Poetik des Briefromans: Wissens- und mediengeschichtliche Studien 9783110292473, 9783110292633

The “novel in letters” is regarded as the epitome of sentimentality, yet its forms of expression are actually more nuanc

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German Pages 380 Year 2012

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Table of contents :
Einleitung
Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Perspektiven
Vorgeschichten: Frühe Traditionslinien und Kontexte der Gattung
›A Letter to a Friend‹. Freundschaft und Briefroman in England
Strategien der Wissensselektion in den Lettres persanes. Montesquieu liest Jean Chardin und Jean-Paul Marana
»I have done with the science of man«. Empirismus und poetische Form in den Briefromanen. Richardsons, Rousseaus und Smolletts
Bewusstseinspoesie: Der Briefroman als Medium der Empfindsamkeit
Der Kino-Effekt des Briefromans. Zur Mediengeschichte der Empfindsamkeit am Beispiel von Richardsons Clarissa und Lessings Miss Sara Sampson
»Werther muss - muss seyn!«. Der Briefroman als Bewusstseinsroman
›Schreibart‹ oder ›Stil‹?. Zur Werther-Rezeption bei Karl Philipp Moritz
Briefromane nach dem Werther: Philosophische Reflexionsformen um 1800
Friedrich Heinrich Jacobis philosophische Briefsammlung
Anthropologie und Gattungspoetik. Wielands Briefwechselroman. Aristipp und einige seiner Zeitgenossen im Kontext der zeitgenössischen Anthropologie- und Philosophiedebatte
Zur Doppelgestalt der Liebe in Achim von Arnims. Briefroman Hollin’s Liebeleben
Der italienische Briefroman im Kontext von Subjektivitätsund Mimesispoetiken des 18. und 19. Jahrhunderts. Ugo Foscolos Le ultime lettere di Jacopo Ortis
Nachgeschichten: Der Weg des Briefs ins Feuilleton und sein Rückzug aus der Fiktion
Wie der Brief ins Feuilleton kam. Gattungspoetologische Überlegungen zu Ludwig Börnes Briefen aus Paris
»Siehe die Briefe.«. Büchners Lenz und der Verzicht auf die Brieffiktion
Bibliographien und Personenregister
Der europäische Briefroman. Eine Auswahlbibliographie von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
Der europäische Briefroman. Eine Auswahlbibliographie der Forschungsliteratur
Personenregister
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Poetik des Briefromans: Wissens- und mediengeschichtliche Studien
 9783110292473, 9783110292633

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Frühe Neuzeit Band 176

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Poetik des Briefromans Wissens- und mediengeschichtliche Studien

Herausgegeben von Gideon Stiening und Robert Vellusig

De Gruyter

Gedruckt mit Unterstützung der Universität Graz

ISBN 978-3-11-029247-3 e-ISBN 978-3-11-029263-3 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

%LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHU http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/ Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG Gideon Stiening / Robert Vellusig Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Perspektiven ................................

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VORGESCHICHTEN: FRÜHE TRADITIONSLINIEN UND KONTEXTE DER GATTUNG Barbara Becker-Cantarino ›A Letter to a Friend‹. Freundschaft und Briefroman in England .............................................

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Birgit Wagner Strategien der Wissensselektion in den Lettres persanes. Montesquieu liest Jean Chardin und Jean-Paul Marana ........................

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Gideon Stiening »I have done with the science of man«. Empirismus und poetische Form in den Briefromanen Richardsons, Rousseaus und Smolletts .................................................

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BEWUSSTSEINSPOESIE: DER BRIEFROMAN ALS MEDIUM DER EMPFINDSAMKEIT Gisbert Ter-Nedden Der Kino-Effekt des Briefromans. Zur Mediengeschichte der Empfindsamkeit am Beispiel von Richardsons Clarissa und Lessings Miss Sara Sampson ......................

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Robert Vellusig »Werther muss – muss seyn!« Der Briefroman als Bewusstseinsroman ............................................... 129 Dirk Oschmann ›Schreibart‹ oder ›Stil‹? Zur Werther-Rezeption bei Karl Philipp Moritz ................................... 167

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Inhaltsverzeichnis

BRIEFROMANE NACH DEM WERTHER: PHILOSOPHISCHE REFLEXIONSFORMEN UM 1800 Werner Euler Friedrich Heinrich Jacobis philosophische Briefsammlung ................. 181 Hans-Peter Nowitzki Anthropologie und Gattungspoetik. Wielands Briefwechselroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen im Kontext der zeitgenössischen Anthropologie- und Philosophiedebatte ................... 219 Günther A. Höfler Erleben und Wissen. Zur Doppelgestalt der Liebe in Achim von Arnims Briefroman Hollin’s Liebeleben .......................................................... 261 Susanne Knaller Der italienische Briefroman im Kontext von Subjektivitätsund Mimesispoetiken des 18. und 19. Jahrhunderts. Ugo Foscolos Le ultime lettere di Jacopo Ortis ................................... 279 NACHGESCHICHTEN: DER WEG DES BRIEFS INS FEUILLETON UND SEIN RÜCKZUG AUS DER FIKTION Hildegard Kernmayer Wie der Brief ins Feuilleton kam. Gattungspoetologische Überlegungen zu Ludwig Börnes Briefen aus Paris ................................................... 295 Christian Neuhuber »Siehe die Briefe.« Büchners Lenz und der Verzicht auf die Brieffiktion .......................... 317 BIBLIOGRAPHIEN UND PERSONENREGISTER Stephan Kurz / Stella Lange Der europäische Briefroman. Eine Auswahlbibliographie von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ........................... 341 Gideon Stiening / Robert Vellusig Der europäische Briefroman. Eine Auswahlbibliographie der Forschungsliteratur ............................ 363 Personenregister ........................................................................................ 371

EINLEITUNG

Gideon Stiening / Robert Vellusig

Poetik des Briefromans Wissens- und mediengeschichtliche Perspektiven

1. »Briefroman und Empfindsamkeit« Die literaturwissenschaftliche Forschung zum Briefroman konzentriert sich seit ihren Anfängen1 auf die Betrachtung der Gattung im 18. Jahrhundert und hierbei insbesondere auf Beispiele der Empfindsamkeit. Legitimiert sah und sieht man diese Fokussierung durch den enormen Erfolg der Gattung im Kontext emotionalistischer Kulturkonzepte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts.2 Eine Reflexion auf die spezifischen und unterschiedlichen Gründe für diese Konjunktur und deren Zusammenwirken, daher auch auf das Verhältnis der Gattung zu ihrer empfindsamen Erscheinung schloss diese Grundthese jedoch weitgehend aus. Jürgen von Stackelberg brachte dieses gattungsgeschichtliche Axiom auf die titelgebende Formel: Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit.3 Diese historiographische These ist sowohl von einer älteren, form- und gattungsgeschichtlichen Forschung4 als auch von neueren, geschlechter- und kul1 2

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Vgl. Erich Schmidt: Richardson, Rousseau und Goethe. Ein Beitrag zur Geschichte des Romans im 18. Jahrhundert. Jena 1875. [ND 1924.] Vgl. Alberto Martino: Emotionalismus und Empathie. Zur Entstehung bürgerlicher Kunst im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 81/82/83 (1977/78/79), S. 117–130; Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988. Jürgen von Stackelberg: Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 293–309. Vgl. die Standardwerke zur Gattungsgeschichte von Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968 (Literatur als Kunst); Wilhelm Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: DVjs 45 (1971), S. 80–116; Gert Mattenklott: Briefroman. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 4: Zwischen Aufklärung und Absolutismus: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang 1740–1786. Hg. v. Ralph-Rainer Wuthenow. Reinbek b. H. 1980 (rororo 6523), S. 185–203; Monika Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Héloïse und Laclos’ Liaisons Dangereuses. Tübingen 1990 (Romanica Monacensia 34); Markus Heilmann: Die Krise der Aufklärung als Krise des Erzählens. Tiecks »William Lovell« und der europäische Briefroman. Stuttgart 1992 (Germanistische Abhandlungen 74).

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turwissenschaftlichen Betrachtungen des Briefromans5 nachdrücklich bestätigt worden. Schon ein ganz vorläufiger Blick auf einige berühmte Exempel der Gattung trägt dieser allgemein akzeptierten Forschungsthese Geltungsschwierigkeiten ein. Neben der reichen Tradition der ›epistolary novel‹ vor Richardson6 lässt sich auch eine Reihe bedeutender Briefromane des 18. Jahrhunderts nicht in den empfindsamen Diskurs integrieren. Dies gilt für Montesquieus Lettres persanes ebenso wie für Tobias Smolletts Expedition of Humphry Clinker, die Liaisons dangereuses von Choderlos de Laclos oder Friedrich Hölderlins Hyperion. Zudem wurde die Gattung im 19. Jahrhundert von so prominenten Autoren wie Honoré de Balzac (Mémoires de deux jeunes mariées), Alfred de Musset (Le Roman par lettres) oder Henry James (A Bundle of Letters, The Point of View) mit innovativen Momenten und ohne Rückgriff auf empfindsame Sprach- und Deutungsmuster fortgeschrieben.7 Und noch in der Gegenwartsliteratur8 finden sich neuartige Formen einer epistolaren Narrativik, die die ausschließliche Anbindung dieser Gattung an eine Epoche im 18. Jahrhundert unplausibel, mindestens aber in der Begründung beschwerlich macht. Wenn aber der Briefroman nicht – zumindest nicht ausschließlich – durch seine empfindsamen Gehalte bestimmt werden kann, dann muss nicht nur die Gattung als solche, sondern es müssen auch ihre Varianten im 18. Jahrhundert – selbst in ihrer empfindsamen Erscheinungsform – anders bestimmt werden;9 die Korrelation von Gattungsgeschichte und Epochenhistorie muss auf andere Weise erfolgen.

