weniger überzeugend, ermittelt. Fehlt die Tradition, muss es die Vernunft allein richten. Ziel des Verfahrens ist die Erarbeitung von Regeln, in denen der objektive Charakter des Schönen zur Geltung kommt.16 Zum anderen müssen auch die Inhalte der Dichtungen vernünftig sein. Die Ausrichtung auf Vernunft unterwirft die Poetik wie die Werke starken Zwängen und führt letzten Endes dazu, dass große und bis dahin auch kanonische Teile der Poesie ausgeschlossen werden, darunter große Namen, die leider Zaubereien in ihren Texten dargestellt haben. Der Rekurs auf die Vernunft führt zu starken Homogenisierungs__________ 13 14 15

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Vgl. Cathérine Julliard: Gottsched et l’esthétique théâtrale française. La réception allemande des théories françaises. Bern u. a. 1998. Vgl. Helmut Koopmann: Drama der Aufklärung. Kommentar zu einer Epoche. München 1979, S. 83ff. Zitiert nach: Joachim Birke: Christian Wolffs Metaphysik und die zeitgenössische Literatur- und Musiktheorie: Gottsched, Scheibe, Mizler. Berlin 1966, S. 24; vgl. S. 5ff. Vgl. Herrmann: Naturnachahmung (wie Anm. 6), S. 92ff.; Hans Freier: Kritische Poetik. Legitimation und Kritik der Poesie in Gottscheds Dichtkunst. Stuttgart 1973, S. 26ff.; Ruedi Graf: Das Theater im Literaturstreit. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht. Tübingen 1972, S. 18ff.; KarlHeinz Finken: Die Wahrheit der Literatur. Studien zur Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts. New York u. a. 1993, S. 41ff.; Detlev Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig zum 300. Geburtstag von J. Chr. Gottsched. Leipzig 2000, S. 57ff. Vgl. Herrmann: Naturnachahmung (wie Anm. 6), S. 135ff.; Uwe Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G. Fr. Meier. München 1983, S. 20.

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tendenzen, die im besonderen Fall die Unterscheidung von Komödie und Tragödie minimieren: „Die Fabeln der Komödie werden [...] auf eben die Art gemacht, als die tragischen“ (G 645). Die Berechtigung dazu ergibt sich aus ihrer Geschichte, da Gottsched beide aus einem gemeinsamen Ursprung herleitet. Als einzige Differenz erscheint am Ende allein der tragische Affekt (vgl. G 650), an dem umso energischer festgehalten wird. Die Einführung des tragischen Affekts in die Komödie, die bei der comédie larmoyante versucht worden sei, lehnt Gottsched kategorisch ab. Die Homogenisierung wirkt sich auf die Form aus, die im Wesentlichen auf das Prinzip der Einheitlichkeit und die Symmetrie der Fünfaktigkeit festgelegt wird. Der zentrale Aspekt ist die Verpflichtung der Poesie auf die Veranschaulichung eines moralischen Lehrsatzes.17 Der explizite Bezug auf Horaz unterstreicht diese Verpflichtung der Poesie auf prodesse aut delectare, die auf Komödie und Tragödie unterschiedlich verteilt wird. Bei der Tragödie formuliert Gottsched grundsätzlich: „Der Poet wählet sich einen moralischen Lehrsatz, den er seinen Zuschauern auf eine sinnliche Art einprägen will“ (G 611). Damit ist der Nutzen der Tragödie, für Gottsched ohnedies die vornehmste aller Gattungen, unbezweifelbar. Die Komödie wird in erster Linie dem delectare zugeordnet, da sie noch nicht zur Vollkommenheit gelangt sei, wie die Ausführungen zur Geschichte der modernen Komödie zeigen. Den Ausweis ihres Nutzens erreicht Gottsched nur um den Preis einer radikalen Reduktion, der der größte Teil der Komödienproduktion zum Opfer fällt. „Narrenpossen und garstige[] Schimpfreden“ (G 631) und deren personale Repräsentation, der Pickelhering, sollen verbannt sein.18 Übrig bleibt nur die „Nachahmung einer lasterhaften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann“ (G 643). Dass diese Forderung nicht ohne weiteres einleuchtend ist, ergibt sich aus der weiteren Argumentation. Gottsched führt nämlich aus, das Lächerliche allein sei noch nicht entscheidend für eine Komödie, und greift dabei auf Aristoteles zurück: Er sagt aber sehr wohl, daß es [das Lächerliche] was ungestaltes oder ungereimtes sey, das doch demjenigen, der es an sich hat, keinen Schmerz verursachet [...]. Es ist also wohl zu merken, das weder das Lasterhafte, noch das Lächerliche für sich allein, in die Komödie gehöret; sondern beydes zusammen, wenn es in einer Handlung verbunden angetroffen wird. Vieles läuft wider die Tugend; ist aber mehr strafbar und widerlich, oder gar abscheulich, als lächerlich. Vieles ist auch lächerlich; wie zum Exempel die Harlekinspossen der Italiener: aber darum ist es doch nicht lasterhaft. Beydes gehört also nicht zum Wesen eines rechten Lustspiels. (G 643)

__________ 17

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Vgl. Peter Borjans-Heuser: Bürgerliche Produktivität und Dichtungstheorie. Strukturmerkmale der poietischen Rationalität im Werk von Johann Christoph Gottsched. Frankfurt a.M./Bern 1981, S. 163ff. Vgl. Ruedi Graf: Der Professor und die Komödianten. Zum Spannungsverhältnis von Gottscheds Theaterreform und Schaubühne. In: Vernunft und Sinnlichkeit. Beiträge zur Theaterepoche der Neuberin. Hg. von Bärbel Rudin und Marion Schulz. Reichenbach 1999, S. 125-144.

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Gottsched rekurriert auf Natur, die er mit der Vernunft in Übereinstimmung denkt. „Das Gesetz der Natur ist [...] einerley mit demjenigen, was einem die gesunde Vernunft giebt, oder was sie lehret.“19 Das Wesen der Poesie sei Nachahmung der Natur.20 Inhalte und Darstellungsweisen werden mittels der Kategorie der Wahrscheinlichkeit kontrolliert. Auch dieser Rekurs wirkt deformierend, indem er darauf drängt, Abweichungen von der Natur auszuschließen. Die Auswirkungen dieser Prinzipien zeigen sich etwa in Gottscheds Urteil über die Oper, „das ungereimteste Werk, das der menschliche Verstand jemals erfunden hat“ (G 739). Aus der späteren Perspektive zeigt sich, dass Gottscheds Versuch, die Poesie nach Vernunft und Natur systematisch zu beschreiben und bestimmen, die Tendenz zu Modifikationen der Traditionsbestände bereits enthält. Gottscheds Poetik zeigt eine Ausrichtung auf klar definierte Idealtypen und folgerichtig eine Tendenz zur Rückweisung von Mischtypen, die allerdings im Beobachtungszeitraum zunehmend zahlreicher auftreten. An zwei Stellen der vierten Auflage kommt Gottsched auf Innovationen im Gattungssystem zu sprechen, die Merkmale unterschiedlicher Gattungen verbinden. Die comédie larmoyante sei keine eigene neue Art [...]. Allein wenn es ja eine solche Art von Schauspielen geben kann und soll; so muß man sie nur nicht Komödien nennen. Sie könnten viel eher bürgerliche, oder adeliche Trauerspiele heißen; oder gar Tragikomödien, als ein Mittelding zwischen beyden genennet werden. (G 644; vgl. G 650)

Solche Abweichungen müssen Irrwege sein. Gottsched kann solche Innovationen nicht ignorieren, soll seine Systematik richtig und vollständig sein.21 An anderer Stelle weist er die Gattungsbezeichnung Tragikomödie zurück, nämlich im Falle von Plautus’ Amphitruo (v. 60ff.). Der hatte die Gattungsbezeichnung unter Berufung auf die Ständeklausel begründet, die für Gottsched schon eine untergeordnete Rolle spielt. Sie kann __________ 19 20

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Gottsched: Weltweisheit praktischer Teil. 7. Auflage, §35; zitiert nach Birke: Wolffs Metaphysik (wie Anm. 15), S. 45. Vgl. Gustav Waniek: Gottsched und die deutsche Literatur seiner Zeit. Leipzig 1897, S. 132ff.; Joachim Birke: Gottscheds Neuorientierung der deutschen Poesie an der Philosophie Christian Wolffs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 560-575; Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werks. Berlin 1972, S. 155ff.; Bernd Bräutigam: Fabelhafte Poesie in optimaler Welt. Gottscheds Literaturbegriff im Spiegel der Theodizee. In: Spiegelungen. Festschrift für Hans Schumacher zum 60. Geburtstag. Hg. von Reiner Matzker, Petra Küchler-Sakellariou und Marius Babias. Frankfurt a.M. u. a. 1991, S. 35-51, hier S. 41ff.; Andreas Härter: Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel. München 2000, S. 105ff.; Ulrike Zeuch: Dichtungstheorie der Frühaufklärung. In: Aufklärung 17 (2005), S. 117-140, hier S. 118ff. Zur zeitgenössischen Kritik am Prinzip der Naturnachahmung vgl. Mitchell: Aufnahme (wie Anm. 5), S. 474ff. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Historisierung und Systematisierung. Thesen zur deutschen Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. In: Regelkram und Grenzgänge. Von poetischen Gattungen. Hg. von Eberhard Lämmert und Dietrich Scheunemann. München 1988, S. 38-48, hier S. 42.

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jedenfalls kein notwendiges Kriterium für die Zuordnung zur Tragödie bieten: Eine so verstandene Tragikomödie wäre nichts anderes als ein „Ungeheuer“ (G 645). Die Veränderungen der Poetik in den folgenden Jahrzehnten lassen sich an vier verschiedenen Aspekten darstellen; dem Verständnis des Dramas als Obergattung (2.) sowie der Verzeitlichung (3.), Individualisierung (4.) und Anthropologisierung (5.) der Poetik. Fluchtpunkt dieser Veränderung ist die Umstellung von Heteronomie auf Autonomie der Poesie.

2. Die Vielfalt neuerer dramatischer Formen beschreibt Gottsched ohne systematische Verbindung zu den traditionellen der Komödie und Tragödie. Der Sammelbegriff ‚Dramatik‘ kommt bei ihm nicht vor. In der traditionellen Poetik war die Einheit der Gattung Drama aufgrund der extremen Trennung der Komödie von der Tragödie konzeptionell ohnehin kaum präsent.22 Aufgrund der Gattungsinnovationen aber rückten beide Formen enger zusammen, rückte das Gattungsmuster ‚Drama‘ in den Vordergrund. „Will man“ – so Johann Adolf Schlegel 1759 – den neuen Gattungen der Schauspiele [...] Gerechtigkeit widerfahren [...] lassen [...]: so wird man der alten Begriffe sich entwöhnen, und die eingeführte Einteilung der Schauspiele in Tragödien und Komödien gleichsam ganz vergessen müssen, um [...] eine richtigere und vollständigere Einteilung der theatralischen Werke23

zu finden. So entsteht im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine zunehmende Zahl an Texten, die weder Komödie noch Tragödie sind, sondern zu einer Mittelgattung ‚Schauspiel‘ gehören.24 Da die Tragödie die vornehmste Gattung war, werden hier die grundlegenden Diskussionen geführt. Die Tragödie war bei den Griechen schon vollkommen; Aristoteles, so Georg Friedrich Meier, habe hingegen „die größte Vollkommenheit der Comödie nicht erlebt“.25 Auch wenn Gottsched die Komödie sehr stark reglementiert und von den __________ 22 23

24

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Vgl. Scherpe: Gattungspoetik (wie Anm. 3), S. 97. Johann Adolf Schlegel: Von der Einteilung der Poesie [1759]. In: Die Entwicklung des bürgerlichen Dramas im 18. Jahrhundert. Ausgewählte Texte. Hg. von Jörg Mathes. Tübingen 1979, S. 4-6, Zitat S. 6. Vgl. Roger Bauer: Die wiederaufgefundene dritte Gattung, oder: Wie bürgerlich war das bürgerliche Drama. In: Revue d’Allemagne 5 (1973), S. 475-496; Georg-Michael Schulz: Tugend, Gewalt und Tod. Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und Erhabenen. Tübingen 1988, S. 1ff.; Rosmarie Zeller: Struktur und Wirkung. Zu Konstanz und Wandel literarischer Normen im Drama zwischen 1750 und 1810. Bern/Stuttgart 1988, S. 164ff.; GeorgMichael Schulz: Das ‚Lust- und Trauerspiel‘ oder die Dramaturgie des offenen Schlusses. In: Lessing Yearbook 23 (1991), S. 111-126. Georg Friedrich Meier: Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst. Halle 1747-1749 [ND: Hildesheim/New York 1975], S. 346; vgl. Hinck: Lustspiel (wie Anm. 6), S. 196ff.

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praktisch geübten Formen der Komödie einen bedeutenden Teil von der deutschen Schaubühne ausschließt, bietet er sie dennoch mit seiner grundsätzlichen Aufwertung der Komödie als Trägerin eines moralischen Lehrsatzes wie mit dem Hinweis, sie sei noch nicht zur Vollkommenheit gelangt, den Dichtern und Theoretikern als wichtiges Betätigungsfeld an. Ein weiterer Effekt seiner Konzeption ist, dass er Komödie und Tragödie in ihren wesentlichen Bestimmungen sehr eng zusammenrückt und ihre trennenden Kriterien gerade darum schärfer betont.26 Im Grunde bleibt nur ein Abgrenzungskriterium übrig, der tragische Affekt. Nimmt man unter systematischem Aspekt nun die Ausführungen zum Lächerlichen hinzu, das Gottsched ja als nicht ausreichend für die Bestimmung der richtigen Komödie ansieht, ergibt sich ein aufschlussreicher Befund, aus dem sich zwei Konsequenzen ableiten lassen. Zum einen führt die Betonung des tragischen Affekts zu einer wirkungsästhetischen Bestimmung der Gattungsdifferenzen, an die Lessing, Mendelssohn und Nicolai im Briefwechsel über das Trauerspiel anschließen. Zugleich ist damit die Gattung nicht mehr durch inhaltliche Kriterien definiert, so dass hier später Modifizierungen möglich werden. Wenn der tragische Affekt gegeben ist, kann es auch eine Tragödie geben, in der nicht mehr nur Majestäten agieren. Zum Zweiten findet sich bei Gottsched eine Unterscheidung von Lächerlichem bzw. Komischem und Komödie sowie Tragischem und Tragödie.27 Das eröffnet die Möglichkeit, Komisches in der Tragödie und Tragisches in der Komödie zu gestalten, eine wichtige Vorbedingung für die spätere Rezeption und Kanonisierung Shakespeares und die Gattungsexperimente, die Lenz mit dem Hofmeister und den Soldaten durchführt. Die Kategorien des Komischen und Tragischen verknüpft Herder über den Bereich der Poetik hinaus mit Nationalcharakteren. Einem „ungebildeten Volk“ könne „das feine Comische abgesprochen“ werden.28 Für die Poetik bieten sich weitere Reflexionsmöglichkeiten, wie sich an der Rede vom „Tragischen Genie[]“ (H 352) zeigt oder an der Gegenüberstellung und damit implizit auch Aufwertung des Komischen als „Gegensatz des Erhabenen“ (H 345). Deutlich ist nachzuvollziehen, dass Herder Komisches und Tragisches konzeptionell von den Gattungen unterscheidet, damit semantisch anreichern und mit anderen Konzepten kombinieren kann. Weiterhin bietet sich die Möglichkeit, die Gattungen nicht mehr über ihre Form, sondern zusätzlich über ihr Wesen zu definieren. Die Tragödie ist dann nicht mehr notwendig fünfaktig, in der hohen Schreibart, unter Königen und Majestäten handelnd, sie kann auch – allerdings viel später – eine Figur wie Woyzeck in den Mittelpunkt stellen, wenn sie ‚Tragisches‘ zur Geltung zu bringen vermag. __________ 26 27

28

Vgl. Horst Steinmetz: Die Komödie der Aufklärung. 3., durchgesehene und bearbeitete Auflage. Stuttgart 1978, S. 20f. Vgl. Thomas Martinec: Von der Tragödientheorie zur Philosophie des Tragischen. Poetikgeschichtliche Skizze eines Umschwungs. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 40 (2005), S. 105-128. Johann Gottfried Herder: Werke. Hg. von Wolfgang Pross. Bd. 1: Herder und der Sturm und Drang 1764-1774. München/Wien 1984, S. 345. Künftig zitiert als H.

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Die poetologischen Ausführungen Lessings zeigen deutlich, wie er in distanzierender und polemischer Absicht bei Gottsched anknüpft.29 Argumentativ verwandelt er eine Stärke Gottscheds – den Rückgriff auf Aristoteles als nomothetischen Basistheoretiker – in eine Schwäche, indem er die Innovationen in seiner Mitleidstheorie, die den tragischen Affekt aufgreift und reformuliert, aus Reinterpretationen des Aristoteles entwickelt.30 Grundsätzliches zur Frage der Kunstregeln lässt Lessing in Nebenbemerkungen fallen. „Ich will Ihnen nur noch einige Proben geben, wie leicht und glücklich aus meinem Grundsatze, nicht nur die vornehmste bekannte Regel, sondern auch eine Menge neuer Regeln fließe.“31 Lessing verkehrt das Verhältnis von Regel und Kunst im Vergleich zu Gottsched diametral. Er hat den tragischen Affekt neu interpretiert, so dass von der Sache her Modifizierungen im Regelsystem erforderlich werden. Die Regel ist nicht mehr Ausdruck von Vernunft, sondern wird aus der konkreten poetischen Arbeit am Werk heraus entwickelt und gewinnt allein daraus ihre Bedeutung. Aus normierenden Regeln sind bloß äußerliche Formmerkmale geworden. Aus diesem Grund ist es möglich, dass es einen Fall wie den Demokrit des Regnard gibt. Lessing stellt fest, er enthalte zahllose Regelverstöße, wimmele nur so von Fehlern. Aber: das Stück gefällt – umso schlimmer für die Regeln, deren Willkürlichkeit sich gerade an einem solchen Beispiel erweist (vgl. L 311). Regnards Drama ist eine Falsifizierung der Regeln. Daher versteht Lessing sie immer nur als mechanische Regeln, ohne poetische Notwendigkeit. Er führt das in der Hamburgischen Dramaturgie am Beispiel der Destouche-Übersetzung der Gottschedin aus, bei der sie aus einem Drei- einen Fünfakter gemacht hat. Was kostete es denn auch für Mühe, aus drei Aufzügen fünf zu machen? Man läßt in einem andern Zimmer einmal Kaffee trinken; man schlägt einen Spaziergang im Garten vor; und wenn Not an den Mann gehet, so kann ja auch der Lichtputzer herauskommen und sagen: Meine Damen und Herren, treten Sie ein wenig ab; die Zwischenakte sind des Putzens wegen erfunden, und was hilft Ihr Spielen, wenn das Publikum nicht sehen kann? (L 290)

Das führt von der Tendenz her zu einer Auflösung der formbestimmten Gattungskonzeption. Lessing kann daher Aristoteles folgend die Tragödie aus dem Epos ableiten. Im Briefwechsel über das Trauerspiel spielt die Abgrenzung des tragischen vom epischen Helden die zentrale Rolle, hinter der Formmerkmale zurücktreten. Denn es wäre elend, wenn diese beiden Dichtungsarten keinen wesentlichern Unterschied, als den beständigen, oder durch Erzählung des Dichters unterbrochenen Dialog, oder als Aufzüge und Bücher haben sollten. (L 194)

__________ 29 30 31

Vgl. Waniek: Gottsched (wie Anm. 20), S. 592ff.; Joachim Birke: Der junge Lessing als Kritiker Gottscheds. In: Euphorion 62 (1968), S. 392-404. Vgl. Zeller: Struktur (wie Anm. 24), S. 13ff.; Peter-André Alt: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Tübingen/Basel 1994, S. 14ff. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Bd. IV: Dramaturgische Schriften. Hg. von Karl Eibl. München 1973, S. 164. Künftig zitiert als L.

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Einen Endpunkt dieses Problemzusammenhangs markieren die Bestimmungen von Lenz in seinen Anmerkungen übers Theater, für die Formkriterien nicht mehr relevant sind. „Meiner Meinung nach wäre immer der Hauptgedanke einer Komödie eine Sache, einer Tragödie eine Person.“32 Eine weitere Konsequenz ist die Veränderung des Verhältnisses von Werk und Gattung. Wo sich die Gattungen in der theoretischen Reflexion wie in der poetischen Praxis zunehmend aufzulösen scheinen, gewinnt das Einzelwerk gegenüber der Gattung zunehmend an Gewicht, weil es das Verhältnis von Werk und Gattung in seiner Struktur selbst reflektieren muss. Gottsched hatte das Einzelwerk als Umsetzung der Regeln eines Typus konzipiert und sein Gelingen zu einem erheblichen Teil an die richtige Umsetzung geknüpft. Im Blick darauf enthält jedes Werk einen gleichartigen Satz an invarianten Elementen, die vom Gattungskonzept her vorgegeben sind. Bei Herder ist dieses Verhältnis umgekehrt. Es ist zum einen Einzelwerk; zum anderen muss es aber aufgrund des Verlusts der Verbindlichkeit von Gattungsregeln und der allgemeinen Disponibilität von Gattungsmustern sowie der zunehmenden Unklarheit darüber, welches Gattungskonzept überhaupt gültig ist, die Regeln seiner Gattungszugehörigkeit thematisieren und explizieren. Es ist tendenziell Werk und – in radikalen Fällen – einziges Beispiel einer Gattung in einem.

3. Eine auffällige Entwicklungslinie der Gattungstheorie ist die Historisierung bzw. Verzeitlichung des Gattungssystems. Sie erzwingt, wie Wilhelm Voßkamp ausgeführt hat, neue Systematisierungskonzepte.33 Der Historisierungsdruck ist ansatzweise schon bei Gottscheds Überarbeitungen der Critischen Dichtkunst nachvollziehbar. In der Erstfassung von 1721 folgt er der traditionellen Gattungssystematik, die sich als überhistorische, vollständige Systematik darbietet. Die literarischen Innovationen der Folgezeit nötigen dazu, diese Systematik anzupassen. Dies geschieht in der vierten Auflage, indem er eine Unterscheidung zwischen „von den Alten“ und „in neueren Zeiten erfundenen“ Gattungen einführt.34 Von einer Historisierung im Sinne eines Differenzbewusstseins historischer Epochen ist aber bei Gottsched noch nicht zu reden.35 Befunde, die nicht in das Gattungssystem integrierbar sind, häufen sich in der Folgezeit. Der explizite Hinweis Gellerts, das rührende Lustspiel sei mit den Regeln der Alten nicht verträg__________ 32

33 34 35

Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe. 3 Bde. Hg. von Sigrid Damm. Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische Schriften. Frankfurt a.M./Leipzig 1992, S. 669; künftig zitiert als Le. Vgl. Voßkamp: Historisierung (wie Anm. 21), S. 38. Vgl. Herrmann: Naturnachahmung (wie Anm. 6), S. 95f. Exakte Rekonstruktion von Gottscheds Position in dieser Frage: Pago: Gottsched (wie Anm. 12), S. 181ff.

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lich, bedeutet „de facto eine Historisierung des von Aristoteles bis Gottsched als vollständig angesehenen Gattungsensembles“.36 Die Historisierung des Gattungskonzepts lässt sich bei Lessing feststellen: „Die Einheit der Handlung war das erste dramatische Gesetz der Alten; die Einheit der Zeit und die Einheit des Orts waren gleichsam nur Folgen aus jener [...]“ (L 443). Er erklärt die Regeln aus der attischen Agora und fasst die Poetik als Abfolge einzelner Entwicklungsschritte auf. Herder entwirft konsequent eine Gattungstheorie als Gattungsgeschichte.37 Die Unterscheidung von nordischem und griechischem Theater erscheint nunmehr auch als historische Wesensdifferenz. Aus ihr ergibt sich eine völlig veränderte Einschätzung der Gattungshöhepunkte wie eine gravierende Neubeurteilung der Poetik des Aristoteles, der „im großen Sinn seiner Zeit“ philosophierte und „nichts weniger als an den verengernden kindischen Läppereien schuld ist, die man aus ihm später zum Papiergerüste der Bühne machen wollte“ (H 530). Verzeitlichung bedeutet aber auch, dass Werke altern und damit ihre Gültigkeit verlieren können. Gottsched hatte die attische Tragödie als überzeitlich vollkommenes Modell verstanden. Herder erklärt sie aus den Gegebenheiten des griechischen Nationalcharakters wie der Natur in Griechenland. Sie ist also – bei allem Eingeständnis ihrer kanonischen Bedeutung – nur für diesen eingegrenzten Kulturkreis repräsentativ. Von solcher Einschränkung ist auch die Poetik des Aristoteles betroffen. Wenn aber mit dem Fortschreiten einer Kultur auch deren Artefakte altern, wird einst Shakespeare, „dieser große Schöpfer von Geschichte und Weltseele immer mehr veralte[n]!“ (H 546f.). In einem weiteren Abstraktionsschritt ergibt sich aus der Verzeitlichung eine geschichtsphilosophische Modellierung des Gattungssystems, die im 19. Jahrhundert etwa durch Hegel und Vischer für das Verhältnis von Epos und Roman kodifiziert wurde. Im Bereich der dramatischen Gattungen führt dies zu Vorstellungen einer historischen Unangemessenheit der Tragödie im 20. Jahrhundert.

4. In den poetologischen Explikationen des Sturm und Drangs ist Individualität eine entscheidende Größe.38 Die Entwertung des Gattungskonzepts wie der Verlust des Normdrucks, der von der Poetik ausgeht, führt im Gegenzug zu einer Aufwertung individueller Faktoren. An drei Komponenten ist diese Tendenz deutlich nachzuvollziehen: Das __________ 36 37 38

Horst Steinmetz: Das deutsche Drama von Gottsched bis Lessing. Ein historischer Überblick. Stuttgart 1987, S. 65. Vgl. Scherpe: Gattungspoetik (wie Anm. 3), S. 237ff. Vgl. Thomas Salumets: Unterwanderte ‚Normendestruktion‘. Zur Poetologie des Sturm- und Drang-Dramas. In: Euphorion 85 (1991), S. 70-84, hier S. 72ff.

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Werk ist als autonome Individualität konzipiert; der Dichter wird als autonomes Genie interpretiert; das Volk tritt als prägende Individualität bestimmter Gattungsvarianten in Erscheinung. Verweise auf Nationalkonventionen als poetologisch relevante Bezugsgrößen finden sich bei Lessing, der in der Hamburgischen Dramaturgie Differenzen zwischen englischem und französischem Drama behandelt. Englisches Drama zeichnet sich durch Episodenreichtum aus; demgegenüber ist das französische von einem Mangel an Episoden geprägt. Das sind nicht mehr vor dem Hintergrund einer Regel zu bewertende Erfüllungen oder Abweichungen; Lessing versteht sie als gleichberechtigte Differenzen, die sich aus nationalspezifischen Gegebenheiten ergeben (vgl. L 288f.). Herder baut diesen Aspekt zur grundlegenden Differenzierung aus. Für ihn sind Regeln aus spezifischen historischen Gegebenheiten entstanden. Es ist von Griechenland aus, daß man die Wörter Drama, Tragödie, Komödie geerbet; und so wie die Letternkultur des Menschlichen Geschlechts auf einem schmalen Striche des Erdbodens den Weg nur durch die Tradition genommen, so ist in dem Schoße und mit der Sprache dieser, natürlich auch ein gewisser Regelnvorrat überall mitgekommen, der von der Lehre unzertrennlich schien. (H 527)

Daraus ergibt sich ein Argument gegen Gottsched, der unterlassen hat „zu untersuchen, ob dieses Französierende Theater der Deutschen Denkart angemessen sei, oder nicht?“ (H 337). Dieser Aspekt wird im Shakespear-Aufsatz ausgeführt. Dort wird das nordische Drama Shakespeares als eigenständige und gültige Variante gegen die attische Tragödie des Sophokles gestellt. Herder pointiert diesen nationalen Typus des Dramas sehr stark: „Sophokles Drama und Shakespears Drama sind zwei Dinge, die in gewissem Betracht kaum den Namen gemein haben“ (H 527). Auch das Verhältnis zu den Regeln wird nur mehr als kulturelle, als Nationalkonvention verstanden. Die Franzosen wollten „die Regeln [...] beobachten“ (H 354), die für Shakespeare keine Rolle spielten. Herder ist nach wie vor davon überzeugt, die Griechen hätten die Vollkommenheit des Dramas erreicht. Aber diese Vollkommenheit bezieht sich nur mehr auf die nationalen Bedingungen der Griechen und gilt nicht für alle anderen Nationen. Die Regeln des Aristoteles waren bei den Griechen Ergebnis von Natur und daher bezogen sie ihre Legitimation. Bei den Völkern, die einen anderen Nationalcharakter haben, sind sie nur mehr etwas mechanisch Künstliches. Die Individualität des Werks ist im Sturm und Drang zum notwendigen Element der Poetik geworden.39 Konsequent hat Herder im Shakespear die gesteigerte Bedeutung des Einzelwerks als einer individuellen Totalität evoziert. [I]ch müßte alle, alle Scenen ausschreiben, um das idealisierte Lokal des unnennbaren Ganzen, der Schicksals-, Königsmords- und Zauberwelt zu nennen, die als Seele das Stück, bis auf den

__________ 39

Vgl. Bernhard Fischer: Von der ars zur ästhetischen Evidenz. Überlegungen zur Entwicklung der Poetologie von Gottsched bis Lessing. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 109 (1990), S. 481502.

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kleinsten Umstand von Zeit, Ort, selbst scheinbarer Zwischenverwirrung, belebt, Alles in der Seele zu Einem schauderhaften, unzertrennlichen Ganzen zu machen - und doch würde ich mit Allem nichts sagen. Dies Individuelle jedes Stücks, jedes einzelnen Weltalls, geht mit Ort und Zeit und Schöpfung durch alle Stücke. (H 540)

Gottscheds Ausführungen zu einzelnen Werken hatten ausführliche Fehlerkataloge enthalten, die die Abweichungen der Werke von den vernünftigen Regeln ausbuchstabierten. Von der Tendenz her kann ein autonomes, individuelles, ganzheitliches Werk Fehler gar nicht mehr aufweisen, da jeder Einzelzug Ergebnis individueller Eigenheit ist, der nicht mehr auf einen Bezug außerhalb des Werks zurückgeführt werden kann. Schließlich lässt sich die Kategorie der Individualität in der Reformulierung des Autorkonzepts nachvollziehen. Der Dichter rückt in die Position einer Letztkategorie für das Werk. Kodiert wird dies im Geniebegriff.40 Es gibt Dichter, die Genies, und solche, die es nicht sind – wer keines ist, kann kein Dichter sein. In noch zurückhaltenden Worten beschreibt Lessing die Fertigkeit des Dichters neuen Zuschnitts: Denn der dramatische Dichter ist kein Geschichtschreiber; er erzählt nicht, was man ehedem geglaubt, daß es geschehen, sondern er läßt es vor unsern Augen nochmals geschehen [...], nicht der bloßen historischen Wahrheit wegen, sondern in einer ganz andern und höhern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck, sondern nur das Mittel zu seinem Zwecke. (L 281f.)

Als Genie ist der Dichter nicht mehr derjenige, der Regeln beachtet und Gattungsmustern folgt, sondern vielmehr derjenige, der Regeln modifiziert oder sie überhaupt erst setzt: „vieles muß das Genie erst wirklich machen, wenn wir es für möglich erkennen sollen“ (L 330): Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.41

Nur zwei vielzitierte Beispiele für die Hypertrophie des Geniebegriffs seien zitiert; das eine Mal von Herder über Shakespeare, das andere Mal von Lenz: die ganze Welt ist zu diesem großen Geiste allein Körper: alle Auftritte der Nation zu diesem Körper Glieder, wie alle Charaktere und Denkarten zu diesem Geiste Züge – und das Ganze mag jener Riesengott des Spinosa „Pan! Universum!“ heißen. (H 543)

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Vgl. Fritz Martini: Die Poetik des Sturm und Drang. Versuch einer Zusammenfassung. In: Deutsche Literaturtheorien I. Hg. von Reinhold Grimm. 3., verb. Auflage. Wiesbaden 1980, S. 123156, hier S. 124ff.; Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Darmstadt 1985, S. 61ff. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 8: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Sonderausgabe. Darmstadt 1983, S. 233-620, Zitat S. 405f.

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Der wahre Dichter verbindet nicht in seiner Einbildungskraft, wie es ihm gefällt, wie die Herren die schöne Natur zu nennen belieben, was aber mit ihrer Erlaubnis nichts als die verfehlte Natur ist. Er nimmt Standpunkt – und dann muß er so verbinden. (Le 648)

5. Ein weiteres Kennzeichen der Entwicklung seit Gottsched ist die Anthropologisierung der Poetik.42 Sie ergibt sich konsequent aus der rekursiven Begründung von Poesie. Wenn die Regeln für Dichtung mit dem Genie des Dichters begründet werden, eigentlich also tautologisch auf Dichtung selbst rekurrieren, wird die anthropologische Ebene als Begründungsebene relevant. Das lässt sich an der Auflösung der Ständeklausel nachvollziehen. Schon in Gottscheds Überarbeitung der Critischen Dichtkunst wird sie greifbar. Zunächst weist er traditionskonform, bestrebt um die Veredelung der Gattung, den ordentlichen Bürger der Komödie als Personal zu. Ab der dritten Auflage von 1742 wird der Personenkreis erweitert, indem Barone, Marquis und Grafen als Angehörige des Adels hinzukommen.43 In Pfeils Aufsatz Vom bürgerlichen Trauerspiele ist der Wandel weg von der ständischen Beschränkung der dramatis personae deutlich zu greifen. „Da nun aber jede Person, die Fähig ist, durch ihre Charaktere und Handlungen Schrecken und Mitleiden bei uns zu erwecken, [...] auch des Tragischen fähig ist“,44 sind heroisches und bürgerliches Trauerspiel gleichberechtigt. Diese Entwicklung ist als Umstellung vom Standes- zum Wirkungskriterium beschrieben worden, das dann anthropologisch fundiert ist.45 Lessing zielt mit seiner Mitleidsethik auf einen „allen Menschen gemeinsamen überindividuellen Kern“.46 ‚Bürgerlichkeit‘47 bedeutet in der Poetik des bürgerlichen Trauerspiels nicht nur, besser: immer weniger den Stand, sondern den Bürger als Vertreter des allgemein Menschlichen. In den Dramen erscheint er als „Privatmensch im Familienkreis“.48 Aus diesem Blickwinkel lassen sich die beiden neuen Varianten des weinerlichen Lustspiels und des __________ 42 43 44

45 46

47 48

Vgl. Hans-Edwin Friedrich: „Geordnete Freiheit“. Zur anthropologischen Verankerung der Verslehre in der poetologischen Diskussion des 18. Jahrhunderts. In: Aufklärung 14 (2002), S. 7-22. Vgl. Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel im 18. Jahrhundert. In: Das deutsche Lustspiel. Erster Teil. Hg. von Hans Steffen. Göttingen 1968, S. 7-26, hier S. 10f. Joachim Krueger: Zur Frühgeschichte der Theorie des bürgerlichen Trauerspiels. In: Worte und Werte. Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag. Hg. von Gustav Erdmann und Alfons Eichstaedt. Berlin 1961, S. 177-192, hier S. 181. Vgl. Scherpe: Gattungspoetik (wie Anm. 3), S. 97. Karl Eibl: Bürgerliches Trauerspiel. In: Aufklärung. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Hg. von Friedrich Wessels. Königstein 1983, S. 66-87; Zitat auf S. 80. Vgl. auch Steinmetz: Das deutsche Drama (wie Anm. 36), S. 84f. Vgl. Hans-Edwin Friedrich/Fotis Jannidis/Marianne Willems (Hgg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006. Karl S. Guthke: Das bürgerliche Trauerspiel. 2., überarb. und erw. Auflage. Stuttgart 1977, S. 13.

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bürgerlichen Trauerspiels auch als Resultat einer Anthropologisierung der vordem ständisch bestimmten Gattungen49 Komödie und Tragödie begreifen. Sie sind Übergangsgattungen, die in der Autonomieästhetik keine Legitimation mehr haben und nicht mehr weiter gepflegt oder zu dann als trivial angesehenen Gattungen transformiert werden. Auch die Tragödie selbst ist von der Tendenz zur Anthropologisierung des Personals erfasst. Johann Adolf Schlegel fragt: Dürfen wohl [...] die Könige und Helden nach der Wahrheit gezeigt werden, so wie sie sind? Sie sind Menschen gleich, als wir, und ihre Schwachheiten sind gegen des hohen Begriffs, den man von ihnen hat, noch anstößiger, als die Schwachheiten der Geringern.50

Der Auflösung der Ständeklausel entspricht die Ausrichtung der Wirkungspoetik auf ein breites Publikum.51 Die Transformation des Gattungssystems im Gefolge der funktionalen Differenzierung der Kunst im 18. Jahrhundert folgt Systematisierungstendenzen der Verzeitlichung, Individualisierung und Anthropologisierung. Diese Entwicklungen lassen sich besonders deutlich an der Reflexion der dramatischen Gattungen nachvollziehen, die einen poetologischen Leitdiskurs bilden.

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Zur poetologischen Diskussion der Ständeklausel vgl. Alberto Martino: Geschichte der dramatischen Theorie in Deutschland im 18. Jahrhundert. Bd. 1: Die Dramaturgie der Aufklärung (17301780). Tübingen 1972, S. 363ff. Schlegel: Einteilung (wie Anm. 23), S. 4. Vgl. Kurt Wölfel: Moralische Anstalt. Zur Dramaturgie von Gottsched bis Lessing. In: Deutsche Dramentheorien I. Hg. von Reinhold Grimm. 3., verb. Auflage. Wiesbaden 1980, S. 56-132, hier S. 73ff.; Alt: Tragödie (wie Anm. 30), S. 12f.

Jörg Kilian Diskursivierung des Wissens im deutschen Lehr- und Fachgespräch von Luther bis Campe Konzeptionelle Skizze eines Editions- und Forschungsprojekts zur Geschichte und Entwicklung der dialogischen Wissensvermittlung und Wissenserzeugung zwischen theologischer Katechetik und philanthropischer Sokratik 1. Zur Einführung Das Gespräch als Methode und Verfahren der Erzeugung und Weitergabe von Wissen hat eine lange Tradition und sich in der Auseinandersetzung mit anderen Methoden und Verfahren der Wissensvermittlung und Wissenserzeugung vielfältig entwickelt. Aus phänomenologischer Sicht scheint das Gespräch eher der Wissenserzeugung denn der Wissensvermittlung zugeneigt, eher der Wissenschaft denn der Lehre. Werner Loch kommt in seiner phänomenologischen Analyse jedenfalls zu diesem Ergebnis und stellt u. a. folgende Merkmalpaare auf: Das Gespräch sei durch eine kreisende Wiederholung gekennzeichnet, während die Lehre linear voranschreiten müsse; das Gespräch erscheine mit einer zumindest vorübergehend hergestellten Statusgleichheit der Partner, während die Lehre ein Hierarchieverhältnis geradezu voraussetze; das Gespräch habe idealiter kein Ende, während die Lehre institutionell eingefasst sei.1 In der Antike, so Loch, sei dieses Verhältnis zwischen Gespräch und Lehre gespiegelt in den Begriffen „Rhetorik“ und „Dialektik“, in der Scholastik in den Begriffen „disputatio“ und „lectio“, im Humanismus in den Begriffen „colloquium“ und „oratio“.2 Die Tradition der antiken Lehr- und Fachgespräche war in der Frühen Neuzeit bekannt und wurde in vielfältiger Form aufgegriffen. Darüber hinaus wurden gewisse Vorbilder geprägt:3 die dialogische Ars minor des Aelius Donatus als Vorbild für dialogisch strukturierten Grammatik-Unterricht, Erasmus’ Colloquia, in Teilen erstmals bereits 1545 ins Deutsche übersetzt, als Vorbild für dialogisch vermittelte Weltbildung, die zahlreichen Reformationsdialoge als Vorbild für volkspädagogische Politik- und Religionsdidaxe und nicht zuletzt Lukians Totengespräche als Vorbild für die vielen mehr oder minder lehrreichen, stets jedoch zum prodesse et delectare strebenden „Ge__________ 1 2 3

Werner Loch: Beiträge zu einer Phänomenologie von Gespräch und Lehre. In: Bildung und Erziehung 15 (1962), S. 641-661, hier S. 645ff. Vgl. Loch: Phänomenologie (wie Anm. 1). Folgendes in Anlehnung an Jörg Kilian: Lehrgespräch und Sprachgeschichte. Untersuchungen zur historischen Dialogforschung. Tübingen 2002, S. 51.

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spräche im Reiche der Todten“, „derer Lebendigen“, „der Wahrheit“, „der Verliebten“, „der Weltweisen“ u. a.4 Doch noch bis weit in die Neuzeit hinein wurde die mittelalterliche Vorstellung gepflegt, dass es Aufgabe der Wissenschaft wie der Lehre sei, das von Autoritäten mitgeteilte und in kanonisierten Schriften zusammengetragene Wissen zu bewahren und zu vermitteln. In diesem Sinne benannte auch das Wort ,Wissenschaft‘ noch bis weit ins 18., zum Teil gar noch bis ins 19. Jahrhundert hinein den Besitz von Wissen im Sinne der ,Cognitio‘. Vor diesem Hintergrund erhielt das Gespräch im Grunde die von Loch für die Lehre festgestellte lineare Struktur zum Zweck der Weitergabe. Zu Beginn der Frühen Neuzeit indes gesellte sich zum Begriff der ,Wissenschaft‘ eine neue Teilbedeutung des ,objektiven Wissens‘ im Sinne der ,Scientia‘. Der Begriff von ,Wissenschaft‘ erfuhr einen Wandel hin zur Erlangung und Vermittlung von Wissen, namentlich neuen Wissens. Mit dem Aufbrechen des alten Dogmas und einer Entwicklung des ,Wissens‘Begriffs dahingehend, dass die Vermittlung von Wissen zusammengebracht wurde mit seiner Vermehrung, mit der Suche nach Wahrheiten und der Erforschung der Welt, erhielt auch das Gespräch neue Funktionen. Damit einher ging der kultur- und sozial-, ideen- und mentalitätsgeschichtlich ohnehin bereits vorbereitete Sprachenwechsel vom Latein zum Deutschen in den Wissenschaften und den mit der Wissensvermittlung befassten Institutionen. Mit dem Hinweis auf die Institutionen ist bereits angedeutet, dass sich das Editionsund Forschungsprojekt auf die Diskursivierung des Wissens in institutionellen Lehrund Fachgesprächen konzentriert. Die Wissenschafts- und Bildungsgeschichte der Frühen Neuzeit ist auch eine Geschichte der Entwicklung von Institutionen der Wissenschaft und Bildung mit Deutsch als Wissenschafts- und Bildungssprache. Schon vor der Reformation sind zwar „deutsche Schulen“ für Kinder der Gewerbetreibenden und nach der Reformation „deutsche“ Schulen sogar auf den Dörfern (Katechismusschulen) errichtet worden,5 doch war die höhere Bildung bis weit ins 18. Jahrhundert hinein lateinisch geprägt. Mit dem oben bereits erwähnten Sprachenwechsel nahmen auch das deutsche Lehr- und Fachgespräch als Gesprächstyp und seine Sorten als „kommunikative Gattungen“6 zum Zweck sowohl der Wissensvermittlung wie auch der Wissenser__________ 4 5 6

Vgl. Markus Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland. Stuttgart 1991, S. 102. Vgl. Peter Lundgreen: Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick. Teil 1: 1770–1918. Göttingen 1980, S. 17ff. Zum Begriff der „kommunikativen Gattung“ vgl. Thomas Luckmann: Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattungen. In: Kultur und Gesellschaft. Hg. von Friedhelm Neidhard, Maria Reiner Lepsius und Johannes Weiß. (Sonderheft 27 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie) Opladen 1986, S. 191-211, bes. 200ff. Aus linguistischer Perspektive lässt sich Luckmanns Begriff der „kommunikativen Gattung“ auf verschiedene pragmalinguistische Kategorien beziehen, vornehmlich auf Sprachakttypen, Textsorten und Dialogsorten.

Diskursivierung des Wissens im deutschen Lehr- und Fachgespräch

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zeugung einen vollkommen neuen Stellenwert ein. Dies nicht allein deshalb, weil die deutsche Sprache für verschiedene Sorten und Gegenstände des Lehr- und Fachgesprächs im Grunde erst noch ausdrucks-, bedeutungs- und gesprächsfähig gemacht werden musste, sondern auch – wenn nicht gar vornehmlich – deshalb, weil nun weite Teile des Wissens nicht mehr allein lateinkundigen Experten vorbehalten waren, das Wissen vielmehr gesellschaftlich neu verteilt und geordnet wurde. In diesem Prozess wurden unterschiedliche Korrelationen von Gesprächsinhalten, Gesprächszwecken und Gesprächsformen in den Kommunikationsbereichen von Wissenschaft und Lehre verhandelt, um die Wissensvermittlung und Wissenserzeugung zu optimieren – oder aber auch zu begrenzen oder ganz zu verhindern. Das hier vorgestellte Editions- und Forschungsprojekt hat zum Ziel, eine repräsentative Auswahl aus den Quellen zum deutschen Lehr- und Fachgespräch des 16.-18. Jahrhunderts in einer kommentierten Dokumentation zusammenzustellen und in diesem Rahmen die Geschichte und Entwicklung des Dialogs als kommunikativer Grundgattung der Wissensvermittlung und Wissenserzeugung – sowie deren Regulierung – in der Frühen Neuzeit zu rekonstruieren. Im Zentrum der folgenden Skizze steht der Versuch, das formulierte Ziel des Projekts an einigen Beispielen aus dem bislang erstellten Quellenkorpus7 zu veranschaulichen und den Weg zu diesem Ziel methodologisch und konzeptionell zu bahnen. Im Folgenden sollen zwei Rahmungen des Projekts in ihren Grundzügen diskutiert werden, die das Editions- und Forschungsprojekt und die Auswahl der Quellen einfassen: die historische Zeit (ca. 1500 bis ca.1800) und das zentrale Thema (Wissensvermittlung und Wissenserzeugung im Lehr- und Fachgespräch). Beide Rahmungen sind sowohl aus (ereignis)geschichtlicher wie auch aus diskurslinguistischer Perspektive sachlich und methodologisch begründbar. Die Frage, ob und inwiefern die Korrelation dieser beiden Rahmungen auch aus kultur- und sozial-, ideen- und mentalitätsgeschichtlicher sowie historisch-wissenssoziologischer Perspektive eine Rechtfertigung findet, steht demgegenüber gerade im Zentrum des Erkenntnisinteresses des Projekts und soll durch das Editions- und Forschungsprojekt beantwortet werden. __________ 7

Ein Teil dieses Korpus ist verzeichnet in: Kilian: Lehrgespräch (wie Anm. 3), S. 468-482. Eine einschlägig ausgewiesene Bibliographie von Quellen zum deutschen Lehr- und Fachgespräch existiert nicht; zur systematischen Quellenrecherche leisten einige bewährte Hilfsmittel (z. B. Kayser, GV alt) sowie themenverwandte Handbücher und Bibliographien dankbare Dienste, vgl. z. B. Jozo Džambo: Erziehung, Bildung, Schule im Wandel der Geschichte. Eine Auswahlbibliographie. Mit einer Einleitung von Edith Chorherr und Ludolf Kuchenbuch. Bad Heilbrunn/Obb. 1987; Theodor Brüggemann/Otto Brunken: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1570 bis 1750. Stuttgart 1991; Theodor Brüggemann/Hans Heino Ewers: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1750 bis 1800. Stuttgart 1982; Manfred Heinemann (Hg.): Titelsammlung zum Elementarund Volksschulunterricht. Norddeutschland 1750-1890. Bearb. von Detlef Frohse, Hans Jürgen Loewenbrück und Michael Sauer. Hannover 1984.

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2. Zur (ereignis)geschichtlichen Begründung der zeitlichen Rahmung des Editions- und Forschungsprojekts Für den zeitlichen Rahmen (ca. 1500 bis ca. 1800) können in einem ersten hypothetischen Zugriff ereignisgeschichtliche Gründe angeführt werden, mithin solche, die einzelne Personen als historische Akteure für die Geschichte und Entwicklung des deutschen Lehr- und Fachgesprächs erkennbar machen: Die Reformation mit ihrer Hinwendung zur deutschen Sprache als Bibelsprache sowie der Katechismus Luthers begründen ereignisgeschichtlich die erste zeitliche Begrenzung des Projekts. Benannte das Wort ,Katechismus‘ auch bei Luther zunächst ein inhaltlich auf die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vater unser festgelegtes Lehrbuch, so setzt der Bedeutungswandel, den namentlich das Verb ,katechisieren‘ erfahren sollte, doch bereits mit den beiden Katechismen Luthers aus dem Jahr 1529 ein: Es bezeichnet nun nicht mehr allein die Lehre nach dem Lehrbuch bzw. das Lernen nach dem Lehrbuch, sondern auch eine mnemotechnische dialogische Methode, den Gegenstand des Lehrens und Lernens zum Auswendiglernen zu gliedern, sodann auch zur Prüfung und Verständnissicherung aufzubereiten. In der „Vorrhede“ zum Großen Katechismus führt Luther beide Lesarten bereits zusammen: DJese predigt ist dazu geordnet und angefangen, das es sey ein unterricht fur die kinder und einfeltigen. Darümb sie auch von alters her auff Griegisch heisset Catechismus, das ist ein kinderlere, so ein yglicher Christ zur not wissen sol [...]. Derhalben sol man iunge leute die stücke, so ynn den Catechismum odder kinder predigt gehören, wol und fertig lernen lassen und mit vleis darynne uben und treiben. Darümb auch ein yglicher hausvater schüldig ist, das er zum wenigsten die wochen einmal seine kinder und gesinde umbfrage und verhöre, was sie davon wissen odder lernen, Und wo sie es nicht konnen, mit ernst dazu halte.8

Im Rahmen des Dialogs als einer ,kommunikativen Gattung‘ der Diskursivierung des Wissens in der Frühen Neuzeit bildet der lutherische Katechismus dialogstrukturell und dialogfunktional einen Extrempol insofern, als er ausschließlich der einflößenden Vermittlung vorab festgelegten Wissens dienen sollte, keineswegs aber der Erzeugung neuen Wissens über definierte Grenzen hinaus. Das dialogische „umbfrage und verhöre“ dient der Prüfung der Kenntnis des auswendig gelernten Textes; der Kleine Katechismus ist bereits in auswendig zu lernende Fragen und Antworten gegliedert, wie ein Beispiel veranschaulicht:9

__________ 8 9

Martin Luther: Deudsch Catechismus (1529). In: ders.: Kritische Gesamtausgabe („Weimarer Ausgabe“). Hauptabteilung I: Werke. Bd. 30. Erste Abteilung. Weimar 1910, S. 123-238, hier S. 129. Vgl. Martin Luther: Der kleine Catechismus für die gemeine Pfarrherr und Prediger (1529). In: ders.: Kritische Gesamtausgabe („Weimarer Ausgabe“). Hauptabteilung I: Werke. Bd. 30. Erste Abteilung. Weimar 1910, S. 239-425, hier S. 258.

Diskursivierung des Wissens im deutschen Lehr- und Fachgespräch

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Wer das sacramēt desz altars nemē oder entphahē will der soll auff dise ·5· fragē wissē antwort zu geben. Mar: Luth: Die erst frag Warūb nymstu das sacrament? Antwort. Darūb das ich eyn mitt erb bin vnd gemaynschafft hab mit Chr̄ō, mit allen lieben heyligē vnd mit allen fru¯m ¯ en Christē sampt jm zu leyden vnd zu sterben. Die ander frag Was glaubstu oder was beken¯estu das in disem sacramēt seÿ? Antwort. Under dem brot und wein ist alda der leyb und das blůt Chr̄ī. Es ist aber nit gnůg das ich das waysz, sondern ich můsz auch glauben das mier mein herr Christus die zů eynem gwissen Sigill, zeychē, und testament gegebē hat Die dritt frag Wie lauttē die wort dises testamēts? Antwort. Also sagt der hêr zů seynen jūgern do er inen das brott gab Nemets vnd essets das ist mein leyb der für euch gegebē wiert. Und do er in den kelch gab sprach er. Nemet hin Trinckt alle drausz, disz ist mein blůt […]

Luthers Wirken darf als Impuls und Wegweiser des institutionalisierten deutschen Lehrgesprächs gelten, seine deutschsprachigen disputationes als Wegbereiter deutscher Fachgespräche in den Wissenschaften, zumindest in der Theologie. Die Katechetik spielte auch am Ende des 18. Jahrhunderts noch eine bedeutsame Rolle im Kommunikationsbereich der Lehre. Doch schon seit der Mitte dieses „pädagogischen Jahrhunderts“10 geriet die prototypische Grundstruktur des katechetischen Gesprächs mehr und mehr in die Kritik. In der sogenannten Sattelzeit, also um 1750, setzte eine ausgiebige (bildungs)gesellschaftliche Diskussion ein über Vorzüge und Nachteile von Katechetik und/oder Sokratik, die am Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht abgeschlossen, aber vorübergehend doch wieder zugunsten der Katechetik eingeschwenkt war. Schon eine kleine Auswahl aus den im 18. Jahrhundert zahlreichen bereits am Titel erkennbaren Monographien zur Ideen- und Normierungsgeschichte des ,katechetischen‘ und/oder des ,sokratischen‘ Lehrgesprächs im Bereich des religiösen bzw. theologischen Wissens veranschaulicht die Relevanz dieser Diskussion und – zumindest für den Bereich religiösen bzw. theologischen Wissens – die Kontroverse um eine Regulierung und Neuordnung der Strukturen und Formen der Diskursivierung des Wissens __________ 10

Vgl. den Titel von Johann Gottlieb Schummel: Spitzbart. Eine komi=tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert. Leipzig 1779.

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zwischen Wissensvermittlung und Wissenserzeugung (Auswahl in chronologischer Reihung):11 Eisler, Tobias: Kurze Vorbereitung zur Catechismus=Lehre, welche mit einigen der erwachsenen Schul=Kindern / die künftig zum erstenmal zum heiligen Abendmahl gehen wollen, gemachet, und hernach in einem einfältigen Gespräch abgefasset / und Ihnen / auch andern zu mehrern Erbauung / dem druck übergeben worden. o.O. 1733. Seidel, Christoph Timotheus: In der Erfahrung gegründete Anweisung, welches die wahre Methode zu katechisiren sei. 1742. Lösecke, Christoph Albrecht: Zergliederter Catechismus, Worin der kleine Catechismus Lutheri in richtiger Ordnung von Wort zu Wort, auf eine leichte und deutliche Art, zergliedert wird; Der Jugend und andern Einfältigen zur Uebung des Verstandes und der Aufmercksamkeit; vornehmlich aber den Catecheten, Schulmeistern und Haus=Vätern zur Anleitung, wie sie den gantzen Catechismum ausfragen und Fragen machen lernen können; herausgegeben. Wobey die Worterklärung des Catechismi, und eine Anweisung, wie ein Schulmeister sein Amt recht nützlich verrichten soll, angehänget; auch bei dieser neuen Auflage mit Christ=erbaulichen Kinder=Fragen vermehret ist. Flensburg 1758. Alberti, Julius Gustav: Anleitung zum Gespräch Ueber die Religion, In kurzen Sätzen, Besonders Zur Unterweisung Der Jugend. Nebst Einem Anhange Von Schriftstellen, Welche diesen Sätzen, theils zur Erläuterung, theils Zur Bestättigung, dienen. Hamburg 1772. Knittel, Franz Anton: Kunst zu catechetisiren. Zwote und sehr vermehrte Ausgabe. Braunschweig 1786. Velthusen, Johann Caspar: Fragebuch für Eltern und Lehrer, oder Anleitung zu Fragen und Gesprächen über den Katechismus, mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Fähigkeiten und des Alters der Jugend. Leipzig 1787. Vierthaler, Franz Michael: Geist der Sokratik. 1793. Galura, Bernhard: Grundsätze der Sokratischen Katechesirmethode. Eine Einleitung in den Katechismus nach Sokratischer Methode, für katholische Eltern und Lehrer. Augsburg 1793. Gräffe, Johann Friedrich Christoph: Die Sokratik nach ihrer ürsprünglichen Beschaffenheit in katechetischer Rücksicht betrachtet. 2. Aufl. 1794. Gräffe, Johann Friedrich Christoph: Grundriß der allgemeinen Katechetik nach Kantischen Grundsätzen nebst einem kurzen Abrisse der Geschichte der Katechetik von dem entferntesten Alterthume bis auf unsere Zeiten. Zum Gebrauche akademischer Vorlesungen. Göttingen 1796. Schrödter, Franz Adolph: Anleitung zu einem sokratischkatechetischen Unterricht über den schleswigholsteinischen Landeskatechismus in kurzen über die einzelnen Sätze desselben ausgearbeiteten Entwürfen nebst einigen ausführlichen Fragentwürfen für Schullehrer zur Verbreitung und Erleichterung einer bessern Methode beym Religionsunterricht der Landjugend. Zweyte sehr verbesserte Aufl. Altona 1800. Dinter, Christian Friedrich: Die vorzüglichsten Regeln der Katechetik, als Leitfaden beym Unterrichte künftiger Lehrer in Bürger= und Landschulen. Neustadt 1800. Schuler, Philipp Heinrich: Geschichte des katechetischen Religionsunterrichts unter den Protestanten, von der Reformation bis auf die Berliner Preißaufgabe vom Jahr 1762. Halle 1802.

__________ 11

Vgl. Kilian: Lehrgespräch (wie Anm. 3), S. 196f. und S. 246f.

Diskursivierung des Wissens im deutschen Lehr- und Fachgespräch

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Es wird eine Aufgabe im Rahmen des Editions- und Forschungsprojekts sein zu untersuchen, ob und inwiefern eine vergleichbare Relevanz der Frage nach Formen und Funktionen des Lehr- und Fachgesprächs auch für andere Wissenschaftsdisziplinen und Unterrichtsfächer festzustellen ist.12 Der philanthropische Pädagoge Joachim Heinrich Campe erntete gleichsam die Früchte der Formatierungen des sokratischen Lehr- und Fachgesprächs zum Instrument der Wissenserzeugung und Wissensvermittlung. Er steht mit seinen fiktiven sokratischen Lehr- und Fachgesprächen für den anderen dialogstrukturellen und dialogfunktionalen Extrempol und als Repräsentant des sokratischen Wegs der Wissensvermittlung und Wissenserzeugung.13 Als Mitherausgeber der Pädagogischen Unterhandlungen, Herausgeber der 16-bändigen Allgemeinen Revision des gesammten Schul= und Erziehungswesens (1785-1792), (kurzzeitiger) Direktor des Dessauer Philanthropins, Leiter eines eigenen Erziehungsinstituts bei Hamburg, Autor zahlreicher Erziehungsschriften und Jugendbücher, insbesondere des nach wie vor immer wieder aufgelegten Jugendbuchs Robinson der Jüngere (1779/80), war Campe jemand, vor dessen pädagogischer Leistung sich die Zeitgenossen verneigten (auch solche, die ihm sonst nicht zugetan waren, wie z. B. Goethe). War das katechetische Gespräch seit Luther der Weitergabe des als gesichert geltenden Wissens gewidmet, so sollte das sokratische Gespräch nach dem Willen der Philanthropen nicht fertiges Wissen vermitteln, sondern neues erzeugen, wobei es sich durchaus auch um die individuelle Nach- bzw. Neuerzeugung des kollektiv bereits besessenen Wissens handeln konnte und damit funktional wiederum Wissensvermittlung war. Es galt, Wissen aus dem Inneren des Menschen „abzulocken“ und weiterzuführen anstatt es von außen in die Menschen hineinzulegen.14 Schon der antike Vater des ‚sokratischen Gesprächs‘, eben (der Platon’sche) Sokrates, war davon ausgegangen, dass der Mensch schon vor seiner Geburt das Wissen durch Anschauung erwirbt und deshalb

__________ 12

13

14

Vgl. z. B. für die Mathematik: Johann Andreas Christian Michelsen: Versuch in socratischen Gesprächen über die wichtigsten Gegenstände der ebenen Geometrie. Berlin 1781; für die Sprachlehre: Friedrich Gedike: Einige Gedanken über deutsche Sprach= und Stilübungen auf Schulen [...]. Berlin 1793; für die Philosophie: August Wilhelm Rehberg: Ueber den Vortrag der Philosophie in Gesprächen. In: Berlinische Monatsschrift 6 (1785), S. 234-240. Vgl. z. B. [Joachim Heinrich Campe:] Philosophische Gespräche über die unmittelbare Bekanntmachung der Religion und über einige unzulängliche Beweisarten derselben. Berlin 1773; Joachim Heinrich Campe: Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nüzlichen Unterhaltung für Kinder. 2 Theile. Hamburg 1779 und 1780. Vgl. die treffende Zusammenfassung Krechers: „Das didaktische Denken der Sokratiker war p s y c h o l o g i s c h eingestellt, die Didaktiker des zergliedernden Verfahrens dagegen dachten m n e m o t e c h n i s c h .“ (Fritz Krecher: Die Entstehung der sokratischen Unterrichtsmethode. Ein Beitrag zur Geschichte der Didaktik. Kulmbach 1929, S. 3).

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nach der Geburt nur mehr daran erinnert werden müsse (Anamnesis) – beispielsweise durch ablockende, maieutische Fragen.15 Einer der einflussreichsten Theoretiker des ‚sokratischen Gesprächs‘ im 18. Jahrhundert, Carl Friedrich Bahrdt, spricht 1776 ebenfalls davon, das Kind müsse an seine „Vorerkenntnisse“ erinnert werden. Diese sinnlich erworbenen Vorerkenntnisse der Kinder gerönnen im Lauf der Entwicklung des Kindes zu abstrakten Vorbegriffen, den „Data“. Bahrdt unterscheidet fünf „Data“-Klassen: „Erfahrungen“; „Fertigkeiten“, „allgemeine Gefühle“, „Grundsätze“ und „Zeugniße“.16 Insofern sich jeder Lehr-LernGegenstand einer dieser Klassen zuordnen lasse, führt Bahrdt unter Berufung auf seine „Data“-Klassen den Nachweis, dass das ,sokratische Gespräch‘ grundsätzlich allen Unterrichtsfächern und mithin Wissenschaften offenstehe. Das sokratische Gespräch erscheint nunmehr als Lehr-Lern-Methode und als Phase im Rahmen umfassenderer Verfahren der Wissensvermittlung und Wissenserzeugung „in allen Wissenschaften“ (Bahrdt), d. h. auf die verschiedensten Gegenstände angewandt, sei es die Mathematik oder die Naturkunde, sei es die Religion oder das Alphabet, sei es ein abstrakter Begriff aus der Philosophie und Sozialdisziplinierung, wie etwa der Begriff der ,Toleranz‘, um den es im folgenden Auszug geht:17 38. Lehrer. Fritz. 39. Lehrer. Fritz. 40. Lehrer. Fritz. 41. Lehrer. Fritz. 42. Lehrer. Fritz. 43. Lehrer.

Also müste ich auch Menschen dulden, die keinen Gott glauben? Giebts denn solche? Man sagts. Das ist kaum zu glauben. Aber wenn es wäre? Ich würde Sie verabscheuen. Aber würde es recht seyn, sie ins Gefängnis zu werfen, oder zu plündern, oder hinzurichten? Nein, das wäre zu hart. Wäre denn aber das Verabscheuen nicht auch zu hart? Ich dächte nicht. Es ist doch gar zu schändlich, nicht einmal einen Gott glauben. Allein, wenn nun einige Menschen das Unglück hätten von diesem schändlichen Irrthum überzeugt zu werden?

__________ 15

16

17

Vgl. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Mitbegründet von Walter Jens. Bd. 5. Tübingen 2001, S. 727ff. (s.v. Maieutik). Zum – keineswegs unkritischen – Umgang mit dem Vorbild Sokrates vgl. z. B. Johann Friedrich Christoph Gräffe: Die Sokratik nach ihrer ursprünglichen Beschaffenheit in katechetischer Rücksicht betrachtet. 2. Aufl. Göttingen 1794, S. 424ff.; zum geistesgeschichtlichen Hintergrund der Sokrates-Rezeption in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts vgl. z. B. Krecher: Denken der Sokratiker (wie Anm. 14), S. 13ff.; Martin Schian: Die Sokratik im Zeitalter der Aufklärung. Ein Beitrag zur Geschichte des Religionsunterrichts. Breslau 1900, S. 131ff. Carl Friedrich Bahrdt: Philanthropinischer Erziehungsplan oder vollständige Nachricht von dem ersten wirklichen Philanthropin zu Marschlins. Frankfurt a.M. 1776, S. 132ff.; vgl. dazu auch Krecher: Denken der Sokratiker (wie Anm. 14), S. 79ff. Vgl. Bahrdt: Erziehungsplan (wie Anm. 16), S. 162f.

Diskursivierung des Wissens im deutschen Lehr- und Fachgespräch Fritz. 44. Lehrer. Fritz. 45. Lehrer.

Fritz. 46. Lehrer.

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Ja, wenn Sie es aus Ueberzeugung glaubten. Aber das halt ich für unmöglich. Wenn es aber wäre, was sollte man mit solchen Menschen machen? Sollte man Sie hassen? Nein, man muß niemand hassen. Man sollte Ihnen den Irrthum zu benehmen suchen. Das ist recht. Bleiben Sie dabey, mein lieber Fritz. Man muß niemand hassen, weil er das nicht glaubt, was wir glauben. Die Freyheit zu denken, ist das unverletzlichste Eigenthum der Menschheit. Alle Sklaverey erniedriget, aber Sklaverey des Verstandes ist unter allem Erniedrigenden das Erniedrigendste. Im Denken und Urtheilen, muß man jedem seine Freyheit lassen. Ja man sollte sich die geringste Einschränkung derselben, für Sünde rechnen. – Wissen Sie, wie man die Tugend nennt, welche diese Freyheit allen zugesteht? Toleranz. – Heißt sie so? Ja, – ich habe Ihnen neulich aus einem Buche einige Stellen vorgelesen etc. Es fällt in die Augen, dass diese ganze Unterredung auf lauter Naturgefühl, besonders aber, auf das Gefühl für Freyheit, gebauet ist. Alle Data, aus welchen ich das Kind nach und nach die Begriffe von Toleranz selbst folgern lies, bestunden aus solchen Urtheilen, welche das Gefühl für Freyheit bey allen Menschen veranlaßt. Und es kam nur darauf an, daß der Lehrer jenes Gefühl in dem Schüler rege zu machen, und durch Fragen ihm seine Urtheile abzulocken wuste.

Das Beispiel ist hier nicht eingehend zu analysieren. Schon die ersten dialogischen Akte zeigen jedoch, dass das Lehrgespräch einer ganz anderen Dialogsorte folgt als die Frage-Antwort-Sequenzen im Kleinen Katechismus Luthers. Nicht mehr auswendig zu lernende Frage und Antwort zum Zweck der Vermittlung vorab gesicherten und begrenzten Wissens (z. B. über ,Toleranz‘) bilden die Binnenstruktur dieser ,kommunikativen Gattung‘, sondern den Dialog überhaupt erst bildende Fragen und Antworten, die den Zweck verfolgen, Wissen über ,Toleranz‘ zu erzeugen. Das Gespräch ist zwar gleichfalls stark gelenkt, doch erscheint der Gesprächsgegenstand als Problem, als Aufgabe, als Fragestellung, worauf eine Lösung bzw. eine Antwort dialogisch zu erarbeiten ist. Ob und inwiefern diese Lösung bzw. Antwort über den Kreis der anerkannten bzw. gewünschten Lösungen und Antworten hinausgehen und das anerkannte Wissen in Frage stellen durfte, wird jeweils zu prüfen sein. Der Weg zur Lösung bzw. Antwort ist nun aber grundsätzlich offen, mithin in seinem Verlauf ungewiss und führt auf Umwege und Nebenthemen.

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3. Zur diskurslinguistischen Begründung der zeitlichen Rahmung des Editions- und Forschungsprojekts Der Begriff der ,Diskursivierung des Wissens‘ verweist u. a. darauf, dass Wissen, sobald es nicht auf individuelle Kompetenzen konzentriert, sondern als gesellschaftlich vielfältiges Kennen und Können konzipiert wird, u. a. ständig transformiert, multipliziert, bewertet, erweitert, getilgt wird. Für die Rekonstruktion von sozial bedingten Veränderungen des Wissens sind im Rahmen der Wissenssoziologie mehrere theoretische und auch methodische Zugriffe entwickelt worden.18 Aus linguistischer Perspektive kann diesen Zugriffen ein diskurslinguistischer zur Seite gestellt werden – sofern der Begriff des ,Diskurses‘ als heuristischer Begriff definiert wird. Der ,Diskurs‘Begriff findet seit geraumer Zeit in der Linguistik Verwendung und hat hier nicht wenige Lesarten und Konzeptionalisierungen erfahren, zumeist im Sinne einer epistemischen Kategorie oder auch als text- oder dialoglinguistische Kategorie. Demgegenüber soll der ,Diskurs‘-Begriff im vorliegenden Zusammenhang als heuristisches Instrument bei der Rekonstruktion der ,Diskursivierung des Wissens‘ dienen und soll dazu entsprechend definiert werden: Unter einem ,Diskurs‘ möchte ich eine kommunikative Handlungskonstellation verstehen, die abgrenzbar ist durch Zeit, Themengebundenheit, Handlungsbeteiligte (Individuen, Gruppen, Institutionen). Aus der Konstellation von Zeit, Thema und Aktanten ergeben sich weitere diskurskonstitutive Merkmalkomplexe: Handlungsziele, Handlungsbedingungen, Handlungsmöglichkeiten und Handlungsformen; themengebundene Wortschätze und Wortgebräuche. Ein konkreter Diskurs ist eine historisch singuläre Erscheinung insofern, als es dieselbe Konfiguration aller Merkmale in ihrer konkreten Gestaltung nicht ein zweites Mal gibt.19

Dieser ,Diskurs‘-Begriff ermöglicht synchronisch die Abgrenzung spezifischer kommunikativer Handlungskonstellationen und gestattet diachronisch vor allem aufgrund der Themengebundenheit von Diskursen deren Vergleichbarkeit. Dass der Dialog als Methode der Wissensvermittlung und Wissenserzeugung bei den tonangebenden Handlungsbeteiligten in Wissenschaft und Unterricht in der Frühen Neuzeit ein großes Thema war, ist ausgeführt worden. Auf der Grundlage des operationalisierbaren ,Diskurs‘Begriffs lassen sich relativ zu den beiden oben genannten Extrempolen in der Geschichte und Entwicklung des deutschen Lehr- und Fachgesprächs in der Frühen Neuzeit zunächst zwei synchronische Basisdiskurse abgrenzen: a) ein ,Katechetik-Diskurs‘ mit einer Konzentration der ,Diskursivierung des Wissens‘ auf der Vermittlung von für einzelne Wissensbereiche jeweils akkreditierten ,Wissensvorräten‘ und mit dem Luther’schen dialogischen Katechismus als Dialogsorten-Modell bzw. ,kommunikativer Gattung‘, __________ 18 19

Vgl. z. B. den Überblick in Hubert Knoblauch: Wissenssoziologie. Konstanz 2005. Jörg Kilian: Demokratische Sprache zwischen Tradition und Neuanfang. Am Beispiel des Grundrechte-Diskurses 1948/49. Tübingen 1997, S. 69.

Diskursivierung des Wissens im deutschen Lehr- und Fachgespräch

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b) ein ,Sokratik-Diskurs‘ mit einer Gestaltung der ,Diskursivierung des Wissens‘ sowohl als Nach- bzw. Neuschöpfung der für einzelne Wissensbereiche jeweils akkreditierten ,Wissensvorräte‘ wie auch als deren kritische Weiterentwicklung, mithin Überwindung, und der sokratischen Maieutik als Dialogsorten-Modell bzw. ,kommunikativer Gattung‘. Im Rahmen des Forschungsprojekts wird zu untersuchen sein, welche „Trägerschichten“ (im Sinne Max Webers)20 mit welchen Zielen, für welche Wissensbereiche und für welche gesellschaftlichen Gruppen in welchem Diskurs aktiv wirkten und welche Konsequenzen dieses Wirken zeitigte.

4. Zur Charakterisierung und Auswahl der Quellen Auf eine nähere Darstellung, typologische Ordnung und historisch-philologische Kritik der Quellen zum deutschen Lehr- und Fachgespräch muss in der vorliegenden Skizze verzichtet werden; eigene Vorarbeiten dazu sind an anderer Stelle publiziert.21 Für die Auswahl der zu edierenden Quellen werden im Rahmen des Projekts spezifische Kriterien zu definieren sein. Dem Projekt liegen bislang ca. 150 Quellentexte zugrunde, deren Art von kleineren Beiträgen im Umfang von 2-3 Seiten bis zu Monographien reicht. Es werden vorrangig solche Quellen für die Untersuchungen und Edition ausgewählt, die repräsentativ eine Entwicklung bzw. einen Höhe- oder Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Lehr- und Fachgesprächs zwischen Katechetik und Sokratik, den Wechsel von der (dialogischen) Wissensvermittlung mit dem Ziel des Besitzes von Wissen im Sinne der ,Cognitio‘ zur (dialogischen) Wissenserzeugung mit dem Ziel der Erweiterung oder Erneuerung des ,objektiven Wissens‘ im Sinne der ,Scientia‘ entweder metadiskursiv oder als überlieferte Dialogquelle dokumentieren und/oder gar einen nachweisbaren Einfluss auf diese Geschichte der dialogischen Formen der ,Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit‘ ausgeübt haben. Beispiele dafür wären: 1. 2. 3.

Erasmus von Rotterdam: Colloquia Familiaria [1518]. Ausgewählte Schriften. Hg. von Werner Welzig. Bd. 6. Darmstadt 1967. Luther, Martin: Der Kleine Katechismus [1529]. Kritische Gesamtausgabe („Weimarer Ausgabe“). Hauptabt. I: Werke, Bd. 30. Erste Abteilung. Weimar 1910. Ratke, Wolfgang: Die WortschickungsLehr Der Christlichen Schule [...] (um 1630).

__________ 20 21

Vgl. Knoblauch: Wissenssoziologie (wie Anm. 18), S. 87. Vgl. Jörg Kilian: Scherbengericht. Zu Quellenkunde und Quellenkritik der Sprachgeschichte. Am Beispiel des Sozialistengesetzes Bismarcks (1878-1890). In: Neuere Deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Hg. von Dieter Cherubim, Karlheinz Jakob und Angelika Linke. Berlin/New York 2002, S. 139-165; vgl. ferner Kilian: Lehrgespräch (wie Anm. 3), S. 90-113.

174 4. 5. 6. 7.

Jörg Kilian Bahrdt, Carl Friedrich: Philanthropinischer Erziehungsplan oder vollständige Nachricht von dem ersten wirklichen Philanthropin zu Marschlins. Frankfurt am Mayn 1776. [Campe, Joachim Heinrich:] Wörtlich nachgeschriebenes Gespräch eines Vaters mit seinem dreyjährigen Kinde. In: Pädagogische Unterhandlungen. Bd. 1, 6. Stück. 1778, 582584. Campe, Joachim Heinrich: Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nüzlichen Unterhaltung für Kinder. 2 Theile. Hamburg 1779 und 1780. Zerrenner, Heinrich Gottlieb: Noch etwas über Rekan und die Schulanstalten des Herrn Domherrn von Rochow. In: Journal für Prediger Zwanzigsten Bandes erstes Stück. Halle 1788, 1-47.

Aus dem Kreis dieser Quellen sollen für die Edition wiederum vorrangig diejenigen ausgewählt werden, die unselbständig oder als Passagen innerhalb größerer Werke erschienen sind und/oder bislang keinen Nachdruck/Neudruck erfahren haben und deshalb nur schwer verfügbar sind. Aus den oben genannten sieben Schriften fielen auf der Grundlage dieses Kriteriums vier heraus: J. H. Campes Robinson ist im Nachdruck als Reclam-Bändchen verfügbar; Martin Luthers Kleiner Katechismus ist in der Weimarer Ausgabe und darüber hinaus vielfältig greifbar; dasselbe gilt mutatis mutandis für Erasmus; Wolfgang Ratkes grammatische Schriften liegen in einer Edition vor, die Erika Ising 1959 veranstaltet hat. Es wird eine Pflicht der Kommentare sein, Beziehungen zwischen den zur Edition ausgewählten Quellen und denen, die nicht ediert werden, herzustellen. Die zur Edition ausgewählten Quellen sollen die dialogisch geformte ,Diskursivierung von Wissen‘ im Rahmen der institutionellen Wissensvermittlung und Wissenserzeugung dokumentieren, das heißt, es werden vorrangig Quellen ausgewählt, die die gesteuerte schulische und universitäre ,Diskursivierung von Wissen‘ konzipieren (z. B. metadiskursive Quellen, fiktive Gespräche) oder dokumentieren (z. B. Nachschriften authentischer Gespräche). Die Quellen, die für eine Edition ausgewählt werden können, lassen sich vor dem Hintergrund der Entwicklung des Lehr- und Fachgesprächs in der deutschen Bildungsgeschichte auf der Grundlage zweier Kriteriencluster weiter ordnen und bewerten: a) bei authentischen, fiktionalen, fiktiven Dialogquellen: nach Kriterien der sprachhistorischen Authentizität der Dialogführung zum Zweck der Wissensvermittlung/Wissenserzeugung, nach Wissensbereichen, nach Institutionen im Kommunikationsbereich der Wissenschaft und Lehre u. a., b) bei metadiskursiven Quellen: nach Kriterien ihrer Konzeption der dialogischen Strukturierung des Wissens auf einer Skala zwischen den Polen ,katechetische Wissensvermittlung‘ einerseits und ,sokratische Wissenserzeugung‘ andererseits, nach Wissensbereichen, nach wissenssoziologischen Orientierungen u. a. Als Beispiel für Letztere, die metadiskursiven Quellen, sei abschließend Johann Christoph Gottscheds Erörterung über Gespräche in den Wissenschaften etwas ausführlicher

Diskursivierung des Wissens im deutschen Lehr- und Fachgespräch

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angeführt.22 Gottsched skizziert hier zunächst eine kurze Geschichte des Gesprächs als Darstellungsform in der griechischen und lateinischen Antike und im Humanismus. Dabei hebt er auch hervor, dass das Gespräch für die Jugend im Lateinunterricht eine große Hilfe gewesen sei, in seiner Gegenwart aber nicht mehr gepflegt werde, und nennt als einen Grund, dass es letztlich nicht wissenschaftsfähig sei: Ich setze zum voraus, daß es einen vollkommenern Verstand anzeiget, wenn man Wissenschaften und Künste in Systematischer Ordnung vortragen kan: als wenn man nur obenhin etwas davon zu sagen weiß, welches weder Zusammenhang noch Ordnung unter einander hat. Ein paar weise Sprüche, etliche kluge Lehrsätze, und ein halb Dutzend gute Einfälle kan man zur Noth bey einer mittelmäßige Gelehrsamkeit im Vorrathe haben. Mehr bedarf man aber nicht, um ein Gespräche zu verfertigen. Man philosophirt in Unterredungen nicht nach der grösten Schärfe: man ist zufrieden, wenn man nur nicht offenbar ungereimtes Zeug sagt. Was gehört nicht hingegen zu einem Systematischen Vortrage?23

Der Vortrag nötige also zu „Tiefsinnigkeit, Gründlichkeit und Ordnung der Gedanken“ – das Gespräch indes nicht und es erscheint daher auch nicht fähig zur Vermittlung oder gar zur Erzeugung von Wissen. Auch im weiteren Verlauf des Textes räumt Gottsched dem Kriterium der Wissenschaftlichkeit (im Sinne der Erzeugung von Wissen) Priorität ein vor der „Lehrart“ (im Sinne der Vermittlung von Wissen), der Forschung vor der Lehre, letztlich der Lehre vor dem Lernen. Er spricht dem Gespräch eine grundsätzliche Fähigkeit zur Erzeugung von Erkenntnis indes nicht ganz ab (im Unterschied zu Thomasius, der das Gespräch als Mittel der wissenschaftlichen Erkenntnis gar nicht behandelt hatte, sondern nur als Mittel der Vermittlung von Erkenntnis).24 Gleichwohl ist auch für Gottsched das Gespräch (namentlich im Lehrbuch) nur akzeptabel, wenn es nicht der hohen Wissenschaft dient: Die Systematische Lehrart, so gantze Wissenschafften in ihrem völligen Zusammenhange vorträgt, schickt sich nur vor Leute [sic] die einen durchdringenden Verstand und viel Gedult [sic] zum Nachsinnen haben. Diese Gattung von Menschen aber ist nicht gar zu zahlreich. Selbst unter den Studierenden sind 21/22 nicht die meisten mit Gemüths=Kräften von solcher Beschaffenheit versehen. Wie klein ist die Anzahl dererjenigen, die eine Reihe von zehn oder zwölf zusammenhangenden Schlüssen überdencken, und die Verknüpfung so vieler Wahrheiten einsehen können? Der allergröste Theil der Studierenden, studiret mit dem Gedächtnisse, und lernet dasjenige auswendig, was ihm seine Lehrer vorsagen; oder was er in den Büchern findet, die man ihm zuerst in die Hände giebt. Vor solche Leute wäre es gut, wenn sie viele gute Gespräche zu lesen hätten: dadurch würden sie allmählich zum Nachdenken angeführet werden. Indem sie die Vernunfftschlüsse, Einwürfe und Antworten der redenden Personen vor Augen hätten; so würde sie der lebhaffte Vortrag in dieser

__________ 22

23 24

Johann Christoph Gottsched: Discurs des Übersetzers von Gesprächen überhaupt (Vorrede zu: Gespräche Der Todten Und Plutons Urtheil uber [sic!] dieselben von Bernard de Fontenelle). 1727. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von P. M. Mitchell. Bd. 10, 1. Teil: Kleinere Schriften. Berlin/New York 1980, S. 1-38. Ebd., S. 17. Vgl. Kilian: Lehrgespräch (wie Anm. 3), S. 177f.

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Schreibart gleichsam nöthigen, recht aufmercksam zu werden, und den Zusammenhang eines Satzes mit seinen Beweisgründen einzusehen.25

Gottsched kommt anschließend zur Kritik der vorliegenden dialogisch gehaltenen Lehrbücher und möchte „kürtzlich die vornehmsten Regeln anmercken, die man in Verfertigung guter Gespräche [gemeint sind Lehrbuchgespräche] nach Anleitung der gesunden Vernunfft beobachten muß.“ (S. 24) – Metadiskursive Quellen dieser Art formulieren idealnormative Ansprüche. Das Editions- und Forschungsprojekt wird dieselben zu rekonstruieren und ihre Erfüllung auf der Grundlage von Primärquellen zum Lehr- und Fachgespräch in der Frühen Neuzeit zu prüfen haben.

__________ 25

Gottsched: Discurs des Übersetzers (wie Anm. 22), S. 21f.

Markus Hundt Diskursivierung von Wissen durch Sprache – der multimodale Ansatz von Georg Philipp Harsdörffer in den Frauenzimmer Gesprächspielen

1. Einleitung Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658) wird immer wieder als DER Kulturvermittler im deutschsprachigen Raum des 17. Jahrhunderts bezeichnet. Das ist sicher richtig, aber es stellt sich doch die Frage, was das eigentlich heißen soll: Kulturvermittlung? Im gleichen Atemzug wird dann immer auch darauf verwiesen, dass es ein Herzensanliegen Harsdörffers gewesen sei, den kulturellen Anschluss an die weiterentwickelten Nachbarnationen Frankreich, Italien, Spanien, die Niederlande etc. zu erreichen. Auch das ist sicherlich richtig, aber auch hier stellt sich die Frage: Wozu dieser Anschluss, was steckt hinter dem vordergründigen Ziel des kulturellen Anschlusses? Es wird sich zeigen, dass man Kulturvermittlung bei Harsdörffer nicht von der Wissensvermittlung und damit auch von der Frage der Diskursivierung von Wissen trennen kann. Ich möchte mich daher in diesem Beitrag mit der Frage beschäftigen, was bei Harsdörffer als Kulturvermittlung zu verstehen ist, d. h. es geht mir um insgesamt fünf Fragen: 1. Was ist mit Kulturvermittlung bei Harsdörffer gemeint? 2. Wie wird Wissen vorrangig erworben und welche Arten von Wissen können hier unterschieden werden? 3. Wie wird das Wissen ,ins Spiel gebracht‘, wie wird es diskursiviert? 4. Welche Medien der Diskursivierung werden von Harsdörffer genutzt (am Beispiel der Frauenzimmer Gesprächspiele/FZG) 5. Welche Modi der Wissensdiskursivierung werden von Harsdörffer eingesetzt?

2. Kulturvermittlung ‚Kultur‘ ist mittlerweile sicherlich ein „Plastikwort“ geworden, wie dies Uwe Pörksen ausdrücken würde.1 Ein Wort, das in aller Munde ist, ein Wort aber auch, dessen Semantik recht unklar bleibt. Kultur ist irgendwie alles. Wenn man Harsdörffer als Kul__________ 1

Uwe Pörksen: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart 2004.

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turvermittler par excellence bezeichnet, sollte man daher im zweiten Schritt eine semantische Präzisierung vornehmen. Worum geht es Harsdörffer in erster Linie? In meiner Habilitationsschrift2 bin ich noch davon ausgegangen, dass es Harsdörffer in seinem gesamten Œuvre in allererster Linie darum ging, der deutschen Sprache aufzuhelfen. D. h., es ging ihm um die Legitimation, die Aufwertung, die Verbreitung (Erschließung neuer Kommunikationsbereiche für die deutsche Sprache) und die Etablierung der deutschen Sprache in allen nur denkbaren kommunikativen Kontexten. Alle jene Bereiche, die die anerkannten europäischen Kultursprachen Griechisch, Latein, Hebräisch als Heilige Sprachen, Französisch, Italienisch, Spanisch (und z. T. auch bereits Englisch) als kulturelle Leitsprachen besetzt hatten, sollten auch für die deutsche Sprache erschlossen werden. Dieser Fokus auf die deutsche Sprache ist in Bezug auf Harsdörffer einerseits sicherlich richtig. Andererseits greift er aber in gewisser Weise auch zu kurz. Denn: Harsdörffer war kein einfacher Sprachpfleger. Es ging ihm um mehr. Die Vermittlung der europäischen Kultur ist bei Harsdörffer in ein enzyklopädisches Wissensvermittlungsprogramm eingebettet. Es geht nicht einfach darum, den viel gerühmten honnete homme nun auch im deutschsprachigen Bereich zu etablieren, sondern vielmehr darum, die Welt überhaupt in ihren faszinierenden neuen Wissensbereichen zu erfassen. Blickt man auf die verschiedenen Schriften Harsdörffers, so ist unverkennbar, dass es sein Anliegen war, das zeitgenössische Wissen, alles was er greifen konnte, zu vermitteln und für den deutschsprachigen Raum zu erschließen. Ob dies in den Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden geschieht, ob in den verschiedenen Novellensammlungen,3 ob im Trincirbuch oder den FZG: immer heißt bei ihm ‚Kulturvermittlung‘ die Vermittlung von Wissen über die Welt, wie sie aus seiner Sicht relevant war. Bei dieser Art der Kulturvermittlung im Sinne einer genuinen Wissensvermittlung spielt dann die deutsche Sprache eine zentrale Rolle. Insofern ist die Auffassung, dass Harsdörffer in seinem ganzen Œuvre „Spracharbeit“4 betreibt, sicherlich zu vertreten. __________ 2

3

4

Markus Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz. (Studia Linguistica Germanica 57) Berlin/New York 2000. Die Quellen werden – wo dies möglich ist – jeweils in Anlehnung an die Bibliographie von Gerhard Dünnhaupt zitiert: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuchs der Barockliteratur. Bd. 1 (1990), Bd. 2 (1990), Bd. 3 (1993), Bd. 4 (1991), Bd. 5 (1991), Bd. 6 (1993). Stuttgart 1990-1993. Vgl. hier Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau-Platz Jämmerlicher Mordgeschichte [...]. 1649 (Reprint der 3. Auflage von 1656: Hildesheim/New York 1975). [Dünnhaupt 49.3]; ders.: Der Grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte [...]. 1650 und 1651 (Reprint der 5. Auflage von 1664: Hildesheim/New York 1978). [Dünnhaupt 60.5]; ders.: HERACLJTUS und DEMOCRJTUS. Das ist C. Fröliche und Traurige Geschichte [...]. Nürnberg 1652 und 1653. [Dünnhaupt 77.I/II.1]; ders.: MERCURIUS HISTORICUS Der historische MERCURIUS. Das ist: Hundert Neue und denckwürdige Erzehlungen [...]. Hamburg1657. [Dünnhaupt 109.1]. Vgl. dazu ausführlich Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert (wie Anm. 2).

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Aber: Diese Spracharbeit dient ihm als Mittel zum Aufbruch in eine Wissensgesellschaft. An dieser Stelle sind wir an dem Punkt angelangt, der ganz deutlich den Bezug zum Forschungszentrum Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit aufweist. Der Aufbruch in die Wissensgesellschaft geht nämlich für Harsdörffer über die Konversation. Erst die Kommunikation über die verschiedenen Wissensbereiche ermöglicht die Etablierung des Wissens. Es wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die FZG der Unterhaltung der Gesprächspieler dienen sollten. Auch dies ist zum einen sicherlich korrekt, aber eben unvollständig. Die Unterhaltung, die Harsdörffer vorgeschwebt hat, war gerade nicht ein einfacher Zeit-Vertreib, eine Möglichkeit, die Zeit derer halbwegs sinnvoll zu füllen, die es sich leisten konnten, für ihren Lebensunterhalt nicht arbeiten zu müssen. Ihm ging es vielmehr darum, in enzyklopädischer Manier möglichst alles greifbare Wissen der Zeit ,ins Spiel zu bringen‘. Erst durch dieses Ins-Spiel-Bringen konnte das Wissen wirksam werden, der Diskursivierungsprozess in Gang gesetzt werden. Insofern gleicht das Programm Harsdörffers einem universalen, enzyklopädischen Griff nach dem gesamten möglichen Wissen über die Welt und das Weltall, einem Griff, wie ihn Jan Vermeer in einem Gemälde von 1669 dargestellt hat.

Abb.: Jan Vermeer: Der Astronom [Der Astrologe], 1669, Öl auf Leinwand, 51,6 x 45,4 cm. Louvre, Paris.

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3. Wissenskonstitution Eine zentrale erkenntnistheoretischen Prämisse des 17. Jahrhunderts ist die folgende: Die Kenntnis über die Welt, der Erwerb von Wissen verläuft maßgeblich über die Sprache (und nicht etwa über die unmittelbare Erfahrung, Anschauung der Dinge selbst). Dabei wird der Sprache eine Sonderstellung bei der Wissenskonstitution insofern eingeräumt, als man durch die Beschäftigung mit der Sprache, mit den Bauprinzipien der Sprache, mit dem Versuch der Rekonstruktion von Bedeutungen auch die Welt, auf die die sprachlichen Zeichen referieren sollen, in einem grundlegenden Sinne erfassen kann. Diese Auffassung, die man auch mit der Bezeichnung des ontologischen Sprachpatriotismus5 versehen hat, scheint die Erkenntnistheorie zunächst auf den Kopf zu stellen. Die Sprache lässt uns die Dinge allererst erkennen. Es sind also nicht die Dinge, die uns in einem ersten Schritt dazu veranlassen, für sie Bezeichnungen zu finden, die dann wiederum – als erkenntnisfördernde Krücken – helfen können, die Dinge zu erkennen. Vielmehr liegen in den sprachlichen Zeichen selbst, wenn man sie denn nur richtig deutet, die Erkenntnisse über die Welt quasi losgelöst von den außersprachlichen Sachverhalten. Somit ist die unmittelbare Anschauung, die Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der ‚real world‘ aus dieser erkenntnistheoretischen Perspektive nachgeordnet. Diese Auffassung erscheint uns, nachdem wir das Zeitalter des Rationalismus und des Empirismus durchlaufen haben, reichlich fragwürdig. Doch versuchen wir einmal die Probe: Wenn wir uns die Frage heute stellen, wie viele unserer Erkenntnisse, welcher Anteil unseres Wissens auf unmittelbare Erfahrung in der realen Welt zurückgehen und welcher Anteil der medial vermittelten Erkenntniskonstitution zukommt, dann werden wir feststellen, dass der Anteil des medial vermittelten Wissens geradezu übermächtig ist, im Vergleich zum unmittelbaren Erfahrungswissen. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften (Genetik, Nanowissenschaften, Neurowissenschaften, Medizin, Biologie, Physik etc.) sind für diejenigen, die nicht selbst die Experimente zur Sicherung des Wissens unternommen haben, jeweils ‚nur‘ medial vermittelt und in Fachaufsätzen, im Wissenschaftsteil von Tageszeitungen, im Internet, im Fernsehen etc. jeweils aufbereitet. Wir erwerben diese Kenntnisse nicht aus unmittelbarer Erfahrung, sondern über Medien als zusammengefasstes Wissen. Dies gilt selbstverständlich auch für viele andere thematische Bereiche (Tages- und Weltpolitik, Geschichte, Geographie, Philosophie, Literatur u.v.a.m.). Der Anteil unseres Wissens, der durch eigene unmittelbare Erfahrung in der ‚real world‘ (was immer das auch sein mag) zustande gekommen ist, dürfte – wenn man dies berücksichtigt – verschwindend gering sein. Diesem Gedanken, dass auch heute große Teile des kollektiven und des individuellen Wissens ‚lediglich‘ medial vermittelt konstituiert werden kann, mögen sicherlich __________ 5

Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin/New York 1994, S. 51ff.; vgl. auch Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 32-55.