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Susanne Scharnowski: Ein wildes gestaltloses Lied. Clemens Brentanos »Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter« Würzburg 1996 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 184); Esther Suzanne Pabst: Die Erfindung der weiblichen Tugend. Kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007. Vgl. H[elen] S[ard] Hughes: English Epistolary Fiction before Pamela. Chicago 1923; Charles E. Kany: The Beginnings of the Epistolary Novel in France, Italy, and Spain. Berkeley (California) 1937; Thomas O. Beebee: Epistolary Fiction in Europe. 1500–1850. Cambridge 1999. Vgl. Janet Gurkin Altman: Epistolarity. Approaches to a Form. Columbus 1982. Vgl. etwa Wolfgang Bauer (Der Fieberkopf. Frankfurt a. M. 1967), Stefanie Menzinger (Wanderungen im Inneren des Häftlings. Zürich 1996), Wolf Wondratschek (Kelly-Briefe. München 1998), Feridun Zaimoglu (Liebesmale, scharlachrot. Hamburg 2000), Ingo Schulze (Neue Leben. Berlin 2005), Friederike Mayröcker (Paloma. Frankfurt a. M. 2008), Marjana Gaponenko (Annuschka Blume. St. Pölten, Salzburg 2010), Mathias Gatza (Der Augentäuscher. München 2012). Das gilt auch für die aktuelle geschlechter- und kulturwissenschaftliche Briefroman-Forschung, für deren inhaltszentrierte Interpretationen die Form des Briefromans letztlich äußerlich bleibt. Vgl. u. a. Virginia Richter: Gewaltsame Lektüren. Gender-Konstitution und Geschlechterkonflikt in Clarissa, Les Liaisons dangereuses und Les Infortunes de la vertu. München 2000; Ulrike Vedder: Geschickte Liebe. Zur Mediengeschichte des Liebesdiskurses im Briefroman »Les Liaisons dangereuses« und in der Gegenwartsliteratur. Köln, Wien 2002 (Literatur – Kultur – Geschlecht G. R. 24) sowie Pabst: Erfindung der weiblichen Tugend, 2007.

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2. Historische Gattungspoetik Wege zu einer solchen alternativen, historisch reflektierten Gattungsbestimmung wurden im September 2008 auf einer Grazer Tagung erkundet. Gefragt wurde nach den gattungsspezifischen »Prinzipien des dichterischen Schreibens«,10 d. h. nach jenen Leitideen, die sowohl explizit, in Form theoretischer Grundsätze, als auch implizit, in Gestalt literarischer Routinen, greifbar werden. Ziel des Unternehmens war es allerdings nicht, eine neue Typologie des Briefromans zu entwickeln; vielmehr sollten Traditionslinien der Gattung identifiziert und deren poetologische Prinzipien in einen größeren literarhistorischen und kulturgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden. Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse dieses interdisziplinär geführten Gesprächs. Die einzelnen Beiträge zu einer historischen Poetik des Briefromans versuchen die Gattung aus der Logik ihrer Genese verständlich zu machen. Gattungen werden dabei nicht nur als »theoretische wie metatheoretische Begriffe für Textgruppenbildungen unterschiedlichen Allgemeinheitsgrades«11 verstanden, sondern auch als Phänomene der Kommunikation selbst, genauer: als ›kommunikative Routinen‹, die »mehr oder weniger verpflichtende Lösungen für bestimmte kommunikative Probleme« bereitstellen.12 Gattungen sind kommunikative Praktiken, die sich bewährt haben, weil sie von hinreichend vielen Individuen verfolgt oder befolgt wurden: verfolgt, weil sie sich auf ideale Weise dazu eignen, etwas mitzuteilen oder darzustellen; befolgt, weil sie zur vorbildlichen oder verbindlichen Norm geworden sind. Die Tatsache, dass Gattungsbegriffe häufig Prototypen- oder Familienähnlichkeitsstruktur besitzen, ist deshalb nicht

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Vgl. Harald Fricke: Poetik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Hg. v. Jan-Dirk Müller [u. a.]. Berlin, New York 2003, S. 100–105, hier S. 100. So Klaus W. Hempfer: Gattung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Hg. v. Klaus Weimar [u. a.]. Berlin, New York 1997, S. 651–655, hier S. 651. Vgl. auch Hempfers Beitrag über ›Generische Allgemeinheitsgrade‹ in: Handbuch Gattungstheorie. Hg. v. Rüdiger Zymner. Stuttgart, Weimar 2010, S. 15–19. So Thomas Luckmann: Kommunikative Gattungen im kommunikativen »Haushalt« einer Gesellschaft. In: Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650. Hg. v. Gisela Smolka-Koerdt, Peter M. Spangenberg, Dagmar Tillmann-Bartylla. München 1988 (Materialität der Zeichen), S. 279–288, hier S. 282. Harald Fricke hat in diesem Sinne zwischen ›Textsorten‹ als den rein systematischen Ordnungsbegriffen der Literaturwissenschaft und den je historischen ›Genres‹ als gewussten und bewussten Normen unterschieden. Zuerst in H. F.: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981, S. 132–138. Vgl. auch Frickes Beitrag zur ›Invarianz und Variablität von Gattungen‹ in: Handbuch Gattungstheorie, S. 19–21. Fricke denkt die Systematizität und die Historizität von Gattungen primär begriffslogisch vermittelt. Die hier skizzierte Perspektive geht davon aus, dass die Gattungsbildung selbst schon einer Logik folgt, die es genetisch zu erschließen gilt.

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allein auf die Logik der Begriffsbildung zurückzuführen;13 sie liegt im Wesen der Sache selbst begründet: Bestimmte Artikulationsformen stellen sich – aus welchen Gründen auch immer – geradezu zwangsläufig ein oder werden als Muster mustergültig. Gattungen gehören damit zu jenen kulturellen Phänomenen, die der Linguist Rudi Keller als ›Phänomene der dritten Art‹ bezeichnet hat.14 Phänomene der dritten Art – die Sprache, die Mode, die Inflation – sind »Ergebnisse menschlichen Handelns, nicht aber die Durchführung eines menschlichen Plans«.15 Sie lassen sich nur dann verstehen (und erklären), wenn man die Frage nach dem intentionalen Handeln unter bestimmten ökologischen Bedingungen mit der Frage nach den kausalen Folgen dieses Handelns (seinen nicht intendierten Effekten) verknüpft. Im Falle von Gattungen heißt dies: Das individuelle Handeln bewegt sich im Raum von kommunikativen Möglichkeiten, die eine Kultur ihren Mitgliedern erschlossen hat und/oder auf die sie den Einzelnen mehr oder weniger verpflichtet. Die kollektiven Folgen dieses Handelns haben den Charakter von zwangsläufigen Notwendigkeiten. Versteht man Gattungen als Phänomene der dritten Art, dann bekommt nicht nur der individuelle Gestaltungsspielraum des Autors einen neuen Stellenwert, auch die Frage nach dem Gattungswandel selbst – seiner Möglichkeit und seiner Notwendigkeit – stellt sich dann neu. Die Dynamik von Möglichkeit und Notwendigkeit erlaubt einer konsequent historischen Gattungspoetik, »von Werk zu Werk« voranzuschreiten,16 und eröffnet ihr zugleich einen Spielraum für Kontingenzen, der darauf ver-

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Vgl. Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003, S. 144–152; Klaus W. Hempfer: Zum begrifflichen Status der Gattungsbegriffe: von ›Klassen‹ zu ›Familienähnlichkeiten‹ und ›Prototypen‹. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 120 (2010), S. 14–32. Vgl. Rudi Keller: Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. 2., überarb. und erw. Aufl. Tübingen, Basel 1994 (UTB 1567), S. 87–95. Keller (ebd., S. 58) zitiert Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society. Edinburgh 1767, S. 187: »the result of human action, but not the execution of any human design«. – Keller macht dies am Beispiel von Trampelpfaden verständlich (vgl. ebd., S. 99ff.): Jeder, der an derselben Stelle über eine Wiese geht, ist an der Entstehung von Trampelpfaden beteiligt, aber niemand geht über die Wiese, um einen Trampelpfad anzulegen. Die systematische Gleichförmigkeit der Intention, den Weg abzukürzen (wenn es ohne größere Umstände möglich ist), führt dazu, dass der Rasen verkümmert. Trampelpfade (und Netzwerke von Trampelpfaden) entstehen dann und nur dann, wenn hinreichend viele Personen nicht willkürlich, sondern gezielt über die Wiese gehen. Trampelpfade sind, mit anderen Worten, natürliche Objektivationen menschlicher Intelligenz ohne ›intelligenten Designer‹ – und das gilt auch für die Muster, die sich in der Kommunikation ausbilden. So das Programm von Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle. Tübingen 2006, S. 11.

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zichten kann, Bedürfnisse von Kollektivsubjekten zu hypostasieren17 oder die Verlaufsformen der Gattungsgeschichte telelogisch zu deuten. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Gattungspoetik, die Gattungen als nicht intendierte, aber doch unvermeidliche Folgen des Kommunizierens (und als historisch reflektierte Ordnungsbegriffe) versteht, funktional bzw. kontextualisierend argumentieren muss, wenn sie verständlich machen möchte, weshalb sich eine spezifische Gattungstradition überhaupt etablieren konnte. Sie ist darauf verwiesen, nach den Rahmenbedingungen zu fragen, die den Möglichkeitsraum des je individuellen Schreibens abstecken, und sie muss verständlich machen, weshalb bestimmte Texte eine Faszinationskraft gewinnen konnten, die sie zu Gründungstexten oder herausragenden Exemplaren einer Gattung werden ließen. Das aber ist nur im Rahmen einer umfassenden Kontexttheorie möglich.

3. Der Briefroman und seine Kontexte Kontexttheorien fragen nach den Bedingungen, unter denen sich literarische Gattungen ausbilden, bewähren und wandeln. Sie zielen nicht bloß darauf ab, den Wandel von Gattungen phänomenologisch zu beschreiben, sondern versuchen Gründe zu benennen, die ihn in seiner Logik verständlich machen. Zwei ausgewiesene und aktuell diskutierte methodische und systematische Perspektiven, die sich eignen, eine solche Kontextualisierung der Gattungsgeschichte zu entwickeln, bilden das wissens- und das mediengeschichtliche Paradigma der neueren Literatur- und Kulturwissenschaften. Die vorliegenden Studien erproben deren undogmatische Vermittlung. Möglich ist diese Debatte, weil Wissens- und Mediengeschichte je ein essenzielles Moment des Briefromans akzentuieren: die Bindung des Erzählens an die Individualität der Briefschreiberinnen und -schreiber und die Überwindung des Erzählens durch die Fiktion des ›writing to the moment‹ (Richardson). Briefromane sind Romane, die eine Geschichte in einer und als eine Folge von Briefen präsentieren und so ein schriftliches Äquivalent für die kommunikative Rahmung des mündlichen Erzählens bilden.