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nicht alle folgen. Wenn man diesen Gedanken allerdings tentativ akzeptiert, dann wird die Sprachauffassung des 17. Jahrhunderts, die wir bei Harsdörffer finden, gar nicht mehr so abwegig. Die Sprachauffassung Harsdörffers geht also von der Idee aus, dass wir nur einen kleinen Teil des relevanten Wissens über die Welt in so etwas wie unmittelbarer Erfahrung erwerben können. Hier spielt für die standesgemäße Ausbildung eines Nürnberger Patriziers z. B. die peregrinatio academica eine wichtige Rolle. Harsdörffer war selbst fünf Jahre lang auf Bildungsreise in Europa. Aber: Entscheidend für die Wissenskonstitution ist eben nicht die unmittelbare Erfahrung der Dinge selbst, sondern die vermittelte Erfahrung über Medien in verschiedenen Wissenserwerbsmodi. In diesem Prozess kommt dann der Sprache die Schlüsselrolle zu. Sie taucht in allen Medien der Wissensvermittlung in der einen oder anderen Form auf, augenfällig natürlich in den Schrifttexten: ob dies Adaptionen europäischer Literatur in Form von Übersetzungen sind, ob dies naturwissenschaftliche und/oder philosophische Schriften sind, ob dies Schauspiele, Gedichte, Lieder, Libretti sind, immer ist die Sprache der Königsweg zum Wissen. Aber auch in den Medien, die nicht auf den ersten Blick sprachlich dominiert sind, ist für die Wissenskonstitution Sprache unerlässlich. So ist in der Malerei (s. u.) erst durch das Gespräch, durch die Deutung des jeweiligen Bildes, Wissenskonstitution möglich. Das Bild allein ist auch für das 17. Jahrhundert noch kein Zeichen oder gar Wissensträger. Erst die Deutung (als Emblem, als Allegorie, als gemalte Erzählung o. Ä.) macht es zum wissensgenerierenden Mittel. In ganz ähnlicher Weise gilt dies für die Musik, als weiterem Medium (s. u.). Harsdörffer hat sich an verschiedenen Stellen ganz eindeutig dafür ausgesprochen, nach Möglichkeit mehrere Medien zur Vermittlung von Wissen zu nutzen. Diese Verschränkungen werden offenkundig in Schauspielen, in Liedern oder auch in der ersten Oper in deutscher Sprache, in der Seelewig. Mehrere Medien sollen zusammenwirken, um den Effekt der Wissenskonstitution zu erzielen. An die Frage nach der Wissenskonstitution schließt sich unmittelbar eine zweite an, nämlich die nach den Wissensbereichen, um die es Harsdörffer in seinen Texten ging. Diese Frage ist ungleich schwieriger, will man sie präzise beantworten. In einer ersten Näherung kann man sich sicher dem Urteil der meisten Forscher zu Harsdörffer anschließen, die ihn als Kulturvermittler (Battafarano6), „Polyhistor“7, als „Organisator des Zusammenspiels der Künste“8 mit einem „kommunikationsbezogene[n] und litera__________ 6

7

8

Vgl. z. B. Italo Michele Battafarano: Vom Dolmetschen als Vermittlung und Auslegung. Der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer – ein Sohn Europas. In: Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. von John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 196-212. Klaus Haberkamm: „[...] als da sind die Mahlerey / Music / und Poeterey.“ Der Aufzug „Die Tugendsterne“ in Harsdörffers Gesprächspielen als „Sinnkunst“. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. von Hans-Joachim Jakob und Hermann Korte. Frankfurt a.M. u. a. 2006, S. 135-156. Hartmut Laufhütte: Harsdörffer als Organisator des Zusammenspiels der Künste. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. von Doris Gerstl. Nürnberg 2005, S. 104-126.

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risierend-enzyklopädische[n] Ansatz“9 charakterisieren. Harsdörffer versucht in der Tat alle damaligen Wissensbereiche zu erschließen und für seine Zeitgenossen in seiner spezifischen didaktisierenden Kommunikationspraxis zu vermitteln. Blickt man etwas genauer auf das Werk von Harsdörffer ergeben sich folgende Schwerpunkte in den von ihm fokussierten Wissensbereichen: a) Sprachwissen Für Harsdörffer ist Wissen über die deutsche Sprache zugleich auch Wissen über die Welt, die die deutsche Sprache in sich fasst. Daher ist es nur folgerichtig, dass er sich immer wieder über die Gesetzmäßigkeiten und über die Leistungsfähigkeit der deutschen Sprache auslässt. Von den vielen Stellen in seinem Werk sei hier nur auf zwei verwiesen: Erstens die Schutzschrift von der Teutschen Spracharbeit als Zugabe zum ersten Band der FZG (1644).10 Hier entwickelt Harsdörffer sein gesamtes Programm zur Förderung, Legitimation, Domänenerweiterung der deutschen Sprache jeweils mit Bezügen zu den sprachtheoretischen Grundannahmen (erkenntniskonstitutive Funktion der Sprache). Zweitens das Specimen Philologiae Germanicae11 von 1646, in dem er in lateinischer Sprache für ein gelehrtes Publikum in Europa seine sprachtheoretischen und spracharbeitspraktischen Überzeugungen darlegt. b) Literarisches Wissen Der Bereich des literarischen Wissens umfasst hier alle zeitgenössischen Gattungen. Ob dies Gedichte, Novellen oder Dramen sind. Bei Harsdörffer finden sich Adaptionen aus jeglicher Gattung. Zudem bietet er mit seinem Poetischen Trichter12 ein sowohl literaturtheoretisches als auch handlungsanleitendes Werk, dass dem Rezipienten die im europäischen Kontext etablierten Gattungen erschließen und ihm darüber hinaus in der eigenen Textproduktion (z. B. bei Gelegenheitsgedichten) helfen sollte. Neben zahlreichen einzelnen literarischen Texten in den FZG (vgl. z. B. das Schauspiel Teutscher Sprichwörter in FZG II)13 sind an dieser Stelle die Geschichtensammlungen/Novellensammlungen zu nennen, in denen Harsdörffer ethisches, religiöses, __________ 9 10

11 12 13

Werner Wilhelm Schnabel: Vorschneidekunst und Tafelfreuden. Georg Philipp Harsdörffer und sein „Trincirbuch“. In: Gerstl: Harsdörffer und die Künste (wie Anm. 8), S. 158-174. Ich zitiere nach dem Reprint von 1968, der von Irmgard Böttcher im Niemeyer-Verlag herausgegeben wurde. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. 8 Bde. Nürnberg 16441649 (Neudruck Tübingen 1968-1969). [Dünnhaupt 9.I-9.VIII]. Im Folgenden FZG I-VIII, hier FZG I, S. 339-396. Georg Philipp Harsdörffer: Specimen Philologiae Germanicae. [...] Nürnberg 1646. [Dünnhaupt 30]. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Teile I-III. 1648-1653 (Neudruck Darmstadt 1969). [Dünnhaupt 38.I.2/38.II.1/38.III.2]. Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert (wie Anm. 2), §121.

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institutionenbezogenes und z. B. auch naturwissenschaftlich-technisches Wissen integriert. Die bekanntesten Sammlungen dieser Art sind der Grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte14, der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte15 sowie die Sammlung Nathan und Jotham16. Ebenso könnte man auch die beiden Bände der Ars Apophthegmatica17 mit ihren Kürzestgeschichten hinzurechnen. c) Bildwissen Entscheidend ist für Harsdörffer, dass er keinen der Zugänge zum Wissen als singulären ansieht, sondern sich der Tatsache bewusst ist, dass es immer mehrere Zugänge zu dem zu vermittelnden Wissen gibt. Er zieht daraus die Konsequenz, die verschiedenen Zugangsweisen zum Wissen zu verschränken, wenn es um die Medien und Modi der Diskursivierung geht. Wie das Zusammenspiel der fünf Sinne, so wirkt nach Harsdörffers Verständnis auch das Zusammenspiel von Malerei, Dichtung und Musik,18 den drei ‚Sinnkünsten‘ (s. u.). Harsdörffer hat in den FZG, aber selbstverständlich auch in vielen anderen Texten immer wieder Illustrationen verwendet. Diese machten einerseits die Bücher teurer, andererseits für die Käufer attraktiver.19 Die Illustrationen sind den Texten jedoch sicherlich nicht nur deshalb beigegeben, um den Verkauf zu erleichtern und den Absatz zu verbessern.20 Mindestens drei verschiedene Typen an Illustrationen21 lassen sich unterscheiden und mit ihnen auch drei zwar eng miteinander verbundene, aber doch unterscheidbare Funktionen der Wissenskonstitution:

__________ 14 15 16

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Siehe Anm. 3. Siehe ebd. Georg Philipp Harsdörffer: Nathan und Jotham: Das ist Geistliche und Weltliche Lehrgedichte […]. 2 Bde. 1650/1651 (Neudruck der 2. Auflage von 1659: Frankfurt a.M. 1991). [Dünnhaupt 61.2.]. Georg Philipp Harsdörffer: Ars Apophthegmatica. […]. Bd. 1. 1655 (Neudruck Frankfurt a.M. 1990). [Dünnhaupt 99.I.1]; sowie ders.: Artis Apophthegmaticae Continuatio […]. Bd. 2. 1656 (Neudruck Frankfurt a.M. 1990). [Dünnhaupt 99.II.2]. Vgl. ausführlich Haberkamm: „[…] als da sind die Mahlerey / Music / und Poetry.“ (wie Anm. 7), S. 139ff. Vgl. John Roger Paas: Deutsche Graphikprodukte in Nürnberg zu Harsdörffers Lebzeiten. In: Gerstl: Harsdörffer und die Künste (wie Anm. 8), S. 127-142. Wiewohl sich Harsdörffer dessen bewusst ist: „Bey dieser Zeit / ist fast kein Buch verkaufflich / ohne einen Kupfertitel / welcher dem Leser desselben Inhalt nicht nur mit Worten / sondern auch mit einem Gemähl vorbildet.“ (FZG VI, Vorrede). Vgl. hierzu detailliert Mara M. Wade: „Das Beste ligt verborgen“: Georg Philipp Harsdörffer als Theoretiker und Praktiker der Sinnbildkunst. In: Gerstl: Harsdörffer und die Künste (wie Anm. 8), S. 188-204; und Rosmarie Zeller: Sinnkünste. Sinnbilder und Gemälde in Harsdörffers „Frauenzimmer Gesprächspielen“. In: Gerstl: Harsdörffer und die Künste (wie Anm. 8), S. 215-229.

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c1) emblematisches Wissen Dass Harsdörffer Embleme zur Wissensvermittlung nutzt, ist in einem durch und durch rhetorisch geprägten Zeitraum nicht erstaunlich. Embleme eignen sich aus didaktischer Perspektive bestens durch ihre Dreiteilung (Inscriptio, Pictura, Subscriptio). Diese Dreiteilung erlaubt es erstens, blitzlichtartig das Motto, das Wissensziel in der Inscripto zu formulieren, dieses zu visualisieren (Pictura) und schließlich dafür zu sorgen, dass Missverständnisse vermieden werden und das zu vermittelnde Wissen auch wirklich eindeutig und explizit im Abschluss formuliert wird, bei Harsdörffer häufig in Form von Sonetten. Schlagende Beispiele für diese Technik finden sich an vielen einzelnen Stellen in den FZG, kompakter auch in Icones Mortis (1648), in den Drey-ständigen Sonn- und Festtag-Emblemata (1669) oder in den zahlreichen Emblemen des Stechbüchleins (1645 und 1654). Selbstverständlich hat das Emblem einiges gemein mit der allegorischen Wissensvermittlung (s. u.). In beiden Fällen muss von der sprachlichvisuellen Oberfläche auf das eigentlich Gemeinte geschlossen werden. Wenn man beide Illustrationstechniken voneinander trennen möchte, dann bedeutet dies nicht, dass sie sich gegenseitig ausschließen. Ich möchte dagegen die allegorischen Illustrationen auf die Personifikationen von Begriffen einschränken, während Embleme hier eine größere inhaltliche Bandbreite und die jeweils obligatorische Dreiteilung aufweisen. Ein Beispiel mag dies zeigen:

Abb.: „Das Beste ligt verborgen“. Emblem aus FZG II, S. 24.

Die Inscriptio „Meliora latent“, wird durch die Pictura (an einem Stab zum Trocknen hängender Kürbis, vor dörflichem Hintergrund) visualisiert. Diese beiden Elemente allein würden freilich für die Deutung noch nicht ausreichen. Daher geht einerseits eine Bildbeschreibung der Illustration voraus und andererseits folgt als Subscriptio die Deutung. Die Bildbeschreibung lautet:

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[...] führten zu einem gemeinen (General) Sinn=Bild / einen ablang=bauchigen Kürbs / welcher in der Sonnen getrucknet und ausgehölet / den Baurs=Leuten zu Verwahrung des Saltzes dienet / mit diesen Worten: Das Beste ligt verborgen.22

In der Subscriptio heißt es: Zu verstehen gebend / daß ihre Gesellschaft das Saltz der Weißheit / Verstand und Wissenschafft verborgen halten / vermittelst welches hohe Geister vor Fäulung und Anbruch der Zeit gesichert / zum unsterblichem Lob erhalten werden können. Diese sind die Erfinder und Urheber der Gesprächspiel gewesen / und aus ihren Schrifften verlangen wir zu lernen.23

Im Kontext des Emblems diskutieren die Gesprächspieler die Vorläufer der Gesprächspiele in Italien und Frankreich mit Bezug auf italienische Sprachgesellschaften. Diese sind die Wissenserhalter, -verwahrer und eben auch -vermittler, wie der letzte Halbsatz der Subscriptio zeigt. In geradezu autoreferentieller Weise verweist die Deutung des Emblems auf die eigene Funktion der Gesprächspieler bei Harsdörffer hin. c2) Allegorien Auch Harsdörffer selbst hat den Unterschied zwischen allegorischen und emblematischen Illustrationen empfunden und z. T. deutlich gemacht. So trennt er in FZG IV, S. 241 „Sinnbild“ (Emblem) und Allegorie folgendermaßen: D[egenwert] [...] Die Poetische Figuren lassen sich oftermals mahlen / die sich zu Sinnbilderen gar nicht schicken / und ist dieser Unterscheid zu halten / damit eines nicht für das andere dargegeben werde. Wann ich den Zustand des Teutschen Reichs vorstellen wolte / unter der Person einer Mutter / welche ihr liebes Kind in dem Meere ersauffen sihet / so könte ich solche Erfindung auf keinerley Weis für ein gutes Sinnbild / aber vieleicht für ein feines Gemählt dargeben / und folgende Klingreimen beyschreiben: Wie? gellet mir das Ohr? was jämmerliche Klagen: Was hertzbetrübte Stimm / was Angst und Marterwort! Wie mag doch jenes Weib an diesem Meeresport (als ich von ferne seh’) erbärmlich sich zerplagen! Sie kan von Seelenweh sich selbest nicht vertragen: ihr frey zerwirtes Haar rauft sie von ihrem Ort’ / ihr langgewundne Hand’ schwingt sie gen Himmel fort / Sie kniet an den Strand und wütet in verzagen. Sag / mein Königin / was ursacht deine Schmertzen? Eröffne meiner Bitt die Qual in deinem Hertzen? Ach Gott! Ach treuer Gott! das teure Liebes Pfand! ihr einig Hertzen Kind wil in dem Meer ertrinken / ihn siht ihr Mutter Aug / ach / ach! zu Grunde sinken. Die Teutsche sind das Kind / die Mutter ist ihr Land.

__________ 22 23

FZG II, S. 23. Ebd., S. 25.

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Dem wird eine typische allegorische Illustration beigegeben:

Abb.: Allegorie des „Deutschen Reichs“ aus FZG IV, S. 242.

Der Aufzug der Tugendsterne (allegorische Darstellung der Planeten als personifizierte Tugenden in FZG V, S. 633-670) ist ein weiteres recht prominentes Beispiel allegorischer Wissensvermittlung bei Harsdörffer. Ich verweise an dieser Stelle lediglich auf die einschlägige Forschungsliteratur zu diesem Text.24 c3) erzählende Gemälde25 Ein dritter Typus von Bildwissen wird durch die erzählenden Illustrationen vermittelt. Bei diesen Illustrationen geht es nicht so sehr darum, in allegorischer, emblematischer Deutung das Gemeinte, den mehrfachen Schriftsinn zu entschlüsseln. Sie dienen eher der Begleitung einer bereits schriftlich vorgeführten Erzählung oder aber als Ausgangspunkt für Erzählungen. Im siebten Band der FZG wird dieser Illustrationstypus mit verschiedenen Beispielen vorgeführt. Jeweils ein Bild soll die Gesprächspieler dazu veranlassen, zu diesem Bild eine passende Geschichte zu erzählen oder ein passendes Gedicht zu verfassen etc.26 Ein Beispiel hierfür ist das Eingangsbild zu einem Schäfergespräch in FZG IV, S. 528. __________ 24

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Haberkamm: „[…] als da sind die Mahlerey / Music / und Poetry.“ (wie Anm. 7) sowie James Haar: Astral Music in the Seventeenth-Century Nuremberg: The Tugendsterne of Harsdörffer and Staden. In: Musica Disciplina 16 (1962), S. 175-189; und ders.: The Tugendsterne of Harsdörffer and Staden. An Exercise in Musical Humanism. Dallas/Texas 1965; Peter Keller: Die Oper Seelewig von Sigmund Theophil Staden und Georg Philipp Harsdörffer. Bern/Stuttgart 1977. Vgl. auch Wade: „Das beste ligt verborgen“ (wie Anm. 20) und Zeller: Sinnkünste (wie Anm. 20), die von „narrativen Illustrationen“ spricht. Vgl. Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert (wie Anm. 2).

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Abb.: Erzählende Illustration – „Schäfergespräch“ aus FZG IV, S. 528.

Das Gespräch zwischen den beiden Schäfern Gottart und Trostlieb, die auf dem Bild links unten zu sehen sind, handelt von den Schafen und dem „alten Bock“, die auf dem Weg in den heimischen Stall sind. Natürlich ist auch diese Geschichte mit einer zweiten Deutungsebene verbunden. Gegenübergestellt wird das Hirtenidyll den Greueln des Krieges. Die Conclusio dieser Geschichte ist religiös motiviert: „[Trostlieb] Also traut ein Frommer Christ / da auch nichts zu hoffen ist!“27 Entscheidend für unseren Zusammenhang, in dem die verschiedenen Illustrationstypen vorgestellt werden, ist jedoch die Tatsache, dass das Bild sehr genau eine Szene des Gesprächs – das hier in gebundener Form zwischen den Schäfern stattfindet – darstellt. Somit unterscheiden sich Illustrationen dieses Typs m. E. deutlich von reinen Emblemen oder Allegorien. d) Musikalisches Wissen Ein weiterer Bereich, in dem sich der enzyklopädische Harsdörffer umtut, ist die Musik. An verschiedenen Stellen weist er auf die Verbindung zwischen Wort und Musik hin. Für ihn ist es offenkundig, dass sich die Vermittlung von Wissensinhalten nicht nur über das Wort, sondern eben auch über Malerei (s. o.) und Musik deutlich verbessern lässt. Prominentestes Beispiel für diesen Wissensbereich ist sicherlich die erste Oper in deutscher Sprache Seelewig. Harsdörffer stellt in FZG IV nicht nur das Libretto, ausführlich im Gespräch der sechs Gesprächspieler kommentiert, vor, sondern druckt am Ende von FZG IV auch die entsprechende Partitur ab. Damit zeigt er, dass auch die Musik ein geeigneter Gegenstand für Gesprächspiele ist, d. h. in unserer Terminologie: für die Diskursivierung von Wissen in Form von musikalischem Vortrag und Diskussion der Oper. Auffällig ist dabei die Verschränkung von Schauspiel als Wortkunst einerseits und Musik andererseits.28 Dies zeigt die mehrfach betonte Tendenz Harsdörffers zum Ge__________ 27 28

FZG IV, S. 532, Fettdruck des Originals getilgt. Zeller (Sinnkünste [wie Anm. 21], S. 223) macht dies explizit: „Wie sehr es Harsdörffer auf die Verschränkung der Künste auch in diesem als erste vollständig erhaltene deutsche Oper geltenden

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samtkunstwerk,29 die dann auch in anderen ‚Aufzügen‘ in gleicher Weise zu erkennen ist, so etwa im allegorischen Aufzug von der Eitelkeit (FZG III, S. 190-262), der ebenfalls reichhaltig mit Partitureinlagen versehen ist. Aus meiner Perspektive würde ich jedoch weniger den Aspekt des Gesamtkunstwerks betonen als vielmehr den multimedialen und multimodalen Weg der Wissensvermittlung im Œuvre Harsdörffers (s. u.). e) Naturwissenschaftlich-technisches Wissen Jörg Jochen Berns hat jüngst zwei Techniken des Arbeitens von Harsdörffer hervorgehoben: die Kompilation und die Kombinatorik.30 Harsdörffer sammelt aus anderen Schriften, stellt jeweils neu zusammen und muss sich z. T. auch für dieses Vorgehen verteidigen: Darumb liset man viel Bücher / daß man sich selber bediene / und mit allerhand Künsten und Wissenschafften bereichern wil. Wie nun die Handelschafft frembde Wahren in unsere Länder bringet; also ist auch jederzeit die Dolmetschung aus andren Sprachen sehr wehrt / und von denen / so deroselben unerfahren sind / für nützlich befunden worden. Die gesammten neuen Autores, deren Beyhülffe wir hier gebrauchet / sollen nicht für 100 und mehr Reichsthaler können erkauffet werden: das vornemste aber aus ihnen allen ist hier verfasset / vnd viel rechter Kauffes zu finden; ja viel haben die Mittel nicht zu solchen seltnen Büchern / und noch unbekanten Schrifften zugelangen / oder verstehen die Sprachen nicht / in welchen sie geschrieben sind (/ wann sie auch den gehörigen Unkosten gern aufwenden wolten. Wir suchen hierinnen kein Lob / verhoffen auch keine Schand hiervon zu haben; der Nutzen aber ist unsere eigne Belernung / welche durch die Zusammentragung sovieler Aufgaben sich versichert / und durch offnen Druck auch andren treuhertzig mitgetheilet wird.31

Die Gründe für dieses Vorgehen sind somit: 1. Alle Bücher kaufen zu müssen, wäre zu teuer.32 2. Viele Bücher sind in fremden Sprachen geschrieben und daher unverständlich. Per Analogieschluss wird das Vorgehen schließlich noch unterstützt. Auch im Handel werden fremde Waren zum Nutzen des Inlandes eingeführt, so nun auch im Bereich des Wissens. Die Kompilations-Kombinations-Technik ist in den FZG und in den Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden (MPE) besonders augenfällig. Gerade in __________ 29 30

31

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Stück ankommt, zeigt sich daran, dass die Musik als Vorrednerin auftritt, während die Malerei den Epilog hält“. So z. B. Haberkamm: „[…] als da sind die Mahlerey / Music / und Poetry.“ (wie Anm. 7), S. 158. Jörg Jochen Berns: Kompilation und Kombinatorik. Zusammenhänge und Grenzen von Harsdörffers naturwissenschaftlichen und ästhetischen Interessen. In: Harsdörffer-Studien (wie Anm. 7), S. 55-83. Georg Philipp Harsdörffer/Daniel Schwenter: Deliciae Physico-Mathematicae oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden […]. 1636 (Neudruck Frankfurt a.M. 1991). [Dünnhaupt 2.I.1]. Im Folgenden MPE, hier MPE II, unpag. [23] „Vorrede an den Kunstliebenden Leser“. Berns: Kompilation und Kombinatorik (wie Anm. 30): „Die Unmenge der existierenden Bücher gibt Anstoß zur Abfassung eines einzigen, das ihre Nichterreichbarkeit wettmachen soll“.

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den MPE, aber auch in den FZG werden von Harsdörffer über den Bereich der artes liberales hinaus die Bereiche der artes mechanicae enzyklopädisch kompiliert und kombiniert.33 Während sich Harsdörffer im ersten Band der MPE noch vergleichsweise stark an seinen Vorgänger Daniel Schwenter hält, der diese „Erquickstunden“ initiiert hat, geht er in den beiden Folgebänden deutlich darüber hinaus. Zugleich kehrt er in diesen zu seinem Programm der diskursiven Wissensvermittlung in Form von zu diskutierenden Aufgaben zurück. So werden Aufgaben aus den Bereichen Geometrie („Meßkunst“), Mathematik („Rechenkunst“), Optik, („Sehkunst“, „Spiegelkunst“), Astronomie („Sternkunst“), Uhrmacherei, Physik und Mechanik („Waagkunst“, „Bewegkunst“, „Wasserkunst“, „Feur- und Schmeltzkunst“, „Lufftkunst“), Architektur („Baukunst“) behandelt, aber auch – natürlich – wiederum stärker sprachbezogene Themen wie die „Schreibkunst“. Harsdörffer sagt im obigen Zitat ganz explizit: „der Nutzen aber ist unsere eigne Belernung“. Diese „Belernung“, ob in der spezifischen Form der Gesprächspiele oder in der Form zu lösender und zu diskutierender Aufgaben wie in den MPE, ist das Ziel, das sich hinter der Kompilations-Kombinations-Technik verbirgt. Auch in anderen Texten wie dem Speculum Solis34 von 1652 oder in De Quadratura Circuli35 findet sich diese Intention wieder. Das Ziel, Wissens ,ins Spiel zu bringen‘, es in einer nichttrivialen Form zu popularisieren, wird somit sowohl in den naturwissenschaftlich-technischen Kompilationsschriften als auch im Textsortenkonglomerat der FZG umgesetzt, nur jeweils mit anderen Mitteln: hier das fiktive Gespräch interessierter Diskutanten, dort die zu diskutierende Aufgabe in der Art von „wie ein Liecht unter dem Wasser zu tragen“.36 f) Religiös-erbauliches Wissen Unstrittig dürfte sein, dass Harsdörffer von einer tiefen protestantischen Religiosität geprägt war.37 Diese Re-Ligio als Rückbindung an Gott und die von Gott gegebene Ord__________ 33 34

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So auch Berns: Kompilation und Kombinatorik (wie Anm. 30). Georg Philipp Harsdörffer: SPECULUM SOLIS. Das ist: Sonnen=Spiegel/ Oder Kunstständiger/ leichter und grundrichtiger Bericht von den SonnenUhren/ und was denselbigen angehöret/ Vorwals Durch M. Franciscum Rittern von Nürnberg in zweyen Theilen beschrieben/ Nunmehr aber Mit dem dritten Theil/ allerhand neuer Erfindungen vermehet und mit nothwendigen Kupffrestücken gezieret. Duch einen Liebhaber deß Studii Mathematici […]. Nürnberg 1652. [Dünnhaupt 79.1]. Georg Philipp Harsdörffer: De QUADRATURA CIRCULI Mechanici, Das ist Ein neüer/ kurzer/ hochnützlicher und leichter Mechanischer Bericht Von der Vierung oder Quadratur deß Circkels/ wie man solche Kustrichtig zu Wercke bringen soll. [...] Nürnberg 1653. [Dünnhaupt 85]. Beispiel aus MPE III, S. 513. Markus Paul (Wider das „Spiel vom Teufel Heer“. Harsdörffer und das christliche Schauspiel bei den Nürnbergern im Kontext zeitgenössischer Theaterfeindlichkeit. In: Harsdörffer und die Künste [wie Anm. 8], S. 143-157) hat die religiöse Fundierung Harsdörffers im Zusammenhang mit dem Schauspiel deutlich gemacht. Er fasst wie folgt zusammen: „Legitimierung, Etablierung und

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nung der Welt ist in vielen Gesprächspielen thematisiert. So kann man sicher auch vom Ziel der Erbauung, d. h. hier der religiösen Übung und inneren Hinwendung auf christliche Tugenden und Ziele sprechen. Harsdörffer hat diesen Bereich des Wissens auch in Einzelschriften bearbeitet, so z. B. in den Hertzbeweglichen Sonntagsandachten von 1649 und 1652,38 in der Göttlichen Liebeslust39 und in anderen Texten, die auch ethisches Wissen vermitteln (s. u.). Die Abgrenzung zwischen diesen beiden Wissensbereichen ist nicht unproblematisch. Wenn man sich darauf einlassen möchte, kann man tentativ die Bereiche danach trennen, dass im religiös-erbaulichen Wissen Wissensbestände diskursiviert werden, die Antworten auf die Frage ‚Was soll man glauben?‘ bzw. ‚Was betrifft das Seelenheil?‘ geben, während das ethisch-moralische Wissen den Aspekt eher auf die Frage richtet: ‚Was soll man tun?‘, ‚Wie soll man sich korrekt (und das heißt selbstverständlich auch wieder im Rahmen des christlichen Tugendkatalogs) verhalten?‘. g) Ethisches Wissen Verhaltenslehren mit ethischem Impetus finden sich z. B. im Stechbüchlein von 1645 oder in der Schrift Der Mäßigkeit Wolleben und der Trunckenheit Selbstmord (1653).40 Das Stechbüchlein gibt in scheinbar zufälliger Weise Ratschläge zur Lebensführung. Hier besteht die die Aufgabe darin, mit einer Nadel an einer beliebigen (von Gott bestimmten) Stelle in das Buch zu stechen, an dieser Stelle das Buch aufzuschlagen und die Handlungsanleitungen, Spruchweisheit etc. auf das eigene Leben und die Lebensführung zu beziehen. Ein fließender Übergang vom Bereich des ethischen Wissens ergibt sich zum Bereich des kulturpraktischen Wissens, das bei Harsdörffer immer auch Verbindungen zur Verhaltenslehre aufweist. Herausragendes Beispiel für diesen Wissensbereich ist sicherlich das mehrfach aufgelegte und immer wieder von Harsdörffer selbst erweiterte Trincir__________

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39 40

Nobilitierung durch geistlich-theologische Fundierung – so lauteten die Schlagworte der Nürnberger für ihr Programm eines christlichen Schauspiels“. Dieses Programm dürfte in Bezug auf Harsdörffer wohl nicht nur für die Legitimation des Schauspiels, sondern für alle von ihm vermittelten Wissensbereiche gelten. Georg Philipp Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten […]. Nürnberg 1649 (Neudruck Hildesheim u. a. 2007) [Dünnhaupt 47.I]; sowie ders.: Hertzbeweglicher SonntagsAndachten Andrer Theil: Das ist Bild= Lieder= und Betbuch/ nach Veranlassung der Sonntäglichen EpistelTexten verfasset […] Nürnberg 1652 (Neudruck Hildesheim u. a. 2007). [Dünnhaupt 1999, 47.II]. Georg Philipp Harsdörffer: Göttliche Liebes-Lust/ Das ist: Die verborgenen Wolthaten GOTTES/ Zu Erweckung himmlischer Liebe entdecket […]. Hamburg 1653. [Dünnhaupt 84.1]. Georg Philipp Harsdörffer: Stechbüchlein: Das ist/ Hertzensschertze/ in welchen Der Tugenden und Untugenden Abbildungen/ zu wahrer Selbst Erkantnis mit erfreulichem Nutzen außzuwehlen. Erster [Zweyter] Theil. […]. Nürnberg 1645. [Dünnhaupt 21.1]; ders.: Das erneurte Stamm- und Stechbüchlein […]. Nürnberg 1654. [Dünnhaupt 21.2]; und ders.: Der Mässigkeit Wolleben/ und der Trunckenheit Selbstmord […]. Ulm 1653. [Dünnhaupt 86.1].

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Büchlein.41 Gerade die Erweiterungen sind interessant, wenn man wissen möchte, worum es Harsdörffer in diesem Werk eigentlich zu tun war. Einerseits betreffen die Erweiterungen eine Erweiterung des Wissenswerten um Tisch- und Tafel. Aber – und hierauf hat Schnabel42 zu Recht hingewiesen – das Ziel war nicht lediglich die Vervollständigung in diesem Bereich, sondern die für Harsdörffer geradezu typische Verschränkung der Wissensbereiche in einem Werk. Was der Nürnberger selbst beisteuerte, waren nämlich nur zum geringsten Teil zusätzliche Hinweise zur besseren Messerführung bei Huhn und Hammel oder zum Verhaltenskodex des Trincierers. Weitaus mehr Energie steckte Harsdörffer dagegen in die Rekonstruktion von Hintergründen und in die Diskussion von Fragestellungen, die sich an das gerade behandelte Thema anknüpfen ließen. So erfuhr man in seiner „Vorrede an den höflichen Leser“ beispielsweise, warum die titelgebende Vorschneidekunst eine althergebrachte Kulturtechnik sei. Der Verfasser zeigte, dass schon die biblischen Protagonisten, die Juden, Griechen und Römer mit der Zerteilung der Speisen vertraut gewesen seien.43

Natürlich ging es auch um möglichst enzyklopädisches Wissen zu einer Kulturtechnik. Dieses Wissen, und hier wird der Effekt der Kombinations- und Kompilationstechnik Harsdörffers deutlich, sollte zugleich jeweils nach Möglichkeit mit vielen anderen Wissensbereichen vernetzt werden, etwa mit Bereichen wie Sprache, Geschichte (biblisch oder historisch), Naturwissenschaft-Technik usw. Nicht die zusammenhangslose Reihung, sondern die Wissensvernetzung steht hinter dieser Art der Ausweitung um den Kern des kunstgerechten Tranchirens. Deswegen erweiterte Harsdörffer die ursprünglich 86 Seiten der Erstauflage auf 440 Seiten in der Ausgabe von 1665.44 h) Institutionenbezogenes Wissen Ein weiterer Wissensbereich, der in den FZG an verstreuten Stellen immer wieder thematisiert wird, ist das institutionenbezogene Wissen im weiteren Sinne. Damit sind die Institutionen gemeint, die sich aus der Stratifikation der frühneuzeitlichen Gesellschaft ergeben, d. h. hier in erster Linie der Hof, sowie die entsprechenden Verhaltensformen, etwa im Umgang mit Adligen oder generell im angemessenen kommunikativen Austausch mit Angehörigen verschiedener Stände. In diesen Sektor fällt als Monographie etwa der Teutsche Secretarius von (1655).45 Beim Secretarius handelt es sich nicht al__________ 41

42 43 44 45

Georg Philipp Harsdörffer: Vollständiges TRINCIR-Büchlein […]. Nürnberg 1640. [Dünnhaupt 6.1. Nach dessen Datierung erschienen o. J.]. Noch zu Harsdörffers Lebzeiten erschienen acht weitere Ausgaben, die ständig erweitert wurden. Nach seinen Tod erschienen noch drei weitere Ausgaben, 1665, 1675 und 1677. Werner Wilhelm Schnabel: Vorschneidekunst und Tafelfreuden (wie Anm. 9), S. 163. Ebd. Vgl. hierzu ausführlich ebd., S. 168ff. und 160. Georg Philipp Harsdörffer: Der teutsche SECRETARIUS: Das ist: Allen Cantzley-Studir- und Schreibstuben nützliches und fast nohtwendiges Formular- und Titularbuch: Enhaltend: I. Dieser Zeit hohen Potentaten/ Könige/ Churfürsten/ Fürsten/ Herren und Städte Ehrentitul. II. Gebräuch-

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lein um ein Anleitungsbuch, das den Lesern beim Briefeschreiben helfen sollte, also um einen Briefsteller. In den einzelnen Beispielbriefen und in kommentierenden Passagen geht Harsdörffer über dieses Ziel weit hinaus und präsentiert so in Teilen eine Verhaltenslehre, die den Secretarius auch in die Nähe von Übersetzungen wie den Klugen Hofmann von 1655 rückt.46 i) Historisches Wissen In diesem Bereich sind insbesondere vier frühe Schriften Harsdörffers zu nennen, die sich mit der Außenpolitik Richelieus auseinandersetzen, zunächst die Peristromata Turcica (1641), dann die drei Gegenschriften Germania deplorata (1641), Gallia deplorata (1641) und schließlich Avlæ Romana (1642).47 Dieser explizite Ausflug Harsdörffers in die Zeitgeschichte ist für sein Werk jedoch singulär. Viel häufiger wird Geschichte in einem weiteren Sinne thematisiert: Geschichte als Rückgriff auf tatsächliche oder fiktive historische Begebenheiten, die jeweils eine lehrhafte Quintessenz ermöglichen. Insofern ist das historische Wissen immer auch an das ethische und an das religiöse rückgebunden. Besonders deutlich wird dies z. B. in der Sammlung von Erzählungen Heraclitus und Democritus von 1652 und 1653 in der auf die griechisch und römische Geschichte, wie sie sich den Zeitgenossen darstellte, zurückgegriffen wurde.

4. Diskursivierung von Wissen Im vorangegangenen Abschnitt wurde – hoffentlich – deutlich, dass der Wissensraum, um den es Harsdörffer in seinen Texten ging, maximal ist. Alles nur irgend verfügbare oder verfügbar zu machende Wissen sollte durch ihn und seine Texte in deutscher Sprache den Zeitgenossen zur Verfügung gestellt werden. Dieses Zur-Verfügung-Stellen ist __________

46 47

liche Groß- und Freundschafft- III. Lehrreiche [!] Klag- Trost und Ladungs- VI. Nohtwendige Kauff- und Handels-Briefe. Diesem sind angefügt unterschiedne Formularien allerhand Vorträge/ [!] Empfängnisse und Abdanckungen zu erstatten. Nach heut zu Tag üblichen Hof- und Kauffmanns Stylo [...] Nürnberg 1655. [Dünnhaupt 100.I.1]. Der Reprint im Olms-Verlag (Hildesheim/New York 1971) geht auf die dritte Auflage des ersten Bandes von 1656 zurück und bei Teil 2 (ders.: Der Teutsche Secretarius Zweyter Theil […]) auf die erste Auflage von 1659. Georg Philipp Harsdörffer: Mr. DU REFUGE Kluger Hofmann: Das ist/ Nachsinnige Vorstellung deß untadeligen Hoflebens […]. Frankfurt a.M./Hamburg 1655. [Dünnhaupt 2018, 98.1]. Georg Philipp Harsdörffer: PERISTROMATA TURCICA, SIVE DISSERTATIO EMBLEMATICA [...]. Nürnberg 1641. [Dünnhaupt 7.I]; ders.: GERMANIA DEPLORATA SIVE RELATIO, QUA PRAGMATICA MOMENTA BELLI PACISQVE EXPEDUNTUR [...]. Nürnberg 1641. [Dünnhaupt 7.II]; ders.: GALLIA DEPLORATA SIVE RELATIO DE LUCTUOSO BELLO, QUOD REX CHRISTIANISSIMUS CONTRA VICINOS POPULOS MOLITUR [...]. Nürnberg 1641. [Dünnhaupt 7.III]; ders.: AULÆA ROMANA CONTRA Peristromata Turcica EXPANSA: [...]. Nürnberg 1642. [Dünnhaupt 7.IV].

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aber das Spezifikum Harsdörffers, das ihn als Autor des 17. Jahrhunderts für das Forschungszentrum Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit so interessant macht. Enzyklopädische, polyhistorische und universalgelehrte Ansätze sind in dieser Zeit nicht selten. Ebenso ist die Technik der Kompilation, des Ausziehens aus fremden Schriften in dieser Zeit gang und gäbe. Dies ist für Harsdörffer der erste Schritt der Diskursivierung. Er will möglichst vieles aus möglichst vielen Wissens- und Kulturbereichen adaptieren, in deutscher Sprache zur Verfügung stellen, so dass das schriftlich niedergelegte Wissensreservoir der Ausgangspunkt für die eigentliche Arbeit werden kann. Typisch für Hardörffer erscheint mir dabei sein Impetus, alles Wissen in einer bestimmten Weise aufzubereiten und es so für die Adressaten schmackhaft zu machen, dass sie sich aufgefordert fühlen, es sich selbst anzueignen. ‚Diskursivierung‘ bedeutet, Wissensbestände in Umlauf zu bringen, sie zum Thema zu machen, d. h. sie in diskursiver Weise (mündlich oder schriftlich) zur Disposition zu stellen, diese Wissensbestände weiterzugeben, gegebenenfalls zu transformieren (Adaptionen z. B. in literarischen Gattungen) oder auch auszusondern. Für Harsdörffer liegt das Primat in diesem Diskursivierungsprozess ganz eindeutig auf der Seite der Mündlichkeit. Die typische und optimale Situation, in der diese Art von Wissensdiskursivierung für ihn greifen kann, ist das unterhaltsame, gelehrte Gespräch. Schon die Anlage der FZG macht dies deutlich, aber auch an anderen Stellen äußert sich Harsdörffer zu diesem Primat der Mündlichkeit, etwa bei der Aufgabe „Ob besser seye / wol Schreiben / oder wol reden können?“.48 Die gesprochene Sprache, die Rede verweist selbst auf ihre ureigenste Verbindung zur Natur hin, sie erst erweckt den toten Buchstaben der Schrift: [...] und werden vermittelst der Rede die gantze Welt regiret / erhalten / und in behäglichen Stand gehandhabt. Die Zunge tröstet die Traurigen / bewegt die Gemüter / siget in dem Streit / erbauet die Städte / sie donnert wie der Himmel / sie schmeichelt wie der lebhaffte West / sie brauset wie das ungestüme Meer / sie zischet wie die Schlange / und sie ist der Altra / darauf das Lobopffer der Lippen gott dem Allmächtigen täglich dargebracht wird. Sie ist die schöne Gefangene in dem Helffebeinen Bezierk der Zähne / in den Corallen der Lippen beschrenket / und von der Natur gleichsam bewahret und beschirmet / als das wehrteste Glied deß menschlichen Leibes. Die Schrift hingegen hat keine Krafft / sie ist ein todter Buchstab / wann sie nicht von der Rede beseelet wird / welch auch den geringsten Sachen eine Art zu geben weiß.49

Nach dem ersten Schritt des Kompilierens und Kombinierens kommt der für die Wissensdiskursivierung weitaus interessantere Schritt der Aufbereitung dieser Wissensbestände für den (primär mündlichen) Diskurs. Die FZG sind dabei sicherlich das prominenteste Beispiel, aber auch verschiedene andere Texttypen dienen bei Harsdörffer – wie wir bereits weiter oben gesehen haben – diesem Zweck. Ob dies nun die in Fragengruppen geordneten Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden sind, ob dies __________ 48 49

MPE II, S. 63-66. Ebd., S. 64 [Hervorhebung M.H.].

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die Schauplätze sind oder die Vermittlung von Kulturtechniken in den verschiedenen Ausgaben des Trincir-Büchleins, immer schwebt Harsdörffer die Rolle eines Katalysators vor Augen. Er möchte etwas in Gang setzen – den Diskurs, was er in den Schriften selbst nur in demonstrativer Weise andeuten kann. Ganz deutlich wird diese Starthilfefunktion bei den Gesprächspielen: Keines Wegs aber ist mein Absehen gewesen / alles nach der Länge auszuführen / und wie es hätte leichtlich seyn können / ümschweiffig zu erstrecken: Sondern daß ich allein Anleitung geben wollen / und den Weg weisen / wie bey Ehr= und Tugendliebenden Gesellschaften freund= und fruchtbarliche Gespreche aufzubringen / und nach Beschaffenheit aus eines jeden Sinnreichen Vermögen fortzusetzen. Eingedenk / daß gute Gesprech gute Sitten erhalten und handhabē / gleichwie böse selbe verderben.50

Deshalb sind von den mehreren hundert Gesprächspielen in den acht Bänden der FZG sehr viele auch nur angedeutet und gewissermaßen wie mit einer Spielregel versehen, jedoch nicht en detail ausgeführt. Selbstredend ist der Wissenserwerb qua Diskursivierung des Wissens nicht Selbstzweck, sondern immer – eingebunden etwa in ein ethischreligiöses und oft sprachpatriotisches Programm. Wer der deutschen Sprache aufhilft (wie z. B. die Fruchtbringende Gesellschaft) hilft auch dem verheerten deutschen Sprachraum selbst auf. Kriegsgreuel und Kriegswirren, verrohte Sitten und fehlende Werte sind maßgeblich auch durch den Sprachverfall bedingt und können – so der Umkehrschluss – durch den Ausbau, die Pflege, die Verbesserung und die Domänenerweiterung der deutschen Sprache wieder ins Lot gebracht werden. Weil wir jedoch mit Sprache auch immer das Wissen um die bezeichneten Dinge miterwerben, dient der Wissenserwerb grundsätzlich auch der Verbesserung der Verhaltensstandards. Der Aufbruch in eine Wissensgesellschaft, wie er Harsdörffer offenkundig vorschwebt, ist hier ganz deutlich mit einem großen Optimismus in Bezug auf die gesellschaftliche Relevanz der Wissensdiskursivierung verbunden. Die Verhaltensstandards werden unmittelbar durch die Wissensdiskursivierung verbessert, oder in den Worten Harsdörffers „Eingedenk / daß gute Gesprech gute Sitten erhalten“. Im Folgenden möchte ich an einem Beispiel vorführen, wie diese Art der Wissensdiskursivierung bei Harsdörffer konkret aussieht. Selbstverständlich kann man von einem Typus nicht auf alle schließen, aber in drei Punkten ist das nachfolgende Beispiel das Schauspiel Teutscher Sprichwörter51 typisch:  Anleitungsgedanke  Medienkombination  Wissensvorführung __________ 50 51

FZG II, S. 17. Ebd., S. 327-435.

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Die Idee für das Schauspiel Teutscher Sprichwörter hat Harsdörffer aus dem französischen Kulturraum übernommen. Er nutzte eine französischsprachige Vorlage,52 die anonym erschienene Comédie des Proverbs. Harsdörffer startet dabei nicht einfach mit einer Adaption der französischen Vorlage, um so zu zeigen, dass wir auch im Deutschen viele Sprichwörter haben. Zunächst wird in der Vorrede das Wissensreservoir vorgestellt, d. h. hier die sprachtheoretischen Grundannahmen zu Phraseologismen, deren Herkunft und deren Funktion.53 Dass das Schauspiel Teutscher Sprichwörter im Rahmen der Spracharbeit genutzt wird, ist m. E. unstrittig. Hier interessiert eher das ‚Wie‘, das Verfahren. Als erstes methodisches Element ist der Anleitungsgedanke zu nennen, den Harsdörffer selbst auch explizit macht. Demnach ist das Ziel nicht bloßes Rezipieren, sondern die Leser sollen selbst in den Diskurs einsteigen: Schließlichen / wolle der Teutsche Leser dieses Spiel nicht müssig vernehmen / sondern bey allen Handlungen und Auffzügen / erachten und betrachten / wie diese in Eil zusammen geraffte Sprichwörter zu vermehren / zu verbessern / zu ergründen / und dergleichen künfftig zu mit sattsamer Volkommenheit zu Werck gerichtet werden möge.

‚Diskursivierung‘ meint hier m. E. zunächst, über die Rezeption zu weiterer eigener Produktion angeregt zu werden, weitere Sprichwörter zu finden, so also auch immer weiter die Welt über die Sprache zu erschließen. Das ‚Verbessern‘ könnte sich hier auf die Anwendungsbereiche für Sprichwörter beziehen, das ,Ergründen‘ ist ein Rekurs auf deren Herkunft (Etymologie). Das zweite methodische Element der Diskursivierung ist die Medienkombination: Es handelt sich hier um ein schriftlich niedergelegtes Schauspiel in drei Akten (Handlungen) mit einem Prolog. Der Rezipient muss sich bereits in der Lektüre die szenische Umsetzung des Textes vorstellen, was durch die allfälligen Regieanweisungen im Text erleichtert wird. Erschwert wird die Rezeption durch die sperrige Sprache, die sich aus der Sprichwörterreihung ergibt. Die eigentliche Handlung und Argumentationsführung nachzuvollziehen, ist nicht immer einfach, aber wohl auch gar nicht so relevant. Wichtiger erscheint hier, die überzeugende Demonstration: Es ist möglich, ein ganzes Schauspiel nur aus deutschen Sprichwörtern zusammenzubauen, so reich ist die deutsche Sprache. Neben diesen Medien – Sprichwörter (Schriftform), Schauspiel (Handlung) – fügt Harsdörffer aber noch im zweiten und dritten Akt Lieder (mit Liedtexten in Versform und mit Notentexten) ein.54 Es treten somit noch die Medien Lied (Musik) und Gedicht (Schriftform) hinzu. Das Zusammenspiel von gesprochenem Wort (Schauspiel), geschriebenem Wort (Sprichwörter) und Musik (Lieder) erscheint mir für Harsdörffer typisch. In den späteren Bänden der FZG nehmen schließlich die Illustrationen deutlich __________ 52 53 54

Vgl. dazu Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert (wie Anm. 2). Vgl. detailliert ebd., S. 377-381. FZG II, S. 393-396 (Trinklied); FZG II, S. 419 (Musikantenlied).

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zu, so dass dann auch noch entsprechende erzählende Illustrationen, die einzelne Szenen erläutern, zu erwarten gewesen wären.55 Das dritte methodische Element ist die Wissensvorführung: Hier wird in sehr komprimierter Form eine große Menge an Phraseologismen in deutscher Sprache vorgeführt, von den Sprichwörtern bis zu mehr oder weniger festen idiomatischen Verbindungen.56 Diese Wissensvorführung dient hier dazu, den Lesern und den Gesprächspielern Material für die eigene Diskussion zu geben. Ob das Schauspiel je in dieser Form aufgeführt werden konnte, ist m. E. fraglich. Eine kurze Kostprobe, die die Artifizialität des Stücks zeigt, mag genügen: 1. Lid[ias] Der Krug geht so lang zum Wasser / biß er bricht / sagt man im Sprichwort. Es ist waar wenn ihn ein Narr trägt. Aber es hat in allen Sachen ein Vortheil/ uñ wol dem / der ihn weiß: Was man nicht erlauffen kan / das muß man erschleichen. 2. Aläg[re] Das Sprichwort ist falsch / das sagt: Die Nacht ist niemands Freund / was gilt es / wir wollens finden / wenn wir gleich kein Liecht anzünden. Es sind nun alle Kühe schwartz / es ist so finster / daß man greiffen kan. Hier in dieser Gegen ist der Jungfr. Florinda Haus / die wird unser warten wie die Katz auff ein Maus.57

Entscheidend ist aber gar nicht die Frage nach der Handlung, nach der Aufführbarkeit o. Ä., sondern die Frage, ob sich ein solcher Text als Anleitungstext für das unterhaltend, gelehrte Gespräch, also nach Harsdörffer für die Paradeform der Diskursivierung eignet. Die Fülle der vorgestellten Sprichwörter gibt genügend Anlass für weitere Gespräche über die deutsche Sprache. Im Gespräch über die Sprichwörtergespräche im Schauspiel können die Teilnehmer v. a. das in den Sprichwörtern niedergelegte Wissen (Sprichwörter als Wissens- und Erfahrungssedimente) diskutieren, auf andere Fälle anwenden, andere Sprichwörter beiziehen, die eventuell besser passen etc.

5. Medien der Diskursivierung Da die Erfahrung im Bereich des Wissenserwerb und im Bereich der Wissensdiskursivierung bei Harsdörffer und seinen Zeitgenossen offenbar eine vergleichsweise geringe Rolle spielt, nimmt es nicht wunder, dass die Hauptlast der Diskursivierung auf der medialen Vermittlung liegt. Für Harsdörffer – und hier seien wieder seine FZG als Beispiel genommen – sind dies im Wesentlichen fünf Mediengruppen: 1. Buch 2. Bild __________ 55 56 57

In den ersten beiden Bänden der FZG sind demgegenüber noch vergleichsweise wenige Illustrationen enthalten. Zur Phraseologismusauffassung Harsdörffers – drei Typen – vgl. Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert (wie Anm. 2). So beginnt der 1. Akt des Schauspiels FZG II, S. 350.

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3. Musik 4. Theater 5. Gespräch Ad 1: Das Buch selbst als Wissensträger ist selbstverständlich für den Autor Harsdörffer das erste und wichtigste Medium überhaupt. Im Buch lassen sich in verschriftlichter Form alle anderen Medien repräsentieren, wenn auch in einer zunächst verweisenden Funktion. So werden im Schriftmedium nicht allein die Wissensinhalte – z. B. zu den sprachtheoretischen Auffassungen der Zeit – niedergelegt, sondern eben auch die anderen medialen Diskursivierungswege aufgezeigt bzw. aufgezeichnet. Bestes Beispiel hierfür ist die Gesprächspielsituation selbst, die die Leser zur Nachahmung und zur eigenen diskursiven Praxis anleiten und anregen soll. Wie das verschriftlichte Gesprächspiel werden aber auch alle anderen Formen der Diskursivierung im Schriftmedium im Hegelschen Sinne aufgehoben, d. h. erhöht, bewahrt und in gewisser Weise (analytisch) aufgelöst: Bild, Musik und theatralische Inszenierung. Der Blick auf die verschiedenen Wissensbereiche zeigt, dass sie selbstverständlich auch – jeweils nach Textgruppe mit unterschiedlichem Gewicht – im Schriftmedium aufgehoben sind. So spielt das enzyklopädische und naturwissenschaftlich-technische Wissen in den MPE eine prominente Rolle, religiöses Wissen in den Hertzbeweglichen Sonntagsandachten, literarisches Wissen z. B. in den Schauplätzen usw. Ad 2: Wie wichtig das Medium Bild für Harsdörffer und sein Programm ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass er im Verlauf der FZG-Bände in immer stärkerem Maße auf Illustrationen zurückgegriffen hat. Anzahl der Illustrationen

FZG

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Vor allem in den letzten beiden Bänden der FZG steigt die Anzahl der Illustrationen von bislang durchschnittlich 20 pro Band auf über 30 (Bd. 7: 31; Bd. 8: 32).

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Die Bedeutung des emblematischen Wissens wurde bereits hervorgehoben. Im Medium des Bildes werden so auf unterschiedliche Art Wissensbestände aktiviert, einmal in emblematischer Form, einmal in allegorischer Form, einmal in erzählender Form, wobei die emblematische Illustrationstechnik dominiert. Neben dem Schriftmedium kommt somit dem Bildmedium der zweitwichtigste Platz bei den Medien der Diskursivierung zu. Ad 3: Ein weiteres Medium, auf das Harsdöffer ausgreift und das uns heute lediglich durch die Verschriftungen z. B. in den FZG überliefert ist, ist die Musik. Auf die erste erhaltene Oper in deutscher Sprache samt Partitur in den FZG IV wurde verwiesen. Gleiches gilt für einzelne Lieder (Texte und Noten) in andern Textgruppen. Ad 4: Harsdörffer bevorzugt ganz offenkundig die actio im Wissenserwerb und nicht lediglich das passive Rezipieren. Dies zeigt nicht allein seine Präferenz für das konversierende Spielen, sondern zudem seine Neigung zur theatralen Inszenierungen, die – wie die Gesprächspiele selbst – zur Nachahmung, d. h. hier zur tatsächlichen Realisierung als Theater in der Praxis, gedacht waren. Dieses Medium sollte dann – wiederum im Verbund mit dem Diskurs über das im Aufführungsmedium vermittelte Wissen – zur Wissensdiskursivierung qua Gespräch führen. Ein Beispiel hierfür wäre das bereits erwähnte Schauspiel Teutscher Sprichwörter in FZG II. Ad 5: Wenn auch das Medium Buch/Schrift die größte Bedeutung für Harsdörffer hatte, so ist es letztlich nicht dieses Medium, um das es ihm eigentlich ging. Das Gespräch als gelehrt-unterhaltender Austausch zum Wissenserwerb, zur Wissenssicherung, aber auch zur Infragestellung und Transformation von Wissen ist sozusagen sein Zielmedium. Dies wird in den FZG am deutlichsten, sie führen die Situation vor, die Harsdörffer sich für seine Adressaten wünscht. Aber auch in anderen Textgruppen wie den Schauplätzen oder den Erquickstunden geht es m. E. nicht allein darum, Wissen auszubreiten und aufzuhäufen, sondern als Material für das wissensdiskursivierende Gespräch zu dienen. Die spezifische Verschränkung der Medien in den Texten Harsdörffers berechtigen m. E. dazu, vom Programm des ‚Gesamtkunstwerks‘ zu sprechen. Alle Medien, ob direkt (Schrift, Bild) oder indirekt-demonstriert (Musik, Theater, Gespräch), werden zusammengebunden zu dem Zweck der Wissensdiskursivierung.

6. Modi der Diskursivierung Nach den Gegenständen und Medien der Diskursivierung bei Harsdörffer möchte ich abschließend auf die Modi der Diskursivierung eingehen. Dies überschneidet sich zum Teil mit bereits Gesagtem, da die Diskursivierungsmodi notwendigerweise auf die Medien zugreifen müssen. Geht man von der Sinneswahrnehmung aus, stehen fünf Kanäle als Wege zur Verfügung, über die Wissen ,ins Spiel gebracht‘ werden kann. Modi der Wissensdiskursivie-

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rung sind dann die mit den Wahrnehmungskanälen gekoppelten Medien und Vermittlungsweisen. Harsdöffer möchte alle fünf Sinne in sein Programm einbeziehen:     

visuelle Wahrnehmung auditive Wahrnehmung olfaktorische Wahrnehmung gustatorische Wahrnehmung haptische Wahrnehmung

Es ist klar, dass vorrangig Auge und Ohr und nachrangig Schmecken, Tasten und Riechen an diesem Prozess beteiligt sind. Dies ergibt sich aus der schon weiter oben erwähnten Tatsache, dass für Harsdörffer ein klarer Primat der Mündlichkeit in der Wissensdiskursivierung insofern festzustellen ist, als er das gelehrt-unterhaltende Gespräch, und zwar das aktual vollzogene und nicht allein das in den FZG demonstrierte, als Ziel seines Wissens- und Kulturvermittlungsprogramms sieht. Der Königsweg zu allem Wissen ist für Harsdörffer die Sprache und hier vorrangig die eigene, die deutsche Sprache. Weil in der deutschen Sprache Wissen aufbewahrt ist, kann durch die Beschäftigung und die tiefer gehende Analyse der Sprache eben dieses Wissen erworben werden. Der Sprache kommt eine genuin erkenntniskonstitutive Funktion zu. Da die Sprache über Auge und Ohr zugänglich ist, ist klar, weshalb Schmecken, Tasten und Riechen hier in den Hintergrund treten. Sie sind jedoch m. E. nicht vollständig aus diesem Diskursivierungsprozess ausgegrenzt: Wenn man z. B. die verschiedenen Auflagen und Erweiterungen der Trincirbüchlein betrachtet, kann man sehen, dass für Harsdörffer durchaus auch der haptische, sensorische Zugang zum Wissen thematisiert werden konnte. Dass Hören und Sehen bei der Wissensdiskursivierung die tragende Funktion haben, ist zunächst einmal völlig unspektakulär. Auch die Modi der Diskursivierung, also die Prozesse, in denen die Wahrnehmungskanäle mit den jeweiligen Medien der Diskursivierung verbunden werden, sind nicht besonders außergewöhnlich. Ich kann mich hier – schon um Wiederholungen zu vermeiden – auf eine Aufzählung beschränken.  Auge/visuelle Wahrnehmung  Lesen  bewusstes Sehen (optica)  Malerei  Schauspiel  nachgeordnet: unmittelbare Erfahrung (peregrinatio academica)  Ohr/auditive Wahrnehmung  Gespräch  Musik  Schauspiel, Oper, Vortrag, Erzählung

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Interessant sind aus meiner Perspektive zwei Punkte bei Harsdörffer: Zum einen räumt er dem Gesprächsmodus die wichtigste Stellung im Reigen der Diskursivierungsmodi ein. Zum anderen werden bei Harsdörffer, wo immer dies möglich ist, die Modi kombiniert, so dass der Normalfall der Wissensdiskursivierung der der multimodalen Diskursivierung ist. Das gelehrt-unterhaltende Gespräch soll auf der Basis des demonstrierten Gesprächs (in den FZG) geführt werden, und zwar unterstützt durch Illustrationen sowie durch musikalische Darbietungen (die selbst wiederum vorher in den FZG demonstriert wurden). Diese Verschränkung, nicht nur in den Medien der Diskursivierung, sondern auch in den Modi der Diskursivierung, scheint mir für Harsdörffer typisch zu sein. Multimodale Wissensdiskursivierung heißt demnach die Aufnahme, Speicherung, Verarbeitung, auch Veränderung von Wissen durch die Wahrnehmungskanäle (vorrangig visuell und auditiv) unter Rückgriff auf verschiedene Medien. In den FZG hat Harsdörffer so Anleitungstexte für die Wissensdiskursivierung geschrieben, die auf alle damals gängigen Medien zurückgriffen und diese vorführten, um die Adressaten zur eigenen Praxis (im Gespräch, in der theatralen und/oder musikalischen Aufführung) zu animieren.

Ludwig Steindorff Die Diskursivierung von Wissen aus Westeuropa im frühneuzeitlichen Russischen Reich

1. Hinführung Daß Rußland seit einigen zwanzig Jahren gantz verwandelt und verändert sey, werden nicht allein diejenigen, welche in Rußland gewesen, sondern auch alle, die nur einige Kentniß von dem jetzigen Zustande der Nordischen Sachen haben, gestehen müssen. Die Erweiterung der Rußischen Gräntzen, die Erbauung der Stadt Petersburg und des Cronschlotischen Hafens1, die auf den Teutschen Fuß gesetzte, und durch eine unaufhörliche Ubung streitbar gemachte Militz, die aus den Casanischen Höltzern verfertigte und in die Ost-See gesetzte Flotte, die zum Matrosen-Handwerck angewiesene Bauren, die Aufrichtung der See- und andern Academien, die gantz umgekehrte und durch Einführung der neuen Reichs-Collegiorum verbesserte Justitz- und Regiments-Verfassung, die angelegte Künste und Manufacturen, die Begebenheiten des Czarewitzen und die veränderte Successions-Sache,2 auch endlich und insonderheit die so wohl unter grössern Gehorsam als zu etwas mehrer Erkäntniß gebrachte Geistlichkeit, sind solche grosse Neuerungen, und die darauf verwendete Zeit so geringe, daß ein jeder, der dieselbe mit Augen gesehen, darüber erstaunen muß, und die Nachwelt in Zweifel ziehen wird, ob eine solche Verwandlung in einer Zeit von zwantzig Jahren bey einer ehemals so wüsten und wiederspenstigen Nation zu Stande gebracht.3

So begann Christian Friedrich Weber, der braunschweigische Resident in der neuen Hauptstadt des russischen Reiches, 1721 sein Buch Das Veränderte Rußland, von dem 1738 eine zweite Auflage erschien. Dass die Herrschaftszeit Peters des Großen eine Zäsur in der Geschichte Russlands bildet, darüber herrscht Konsens, sie wird verbunden mit dem Schlagwort der Verwestlichung und mit der Öffnung nach Westen. Dabei ist die Tiefe dieser Zäsur in der For__________ 1 2

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1704 angelegte, älteste Bastion in der Marine-Garnisonsstadt Kronstadt, die von Peter dem Großen auf der Insel Kotlin ca. 20 km westlich von Petersburg im Finnischen Meerbusen errichtet wurde. Anspielung auf den Konflikt zwischen Peter dem Großen und seinem Sohn Aleksej, der die Reformpolitik ablehnte, deshalb vom Zaren von der Thronfolge ausgeschlossen wurde und vor der Vollstreckung des gegen ihn ausgesprochenen Todesurteils 1718 in der Haft starb. Christian Friedrich Weber: Das veränderte Rußland. Neu-verbesserte Auflage. Bd. 1. Frankfurt/Leipzig 1738 (ND Hildesheim 1992), Blatt a2-a3.

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schung der letzten Jahrzehnte allerdings hinterfragt worden. Denn auf der einen Seite lassen sich schon für das 17. Jahrhundert eine Verdichtung der Kontakte nach Westen und Ansätze eines kulturellen Wandels unter der Einwirkung westlichen Einflusses konstatieren. Und auf der anderen Seite können wir im Russland des 18. Jahrhunderts noch viele Spuren der alten Welt in ungebrochener Kontinuität erkennen.4 Ob die Reformen Peters des Großen zwangsläufig und notwendig waren, um die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen – die strukturellen Parallelen des Moskauer Reiches mit dem hoch- und spätmittelalterlichen Westeuropa5 – aufzuheben, oder ob Russland ohne die radikale Ablehnung der eigenen Tradition durch die Elite seinen Weg in die jeweilige Gegenwart besser gefunden hätte, diese in Russland selbst immer wieder aufgeworfene und gegensätzlich beantwortete Frage soll uns hier nicht beschäftigen. Ebenso wenig wollen wir den verschiedenen Sichtweisen westlicher Beobachter nachgehen, sei es, dass sie wie Christian Friedrich Weber in den Reformen Peters des Großen und vor allem auch Katharinas II. eine Erfolgsgeschichte sehen, sei es, dass Russland ihrer Ansicht nach trotz aller Ansprüche der Angleichung an den Westen das ewig Andere, negativ oder auch positiv gesehen, geblieben ist. Es geht mir im Folgenden vielmehr darum zu zeigen, wie die Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem frühneuzeitlichen Westeuropa – im Sinne der gesamten westkirchlich geprägten Welt – und Russland als Frage nach der Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Diskursen bestimmbar ist und wie sich die Umsetzung der Reformpolitik seit Peter dem Großen als planvolle Diskursivierung von Wissen aus Westeuropa darstellen lässt.

2. Die Konfessionsgrenzen als Diskursgrenzen: Das 16. Jahrhundert Die Ausgangsbedingungen waren seit dem Mittelalter durch die Konfessionsverhältnisse vorgegeben: Im westkirchlichen Bereich mit der Universalsprache des Latein war im Zuge der Christianisierung und der damit verbundenen Verschriftlichung der Kultur das gesamte lateinische Texterbe zugänglich geworden, auch in den Territorien weit jenseits der Grenzen des einstigen Römischen Reiches. Allerdings war dieser universale Diskurs auf eine Elite beschränkt. Erst als sich im Hoch- und Spätmittelalter die Lebensbereiche __________ 4

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Dies haben vor allem neuere religions- und alltagsgeschichtlich ausgerichtete Forschungen gezeigt, zum Beispiel A. S. Lavrov: Koldovstvo i religija v Rossii. 1700-1740. Moskva 2000; E. B. Smiljanskaja: Volšebniki, bogochul’niki, eretiki. Narodnaja religioznost’ i „duchovnye prestuplenija“ v Rossii XVIII veka. Moskva 2003; O. E. Košeleva: Ljudi Sankt-Peterburgskogo ostrova Petrovskogo vremeni. Moskva 2004. Ludwig Steindorff: Donation and Commemoration – a Medieval or Early Modern Phenomenon. In: Religion und Integration im Moskauer Reich. Konzepte und Praktiken, Potentiale und Grenzen. Hg. von Ludwig Steindorff. (Forschungen zur Geschichte Osteuropas 76) Wiesbaden 2010, S. 477-500, hier S. 477.

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des Schriftwürdigen und Schriftbedürftigen ausweiteten, entstand eine umfangreichere Schriftlichkeit in den Vernakularsprachen, und die konsequente Durchsetzung der Volkssprachen auch als Liturgiesprachen ist erst mit der Reformation verbunden und blieb bis ins 20. Jahrhundert auf die protestantischen Kirchen beschränkt.6 Ganz anders sah es in der Ostkirche aus: Mit der Christianisierung von Byzanz aus war die Einführung der slavischen Gottesdienstsprache und der Schriftlichkeit in slavischer Sprache verbunden. Nach den Anfängen slavischer Schriftkultur in der von Konstantin-Kyrill und Method entwickelten glagolitischen Schrift wurde diese im Raum der Slavia orthodoxa7 bald von der mit ihr isomorphen kyrillischen Schrift ersetzt. Der Zugang zum geschriebenen Wort war mit der Einführung der Schriftpraxis in der eigenen Sprache gewiss leichter als im Westen, doch da die Vermittlung des älteren, vor allem antiken Texterbes an die Übersetzung gebunden war, kam der Auswahl des zu Übersetzenden eine Filterwirkung zu. Sie war der entscheidende Faktor für die Nicht-Teilhabe der Slavia orthodoxa an der Wiederentdeckung der Antike seit dem Hochmittelalter und ihrer Aneignung als ,Eigenem‘ in der Renaissance. So treffen wir im Verhältnis zwischen dem Moskauer Reich und dem Westen als Grundkonstellation auf eine Grenze des schriftlichen Diskurses, die entlang der Konfessionsgrenzen verlief und sich zugleich mit der Grenze zwischen Lateinschrift und Kyrillisch deckte. Allerdings herrschte keine hermetische Abschottung. Sie wurde durch persönlichen, mündlich gepflegten und alltagsschriftlichen Kontakt durchbrochen: Es gab die Begegnung im Handel über Novgorod und Pskov, hiervon legen auch die teils zweisprachig überlieferten Handelsverträge Zeugnis ab.8 Schon am Ende des 15. Jahrhunderts waren italienische Architekten mit der Umgestaltung des Moskauer Kreml’ befasst.9 Westeuropäische Ärzte kamen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts ins Land, ihre Zahl wuchs vor allem im 17. Jahrhundert stark an,10 und für den Aufbau der Armee zog man Militärspezialisten aus dem Westen heran. __________ 6 7

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Hagen Keller: Vom ,heiligen Buch‘ zur ,Buchführung‘. Lebensfunktionen der Schrift im Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien 26 (1992), S. 1-31. In Abgrenzung von der westkirchlich geprägten Slavia Romana, dank den Arbeiten von Riccardo Picchio (erstmals von ihm eingeführt in: „Renascimento esteuropeo“ e „rinascita slava ortodossa“. In: Ricerche Slavistiche 6 [1958], S. 103-118) geläufig gewordenes Begriffspaar. – Nur in den nördlichen Küstengebieten Kroatiens haben sich als Ausnahme innerhalb der Westkirche der kirchenslavische Gottesdienst und die glagolitische Schriftlichkeit neben dem Latein seit dem Hochmittelalter bis weit in die Neuzeit gehalten. Als neuester Zugang: Catherine Squires [Ekaterina R. Skvajrs]: Die Hanse in Novgorod: Sprachkontakte des Mittelniederdeutschen mit dem Russischen; mit einer Vergleichsstudie über die Hanse in England, aus dem Russischen [2002]. Köln/Weimar/Wien 2009. Gesamtüberblick bei Erik Amburger: Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte für die Wirtschaft Rußlands vom 15. bis ins 19. Jahrhundert. (Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 42) Wiesbaden 1968. Mit reicher biographischer Dokumentation ausgeführt bei Sabine Dumschat: Ausländische Mediziner im Moskauer Rußland. (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 67) Stutt-

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Das Hauptanliegen Zar Ivans IV. des Schrecklichen im Livländischen Krieg 1558-1583 war es, über die Unterwerfung von Estland und Livland das Moskauer Reich zur Ostseemacht werden zu lassen, doch kann man in dem verlorenen Krieg auch den gescheiterten Versuch des Zaren sehen, einen Teil der ,anderen‘ Welt, der Welt jenseits der Diskursgrenze, zu vereinnahmen. Gerade an Hand der Quellensituation zum Livländischen Krieg und zur teils brutalen Herrschaftspraxis Ivans IV. des Schrecklichen innerhalb seines Reiches lässt sich die Getrenntheit der schriftlichen Diskurse gut veranschaulichen. Auf der einen Seite finden wir die russischen Quellen in kyrillischer Schrift: Chroniken, weltliches Verwaltungsschriftgut wie auch Quellen im Umfeld von Stiftung und Totengedenken einschließlich des Sinodik opal’nych, des „Sinodik der Geächteten“. In dieser Liste zum Totengedenken waren die Namen von Leuten eingetragen, die auf Befehl von Zar Ivan dem Schrecklichen hingerichtet worden oder bei kollektiven Strafaktionen zu Tode gekommen waren und für die der Zar nachträglich große Stiftungen zur Sicherung ihres liturgischen Totengedenkens erbrachte – wohl ein Unikum in der europäischen Geschichte.11 Auf der anderen Seite verfügen wir über westliche Quellen in lateinischer, deutscher, schwedischer, dänischer und englischer Sprache. Dazu gehören auch die Berichte von Söldnern in russischen Diensten ebenso wie die von deutschen Kriegsgefangenen im Russischen Reich speziell für die Jahre 1560-70.12 Entlehnungen aus der einen Textgruppe in die andere kommen nur ganz ausnahmsweise vor, die Gruppen stehen unverbunden nebeneinander.13 Erst durch die Historiographie seit dem 19. Jahrhundert sind die Informationen aus beiden Korpora zusammengeführt worden. Für die Diskursivierung von Wissen über das frühneuzeitliche Russland im Westen kam den Reiseberichten eine zentrale Rolle zu. Sie schöpften aus eigener Beobachtung, mündlichen Informationen wie auch aus früheren westlichen Publikationen,14 nur aus__________

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gart 2006. – Für das 18. Jahrhundert vgl. Andreas Renner: Russische Autokratie und europäische Medizin: organisierter Wissenstransfer im 18. Jahrhundert. (Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Beiheft 34) Stuttgart 2010. Ludwig Steindorff: Memoria in Altrußland. Untersuchungen zu den Formen der christlichen Totensorge. (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 38) Stuttgart 1994, S. 226231. Überblick der Quellen: Manfred Hellmann (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands. Bd. 1, II. Stuttgart 1989, S. 867-870; speziell zu den englischen Berichten: Robert O. Crummey (Hg.): Rude and Barbarous Kingdom. Russia in the accounts of sixteenth-century English voyagers. Madison, WI 1968. Andreas Kappeler: Ivan Groznyj im Spiegel der ausländischen Druckschriften seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des westlichen Russlandbildes. (Geist und Werk der Zeiten 33) Frankfurt a.M. 1972, S. 111 verweist darauf, dass die – ihrer Intention nach schon an das Ausland gerichteten – Sendbriefe Ivans IV. zur Begründung des Krieges schon in frühneuzeitlichen westlichen Werken in Übersetzung abgedruckt sind. Stéphane Mund: Orbis terrarum. Genèse et développement de la représentation du monde „russe“ en Occident à la Renaissance. Genève 2003, S. 396f. mit einer Filiation der Abhängigkeit von Au-

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nahmsweise auch aus russischen Schriftquellen wie im Falle des Freiherrn Sigismund von Herberstein, der als Gesandter 1516-17 und 1526-27 nach Russland gereist war.15 Indem er in seinen Rerum Moscovitarum Commentarii von 1549 Auszüge aus der altrussischen Chronistik, kanonistische Texte und den Sudebnik, das „Gesetzbuch“ von 1493, in lateinischer Übersetzung referierte16 und später die Commentarii selbst ins Deutsche übersetzte, übertrug er Wissensbestände über die ansonsten noch weitestgehend geschlossene Grenze der schriftlichen Diskurse hinweg.

3. Grenzüberschreitungen im 17. Jahrhundert 3.1 Die Kirchenunion von Brest 1596 für Polen-Litauen und ihre Folgen Auf Seite der Westkirche können wir im Streben, die orthodoxen Kirchen für die Kirchenunion zu gewinnen, den Willen nach deren Einbeziehung in die von Rom aus gesetzten Diskurse erkennen. Die Kirchenunion beinhaltete die Anerkennung des Primates des Papstes durch die ostkirchliche Hierarchie bei gleichzeitiger Beibehaltung von Ritus und jeweiliger traditioneller Liturgiesprache, je nach Union also dem Griechischen, Slavischen, Syrischen oder Armenischen. Der noch aus dem byzantinischen Reich stammende Moskauer Metropolit Isidor hatte sich 1438 unter den Mitunterzeichnern der Unionsakte von Florenz befunden. Doch war die Union im Moskauer Reich nie wirksam geworden, da sie der Großfürst Vasilij II. strikt abgelehnt und Isidor kurz nach dessen Rückkehr nach Moskau aus seinem Amt vertrieben hatte.17 __________

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toren voneinander. Die weitaus größte Rezeption in anderen Werken erfuhr Herberstein. Unter dem Hauptinteresse nachzuverfolgen, wie sich allmählich ein Negativ-Bild von Russland im Westen verfestigte, vgl. Marshall T. Poe: „A People Born to Slavery“. Russia in Early Modern European Ethnography, 1476-1748. Ithaca/London 2000. Neben den alten Editionen und der Reprintausgabe Sigmund von Herberstein: Rerum Moscoviticarum commentarii quibus Russiae ac Metropolis eius Moscouiae descriptio. Basel 1571 [Nachdruck Frankfurt a.M. 1964] vgl. jetzt Sigismund von Herberstein: Rerum Moscoviticarum commentarii: synoptische Edition der lateinischen und der deutschen Fassung letzter Hand. Basel 1556 und Wien 1557. Hg. von Hermann Beyer-Thoma. München 2007 und Zigismund Gerberštejn: Zapiski o Moskovii. Bd. 1-2. Red. A. L. Choroškevič. Moskva 2008 mit synoptischem Druck der lateinischen und deutschen Fassung und der neurussischen Übersetzung wie auch einem Kommentarband. Zum Forschungsstand bis 2002 vgl.: Reinhard Frötschner/Frank Kämpfer (Hgg.): 450 Jahre Sigismund von Herbersteins „Rerum Moscoviticarum commentarii“: 1549-1999. (Schriften zur Geistesgeschichte Osteuropas 24) Wiesbaden 2002. Zigismund Gerberštejn: Zapiski (wie Anm. 15), S. 40-60 (Chronik), S. 174-190 (Kanonistik), S. 254-264 (Sudebnik). Die Erzählung der altrussischen Chronik (deutsche Übersetzung vgl. Peter Nitsche: Der Aufstieg Moskaus. Auszüge aus einer russischen Chronik. Bd. 2. [Slavische Geschichtsschreiber 5] Graz/Wien/Köln 1967, S. 54-56; zum Kontext vgl. auch Steindorff: Memoria in Altrußland [wie Anm. 11], S. 150-151) kann man als den Sonderfall der (verzerrten) Diskursivierung von eigentlich unsagbarem, verbotenen Wissen, hier der westkirchlichen Besonderheiten in Abgrenzung von

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Teilweise erfolgreich hingegen war die Kirchenunion von Brest, die 1596 für die orthodoxen Gebiete innerhalb Polen-Litauens proklamiert wurde. Noch bevor der litauische Fürst Jagiello 1386 die Taufe nach westlichem Ritus empfangen hatte und durch seine Ehe mit der Königin Hedwig von Polen die polnisch-litauische Union begründet wurde, war das noch heidnische Litauen seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts weit nach Südosten in den Raum der längst ostkirchlich christianisierten ostslavischen Fürstentümer expandiert, so dass unter litauischer und ab 1386 polnisch-litauischer Herrschaft auch Orthodoxe standen. Nach dem Vorbild der katholischen Bruderschaften übernahmen ebenso die Orthodoxen ab dem Ende des 15. Jahrhunderts diese Form der religiösen Vergemeinschaftung.18 Zentrum der Unierten war Kiev, das seit 1569, seit dem Abschluss der Lubliner Union, mit dem gesamten einstigen Süden Litauens zum polnischen Reichsteil gehörte.19 Hier lebten nun nebeneinander Orthodoxe, die nicht der Union beigetreten waren, Unierte wie auch lateinschriftliche Katholiken. Gerade das Konkurrenzverhältnis von Orthodoxen und Unierten wirkte als Impuls auch für Orthodoxe, sich westlicher Gelehrsamkeit zu öffnen.20 3.2 Westliche Gelehrsamkeit im Umfeld der Orthodoxie im 17. Jahrhundert Bedeutende Gestalten westlich geprägter Gelehrsamkeit auf Seiten der Orthodoxen in Polen-Litauen waren vor allem der Mediziner und Sprachgelehrte Meletïj Smotric’kij (1578-1633), der allerdings 1627 schließlich doch zur Union übertrat, und der Theologe und Kiever Metropolit Petro Mogila (1596-1647). Smotric’kij veröffentlichte 1618/19 eine Slawische Grammatik, deren Rezeption bis ins 19. Jahrhundert reichte. Petro Mogilas bedeutendste Leistung war die Errichtung der ersten orthodoxen Hochschule 1632 durch die Vereinigung der orthodoxen Kiever Bruderschaftsschule von 1615 mit der von ihm selbst begründeten Schule am Kiever Höhlenkloster zum Kiever Kollegi__________

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der Ostkirche, behandeln. Für den Großfürsten war die Nennung des Namens von Papst Eugen IV. in der Liturgie ein besonderes Ärgernis. Die Liturgie durfte nicht zum Mittel der Diskursivierung von Wissen über die abgelehnte kirchliche Hierarchie werden. Alfons Brüning: Unio non est unitas. Polen-Litauens Weg im konfessionellen Zeitalter (15691648). (Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 72) Wiesbaden 2008, S. 263. Lubliner Union 1566: Umwandlung der polnisch-litauischen Personalunion in eine Realunion bei gleichzeitiger Revision der Grenzen innerhalb der Union zugunsten Polens. Unter verschiedenen Aspekten behandelt in: Stefan Rohdewald/David Frick/Stefan Wiederkehr (Hgg.): Litauen und Ruthenien. Lithuania and Ruthenia. (Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 71) Wiesbaden 2007; vgl. hierin insbesondere Alfons Brüning: Ökumene in der Adelsrepublik: Ekklesiologische Entwürfe der Kiever Theologen um 1640, S. 279-302. Als Hinführung auf das 18. Jahrhundert berücksichtigt auch bei Hans Rothe: Religion und Kultur in den Regionen des russischen Reiches im 18. Jahrhundert – Erster Versuch einer Grundlegung. (Rheinischwestfälische Akademie der Wissenschaften G 267) Opladen 1984. Der Abschnitt „Kulturwege“ (S. 15-19) kommt vom Ansatz her den Überlegungen zur Diskursivierung von transferiertem Wissen in seiner neuen Umgebung sehr nahe.

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um.21 Dessen Aufbau und Lehrplan waren westlichen Vorbildern verpflichtet, als Unterrichtssprache diente teils Latein. An das Werk von Smotrickij knüpfte Juraj Križanić an, ein aus Kroatien stammender katholischer Geistlicher, der ins Moskauer Reich gereist war und sich in den Dienst des Zaren gestellt hatte, sah er doch im Russischen Reich einen Staat, dem eine große Zukunft als Führungsmacht in der Welt der Slaven bevorstand.22 Allerdings fiel er bald in Ungnade und wurde ins sibirische Tobol'sk verbannt. Später konnte er Russland verlassen. Auf dem Weg nach Rom kam er, im polnischen Entsatzheer für das von den Osmanen belagerte Wien mitziehend, 1683 während der Kämpfe vor Wien ums Leben. In seinem in Tobol'sk verfassten, erst am Ende des 19. Jahrhunderts bekanntgewordenen Werk Objasn'enje vivodno verband er die vergleichende Analyse der Phonologie der slavischen Sprachen mit Vorschlägen für eine Vereinfachung und Standardisierung der Rechtschreibung, deren Stand, wie Križanić in der Einleitung zu seinem Werk selbst feststellte, durch die Sprachentwicklung vielfach überholt war. Er war dabei bestrebt, sich in Abgrеnzung von Smotric’kij von der Orientierung am Bestand der griechischen Grapheme zu lösen. Während Smotric’kij, zur Zeit seiner Arbeit an der Grammatik noch strikter Gegner der Kirchenunion, auf eine Vereinheitlichung innerhalb der sich traditionell des Kyrillischen bedienenden Slavia Orthodoxa abgezielt hatte, ging es Križanić im Sinne der erstrebten Kirchenunion auch um die Sprachen in der westkirchlichen Slavia.23 Im Rahmen der Terminologie und Fragestellung nach der Diskursivierung von Wissen lässt sich festhalten, dass die Erkenntnisse von Križanić, seine vielfach auch aus heutiger Sicht vollkommen korrekten Beobachtungen zur Phonologie und Orthographie der slavischen Sprachen, zu Lebzeiten des Verfassers nur im Autograph gespeichert blieben. Erst mit der Veröffentlichung durch den russischen Philologen und Bibliothekar V. V. Kolosov 1888 gelangten diese Erkenntnisse als Wissen in den slavistischen Fachdiskurs und haben ihren Platz bis heute dort vor allem in Russland und in Kroatien behalten.24 __________ 21 22

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Die Bibliothek dieser Schule steht im Zentrum der Arbeit von Ludmila V. Charipova: Latin Books and the Eastern Orthodox clerical elite in Kiev 1632-1780. Manchester/New York 2006. Vgl. John M. Letiche/Basil Dmytryshin: Russian Statecraft: the Politika of Iurii Krizhanich. Oxford/New York 1985, mit englischer Übersetzung der staatsrechtlichen Schrift von 1666 „Politika“; Jozo Džambo/Wolfgang Kessler: Jurij Križanić – ein katholischer Eiferer in Rußland. In: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 11.-17. Jahrhundert. Hg. von Dagmar Herrmann. (West-östliche Spiegelungen B 1) München 1988, S. 238-253. Gerhard Podskalsky: Griechische Theologie in der Zeit der Türkenherrschaft (1453-1821). Die Orthodoxie im Spannungsfeld der nachreformatorischen Konfessionen des Westens. München 1988, S. 259-266. Zu diesem Werk zuletzt: Vorob'eva Irina Gennadieva/Vjačeslav Michajlovič Vorob'ev (Hg.): Tverskaja rukopis' Jurija Križaniča. Tver' 2008, mit analytischen Beiträgen, neurussischer Übersetzung und Faksimile-Ausgabe, vgl. meine Besprechung in: Zeitschrift für slavische Philologie (im Druck).

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3.3 Zwischen Abschließung und Offenheit: Das Moskauer Reich im 17. Jahrhundert Der Diskurs ,westlicher‘ Wissensbestände fand noch leichter Eingang ins Moskauer Reich, nachdem im Zweiten Nordischen Krieg Kiev von russischen Truppen besetzt und nach dem Waffenstillstand von Andrusovo 1667 dauerhaft bei Russland verblieben war.25 Ein wichtiger Mittler war Simeon Polockij (1629-1680), Schüler des Kiever Kollegiums und gelehrter Mönch. Schon 1664 begab er sich nach Moskau und wirkte hier als Lehrer, Hofdichter und Erzieher der Zarenkinder.26 Mit auf seine Initiative hin wurde 1687 eine „Slavisch-griechisch-lateinische Akademie“ eröffnet. Geradezu in Konkurrenz mit der Akademie standen die schon damals zeitweilig in Moskau tätigen Jesuiten und orthodoxe, doch westlich gebildete Griechen, an erster Stelle die Brüder Lichudes.27 Im Laufe des 17. Jahrhunderts wuchs zudem die Zahl der in Moskau ansässigen Ausländer weiter an. Aus dem Westen entlehnte Elemente höfischen Lebens, vor allem ab 1676 Theateraufführungen, erfreuten sich der Beliebtheit bei der Familie des Zaren.28 Für diese Zeit, die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts, hat man in Russland selbst den Begriff ,Russischer Barock‘ geprägt. In dem Terminus klingt der Anspruch der Gleichzeitigkeit der Entwicklung mit Westeuropa – im Unterschied zur in der Einleitung postulierten Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen noch im 16. Jahrhundert – an. ,Russischer Barock‘ steht als Metapher für den Wandel des Eigenen, für die Auflösung traditioneller Formen sogar in der Ikonenmalerei. Der Terminus dient als Verweis auf die zunehmende Verflechtung mit dem Westen.29 Dennoch halte ich die Metapher für irreführend, denn die russische Kultur jener Zeit war noch in keiner Hinsicht verwechsel- und austauschbar mit den künstlerischen Formen und dem Lebensstil im Westen. __________ 25

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Vgl. Hans-Joachim Torke: Moskau und sein Westen. Zur „Ruthenisierung“ der russischen Kultur. In: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1996/1 (Osteuropa in vergleichender Sicht), S. 101-120. Wie L. Sukina: „Vertograd mnogocvetnyj“ Simeona Polockogo i baročnaja transformacija pominal’noj tradicii v russkoj religioznoj kul’ture XVII-XVIII v. In: Čelovek v kul’ture russkogo barokko. Hg. von M. S. Kiseleva. Moskva 2007, S. 367-374, zeigt, entfernt sich Simeon Polockij auch in seinen Dichtungen zu Vergänglichkeitsmotiven von der orthodoxen Tradition. Podskalsky: Griechische Theologie (wie Anm. 23), S. 277-281; Ekkehard Kraft: Moskaus griechisches Jahrhundert. Russisch-griechische Beziehungen und metabyzantinischer Einfluss 16191694. (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 43) Stuttgart 1995, S. 167-184. V. N. Vsevolodskij-Gerngross: Ot istokov do konca XVIII veka. (Istorija russkogo dramatičeskogo teatra 1) Moskva 1977, S. 62-75. Viktor Živov: K tipologii barokko v russkoj literature XVII – načala XVIII v. In: Čelovek v kul’ture russkogo barokko (wie Anm. 26), S. 11-31, hier S. 11, spricht davon, der Barock in Russland sei nicht wie im Westen Resultat einer organischen kulturellen Entwicklung, vielmehr die Folge der Transplantation einer anderen Kultur. Unabhängig vom Titel des Sammelbandes berücksichtig dieser gleichermaßen das Moskauer Reich und die von der polnisch-litauischen Herrschaft geprägten Gebiete der heutigen Ukraine.

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Erst mit der planvollen Verwestlichung seit der Zeit Peters des Großen kann man von Zeugnissen eines nach Russland entlehnten Barock sprechen. Sehr wohl bestand im 17. Jahrhundert ein wachsendes Interesse des Zaren und seiner Umgebung am Geschehen im Westen. Zu dessen Befriedigung dienten die handschriftlichen – nicht gedruckten – vesti kuranty, „laufenden Nachrichten“ mit Übersetzungen aus westlichen Zeitungen, Berichten von Gesandten und Kaufleuten von ihren Auslandsaufenthalten wie auch mit Neuigkeiten aus dem Land selbst. Die Erstellung der vesti kuranty lag in den Händen des posol’skij prikaz, der „Gesandtenbehörde“. Doch ging es hier noch eher um die Gewinnung eines Informationsvorsprunges der Herrschenden gegenüber allen anderen als um das Anliegen, entlehntes Wissen in die Gesellschaft weiterzuvermitteln.30 Über alle einzelnen Tendenzen zur Öffnung hin blieb die konfessionelle Abschottung im 17. Jahrhundert bewahrt. Wie S. P. Orlenko vor Kurzem noch einmal durch seine Untersuchungen bestätigt hat, war die Ausgrenzung von Ausländern zwar in der Praxis teilweise durchbrochen, doch ging sie im Anspruch so weit wie möglich. 1652 wurden die ausländischen Kaufleute in Moskau gezwungen, alle in die Nemeckaja sloboda, die „deutsche Freistätte“, sinngemäß eher „Freistätte für Ausländer“, am nordöstlichen Stadtrand umzusiedeln. Die muslimischen Dienstleute des Zaren waren besser gestellt, verfügten sie doch über das Recht auf den Erwerb von Landbesitz mit darauf lebenden orthodoxen Abhängigen.31 Für einen westlichen Ausländer war die volle Integration nur über den Konfessionswechsel möglich, nur darüber, dass er ein „rechtgläubiger Christ“ wurde. Und dies war auch die Bedingung für die Eheschließung zwischen Ausländern und Russen. Der jüngst von Petr Stefanovič publizierte, in der British Library verwahrte Briefwechsel aus den Jahren 1686-1687 zwischen einem in Pskov weilenden Engländer und seinem russischen Sprachlehrer, in dem die beiden über verschiedenste Lebensbereiche wie auch über den ihnen gemeinsamen Glauben an Gott sprechen, steht zwar für die Kommunikationsfähigkeit über die Abgrenzungen hinweg, doch die Besonderheit des Quellenfundes liegt ja gerade darin, dass er bisher einzigartig ist. Die Korrespondenten vermieden zudem offensichtlich, durch das in Einzelheiten gehende Ansprechen von religiösen Themen in eine Kontroverse zu geraten.32 __________ 30

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Zu diesem inzwischen in Editionen vorliegenden Quellentyp vgl. Roland Schibli: Die ältesten russischen Zeitungsübersetzungen (Vesti-Kuranty). 1600-1650: Quellenkunde, Lehnwortschatz und Toponomastik. Bern/Frankfurt a.M./New York/Paris 1988. S. P. Orlenko: Vychodcy iz zapadnoj Evropy v Rossii XVII veka. Pravovoj status i real’noe položenie. Moskva 2004, S. 264-269. P. S. Stefanovič/B. N. Morozov: Roman Vilimovič v gostjach u Petra Ignat’eviča: Pskovskij archiv anglijskogo kupca 1680-godov. Moskva 2009; vgl. auch Petr Stefanovič: Dialog der Kulturen? Selbstaussagen in Briefen zwischen Pskov und England 1686/87. In: Vom Wir zum Ich. In-

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3.3.1 Wer ist ein Fremder? Bilder als Vermittler von Wissen Die dominierende Ausgrenzung der Nicht-Orthodoxen ist sinnfällig kenntlich gemacht in der Ausmalung des Troickij sobor, der „Dreifaltigkeits-Hauptkirche“, im am Anfang des 16. Jahrhunderts gegründeten Aleksandr -Svirskij-Kloster auf halbem Weg zwischen Ladoga- und Onega-See in Russisch-Karelien. Die anstelle eines verfallenen Vorgängerbaues am Ende des 17. Jahrhunderts neu errichtete Kirche wurde 1715 von einer Gruppe von Freskenmalern aus Kostroma unter der Leitung des Ikonenmalers Leontij Markov ausgemalt.33 Wie üblich, fand auf der Westwand eine Darstellung des Jüngsten Gericht ihren Platz. Rechts vom thronenden Christus, also links aus dessen Sicht, auf der Seite der Verdammten, sieht man Männer in verschiedener Tracht, um die eine Kette geschlungen ist. Über den Köpfen ist die jeweils gemeinte Gruppe auch schriftlich benannt: Juden, Türken, Griechen,34 Tataren und Deutsche und weitere. Das Motiv der nicht-gerechten Völker (in verschiedensten Reihungen) war zwar nicht neu in der Ikonographie des Jüngsten Gerichtes,35 aber die Deutschen springen dem Betrachter hier durch ihre westliche Bekleidung im Stil der damaligen Gegenwart geradezu ins Auge. Mose führt die Schar dem Richter zu.

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dividuum und Autobiographik im Zarenreich. Hg. von Julia Herzberg und Christoph Schmidt. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 77-93. Hier nach eigener Anschauung und: A. A. Feoktistov (Hg.): Russkie monastyri. Sever i SeveroZapad Rossii. Moskva 2001, S. 365; außerdem: [N. N.:] Svjato-Troickij Aleksandra Svirskogo monastyr’ unter (aufgerufen am 2. Feb. 2010). Die Einbeziehung der Griechen, eigentlich ja Glaubensbrüder, in diese Reihe entspricht der Deutung, Konstantinopel sei um seiner Sünden willen in die Hände der Türken gefallen. Protoierej Viktor Šipal'nikov: Ikonografija Strašnogo suda. In: Moskovskie eparchial'nye vedomosti 2008, 1-2, unter (aufgerufen am 9. März 2010); M. G. Davidova: Ikony „Strašnogo suda“ XVI-XVIIvv. Prostranstvo chudožestvennogo teksta. In: Slovo. Pravoslavnyj obrazovatel'nyj portal, unter , hier Katalog No. 2, Anm. 2; No. 5, Anm. 19; No. 7, Anm. 7 mit verschiedenen Beispielen der Reihung der verworfenen Völker auf den Ikonen aus der 2. Hälfte des 16. und aus dem 17. Jahrhundert (aufgerufen am 12. März 2010) (freundlicher Hinweis von A. I. Alekseev, Russische Nationalbibliothek St. Petersburg). – Außerdem: Eva Haustein-Bartsch/Ferdinand Ulrich: Das Jüngste Gericht. Eine Ikone im Ikonen-Museum Recklinghausen. Mit einem Beitrag über die Randinschriften von Thomas Daiber. Recklinghausen 1994. Das Motiv findet sich ebenso auf Fresken in Klöstern der Moldau (freundliche Hinweise von Andreas Müller, Theologische Fakultät der Universität Kiel).