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So bekanntlich Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. (Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie). In: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Hg. v. Walter Hinck. Heidelberg 1977 (medium literatur 4), S. 27–44. Von Voßkamps institutionentheoretischer Perspektive unterscheidet sich die hier verfolgte Gattungstheorie dadurch, dass sie mit Luckmann (Gattungen, S. 283) »zwischen grundlegenden Problemen des gesellschaftlichen Lebens und den besonderen der Kommunikation« zu unterscheiden versucht. Institutionen »organisieren bestimmbare Arten sozialen Handelns«; Gattungen aber lassen sich nicht (oder allenfalls auf sehr unspezifische Weise) als solche »Institutionen des Tuns« begreifen: »Sie legen nicht fest, wie die grundlegenden Probleme des gesellschaftlichen Lebens zu lösen sind.«

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3.1. Wissensgeschichte Die wissensgeschichtliche Perspektive erörtert ideengeschichtliche Kontexte, die für die Entstehung und Entwicklung der Gattung eine wichtige Rolle gespielt haben. Das Forschungsparadigma ›Wissensgeschichte‹ versteht sich als Fortsetzung und spezifische Form der Ideengeschichte.18 Nicht gemeint ist eine diskursanalytische Wissensgeschichte in der Nachfolge Foucaults, für die ›Wissen‹ jede beliebige Form sprachlicher Repräsentation darstellt und die in ihrer literaturwissenschaftlichen Variante als ›Wissenspoetik‹ ausgewiesen wird.19 Vielmehr soll mit dem Begriff ›Wissensgeschichte‹ die von Philosophie- und Wissenschaftshistorikern entworfene Variante einer (empirischen und rationalen) Ideengeschichte verbunden werden,20 die Wissensgehalte von Meinungs-, Erfahrungs- und Glaubensinhalten zu unterscheiden vermag.21 ›Wissen‹ liegt aus dieser Perspektive nur dann vor, wenn das Kriterium ›wahrer gerechtfertigter Überzeugung‹ anwendbar ist. Diese begriffsgeschichtlich fundierte, rein formale Bestimmung von Wissen erlaubt es einerseits, nicht jeden Gedankenkomplex eines Zeitraums als wissensgeschichtlichen Kontext der literarischen Texte betrachten zu müssen, und andererseits, die historische Bestimmtheit von Wissensansprüchen nicht über aktuelle Wahrheitskriterien zu überprüfen. Der wissensgeschichtlichen Kontextualisierung der Literatur geht es mithin um die Rekonstruktion historischer Wissensbestände und deren mögliche Bedeutung für die Dichtungsentwicklung eines Zeitraums; sie fragt nach wissensgeschichtlichen Voraussetzungen der Literatur sowie nach semantischen, strukturellen und kontextuellen Transformationen des Wissens in die Literatur, nicht aber nach dem »Wissen der Literatur« bzw. der »Literatur als Wissen«.22

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Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: »Und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei«. Zum Verhältnis von Wissen und Literatur am Beispiel von Goethes Die Metamorphose der Pflanzen. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hg. v. Tilmann Köppe. Berlin, New York 2010 (linguae & litterae 4), S. 192–213. Vgl. hierzu Gideon Stiening: Am »Ungrund«. Was sind und zu welchem Ende studiert man ›Poetologien des Wissens‹? In: KulturPoetik 2 (2007), S. 134–148; Gideon Stiening: »Glücklicher Positivismus«? Michel Foucaults Beitrag zur Begründung der Kulturwissenschaften. In: http://www.germanistik.ch/publikation.php?id=Gluecklicher_Positivismus (Oktober 2009). Vgl. hierzu u. a. Kurt Flasch: Philosophie hat Geschichte. 2 Bde. Frankfurt a. M. 2003/05; Olaf Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre. München 2006 sowie Wilhelm SchmidtBiggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichte und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hg. v. Anja Hallacker u. Boris Bayer. Göttingen 2007 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 2). Vgl. Jürgen Mittelstrass: Wissen und Grenzen. Philosophische Studien. Frankfurt a. M. 2001 und Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001. Zu Letzterem vgl. u. a. »fülle der combinationen«. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte. Hg. v. Bernhard Dotzler u. Sigrid Weigel. München 2005; Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur. München 2007.

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Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Hölderlins Briefroman Hyperion war darauf angelegt, die von Kant im Methodenkapitel der Kritik der praktischen Vernunft formulierte Aufgabe, »wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüt, Einfluß auf die Maximen desselben verschaffen, d. i. die objektiv praktische Vernunft auch subjektiv praktisch machen könne,«23 in einem idealtypischen und zugleich lebensweltlich konkretisierten Fall zu reflektieren und literarisch zu gestalten. Der Interpret des Textes ist aus philologischen und hermeneutischen Gründen gehalten, diesen Kontext angemessen zu erschließen. Er muss also die kantische Ethik in ihrem systematischen Gehalt rekonstruieren, um das von Hölderlin geteilte Problem zu erkennen und seine spezifische Antwort darauf erfassen zu können. Kants Ethik ist in Hölderlins Roman als Form und Inhalt konstituierender Kontext präsent: weil Hölderlin das mit dem kategorischen Imperativ aufgegebene Problem lösen wollte, wählte er die Form des Briefromans.24 Nur eine präzise Einsicht in diesen Zusammenhang macht auch weitere Besonderheiten des Romans sichtbar, die keineswegs ausschließlich durch eine wissensgeschichtliche Kontextualisierung erschlossen werden können; diese sind – gerade beim bekennenden Jakobiner Hölderlin – durch politik- und sozialgeschichtliche Kontexte zu ergänzen. Idealiter ist der Wissenskontext ein Moment in einem dichten Netz von hierarchisch angeordneten, bedeutungszuweisenden und so eine Interpretation ermöglichenden Kontexten.25 Dabei ist für diese literarhistorische Arbeit jedoch vollkommen unerheblich, ob der kategorische Imperativ als Maxime meines Handelns tatsächlich systematische Gültigkeit besitzt oder nicht.26 Hölderlins literarisches Verfahren, den Ereigniszusammenhang in einer Reihe von Briefen darzustellen, lässt sich allerdings erst vor diesem Hintergrund angemessen verstehen. Dieses für Einzeltexte produktive Verfahren27 soll im vorliegenden Band auch für die Gattungsgeschichte erprobt werden. Am Beispiel der Entwicklung des europäischen Briefromans im 18. und 19. Jahrhundert ist zu überprüfen, ob es Wissensbestände gab, die auf die Geschichte der Gattung prägenden Einfluss hatten. Als spezifische Form der Ideengeschichte bietet die Wissensgeschichte

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Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 6: Kritik der praktischen Vernunft. Darmstadt 1983, S. 287. Vgl. Gideon Stiening: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Hölderlins Briefroman »Hyperion oder der Eremit in Griechenland«. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 105). Dazu grundlegend Lutz Danneberg: Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hg. v. Fotis Jannidis [u. a.]. Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71), S. 77–105. Anders Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), S. 398–410. Dass dies auch für ganze Werke eines Autoren möglich ist, zeigt Gideon Stiening: Literatur und Wissen in Büchners Werk. Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten. Berlin 2012.

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der Literaturgeschichtsschreibung die Möglichkeit, zeitgenössische Wissenskontexte als Gehalte, mentalitätsgeschichtliche Bedingungen und konkurrierende Reflexionsformen der Literatur zu bestimmen. Zu diesen Wissenskontexten des Briefromans zählen insbesondere die Geschichte der Philosophie und ihrer epistemologischer Prämissen sowie die Geschichte des anthropologischen Denkens.28 Die wissensgeschichtliche Kontextualisierung kann sich dabei auf Beobachtungen stützen, die von der gattungsgeschichtlichen Forschung immer schon angeführt wurden, ohne bislang jedoch in einen kohärenten historischen Sinnzusammenhang gebracht worden zu sein. Dass im Briefroman des 18. Jahrhunderts der empirischen Individualität des einzelnen Subjekts eine besondere Bedeutung zukommt, ist seit längerem bekannt.29 Norbert Miller hat dies mit der Formel vom Beginn »mediam in personam«30 erfasst und damit im Bereich der Literaturgeschichte die ideen- und philosophiegeschichtlichen Ergebnisse der Aufklärungsforschungen von Panajotis Kondylis vorweggenommen.31 Warum aber diese Aufwertung des Individuums und dessen alltagsweltlicher Umgebung in den Mittelpunkt des gestalterischen und rezeptiven Interesses rückte und warum ausgerechnet der Brief zur vorrangigen Äußerungsform dieses Interesses wurde, blieb ungeklärt. Schon Gerhard Sauder hat in diesem Zusammenhang die These vertreten,32 dass der englische Empirismus sowie seine europaweite Rezeption und Wirkung in epistemologischer und anthropologischer Hinsicht eine entscheidende, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für diese literaturgeschichtliche Entwicklung darstellte.33 Sauders Hinweis auf den Kontext der empiristischen Aufklärung gehört zu einer der Leitideen, die in den wissensgeschichtlich ausgerichteten Beiträgen des Bandes überprüft und um weitere anthropologie- und philosophiegeschichtliche Perspektiven ergänzt werden.

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Vgl. u. a. Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 6); Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 25); als Überblick: Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008. Vgl. etwa Hans Rudolf Picard: Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts. Heidelberg 1971 (Studia Romanica 23), S. 18f. Vgl. Miller: Erzähler, S. 147. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981. Vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 65ff.; vgl. ebenso Sven Aage Jørgensen, Klaus Bohnen, Per Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. 1740–1789. München 1990 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 6), S. 49ff.; Walter Göbel (Der Shaftesbury-Mythos. Zum Verhältnis von Philosophie und Empfindsamkeit in England. In: Anglia 110 (1992), S. 100–118) hat diesen Zusammenhang bezweifelt. Vgl. auch Jan Engbers: Der »Moral-Sense« bei Gellert Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland. Heidelberg 2001.

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3.2. Mediengeschichte Die wissensgeschichtliche Forschung fragt nach dem Verhältnis des Briefromans (und seiner Ausprägungen) zu je spezifischen kulturellen Wissenskomplexen und versucht diese als notwendige Kontexte für die Entstehung und Entwicklung der Gattung zu verstehen. Sie argumentiert primär ideengeschichtlich. Die Mediengeschichte setzt bei den medialen und kulturellen Rahmenbedingungen des Briefromans an und führt, systemtheoretische Perspektiven aufgreifend, Bemühungen der Sozialgeschichte fort, den kulturellen Wandel, der im 18. Jahrhundert stattgefunden hat, zu begreifen.34 Insofern ist ihr Anspruch umfassender als derjenige der Wissensgeschichte, die einen spezifischeren Kontext der Gattung in den Blick rückt. Aus mediengeschichtlicher Perspektive erscheinen die Geschichte der Wissenskultur und die Geschichte der ästhetischen Kultur als komplementäre Phänomene ein- und desselben historischen Prozesses, der sich als umfassende Verschriftlichung der Kultur verstehen lässt. Wenn Gesellschaft, mit Luhmann zu sprechen, Kommunikation ist, dann haben medien- und kommunikationstechnische Basis-Innovationen (Sprache, Schrift, Buchdruck, die periodische Presse etc.) immer auch einen Strukturwandel des Vergesellschaftungsprozesses zur Folge.35 Zur Diskussion stehen im vorliegenden Fall die strukturelle Veränderung der Rahmenbedingungen für die Gewinnung, Tradierung, Erweiterung und Differenzierung des Wissens einerseits und die Artikulation und Kommunikation des Erlebens andererseits. Dass der Briefroman im 18. Jahrhundert zu einem europaweiten Modephänomen wurde, wird – so die These – nur im Rahmen dieser medien- und kulturgeschichtlichen Konstellation verständlich.