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Abb.: Die Reihe der verworfenen Völker im Fresko mit dem Jüngsten Gericht an der Westwand des Troickij sobor im Aleksandr Svirskij-Kloster (1715) (Foto: Autor).

Die Darstellung erweist sich als subtile Form der Diskursivierung von Wissen darüber, wie der Fremde, der Verdammte, aussieht und zu erkennen ist. Am erstaunlichsten ist das Datum der Ausmalung: Schon anderthalb Jahrzehnte hatte Peter der Große sein Programm der Verwestlichung vorangetrieben, seit vier Jahren hatte Petersburg Moskau als Hauptstadt des Reiches offiziell abgelöst, und seit fünfzehn Jahren war das Amt des Patriarchen verwaist, weil Peter der Große zur Schwächung der Hierarchie eine Neuwahl nicht zugelassen hatte, bevor 1721 der Heilige Sinod als kollektive Kirchenleitung eingeführt werden sollte. An seiner Spitze stand ein weltlicher Oberbeamter, der Oberprokuror. Die Darstellung im Aleksandr -Svirskij-Kloster wirkt geradezu als Protest gegen Peters Politik, denkbar nur weit weg von den Zentren der Macht. Trotz aller Zunahme an Verflechtung mit den westlichen Nachbarn und besseren Wissens über sie blieb die Diskursivierung von Wissensbeständen aus Westeuropa im 17. Jahrhundert noch beschränkt auf kleine Bereiche und stand stets unter dem Vorbehalt des Generalverdachtes gegenüber den ,Häretikern‘ oder ,Schismatikern‘, und vor

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allem gab es keine Diskursivierung von Wissen aus dem Westen als Programm.36 Hierin bilden die Reformen Peters des Großen eine klare Zäsur. Er, als erster russischer Herrscher, bekannte sich offen zu westlichen Lebensformen und verband unter Ausblendung der Frage der Konfession alles Westliche mit einer positiven Konnotation.

4. Träger der Diskursivierung von Wissen aus dem Westen im 18. Jahrhundert 4.1 Personen 4.1.1 Die Reise zu den Orten des Wissens: Zar und russischer Adel Die Diskursivierung von Wissen aus dem Westen begann schon mit dessen Aufnahme durch persönliche Anschauung des Zaren, zuerst durch seinen für die Umgebung höchst überraschenden und befremdlichen Besuch in der Moskauer Ausländervorstadt 1690, der symbolisch mit der Distanz gegenüber den im Lande weilenden Ausländern aus dem Westen brach, dann um vieles stärker aufgrund der Reise durch Deutschland in die Niederlande und England 1697/98. Bei seinen weiteren Reisen traf er 1711, 1712 und 1716 mit Leibniz zusammen, der schon seit der ersten Europa-Reise des Zaren seine Aufmerksamkeit auf dessen Projekte gerichtet hatte. Wie er ausführte, konnte der Zar bei seiner Reformpolitik von einer tabula rasa ausgehen. Gewiss hatte Leibniz Recht in dem Sinne, dass Peter im Gegensatz zu reformwilligen Herrschern in Westeuropa keine Rücksicht auf historische Gewachsenheiten nach westlicher Tradition nehmen musste. Doch irrte Leibniz, wenn er unterstellte, dass Peter auf überhaupt keine Traditionen Rücksicht nehmen musste.37 Denn manches, was als neu gemeint war und eine aus dem Westen entlehnte Bezeichnung trug, knüpfte doch zugleich an ältere russische Einrichtungen an, so die

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So sehr man betonen mag, wie wenig das 17. Jahrhundert noch der altrussischen Ära zuzurechnen ist, wie weit die Isolierung gegenüber dem Westen schon aufgebrochen war und dass bereits das 17. Jahrhundert für Russland den Beginn der Neuzeit markiere – so Hans-Joachim Torke: The Significance of the Seventeenth Century. In: Russische und Ukrainische Geschichte vom 16.18. Jahrhundert. Hg. von Robert O. Crummey, Holm Sundhaussen und Ricarda Vulpius. (Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 58) Wiesbaden 2001, S. 13-20, insbes. S. 20, und ähnlich in seinen früheren Publikationen –, es bleibt doch die Zäsur des offenen Bekenntnisses zur Übernahme westlichen Wissens erst seit Peter dem Großen. Ernst Benz: Leibniz und Peter der Große: der Beitrag Leibnizens zur russischen Kultur-, Religions- und Wirtschaftspolitik seiner Zeit. Berlin 1947; Mechthild Keller: Wegbereiter der Aufklärung. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Werk für Peter den Großen und sein Reich. In: Russen und Russland aus deutscher Sicht. 9.-17. Jahrhundert. Hg. von Mechthild Keller. (West-östliche Spiegelungen A 1) München 1985, S. 391-413.

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Petersburger Kollegien – ihrerseits Vorläufer der modernen Ministerien – an die prikazy, die alten, im Anspruch nach Kompetenzbereichen oder Regionen gegliederten Behörden in Moskau. Zum einen waren die Kavaliersreisen junger russischer Adliger im 18. Jahrhundert Teil der aus dem Westen entlehnten Adelskultur, zum anderen dienten sie als Lernreisen, so wie nun russische Studenten an westeuropäische Universitäten kamen: Jeder sollte nach seiner Rückkehr als Vermittler des erworbenen Wissens wirken.38 4.1.2 Ausländer als Überbringer des neuen Wissens Die Anwesenheit von Ausländern aus Westeuropa war nun explizit erwünscht und wurde gefördert. Handwerker, Ärzte und Kaufleute sollten ihr Wissen anwenden und es weitergeben. Ausländern fiel auch eine bedeutende Rolle bei der Stadtwerdung des 1703 gegründeten, 1711 zur Residenz erklärten St. Petersburg zu. Das im Vergleich zu Moskau oder anderen alten russischen Städten fremde Stadtbild selbst diente als Vermittlung von Wissen über die westliche Stadt.39 Noch blieb die Präsenz der Ausländer aus dem Westen allerdings auf die Zentren, vor allem auf die großen Städte beschränkt. Erst Katharina II. nutzte Kolonisationspolitik als Teil der Herrschaftspraxis im aufgeklärten Absolutismus ähnlich wie zur gleichen Zeit Friedrich II. von Preußen oder die österreichischen Herrscher Maria Theresia und Joseph II. Erstmals 1763 rief Katharina II. Kolonisten ins Land. Doch über eine punktuelle Agrarmodernisierung konnte die Siedlungspolitik nicht hinausführen, gingen die Siedler doch in bisher agrarisch kaum erschlossene Gebiete, und soweit hier auch autochthone bäuerliche Bevölkerung siedelte, waren die Kolonisten schon wegen des Konfessions- und Sprachunterschiedes weitgehend von ihr getrennt und zudem nicht der modernisierungsfeindlichen Leibeigenschaft unterworfen.40 Ausländer wirkten seit der Zeit Peters des Großen als Architekten. Die unter ihm und seinen Nachfolgerinnen erbauten großen Schlösser in Petersburg und seiner Umgebung sind alle von italienischen Architekten entworfen; nur die Planung des jüngsten Schlosses, Pavlovsk aus der Zeit Zar Pauls des I., ist das Werk eines in London geborenen Schotten, Charles Cameron. __________ 38 39

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S. A. Kozlov: Russkij putešestvennik ėpochi Prosveščenija. Sankt-Peterburg 2003, einschließlich der Publikation ausgewählter Reiseskizzen und -tagebücher. Zu der ambivalenten Haltung gegenüber Petersburg als das Russland Angemessene oder als das Fremde im 18. Jahrhundert vgl. Reinhard Lauer: Puschkins Petersburg. In: Orte der Literatur. Hg. von Werner Frick. 2. Aufl. Göttingen 2003, S. 124-149. Vgl. als Überblick zum Beispiel Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft. Stuttgart 1986; Hans Hecker: Die Deutschen im Russischen Reich, in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten. 2. Aufl. Köln 1998; Alfred Eisfeld: Die Russland-Deutschen. 2. Aufl. München 1999.

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Zu den Ausländern, die seit dem 18. Jahrhundert im Lande willkommen waren,41 gehörten auch Wissenschaftler, die ihr Wissen aus dem Westen für die Umgestaltung Russlands einbringen und weiterreichen sollten. Genannt seien Gerhard Friedrich Müller (1705-83)42, Samuel Gottlieb Gmelin (1744-74) und August Ludwig von Schlözer (1735-1809). Neben dem Aufbau der Wissenschaftsorganisation nach westlichem Vorbild sind mit den Namen auch Forschungsexpeditionen und die Begründung der Historiographie verbunden.43 Christian Wolff folgte zwar nicht der Einladung nach Petersburg an die Akademie, wirkte jedoch aus der Ferne als Ratgeber bei der Berufung von Mitgliedern in die Akademie.44 Diderot, mit dem Katharina II. ebenso wie mit Voltaire in Korrespondenz stand und der einen allerdings geradezu utopischen und nicht umgesetzten Bildungsplan für das Russische Reich entwarf, hielt sich 1773/74 auf Einladung der Zarin in Petersburg auf.45 Auch solche persönlichen Begegnungen lassen sich als Diskursivierung von Wissen verorten, sei es bezogen auf die Inhalte der Gespräche, sei es bezogen auf das Wissen um die Regeln der gelehrten Kommunikation. 4.2 Territorien als Träger des neuen Wissens Mit der Gewinnung der bis dahin zu Schweden gehörigen Ostseeprovinzen Estland und Livland im Großen Nordischen Krieg 1710 und rechtlich sanktioniert im Frieden von Nystad 1721 gewann der Zar ein ganzes Territorium, das ,westlich‘ geprägt war. Nun folgte nicht etwa der Versuch, die Verhältnisse dort denen in den zentralen Gebieten des Russischen Reiches möglichst anzugleichen, vielmehr übernahm der Zar vorgefundene Institutionen wie die städtische Selbstverwaltung als Vorbild und nutzte dort vorhandenes Wissen für die Umgestaltung seines Reiches. Von den Ressourcen an Fach__________ 41 42

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Auch Christian Friedrich Weber beklagte die weiterhin wirksame Fremdenfeindlichkeit; Weber: Das veränderte Russland (wie Anm. 3), Blatt a3 verso. Vgl. zu ihm den Forschungsbericht von Peter Hoffmann: Der deutsche Russlandhistoriker Gerhard Friedrich Müller. Bericht über anlässlich seines 300. Geburtstages erschienene Literatur. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 57 (2009), S. 86-95; und Peter Hoffmann: Gerhard Friedrich Müller (1705-1783). Historiker, Geograph, Archivar im Dienste Russlands. (Herforder Forschungen 19) Frankfurt a.M. u. a. 2005. Überblick zu den Forschungsexpeditionen bei Dittmar Dahlmann: Sibirien. Vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn u. a. 2009, S. 105-142. Christian Wolff: Briefe von Christian Wolff aus den Jahren 1719-1753: ein Beitrag zur Geschichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg. St. Petersburg 1880 (ND Hildesheim 1971). Vgl. Maurice Tourneux: Diderot et Cathérine II. Paris 1899; Denis Diderot: Mémoires pour Cathérine II. Texte établi d’après l’autographe de Moscou par Paul Vernière. Paris 1966; Georges Dulac: Dans quelle mesure Catherine II a-t-elle dialogué avec Diderot? In: Catherine II et l’Europe. Hg. von Anita Davidenkoff. (Collection historique de l’Institut d’études slaves 38) Paris 1997, S. 149-161.

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personal aus den Ostseeprovinzen sollte das Ancien Régime bis ans Ende des Reiches 1917 profitieren.46 4.3 Institutionen Einrichtungen konnten zu Orten der Diskursivierung von Wissen werden, angefangen von ihrer eigenen inneren Organisation nach dem Muster westlicher Vorbilder. Hierzu gehören der Hof, neue Behörden und die Anfänge eines säkularen Schulwesens. Letzteres erfuhr allerdings erst in der Zeit Katharinas II. einen weiterreichenden Ausbau. Über die Förderung des Fremdsprachunterrichtes einschließlich der klassischen Sprachen erhielten mehr Menschen Zugang zu Wissen, das nur über den Diskurs in diesen Sprachen zugänglich war.47 Im Jahr 1725 gründete Peter der Große, der Anregung von Leibniz folgend, eine Akademie der Wissenschaften nach dem Vorbild der jungen Berliner Akademie und der Académie française, deren außerordentliches Mitglied der Zar seit seinem ParisAufenthalt 1717 war. Im 18. Jahrhundert waren die Mitglieder großteils noch NichtRussen, von den 108 bis zum Jahr 1800 Berufenen waren nur 24 Russen, unter ihnen der Sprachreformer und Dichter Lomonosov.48 Die Akademie umfasste drei Klassen: eine mathematische, eine physikalische und eine humanistische. So wie es später an der 1755 gegründeten Moskauer Universität und den jüngeren Gründungen keine theologische Fakultät gab, fehlte an der Akademie eine theologische Klasse. Es bestand geradezu die Prämisse der Unvereinbarkeit des westlichen gelehrten Diskurses mit dem Selbstverständnis der Orthodoxen Kirche, die ihrerseits als Ausbildungsstätten die Geistlichen Akademien in Anknüpfung an die geistlichen Schulen des 17. Jahrhunderts aufbaute. Erst im 19. Jahrhundert entwickelten sich auch die Geistlichen Akademien zu Orten großer Gelehrsamkeit, vor allem im Bereich der Kirchengeschichte und Geschichte der geistlichen Literatur in der orthodoxen Welt. Es mag indikativ sein, dass anders als im Westen die Akademiegründung der Gründung der ersten Universität vorausging: Auch wenn sich schon die Akademie neben der Forschung auch der Lehre verpflichtet sah, wurde erst mit der Gründung der Universität Moskau 1755 das Anliegen deutlich, Gelehrsamkeit im westlichen Verständnis auch in der einheimischen Bevölkerung zu verbreiten und hier planvoll Nachwuchs zu schaf__________ 46

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Dass am Ende des 19. Jahrhunderts, parallel mit der Tendenz zur Umwandlung des russischen Imperiums zum Nationalstaat der Russen, auch in den Ostseeprovinzen eine Russifizierungspolitik begann, sei hier, da jenseits des Themenzeitraumes, nur angemerkt. Zum Schulwesen vgl. Jan Kusber: Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung. (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 65) Wiesbaden 2004. Zu ihm Lew Kopelew: Lomonosov – ein streitbarer Kollege. In: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 18. Jahrhundert. Aufklärung. Hg. von Dagmar Herrmann. (West-östliche Spiegelungen B 2) München 1989, S. 155-189.

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fen.49 Der Primat der Akademie als Forschungseinrichtung vor den Universitäten hat sich in der russischen Tradition gehalten, ist in das Sowjetsystem eingegangen und hat sich in der Wissenschaftsorganisation der anderen sozialistischen Staaten nach 1945 fortgesetzt. Neben Akademie und Universität sollte man als Mittel der Diskursivierung im 18. Jahrhundert auch die gelehrten Gesellschaften erwähnen, darunter am bedeutendsten die 1765 gegründete Freie ökonomische Gesellschaft.50 4.4 Texte und Wörter als Träger des neuen Wissens Der Buchdruck hatte im Moskauer Reich verhältnismäßig spät, erst 1559 Eingang gefunden, und in der Zeit bis 1700 waren gerade 500 Titel erschienen. In den Jahren der Herrschaft Peters des Großen kam es zu einer geradezu explosionsartigen Zunahme: Von 1700 bis 1725 erschienen 1.312 Titel, davon waren nur noch 23,5%, 308 Titel, religiösen Inhaltes. Der jährliche Papierverbrauch verzehnfachte sich. Während früher alles Papier importiert wurde, wurde der erhöhte Bedarf fast ausschließlich durch den Aufbau neuer heimische Produktion ermöglicht. Unter den Büchern finden sich auch zahlreiche Übersetzungen, darunter russische Briefformulare nach deutschem Muster.51 Die Verwestlichung des Bildungshorizontes wurde dabei mit der Einführung der „bürgerlichen Schrift“, graždanskij šrift,52 auch graphisch kenntlich gemacht. Bei dieser Reform ging es nicht um eine Veränderung des Bestandes an Graphemen, vielmehr um ihre Gestalt. Die kyrillischen Lettern wurden in ihrem Aussehen soweit wie möglich den Großbuchstaben der lateinischen Antiqua angepasst. Nur im Bereich der kirchlichtheologischen Literatur einschließlich aller Gottesdienstbücher blieb die alte UstavSchrift als Zugeständnis an die Tradition, doch zugleich auch als Zeichen der Ausgrenzung.53 __________ 49

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Cornelia Buschmann: Akademie und Universität. Zwei Seiten einer Idee. In: Russische Aufklärungsrezeption im Kontext offizieller Bildungskonzepte (1700-1825). Hg. von Birgit Scholz u. a. Berlin 2001, S. 169-182. Erik Amburger: Die Gründung gelehrter Gesellschaften in Rußland unter Katharina II. In: Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Wissenschaftliche Gesellschaften, Akademie und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Hg. von Erik Amburger, Michał Cieśla, László Sziklay und Heinz Ischreyt. (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa 3) Berlin 1976, S. 259-270. James Cracraft: The Petrine Revolution in Russian Culture. Cambridge, MA 2004, S. 259-260; Gabriele Scheidegger: Studien zu den russischen Briefstellern des 18. Jahrhunderts und zur „Europäisierung“ des russischen Briefstils. (Slavica Helvetica 14) Bern/Frankfurt a.M./Los Angeles 1980. Entsprechend dem Auslaut des Wortes „Schrift“ mit einem Konsonanten als Fremdwort in das im Nominativ endungslose Maskulinum der russischen o-Deklination übernommen. Vgl. die Abbildung einer Mustertafel mit Korrekturen Peters des Großen entnommen aus Cracraft: The Petrine Revolution (wie Anm. 51), S. 273.

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Abb.: Musterdruck von 1709 aus der Moskauer Typographie mit Streichungen durch Peter den Großen. Überschrift: „Darstellung der alten und neuen slavischen Druck- und Handschriftbuchstaben“. Überschrift und Buchstabennamen rechts noch in der alten Druckschrift.

Im Rahmen von Fachübersetzungen, anlässlich von Verwaltungsreformen, beim Aufbau der Wissenschaftsorganisation, im Bereich von Heerwesen und Marine wurde eine große Zahl von Fremdwörtern aus dem Deutschen, Niederländischen, Französischen und Lateinischen eingeführt.54 Bald traten auch Lehnübersetzungen hinzu, zum Beispiel nasekomoe für insectum.55 Die neuen Wörter dienten zur Bezeichnung der Sache oder des Sachverhaltes und zugleich zur Kennzeichnung der Sache als neu. Der Bestand an Fremdwörtern erwies sich als Arsenal von Wissen über die Ordnung der Welt nach westlichem Muster. Als Letztes seien an dieser Stelle zwei programmatische Schriften angesprochen, die per se der Diskursivierung von Wissen dienten: 1721, in dem Jahr, als Peter der Große __________ 54

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Cracraft: The Petrine Revolution (wie Anm. 51), S. 377-485 (Appendix II: Words), S. 15; zur Aufnahme von Fremdwörtern im 18. Jahrhundert auch Gerta Hüttl-Worth: Die Bereicherung des russischen Wortschatzes im 18. Jahrhundert. Wien 1956; Anatole Bond: German Loanwords in the Russian Language of the Petrine Period. (Europäische Hochschulschriften XVI 5) Bern/Frankfurt a.M. 1974; A. P. Vlasto: A Linguistic History of Russia. Oxford 1986, S. 284-299; S. 280-284 über Wörter aus dem Lateinischen und anderen westlichen Sprachen, die schon im 17. Jahrhundert über das Polnische ins Russische gelangten. Nicht ganz korrekt, da anstelle des Partizips Perfekt Passiv das Partizip Präsens Passiv steht. Speziell zu diesem Wort V. V. Vinogradov: Istorija slov. Okolo 1500 slov i vyraženij i bolee 5000 slov, s nimi svjazannych. Hg. von N. Ju. Švedova. Moskva 1999, S. 788-789.

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auch, wie oben im Zusammenhang mit den Fresken im Aleksandr Svirskij-Kloster erwähnt, das Patriarchat als kirchliches Oberamt aufhob und durch den Heiligen Sinod ersetzte, veröffentlichte der Theologe Feofan Prokopovič (1681-1735) das „Geistliche Reglement“. Die neue Durchlässigkeit der Grenze zwischen den Diskursen spiegelt sich auch in der Biographie des Autors wider: In Kiev als Sohn einer orthodoxen Kaufmannsfamilie geboren, ging Prokopovič nach Rom zum Studium und trat dort zum Katholizismus über. Nach seiner Rückkehr nach Kiev rekonvertierte er zur Orthodoxie, wandte sich jedoch zugleich vom traditionellen orthodoxen Kirchenverständnis ab und stand bald im Ruf eines Sympathisanten des Protestantismus. Als Berater Peters des Großen in der Kirchenpolitik vertrat er den Anspruch der weltlichen Gewalt, die Kirche dem Staatszweck dienstbar zu machen und sie, wie im „Geistlichen Reglement“ ausgearbeitet, als einen Träger der Sozialdisziplinierung zu nutzen.56 Anlässlich der Einberufung einer Gesetzgebenden Kommission zur Ablösung des Uloženie, des Gesetzbuches von 1649, durch ein neues Gesetzbuch verfasste Katharina II. 1767 ihre Große Instruktion. Sie selbst schrieb den Text auf Französisch. Neben der Publikation in dieser Sprache erschienen fast zeitgleich eine russische, deutsche und lateinische Übersetzung. Gedacht war die Instruktion als Arbeitsgrundlage für die Kommission. Nach außen erscheint der gesamte Text als das eigene Werk der Kaiserin, doch große Teile sind aus Montesquieus Werk De l’esprit des lois, „Über den Geist der Gesetze“, und aus dem Werk von Cesare Beccaria Dei delitti e delle pene, „Über Verbrechen und Strafen“, wörtlich übernommen. Gerade die einleitenden Abschnitte hat die Zarin aber selbst verfasst und hier ihr Herrschaftsverständnis ausgeführt: I. Kapitel […] 6. Rußland ist eine Europäische Macht. 7. Hier ist der Beweis davon. Die Veränderungen, die Peter der Große mit Rußland vorgenommen, haben einen um so viel glücklichern Erfolg gehabt, weil die Sitten der damaligen Zeiten gar nicht dem Klima gemäß und uns durch die Vermischung verschiedener Völker, und durch die Eroberung fremder Länder, zugebracht worden waren. Da Peter der Erste Europäische Sitten und Gebräuche bei einem Europäischen Volke einführte, fand er dasselbe hiezu aufgelegter, als er selbst je vermutet hatte.57

Folgt man diesen Ausführungen, war vor den Reformen Peters des Großen das Wissen um die natürliche Zugehörigkeit Russlands zu Europa verschüttet; die einzige Beson__________ 56

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Igor Smolitsch: Geschichte der russischen Kirche 1700-1917. Bd. 1. (Studien zur Geschichte Osteuropa 9) Leiden 1964, S. 57-132; Klaus Zernack (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands. Bd. 2, I. Stuttgart 1986, S. 333-340; Cracraft: The Petrine Revolution (wie Anm. 51), S. 172-181. Katharinae der Zweiten Kaiserin und Gesetzgeberin von Rußland Instruction für die zur Verfertigung des Entwurfs zu einem neuen Gesetzbuche verordnete Commißion. Riga und Mitau 1769, S. 4-5. – Übersetzung durch August Ludwig Schlözer unter dem Pseudonym M. Haigold.

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derheit liegt der Zarin zufolge in der Größe des Landes, das, wie hier apodiktisch festgestellt, eines besonders starken Herrschers bedürfe. Die Instruktion diente geradezu zur staatsbürgerlich-philosophischen Erziehung der Delegierten in der Kommission, doch deren Arbeit scheiterte kläglich. Zu groß zwar die Diskrepanz zwischen dem abstrakten Anspruch der Zarin und den von den Delegierten mitgebrachten Instruktionen, in denen es um die großen und kleinen Sorgen der verschiedenen Stände und Regionen ging.58 Der Ausbruch des russisch-türkischen Krieges 1768 gab den willkommenen Anlass, die Arbeit der Kommission einzustellen.59

5. Ein langer Weg So haben wir die Diskursivierung von Wissen aus Westeuropa im frühneuzeitlichen Russland als Prozess kennengelernt, der schon eingesetzt hatte, als der Westen wegen des Konfessionsunterschiedes noch als das eigentlich Abzulehnende angesehen wurde, und hierdurch waren der Übernahme von Wissensbeständen noch Grenzen gesetzt. Die Herrschaftszeit Peters des Großen bildet nicht nur dadurch eine Zäsur, dass nun die Verwestlichung des Reiches zum Programm erhoben wurde, sondern auch dadurch, dass bereits eine große Vielfalt an Trägern der Diskursivierung von Wissen aus Westeuropa präsent war. Für das 18. und 19. Jahrhundert hat man als Merkmal des russischen Imperiums vielfach auf die Gespaltenheit des Reiches zwischen Zentrum und Peripherie, urbaner und ländlicher Welt, verwestlichten Funktionseliten und Schichten mit traditionellen Lebensformen verwiesen. In dieser Gespaltenheit spiegeln sich auch die Grenzen der Diskursivierung des neuen Wissens, wobei noch offen bleibt, ob die vorgegebenen Grenzen die Vermittlung aufgehalten haben oder, wie Skeptiker gegenüber dem Projekt Peters des Großen noch heute sagen würden, ob das Streben nach Durchsetzung des neuen Wissens diese Grenzen erst geschaffen hat.

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Am Deutschen Historischen Institut in Moskau ist ein von Ingrid Schierle geleitetes Projekt „Adliges Leben und Adelskultur in der russischen Provinz im 18. Jahrhundert“ in Arbeit, das über die Neuedition der Instruktionen hinaus auch an drei Beispielsgouvernements, Moskau, Tula und Orel, mit Hilfe der Einbeziehung weiterer Quellen prüfen will, welche genauen Sachverhalte sich hinter den Instruktionen verbergen. Vgl. (aufgerufen am 26. Feb. 2010). Zur Instruktion und zur Arbeit der Kommission vgl. Klaus Zernack (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands. Bd. 2, II. Stuttgart 2001, S. 713-751, 853-857.

Dirk Westerkamp Grund oder Gabe? Thesen zur frühneuzeitlichen Verwandlung der Wahrheitssemantik

1. Wahrheit als Grund eines europäischen Selbstverständnisses? Lange vor den aktuellen Debatten um die kulturelle Identität der EU-Verfassung und der europäischen Integration hat der französische Philosoph Jean-Luc Marion Europa als Kultur der Wahrheit bestimmt. Reizvoll scheint die Idee, weil sie Europas fragiles Selbstverständnis nicht von politischen Abkommen, geographischen Grenzen oder militärisch-ökonomischen Allianzen abhängig macht, sondern von seiner „geistigen Bestimmung“ der Wahrheit.1 Allerdings ist der intellektuelle Esprit, den Marions streitbare These verrät, mit jenem neuthomistischen Alarmismus gepaart, der vor einer nihilistischen Entkernung der Wahrheitssemantik warnt. In der Regel lautet die Klage, dass mit dem rationalistischen Wahrheitsverständnis der Neuzeit und dem empiristisch-positivistischen der Moderne das Wahrheitsproblem auf die Frage nach Gewissheit reduziert und die Semantik der Gabe abgestoßen worden sei. Evidenz für eine solche Behauptung wird man allerdings kaum aus der festen Bedeutung oder Ontologie eines ,europäischen‘ Wahrheitsbegriffs gewinnen. Sein semantischer Kern besitzt keine atomare Struktur. Vereinheitlichend haben allenfalls wissenschaftstheoretische und sprachanalytische Reduktionismen gewirkt, die aus nachvollziehbaren Gründen einem wahrheitstheoretischen Relativismus entgegentraten, um dann freilich ins andere Extrem zu fallen. Dieses Pendeln zwischen Reduktionismus und Relativismus als Reaktionsbildung auf William James’ und Nietzsches pragmatistische Sinnkritik gehört zu den geschichtlichen Erfahrungen, die das moderne Wahrheitsverständnis so nachhaltig historisiert, diskursiviert und propositionalisiert – mit einem Wort: detranszendentalisiert – haben, dass jede Vorstellung einer nicht gewordenen, sondern zeitlos gegebenen Wahrheit aus ihrem verwissenschaftlichen Begriff getilgt wurde. In den empirischen Wissenschaften hat sich eine Forschungslogik durchgesetzt, für die der höchste Grad der Wahrheit eine __________ 1

Vgl. Jean-Luc Marion: Vérité dans l’historie européenne: don ou fondement? In: Das europäische Erbe und seine christliche Zukunft. Hg. von Nikolaus Lobkowicz. Köln 1985, S. 342-347, hier S. 342.

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Gewissheit vorläufigen Rechthabens ist, die sich auf wenig mehr als die provisorische, zeitweilige und relative Nichtfalsifizierbarkeit ihrer Ergebnisse berufen kann. Mit der Frage nicht nach dem Wesen, sondern den Bedingungen wahrer Aussagen, hat sich dann seit der linguistischen Wende die empiristisch heruntergestufte Wahrheitssemantik noch einmal von Seinswahrheit auf Satzwahrheit reduziert, deren Gegenstand die Prüfung assertorischer Sätze ist. Es dürfte, vorsichtig gesagt, schwierig sein, philosophisch hinter die moderne Detranszendentalisierung der Wahrheit und ihre Verwandlung vom Substanz- zum Funktionsbegriff zurückzugehen, um die Wahrheitssemantik der Gabe wiederzubeleben. Allerdings ist das Feld nicht wissenschaftspragmatischen Denkverboten überlassen, und die Fragen, die Marions Kritik aufwirft, verdienen mehr als nur philosophiehistorische Aufmerksamkeit. Dafür spricht, dass seine Rückbesinnung weniger in dem salto mortale in neuthomistische Gewissheiten als im Aufdecken der Aporien besteht, in die sich ein auf den Aspekt rationaler Begründbarkeit beschränkter Wahrheitsbegriff zu verstricken droht. Marion verknüpft die thomasische Gnadenlehre mit einer poststrukturalistischen Philosophie der Gabe, aus deren terminologischem Archiv er unbefangen schöpft, und bestimmt Wahrheit als Ereignis, das sich unserer Verfügbarkeit und Legitimierung durch Gründe zuletzt entzieht. Insofern sich Wahrheit ereignet, weil sie gibt, ohne etwas zurückzuhalten oder Gegengabe zu erwarten, kann sie auch nicht als Wert fixiert werden. Folglich kann Wahrheit nicht entwertet oder verfremdet werden, weil sie ein für allemal erbracht wurde und uns vor die Entscheidung stellt, ob wir sie leugnen, annehmen oder ablehnen wollen. Gänzlich prämodern wirkt dieses Wahrheitsverständnis nur deshalb nicht, weil Marion trotz allem nicht einfach eine göttliche Gabe beschwört, sondern den Wahrheitsbegriff im Widerschein seiner Aporien aufsucht und noch den positivistischen und phänomenologischen Mythos des originären Gegebenseins der Phänomene als Schwundstufe der Semantik der Gabe aufdeckt. Man kann das neuthomistische Argument bestreiten, dass die Reduktion von Wahrheit auf Gewissheit und Begründbarkeit in einen hartnäckigen Nihilismus führe, der entsteht, weil immer dort, wo sich kein Grund angeben oder kein Konsens erzielen lässt, Grundlosigkeit droht. Man kann auch die Restitution des Wahrheitsbegriffs der Gabe, je nach Perspektive, für unterbestimmt oder überpointiert halten, doch sie gibt in zwei Richtungen zu denken. Zum einen als Frage, ob die wahrheitssemantische Unterscheidung von Grund und Gabe eine systematische Perspektive aufzeigt und Wahrheit auch anders denn als Grund denken lässt; zum anderen, ob die Behauptung ihrer Disjunktion als (philosophie)historische These plausibel ist. Die erste Behauptung wird bereits durch unsere alltagssprachliche Praxis relativiert, die recht unproblematisch vom Gründe geben spricht und damit zwei absolute Metaphern verschränkt. Sie verweist zugleich auf den Umstand, dass die terminologische Trennung von Grund und Gabe einen sprachlichen Zirkel verschärft, der auch schon ihre Verknüpfung kennzeichnet. Fingieren wir, wenn wir die Wahrheit als begründungslos und gegeben bestimmen, nicht doch einen Grund, nämlich die Gabe selbst? Fundiert man nicht den Begriff der Wahrheit

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durch den Begriff der Gabe genau damit, dass man aus ihr einen letzten Grund macht? Gegen den historischen Gehalt der These sprechen Wandlungsetappen der europäischen Wahrheitssemantik, die Marion paradoxerweise gerade durch seine philologisch nuancierte historische Rekonstruktion von Platon bis Nietzsche zu verfehlen droht. Vor allem scheint seine Analyse eine entscheidende Scharnierstelle zu überspringen: die frühneuzeitliche Verwandlung des Wahrheitsbegriffs. Statt der suggestiven These, das europäische Wahrheitsverständnis stünde vor einer Entscheidung zwischen Grund oder Gabe, sollte die philosophiehistorische Forderung erhoben werden, sowohl die Verbindung als auch die Trennung der Wahrheitssemantik von Grund und Gabe zu historisieren. Zu zeigen wäre, dass sie erst ab einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt systematisch zusammengefunden und sich später wieder aus ihrer Verklammerung gelöst haben. Man könnte den neuralgischen Punkt dieser Ablösung in der Terminologie Ernst Cassirers als Scharnierstelle zwischen hierarchischem und rationalistischem Wahrheitsbegriff beschreiben. Während der hierarchische Wahrheitsbegriff der griechischen und mittelalterlichen Philosophie das menschliche Wissen dazu anhielt, über sich hinaus zu gehen und seinen Grund in einem unbedingten, absoluten Wissen aufzusuchen, regiert den rationalistischen Wahrheitsbegriff der Neuzeit das Ideal methodischer Gewissheit, die die menschliche Vernunft dazu anhält, in sich zu gehen. Zwar orientiert sich noch in der Renaissance die Rangordnung der Wissenschaften am Prinzip der Gottnähe. Doch Cassirer zeigt, wie sie mit Leonardo ein neues „Gesamtideal der Erkenntnis“2 findet, das die verfahrenstechnisch abgesicherte Teilwahrheit begrifflicher Konstruktion und Spekulation vorzieht. Der positivistische Wahrheitsbegriff der nachhegelschen Moderne vollzieht demgegenüber noch einmal eine Wendung, indem er allen vérités éternelles misstraut und allein die vérités de fait gelten lässt. Wahrheit wird als Einheit des Wissens in der Erfahrung aufgesucht. Das positivistische Wahrheitsideal erschließt überhaupt erst den ganzen Reichtum der Faktizität, bezahlt seine Erkenntnisse jedoch mit einem eindimensionalen Methoden- und Wissenschaftsprinzip, dessen Preisgabe des Ideals der Ganzheit des Wissens in der unaufhaltsamen Spezialisierung und Departmentalisierung der Disziplinen und Gegenstandsbereiche voranschreitet. Der positivistisch-empiristische Wahrheitsbegriff findet seine Einheit nicht im Prinzip der göttlichen Gabe oder der begründenden Methode, sondern in dem Gegebensein induktiv gewonnener und methodisch abgleichbarer Daten. Mit dieser Typologie der Wahrheitsbegriffe hat Ernst Cassirer nicht nur auf ihre Geschichtlichkeit hinweisen wollen, sondern auch für den Eigensinn der verschiedenen Wissenskulturen argumentiert, deren Methoden nicht über den Leisten eines naturwissenschaftlichen Erkenntnisideals zu schlagen sind: „alles Faktische erhält seinen klar __________ 2

Ernst Cassirer: Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs (1929). In: ders.: Gesammelte Werke (im Folgenden: ECW). Hg. von Birgit Recki. Bd. 17. Hamburg 2004, 342-359, hier S. 346.

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bestimmten Sinn erst durch die Bedeutungszusammenhänge, in denen es steht, und durch die Bedeutungskategorien, die es formten.“3 Und wissenschaftshistorisch gibt Cassirers Deutung der epochalen Übergänge des Wahrheitsverständnisses den entscheidenden Wink, genauer auf die Schnittstelle zwischen scholastischem und neuzeitlichem Wahrheitsbegriff zu sehen. Erste These: Die europäische Philosophie sammelt sich in ihrer zweiten, der sog. mittelalterlichen Epoche auf den Wahrheitsbegriff. Ihre scholastischen Strömungen führen die Semantik des Grundes (verstanden als rationale und propositionale Begründungsfähigkeit wahrer Aussagen) mit der Semantik der Gabe (verstanden als Gegebensein, Offenbarkeit, Ereignis oder Evidenz des Wahren) zusammen. Philosophie denkt die Wahrheit als Grund, Religion als Gabe. Entsprechend können Diskursivität und Offenbarkeit der Wahrheit nur dort zusammengehen, wo Philosophie und Religion systematisch zusammengedacht werden. Diese Verklammerung, deren Reflex in der mittelalterlichen Synthese von Glauben und Vernunft zutage tritt, ist allerdings selbst so geschichtlich wie ihre schrittweise Auflösung im Denken der Frühen Neuzeit. Wer von einem ,europäischen‘ Wahrheitsbegriff spricht, wird ihn nur in seiner Pluralität und Geschichtlichkeit, in den Etappen seiner Verwandlung, aufsuchen können. Und man wird diese Etappen zugleich als Phasen der Verwandlung unseres kulturellen Selbstverständnisses zu interpretieren haben.

2. Die natürliche Vernunft der Frühen Neuzeit und ihr epistemischer Rückkopplungseffekt Die Einheit der Wahrheitssemantik von Grund und Gabe konnte nur dort gewonnen werden, wo der christliche, jüdische und arabische Aristotelismus des Mittelalters Schöpfungstheologie und Offenbarungswissen nicht nur mit den rationalen Ansprüchen der logisch-wissenschaftlichen, sondern auch der natürlichen Vernunft (ratio naturalis) zu versöhnen suchte. Vor allem sind die großen Summen des Thomas von Aquin systematische Synthesen des Glaubens und der Vernunft, in denen Licht der Gnade (lumen gratiae) und natürliches Licht (lumen naturale) ineinander scheinen. So sehr jedoch die natürliche Vernunft einen gemeinsamen Erkenntnisboden bereitet, so wenig konnte sie der hochscholastischen Philosophie selbst zum Erkenntnisideal werden. Zwar geht die natürliche Vernunft in ihrem Begründen von der Wahrnehmung aus (Summa theologiae I, 2, 2, ad 1)4 und erschließt den Glauben aus der wahrnehmbaren Natur (Summa __________ 3 4

Ebd., S. 356. Die hier behandelten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren werden nach folgenden Ausgaben zitiert: Thomas von Aquin: Opera omnia iussu Leonis XIII P. M. Edita (Leonina). Rom 1886ff.; Wilhelm von Ockham: Opera philosophica. Hg. unter der Leitung des Franciscan Institute. St. Bonaventura/New York 1967ff. und ders.: Opera theologica. Hg. unter der Leitung des Francis-

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theologiae I, 12, 12, c), doch kann sie nicht die Glaubensartikel selbst, sondern allenfalls deren Prämissen herleiten. Noch weniger lässt sich durch natürliche Vernunft ein Verständnis der Trinität gewinnen (Summa theologiae I, 32, 1, c), deren Dogma für Nichtchristen keine Verbindlichkeit hat. Thomas von Aquin beharrt auf der Unüberwindlichkeit des Abstandes zwischen dem Urbild der Trinität und ihrem schwachen Abbild in unserer natürlichen Vernunft (Summa theologiae I, 93, 5, ad 3), die für sich allein nicht in der Lage ist, das Analogie- und Adäquationsverhältnis zwischen göttlicher Ursache und natürlich Verursachtem angemessen zu erkennen. Schon ein halbes Jahrhundert später beginnen sich die Akzente zu verschieben, wenn Wilhelm von Ockham in seiner Summa logicae (1323) erklärt, die Glaubensartikel könnten keinerlei Anspruch auf Prinzipialität im Beweisen und Schließen erheben, weshalb sich die Weltweisen „ausschließlich (praecise) an die natürliche Vernunft halten“ (Summa logicae III, 1, 1). Ein solcher Befund legt die Vermutung nahe, in der Aufwertung der ratio naturalis einen der Katalysatoren in der Entwicklung des frühneuzeitlichen Denkens und seiner Verwandlung der Wissenssysteme zu finden. Diese Verwandlung lockert nicht nur die thomasisch vermittelte Einheit von Vernunft und Glauben, Grund und Gabe, sondern emanzipiert auch die Naturerkenntnis von den strengen Vorgaben des Offenbarungswissens. Von dieser Verschiebung der natürlichen Vernunft, die eine Expansion empirischen Wissens begünstigt, konnten die Wissensordnungen und ihre akademischen Lehrformen nicht unberührt bleiben. Ihre Neubestimmung des semantischen und systematischen Felds, das sich in der Philosophie seit Platons Theaitetos um die Begriffe Meinung (doxa), Wissen (eidenai), Erkenntnis (epistêmê), Wahrheit (alêtheia) und Grund bzw. Begründung (logos) knüpfte, hat mit einem verwandelten Wissenschaftsverständnis die frühneuzeitliche Diskussion um das Verhältnis von Wahrheit und Wissen angeregt und der natürlichen Vernunft das Streben nach Gewissheit (certitudo) eingepflanzt. Insofern muss man die Emanzipation des empirischen und kosmologischen Wissens von der Natur, die fortschreitende Mathematisierung der Methode und die Verwandlung der natürlichen Vernunft im Zusammenhang sehen, um die Neubestimmung des Wahrheitsverständnisses im Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit angemessen zu verstehen. Wahrheitsbegriff und Wissensform stehen in einer Wechselbeziehung, die man als epistemischen „Ratchet“-Effekt bezeichnen könnte – ein Begriff, der nahe liegt, weil er in seinem ursprünglichen, kognitionswissenschaftlichen Kontext für eine systematisch ähnliche Wechselwirkungsdynamik steht. Anders als biologische Formen der Vererbung nehmen kulturelle Formen der Überlieferung keine dinglich-kausale Gestalt an, sondern müssen – als Bedeutungsphänomene – in der Regel aus sprachlich-performativen Tatsachen und Praktiken rekonstruiert werden. Sie besitzen eine kumulative Struktur, deren einzelne Stationen nicht mit na__________ can Institute. St. Bonaventura/New York 1967ff.; Nicolaus von Kues: Opera omnia. Kritische Heidelberger Ausgabe. Hamburg 1927ff.; Duns Scotus: Opera omnia. (Editio Vaticana) Rom 1950ff.

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turwissenschaftlicher Genauigkeit in Kausalbeziehungen aufgelöst, sondern nur mit Idealisierungen und Rückprojektionen erschlossen werden können. Michael Tomasello hat an der kollektiven und kumulativen Natur kultureller Evolution jenen „RatchetEffekt“ aufgezeigt, der dafür sorgt, dass Artefakte und Werkzeuge bzw. kulturelle Praktiken und soziale Rituale ihre unmittelbare funktionale Bestimmung langsam ausdehnen. Sie werden durch Imitationsleistungen sowohl weitertradiert als auch im Prozess der Überlieferung selbst signifikant verändert und auf eine andere Stufe gehoben, um neuen kommunikativen und kulturellen Bedürfnissen zu entsprechen. Der kulturelle „Ratchet-Effekt“ eröffnet neue „kognitive Räume“5 innerhalb einer allgemeinen Wissensüberlieferung, die zugleich virtuell jedem Individuum offen stehen, andere und neue Varianten eines Werkzeugs, einer sozialen Praxis oder wissenschaftlichen Idee zu erfinden oder zu variieren. Im Folgenden soll als epistemischer Ratchet-Effekt jene Entwicklung spezifisch frühneuzeitlichen Denkens verstanden werden, deren Rückkopplungsdynamik die Verwandlung der Wahrheitssemantik mit der Expansion und Neuordnung des Wissens vermittelt. Denn in der geschichtlichen Bewegung der Frühen Neuzeit beeinflusst die zunehmende Diskursivierung des Wissens den Wahrheitsbegriff in Form seiner Detranszendentalisierung, während der detranszendentalisierte Wahrheitsbegriff wiederum auf das Wissen und seine institutionalisierten Formen zurückwirkt. In der Frühen Neuzeit beschleunigt sich dieser Effekt wechselseitiger Verwandlung signifikant und lässt sich an drei zentralen Aspekten aufzeigen: (1) an der Verwandlung der Wahrheitssemantik, in der sich zwischen Duns Scotus und Descartes Grund und Gabe entkoppeln und den Unterschied von Wahrheit (veritas) und Gewissheit (certitudo) erzeugen. Innerhalb dieses Prozesses büßt das Prädikat verum den Status einer Transzendentalie ein; (2) an der Transformation der Wissensformen, die sich am auffälligsten dort verwandeln, wo ihre prominenten akademischen Gestalten der Quaestio, Expositio, Ordinatio oder der Summa absterben und durch offenere Formen wie den Trialogus oder die Meditationes ersetzt werden; schließlich (3) an der Transformation des Status von Wissen, in deren Prozess sich die (spät-)mittelalterliche Sacra scientia in das konjekturale Wissen einer Sacra ignorantia (Cusanus) und so in eine neue Erste Philosophie der natürlichen Vernunft (Descartes) verwandelt. Zweite These: Das systematische Hauptproblem des frühneuzeitlichen Denkens ist die Wechselwirkung von Wissens- und Wahrheitsbegriff. Sie beeinflussen sich in der Dialektik eines epistemischen „Ratchet-Effekts“ (M. Tomasello), der Wahrheit zum Kriterium der Wissensermittlung macht und die Expansion des Wissens wiederum auf den Wahrheitsbegriff zurückwirken lässt. Die kontinuierliche Zunahme frühneuzeitlichen Wissens ist durch drei Faktoren bedingt: Erstens durch den realen Zuwachs kosmologischen und naturwissenschaftlichen Wissens; zweitens durch die Veränderung der __________ 5

Michael Tomasello: The Cultural Origins of Human Cognition. Cambridge, Mass./London 1999, S. 39.

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Wissensformen, die sich verflüssigen und diskursivieren, weil sie sich einerseits zunehmend an die natürliche Vernunft und ihre Selbstanschauung wenden und andererseits die Expansion des Wissens zu einer Vergrößerung des Kreises der am Wissen Partizipierenden führt; drittens durch die bereits auf Aristoteles zurückgehende kategoriale Unterscheidung von natürlich Seiendem und menschlich geschaffenen Tatsachen – eine Unterscheidung, dessen volle Tragweite dem Denken der Frühen Neuzeit durch die Vermehrung des menschlich Geschaffenen erst vollkommen zu Bewusstsein kommt.

3. Das transzendentale Wahrheitsprädikat und die Sacra scientia Die Geschichte philosophischen Denkens kennt weder ewige Fragen noch ewige Antworten. Auch das Wahrheitsproblem ist geschichtlich, insofern es als Problem – d. h. nicht als Interesse am jeweils Wahren, sondern als Definition und Wesensbestimmung der Wahrheit – eigentlich erst in der zweiten, der sogenannten mittelalterlichen Epoche virulent wird. Die antike Philosophie konnte die Wahrheitssemantik noch getrost einer Nominaldefinition überlassen: „Von etwas, was ist, zu sagen (legein), dass es ist, oder von etwas, was nicht ist, zu sagen, dass es nicht ist, ist wahr“ (Aristoteles, Metaphysik IV, 7, 1011 b25–28). Spätestens dort aber, wo ein geoffenbarter Logos als „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14,6) auftritt, erweitert sich mit dem Wahrheitsanspruch auch die Bedeutung des Begriffs. Neben die Forderung des Begründens tritt die Erkenntnis des Gegebenseins alles Wahren. Durch diese Verklammerung wird die Wahrheitssemantik in einer Form transzendental (d. h. aller Erfahrung, Existenz und Sprache vorausgehend), die das antike Denken so nicht kannte. Als erste Stufe der Wahrheit kommt diese vorprädikative Offenbarkeit alles natürlich Seienden in den Blick. Auch Thomas’ Quaestiones disputatae de veritate (1256/7) gehen von der Begriffsunterscheidung der Transzendentalien aus, die nach scholastischer Terminologie die Grundbestimmungen alles natürlich Seienden, d. h. alles nicht durch menschliche Praxis Hergestellten, sind: ens, aliquid, unum, bonum, verum. Natürlich Geschaffenes ist, qua göttlicher Schöpfung, transzendentalerweise „seiend“, „gut“, „wahr“. Transzendentales Wahrsein unterscheidet sich allerdings quantitativ und qualitativ gemäß dem Grad der Tätigkeit und Erkenntnisvermögen (virtus intelligendi) einfacher oder zusammengesetzter Substanzen (De ente et essentia 4, 10–17): Es ist im Stein in einem anderen Maße als in dem Menschen Sokrates. Aus diesem Grund sind Seiendes und Wahres nicht begrifflich gleichzusetzen, zwischen ihnen besteht kein Verhältnis der Identität, sondern der Implikation. Alles natürlich Seiende ist transzendentalerweise wahr, aber nicht alles propositional Wahre ist natürlicherweise seiend. Entsprechend steht das transzendentalerweise Wahre aller natürlich geschaffenen Dinge (res) unserer Wahrnehmung, das propositionalerweise Wahre dagegen unserer urteilenden Vernunft offen, so dass die transzendentale Offenbarkeit der Sache aller prädikativen Wahrheitserkenntnis vorausgeht.

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Vor diesem Hintergrund unterscheidet Thomas drei Ebenen der Wahrheitssemantik und bestimmt sie (1) mit der Klärung des Prädikats verum im Zusammenhang der Transzendentalien als Gabe, (2a) mit einer Nominaldefinition als Übereinstimmung von urteilender Vernunft (intellectus) und Sache (res) sowie (2b) als Übereinstimmung von Sachen und Sätzen, schließlich (3) als Grund, in den alle diese Bestimmungen zurückkehren und der sich (an sich) in der Gabe bereits offenbart hatte, aber erst an ihren Wirkungen (von und für uns) erkannt wird. In diesen drei Schritten vermittelt der thomasische Ansatz die Ebene der Seinswahrheit (1 und 3) mit der der Satzwahrheit (2a und 2b). Das Konzept der Wahrheit als Gabe löst aus scholastischer Perspektive zunächst das Regressproblem der Letztbegründung. Allerdings mit ambivalentem Ergebnis: Zwar kommt man hinter das Erste der Gabe nicht zurück und verhindert einen infiniten Regress, steht aber vor einem handfesten Rationalitätsproblem, weil die Gabe jeder vernünftigen Begründung entzogen scheint. Deshalb hebt Thomas von Aquin das Wahrheitsproblem auf eine zweite, propositional-diskursive Ebene. Das propositionale Wahrheitsverständnis thematisiert die Relation zwischen der Vernunft (intellectus) – in Form von prädikativen Sätzen (propositiones) – und den Sachverhalten (res), deren Beziehung im Zeichen einer Übereinstimmung stehen muss, um Wahrheit beanspruchen zu können. Thomas von Aquin bestimmt in der ersten seiner Quaestiones disputatae de veritate diese Beziehung als eine vierschrittige Reflexion, deren komplexer Gang sich im Resultat der berühmten adaequatio-Formel nur zwischen den Zeilen zeigt: „Das erste Verhältnis (comparatio) von Seiendem und Vernunft besteht also darin, dass jenes [Seiende] mit dieser [Vernunft] zusammenstimmt (concordet), eine Zusammenstimmung (concordia), die Übereinstimmung (concordia) von Begriff und Sache (adaequatio intellectus et rei) genannt wird – und darin vollendet sich formal das Wahrheitsverhältnis (formaliter ratio veri perficitur)“ (De veritate I, 1). Alle entscheidenden Termini (adaequatio, comparatio, concordia, conformitas und convenientia: De veritate I, 5) bezeichnen eine innere Differenzierung der Relation und ihrer Relata, kommen aber darin überein, dass sie eine Annäherungsdynamik der erstrebten Übereinstimmung der Bezogenen (res und intellectus) ausdrücken. Der Grundgedanke des propositionalen Wahrheitsbegriffs besteht in der dynamischen Angleichung von erkennender Vernunft und erkannter Sache in Form des Urteils. Für intellectus darf abkürzend „Urteil“ eingesetzt werden, so dass das formale Wahrheitsverhältnis die Übereinstimmung von prädikativem Satz und Sache ist. Unser Urteil „dass p“ ist dann wahr, wenn es mit dem Sachverhalt „p“ übereinstimmt. Doch die thomasische Korrespondenztheorie reduziert das Wahre nicht auf Wirkliches oder natürlich Seiendes – und damit auch nicht auf die Ebene transzendentaler Wahrheit. Schon wegen der Notwendigkeit, Aussagen über die göttliche providentia und zukünftig wahre Urteile zu berücksichtigen, muss Thomas allen redundanztheoretischen Argumenten – d. h. allen Behauptungen, dass Wahrheit sich in dem erschöpfe, was ist – entschieden widersprechen.

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Als Entsprechung von urteilender Vernunft und Sache ist die Übereinstimmungsbeziehung ein Eingehen auf den jeweiligen Anspruch der bezogenen Seiten und deshalb nur in der doppelten Annäherung der urteilenden Vernunft an den beurteilten Sachverhalt und des Sachverhalts an die Vernunft (adaequatio intellectus ad rem und rei ad intellectum) zu vollziehen. Die Adäquation ist deshalb auch nicht die Angleichung (assimilatio cognoscentis ad rem cognitam) von bereits Gleichartigem,6 sondern von Unterschiedenem, das allein sprachlich-propositional angeglichen werden kann (De veritate I, 1). In dieser Verbindung besteht nach Thomas von Aquin die wesentliche Leistung des prädikativen Urteils, denn (1) unterscheidet es überhaupt erst, was übereinstimmen bzw. angeglichen werden soll (also Subjekt und Prädikat des Urteils); (2) setzt es den ausgesagten Sachverhalt mit diesem in Verbindung (bezieht also das Prädikat mittels Copula auf das Subjekt); (3) und behauptet darin schließlich die Übereinstimmung von Subjekt und Prädikat. Wird diese Behauptung sozusagen perlokutionär – durch ihre Wirkungen und diskursive Prüfung – bestätigt, ereignet sich Wahrheit als korrekte und methodisch nachvollziehbare Übersetzung dessen, was der Sache nach ist (in re), in das, was in der sprachlichen Vernunft ist (in intellectu); propositionale Wahrheit ist nicht mehr und nicht weniger als ein gelungener Erkenntnisakt, eine angemessene und zustimmungsfähige Propositionalisierung der zu erkennenden Sache. Mit Rücksicht auf diese Unterscheidungen kann man die von Thomas erstrebte Identität der prädikativen und nichtprädikativen Ebenen der Wahrheitssemantik als Einheit von fundamentaler, formaler und finaler Wahrheitsbedeutung bestimmen.7 Wahrheit fundamentaliter meint: Der Grund der Wahrheit (in quo verum fundatur) ist dasjenige, was allem Seienden als ihr transzendentales Wahrsein immer schon vorausgeht. Beide, Seiendes und Wahres, sind ihrerseits durch die göttliche Gabe und Produktivität begründet, die dieses Seiende überhaupt erst hervorbringt. Wahrheit formaliter meint: Die Form der Wahrheit ist das als Übereinstimmung von Urteil und Sache allein geistigsprachlich erfassbare und diskursiv überprüfbare Behaupten. Wahrheit finaliter meint: Die Wirkung der Wahrheit (effectus veritati) muss offenbaren, was ist (ostenditur id quod est) und wozu es sein soll. Erst in der Übereinstimmung mit unserer sprachlichen und urteilenden Vernunft zeigt sich die Sache als das, was sie ist, und so in Übereinstimmung mit ihrer göttlichen, finalen Zweckbestimmung. Erst mit der dritten Ebene wird jener Boden erreicht, auf dem Satzwahrheit wieder in Seinswahrheit zurückkehren kann und Rationalität und Glaube versöhnt sind. Die Notwendigkeit dieser Rückbesinnung auf die Gabe als Grund zeigt Thomas’ entscheidende Differenz zu Aristoteles. Nur durch eine „vollständige Rückkehr“ (reditio completa) propositionaler Rationalität in die Seinswahrheit kann auch die Möglichkeit kontingenter, potenzieller und zukünftig wahrer Aussagen begründet werden (De veritate I, 9). Die aristotelische Definition „Wahr ist, zu sagen, dass das, was ist, ist“ __________ 6 7

So deutet Hermann Krings: Was ist Wahrheit? In: Philosophisches Jahrbuch 90 (1983), S. 21-32. Vgl. ebd., S. 28.

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(Metaphysik IV, 7) schien Wahrheit auf die sprachliche Widergabe von Faktizität zu reduzieren. Denn wahre Aussagen der Art „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“ (Peri hermeneias 9) haben für Aristoteles allenfalls Wahrscheinlichkeitsgehalt. In Fragen der göttlichen providentia müssen aber nach Thomas auch bestimmte Aussagen über die Zukunft Wahrheitsanspruch erheben können (Sätze wie „Der Antichrist wird geboren werden“) – woran sich erneut zeigt, dass Wahrheit und Offenbarung in der mittelalterlichen Konzeption der sogenannten Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht zu trennen sind. Das zukünftig Wahre kann allerdings nur kraft der Gabe ihres Geoffenbartseins erkannt werden; Aussagen über zukünftige Ereignisse erhellen nur aus dem Licht des lumen gratiae: „Das Geschenk ist eigentlich die Gabe, die nicht zurückgegeben werden kann, […] d. h. dass keine Absicht des Entgelts dabei ist; und so ist sein Sinn das unentgeltliche Geben. Der Begriff aber des unentgeltlichen Gebens ist die Liebe, denn wir geben einem dann etwas unentgeltlich, wenn wir ihm Gutes tun wollen, […] so dass der heilige Geist, da er als Liebe hervorgeht, […] hervorgeht im Begriff des anfänglichen Geschenks“ (Summa theologiae I, 38, 2, c). Nach scholastischem Verständnis löst die Semantik der Gabe nicht nur das Regressproblem der Letztbegründung, sondern auch den Widerspruch der offenbarungsskeptischen Behauptung: „Nichts ist wahr“. Die Vernunft kann Wahrheit nicht in toto leugnen, weil der Satz einen Widerspruch enthielte und falsch würde, wenn er wahr wäre. Was eine grund- und gottvergessene natürliche Vernunft aber irrigerweise denken könnte, ist, dass es keine geschaffene Vernunft und damit keine Gabe gebe. Um diesem Problem zu begegnen, lässt Thomas die doppelte propositionale Bewegung der Übereinstimmung von sprachlichem Urteil und Sachverhalt in der Gabe als Erinnerung in den Seinsgrund der natürlichen Produktivität münden. Thomas’ Argumentation zeigt, dass die Entsprechung der Seiten auf der propositionalen Wahrheitsebene – Sachen und Sätze – kein starrer Zustand, sondern eine dynamische Bewegung ist. Wahrheit wird nicht festgestellt, sondern in einem Diskurs der Quaestio – in argumentierender „Rede und Gegenrede“8 – überprüft. So wundert nicht, dass sich eine literarische Spiegelung des Inhalts (Wahrheitsexplikation) in seiner Form (Quaestio) ergibt. So wie sich in der lebendigen (gleichwohl geregelten) akademischen Disputation die disputierenden Seiten einander annähern, so kommen zuletzt auch intellectus und res durch Angleichung überein. Und der Dreiheit von transzendental-fundamentaler, propositional-formaler und finaler Wahrheitsebene entspricht die architektonische Trias der Quaestiones selbst, die als eine dreifache Schrittfolge des Gesprächs aufgebaut sind (Videtur quod – Sed contra – Dicendum quod). Offensichtlich wählt Thomas von Aquin gerade für die Frage nach der Wahrheit die Form der quaestio, weil unsere endliche ratio naturalis die Wahrheit nicht dogmatisch bezeugen oder verkünden, sondern nur im Diskurs ermitteln kann. Unsere Urteile, Behauptungen und Aussa__________ 8

Günther Pöltner: Veritas est adaequatio intellectus et rei. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 37 (1983), S. 563-576, hier S. 566.

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gen sind sowohl auf Zustimmung durch andere wie auf Übereinstimmung mit der Offenbarung hingeordnet. Dritte These: Thomas von Aquins Bestimmung der Wahrheitssemantik als begriffsklärende Trias von transzendentaler, propositionaler und finaler Begründung in Gestalt der Quaestio, Expositio oder Summa bildet die Kontrastfolie für die frühneuzeitliche Verwandlung der Wahrheitssemantik. Thomas denkt transzendentale Wahrheit im Horizont einer göttlich-natürlichen Produktion (Gabe), propositionale Wahrheit als Übereinstimmung von urteilender Vernunft und Tatsachen (Grund; begründete Aussagen) und finale Wahrheit als Erkenntnis ihres Zusammenhangs und als Handeln gemäß ihrer Wirkungen (Grund und Gabe).

4. Kontingente und notwendige Wahrheit Ungeachtet der thomasischen Synthese hat das scholastische Denken seine ambivalente Bewertung des natürlichen Seins nie überwunden. Alles natürliche Sein ist, als Geschaffenes, transzendentalerweise wahr, doch als am absoluten Sein teilhaftiges und akzidentiales zugleich ein bedürftiges (esse indigentiae) und daher stets der Falschheit ausgesetztes Sein (esse falsum).9 Aufgrund dieser Ambivalenz steht alles kreatürliche Sein und das, was es selbst hervorbringt, im Verdacht der Nichtigkeit und des dreifachen Abstands zum Ersten Seienden. Dass Eckharts These von der Nichtigkeit (nihileitas) verurteilt wurde, ist daher nicht nur Ausdruck eines restaurativen Banns, sondern auch als Zeichen einer langsamen frühneuzeitlichen Befreiung der Kontingenz und des Endlichen vom Makel ihrer Nichtswürdigkeit zu deuten. Im Horizont dieser Befreiungsgeschichte gehört Duns Scotus’ Unterscheidung von kontingenter und notwendiger Wahrheit zu den wichtigsten Schritten ihrer Detranszendentalisierung. Im Blick auf Thomas’ De veritate kann nicht übersehen werden, dass die Diskursivierung der Wahrheit, als Prüfung von Behauptungssätzen, noch nicht gleichbedeutend ist mit ihrer Detranszendentalisierung. Auch das thomasische Wahrheitsverständnis ist ein diskursives. Es kann also nicht schon die Diskursivierung für die Veränderung zur Detranszendentalisierung verantwortlich sein, sondern erst die Veränderung der Diskursivierungsformen selbst – und damit auch der Wandel der methodischen Erzeugung von Wissen. Erst wenn sich die Diskursivierung (nicht nur der Wahrheit, sondern auch des Wissens, das zur Erfüllung von Wahrheitsansprüchen dient) auf den Wahrheitsbegriff auswirkt, kommt jener epistemische Rückkopplungseffekt der Detranszendentalisierung in Gang. Erst dort, wo die Diskursformen der Quaestio und der Summa verblassen, um weniger reglementierten literarischen Gestalten der Bestimmung von Wahrheit und Wissen Platz zu machen, erst dort also, wo die natürliche Ver__________ 9

Vgl. Alain de Libera: Die mittelalterliche Philosophie. München 2005, S. 91.

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nunft nach der ihr gemäßen Wissensform sucht, kann mit der Dezentrierung der scholastischen Wissensformen auch eine Detranszendentalisierung einsetzen. Dem frühneuzeitlichen Denken kommt mit zunehmender Intensität der Riss zwischen der natürlichen Produktivität und den menschlich hervorgebrachten Produkten in den Blick. Grob vereinfacht, sind es zwei Tendenzen, deren Reflexion das frühneuzeitliche Wahrheitsverständnis beeinflusst. (1) Zum einen wird immer deutlicher, dass die Menge des nichtnatürlich Produzierten gegenüber dem natürlich Seienden und transzendentalerweise Wahren ständig zunimmt. Entsprechend wächst die Menge des nicht zweifelsfrei Wahren gegenüber dem notwendig Wahren und damit auch die Menge der Tatsachen, Artefakte und Werkzeuge, der sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Praktiken, die an keinem Vorbild der Natur mehr gemessen werden können. Nirgends wird dies deutlicher als in den Worten des selbstbewussten Laien, den Nikolaus von Kues in seiner Schrift Idota de mente (1450) auftreten und einen geschnitzten Löffel zur Hand nehmen lässt: „Der Löffel hat außer der von unserem Geist geschaffenen Idee kein anderes Urbild. […] Dabei ahme ich nämlich nicht die Gestalt irgendeines Naturdings nach. Solche Formen von Löffeln, Schalen und Töpfen kommen nämlich nur durch menschliche Kunst zustande. Daher besteht meine Kunst mehr im Zustandebringen als im Nachahmen geschöpflicher Gestalten und ist darin der unendlichen Kunst ähnlicher“ (De mente 2, n. 62). Gerade weil der menschliche Geist (mens) das strenge Vorbild der Natur verlässt, kommt er der unendlich produktiven, ebenfalls vorbildlos schaffenden göttlichen Mens näher. (2) Man kann daraus schließen, dass ein eigener Wahrheitsbegriff für das vorbildlos Geschaffene, von Menschen gemachte und daher nicht natürlicher- und transzendentalerweise Wahre neu durchdacht und legitimiert werden muss. Die Wahrheitssemantik hat nicht nur den kontingenten, kulturellen Tatsachen, sondern auch ihrem rasanten Zuwachs gerecht zu werden. Kontingent ist für Duns Scotus dasjenige, dessen Gegenteil ebenfalls verursacht hätte werden können. Er setzt sogar eine kontingente Kausalität der göttlichen Produktivität voraus, die sich nicht auf eine erste Notwendigkeit, sondern nur auf einen freien göttlichen Willen zurückführen lässt (Ordinatio I, dist. 39, q. 1–5). Anders als der Dominikaner Thomas, der am Primat der Vernunft (intellectus) festhält, denkt der Franziskaner Duns Scotus den Willen (voluntas) als das Erste, weshalb auch die kontingenten Wahrheiten ihren Ursprung im Willen Gottes haben; er will Dieses, das je Individuelle, und bekundet genau darin seine Macht (Opera V, 325, 3): „Gott könnte die Dinge anders machen als von ihm selbst angeordnet ist, dass sie gemacht werden sollen“ (Opera VI, 363, 1). Das Kontingente ist also gerade der Beweis der göttlichen Existenz als Macht, die sowohl eine Ordnung gebende (potentia ordinata) als auch eine absolut jede Ordnung übergreifende und allererst setzende Macht (potentia absoluta) ist (Opera VI, 363, 4). Entsprechend hat sie, als setzende Macht, die Wahrheit in sich, während das, was sie setzt, seine Wahrheit nur in diesem Ersten als seinem Anderen haben kann. Notwendig wahr sind für Duns Scotus Sätze, in denen Subjekt und Prädikat für dasselbe „supponieren“, d. h. dieselbe Extension haben. Der Satz „Gott ist“

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kann durch den analytischen Zusammenhang seiner Termini „offensichtliche Wahrheit“ (Opera II, 131, 14) beanspruchen. Während hier das Prädikat im Subjektbegriff der Möglichkeit nach bereits enthalten ist, kann der Satz „Gottes Sohn ist Fleisch geworden“ (Ordinatio, Prol. p. 3, q. 1–3, n. 150) nur kraft Offenbarung gekannt werden. Deshalb treten Wesen und Offenbarung Gottes auseinander, wodurch sich auch die Differenz zwischen Satzwahrheit und Seinswahrheit (Offenbarungswissen) verschärft. Zwar kann der menschliche Verstand auch für Duns Scotus Wahrheiten wie die Trinität nicht „naturaliter“ (Ordinatio, Prol., p. 1, q. un., n. 62ff.), sondern nur durch Offenbarung erfassen. Doch anders als Thomas von Aquin reflektiert Duns Scotus ihren problematischen Status, der durch die von der menschlichen Produktivität verursachte Zunahme kontingenter Tatsachenwahrheiten hervorgerufen wird. Sie können nicht mehr unmittelbar aus der Offenbarung hergeleitet werden und verlangen nach einem anderen Wahrheitsbegriff. Der allgemeine Begriff des Seienden (ens) ist aufgrund seiner Unbestimmtheit nur eine erste terminologische Annäherung, weil das jeweils als „seiend“ bezeichnete nur in einer relationalen Bestimmung, durch Vergleich mit anderem Seienden, überhaupt in seiner Wesenheit bestimmt werden kann. Diese Methode verbietet sich jedoch für das Erste Seiende (Gott), welches nicht in Relation zu dem, was außer ihm ist, bestimmt werden kann, sondern nur „absolut“ und „aus sich“ (De primo principio IV, 8), weil es andernfalls einem Begründungsregress zum Opfer fiele (Opera II, 165, 8). Duns Scotus benötigt einen eigenen Wahrheitsbegriff für das Kontingente und menschlich Geschaffene schon deshalb, weil uns alles endlich Seiende überall nur in seiner Individualität begegnet, als ein Dieses (realitas haec) (Opera VII, 483, 6), das gleichwohl nicht nichtig ist, sondern als jeweils Wahres im göttlichen Wissen erkannt und anerkannt wird. Vierte These: Duns Scotus’ Unterscheidung zwischen kontingenten und notwendigen Wahrheiten erbringt einen ersten frühneuzeitlichen Schritt der Diskursivierung des Wissens als Detranszendentalisierung der Wahrheit. Behutsam verschiebt sich der Akzent von der natürlich-göttlichen Produktivität auf die menschliche. Die Verschiebung reflektiert den stetigen Zuwachs des nicht-natürlich Seienden und den Eigensinn menschlich-künstlicher Produktion. Mit den kontingenten Wahrheiten, deren Differenz zu den notwendigen durch das Prinzip der Identität des göttlichen Willens vermittelt ist, wird auch dem endlichen Sein ein Wahrheitsanspruch eingeräumt, der sich nicht mehr nur auf das geschöpfliche Gegebensein stützt, sondern das menschlich produzierte Sein mit einbegreift. Dieser Schritt legitimiert die Eigenart der natürlichen Vernunft als eine nicht mehr allein auf das Offenbarungswissen angewiesene Selbstanschauung und Naturerkenntnis bzw. als ein nicht mehr ausschließlich auf theologische Sätze gegründetes philosophisches Selbst- und Weltverständnis.

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5. Ockhams semantisches Rasiermesser und die nominalistische Satzwahrheit Duns Scotus eröffnet den Diskurs des frühneuzeitlichen Denkens mit unscheinbaren, aber bedeutsamen terminologischen Verschiebungen, die den Fokus unaufhaltsam auf das lenken, was „naturaliter“ eingesehen werden kann. Heribert Boeder hat die Verwandlung der Sacra doctrina in eine natürliche Theologie als den entscheidenden Zusammenhang bestimmt, durch den das frühneuzeitliche Denken in der „Selbstgewißheit des endlichen Verstandes“10 erwacht. Damit stimmt das scheinbar beiläufige Detail überein, dass sich in Wilhelm von Ockhams Texten ständig das Individuum als solches ausspricht: „Ich sage also“ (dico igitur) (Summa logicae III, 2, 1, 2), „Ich argumentiere“ (arguo) (Sententia, Prol. 1, 1, 12), „Ich beweise“ (probo) (Sententia, Prol. 1, 1, 45). Man könnte von einem Vorschein oder protentionalen Echo des neuzeitlichen Subjektbegriffs sprechen, mit Ockham als jener „vorneuzeitlichen Inkubationsphase“11, in welcher der Begriff der natürlichen Vernunft zunächst zu dem des Bewusstseins (conscientia) – Ockhams Ego intelligo (Sententia, Prol. 1, 1, 54) –, dann zu Cusanus’ Begriff der mens, schließlich zu Descartes’ methodischem Selbstbewusstsein des Ego cogito fortbestimmt wird. Bei Ockham befreit sich die ratio naturalis insofern vom Imperativ der articula fidei, als die versöhnte Differenz von fides und ratio nicht mehr auf Kosten der Vernunft gehen darf: „Die Glaubensartikel sind weder Prinzipien des Beweisens noch des Schließens noch auch wahrscheinlich, weil sie allen oder den meisten oder den Weisesten als falsch erscheinen. Und dies, indem unter den Weisen die Weltweisen verstanden werden, die sich ausschließlich (praecise) an die natürliche Vernunft halten“ (Summa logicae III, 1, 1). Mit diesem Argument verschiebt Ockham die Unterscheidung von Schultheologie und Weltweisheit (und damit auch das Verhältnis von natürlicher und übernatürlicher Wahrheit) derart, dass die natürliche nicht mehr nur bloße und zu überwindende „Vorgabe“12 des Glaubens ist. Der entscheidende Schritt ist jedoch, dass die natürliche Vernunft ihren Einflussbereich nun auf das Nichtwahrnehmbare ausdehnt und sich selbst zum Gegenstand der Anschauung macht: „Unsere Vernunft erkennt in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht nur jenes Sinnliche (sensibilia), sondern im besonderen und anschaulich gewisse Vernunftgegenstände, die ganz und gar nicht unter die Sinne fallen“ (Sententia, Prol. I, 1, cor. 2). Dies gelingt kraft der symbolischen Erkenntnis durch arbiträre Zeichen, deren repräsentativer Charakter in einem medialen Sein besteht, „wodurch etwas erkannt wird“ (Quodlibeta IV, 3). __________ 10 11

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Heribert Boeder: Topologie der Metaphysik. Freiburg/München 1980, S. 313. Claus-Artur Scheier: Unendlichkeit: Von Cusanus zu Hegel. In: Cusanus und der deutsche Idealismus. Hg. von Klaus Reinhardt und Harald Schwaetzer. (Philosophie interdisziplinär 25) Regensburg 2007, S. 9-22, hier S. 17. Ebd., S. 14.

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Dem Emanzipationsprozess der natürlichen Vernunft von der natürlichen Existenz ihres Gegenstandes korrespondiert ein paralleler wahrheitstheoretischer Schritt. Ockham reduziert Wahrheit auf Satzwahrheit,13 denn von Wahrheit und Falschheit will er nicht mehr als in den natürlichen Dingen, sondern nur noch als im natürlichen Verstand existierend sprechen. Es gibt kein falsches Sein (esse falsum), sondern allenfalls falsche Sätze. Gemäß dem nominalistischen Ansatz seiner Philosophie begreift Ockham Wahrsein nicht als reale, sondern als grammatisch-logische Kategorie. So wie die Begriffe dem Geist angehören, weil sie nicht immer eine reale Extension haben – wie etwa der synkategorematische Begriff omnis, „alle“, der nicht für einen Gegenstand in der Welt stehen kann, der „alle“ ist (Summa logicae I, 4, 4) –, so gehört das Prädikat „wahr“ den Urteilen an (Summa logicae II, 2). Zwar wird die Klammer der Korrespondenzbestimmung – prädikativ kann ein Sachverhalt nur dann zustimmungsfähig als wahr behauptet werden, wenn der Sachverhalt tatsächlich existiert – nicht aufgegeben, denn Sachverhalte können selbstverständlich auch unabhängig von unserer urteilenden Vernunft existieren. Es kommt jedoch auf die sprachliche Symbolisierung der entsprechenden vorpropositional-außersprachlichen Wahrheitsbedingungen an. Der Sachverhalt, so Ockhams Beispiel, dass der Mensch kein Stein ist, bleibt bestehen, „dennoch wäre dann dieser Satz ,der Mensch ist kein Stein‘ nicht wahr, weil es dann keinen Satz gäbe“ (Sententia, d. 24, q. 1.; Opera theologica 4, 88). Wenn der Sache selbst von der Satzwahrheit nichts beigelegt werden kann, sondern nur der menschlichen Vernunft, dann hat sich die Wahrheitssemantik von den natürlichen Dingen unwiderruflich abgekoppelt. Da Ockham mit den Universalien die Möglichkeit allgemeiner Realitäten außerhalb der Seele verwirft, müssen seinem nominalistischen Rasiermesser auch die Transzendentalien zum Opfer fallen. Verum bezeichnet keine vorprädikativ-transzendentale Wirklichkeit außerhalb der natürlichen Vernunft und ihrer symbolisch und logisch-grammatisch vermittelten Satzwahrheit. Diese nominalistische Skepsis gegenüber theologischen Gewissheiten schlägt sich auch in Ockhams Begriff der natürlichen Vernunft nieder, die er als intellectus viatoris bestimmt. Eine solche Vernunft, die stets auf dem Weg, nie am Ziel ist, muss die überkommenen theologischen Wahrheiten befragen, (1) ob sie mit Evidenz erkannt werden können und (2) ob die theologischen Sätze des Offenbarungswissens überhaupt wissenschaftliche Sätze sind. Gegen Thomas von Aquins Ansatz in der Summa theologiae, demzufolge die ersten Prinzipien der Sacra scientia selbst nicht begründbar, sondern gegeben sind, klagt Ockham die Evidenz auch noch der Grundsätze ein. Sie können nicht einfach unbefragt als Gabe, Offenbarkeit des Seienden oder transzendentale Wahrheit vorausgesetzt werden: „Es ist kindisch zu sagen: Ich kenne die Schlüsse der Theologie, weil Gott die Prinzipien weiß, denen ich glaube, weil er sie offenbart“ (Opera theologica I, 199). __________ 13

Vgl. Dominik Perler: Der propositionale Wahrheitsbegriff im 14. Jahrhundert. Berlin 1992.

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Wissenschaftliche Wahrheiten beruhen für Ockham allerdings nicht primär auf dem Moment der Evidenz, sondern auf der Notwendigkeit ihrer Herleitung. Es gibt folglich evidente, aber kontingente und unwissenschaftliche Tatsachenwahrheiten und evidente wissenschaftliche Vernunftwahrheiten. Erstere sind allenfalls wahrscheinliche oder gewisse Sätze, während Wissenschaft (scientia) nur jene Form des Wissens heißen kann, deren Gehalt als notwendig erwiesen und syllogistisch erschlossen wurde. Wissen wird in Aussagen gefasst, denn nur sie können bewiesen werden. Nur in ihnen ist Notwendigkeit, etwa als Kohärenz von Aussagen, während die geschaffene Realität nichts schlechthin Notwendiges kennt, weil alles, was ist, auch anders sein könnte. Freilich bedeutet die Kontingenz der Sachverhalte nicht Chaos, denn auch das Kontingente selbst hängt von der absoluten Macht Gottes ab – sie könnte anders nicht absolut sein (Sententia II, qu. 3–4). Die einzige Schranke der göttlichen Macht erkennt Ockham in der von ihr selbst errichteten Widerspruchsfreiheit, weil Sachverhalte, die einen Widerspruch einschlössen, als Täuschung gegen die Güte Gottes verstießen. Die natürliche Vernunft beginnt deshalb mit der intuitiven Kenntnis des kontingenten Einzelnen. Sie motiviert die wissenschaftliche Vernunft zur Erkenntnis (Opera theologica II, 540), deren angemessenes Instrument sie bleibt, insofern sie erkennt, dass das reale Korrelat der Allgemeinbegriffe selbst keine allgemeinen, sondern einzig individuelle Einzeldinge sind (Opera philosophica II, 11). So fällt die Abkehr von Wesensfragen mit der Hinwendung zur Erkenntnis von Faktizität zusammen. Zum Objekt der Wissenschaft können dann allerdings nicht schon die äußeren Dinge selbst werden, sondern nur die Begriffe und Aussagen über sie. Deshalb wird die Logik zum Werkzeug aller Künste und Wissenschaften, welche umgekehrt durch beständige Ausübung einen „ununterbrochenen Zuwachs“ (continuum incrementum) erfährt (Summa logicae, Prol., 2). Man könnte von einer Kohärenztheorie der Wahrheit und der Wissenschaften bei Ockham sprechen, deren Einteilungsgrund nicht mehr – ontologisch – die Gegenstände, sondern – rein methodisch – die Art und Ordnung der Aussagen über sie ist. Das Problem, das sich Ockham stellt, ist noch das scotische: Wenn alle Urteile – trotz ihres verallgemeinernden Charakters – Aussagen über Einzelnes bleiben und dieses Einzelne kontingent, wandelbar, und im nächsten Moment schon wieder anders ist, wie können dann überhaupt notwendige Aussagen gebildet werden? Ockham löst das Problem, indem er den wissenschaftlichen Aussagen über Tatsachenwahrheiten den Status hypothetischer Urteile verleiht. In der Wenn-dann-Implikationsbeziehung etwa des Satzes „Wenn Sokrates ein Mensch ist, dann ist er ein vernunftbegabtes Lebewesen“ wird der Wahrheitswert der Prämisse statisch auf die Konklusion übertragen. Implikationsaussagen wollen nicht die Konklusion genetisch aus den Prämissen herleiten; sie wollen auch nicht klären, ob die Prämissen faktisch wahr sind. Sie wollen einzig den Wahrheitswert der Prämissen mit logischer Notwendigkeit auf die Konklusion übertragen, so dass sich einfache Aussagen zu komplexen Aussagen „Wenn A und B, dann notwendigerweise C“ vereinigen lassen. Die entsprechenden Modalsätze können nun flexibel auf die Kontingenz der in den Prämissen festgehaltenen Sachverhalte reagieren

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und bleiben notwendig wahr selbst dann, wenn ihr Gegenstand nicht existiert oder sich verwandelt hat. Auf diese Weise demonstriert Ockham, „wie es von Kontingentem eine Wissenschaft geben kann“ (Summa logicae III, 2, 5; Opera philosophica I, 513), und begründet ein frühneuzeitliches Wissenschaftsverständnis, in dem die Wissenschaft von der Natur eine neue Legitimationsgrundlage erhält. Fünfte These: Ockham zieht die nominalistische Konsequenz aus Duns Scotus’ Wende zur Individualität. Seine Reduktion der Wahrheitssemantik auf Satzwahrheit vollzieht sich im Horizont eines Wissenschaftsbegriffs, der den theologischen Wahrheiten Notwendigkeit und Evidenz abspricht und das Gütesiegel aller Scientia in einer Kohärenztheorie erblickt, die Wahrheit als widerspruchsfreies Ensemble aller hypothetischen Urteile eines Wissensbereichs bestimmt. Sie führt zu einer deutlichen Aufwertung von Logik, Naturphilosophie und empirischer Methodik als Instrumenten, die für alle Wissenschaften primordial sind, aber umgekehrt auch aus den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen ständige Erweiterung und Verbesserung erfahren.

6. Negative Theologie der Wahrheit und konjekturales Wissen Mit Ockhams Infragestellung des Wissenschaftscharakters theologischer Sätze schwindet die Legitimation der Transzendentalien ebenso wie mit der Transzendentalie verum die Wahrheitssemantik der Gabe. Auf diesem schwierigen Boden problematisiert auch Nikolaus von Kues den Status des Offenbarungswissens, allerdings in der Absicht, es gleichsam in seiner symbolischen Gestalt zurückzugewinnen. Als Gnade und Gabe enthält die Schöpfung sich nicht vor und behält auch nichts zurück, aber sie offenbart ihr Wesen auch nicht tel quel. Die Gabe ist alles andere als unmittelbar, und die Tatsachen der Schöpfung sind keine facta bruta, sondern Rätselbilder des Wesens des Einen (De docta ignorantia III, 10, n. 241). So wenig das göttliche Wesen sich unvermittelt offenbart, so wenig ist die Schöpfung – als die Vermittlung des göttlichen Wesens – selbst unvermittelt. Das aber heißt, dass das Offenbarungswissen, als ein Wissen von der göttlichen Produktion und ihren Produkten, kein unmittelbares Wissen mehr sein kann und dass, anders als im scholastischen Denken, die Frühe Neuzeit ein direkteres Verhältnis zu dem Wissen gewinnt, das nicht auf göttliche und natürliche Vorbilder zurückgeht, sondern sich an der zunehmend präzedenzlos produzierenden menschlichen Vernunft orientiert. Die Lektüre der Schriften Cusanus’ verstärkt den Verdacht, dass die Säkularisierungsthese den eigentümlichen Charakter frühneuzeitlichen Denkens verfehlt. Denn die Kehre zur Welt impliziert gerade keine säkulare Abwendung, sondern eine Hinwendung zur göttlichen Produktivität. Für Cusanus drückt sich dies darin aus, dass diejenigen künstlichen Produkte, die keinerlei Vorbild außerhalb der Idee unseres Geistes haben (extra mentis nostrae ideam), nicht der Kunst des Nachahmens geschaffener Dinge fol-

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gen, sondern der Kunst eines Hervorbringens, welches nicht den Produkten Gottes, sondern seiner unendlichen Produktivität selbst ähnlicher ist (Idiota de mente 2, n. 62). Wahrheit wird zu einer Form symbolischer Annäherung und Verähnlichung an eine selbst unerreichbare und allem disproportional unähnliche göttliche Produktivität, die Cusanus als unendliche Entfaltung (explicatio) denkt. Ähnlich wie bei den Kabbalisten faltet der Cusanische Gott sich selbst zur Welt der wahrnehmbaren Gegenstände aus, um gleichwohl ganz in sich selbst zu bleiben – auch darin Urbild der Subjektivität. Sein Wesen ist die Koinzidenz von unendlicher Ausfaltung und Einfaltung (complicatio), deren Bestimmung und Wahrheit allerdings mit Mitteln der prädikativen symbolischen Sprachformen nur indirekt möglich ist: durch Rätselbilder, symbolische Beispiele (symbolica paradigmata: De mente 2, 62) und Metaphern. Gegenüber der Ockhamschen Reduktion auf Satzwahrheit gewinnt Cusanus also die Ebene transzendentaler Seinswahrheit zurück – allerdings um den Preis der emphatischen Betonung ihrer Unerreichbarkeit. Dass die Einsicht in die transzendentale Seinswahrheit der menschlichen Vernunft entzogen bleibt, hält Nikolaus für evident: „Die volle Wahrheit ist unergründbar (praecisa veritas sit incomprehensibilis). Die Disproportionalität des Unendlichen gegenüber dem Endlichen ist evident. Deshalb wird Maß und Gemessenes trotz aller Angleichung (aequalia) immer verschieden bleiben“ (De docta ignorantia I, 3). Evident ist für Cusanus auch, dass unsere prädikativen und propositionalen Möglichkeiten der Wahrheitsbestimmung zwar Analogien, Adäquationen und Angleichungen sind, als solche jedoch in unendlichen Annäherungen die prädikative Sprache selbst überschreiten müssen.14 Zwar darf der Raum des Begriffs und der philosophischen Argumentation nicht gänzlich verlassen werden, doch reicht er als erkenntniskritisches Medium allein nicht aus. Offensichtlich stellt sich Cusanus’ Argumentation einem Problem, auf das aus anderen Gründen bereits Ockham reagieren musste. Denn wenn das Eine, gut neuplatonisch, unerkennbar und zugleich Grund von allem ist, stellt sich die Frage, wie Wissenschaft (nicht als Erkenntnis bloßer Faktizität, sondern als Erkenntnis der Gründe) überhaupt möglich sei. Sie ist es für Cusanus nur als eine Philosophie der „belehrten Unwissenheit“ bzw. als „nichtbegriffliches Einsehen“ (incomprehensibiliter intellegere) (De docta ignorantia I, 11), das sich symbolischer Medien bedient. Kraft der annähernden Zeichen, Symbole und Metaphern verwandelt sich unser Unwissen immerhin in ein belehrtes Unwissen, bleibt aber darin stets noch Unwissen, dass alle Wissenschaft eine Verendlichung bzw. Verschränkung (contractio) des Unendlichen in uns ist (De possest, n. 38). Die systematische Bestimmung dieser negativen Theologie des Wissens und der Wahrheit bildet den problemgeschichtlichen Hintergrund der spezifisch frühneuzeitlichen Dezentrierung der Wissensformen und ihrer Detranszendentalisierung des Wahrheitsbegriffs. Ihr Verhältnis reflektiert zugleich jenen Zuwachs der frühneuzeitlichen Erfahrungswissenschaften, etwa in der Anatomie (vgl. De mente 8) und Kosmologie, __________ 14

Vgl. Dirk Westerkamp: Via negativa. München 2006, S. 99-144.

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denen Cusanus größte Aufmerksamkeit schenkt. Wenn Wahrheit nicht in der genauen Übereinstimmung von Zeichen und Bezeichnetem besteht, sondern in deren unendlicher, niemals abschließbaren Annäherung, dann lässt sich auch für die Erfahrungswissenschaften ein permanenter Fortschritt denken, der asymptotisch bleibt. Für diese Limesbestimmung von Wissen und Wahrheit hat Cusanus den Begriff der Mutmaßung (conjectura) eingeführt: „Die affirmativen Aussagen der Weisen sind Konjekturen. […] Konjektur ist eine affirmative Aussage, die an der Wahrheit, wie sie an ihr selbst ist, in Andersheit teilhat“ (De conjecturis I, n. 57). Andersheit ist hier nach ihrer Medialität und Materialität zu unterscheiden. Wie die begriffliche, prädikative Sprache lassen uns auch die Sprach- und Rätselbilder an der Wahrheit nur medial vermittelt, d. h. anders als sie an sich selbst ist, teilhaben. Aber auch die geschaffenen Dinge, über die wir Aussagen machen, haben kraft ihrer Materialität nur in Andersheit am nichtmateriellen Einen teil. Während das Begreifen (conceptio) der unendlichen göttlichen Mens immer zugleich rerum productio ist, bleibt das Wissen des menschlichen Geistes rerum notio. In der göttlichen Vernunft sind alle Dinge in ihrer genauen Wahrheit, während sie in unserem Verstand abbildhaft oder in Ähnlichkeit der eigentlichen Wahrheit (propriae veritatis) und damit begrifflich (notionaliter) gegenwärtig sind (De mente 3, n. 72). Dass Cusanus den liminalen Assimilierungscharakter unseres Wissens hervorhebt, läuft keineswegs auf die Herabsetzung exakter Wissenschaften und Erkenntnisse hinaus. Im Gegenteil ereignet sich in seinem Werk nicht nur die Änigmatisierung der Philosophie der göttlichen Namen, sondern auch die selbstbewusste Mathematisierung des frühneuzeitlichen Denkens, welche die Orientierung am mathematischen und geometrischen Methodenideal bis hin zu Leonardos certezza vorbereitet. Exaktheit und Konjektur, Genauigkeit und Unbestimmbarkeit der Wahrheit gehen hier ebenso problemlos zusammen wie in der post-frühneuzeitlich entdeckten Infinitesimalrechnung. Die mathematische Exaktheit ist ein Vorschein auf die Genauigkeit in der göttlichen mens (De mente 3, n. 69), deren allgemeinen Begriff Cusanus vom Maß (mensura), von der Tätigkeit des Messens und seiner Möglichkeit zur Präzision ableitet (De mente 9). Diesseits Gottes (citra deum) gibt es freilich keine absolute Genauigkeit und mit der uns erreichbaren Genauigkeit der Mathematik „berühren“ (attingere) wir die eine Wahrheit alles Wissbaren. Im Trialog De possest lässt Cusanus die Gesprächspartner sagen, unser Wissen kenne nichts Gewisses (nihil certi) außer der Mathematik, die ein paulinisches „Änigma“ der Jagd nach Gotteserkenntnis (De possest, n. 44) und nichts weniger als eine Offenbarung der Trinität selbst sei. In der einen ratio (De possest, n. 43) der Mathematik will Nikolaus von Kues jenes unitrinum aufsuchen, das Andersheit und Vielheit zur Einheit faltet (De possest, n. 45). Es ist nicht zu übersehen, dass Cusanus’ konjekturale Wahrheitsbestimmung nicht nur eine eigene Methode, sondern auch eine neue literarische Form verlangt. Seine Philosophie kann nicht mehr in Gestalt von Quaestionen, Summen oder Expositionen auftreten, sie versteht sich nicht als Kommentar oder Synthese der Tradition. Für die ständige Revision der Gottesnamen, für die Suche nach den suggestivsten Sprachbildern,

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für den falliblen und tastenden Charakter seines Denkens benötigt Nikolaus von Kues eine neue philosophische Dialogform – auch mit anderem Personal. Nicht der Gottesgelehrte, sondern der Laie (idiota) repräsentiert die natürliche Vernunft, die gerade dadurch nicht vom Glauben abgekoppelt wird, weil Glaube nicht als Erbe oder Traditionszitat gepflegt, sondern als Ausdruck einer neuen Subjektivität verstanden wird. Die Gestalt des Laien eröffnet Cusanus die Möglichkeit, an einem von der Philosophie abgelösten, selbstbewussten Glauben festzuhalten, der ganz bei und mit sich selbst anfängt. Von ihm erhält der Philosoph in Idiota de mente das Wissen ohne jede akademisch-gelehrte Zurüstung: „unverhüllt“ (nude) (De mente 1, n. 55). Folglich trennt sich auch bei Cusanus die Wahrheitssemantik von philosophischem Grund und religiöser Gabe, aber nur, um beide als autonome und dennoch aufeinander verwiesene Gestalten der Wahrheitsfindung wieder zusammenzuführen: „Gewiss muss es eine Gabe Gottes (dei donum) sein, dass die Laien klarer daran rühren (attingere) als die Philosophen mit dem Verstand (ratio)“ (De mente 1, n. 52). Der Laie ist in seiner Wahrheitssuche das paradigmatische Exemplar einer menschlichen Vernunft, die, als christusförmige mens, selbst nicht nur Ausfaltung der „einfaltenden Einfachheit“ (simplicitas complicativa) Gottes ist, sondern auch deren unmittelbares Bild (imago) als eigenes Subjekt (De mente 3, n. 72). Nur als eine solche Imago kann die menschliche Vernunft, wie beim Löffelschnitzer, auch zum Urbild der künstlich geschaffenen Dinge werden und dennoch liminale Nachahmung der göttlichen Produktivität sein. Deshalb kehrt Cusanus mit seiner triadischen Differenzierung der Wahrheitssemantik in De venatione sapientiae weder zum thomasischen Ansatz zurück, noch folgt er ihrer Ockhamschen Reduktion auf Satzwahrheit. Vielmehr unterscheidet Cusanus zwischen Wahrheit, Wahrem und Wahrscheinlichem und orientiert sich an den Vorgaben einer neuplatonischen Urbild-Abbild-Wahrheitsrelation. Transzendental ist für ihn Wahrheit als ewiges Urbild, als „alles, was sein kann“ (omne id quod est). Schon weil für uns „alles, was sein kann“ nicht realiter vorstellbar, sondern nur als abstrakter Begriff aussprechlich ist, bleibt das Wesen der Wahrheit unerkennbar. Aufgrund ihrer Güte zieht sich die unendliche Wahrheit jedoch nicht in ihre Unerkennbarkeit zurück und entzieht nicht ihren Widerschein, die Offenbarung, so dass wir dieses Abbild als das Wahre geistig erfassen können (verum est aeternae veritatis perpetua similitudo intellectualiter participata). Von ihm wiederum ist das Wahrscheinliche oder Wahrheitsähnliche (verisimile) ein zeitlich-sinnliches Abbild (verisimile vero est ipsius intelligibilis veri temporalis similitudo) (De venatione sapientiae 36, n. 106). Von Erkenntnis lässt sich dann sprechen, wenn wir an der Wirklichkeit ihre Übereinstimmung mit ihrem Wesensgrund, dem geoffenbarten Wahren der geistigen Abbilder feststellen können. Das Wahre der Ideen liefert die Maße, Kategorien und Formen, kraft deren wir überhaupt so etwas wie Wirklichkeit erkennen können (De venatione sapientiae 36, n. 107). Indem dies allein propositional oder durch andere sprachlich-symbolische Formen vollbracht werden kann, also in der explicatio, lässt sich der complicatio der Wahrheit nicht bis in ihren innersten Punkt folgen. Berühren kann unser Geist diese Wahrheit nur

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in dem Moment, wo er seine abstraktive Erkenntnis in eine intuitive Schau wendet, die einsieht: unum omnia et omnia unum. Hier schaut er alles ohne Zusammensetzung, Teile und Materie, ohne Teilhabe an Andersheit. Allerdings ist dies eine nicht mehr prädikative Erkenntnis. Sie beruht allein darauf, dass sich die mens ganz in ihr Wesen als imago dei versenkt – etwa in der Kontemplation des Gebets. Mit der Rückführung der explicatio in die complicatio, mit dem Schritt von der ersten Wahrheitsebene (Wahrnehmung, empirische Wissenschaft) über die zweite Wahrheitsebene (Wahres, Philosophie) zur Wahrheit selbst, wird die Philosophie verlassen, um ihr mit dem Glauben (fides) die weggebrochene Wahrheitsvoraussetzung wiederzugeben.15 Sechste These: Die Detranszendentalisierung der Wahrheit vollzieht sich bei Nikolaus von Kues auf dem scheinbar paradoxen Umweg einer Wiederaufrichtung des transzendentalen Wahrheitsbegriffs, dessen letzter Grund jedoch der philosophischen Erkenntnis, als einer belehrten Unwissenheit und konjekturalen Vernunft, in seinem Wesen entzogen bleibt. Philosophisch explizierbar ist nicht die Wahrheit als Idee, sondern allein die an ihr teilhabende Übereinstimmung des Wahrscheinlichen mit dem Wahren. Allerdings stellt dieses vorläufig Wahre, das in den Produkten einer präzendenzlos hervorbringenden menschlichen Vernunft (mens) widerscheint, gegenüber der unerkennbaren Wahrheit keinen absoluten Abfall dar, sondern bezeugt die unendliche Annäherung an die Produktivität der göttlichen Vernunft selbst. Damit kann Cusanus den Blick auf das menschlich hervorgebrachte Seiende so rechtfertigen, dass es nicht mehr dem Verdikt der Nichtigkeit (nihileitas) verfällt.