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Die folgende Skizze ist in einzelnen Passagen einem internen Diskussionspapier Gisbert Ter-Neddens verpflichtet, dessen Arbeiten für die hier vertretene Mediengeschichte der poetischen Literatur insgesamt maßgeblich sind. Vgl. v. a. G. T.-N.: Fabeln und Parabeln zwischen Rede und Schrift. In: Fabel und Parabel. Kulturgeschichtliche Prozesse im 18. Jahrhundert. Hg. v. Theo Elm u. Peter Hasubek. München 1994, S. 67–107; G. T.-N.: Die Unlust zu fabulieren und der Geist der Schrift. Medienhistorische Fußnoten zur Krise des Erzählens im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 32/33 (1997/98), S. 191–220; G. T.-N.: Das Medium und die Botschaft. In: G. T.-N., Robert Vellusig, Martin Ottmers, Uli Wunderlich: Mediengeschichte und kultureller Wandel. Studienbrief der Fernuniversität Hagen. Hagen 2003, S. 5–40. Mit den ungleich prominenteren Arbeiten von Friedrich Kittler (Aufschreibesysteme 1800 – 1900. München 1985) und Albrecht Koschorke (Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999) teilt die hier skizzierte Mediengeschichte des Erzählens zwar die Überzeugung, dass die Kulturrevolution des 18. Jahrhunderts als Folge eines umfassenden Verschriftlichungsprozesses verstanden werden muss; mehr hat sie mit ihnen aber nicht gemeinsam. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Koschorkes ›Mediologie‹ vgl. die Rezension von Robert Vellusig in: Sprachkunst 31 (2000), H. 1, S. 165–170. Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984, v. a. S. 221–224; Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997, v. a. Kap. 2/V (Schrift) und 2/VI (Buchdruck).

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›Aufklärung‹ und ›Empfindsamkeit‹ sind die zeitgenössischen Bezeichnungen für die kulturrevolutionären Folgen, die die Entwicklung des Buchdrucks zum echten Massenmedium mit sich brachte. Die »typographische Medienrevolution«36 des 16. Jahrhunderts entgrenzte die Leistungsfähigkeit der Schrift als Speichermedium; die Entwicklung der periodischen Presse entgrenzte auf analoge Weise die Funktion der Schrift als Übertragungsmedium. Durch die Verbindung von Presse und Post, die sich – beginnend mit dem Aufstieg der Zeitung im 17. Jahrhundert – im 18. Jahrhundert als ein nach Tausenden von Titeln zählender Markt unterschiedlichster Periodika etablierte, wurde der Buchdruck »zum zweiten Male entdeckt«.37 Die rasante Entwicklung der periodischen Presse, die sich an eine anonyme, sozial heterogene Öffentlichkeit richtete, wurde im 18. Jahrhundert von einer ebenso raschen Entwicklung des privaten Briefwechsels begleitet, durch die das individuell adressierte ›manu-scriptum‹ eine neuartige kommunikative Funktion und kulturelle Bedeutung gewann. Während die Speicherleistungen und das Reflexionspotential der Schrift für die Evolution der Wissenskultur schlicht unverzichtbar sind, stellt das Medium für jene kulturellen Praktiken, die sich in personaler Interaktion vollziehen und die darauf abzielen, das Erleben des Lebens zu kultivieren, ein Handicap dar. Das gilt vorab für das Erzählen. Schrift löst Kommunikationsprozesse aus dem Wahrnehmungs- und Situationskontext und erzeugt so einen Verbalisierungszwang, den die personale Interaktion nicht kennt. Sie bringt damit aber auch all das zum Verschwinden, was in der Faceto-Face-Interaktion die personale Selbstdarstellung und die interpersonale Beziehungsgestaltung trägt und das Sprechen wie das Erzählen lebendig macht: die Stimme und ihre Modulationen, die Intonation, der Blick, das ganze Spektrum mimisch-gestischer Ausdrucksformen. Als Gestaltungsmedium produktiv wird die Schrift dort, wo sie dazu inspiriert, Artikulationsformen zu entwickeln, die die ›Leibhaftigkeit‹ des Sprechens und der erzählenden Performance für die Imagination von Lesern nachbilden.38 Die Privatkorrespondenz war das Me36

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Grundlegend: Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a. M. 1991. So der Befund von Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen. Seine Geschichte und seine Probleme. Tl. 1. 2., neu bearb. u. erw. Aufl. Wiesbaden 1958, S. 1. Grundlegend: Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 189) S. 303: »Im Vergleich zum Buchdruck, der das Wissen aller Epochen egalisierte und die Bedeutung der Autorität erhöhte, stellte die periodische Presse eine Qualität in das Zentrum der Aufmerksamkeit, welche dem Wesen traditionaler Gesellschaften strikt zuwiderlief, nämlich die Neuigkeit.« Die Unterscheidung zwischen Speicher-, Übertragungs- und Gestaltungsmedien ist inspiriert durch Dietrich Kerlen: Einführung in die Medienkunde. Stuttgart 2003 (RUB 17637), S. 9–30. Der hier besonders interessierende Sachverhalt der Gestaltungsmöglichkeit einer sprachlichen Äußerung entspricht der sprachwissenschaftlichen Unterscheidung zwischen dem Medium (phonisch / graphisch) und der Konzeption (Sprache der Nähe / Sprache der

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dium, in dem sich schriftliche Äquivalente für diese personalen Aspekte des Sprechens wie des Erzählens zuerst etablierten. Als interaktionsfreie, konzeptionell gleichwohl interaktionsnahe Form des ›geselligen Betragens‹ (Schleiermacher) wurde der Brief zum Medium der modernen Konversationskultur der gebildeten Stände.39 Im Kontext dieser mediengeschichtlichen Rekonstruktion des kulturellen Wandels, der sich im 18. Jahrhundert vollzog, erscheint der Briefroman als diejenige literarische Gattung, in der sich die poetische Literatur der Artikulations- und Gestaltungsmöglichkeiten bewusst wird, die ihr das Schreiben eröffnet. Diese Neuerfindung der Poesie als dezidiert ›schriftlicher Literatur‹40 besteht im Versuch, Artikulationsformen für die mimisch-gestische, leiblich-sinnenhafte Dimension des Erzählens zu finden, die beim Aufschreiben der wieder- und weitererzählbaren Geschichten verloren geht. Das narrative Schreiben beginnt sich als schriftliche Steigerungsform des mündlichen Erzählens zu begreifen und lernt, eine Geschichte nicht zu ›erzählen‹, sondern als Imaginationsfolge zu vergegenwärtigen. Seine von Blanckenburg, Engel u. a. formulierte Maxime lautet: Informiere nicht darüber, was man über ein vergangenes Geschehen wissen kann, sondern führe einem Anteil nehmenden Bewusstsein vor, wie es war, eine zukunftsoffene Gegenwart zu erleben!41 Damit beginnt die Geschichte des modernen Bewusstseinsromans, in deren Eröffnungsphase der Briefroman eine zentrale Stellung einnimmt.42 Zwar han-

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Distanz) des sprachlichen Ausdrucks. Vgl. Peter Koch, Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15–43. Die hier verfolgte Mediengeschichte der Poesie rückt also nicht nur die technischen Trägermedien der Literatur in den Blick, sondern setzt diese auch zu den Realisierungsformen der Sprache in Bezug. Insofern hat sie nicht nur eine allgemeine kulturgeschichtliche Dimension, sondern fragt auch nach der Geschichte schriftlicher Artikulationsformen, d. h. nach den Möglichkeiten, die das Reden und das Schreiben dem sprachlichen Ausdruck eröffnen, und den Einschränkungen, die sie ihm auferlegen. Vgl. u. a. Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000 (Literatur und Leben N. F. 54); Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750–1830. Mit einem Beitrag von Edith Anna Kunz. Göttingen 2001; Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 455); Robert Vellusig: Aufklärung und Briefkultur. Wie das Herz sprechen lernt, wenn es zu schreiben beginnt. In: Das 18. Jahrhundert 35 (2011), H. 2, S. 154–171. Zur Unterscheidung zwischen nachträglich aufgeschriebener ›oral poetry‹ und am Schreibtisch konzipierter ›written literature‹ (Ong) vgl. Ter-Nedden: Fabeln und Parabeln, S. 69– 78. Vgl. Ter-Nedden: Unlust zu fabulieren, S. 191–220; zur poetologischen Debatte um den Roman vgl. Robert Vellusig: Verschriftlichung der Literatur. Medienprobleme des Romans im 17. und 18. Jahrhundert. In: IASL 30 (2005), H. 1, S. 55–97. Vgl. statt anderer: Monika Fludernik: Towards a ›Natural‹ Narratology. London, New York 1996, S. 171: »The rise of the consciousness novel would be unthinkable without Clarissa and the tradition of self-analysis which Richardson redeploys for secular rather than religious purposes.« Joe Bray hat in diesem Sinne auf die Tradition der epistolaren

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delt das Erzählen in und außerhalb der Literatur immer schon vom Glück und Unglück des leiblichen, geschlechtlichen, sein Leben in Hoffnung und Furcht erlebenden, sterblichen Einzel-Ich und von den Beziehungsdramen, in die es gerät und in die es sich stürzt; aber niemals zuvor sind Leserinnen und Leser zu so intimen Zeugen dieses inner- und interpersonalen Geschehens gemacht worden wie in den Briefromanen eines Richardson, Rousseau oder Goethe. Die schriftliche Mimesis des Sprechens und die literarische Darstellung eines ganz auf sich bezogenen, einem (vertrauten) Gegenüber schreibenden Bewussteins machen etwas mitteilbar und überlieferbar, was sich ohne das Medium Schrift nicht mitteilen oder nicht überliefern ließe: Unterhaltungen lassen sich führen, aber nicht tradieren; tradieren lässt sich nur, was gesprochen wurde, nicht der Prozess der Ausdrucksbewegung und der Interaktion selbst. Innere Monologe lassen sich führen, aber nicht mitteilen; mitteilen lässt sich nur, was man sich gedacht hat, nicht der komplexe Prozess der Assoziationsbildung selbst. Aus mediengeschichtlicher Perspektive liegt es nahe, die Bindung des Romans an die Kommunikationsform ›Brief‹ als eine ›naturalistische‹ Hilfskonstruktion zu verstehen, d. h. als literarische Technik,43 die das personale Erleben aus erster Hand präsentiert, ohne eine Antwort auf die Frage parat haben zu müssen, wie einem das, was ein Subjekt nur von sich selber wissen kann, überhaupt zugänglich werden konnte.44 Es versteht sich von selbst, dass diese medienästhetische Logik des Briefromans die Autorinnen und Autoren auf keine spezifischen Muster festlegt, sondern narrative Spielräume und Spielräume der Reflexion eröffnet, die auf je spezifische Weise genutzt wurden. Von selbst versteht sich aber auch, dass sich der moderne Roman mit seinen Techniken der Bewusstseinsdarstellung45 von der Brieffiktion bald unabhängig machte.

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Bewusstseinspoesie vor Richardson hingewiesen. Vgl. Joe Bray: The Epistolary Novel. Representations of Consciousness. London, New York 2003 (Routledge Studies in Eighteenth-Century Literature 1), S. 29–53. Vgl. François Jost: L’Évolution d’un genre. Le Roman épistolaire dans les lettres occidentales. In: F. J.: Essais de littérature comparée. Europeana II. Première série. Fribourg / Urbana (Illinois) 1968, S. 88–179. Jost weigert sich, Briefromane als »genre littéraire« zu bezeichnen: »A proprement parler il ne s’agit que d’une espèce: ils incarnent une technique« (S. 89). Hempfer (Generische Allgemeinheitsgrade, S. 16) fasst den Briefroman als »Untergruppe« bzw. »historische Spezifizierung« der historischen Gattung »Roman« auf. – Der Roman des 17. Jahrhunderts war als Gattung ein durchaus fest umrissenes Gebilde; vom Roman des 18. Jahrhunderts lässt sich dies allerdings nicht in derselben Weise behaupten: Er entwickelt sich zur zentralen Gattung des narrativen Schreibens (vgl. Vellusig: Verschriftlichung des Erzählens). Dies ist der Ansatzpunkt für die von Uwe Wirth postulierte »Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion« (Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008). Für eine kritische Würdigung vgl. die Rezension von Robert Vellusig in: Arbitrium 28 (2010), H. 3, S. 336–344. Dazu (und zum Spektrum des Phänomens, das literarisch dargestellt wird) grundlegend Alan Palmer: Fictional Minds. Lincoln, London 2004 (Frontiers of Narrative), v. a. S. 87– 129.

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4. Facetten des Briefromans und Konturen seiner Geschichte Die einzelnen Beiträge versuchen, die hier skizzenhaft entwickelten Perspektiven zu konkretisieren und – ohne von den eigenen methodischen und historischen Interessen abzusehen – zwischen kulturgeschichtlich reflektierter Medien- und ideengeschichtlich fundierter Wissensgeschichte zu vermitteln. In vier historisch und thematisch ausgerichteten Schwerpunkten zeichnen sie gattungsspezifische Eigentümlichkeiten des Briefromans im 18. und frühen 19. Jahrhundert nach. Die erste Abteilung ist den Traditionslinien der Gattung vor Richardson und ihren wissensgeschichtlichen Kontexten gewidmet. Sie wird von Barbara Becker-Cantarino eröffnet, die den Zusammenhang zwischen einem spezifisch neuzeitlichen Freundschaftskonzept und der Bedeutung des Briefes als Reflexions-, Darstellungs- und damit Konstitutionsmedium dieses gesellschaftlichen Ideals darstellt. Becker-Cantarino präsentiert ein umfangreiches Corpus von Briefromanen, die von Autorinnen vor und nach Richardson mit großem Erfolg für den englischen Buchmarkt verfasst wurden, und macht anschaulich, dass die Gattung im England des 18. Jahrhunderts nicht nur die Hoch-, sondern auch die Massenkultur beherrschte. Birgit Wagner erweitert diese Sicht auf die frühen Entwicklungslinien des Briefromans im 18. Jahrhundert durch eine eingehende Analyse und Interpretation der wissensgeschichtlichen Kontexte, in denen Montesquieus Lettres persanes (1721) stehen. Dieses Wissen ist im weitesten Sinne kulturanthopologischer Natur und über Reiseberichte wie Jean Chardins Voyages en Perse vermittelt, die Montesquieu selektiv rezipiert und dessen Darstellungen des Haremslebens er nutzt, um die für den großen Erfolg des Romans verantwortliche Haremsintrige auszugestalten. Für eine Geschichte des Briefromans vor Richardson besonders instruktiv ist Birgit Wagners Hinweis auf die Traditionslinie des ›Spionageromans‹, insbesondere ihre Ausführungen zu dem für Montesquieu maßgeblichen Briefroman L’Espion du Grand Seigneur (1684) von Giovanni Paolo Marana. Von Marana übernimmt Montesquieu das für die Lettres persanes zentrale Motiv der außereuropäischen Perspektive auf die europäische Kultur, das nicht nur die dominant essayistischen Passagen des Romans bestimmt, sondern auch den verbotenen Blick auf die Welt des Harems prägt. Wagners Beitrag macht deutlich, dass eine Geschichte des Briefromans im 18. Jahrhundert die Grenzen nationalsprachlicher Literaturen ebenso überschreiten muss wie die unterschiedlichen Diskursformen. Dies nachzuweisen ist auch das Ziel der wissensgeschichtlichen Studie Gideon Stienings, der die Briefromane Richardsons (1748), Smolletts (1771) und Rousseaus (1761) in den epistemologischen, moralphilosophischen und politischen Kontext des europäischen Empirismus stellt: So wie der Empirismus alle Erkenntnis unhintergehbar an die Erfahrung eines empirischen Subjekts bindet, das auf Kommunikation mit anderen angewiesen ist, so entsteht im Briefroman eine Welt aus der Perspektive empirischer Subjekte, die miteinander korrespondierend in Beziehung

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treten. Das Motiv einer empfindsamen ›Gegengemeinschaft‹, die sich im Briefwechsel etabliert, ist in allen drei Briefromanen auf je unterschiedliche Weise ausgeprägt. Stiening verfolgt an diesen Ausprägungen, wie sich der Briefroman von dem Ideal einer gemeinschaftsbildenden ›Sprache des Herzens‹ Schritt für Schritt entfernt. Die zweite Abteilung des Bandes legt den Schwerpunkt auf den Zusammenhang von Briefroman und Empfindsamkeit und fragt nach deren medialer Prägung. Im Zentrum der Betrachtungen stehen die darstellungstechnischen Innovationen, die die Briefromane Richardsons zu internationalen Bestsellern werden ließen und die den Werther zu einem literarhistorischen Ereignis von einzigartigem Rang machten. Gisbert Ter-Nedden revidiert die gängigen literarhistorischen Vorstellungen von der Empfindsamkeit als einer ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Strömung innerhalb des neuzeitlichen Aufklärungsprozesses, indem er zeigt, dass der Briefroman Teil eines kulturellen Wandels war, in dessen Verlauf das gesamte Literatursystem strukturell verschriftlicht wurde. Der ›Kino-Effekt‹, von dem er in seinem programmatischen Beitrag ausgeht, besteht in der Macht des Films, seine Konsumenten zu Tränen zu rühren. Ein solcher Kino-Effekt ist auch für die moderne Literatur bezeugt, die im 18. Jahrhundert entsteht, insbesondere für den modernen Bewusstseinsroman, der mit den Briefromanen Richardsons seinen Siegeszug beginnt, und für die moderne Bewusstseinsdramatik, an deren Anfang Lessings Miss Sara Sampson steht. Der überlegene Lesereiz dieses neuen Typs von Briefroman besteht in der bis dahin unerhörten Intimität und Intensität, mit der dieser das personale Welterleben mimetisch vergegenwärtigt und seinen Konsumenten als jederzeit verfügbare ›Bewusstseinsdroge‹ zur Verfügung stellt. Hier, auf der Ebene der Poetik und Darstellungstechnik, liegt die Gemeinsamkeit zwischen Lessing und Richardson, deren Werke – so zeigt die vergleichende Lektüre – in allen inhaltlichen Hinsichten (etwa im Hinblick auf die Rolle der Sexualität und der Religion) gegensätzlicher nicht sein könnten. Robert Vellusig erweitert diese Sicht auf die ›Empfindsamkeit‹ durch eine eingehende Interpretation von Goethes Werther (1774), die die medienästhetischen und religionsphilosophischen Dimensionen des Romans zur Geltung bringt. Vellusig stellt Die Leiden des jungen Werthers als Bewusstseinsroman vor, der den Anspruch erhebt, die Leidensgeschichte eines ›exkommunizierten Bewusstseins‹ aus der Perspektive des Erlebens zu vergegenwärtigen und so einem Anteil nehmenden Bewusstsein in der Imagination zu erschließen. Das personale Erleben, das nicht immer schon Rede ist, findet in Goethes Briefroman gerade deshalb zur Sprache, weil es nicht Rede, sondern Schrift wird. Als Bewusstseinsroman, der den Anspruch erhebt, das Ganze – Glück und Leid – des einzelmenschlichen Lebens exemplarisch zu gestalten, ist Goethes Werther Teil jenes kulturellen Prozesses, in dem die Religion ihren Status, Wissen zu sein, verliert und in dem die Literatur zur Religion der ›gebildeten Menschenklassen‹ wird.