7. Die Differenz von Wahrheit und Gewissheit Mit Cusanus’ Philosophie der belehrten Unwissenheit sind die Wissensinhalte und -formen der Sacra scientia und Doctrina christiana vollständig umgearbeitet. Allerdings hat sich darin auch die Energie des frühneuzeitlichen Denkens erschöpft. Entdisziplinierung der Wissensformen, Detranszendentalisierung der Wahrheit, Emanzipation der natürlichen Vernunft und Autonomie der Erfahrungswissenschaften sind in eine historische Konstellation getreten, die jedes ihrer Momente verwandelt hat. Descartes fallen die Ergebnisse dieses epistemischen Rückkopplungseffekts zwar keineswegs in den Schoß, erklären aber die Radikalität seines Neuanfangs. Bereits für die literarischen Formen lässt sich kaum ein größerer Unterschied denken als der zwischen den scholastischen Summen und Quästionen und der neuzeitlichen Meditatio. Hier die reglementierte Form einer lebendigen universitären Disputierpraxis, die aus Prinzipien herleitet, dort der in sich gekehrte, voraussetzungslos reflektierende Gestus der Kontemplation. __________ 15

Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a.M. 1996, S. 579.

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Was in den Bahnen der Meditationes denkt, ist die vom Licht der Offenbarung entbundene natürliche Vernunft und ihr Bewusstsein. Das frühneuzeitlich bereits bekannte, aber spezifisch neuzeitliche Problem der Wahrheitssemantik ist der Riss zwischen Wahrheit und Gewissheit, den Descartes in den ersten beiden seiner Meditationes entdeckt und erst in der dritten Meditation mit der Herleitung des ersten Gottesbeweises aufheben kann. Denn zunächst scheint sein methodischer Zweifel einen archimedischen Punkt darin zu finden, „dass der Satz ,Ich bin, Ich existiere‘, sooft ich ihn ausspreche oder im Geiste auffasse, notwendig wahr sei“ (AT VII, 23)16. Descartes spricht hier, und auf diesen Zusatz kommt es an, nicht nur von einer klaren und deutlichen Vorstellung, sondern von einem notwendigen Urteil (necessario esse verum). Notwendig, weil sein Gegenteil „Ich bin nicht (Ich)“ in einen Widerspruch führen würde. Gegenüber dem ursprünglichen Befund „Nichts ist sicher“ hat die natürliche Vernunft eine erste gewisse Erkenntnis (prima cognitio) erlangt: Ego sum, ego existo. Allerdings bleiben alle Denkinhalte und Vorstellungen (cogitata), d. h. alles, was in der Formel „Ich glaube/denke/empfinde, dass p“ unter „p“ fällt, zweifelhaft. War das Urteil „Ich bin res cogitans“ eine notwendige Wahrheit, so kommt aller Zweifel durch ihre Beziehung auf Außenwelt zustande. Ebenso wie meine Vorstellung von einem „Außer mir“ ist auch diese körperlich-ausgedehnte Außenwelt (extensum quid) selbst allenfalls gewiss – denn ich kann sie von mir unterscheiden und mir vorstellen, dass es sie gibt –, aber nicht notwendig wahr. Der methodische Zweifel wird zu einem metaphysischen Zweifel, zur Verzweiflung über die ausbleibende Notwendigkeit der Wahrheit unserer Urteile über das extensum quid, deren nur gewisse Erkenntnis eine Ambivalenz zulässt, die das Fundament des Wissens erschüttert. Denn das Bewusstsein kann sich seiner vorgestellten Gegenstände ebenso gewiss sein wie eines betrügenden Gottes – und damit wären auch die Vorstellungen selbst Fiktionen. Das Bewusstsein hatte bereits die Erfahrung einer notwendigen Wahrheit gemacht und kann sich deshalb nicht mit der Wahrscheinlichkeit – und damit Zweifelhaftigkeit – des Ausgedehnten begnügen. Daher muss Descartes in der dritten Meditation die Möglichkeit eines täuschenden Gebers (genius malignus) der äußeren Wirklichkeit ausschließen und die Gewissheit über das Ausgedehnte in eine notwendige Wahrheit verwandeln. Das extensum quid muss nicht nur mit Gewissheit, sondern mit Wahrheit bewiesen und damit zweifelsfrei werden. Descartes muss zeigen, dass die ausgedehnte Wirklichkeit nicht nur ein vorgestelltes Etwas ist (realitas objectiva), sondern tatsächlich reale ausgedehnte Substanz, die wirkliche Realität (realitas actualis) besitzt. Nur in der Übereinstimmung von vorgestellter und aktualer Realität kann der Zwiespalt von Wahrheit und Gewissheit aufgehoben und die beiden Seiten – Vorstellung und Ausgedehntes – auf den notwendigen Grund eines nicht täuschenden Gebens des „besten Gottes“ zurückgeführt werden. __________ 16

René Descartes wird zitiert nach: Œuvres (im Folgenden: AT mit Bandzahl). Hg. von Ch. Adam und P. Tannéry. Paris 1897-1913.

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Überraschend scheint zunächst, dass in dem Gottesbeweis der dritten Meditation die Wahrheitssemantik von Grund und Gabe wieder zur Einheit zusammenfindet. Descartes kann aber nur deshalb wieder problemlos eine solche wahrheitssemantische Einheit denken, weil sich in der Aufhebung des frühneuzeitlichen Denkens Philosophie und Religion so unwiderruflich systematisch entkoppelt haben, dass mit der Wahrheitssemantik der Gabe kein Rückfall in Dogmatik mehr droht. Der Gang des frühneuzeitlichen Denkens hat Grund und Gabe voneinander befreit, um sie neu wieder zusammendenken zu können. Dass Descartes den Begriff der Wahrheit als „transcendentalement claire“ (AT II, S. 597) bezeichnet, bedeutet daher keine Rückkehr zur scholastischen Bestimmung des Prädikats verum als Transzendentalie, sondern eine Hinwendung zum Wahrheitsideal der Evidenz methodischer Regeln. Siebte These: Die Autonomie der natürlichen Vernunft, deren Licht nicht mehr die Offenbarung, sondern das lumen naturale ist, erreicht in Descartes’ Meditationen ihren frühneuzeitlichen End- und neuzeitlichen Anfangspunkt. Interessanterweise findet hier die getrennte Wahrheitssemantik von Grund und Gabe wieder zusammen, deren Synthese notwendig wird, um den Riss zwischen Wahrheit und Gewissheit zu überbrücken. Die natürliche Vernunft erreicht im Ego cogito und seinem methodischen Zweifel zwar den Punkt der Selbstgewissheit, bleibt aber solange auf unsicherem Boden, wie seine Denkinhalte, die cogitationes, und die von ihnen vorgestellte Außenwelt bezweifelbar sind. Daher muss die notwendige Wahrheit und Existenz eines gütigen Gebers bewiesen werden, der alle Täuschung ausschließt. Der Grund der notwendigen Wahrheiten ist als sich selbst begründendes und am meisten reales Prinzip wieder Grund und Gabe zugleich.

8. Entdisziplinierung der Wissensformen: Die Legitimität der Frühen Neuzeit? Der Epochenbegriff Frühe Neuzeit bezeichnet je nach Disziplin überaus heterogene Zusammenhänge. Die forschungspraktisch berücksichtigten Zeitspannen reichen mitunter großzügig von 1300 bis 1800, drohen aber sinnlos zu werden, weil sie kaum noch etwas erklären oder unterscheiden. Gegen die Indifferenz solcher akademischen Praktiken haben sich seit Hegel Versuche einer konstruktiven Historiographie und „Logotektonik“ (H. Boeder) gewandt, die betonen, dass sich Epocheneinteilungen und -begriffe nur durch prinzipientheoretische Konstruktionen, und nicht bereits aufgrund empirischer Datensammlungen, wissenschaftspragmatischer Gewohnheiten oder historiographischer Standardterminologien legitimieren lassen.17 Historisierungsleistungen sind selbst historisch, doch sie gerinnen rasch zu wissenschaftlichen Usancen, die vergessen lassen, __________ 17

Vgl. Dirk Westerkamp: Die philonische Unterscheidung. Aufklärung, Orientalismus und Konstruktion der Philosophie. München 2009, S. 191-214.

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dass es sich um Ex post-Konstruktionen handelt, deren Gewordensein in den Begriffen unsichtbar zu werden droht. Was eine Epoche oder Phase zu einer solchen macht, kann nur durch ein übergreifendes geistiges, geschichtliches oder ökonomisches Prinzip bestimmt werden, in dem sich dieses Zeitalter zu kristallisieren scheint. Was die Philosophie anlangt, so lässt sich als das epochale systematische Kraftfeld ihrer frühneuzeitlichen Phase jene epistemische Dynamik von Wissen und Wahrheitsbegriff bestimmen, die von der Differenz zwischen kontingenter und notwendiger Wahrheit (Duns Scotus) über die nominalistische Reduktion auf Satzwahrheit (Ockham) bis zum konjekturalen Wissen und der negativen Theologie der Wahrheit reicht, mit der Cusanus die Sacra scientia in eine Docta ignorantia umwandelt. Heribert Boeder hat diese Entwicklung als „Verschließungsphase“ der Zweiten Epoche der Metaphysik in Gestalt ihrer natürlichen Theologie gedeutet.18 Seine Interpretation verrät eine doppelte Geste, die erlaubt, die Frühe Neuzeit als philosophiehistorische Phase eigenen Rechts und doch zugleich in ihrem transitorischen Charakter zu verstehen. Von älteren Philosophiehistorikern als Verfallsgeschichte des mittelalterlichen Denkens,19 von jüngeren als systematisch uneinheitliche Übergangsperiode zur neuzeitlichen Philosophie charakterisiert, trägt die Frühe Neuzeit offenkundig den Makel eines historischen „Zwischen“, der es müßig scheinen lässt, ihre „Legitimität“ verteidigen zu wollen. Freilich ist schon die Rede von der Legitimität prekär, wenn nicht linguistisch sinnlos. Legitim sind Handlungen, vielleicht auch historische Begriffe und die mit ihnen verbundenen Epochalisierungen, kaum aber philosophiegeschichtliche Epochen selbst. In diese Richtung weist Scheiers Kritik, die noch auf einen weiterreichenden Aspekt aufmerksam macht: Die Säkularisierungsthese (Löwith) und die Legitimitätsthese (Blumenberg) gehen gleichermaßen von problematischen Voraussetzungen aus. Sie suggerieren, dass ausgemacht sei, was da Mensch und was da Welt ist, auf das hin säkularisiert wird: „Welcher Mensch aber und welche Welt sollten dies sein, wenn nicht diejenigen, deren Kenntnis wir jener Neuzeit voraushaben, der es noch nicht eingefallen war, ihre Verwandlung des mittelalterlich-christlichen Gedankens, sei es als Säkularisierung, sei es als Absolution des Interesses und der Sorge des Menschen an und um sich selbst gegen die Theologie zu verstehen? Beide Thesen sind versteckterweise teleologisch […]“.20 Geht man statt von der Legitimität von Epochen von der Notwendigkeit zur Legitimierung von Epochenbegriffen aus, dann können wir den Terminus Frühe Neuzeit für die Philosophie vielleicht am deutlichsten aus dem Prinzip der Verwandlung ihrer Wahrheitssemantik herleiten. Ob man eine systematisch „geschlossene Ein__________ 18 19 20

Boeder: Topologie der Metaphysik (wie Anm. 10), S. 303-344. Wilhelm G. Tennemann: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Bearb. von Amadeus Wendt. Leipzig 1829, S. 297. Claus-Artur Scheier: Von der Geschichtlichkeit des Glaubens in der Philosophie. Bemerkungen zum neuzeitlichen Gottesbegriff. In: Religion und Gott im Denken der Neuzeit. Hg. von Albert Franz und Wilhelm G. Jacobs. Paderborn 2000, S. 11-23, hier S. 13.

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heit“21 ableiten kann, wie es Cassirer und andere für die Renaissance-Philosophie getan haben,22 mag im Fall des frühneuzeitlichen Denkens bestreitbar sein. Zweifellos aber haben wir in der Verwandlung der Wahrheitssemantik einen zentralen Punkt dieser Phase. Man könnte ihre Legitimität (das Wort mit dem erwähnten Vorbehalt gebraucht) aus eben jener Detranszendentalisierung der Wahrheit und Neuausrichtung des Wissens herleiten, mit der die Frühe Neuzeit Glauben, Philosophie und empirische Wissenschaften in ihrer Autonomie und Ausdifferenzierung befördert, ohne sie zu dissoziieren. Noch Leibniz’ Idee, dass alle Tatsachenwahrheiten von einer göttlichen Vernunft als Vernunftwahrheiten eingesehen werden könnten, zeigt diese Klammer, die sich erst im Übergang in die Moderne auflöst. Die frühneuzeitliche Philosophie trennt Grund und Gabe, Glauben und Wissen, um sie als Unterschiedene wieder aufeinander beziehen zu können. Es ist ein eigentümlicher Chiasmus: Die Wiederzusammenführung von Grund und Gabe beruht gerade auf der autonomen Scheidung von Glauben und Philosophie. Deshalb gibt es in ihrem wechselseitigen Prozess ebensowenig ein Erstes und Zweites wie beim komplementären epistemischen Ratchet-Effekt. Die Detranszendentalisierung der Wahrheit hängt mit der Expansion und Departmentalisierung des Wissens zusammen und umgekehrt. Die akademischen Umwälzungen etwa des Grundstudiums an den Artistenfakultäten haben zu einem konsequenten Umbau der Fächer des Quadriviums geführt, die sich zu einer Naturphilosophie weiterentwickeln, welche zunehmend auf unmittelbare, nicht mehr nur allgemeine Naturerkenntnis zielt.23 Nicht mehr nur die Gesetze der Natur, nicht mehr ihre Schöpfungsgeschichte, sondern ihr konkretes Sosein wird zum wissenschaftlichen Gegenstand, ebenso wie eine dezidiert experimentelle Methodik.24 Dieser Trend spiegelt sich in Cusanus’ De mente, wo das Quadrivium als Propädeutik der Philosophie gefeiert wird, aber eben nicht ihrer verschulten Gestalt, sondern ihrer Gegenstände wegen bedeutsam bleibt: Arithmetik und Musik als Wissen der Zahlen, Geometrie und Astronomie als Wissen der Größen und Verhältnisse (De mente 10, n. 127). Es ist kein Lob eines Kanons der freien Künste mehr, dessen Autorität seit Dantes Il Convivio (1308) untergraben wird und dessen Grenzen von den Kenntnissen längst gesprengt sind, sondern ein Lob der Expansion dieser Kenntnisse und der Genauigkeit ihrer neu entwickelten Methoden. Man muss gleichwohl festhalten, dass sich die doppelte Wahrheitssemantik von Grund und Gabe im (früh)neuzeitlichen Denken zwar differenziert, aber nicht endgültig entzweit. Mit ihrer Überzeugungskraft ist es erst dort zu Ende, wo die historische Reali__________ 21 22 23 24

Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1926). ECW 14, S. 6. Zum Wahrheitsbegriff der Renaissance vgl. Ronald David Bedford: The Defence of Truth. Manchester 1979. Vgl. Pierre Glorieux: La faculté des arts et ses maîtres au XIIIe siècle. Paris 1977. Vgl. Andrew George Molland: Medieval ideas of scientific progress. In: Journal of the History of Ideas 39 (1978), S. 561-577.

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tät natürlicher Produktionsformen verschwindet. Die Moderne folgt, anders als die Neuzeit, einem Paradigma, das die natürliche Produktivität nicht mehr nachahmend übertreffen, sondern in ihre Grundlagen selbst eingreifen und verändern will. Die Vorstellung, die Produktivität der Natur selbst produzieren zu können (wie in der heutigen Biologie), hätte gegen den Glauben nicht nur der Frühen Neuzeit verstoßen, die eben keineswegs unter die Räder einer vermeintlichen Säkularisierung gerät, sondern den Glauben auf dem Fundament der natürlichen Vernunft noch einmal neu aufbaut. Ihn verwirft die Neuzeit so wenig wie die Frühe Neuzeit, meint aber, „dass dieser Glaube die ,natürliche‘ Erkenntnis nicht mehr so vollendet wie die Gnade die Natur [vgl. Summa theologiae I, 2, 2, ad 1], sondern vielmehr in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit bezeugt. Der neuzeitliche Glaube spricht sich deshalb wesentlich in ,Konfessionen‘ aus […]“.25 Achte These: Es gibt keine Legitimität von Epochen, sondern nur von Epochenbegriffen, deren Einteilungsvorschläge prinzipientheoretisch begründet werden müssen. Das für den Wahrheitsbegriff übergreifende geistige Prinzip der Frühen Neuzeit ist der Prozess der Vermittlung einer nichtsäkularen Detranszendentalisierung des Wahrheitsbegriffs mit der Neuordnung und Entdisziplinierung der Wissensformen. Kontovers bleibt, wo der spezifische Schnitt der Neuzeit ansetzt: zweifellos bei Descartes, möglicherweise schon bei Cusanus, während Duns Scotus und Ockham als entscheidende Wegetappen der Ausdifferenzierung von Wahrheitsgrund und Wahrheitsgabe zu berücksichtigen sind. Gabe und Grund, Glaube und Philosophie haben sich in der Frühen Neuzeit autonomisiert, ohne getrennt zu werden. An den Konsequenzen dieser Entwicklung für die Wahrheitssemantik – die sich von der modernen Desubstanzialisierung und Propositionalisierung des Wahrheitsbegriffs maßgeblich unterscheidet – zeigt sich, wie hellhörig das philosophische Denken für die Verwandlungen der Wahrheitssemantik bleiben muss. Denn mit ihr wandelt sich stets auch unser (nicht nur) europäisches Selbstverständnis.

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Scheier: Geschichtlichkeit des Glaubens (wie Anm. 20), S. 21.

Victor Andrés Ferretti Dianoëtische Hirten. Zum Verhältnis von Bukolik und téchne bei Cervantes

Vorrede In Kapitel VI des Don Quijote (I) kommt es zur berühmten Visitation von Alonso Quijanos Bibliothek, der eine Vielzahl mehr oder minder prominenter Ritterbücher zum Opfer fällt. Nicht so wohlbekannt ist die Tatsache, dass sich unter den zahlreichen vom Pfarrer und Barbier vorsorglich (aus-)gemusterten Werken nicht nur Erzählungen in der Tradition des Amadis von Gallien befinden, sondern auch eine Reihe von schmalen Büchern, die von den beiden scrutatores als Versbände inventarisiert werden. Das erste dieser Werke ist Jorge de Montemayors Diana, ein siebenteiliger Schäferroman aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, den der Pfarrer ob seines pastoralen Gepräges für prinzipiell unbedenklich hält, da er delectatio bereite, ohne Dritten zu schaden (sin perjuicio de tercero). Hierauf muss jedoch die Nichte des geistvollen Hidalgos entschieden intervenieren, da sie weitere Fiktionskonfusion wittert:1 Nicht wundern würde es mich, wenn sich mein Onkel, von der Ritterkrankheit genesen, in denen [d. h. in den Schäferromanen] hier die Lust anliest, zum Schäfer zu werden und durch Wald und Flur zu wandern, zu singen, die Flöte zu spielen und, da sei Gott vor, sich gar als Dichter zu versuchen, wo das doch eine ansteckende, unheilbare Seuche sein soll.2

Alsdann muss der Seelsorger sein etwas voreiliges per me licet einschränken, so dass man Montemayors einflussreiche Diana-Dichtung auf einen privaten Index librorum purgandorum setzt: Die zu säubernden Stellen seien hierbei das vierte und fünfte Buch, in denen vom Tempel der Diana die Rede ist – einem Pantheon (im Zeichen der trans__________ 1

2

Es wird (aus interdisziplinären Gründen) im Haupttext aus der deutschsprachigen Übersetzung des Don Quijote von Susanne Lange (2 Bde., München 2008) zitiert (= DQ). Die originalsprachlichen Textstellen werden nach der vom Instituto Cervantes unter der Leitung von Francisco Rico besorgten Ausgabe (2 Bde. [Biblioteca Clásica 50] Barcelona 1998) jeweils in der Fußnote angeführt. Cervantes: DQ I, Kap. 6, S. 67 (orig.: „porque no sería mucho que, habiendo sanado mi señor tío de la enfermedad caballeresca, leyendo estos se le antojase de hacerse pastor y andarse por los bosques y prados cantando y tañendo, y, lo que sería peor, hacerse poeta, que según dicen es enfermedad incurable y pegadiza“, S. 84).

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latio imperii), wo ein Zaubertrank serviert wird, durch den das von unmöglicher Liebe befallene pastorale Personal wieder ent- sowie um(ge)liebt wird. Tilgen solle man dann auch so ziemlich alle lyrischen Passagen.3 Kurz gesagt: Was übrigbliebe, wäre platte Schäferprosa. Dem Decretum de libris non recipiendis fällt anschließend der Fortsetzungsroman des Alonso Pérez von 1563 gänzlich zum Opfer, nicht jedoch die als apollinisch begriffene Diana enamorada (eine Weiterführung des Gaspar Gil Polo von 1564), was aus dem Munde eines nach-tridentischen Geistlichen etwas erstaunt, da diese, diskurstypenspielerisch besehen,4 gerade eine plurale Erotisierung bukolisch ausagiert. Ebenfalls nach Art des Apoll, sogar das Beste seiner Art, sei ein Opus Antonio de Lofrasos mit dem Titel Los diez libros de Fortuna de Amor von 1573 – ein Schäferroman, der als ein exemplarisches Beispiel einer varietas suchenden Bukolik in der Frühen Neuzeit betrachtet werden kann.5 Die übrigen Hirtentexte, die man prüfend in Augenschein nimmt, sind – bis auf Luis Gálvez de Montalvos höfisch-schäferlichem Pastor de Fílida (1582) – alle nach Cervantes’ eigenem Schäferoman La Galatea von 15856 erschienen, der sich ebenso in Don Quijotes Büchersammlung befindet und erst einmal verschont wird, da er unvollendet geblieben sei und man abwarten wolle, wie die Geschichte denn weitergehe.7 Die bukolische Verklammerung dieser scrutatio könnte ohne Weiteres als ein vergnügliches metatextuelles Moment zu Beginn des Don Quijote verstanden werden. Man kann hierin aber auch bereits eine Cervantes’sche Differenzierung zwischen pastoralem Gehabe und bukolischem Gefüge erkennen, die sich im Quijote in einer Anzahl von pastoralen F(r)iktionen bezeichnend ausdrückt. So treffen der MöchtegernRitter und sein Knappe im Verlauf der Diegese auf eine Reihe von pastoralen Settings, die das bukolische Moment in diesem Universalroman als eine – in jedem Fall – bemerkenswerte Marginalie erscheinen lassen. Ebendiese Schäfer-Inferenzen werden noch nachdrücklicher, begreift man die vermeintliche Unvollendetheit der mäandernden Galatea weniger editionsphilologisch als vielmehr hypertextuell im Sinne einer Unabgeschlossenheit, womit die diesem Roman eingespiegelte Diskursivität in ihrer Gemengelage beschreibbar wird (und bleibt). Man hat es nämlich mit einer stark ineinander geschichteten Textur zu tun, die es in Anbetracht von Cervantes’ Opus eximium freilich schwer hatte, von der Sekundärliteratur __________ 3 4

5 6 7

Vgl. ebd., S. 67f. (orig.: S. 84). Zum Begriff des „Diskurstypenspiels“ vgl. Klaus W. Hempfer: Shakespeares ‚Sonnets‘: Inszenierte Alterität als Diskurstypenspiel. In: Shakespeares Sonette in europäischen Perspektiven. Ein Symposium. Hg. von Dieter Mehl und Wolfgang Weiß. Münster/Hamburg 1993, S. 169-205. Vgl. Cervantes: DQ I, 6, S. 68 (orig.: S. 84f.). Vgl. Miguel de Cervantes: La Galatea. Hg. von Juan Bautista Avalle-Arce. (Clásicos castellanos 5) Madrid 1987. Vgl. Cervantes: DQ I, 6, S. 69 (orig.: S. 86).

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zureichend kritisch gewürdigt zu werden.8 Wohl auch, weil dieses herausragende Werk in Sonderheit den Ritterroman persifliert. Die verzweigte Schäferlichkeit im Quijote ist dessen ungeachtet immer wieder in das Blickfeld der Cervantes-Forschung gerückt. So haben im Anschluss an grundlegende Studien von Américo Castro (1925), Francisco López Estrada (1948) und im Besonderen Juan Bautista Avalle-Arce (1974/1987) unter anderen Dominick Finello (1994) und jüngst wieder F. López Estrada (2005) sowie Henry W. Sullivan und Nilda Rivera (2008) auf die narratologische Bedeutsamkeit des Bukolischen für Cervantes hingewiesen.9 Im Quijote bergen die pastoralen Präsenzeffekte, so die in diesem Beitrag vertretene Auffassung, jedenfalls mehr als satirisches Potential, zumal das bukolische Dispositiv, um einen Begriff von David Nelting ins Spiel zu bringen, nicht auf bloße Genrespezifität beschränkt ist: Die Bukolik als gattungstranszendentes Dispositiv ist nicht nur eine Schreibweise, die alle Gattungen durchsetzt und so eine überwältigende Präsenz in den frühneuzeitlichen litterae erlangt. Sie ist auch […] ein Dispositiv, dem in ganz besonderem Maße die Reflexion und Demonstration der Herausbildung und der Bedingungen der eigenen Fiktionalität eignen. Damit gelingt es der Bukolik, zeichenhaft für zwei Bereiche einzustehen: Zum einen macht die Bukolik metapoetisch die eigene Konstitution zum Thema, und zum anderen inszeniert die Bukolik in der selbstreflexiven Fiktion als allein zeichenhaftem Raum epistemische Konfigurationen.10

Es handelt sich bei der frühneuzeitlichen Bukolik folglich um ein komplexes Gefüge,11 das sowohl für poetologische Vexierspiele als auch für die Fiktionalisierung von Wissen respektive für das Aus(r)a(n)gieren der Fiktionalität des Wissens Spielräume bereithält. __________ 8

9

10 11

Vgl. Robert M. Johnston: La Galatea: Structural Unity and the Pastoral Convention. In: Cervantes: Bulletin of the Cervantes Society of America 8 [Sond.-Ausg.: A Celebration of Cervantes on the Fourth Centenary of La Galatea, 1585-1985. Selected Papers. Hg. von John J. Allen, Elias Rivers und Harry Sieber] (1988), S. 29-42. Vgl. Américo Castro: El pensamiento de Cervantes. Madrid 1925; Francisco López-Estrada: Estudio crítico de La Galatea de Miguel de Cervantes. (San Cristóbal de) La Laguna 1948; ders.: Pastores en el Quijote. In: Anales Cervantinos 37 (2005), S. 15-32; Juan Bautista Avalle-Arce: La novela pastoril española. Madrid 1974; ders. (Hg.): La Galatea de Cervantes – cuatrocientos años después. Cervantes y lo pastoril. Newark, DE 1987; Dominick Finello: Pastoral Themes and Forms in Cervantes’s Fiction. Lewisburg 1994; Henry W. Sullivan/Nilda Rivera: El género pastoril y el episodio de Marcela como módulo narratológico. De nuevo sobre la elaboración del primer Quijote. In: Arkadien in den romanischen Literaturen. Hg. von Roger Friedlein, Gerhard Poppenberg und Annett Volmer. Heidelberg 2008, S. 281-294. David Nelting: Frühneuzeitliche Pluralisierung im Spiegel italienischer Bukolik. (Romanica Monacensia 74) München 2007, S. 19f. Es sei in diesem Zusammenhang explizit gesagt, dass hier kein „Gattungsgefüge“ im Sinne Wolfgang Kaysers (Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern 1948) gemeint ist, sondern vielmehr ein heterogenes Ensemble, in dem Schäferlichkeit als eine Art von Grundhaltung fungiert, die sich in unterschiedlichen Gattungsformen ausdrückt, welche

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Um Letzteres soll es im Folgenden gehen, wenn am Beispiel Cervantes’scher Bukolik die These einer bestimmten Hirten-Dianoia12 entwickelt werden wird. Hierzu erscheint es zuvorderst von Belang, ein Kunstwissen aus aristotelischen Begriffsscheidungen abzuleiten, um sodann entlang eines Parcours durch exemplarische Schäferpassagen aus Cervantes’ Werk eine sich darin reflektierende poietische Denkkraft beleuchten zu können.13

1. Habitus und Wissen Die Frage nach der Relation von epistéme und téchne wurde seit den sokratischen Dialogen vielfach debattiert.14 Die Problematik orientierte sich dabei maßgeblich an dem verwickelten Verhältnis von Wissen(schaft) und Kunst(fertigkeit) – einem Nexus, zu dem auch das Interesse am fiktionalen Anteil des Epistemischen gehörte, oder anders gefragt: Welche Fiktion(en) bedingt bestimmtes Wissen? Um fortan möglichst akkurat poetologische Erkenntnisbelange bei Cervantes benennen zu können, lohnt es sich daher, die wirkmächtige epistemologische Begriffsschau des Aristoteles im sechsten Buch seiner Nikomachischen Ethik einzubeziehen. Dort wird die dichotomisch unterteilte Seele (d. h. vernünftig/vernunftlos), was ihre rationale Seite anbelangt, weiter unterschieden in einen ‚kalkulierenden‘ (logistikón15) und einen

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sich selbst aus unterschiedlichen bukolischen Motiven, Topoi sowie Ausdrucksweisen konstituieren. Aus dem (noch zu) Folge(r)nden wird ersichtlich werden, dass der Dianoia-Begriff sich hier nicht mit Herman Northrop Fryes thematischer Ausdeutung in der Anatomy of Criticism (New Jersey 1957) deckt, die an Aristot. Poet. 19, 1456a-1456b orientiert ist. Die imposante wie internationale Mannigfaltigkeit der Cervantes-Forschung macht es fernab einer concessio verständlich, dass hier nur eine selektive und beileibe nicht allumfassende bibliographische Aufwickelung cervantinischer Lektürefäden geleistet werden kann. Zur Relation von téchne und Natur vgl. Hans Blumenberg: ‚Nachahmung der Natur‘. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, S. 55-103, bes. S. 55-57 u. 70-74. – Zum spezifischen Verhältnis von téchne und Mimesis vgl. (auf Blumenberg aufbauend) Wolfgang Iser: Mimesis und Performanz. In: ders.: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1993, S. 481-504, bes. S. 481-492. Dirlmeier übersetzt diesen Begriff mit „abwägend reflektierend“ (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers., eingel. u. komm. von Franz Dirlmeier. Frankfurt a.M. 1957, S. 123). Gigon wiederum versteht ihn im Sinne von „berechnend“ (vgl. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Übers. u. mit einer Einf. u. Erl. vers. von Olof Gigon. 7. Aufl., vollst. Ausg. München 2006, S. 232). Es scheint in jedem Fall etwas Überlegendes wie Berechnendes designiert zu sein, was beides durch ein „Kalkulieren“ ausgedrückt wird.

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‚epistemonischen‘16 (epistemonikón) Teil.17 Das bedeutet, dass der eine Seelenbereich überlegend beziehungsweise folgernd erkennt, der andere jedoch szientifisch. Damit wird eine differentia specifica zwischen téchne und Wissenschaftlichkeit offenkundig, welche die jeweiligen Erkenntnisobjekte betrifft: Während die epistéme sich mit notwendigen Wahrheiten (d. h. Unveränderlichem/Ewigem) beschäftigt, gilt das Erkenntnisinteresse der Kunst(fertigkeit) variablen Dingen. In den Kapiteln drei und vier des sechsten Buches zeichnet sich eine axiomatische Trennlinie ab, die zwischen (a) einem Herstellen von nicht in sich selbst gründenden Objekten (etwa Gebäuden) und (b) sich selbst bedingenden Naturdingen oder notwendig unveränderlichen Sachverhalten (z. B. Geometrie) verläuft.18 „Die Kunst ist also, wie gesagt, ein mit richtiger Vernunft verbundenes hervorbringendes Verhalten [héxis] […] bei Gegenständen, die sich so oder anders verhalten können.“19 Der epistéme wiederum eignen demonstrative Züge, denn sie ist sowohl lehr- wie lernbar: „Die Wissenschaft ist demnach ein beweisendes Verhalten […]. Wo nämlich eine bestimmte Überzeugung vorliegt und man die Prinzipien kennt, da ist Wissenschaft“.20 Nun heißt das nicht zwangsläufig, dass man einzig über ein wissenschaftliches, ein epistemonisches Wissen verfügen könnte; nein, auch ein poietisches Wissen scheint zugänglich, doch wird dessen Erkenntnis stets Kontingentes (d. h. Auch-andersMögliches) als Ziel haben. Etwas heikler wird das aristotelische Begriffstaxieren, wenn im Anschluss an die epistéme/téchne-Differenz die phrónesis ins Spiel kommt, wodurch die dianoëtische Trennung zwischen einem Herstellen (poíesis) und einem Handeln (prāxis) manifest wird. Denn beide veränderlichen ‚Bewegungen‘ drücken je unterschiedliche Habitus aus: téchne bezeichnet hier – und abermals – ein vernunftverbundenes Produzieren von Objekten, deren Ursprung nicht in ihnen selbst liegt; Gegenständen also, die nicht sein müssten und nur sind, weil sie jemand hervorgebracht hat. Eine vernunftgeleitete Handlung hingegen ist, obschon sie ebenfalls Kontingentes angeht, eine Angelegenheit der gewissenhaften Klugheit, die infolgedessen weder mit der epistéme noch mit der téchne in eins fallen kann: __________ 16

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Eugen Rolfes verwendet diesen Aristotelismus in seiner Übertragung, um eine betreffende Wissensinhärenz auszudrücken (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf d. Grundl. d. Übers. von Eugen Rolfes. Hg. von Günther Bien. 4., durchges. Aufl. Hamburg 1985, S. 131). Vgl. Aristot. EN VI.2, 1139a. Dass die Frage nach einer epistemonischen Erkenntnis von Naturdingen bei Aristoteles nicht ganz interferenzfrei verhandelt wird, zeigen Richard Parrys Auslassungen zur aristotelischen epistéme in seinem Artikel: Episteme and Techne. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Hg. von Edward N. Zalta ( [13.11.2009]). Aristot. EN VI.4, 1140a; zitiert nach der Übersetzung von Olof Gigon (wie Anm. 15), S. 235. – Soweit nicht gesondert gekennzeichnet, wird fortan auf die Übersetzung Gigons rekurriert [entsprechende Seite(n) in eckigen Klammern]. EN VI.3, 1139b [S. 234].

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[S]o wird also die Klugheit [phrónesis] weder Wissenschaft noch Kunst sein; nicht Wissenschaft, weil der Gegenstand des Handelns sich auch anders verhalten kann, und nicht Kunst, weil Handeln und Hervorbringen verschiedene Gattungen sind.21

Nun nähme sich das noch relativ plan aus, wenn der Unterschied zwischen phrónesis und epistéme prinzipiell auf die Objektqualität (veränderbar oder nicht) bezogen und die Differenz von téchne und phrónesis auf eine jeweilige Bewegungsweise beschränkt blieben: Ersteres resultierte ja bereits aus dem Postulat einer zweigeteilten (d. h. forschend/deliberierend) Vernunft-Seele;22 Letzteres ergäbe sich aus der Binnendifferenzierung (Poiesis/Praxis) der praktischen Vernunft.23 Aristoteles präzisiert: Das Denken für sich allein bewegt nichts, sondern nur das auf einen Zweck gerichtete und praktische Denken. Dieses ist auch der Ursprung des hervorbringenden Denkens. Denn jeder Hervorbringende tut dies zu einem bestimmten Zwecke, und sein Werk ist nicht Zweck an sich, sondern für etwas und von etwas. Das Handeln ist dagegen Zweck an sich. Denn das rechte Verhalten ist ein Ziel, und das Streben geht darauf.24

Die ethische Ausrichtung dieser Argumentation wird jetzt intelligibel. Handeln hat nämlich mit vernünftigem Streben zu tun; dieses ist aber ohne ein Denken nicht möglich. Praktische Vernunft meint demgemäß, dass sowohl das Denken als auch das Streben einen Unterschied machen. Gut zu handeln oder Gutes hervorzubringen – das sind zwar unterschiedliche Habitus, sie eint jedoch eine jeweilige Zweckgebundenheit, die man für die Handlung performativ (intrinsisch) und für das Handeln repräsentativ (extrinsisch) nennen könnte. Mithin ist die aktiv begriffene phrónesis „[…] ein mit richtiger Vernunft verbundenes handelndes Verhalten […] im Bezug auf das, was für den Menschen gut oder schlecht ist. Das Hervorbringen hat ein Ziel außerhalb seiner selbst, das Handeln nicht. Denn das gute Handeln ist selbst ein Ziel“.25 Aristoteles erörtert dann in der Folge die Weisheit sowie den Geist/Intellekt, so dass man es im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik letztendlich mit fünf aristotelischen

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EN VI.5, 1140b [S. 236]. Vgl. EN VI.2, 1139a [S. 232]. Vgl. EN VI.4, 1140a [S. 234f.]. EN VI.2, 1139a-b [S. 233]. EN VI.5, 1140b [S. 236]. – Man kann nachvollziehen, weshalb Hans-Georg Gadamer in seiner Edition die phrónesis nicht als tugendhafte Klugheit verstanden wissen möchte, sondern als eine Art praktischer „Vernünftigkeit“: „‚Klugheit‘ ist überhaupt keine Tugend, sondern eine Naturgabe. Offenbar lag Aristoteles daran, daß das praktische Wissen der Phronesis vor allem die Urteilsfähigkeit im konkreten Fall meint, auch wenn man normative und begriffliche Gesichtspunkte der Erziehung und des Ethos auf diese Weise verwirklicht“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik VI [Griechisch/Deutsch]. Hg. u. übers. von Hans-Georg Gadamer. Frankfurt a.M. 1998, S. 19). – Gegen Ende des sechsten Buches heißt es hierzu (in der Übersetzung Gigons): „Es ergibt sich also aus dem Gesagten, daß man nicht in einem wesentlichen Sinne gut sein kann ohne die Klugheit, noch klug ohne die ethische Tugend“ (EN VI.13, 1144b [S. 249]).

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Erkenntnisbegriffen (téchne, epistéme, phrónesis, sophía, noūs26) zu tun hat. Für den Kontext hier soll es ausreichen, die dianoëtische Triade epistéme–téchne–phrónesis protokolliert zu haben. Indes gilt es noch einen weiteren aristotelischen Terminus zu bedenken, der das epistemologische Terrain, um das es forthin gehen soll, konkreter abzuschreiten hilft. Es handelt sich dabei um den Begriff der empeiría, der im ersten Buch der Metaphysik aufkommt, wenn dort das epistemologische Vermögen der Erfahrung wie auch der Kunst und Wissenschaft erörtert wird. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass téchne und epistéme kraft empeiría näher aneinanderrücken, als dies etwa in der Ethica Nicomachea der Fall ist. Obzwar die Wissenschaft der Kunst bezüglich einer Absolutheit von Erkenntnis überlegen bleibt, zeichnet eine Kunstfertigkeit sehr wohl die Kenntnis von Kausalitäten aus, was eben eine allein auf Erfahrung beruhende ‚Erkenntnishandlung‘ nicht vermag, da dieser ein sachkundiges Wodurch-Wissen fehle: Trotzdem meinen wir, daß das Wissen und Verstehen mehr der Kunst zuzurechnen ist als der Erfahrung [empeiría], und halten die Künstler für weiser als die Erfahrenen, als folge bei allen die Weisheit in höherem Grade nach Maßgabe des Wissens. Doch das ist deshalb so, weil die einen die Ursache kennen, die anderen aber nicht. Die Erfahrenen wissen zwar das ‚Daß‘, doch das ‚Weshalb‘ [dioti] wissen sie nicht; jene hingegen kennen das ‚Weshalb‘ und die Ursache. Daher schätzen wir auch die leitenden Künstler [architéktonas, V.A.F.] in jeder Hinsicht höher ein und glauben, daß sie mehr wissen und weiser sind als die Handwerker, weil sie die Ursachen dessen, was hervorgebracht wird, kennen. (Die Handwerker dagegen gleichen manchen unbelebten Dingen, die zwar stets etwas hervorbringen, aber nicht wissen, was sie hervorbringen – wie etwa das Feuer brennt –; wie nun die unbelebten Dinge zufolge ihrer bestimmten Natur das Einzelne hervorbringen, so die Handwerker zufolge der Gewohnheit.) Und wir glauben, daß sie nicht im Hinblick auf ihre Fähigkeit zum Handeln weiser sind, sondern weil sie über den Begriff verfügen und die Ursachen kennen. Überhaupt ist das Vermögen zu lehren ein Zeichen des Wissens gegenüber dem Nicht-Wissenden, weshalb wir auch meinen, daß die Kunst mehr Wissenschaft sei als die Erfahrung.27

Pointiert gefasst fußt Erfahrungswissen auf einer basalen token-Wahrnehmung; Kunstwissen auf einem allgemeinen type-Erfahrungswissen; und Wissenschaft schließlich auf einem absoluten type-Erfahrungswissen.28 Die epistemologische Leiter bis zur téchne-Stufe sähe sonach wie folgt aus: Man sieht zunächst etwas, nimmt es wahr. Erinnert man sich nun an dieses Wahrgenommene, __________ 26 27

28

Gadamer begreift den noūs in seiner Übertragung als „Vernunft“ (sowie die téchne als „Sachkundigkeit“); vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik VI (wie Anm. 25), S. 29. Aristot. Met. I.1, 981a-b; – zit. nach: ders.: Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie. Hg. u. übers. von Franz F. Schwarz. Stuttgart 2000, S. 18f.; unter Konsultation von: [Aristotelus Ta meta ta physika =] Aristotle's Metaphysics. Hg. von William D. Ross. 2 Bde. Oxford 1924, Bd. 1. Zur type/token-Unterscheidung vgl. Andreas Mahler: Performanz. Spielraum des Bedeutens. In: Theatralität und Räumlichkeit. Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv. Hg. von Jörg Dünne, Sabine Friedrich und Kirsten Kramer. Würzburg 2009, S. 235-250, S. 237 u. Anm. 10.

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ermöglicht das Erfahrung, die aus „viele[n] Erinnerungen an ein und denselben Sachverhalt“29 resultiert.30 „Und Kunst entsteht dann, wenn sich aufgrund von vielen Beobachtungen der Erfahrung eine allgemeine Auffassung von ähnlichen Sachverhalten entwickelt.“31 Doch damit zeigt sich eine quasi skeptizistische und – von Michel de Montaigne in seinem prominenten Essay „De l'Experience“ später behandelte – erkenntnispraktische Nahtstelle, die Aristoteles bereits zu ahnen scheint, wenn er vorwegnimmt, dass ein Kunstwissen ohne Erfahrung der empeiría epistemologisch unterlegen sein könne: Ursache dafür ist, daß die Erfahrung ein Erkennen der Einzelfälle darstellt, die Kunst aber ein Erkennen des Allgemeinen, daß sich jedoch alle Handlungen und alle Entscheidungen um ein Einzelnes drehen. […] Sollte nun jemand über den Begriff verfügen ohne Erfahrung und das Allgemeine kennen, aber über das darin enthaltene Einzelne in Unkenntnis sein, so wird er oft die richtige Heilung [therapeia] verfehlen; heilen muß man nämlich den Einzelfall.32

Man kann also durchaus über ein bestimmtes type-Wissen verfügen und gleichwohl das token verkennen. Zugleich ist es denkbar, dass man lediglich über ein Pointenwissen verfügt, welches nur zufällig erlangt wurde (also ohne eine prinzipielle Kenntnis).33 Kurz und gut: Wahrnehmung ermöglicht Erfahrung (über das Erinnern), und Erfahrung ermöglicht ein téchne-Wissen, das sie zugleich bereichert. Die Gründe für das Tun einer Sache zu kennen, meint dementsprechend etwas anderes, als lediglich zu wissen, wie man etwas tut, oder eben: dass man etwas tut. Demnach ist ein Erfahrungswissen, besser: ein ‚Gewohnheitswissen‘34 nicht deckungsgleich mit einem Wissen aus Erfahrung (d. h. einem Wissen, das einem Erfahrungsbegriff entspringt). Als Richtschnur dient die Fähigkeit zu lehren: Denn nur wenn man das, was man zu machen weiß, auch vermitteln kann, beherrscht man das Repertoire seiner téchne. Die Wissenschaft ist dabei absoluter in ihrem Erkenntnisvermögen. Doch vielleicht ist das gerade die Chance der Kunst, als Habitus verstanden: Zwischen Erfahrungswissen und einem Wissen aus Erfahrung produktiv zu oszillieren – besonders in Zeiträumen wie dem Siglo de Oro, da an epistemologischer Absolutheit rationabiliter Zweifel bestehen.