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Der Beitrag Dirk Oschmanns ergänzt Vellusigs Interpretation, indem er sich der Sprache von Goethes Roman widmet und deren stilprägende Bedeutung dokumentiert. Die ›fingierte Mündlichkeit‹ von Werthers Briefen bringt die personale Innenseite des Erlebens auf besonders wirkungsmächtige Weise zum Ausdruck. Die ästhetische Qualität dieser Prosa wurde von Karl Philipp Moritz nicht nur phänomengerecht erörtert, sondern avancierte in seinen stiltheoretischen Schriften auch zum Maßstab gelingender Artikulation. Die Beiträge der dritten, dominant wissensgeschichtlich ausgerichteten Abteilung demonstrieren, dass die Gattung mit den Leiden des jungen Werthers keineswegs an ihre Grenzen und damit an ihr Ende kam – im Gegenteil: Der Briefroman wird zum Austragungsort der Kontroverse jener epochalen Strömungen, die um 1800 aufeinander treffen: Aufklärung, Idealismus und Romantik. So zeichnet Werner Euler in seinem Beitrag zu Friedrich Heinrich Jacobis Briefroman Eduard Allwills Papiere (1776/92) detailliert nach, wie der Autor die Brieffiktion nutzt, um seine philosophischen Überzeugungen (vor allem seinen Gefühlsbegriff) poetisch darzustellen, und dies durchaus mit empfindsamkeits-, aber auch aufklärungskritischem Impetus. Jacobi steht mit seinem Briefroman im Zentrum jener Kontroversen, die der Autor auch als Philosoph und Publizist lebenslang anstrengte. Hans-Peter Nowitzki zeigt demgegenüber, dass noch der späte Wieland mit Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1801) die Gattungstradition des Briefromans fortschreibt. Wieland ist dem genuin aufklärerischen Programm verpflichtet, die subjektive Wirksamkeit objektiver Wahrheiten nachzuweisen und die allmähliche Verwirklichung theoretischer – hier philosophischer und anthropologischer – Überzeugungen vorzuführen. Wielands ›Reisebriefwechselroman‹ porträtiert die Welt der griechischen Antike und entwirft das Modell eines schriftlich geführten und deshalb besonders besonnenen Gedankenaustauschs, der sich als philosophische Form der Lebenskunst begreifen lässt. Wie erkenntnisfördernd die Erschließung wissensgeschichtlicher Kontexte sein kann, demonstriert auch der Beitrag von Günther A. Höfler. Er stellt Achim von Arnims Erstlingsroman Hollin’s Liebeleben (1802) in den Kontext der romantischen Naturphilosophie und arbeitet anschaulich heraus, dass Arnims Roman eine Philosophie der idealen Liebe entwirft, deren subjektive Erlebnisdimension und deren soziale Lebbarkeit er literarisch gestaltet und erkundet. Arnim traut seinem kompromisslos romantischen Protagonisten nicht über den Weg; er lässt ihn grandios scheitern und treibt damit die Möglichkeiten, die der Roman in Briefen dem Erzählen eröffnet hat, an seine Grenzen. Einem anderen scheiternden Helden und der Frage nach den Leistungsmöglichkeiten der Briefroman-Form ist auch der Beitrag Susanne Knallers gewidmet, der die Sektion beschließt. Knaller fragt nach der gattungsgeschichtlichen Besonderheit des berühmtesten italienischen Briefromans, Ugo Foscolos Ultime lettere di Jacopo Ortis (1802). Sie stellt Foscolos Roman in den Kontext der Subjektivitäts- und Mimesispoetiken des 18. und frühen 19. Jahrhunderts und diskutiert seine historischen Grenzen. Dabei kann sie zeigen, dass die Subjekti-

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vierung der Erzählhaltung und die Politisierung der reflektierten Inhalte dem Roman einen möglichen Weg in moderne Erzählformen weisen. Die Innovation des Briefromans bestand darin, den Brief zum (beinahe) ausschließlichen Medium des Erzählens zu machen. Der Brieffiktion bediente sich das 18. Jahrhundert aber auch, um den kritischen Disput in der periodischen Presse zu führen. Der letzte Abschnitt dieses Bandes ist der Fortsetzung dieser Prozesse im 19. Jahrhundert gewidmet: der Entstehung des Feuilletons und dem Verzicht des Erzählens auf die Brieffiktion. Hildegard Kernmayer zeichnet nach, »wie der Brief ins Feuilleton kam«, indem sie die epistolare Reflexionsund Darstellungsform des briefsüchtigen Ludwig Börne anschaulich macht und darin Schreibstrategien erkennt, die Börnes Briefe aus Paris (1832–1834) zu Gründungstexten des Feuilletons werden ließen. Christian Neuhuber stellt Büchners Lenz (1835/36) in die Tradition der medizinischen Krankengeschichte (und ihrer Wissenskontexte) und zeigt im Detail, dass Büchner zwar die Gestaltungsleistungen des Briefromans aufnimmt und fortführt, auf die historisch gewordene Brieffiktion aber verzichtet. Die pathologischen Zustände, in die Lenz gerät, sind ihm selbst nicht mehr bewusst zugänglich. Büchners Techniken eines erzählerlosen narrativen Schreibens sind zwar an Goethes Werther geschult, führen die literarische Bewusstseinsdarstellung aber über die dem Briefroman gesetzten Grenzen hinaus. Der Band schließt mit Auswahlbibliographien zum europäischen Briefroman (Stephan Kurz, Stella Lange) und zur wissenschaftlichen Literatur (Gideon Stiening, Robert Vellusig), die – so die Hoffnung der Herausgeber – durch die vorliegenden Studien neue Impulse erhalten möge.

VORGESCHICHTEN: FRÜHE TRADITIONSLINIEN UND KONTEXTE DER GATTUNG

Barbara Becker-Cantarino

›A Letter to a Friend‹ Freundschaft und Briefroman in England

Freundschaftsbriefe waren eine beliebte literarische Gattung im ausgehenden 17. und besonders im 18. Jahrhundert, die zwei große Moden der Zeit miteinander verbanden: die Kommunikation in Briefen als Vehikel des gelebten und imaginierten Freundschaftskultes. Hier soll Robert Vellusigs anregendes Kapitel zum »Brief als Medium von Intimität«1 aufgegriffen und mit einer theoretischen wie historisierenden Betrachtung von Freundschaft und Briefroman im 18. Jahrhundert weitergeführt werden. Dabei soll besonders auf die in der deutschen Forschungsdiskussion weniger beachteten, von Frauen verfassten Briefromane in England eingegangen und diese in exemplarischer Auswahl mit in das literarische Feld des 18. Jahrhunderts einbezogen werden. Die folgenden Ausführungen gehen dem Konnex von Briefroman und Kommunikation nach, indem sie die Briefromane als eine Art von Kommunikationssystem für Freundschaft und Geselligkeit in romanhafter Form im späten 17. und 18. Jahrhundert betrachten. Dieses über Schrift und Texte sich verständigende System entwickelte sich von England und Frankreich ausgehend neben der Gelehrtenkultur auf der einen und der galanten, aristokratischen Kultur der Höfe auf der anderen Seite in landadeligen, großbürgerlichen, an Bildung und Literatur interessierten Leserschichten wie die der Moralischen Wochenschriften. Mit der Fokussierung auf gesellige Freundschaft sollen die Briefromane von Autorinnen in England besonders vor Richardson näher betrachtet werden. Dabei spielt – so die These dieser Ausführungen – das Kommunikationssystem von Briefkultur und geselliger Freundschaft eine Schlüsselrolle für die Genese der Gattung Briefroman als ›letter to a friend‹ – Freundschaftliche Briefe wie Gleim seine erfolgreiche Publikation von 1746 betitelte. Der Briefroman als literarisches Genre wird so aus der epochenbedingten Einschränkung auf die Empfindsamkeit herausgenommen, wie es kürzlich auch Gideon Stiening mit Nachdruck vorgeschlagen hat.2 Daher die

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Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000 (Literatur und Leben N. F. 54), S. 56–82. Vgl. Gideon Stiening: Briefroman und Empfindsamkeit. In: Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. Hg. v. Klaus Garber u. Ute Széll. München 2005, S. 161–190, hier S. 168 und 176–190.

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Barbara Becker-Cantarino

folgenden Bemerkungen zur geselligen Freundschaftskultur und Briefroman in England.

1. Freundschaft und Literatur um 1700 »There has been no subject of morality which has been better handled and more exhausted than [friendship],« schrieb Thomas Addison in The Spectator, »Friendship is a strong and habitual inclination in two Persons, to promote the Good and happiness of one another«.3 Addison eröffnete damit eine Diskussion über Freundschaft in seiner Moralischen Wochenschrift, bei der er die bis in die Antike zurückgehende Tradition ebenso kursorisch evozierte wie er die zeitgenössische moralphilosophische Anschauung von geselliger Freundschaft als sozialethische Kategorie für seine Leser verständlich ausbreitete. Angesichts des inflationären Gebrauchs des Wortes ›Freundschaft‹ im 18. Jahrhundert wie auch in neueren Forschungen zu diesem Thema und angesichts der durchaus unterschiedlichen Vorstellungen und emotionalen Assoziationen, die der Begriff ›Freundschaft‹ evoziert, erscheint mir eine begriffliche Klärung im Hinblick auf die Literarisierung des Begriffes zunächst einmal wichtig. Konzentrieren möchte ich mich dabei auf das Potential der Freundschaft, das Individuum freizusetzen, auf den Innovationsraum der Freundschaft (und die Exklusionen davon) sowie auf die Möglichkeit der Emotionalisierung. Vier Ebenen, die sich überschneiden und miteinander in Beziehung stehen, haben als Projektionsflächen der Diskurse über Freundschaft gedient: das Subjekt (der Freund/die Freundin), die Interaktion (Freundschaft als persönliche Beziehung und als Ethos), das gesellschaftliche Umfeld (Familie, Gruppen, Institutionen, Gesamtgesellschaft) und die schriftliche (kulturgeschichtliche) Tradition. Freundschaft ist eine auf gegenseitige Achtung, Zuneigung und Vertrauen gegründete Beziehung zwischen zumeist zwei oder wenigen Menschen oder Gruppen, die unabhängig von verwandtschaftlichen Bindungen und Liebesverhältnissen gebildet wird und existiert. Freundschaft kann (muss aber nicht) die Grenzen von Familie, Sippe, Nation, Klasse, Religion und Geschlecht überschreiten, ist jedoch anders als die Ehe kein gesetzlicher Vertrag und auch keine Institution, die fest in der Gesellschaft verankert ist, sondern besteht auf Freiwilligkeit und Freiheit des Einzelmenschen zur Assoziation. In dieser Offenheit und Freiwilligkeit zur Assoziation liegt eine große Chance für Innovation, das Individuum kann aus der familialen Organisation und sozialen Stellung, in die man hineingeboren wurde, heraustreten, neue Bindungen eingehen, den Horizont erweitern und die eigene Person stärken und weiterentwickeln.

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The Spectator Nr. 385, 22. Mai 1712, S. 103.