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Aristot. Met. I.1, 980b. NB: Zwischen dem Erinnern und dem Erfahren wäre noch ein ‚Lernen-Hören‘ anzuführen. Aristot. Met. I.1, 981a. Ebd. – Aristoteles bezieht sich hier auf die Heilkunst. Vgl. Aristot. EN VI.3, 1139b. Vgl. Aristot. Met. I.1, 981b.

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2. Pastorale Hexis Gegen Ende des zweiten Teils (Kap. 67) beschließt Don Quijote nun, Schäfer zu werden – ja, sich und seine Umgebung ‚einzuschäfern‘. Er erwägt, mit Sancho Panza, zumindest für eine Zeitlang,35 dem müßigen Schäferamt zu frönen, für dessen Otium (oder vielmehr: decorum) es lediglich etwas Liebesleid, ein paar Schafe, neuer bukolischer Namen sowie einiger Schäferinnen bedürfe.36 Als er diese Absicht etwas später (Kap. 73) im Kreise seiner Vertrauten offenbart, erwidert seine weniger belesene Haushälterin, dass man für das Schäfersein nicht so sehr eine Staffage als vielmehr eine Physis benötige, da es keineswegs ein Leichtes sei, etwa im Winter und flankiert von Wolfsgeheul im Gebüsch zu nächtigen,37 womit sie einen realen Referenzbereich von Schäferlichkeit anzeigt, der der imaginären Mitwahrnehmung des Alonso Quijano entgegensteht.38 Signifikant ist an diesem Punkt die fiktionsüberblendende derivatio, mit der sich Don Quijote selbst attribuiert und welche die Hexis des vergehenden Möchtegern-Ritters und angehenden Pseudo-Hirten unikal ausdrückt: „caballero andante o pastor por andar“.39 Spätestens hier, im vorletzten Absatz des vorletzten Kapitels, wird deutlich, dass es nicht nur um eine Schäferlichkeit im Don Quijote geht, sondern auch um eine Schäferlichkeit in Don Quijote. Praxeologisch gefasst könnte man davon sprechen, dass im Quijote zwischen einem oberflächlichen Schäfer-Verhalten und einer Art bukolischen Wissens (samt téchne) differenziert wird.40 Es handelt sich in gewissem Sinne um ein satirisch angereichertes Widerspiel zwischen pastoraler Hexis und bukolischem Habitus, das den Roman iterativ durchzieht. So ist es etwa kein Zufall, dass eine famose oratio Don Quijotes, nämlich die über das Goldene Zeitalter (I, 11), in einem genuin pastoralen Setting stattfindet. Diese schreibt sich in die römisch-antike Tradition chevaleresque ein, wobei der Hidalgo hier vor ein paar unbelesenen Ziegenhirten spricht, die mit derlei güldenen Herleitungen nicht mehr anzufangen wissen, als ihm den erudierten Schwall mit einem Hirtenlied zu __________ 35

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Don Quijote wird bekanntlich im 64. Kapitel (II) bei einem (Lanzen-)Duell zu Barcelona vom sogenannten ‚Ritter vom weißen Monde‘ geschlagen und soll als Konsequenz der Niederlage sein Ritteramt für ein (Buß-)Jahr in seinem Dorf ruhenlassen. Vgl. Cervantes: DQ II, 67, S. 578 (orig.: S. 1174f.). Vgl. ders.: DQ II, 73, S. 620 (orig.: S. 1214). Der geistreiche Edelmann wird schlussendlich nur eine Nacht in Schäferpose verbringen, die zudem von einer Schweineherde und anderem gestört wird (vgl. ebd., S. 68). Vgl. Cervantes: DQ II, 73, S. 620f. (orig.: S. 1215). Diese Unterscheidung findet sich prononciert bei Pierre Bourdieu: Esquisse d’une théorie de la pratique, précédé de trois études d’ethnologie kabyle. Paris 1972; ders.: Le sens pratique. Paris 1980. – Vgl. dazu konkret Gerhard Fröhlich: Die Einverleibung sozialer Ungleichheit (Habitus, Hexis). In: Bourdieus Erben. Hg. von Elisabeth Nöstlinger und Ulrike Schmitzer. Wien 2007, S. 41-54.

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danken, das ein junger Gefährte darbringen soll, damit man sehe, „dass wir auch in Berg und Tal etwas von Musik verstehen“.41 Die Romanze stellt sich als ein eher liebloses Ausbuchstabieren einer neuplatonischen Liebeskonzeption heraus, inklusive der Reden über trughafte Schönheiten (hipócritas hermosuras) und lautere Absichten (más bueno es mi designio), was auch nicht wundernimmt, da der klerikale Onkel des singenden Hirten seine kompositorischen Finger im Spiel hatte (el romance de tus amores, que te compuso el beneficiado tu tío). Als Don Quijote um eine weitere Weise bittet, hält ihn Sancho Panza davon ab, denn „schließlich arbeiten die braven Leute den lieben langen Tag und können ihre Nächte nicht mit Singerei verbringen“.42 Man hat es unmissverständlich mit realen Hirten zu tun, die indes von einem fingierten Schäfer namens Grisóstomo zu berichten wissen, der aus unerwiderter Liebe gestorben sei. Dieser, eigentlich ein salmantinischer Astrologe, sei eines Tages in rustikaler Schäfertracht aufgetaucht, da er sich einer unverschämt schönen (Drop-out-)Schäferin mit Namen Marcela verschrieben hätte, die aber sein Werben nicht beachtet habe. Kurzum: Man schließt sich der Trauergemeinde an und wohnt einem unorthodoxen Begräbnis bei, bei dem auch ein (Klage-)Lied des verstorbenen Schäferstudenten vorgetragen wird, in welchem die Grausamkeit der Marcela angeklagt wird. Bezeichnend ist, dass in der canción der Frau Dinge zugeschrieben werden, die man ihr, so die einhellige Meinung danach, sonst nicht vorwerfen könne, womit ein Nimismus decouvriert ist. Das Thematisieren einer Fiktionalität des Leidens wird sodann diskursiv konterkariert, als sich die selbsterwählte Schäferin, auf einem Felsen stehend, persönlich an die Trauergemeinde wendet und ihre Sicht der Dinge offenbart. Diese lässt sich als eine Art von Apologie verstehen, bei der Marcela nicht nur ihre Unschuld an Grisóstomos Tod beteuert, sondern vor allem auch die diskursiven Parameter ihrer Situation in den Kontext einer honra-Thematik43 rückt. Es geht also nicht einzig um das Hinweisen auf die Ungereimtheit etwaiger Reime, sondern um die syllogistische Schiefheit eines pastoralen Korrespondenzdiskurses. Was Marcela, die gewordene Schäferin, aufwirft, ist nichts Geringeres als die Ungerechtigkeit eines auf univoken Entsprechungsrelationen beruhenden Liebesverständnisses, das speziell in der petrarkistischen Liebeslyrik als Diskursfolie fungiert. Im Kontext der prekären Frauenehre zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Spanien ist Marcelas Verteidigungsrede doppelt brisant: zum einen als ein expliziter Hinweis auf die chauvinistische Grundkonstellation petrarkistischen (und sicher auch bukolischen) Dichtens; __________ 41 42 43

Cervantes: DQ I, 11, S. 101 (orig.: „que tenemos que también por los montes y selvas hay quien sepa de música“, S. 124). Ebd., S. 104 (orig.: „que el trabajo que estos buenos hombres tienen todo el día no permite que pasen las noches cantando“, S. 127). Zum spanischen Ehrbegriff vgl. Alfonso de Toro: Von Ähnlichkeiten und Differenzen. Ehre und Drama des 16. und 17. Jahrhunderts in Italien und Spanien. Frankfurt a.M. 1993, S. 74-127.

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zum anderen als die durch das unreflektierte Nachahmen dieser Rede von Liebe proliferierte soziokulturelle Einseitigkeit. Oder anders formuliert: Marcelas Verteidigung gewinnt deshalb an konterdiskursiver Brisanz, da sie im Gewand einer Schäferin einen als pastoral verkleideten patriarchalen Gestus kritisiert. Niemand zweifelt daran, dass der verstorbene Schäfer kein richtiger war, doch niemand bezweifelt gleichzeitig, dass Schönheit weiterhin verpflichtet. Im Korsett ihrer Zeit kann eine Frau noch so eskapistisch wie Marcela l(i)eben, um ihre honra zu ehren und zu wahren; ihre Freiheit bleibt stets an ein männliches Subjekt gebunden. Dieses kann, poetisch (üb)erhöht oder menschlich unterwandert, über ihre Ehrlichkeit bestimmen – diskursive Disparität gleichsam. Nun wurde auf die Relevanz der Marcela-Episode bereits verschiedentlich hingewiesen.44 Und es ist für diesen Zusammenhang bedeutsam, darauf zu insistieren, dass das arkadische Framing dieser Passage nicht zufällig gesetzt ist, vermag es doch offenkundig die Fabriziertheit eines erotischen Diskurses nahezulegen, in dem die Rolle der Frau, sei es in der Fiktion, sei es in der sozialen Realität, an männliche Erzeugnisse gekoppelt bleibt. Doch welchen Wert hat dann eine Maske, wenn Apoll auch in der Realität waltet? Man muss hier keine Entelechie des Frauseins ansetzen, um dennoch eine Diskrepanz zwischen dem actus und der Potenzialität des Weiblichen zu erkennen, die Cervantes ohnedies bereits in seinem pluralisierenden Hirtenroman am Beispiel der Gelasia aus der Latenz holt, die gerade als Schäferin nicht bereit ist, auf das zu verzichten, was ihr in der Rolle der Schäferin merkwürdig versperrt scheint: Freiheit und Selbstbestimmtheit. Gewiss, auf dieses non omnia vincit amor wird bereits in Theokrits 27. Idylle angespielt, in der Daphnis eine Jungfrau mit Namen Acrotimé bedrängt, welche gerne selbst bestimmte, wer ihr Herz gewinnen soll (V. 23); und auch eine spätere Schäferin wie die Silvia aus Torquato Tassos Schäferspiel Aminta (1573) sträubt sich zunächst gegen Liebe auf Rezept; allein, Cervantes’ donne crudeli sind keine im theatralischen Sinne pluridimensionalen, sondern bewusst homogen gestrickte Charaktere. Ihre diskursive Statik ist daher kein Produkt einer Engstirnigkeit, sondern eher das Resultat einer sonderbaren Dynamik, bei der die Frau – selbst in der Rolle der Schäferin – sich von allgemeingültigen Zuschreibungen lossagen muss; ja, sich als so verstandene ‚Frau‘ selbst entsagt und ins diskursive Dickicht flüchtet. Wie Rosilie Hernández-Pecorado bemerkt hat, kommt der besagten aurea-aetasRede (I, 11) Don Quijotes hinsichtlich der Gender-Thematik bei Cervantes eine signifikante Schwellenstellung zu, da darin das Goldene Zeitalter als ein „feminine space“ __________ 44

Eine Zusammentragung relevanter Lesarten findet sich bei Sullivan/Rivera: El género pastoril (wie Anm. 9), S. 287, Anm. 29. – Für eine gender-analytische Lektüre vgl. Ruth Anthony El Saffar: In Marcela’s Case. In: Quixotic Desire. Psychoanalytic Perspectives on Cervantes. Hg. von ders. und Diana de Armas Wilson. Ithaca 1993, S. 157-178.

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exponiert werde45 – eine Räumlichkeit, in der dann auch Marcelas Subjektivität,46 aber auch die Sexualität der Leandra (I, 51) sich abspielten. Letztere ist eine junge Frau, der es von ihrem Vater überlassen wird, sich einen Ehemann aus mehreren Kandidaten auszusuchen. Sie zieht es aber vor, mit einem prahlerischen dichtenden Soldaten durchzubrennen, der sie dann in einer Höhle beraubt zurücklässt, woraufhin der Vater sie in ein benachbartes Kloster sperrt. Dies wiederum führt zu einer regelrechten Pastoralisierung der Freier, die sich in einer Art von schäferlichem Arkadien (pastoral Arcadia) einfinden, um allesamt Leandra-Lieder auszusingen: [A]lle schmähen, alle verehren sie, und so weit geht der Wahn, dass einer klagt, er sei von ihr zurückgewiesen worden, obwohl er nie ein Wort mit ihr gesprochen hat, und ein anderer beschwert sich gar über die wilde Plage der Eifersucht, zu der sie doch keinem je hat Anlass geben können, da man, wie gesagt, von ihrer Sünde eher erfuhr als von ihrem Begehren.47

Wenngleich Leandra in dieser narratio nicht selbst zu Wort kommt, wird die pastorale Aporie nichtsdestoweniger begreiflich: Denn das Objekt der Begierde ist hier selbst begehrend – wenn auch restitutiv. Leandra ist insofern ein missliches Objekt, als sie sich einer poetischen Objektivierung libidinös entzieht: Sie wird als Sprechgegenstand unverfügbar, wodurch der pastorale Agon gewissermaßen desublimiert wird. Anselmo, ein Nebenbuhler des erzählenden Eugenio, beklagt nur mehr die Abwesenheit, „[…] obwohl er sich über so vielerlei beklagen könnte“, und er selbst „[…] verwünsche die Leichtfertigkeit und Unbeständigkeit der Frauen, ihre Falschheit, ihre totgeborenen Versprechen, ihre Treulosigkeit“ und dergleichen mehr.48 Hernández-Pecorado resümiert: Ultimately Leandra’s will situates her within the pastoral space as a desiring subject that cannot be easily absorbed into a mechanics of idealization. Her sexual desire acts as a residue that cannot be recycled within the world view of the pastoral.49

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Rosilie Hernández-Pecorado: The Absence of the Absence of Women. In: Cervantes: Bulletin of the Cervantes Society of America 18.1 (1997), S. 24-45, hier S. 33. Zu Fragen bukolischer Selbstgestaltung vgl. Wolfgang Matzat: Subjektivität im spanischen Schäferroman. In: Friedlein u. a.: Arkadien (wie Anm. 9), S. 21-39. Cervantes: DQ I, 51, S. 571 (orig.: „todos la deshonran y todos la adoran, y de todos se estiende a tanto la locura, que hay quien se queje de desdén sin haberla jamás hablado, y aun quien se lamente y sienta la rabiosa enfermedad de los celos, que ella jamás dio a nadie, porque, como ya tengo dicho, antes se supo su pecado que su deseo“, S. 581). Ebd., S. 571f. (orig.: „teniendo tantas otras cosas de que quejarse, solo se queja de ausencia; y al son de un rabel que admirablemente toca, con versos donde muestra su buen entendimiento, cantando se queja. Yo sigo otro camino más fácil, y a mi parecer el más acertado, que es decir mal de la ligereza de las mujeres, de su inconstancia, de su doble trato, de sus promesas muertas, de su fe rompida y, finalmente, del poco discurso que tienen en saber colocar sus pensamientos e intenciones que tienen“, S. 581f.). Hernández-Pecorado: The Absence of the Absence of Women (wie Anm. 45), S. 41.

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Dass ein Domherr im Kapitel zuvor (I, 50) die Libido (gemäß dem ‚Eva-Prinzip‘) weiblich versteht, mutet im gegebenen Fall begreiflich an; dass aber die Misogynie des Eugenio als eine pastorale Hexis ohne Tiefenstruktur lesbar wird – das ist beachtlich. Das Fehlen vernunftbegabter téchne wird dabei schon vor der pastoralen Tirade evident, „denn aus Erfahrung weiß ich“ – sagt da der Pfarrer –, „dass die Berge Gelehrte hervorbringen und Hirtenhütten Philosophen beherbergen“. „Zumindest, werter Herr“ – erwidert sogleich besagter Eugenio –, „wohnen Leute darin, die das Leben klug gemacht hat“.50 Erfahrungswissen, epistemonisches Wissen,51 Wissen aus Erfahrung – doch ein poietisches Wissen verbleibt als Leerstelle. Denn dafür bedürfte es eines bukolischen Habitus und eben keiner bloßen pastoralen Hexis. Dass Cervantes die epistemologische Tiefenstruktur bukolischer Poiesis nicht nur kannte, sondern auch frühneuzeitlich erkannt hat, zeigen die feinen metadiskursiven Einkerbungen in schäferlichen Kontexten – etwa wenn das dem Pastoralen inhärente patriarchale Gesträuch, aber auch die latente, dem arkadischen Raum innewohnende Romanisierungstendenz52 als implizites Wissen mitlaufen und mal an-, mal ausgespielt, aber eben nicht überspielt werden, wie das manch anderer Schäfertext in Spanien zu dieser Zeit praktiziert. Es geht also weniger darum, ‚Schäfer‘ ohne Schafe unbedarften Hirten gegenüberzustellen, als vielmehr eine Pseudo-Schäferlichkeit mitsamt ihrem fehlenden téchne-Wissen evident zu machen. Ein poietisches Wissen, das an das Gerüst dessen stößt, was man gemeinhin als Fiktionalität bezeichnet. Es führte zu weit, das an dieser Stelle auszubreiten; und es soll ausreichen, darauf hinzuweisen, dass insbesondere Cervantes’ Debütroman die sich im Quijote artikulierende bukolische (und eben nicht bloß pastorale) Verkopplung intensiv studiert. Die Schäferdiegese drängt sich ob ihrer gesteigerten Dialogizität (wie Performativität) nahezu auf, das transmediale Leistungsvermögen der Ekloge dynamisch auszugestalten. Hier kann sich beispielsweise das petrarkistische Objekt auch emotiv zu Wort melden, sein eigenes Leid verkleidet klagen – relativieren. All dies im Bereich von Genre-Grenzen, Topoi und Klischees, die selbst dann nicht torpediert scheinen, wenn sie Latenz, will meinen: die andere Stimme des Gesagten ins Spiel bringen. Cervantes’ Galatea ist im Vergleich zur – und bei aller translatorischen Schöpfungskraft – basal neuplatonisch gehaltenen Diana ein paradigmatisches Beispiel für die Inszenierung eines neuzeitlichen Perspektivenpluralismus im Modus des Bukolischen. So finden sich darin die gängigen in der rinascimentalen Traktatliteratur verhandelten Weisen von Liebe minutiös vertreten; ja, sie werden von Schäferinnen und Schäfern vor__________ 50

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Cervantes DQ I, 50, S. 565 (orig.: „que ya yo sé de esperiencia que los montes crían letrados y las cabañas de los pastores encierran filósofos. § —A lo menos, señor —replicó el cabrero—, acogen hombres escarmentados“, S. 575). Zur Philosophie als epistéme vgl. Aristot. Met. I.2, 982a-983a. Hierzu hat Javier Irigoyen-García unlängst einen bemerkenswerten Beitrag geliefert: ‚¡Qué si destas diferencias de música resuena la de los albogues!‘. Lo pastoril y lo morisco en Cervantes. In: Cervantes: Bulletin of the Cervantes Society of America 28.2 (2008), S. 119-146.

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nehmlich performiert, bisweilen perforiert, wenn sämtliche Perspektiven sich ineinander spiegeln und gegenseitig reflektieren. Bucoliter wird es grundlegend möglich, die epistemologische Komplexität von Liebe, ihre Mannigfaltigkeit, zu inszenieren: Man trifft auf göttlich-neuplatonische und mystisch-reine, auf human-petrarkistische und animalisch-hedonistische Liebesverständnisse, die mit pastoralem Erfahrungs- wie Gewohnheitswissen verstrickt werden, um als Diana-Textur eines fasslich zu machen: Liebe ist kontingent, und als solche erfordert sie weniger eine vertextete phrónesis denn ein poietisches Denken, das mehr Habitus bedingt als Hexis. Man versteht nun vielleicht besser, weshalb bei der kritischen Prüfung von Don Quijotes Bibliothek das vierte Buch der Diana, in dem von einem Zaubersaft die Rede ist, mit dem sich die contrari affetti aussöhnen lassen; weshalb letztlich dieser amor ex machina herausgestrichen wird: Er nivelliert eben die Wogen der Redeweisen über Liebe, obschon er sie vielmehr brechen sollte.53

3. Diana und Dianoia Es ließen sich noch weitere Instanziierungen von Schäferlichkeit bei Cervantes behandeln, doch soll es fürs Erste genügen, ein abschließendes Beispiel für das Ausspielen bukolischen Kontingenzpotentials aus dem Quijote anzuführen, bei dem sich der metapo(i)etische Bezug bereits ausdifferenziert hat in eine Selbstreferenz des Dispositivs und ein Tarieren des Diskurses – ehe die Maske hinter dem Spiel zur Geltung gelangen kann. Benannt sei hier eine Passage aus Kapitel LVIII des zweiten Teils, in dem Don Quijote und sein Kumpan gen Saragossa reiten und sich in ein Gespräch über die Liebe verwickeln, das es kurz zu referieren lohnt: Sancho Panza zeigt sich darin verdutzt über die schwärmerische Begeisterung einer jungen Frau für seinen nicht unbedingt adretten Herrn im Kapitel davor; er kann es sich nicht erklären, was eine Kammerjungfer an dem Ritter von der traurigen Gestalt so Attraktives gefunden haben mag. Letzterer entgegnet: Bedenke, Sancho, […] die Liebe kennt keine Rücksicht, hält sich an keine Vernunft, sondern befällt wie der Tod gleichermaßen die hohen Festungen der Könige und die bescheidenen Hütten der Schäfer, und hat sie sich einer Seele ganz bemächtigt, raubt sie ihr als Erstes Angst und Scham.54

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Cervantes erweist sich wieder einmal als Meister der Zwischentöne: Für den Pfarrer geht es ja in erster Linie um das Zensieren von Heidnischem sowie Ritterlichem; dass der Trank zugleich im bukolischen Ensemble stört, wird erst durch die Inszenierung quergelagerter Liebes(dis)positionen im Verfolg des Romans einsichtig, die ja selbst ein Resultat einer auf die Oberfläche projizierten Tiefenstruktur sind. Cervantes: DQ II, 58, S. 499 (orig.: „Advierte, Sancho —dijo don Quijote—, que el amor ni mira respetos ni guarda términos de razón en sus discursos, y tiene la misma condición que la muerte,

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Vorderhand wird hier die Liebe als eine etwaige Vernünftigkeit überspülende Begebenheit präsentiert. So raubt sie – einem amour fou wie furor55 gleich – den Verstand. Doch kann sie, etwas buchstäblicher interpretiert, auch als umsichts- wie vernunftlos in ihren Diskursen (ni mira respetos ni guarda términos de razón en sus discursos) verstanden werden, so dass man es in solch einer Lesart mit einer diskursiven Liebe schlechthin zu tun hätte, die keine Dianoia, geschweige denn sophía liebte, und letzten Endes auch keine philotechnía sein könnte. Sozusagen eine Liebe, die den Gegenstand ihrer (Selbst-)Erkenntnis verkannte.56 Sancho Panza versteht trotz alledem (oder gerade deswegen) noch nicht, was das Fräulein an seinem klapprigen Herrn derart Liebreizendes gefunden haben mag, was Don Quijote, nun ganz neuplatonisch beschlagen, wie folgt (anaphorisch) repliziert: Bedenke, Sancho, […] es gibt zweierlei Schönheit, die der Seele und die des Leibes. Die der Seele leuchtet und strahlt aus der Verstandeskraft, der Tugend, dem Anstand, der Großmut und der guten Erziehung, Eigenschaften, die ein hässlicher Mann alle in sich vereinen kann, und richtet man den Blick auf diese Schönheit, nicht auf die des Leibes, dann erblüht die Liebe meist besonders heftig und gebieterisch. Ich weiß wohl, Sancho, dass ich nicht schön bin, aber ich weiß auch, ich bin keine Missgestalt, und für einen tugendhaften Mann ist es genug, kein Ungeheuer zu sein, um geliebt zu werden, sofern er die genannten Gaben der Seele besitzt.57

Bezeichnenderweise kann dieser traktatgespickte Dialog nicht ausgewalzt werden, da Don Quijote jäh in ein Netzgeflecht hineinreitet, das inmitten von Bäumen aufgespannt wurde. Sein literarisiertes Empfinden versucht diese captio sogleich episch einzufärben als eine Verwünschung infolge seiner unerwiderten Liebe besagter Altisidora gegenüber __________

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que así acomete los altos alcázares de los reyes como las humildes chozas de los pastores, y cuando toma entera posesión de una alma, lo primero que hace es quitarle el temor y la vergüenza“, S. 1099). Vgl. zum furor amoris in einem Viehzucht-Kontext Robert Cramer: Vergils Weltsicht. Optimismus und Pessimismus in Vergils Georgica. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 51) Berlin/New York 1998, S. 159-182. Diese zweite Leseweise höbe auch die Tatsache hervor, dass in Don Quijotes Replik Horazens „pauperum tabernas“ (Carm. I.4, 13) zu „humildes chozas de los pastores“ (bescheidene Schäferhütten) expliziert werden. Vgl. dazu Q. Horatius Flaccus: Horace: Odes and Epodes. Hg. u. mit Einl. u. Anm. vers. von Paul Shorey, durchges. von Paul Shorey u. Gordon J. Laing. Chicago u. a. 1919. – Es mag eine weitere Koinzidenz sein, doch der juristische Begriff „términos“ (= Erscheinungsfrist) taucht nochmals in gleicher Fügung (sin guardar términos) und pastoralem Kontext auf, nämlich als es Don Quijote im vorletzten Kapitel sehr eilig hat, sein neues Schäferamt zu bekleiden; vgl. Cervantes: DQ II, 73, S. 618 (orig.: S. 1212 u. Anm. 18). Cervantes: DQ II, 58, S. 499 (orig.: „Advierte, Sancho —respondió don Quijote—, que hay dos maneras de hermosura: una del alma y otra del cuerpo; la del alma campea y se muestra en el entendimiento, en la honestidad, en el buen proceder, en la liberalidad y en la buena crianza, y todas estas partes caben y pueden estar en un hombre feo; y cuando se pone la mira en esta hermosura, y no en la del cuerpo, suele nacer el amor con ímpetu y con ventajas. Yo, Sancho, bien veo que no soy hermoso, pero también conozco que no soy disforme, y bástale a un hombre de bien no ser monstruo para ser bien querido, como tenga los dotes del alma que te he dicho“, S. 1100).

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und so fort, doch wird schnell klar, dass es sich um eine andere Literarizität des Augenblicks handelt. Das Diana-Netz58 wurde nämlich von einer Gruppe von Hobbyschäfern gespannt, die, einer Kommune gleich, ein neues schäferliches Arkadien (una nueva y pastoril Arcadia) begründen möchten. Hierfür, erläutert eine als Schäferin verkleidete Schönheit – wobei man nicht genau erfährt, ob sie nicht vor allem aufgrund ihres prächtigen Kostüms so anmutig ist – jedenfalls, habe man schon zwei Eklogen (von Garcilaso de la Vega und Camões) einstudiert, die man bald aufführen wolle.59 Man beschließt, der Inszenierung beizuwohnen, und es stellt sich heraus, dass die Freizeitarkadier den ersten Teil des Quijote bereits gelesen haben, womit das neuplatonische Aufschwingen Don Quijotes abrupt in einem Vogelfangnetz endet, das dann eine der raffinierten Metalepsen im Text erwirkt. Und, wie sollte es anders sein: Der Diskurs über den discursus der diskursiven Liebe endet in einem fingierten Arkadien, aus dem der Ritter und sein Knappe, dies sei noch abschließend erwähnt, durch eine Rinderherde wieder hinausbefördert werden. Wenn zu Beginn dieser Ausführungen auf die Nikomachische Ethik und eben nicht auf die Poetik des Aristoteles zurückgegriffen wurde, lag das darin begründet, dass es hier nicht um Fragen der Nachahmung, sondern der Herstellung gehen sollte. Poetisches Wissen und poietisches Wissen sind nämlich nicht deckungsgleich, wenn man den Fragefokus auf das Erkenntnisvermögen einer jeweiligen téchne richtet. Eine ‚Liebesweisheitsliebe‘, wie sie etwa Leone Ebreo in seinen profilierten Dialoghi d’amore (1535) entwirft, stellt einen möglichen Spielzug unter anderen dar, um Epistemologisches mit Epistemischem zueinander zu denken. Und die frühneuzeitliche Bukolik, dies sollte etwas nachweislicher geworden sein, fungiert bei diesem Wissen-Erspielen als eine bestimmte Art von téchne, die keinen Antagonismus zwischen Erkenntnis und Kontingenz setzt, sondern vielmehr diskursive Verschiedenheit weiterwebt. In diesem Verständnis ist Arkadien weniger ein locus amoenus als eine Region der Semiose, der Fabrikation von pluralem Sinn, der nur solange Erkenntnisziel einer poietischen Bewegung sein kann, solange an dessen Absolutheit Zweifel bestehen. Aus diesem Grunde trifft man bei Cervantes allenthalben auf schäferliche F(r)iktionalität, denn jede Inanspruchnahme des bukolischen Dispositivs, die zu Verengung, Verkürzung, Verknappung von perspektivischer Vielfalt führt, verspielt epistemologisches Potential, gleitet ins Pastorale, lässt Fiktionsbewusstsein zu bewusster Fiktion gerinnen.

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Zum Verhältnis Diana/Artemis-Diktynna vgl. Walter Marx: Figurationen von Diana und Aktaion. In: Friedlein u. a.: Arkadien (wie Anm. 9), S. 255-279, hier S. 275. Cervantes: DQ II, 58, S. 500f. (orig.: S. 1101f.).

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Falls nun bukolische Literatur aufhört, poietisch zu denken, und sich statt dessen mit dem Herstellen pastoraler Hexis begnügt, unterscheidet sie sich nicht von einem aristotelischen ‚Feuerwehrmann‘, der wüsste, wie man ein Feuer löscht, aber nicht womit.60 Wissen über Kontingenz und eben auch kontingentes Wissen fabrizierend ins Spiel zu bringen sowie im Spiel zu halten – das zeichnete Cervantes’ bukolische téchne aus, in der sowohl epistemologische Komplexität als auch Emergenz Ausdruck finden. Denn wiewohl es keine Wahrheit (mehr) in Liebesdingen gibt, so gibt es doch immerhin eine bukolische Erkenntnis: Was Arkadien (nunmehr) braucht, das sind dianoëtische Hirten.

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Gleiches gälte für einen Pyrotechniker, der nur mit bestimmten Streichhölzern zu zünden verstünde.

Zu den Autorinnen und Autoren

THORSTEN BURKARD (geb. 1967 in Freiburg/Br.), Studium der Klassischen Philologie, der Germanistik und des Mittellateinischen in Freiburg/Br., Wien und München. Promotion, Habilitation und mehrjährige Tätigkeit an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, seit 2005 Professor für Klassische Philologie an der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: römische Geschichtsschreibung (v. a. Sallust); Narratologie; Rhetorik; lateinische Syntax; Rezeption antiker Werke; neulateinische Dichtung und Dichtungstheorie. Buchveröffentlichungen: Hermann Menge: Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik. Völlig neu bearbeitet. 4. Aufl. Darmstadt 2009 (zus. mit Markus Schauer); Jacob Balde: Dissertatio de studio poetico (1658). Edition, Übersetzung und Kommentar. München 2004; Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche. Regensburg 2006 (zus. mit Günter Hess, Wihelm Kühlmann und Pater Julius Oswald); Sallusts historische Schriften. Lateinisch – Deutsch mit Einleitung und Erläuterungen. Darmstadt 2010; Vestigia Vergiliana. Festschrift für Werner Suerbaum. Berlin 2010 (zus. mit Markus Schauer und Claudia Wiener). VICTOR ANDRÉS FERRETTI (geb. 1977 in São Paulo), Studium der Romanistik, Philosophie und Sprechwissenschaft/Psycholinguistik in München; M.A. (München 2003); Dr. phil. (Kiel 2006); 2003-2006 Stipendiat und Mitglied des Kieler Graduiertenkollegs Imaginatio borealis; seit 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Frühneuzeitliche Bukolik; Iberoromanische Moderne; Kultur- und Medientheorie; Französische Aufklärung; Schwellenpoetiken (Manierismus, Parnasse); Ästhetische Anthropologie. Buchveröffentlichungen: Boreale Geltung. Zu Nördlichkeit, Raum und Imaginärem im Werk von Jorge Luis Borges. (Imaginatio borealis 14) Frankfurt a.M. 2007; Nördlichkeit – Romantik – Erhabenheit. Apperzeptionen der Nord/Süd-Differenz (1750-2000). (Imaginatio borealis 15) Frankfurt a.M. 2007 (zus. mit Andreas Fülberth und Albert Meier).

266 HANS-EDWIN FRIEDRICH (geb. 1959 in Prüm/Eifel), Studium der Germanistik und Geschichte in Trier; Promotion ebenda. Habilitation und mehrjährige Tätigkeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München; seit 2007 Inhaber eines Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 18.-21. Jahrhunderts; Autonomieästhetik; Literatursoziologie; Avantgardeliteratur; nicht kanonische Literatur; Film. Buchveröffentlichungen: Der Enthusiast und die Materie. Von den „Leiden des jungen Werthers“ zur „Harzreise im Winter“. Frankfurt u. a. 1991; Science Fiction in der deutschsprachigen Literatur. Ein Referat zur Forschung bis 1993. Tübingen 1995; Deformierte Lebensbilder. Erzählmodelle der Nachkriegsautobiographie. Tübingen 2000; Schrift und Bild im Film. Bielefeld 2002 (hg. zus. mit Uli Jung); Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006 (hg. zus. mit Fotis Jannidis, Marianne Willems); Rhetorik und Film. Tübingen 2007 (Hg.); Literaturskandale. Frankfurt a.M. u. a. 2009 (Hg.); Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann. Berlin u. a. 2009 (hg. zus. mit Michael Ansel, Gerhard Lauer); Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Berlin u. a. 2011 (hg. zus. mit Wilhelm Haefs, Christian Soboth); Reden über die Schwierigkeiten der Rede. Das Werk Helmut Heißenbüttels. München 2011 (hg. zus. mit Sven Hanuschek). JAVIER GÓMEZ-MONTERO (geb. 1958 in A Coruña/Spanien), Studium der Klassischen und Romanischen Philologie an den Universitäten zu Sevilla, Köln und Trier; 1988 Promotion und 1997 Habilitation an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln; Vertretungsprofessuren an der Universität zu Köln (1997/98) und der Universität Tübingen (1998/99-2001); seit dem 1.10.2001 Professor (C4) für Romanische Literaturwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Aufgabengebiet: Französische und spanischsprachige Literaturwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Fiktionsliteratur zwischen La Celestina (1499) und dem Quijote (1615, 2. Teil) einschließlich literarischer Wechselbeziehungen zwischen Italien und Spanien; Subjektfiguren in der poetischen Rede seit der Romantik (Frankreich/Spanien), Stadtliteratur (spanisch- und französischsprachige Literaturen); Identitätsdiskurse und Erinnerungskulturen in den Literaturen der Gegenwart in Spanien. Buchveröffentlichungen: Literatura caballeresca en España e Italia (1483–1542). El Espejo de cavallerías. Tübingen 1992; Minorisierte Literaturen und Identitätskonzepte in Spanien und Portugal. Sprache – Narrative Entwürfe – Texte. Akten der Sektion 2 beim Deutschen Hispanistentag in Berlin (Alexander von HumboldtUniversität), 25.–28.3.1999. Darmstadt 2001 (Hg.); Letteratura cavalleresca tra Italia e Spagna (Da „Orlando“ al „Quijote“) – Literatura caballeresca entre Italia

267 y España (Del „Orlando“ al „Quijote“). Kiel/Salamanca 2004 (Hg. zus. mit Bernhard König); Memoria literaria de la Transición española. (Iberoamericana 114) Madrid/Frankfurt a.M. 2007 (Hg.); Urbes Europaeae. Modelos e imaginarios urbanos para el siglo XXI. Paradigmes et imaginaires de la ville pour le XXIe siècle. Kiel 2009 (hg. zus. mit Christina Johanna Bischoff, Folgeband erscheint 2011); Der Jakobsweg und Santiago de Compostela in den Hansestädten und im Ostseeraum. Akten des Kolloquiums an der Universität Kiel, 23.-25. April 2007. Kiel 2011 (Hg). ANNA-MARGARETHA HORATSCHEK (geb. 1952 in Steinfeld/Niedersachsen), Studium der Philosophie, Anglistik und Germanistik in Freiburg/Br., B.A. English Literature (Berkeley, University of California, USA), Staatsexamen Anglistik/Germanistik und Promotion (Freiburg), Habilitation (Mannheim), 1998 Gastprofessorin in der University of Maryland, College Park, USA, seit 2000 Inhaberin des Lehrstuhls für Englische Literatur von Shakespeare bis zur Gegenwart an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Shakespeareadaptionen; der englischsprachige Roman vom 19. zum 21. Jahrhundert; Konstruktion von individueller und (national)kultureller Identität im mentalitätshistorischen, kulturellen und postkolonialen Kontext; in diesem Zusammenhang die Verhandlung von ethnischen, religiösen, klassenmäßigen und gender-Differenzen (race, class and gender); Literatur- und Kulturtheorie: Postkolonialismus, Gender, Intertextualität, Intermedialität (Literatur und Musik), Diskursanalyse, kulturelle Produktion und Institutionalisierung von Wissen; Literatur und Philosophie: Epistemologie, Ethik . Buchveröffentlichungen: Erkenntnis und Realität. Sprachreflexion und Sprachexperiment in den Romanen von Richard Brautigan. Tübingen 1989; Alterität und Stereotyp. Die Funktion des Fremden in den ,International Novels‘ von E.M. Forster und D.H. Lawrence. Tübingen 1998; Literatur und Lebenskunst. Reflexionen zum guten Leben im britischen Roman vom Viktorianismus zur Postmoderne. Trier 2008 (zus. mit Susanne Bach, Stefan Glomb, Stefan Horlacher). MARKUS HUNDT (geb. 1965 in Ulm), mehrjährige Tätigkeit an den Universitäten Freiburg/Br., Dresden, Chemnitz, Frankfurt an der Oder, seit 2006 Inhaber des Lehrstuhls für deutsche Sprachwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: deutsche Sprachgeschichte der Frühen Neuzeit, Wahrnehmungsdialektologie/Perceptual dialectology, Grammatik der Gegenwartssprache.

268 Buchveröffentlichungen: Einstellungen gegenüber dialektal gefärbter Standardsprache. Eine empirische Untersuchung zum Bairischen, Hamburgischen, Pfälzischen und Schwäbischen. Stuttgart 1992; Modellbildung in der Wirtschaftssprache. Zur Geschichte der Institutionen- und Theoriefachsprachen der Wirtschaft. Tübingen 1995; „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin/New York 2000. JÖRG KILIAN (geb. 1965 in Hornburg), Studium der Germanistik, Geschichte, Politischen Wissenschaft und Pädagogik; Lehre und Forschung an den Universitäten Braunschweig und Osnabrück sowie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. 2006 Professor für Deutsche Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, seit 2007 Professor für Deutsche Philologie/Didaktik der deutschen Sprache an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte (jeweils in Linguistik und Didaktik): Wortschatz und lexikalische Semantik; Sprachkritik und Sprachnormenforschung; Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen; Linguistische Dialogforschung; Sprache und Sprachgebrauch in neuen Medien; Politolinguistik. Buchveröffentlichungen: Demokratische Sprache zwischen Tradition und Neuanfang. Am Beispiel des Grundrechte-Diskurses 1948/49. (RGL 186) Tübingen 1997; Lehrgespräch und Sprachgeschichte. Untersuchungen zur historischen Dialogforschung. (RGL 233) Tübingen 2002; Historische Dialogforschung. Eine Einführung. (Germanistische Arbeitshefte 41) Tübingen 2005; Sprachkritik. Ansätze und Methoden der kritischen Sprachbetrachtung. (Germanistische Arbeitshefte 43) Berlin/New York 2010 (zus. mit Thomas Niehr u. Jürgen Schiewe). STEFFEN MARTUS (geb. 1968 in Karlsruhe), Studium der Deutschen Philologie, Soziologie und Philosophie in Regensburg; Promotion, Juniorprofessur und Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin; Professuren an den Universitäten ErlangenNürnberg und Kiel; seit SoSe 2010 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Literatur und Wissenschaftsgeschichte, Autor- und Werktheorien, die Praxeologie der Geistes- und Kulturwissenschaften. Buchveröffentlichungen: Friedrich von Hagedorn. Konstellationen der Aufklärung. Berlin/New York 1999; Ernst Jünger. Stuttgart/Weimar 2001; Schlachtfelder. Codierung von Gewalt im medialen Wandel. Berlin 2003 (hg. gemeinsam mit Marina Münkler und Werner Röcke); Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexi-

269 onsmedium der Kultur. Bern u. a. 2005 (hg. gemeinsam mit Stefan Scherer und Claudia Stockinger); Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006 (hg. gemeinsam mit Claudia Benthien); Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten. Bern u. a. 2006 (hg. gemeinsam mit Andrea Polaschegg); Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin/New York 2007; Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 2009 (3. Aufl. 2010); Frühe Neuzeit – späte Neuzeit. Phänomene der Wiederkehr in Literaturen und Künsten ab 1970. Bern u. a. 2011 (hg. gemeinsam mit Thomas Althaus, Matthias Bauer, Claudia Benthien, Markus Fauser und Alexander Košenina); Killy Literatur Lexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 13 Bdd. Hg. von Wilhelm Kühlmann in Zusammenarbeit mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Steffen Martus u. Reimund B. Sdzuj. Berlin/New York 2008-11. ANGELIKA C. MESSNER (geb. 1961 in Sterzing/Italien), Studium der Medizin, der Sinologie, der Ethnologie und der Geschichte der Medizin in Innsbruck, Wien, Beijing und Freiburg/Br.; M.A. in Freiburg/Br., Promotion in Kiel und Wien, Habilitation und mehrjährige Tätigkeit an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Chinesische Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, Verflechtungsgeschichte zwischen Asien, Europa und Amerika. Buchveröffentlichungen: Medizinische Diskurse zu Irresein in China (1600-1930). (Münchener Ostasiatische Studien 78) Stuttgart 2000; „Scienza e tecnologia“ Grandi Opere Einaudi: The Chinese Civilization: From Its Origins to Contemporary Times. Eds. Mauro Scarpari and Mario Sabattini. Torino 2010 (zus. mit Martina Siebert); Heilige Orte in Asien und Afrika. Räume göttlicher Macht und menschlicher Verehrung. (Asien und Afrika: Beiträge des Zentrums für Asiatische und Afrikanische Studien (ZAAS) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 11) Schenefeld 2006 (zus. mit Konrad Hirschler). CLAUS-MICHAEL ORT (geb. 1956 in München), Studium der Neueren deutschen Literatur, der Soziologie und der Neueren und Neuesten Geschichte an der LudwigMaximilians-Universität München, Lehr- und Forschungstätigkeit und Promotion ebenda; Lehrtätigkeit in Kiel und Rostock, Habilitation und seit 2004 außerplanmäßiger Professor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts; literarische Diskursgeschichte von Verbrechen und Strafjustiz; Sozialgeschichte der Literatur und Literaturtheorie.

270 Buchveröffentlichungen: Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus. Tübingen 1998; Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Tübingen 1999 (zus. mit Joachim Linder); Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Kiel 2002 (zus. mit Hans Krah); Medienwechsel und Selbstreferenz. Christian Weise und die literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts. Tübingen 2003. LUDWIG STEINDORFF (geb. 1952 in Hamburg), Studium der Geschichte, Slavistik und Germanistik in Heidelberg und Zagreb, Promotion in Heidelberg, Habilitation in Münster, seit 2000 Professor für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte Altrusslands, Stadtgeschichte im westlichen Südosteuropa, nationale und konfessionelle Identität in Südosteuropa seit dem 19. Jahrhundert, Staat und Kirche im Sozialismus. Buchveröffentlichungen: Namentragende Steininschriften in Jugoslawien vom Ende des 7. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Wiesbaden 1982 (zus. mit Rade Mihaljčić, Belgrad); Die dalmatinischen Städte im 12. Jahrhundert. Studien zu ihrer politischen Stellung und gesellschaftlichen Entwicklung. Köln/Wien 1984; Memoria in Altrußland. Untersuchungen zu den Formen christlicher Totensorge. Stuttgart 1994; Das Speisungsbuch von Volokolamsk. Kormovaja kniga Iosifo-Volokolamskogo monastyrja. Eine Quelle zur Sozialgeschichte russischer Klöster im 16. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 1998 (hg. und übersetzt unter Mitarbeit von Rüdiger Koke, Elena Kondraškina, Ulrich Lang und Nadja Pohlmann); Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg 2001; Partei und Kirchen im frühen Sowjetstaat. Die Protokolle der Antireligiösen Kommission beim Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei (Bol’ševiki) 1922-1929. Münster 2007 (in Übersetzung herausgegeben in Verbindung mit Günther Schulz unter Mitarbeit von Matthias Heeke, Julia Röttjer und Andrej Savin); Religion und Integration im Moskauer Russland. Konzepte und Praktiken, Potentiale und Grenzen. 14.-17. Jahrhundert. Wiesbaden 2010 (Hg. und Einleitung). DIRK WESTERKAMP (geb. 1971 in Göttingen), Studium der Philosophie, Germanistik und Vergleichenden Religionswissenschaften in Berlin, Braunschweig und Jerusalem. Visiting Fellow Harvard University, Ernst Cassirer Post-Doc Fellow am Swedish Collegium for Advanced Study (SCAS), Uppsala. Seit 2004 Juniorprofessor, seit 2010 Professor für Theoretische Philosophie an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel.

271 Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie; Wahrheitstheorien; Philosophie des Geistes; Ästhetik. Buchveröffentlichungen: Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie. München 2006; Embodiment in Cognition and Culture. Amsterdam/ Philadelphia 2007 (zus. mit J. M. Krois, M. Rosengren und A. Steidele); Am Rande des Idealismus. Paderborn 2008 (zus. mit W. Kersting); Die philonische Unterscheidung. Aufklärung, Orientalismus und Konstruktion der Philosophie. München 2009. RAINER ZAISER (geb. 1955 in Grötzingen), Studium der Romanischen Philologie und der Germanistik an den Universitäten Tübingen, Avignon und Florenz. Promotion und Habilitation in Romanischer Philologie an der Universität Tübingen. Professoren-Vertretungen in Regensburg, München und Köln. Von 1998 bis 2005 eine außerplanmäßige Professur an der Universität zu Köln. Seit 2005 ordentlicher Professor für Romanische Philologie mit dem Schwerpunkt französische und italienische Literaturwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: italienische Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; Roman und Theater des französischen 17. Jahrhunderts; der französische Roman des 19. und 20. Jahrhunderts. Buchveröffentlichungen: Themen und Techniken des Dramatikers Luigi Pirandello im französischen Theater der fünfziger und sechziger Jahre: Ein Vergleich mit ausgewählten Stücken von Jean Anouilh, Eugène Ionesco, Jean Genet und Samuel Beckett. Frankfurt/Bern/New York/Paris 1988; Die Epiphanie in der französischen Literatur: Zur Entmystifizierung eines religiösen Erlebnismusters. Tübingen 1995; Inszenierte Poetik: Metatextualität als dichterische Selbstreflexion in der italienischen Literatur der frühen Neuzeit. Berlin 2009.