Freundschaft und Briefroman in England

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Die Freundschaftsdiskurse verweisen auf offene Gattungen wie Brief, Gespräch oder Essay. Das kreative literarische Potential der Freundschaft bezeugen die Freundschaftsdichtungen wie die Kommunikation in Briefwechseln, die literarische Gattung der Freundschaftsbriefe und Briefromane.4 Für die (literarisierten) Freundschaftsdiskurse von der Renaissance bis weit in das 18. Jahrhundert hinein waren Aristoteles’ Definition vom Freund als zweitem Ich und Ciceros Abhandlung De Amicitia vorbildlich.5 Die Philosophie der Antike unterschied bekanntlich zwischen ›philia‹ (Freundschaft) und ›eros‹ (leidenschaftliche Liebe). Diese Konzepte banden Freundschaft an freie, gebildete, einflussreiche Männer und hielten Frauen wegen ihres Geschlechtes für unfähig zur wahren Freundschaft, weshalb sie in dieser kulturellen Tradition nicht präsent, wenn nicht sogar explizit von der herrschenden Freundschaftskonzeption ausgeschlossen waren (oder nur als Liebesobjekt männlichen Begehrens fungieren konnten). Daneben wirkte ebenfalls der Begriff der ›caritas‹ (Nächstenliebe, Freundschaft zum Nachbarn) als wichtiges Konzept der christlichen Lehre, die besonders von Augustinus in De Fide, Spe et Caritate (Über Glaube, Hoffnung und Liebe, nach 420 verfasst) eingeführt worden war. Im 17. Jahrhundert wurde in England unter religiösen Dissidenten wie den Quäkern das religiöse Freundschaftskonzept auf alle Mitglieder einer Gemeinde, auch auf die Frauen ausgeweitet. Die religiös Gleichgesinnten oder zur Gemeinde Gehörigen nannten sich gegenseitig ›friends‹ – Zeichen einer langsam sich entwickelnden Aufwertung und Emotionalisierung (auch Erotisierung) zwischenmenschlicher Beziehungen. Ähnliches artikulierten die (von den Orthodoxen abfällig benannten) Pietisten in Deutschland, die sich in ihrer Gemeinde als ›Freunde‹ anredeten und verstanden und den »Umschlag von der Gottesliebe auf die Freundesliebe« mit vorbereiteten, wenn etwa die Pietisten die »Innerlichkeit gegen die Welt« setzten und eine »innerweltliche empfindsame Freundschaft« zu leben versuchten.6 Bei Shaftesbury ist Freundschaft »sublime Heroick Passion«, der Mensch wird als soziales Wesen gesehen, der zum Wohlergehen des Ganzen mit »an enlarged Affection and Sense of Obligation« beitra4

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Eckhardt Meyer-Krentler: Freundschaft im 18. Jahrhundert. Zur Einführung in die Forschungsdiskussion. In: Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Hg. v. Wolfram Mauser u. Barbara Becker-Cantarino. Tübingen 1991, S. 1–22. Vgl. hierzu Barbara Becker-Cantarino: Friendship. In: Encyclopedia of the Enlightenment. Bd. 2. Oxford 2002, S. 130–138. Vgl. Wolfdietrich Rasch: Der Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock. Halle 1936 (DVJs Buchreihe 21), S. 53 und 61. In der deutschen geistesgeschichtlichen Forschung (von Dilthey bis Rasch und Erich Trunz) kam es zu einem spezifisch deutschen Freundschaftsverständnis, das zu einem Ethos von erlebnishafter Innerlichkeit auratisiert wurde, wie schon Eckhardt Meyer-Krentler (Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München 1984, S. 19–20) festgestellt hat.

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Barbara Becker-Cantarino

gen muss; ein Freund ist auch immer »Man’s Friend«, der auch »Friend of Mankind« sein soll (Sensus communis. An Essay on the Freedom and Wit of Humor, 1709).7 Schon Thomasius’ Sittenlehre (1692–96) hatte unter Berufung auf Aristoteles Freundschaft als Gesinnung und als Handlung, die Plicht zu sozialem Verhalten gegenüber anderen (gemeint waren hier die Männer in der Politeia) in den Mittelpunkt seiner Ethiklehre gestellt. Bei Christian Wolff wurde der Begriff ›Freundschaft‹ zur allgemeinen Menschenliebe erweitert (dabei wie bei Shaftesbury der religiöse oder metaphysische Bezug zurückgedrängt): »Also ist ein Freund eine Person, die bereit ist aus unsrer Glückseligkeit Vergnügen zu schöpfen« (Vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen, 1721).8 In den Diskursen über Freundschaft kam auch in der am Ende des 17. Jahrhunderts beginnenden naturrechtlichen Diskussion der Begriff ›Geselligkeit‹ hinzu, wenn etwa bei Thomasius eine Verschiebung des Interesses von der Staats-Klugheit zur Privat-Klugheit als »Kultur der Geselligkeit« stattfindet und bei Christian Wolff auch Institutionen bis hin zu Ehe, Haus und väterlicher Herrschaft mit anvisiert wurden.9 So lautet der Kernsatz unter dem Lemma »Geselligkeit« in Zedlers Universal-Lexicon: »Geselligkeit ist eine Pflicht mit andern Menschen eine friedliche und dienstfertige Gesellschafft zu unterhalten, damit alle durch alle ihre Glückseligkeit erlangen mögen«,10 dem dann ein ausgeklügeltes Gedankengebäude über vernünftige Sozialität, individuelle Soziabilität, Individualethik und Konstrukte idealer geselliger Verhältnisse folgt; Freundschaft ist »vernünftige Liebe«, wenn es im Zedler heißt: »Eine innigliche vernünfftige Zuneigung gegen eine Person, ihre Glückseligkeit zu befördern, heisset die Liebe: Derowegen sind, Vermöge der Geselligkeit alle Menschen einander zu lieben schuldig, als sich selbst.«11 Hier wurde zunächst von Menschen – ohne weitere Unterscheidung von Stand oder Geschlecht – gesprochen, was – jedenfalls theoretisch – das innovative Potential enthielt, dass alle Menschen frei waren, neue, über Geschlechter- und Familiengrenzen hinausgehende Assoziationen einzugehen und als ›gesellige Wesen‹ moralisch dazu sogar verpflichtet waren. Damit fühlten sich auch die Frauen in der geselligen Kultur des englischen Landadels schon im 17. Jahrhundert aufgefordert und berechtigt, über die Familie (kaum aber über ihren Stand) hinausgehende Freundschaften zu schließen, Netzwerke von Gleichgesinnten zu knüpfen und in Freundschafts7

8 9 10 11

Christa Seidel: Freundschaft. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Bd. 2. Basel 1972, Sp. 1108–1114, hier Sp. 1110. Ebd., Sp. 1111. Vgl. Wolfram Mauser: Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750. In: Aufklärung, 4 (1989), S. 11–13. Artikel »Geselligkeit«. In: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon Aller Wissenschaften und Künste. Bd. 10. Halle, Leipzig 1735, Sp. 1260. Ebd.

Freundschaft und Briefroman in England

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diskursen zumeist in Briefform sich zu verständigen, zu belehren und zu publizieren. Dazu diente der Brief als private oder öffentliche Mitteilung, die in essayistischer oder fiktionaler Form als ›letter‹ (gegen die Widerstände der Tradition) auch als Publikationsform entwickelt wurde. Die Kommunikation lief über Briefe und wurde durch rapide sich entwickelnden Postverkehr ermöglicht, erweitert und intensiviert.

2. Gesellige Briefkultur der Frauen in England Waren Briefe in Frankreich eine Art von Fortführung der von Frauen wesentlich mitgestalteten Salon-Geselligkeit,12 so lässt sich von England sagen, dass Briefe bereits seit dem 17. Jahrhundert die Vor-Schule der Romane schreibenden Frauen gewesen sind, wie schon Virginia Woolf festgestellt hat: »Wäre Dorothy Osborne 1827 geboren, dann hätte sie Romane geschrieben; wäre sie 1527 geboren, hätte sie überhaupt nichts geschrieben. Aber sie wurde 1627 geboren, und obwohl es zu der Zeit lächerlich für eine Frau war, ein Buch zu schreiben, so war es dennoch nicht unziemlich, Briefe zu schreiben.«13 Dorothy Osborne steht für die mediale Evolution des zunächst nicht gedruckten, handschriftlichen Kommunikationsmediums Brief im 17. Jahrhundert in England. Osborne (Lady Temple, 1627–1695) widersetzte sich den Heiratsplänen ihres Vaters, unterhielt sieben Jahre lang eine heimliche Beziehung in Briefen mit dem in Irland und auf dem Kontinent herumreisenden, zeitweilig in London sich aufhaltenden Sir William Temple (und heiratete ihn, nachdem beider Väter gestorben waren); ihre für das 17. Jahrhundert ungewöhnliche, ›romanhafte‹ Beziehung ist in 77 (erhaltenen) Briefen an Temple enthalten, die erst 1888 erstmals als Letters from Dorothy Osborne to William Temple 1652–54 (von Sir Edward Parry als Appendix zu seiner Biografie von Lord Temple) veröffentlicht wurden.14 Osbornes geistreiche, mitteilsame Briefe gehören zur literarischen Kultur englischer, landadeliger Frauen, die vergleichsweise – mit der Situation in Deutschland – selbstbewusst als Leserinnen und Briefschreiberinnen sich betätigten. Ihre zumeist gehobene, wohlhabende, auch Freizeit und Muße erlau12 13 14

Elizabeth C. Goldsmith: Exclusive Conversations: The Art of Interaction in SeventeenthCentury France. Philadelphia 1988. Virginia Woolf: Dorothy Osborne’s »Letters« [1928]. In: V. W.: The Second Common Reader. Hg. v. Andrew McNeillie. Bd. 2. London 2003, S. 59. Für Osborne war es unschicklich, sich öffentlich als Schriftstellerin zu betätigen (sie widmete sich nach ihrer Verheiratung der politischen Diplomatenkarriere ihres Mannes). Neben mehreren Neuausgaben ist eine erweiterte Edition von Edward Abbott Parry (London 1914) im Netz zugänglich. Vgl. URL: http://digital.library.upenn.edu/women/osborne/ letters/letters.html [Stand: 17.12.2009] und URL: http://www.gutenberg.org/etext/12544 [Stand: 17.12.2009].

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bende gesellschaftliche Position, das bedingt egalitäre Modell der englischen Aufklärung von intellektueller Gleichheit der Geschlechter, die aktive Teilnahme von Frauen in Predigt und mit prophetischen Schriften in den religiösen Auseinandersetzungen (England hatte im 17. Jahrhundert mehr als zwölf um Mitglieder werbende und sich gegenseitig bekämpfende Sekten) förderten das literarisch-intellektuelle Interesse von Frauen. Sie bevorzugten die offene Form essayistischer Briefe, um die nicht-gelehrte Leserschaft zu erreichen. So publizierte die als exzentrisch geltende Margaret Cavendish Duchess of Newcastle (1623–1673) ihre naturphilosophischen Studien (u. a.) in Philosophical Letters (1664). Die nicht aristokratische, theologisch und politisch interessierte Schriftstellerin Mary Astell (1666–1731) brachte u. a. eine Briefsammlung Letters Concerning the Love of God (1695) heraus und entwarf Pläne für eine Art unabhängige, religiös geprägte Frauen-Akademie in A Serious Proposal to the Ladies (1697).15 Sie versammelte in Chelsea (London) einen Kreis wohlhabender, adliger, besonders auch lediger oder verwitweter Damen um sich, die »praxisbezogenes bildungs- und sozialreformerisches Engagement« im Sinne der religiös-moralischen Aufklärung vertraten und zu leben versuchten.16 Bathsua Makin (1600–1675), die eine Zeit lang als Erzieherin der Stuarts tätig war, berief sich auf eine lange breite Tradition gebildeter Frauen in ihrer Schrift und forderte Teilhabe an der Welt des Wissens auch für Frauen in An Essay to Revive the Ancient Education of Gentlewomen (1673).17 Vom Landadel und vom bürgerlich-puritanischem Dissent wurden Boarding Schools für Mädchen eingerichtet und die Gegenwart einer Frau auf dem englischen Thron, Queen Anne I. (1702–1714), unterstützte und legitimierte den durchaus umkämpften sozialen Status und die vielfach auch abgestrittenen geistigen Fähigkeiten von Frauen aus dem Landadel und reichen Bürgertum. So konnten einige Frauen schon seit etwa 1650 mit Abhandlungen, eine größere Gruppe dann Anfang des 18. Jahrhunderts mit Dramen und Romanen – zum Teil von anderen Literaten bekämpft und als ›hacks‹ verschrien – öffentlich tätig werden. Die bevorzugte Kommunikationsform waren öffentliche Briefe, die oft mit der Anrede oder dem Untertitel A Letter to a Friend versehen waren. Gesellige, literarische Zirkel von Oberschicht-Frauen (oder mit diesen Frauen) bildeten sich, deren Mitglieder Briefaustausch pflegten und gesellige Treffen veranstalteten; als Modell galt die der Pastoral-Mode verpflichtete Society of Friendship, die Katherine Philips (1631–1664) um sich als »Orinda« in Cardigan, Wales, versammelt hatte und die ihre Freundinnen in ihrer emotio15

16 17

William Kolbrenner: Astell’s »Design of Friendship« in Letters and A Serious Proposal. In: Mary Astell. Reason, Gender, Faith. Hg. v. William Kolbrenner u. Michal Michelsen. Cambridge 1998, S. 49–64. Vgl. zum Folgenden Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung. Bd. 1. Stuttgart 1997, S. 215–226, hier S. 216. Vgl. URL: http://www.pinn.net/~sunshine/book-sum/makin1.html [Stand: 17.12.2009]; vgl. Frances Teague: Bathsua Makin. Woman of Learning. Lewisburg 1998.

Freundschaft und Briefroman in England

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nalen und homosozialen Freundschafts-Lyrik feierte.18 Nach ihrem frühen Tod in London widmete ihr der Kleriker und Autor konfessioneller Traktate Jeremy Taylor (ausgebildet in Cambridge, Kaplan bei Charles I, der sich nach Wales zurückzog, nach der Restoration [1660] Bischof und Vizekanzler der Universität Dublin in Irland wurde) seinen Freundschaftstraktat Discourse on the Nature, Offices and Measures of Friendship (1657); Taylor sah Freundschaft als gelebte, gesellige Beziehung, die er für ebenso moralisch wie die Ehe hielt und die, anders als bei Montaigne, auch Frauen mit einschloss. Die englische Freundschaftsdiskussion war (anders als die deutsche Verinnerlichung und Emotionalisierung des Freundschaftsethos) eher praktisch-politisch mit religiösen Toleranzgedanken verbunden. Die junge Religionsgemeinschaft der Society of Friends (Quakers) missionierte und gründete unter William Penn, dem Admiralssohn, der zur Abfindung des väterlichen Erbes von der englischen Krone Kolonialterritorium in Nordamerika erhalten hatte, die city of brotherly love: Philadelphia ab 1683. Auch hier wurden gebildete, wohlhabende Frauen angeworben, gefördert und zu (kleinen) Ämtern und Aufgaben herangezogen. – Weitere literarische Netzwerke formierten sich um die Autorin populärer, an Frauen adressierte Romane (A Patchwork Screen for the Ladies, 1723) und politischer Gedichte Jane Barker (1652–1732), die ihre ›Cambridge Friends‹ in der Gedichtsammlung Poetical Recreations (1688) versammelte; dann um Frances (geb. Thynne) Seymour, Duchess of Somerset (1699–1754), die mit religiös orientierten Autorinnen wie Elizabeth Singer Rowe (1674–1737), der Autorin von u. a. Friendship in Death, in Twenty Letters From the Dead to the Living (1728) und Letters Moral and Entertaining (1729–1732), befreundet war sowie mit Anne Finch Countess of Winchelsea (1661–1720; Miscellany Poems, on Several Occasions, Written by a Lady, 1713), der Methodistin Selina Hastings Countess of Huntingdon (1707–1791) korrespondierte und verkehrte. – Literarische Zirkel um und mit Frauen wurden in England auch im 18. Jahrhundert vielfach von einer landadeligen Aristokratin, die auch als Mäzenatin tätig war und Frauen wie auch Männer förderte, begründet wie die sich in den 1750er Jahren bildende, literarische Gesellschaft der Bluestockings um Elizabeth Montagu (1718–1800).

18

Philips war die Tochter eines Londoner Kaufmanns, besuchte Mrs. Hackney’s School in London und lernte mehrere Sprachen, wurde als 16-Jährige an einen Verwandten ihres Stiefvaters in Wales verheiratet, der 38 Jahre älter als sie selbst war, als MP in die Bürgerkriegswirren verwickelt war und letztendlich doch davon profitierte.

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3. Printkultur und Briefromane von Frauen in England Diese gesellige Freundschaftskultur von (gebildeten, aus dem Landadel und wohlhabenden Bürgertum stammenden) Frauen partizipierte in und wurde wesentlich durch die Ausdifferenzierung der Kommunikationsmedien der Briefund Printkultur gefördert.19 Mit den politischen Auseinandersetzungen des Civil War, der Restoration (1660) und der Glorious Revolution (1688) kamen in der kolonialen Epoche soziale, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen in Gang, die als Kommunikationsrevolution20 in der Frühen Neuzeit bezeichnet werden können und zur Ausdifferenzierung dieser Brief- und Printkultur beitrugen. Der über die Kolonien erwirtschaftete Reichtum, die Ausdehnung des Übersee- und Kontinentalhandels und der Beginn der industriellen Revolution in England schon ab dem späten 17. Jahrhunderts mit der Fabrikation von lebenswichtigen wie auch luxuriösen Konsumgütern erhöhten den Lebensstandard und schafften Freizeit für und Verlangen nach Information, nach Unterhaltung und Abwechselung vom Alltag, was Geselligkeiten, Briefe und die Produkte der Printmedien liefern konnten. Für diese Bedürfnisse wurde ein öffentliches, regelmäßiges Postsystem entwickelt.21 Mit der englischen Postreform von 1635 wurde die Royal Mail allen Bürgern zugänglich gemacht (Porto musste zunächst der Empfänger bezahlen), 1660 die Penny Post mit der Briefmarke eingeführt (ein Brief von einer Seite kostete zunächst 1 p, um 1750 dann 3 p), das Inlandspostwesen mit den Zentren, Edinburgh und Dublin auf die Kolonien in Nordamerika ausgeweitet (monatlicher Postverkehr zwischen New York und Boston ab 1672, wöchentlich zwischen Pennsylvania und Maryland ab 1683). Die erste sogenannte flying coach (leichte schnelle Kutsche) verkehrte 1667 dreimal wöchentlich zwischen London und Bath. Dazu kamen eine Verbesserung der Infrastruktur, der Reisewege und der Inns (die deutsche Englandreisende noch in den 1740er Jahren neidvoll bewunderten). Zu diesen die Verständigung und gesellige Freundschaft durch Briefe fördernden medialen Innovationen kamen Neuerungen in den Printmedien: die Entwicklung der Zeitung (die 1 p kosteten und Romanhaftes in Serie druckten), ab etwa 1700 die Moralischen Wochenschriften mit literarisch-fiktionalem Inhalt sowie der aus kurzen, oft sensationellen Histörchen (novel), populären (französischen) Romanzen und familiären, sentimentalen wie fiktionalen Briefen sich entwickelnde Briefroman. Es war eine offene, experimentierfähige 19 20

21

Ruth Perry: Women, Letters and the Novel. New York 1980, S. 63–92 (»The Social Context of the Novels«). Wolfgang Behringer (Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003) spricht deshalb von einer Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, die aus mehreren Medienrevolutionen besteht und die These Braudels von der ›longue durée‹ des alten Europa, der Epochenschwelle (›Sattelzeit‹) um 1800, modifiziert (vgl. ebd., S. 643–688). Vgl. hierzu Howard Robinson: The British Post Office: A History. Westport, CT 1948.

Freundschaft und Briefroman in England

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Form von Fiktion, die oft mit Authentizität spielte, Emotionen entwickeln und hervorrufen konnte und mit den lebensweltlichen Bezügen ein nicht-gelehrtes, vornehmlich weibliches Lesepublikum ansprach. So beschrieb der Spectator 1711 eine Familie des Landadels, in der Vater und Sohn den Landsitz pflegen, während »the Daughters read Volumes of Love-Letters and Romances to their Mother. … the Boys think their Mother no better than she should be«.22 Der Spectator schätzte 1711 seine (eigene) Gesamtleserschaft auf etwa 60.000, einschließlich die weitergereichten, verliehenen, auch an Familienmitglieder oder Dienstboten verschenkten Exemplare (in London und den Städten war die Lesefähigkeit auch der weniger vermögenden Schichten vergleichsweise hoch).23 Die Subskriptionsliste für Eliza Haywoods Briefroman Letter From a Lady of Quality to a Chevalier (1721) enthielt unter 309 Subskribenten 123 Frauen aus der wohlhabenden Bürgerschicht, darunter nur einige Aristokratinnen. Hier zeichnete sich die Ausweitung der Lesefähigkeit auf weitere Schichten ab, darunter eine beachtliche Anzahl von Frauen, die dann auch als Autorinnen besonders die Form des Briefromans wählten. Mit dem frühen 18. Jahrhundert war aus dem elitären, von Gelehrten beherrschten Buchmarkt ein riesiges konkurrenzreiches Geschäft geworden, die literarische Produktion war explodiert durch die auf Bestellung schreibenden ›hacks‹ – ›scribblers‹, wie sie der (gelehrte und erfolgreiche) Pope in seiner Satire Dunciad (1728) als ›Grub Street Race‹ karikiert hat. Darunter wurden besonders die auf Verdienst angewiesenen Autorinnen verurteilt, wie Eliza Haywood (1693–1756), die zwischen 1724 und 1727 allein 18 Briefromane (allerdings kleine Bändchen) publizierte.24 ›Tender Passion‹ war ihr selbst gewähltes, ihrer Kompetenz als Frau entsprechendes Thema, was sie in einer durchaus ironischen, selbstreflexiven Vorrede zu The Fatal Secret or Constancy in Distress 1725 so begründete: But as I am a Woman, and consequently depriv’d of those Advantages of Education which the other Sex enjoy, I can not so far flatter my Desires, as to imagine it in my Power to soar to any Subject higher than that which Nature is not negligent to teach us. – Love is a Topic which I believe few are ignorant of; there requires no Aids of Learning […] – None can tax

22 23 24

Zitiert nach Robert Adams Day: Told in Letters. Epistolary Fiction Before Richardson. Ann Arbor 1966, S. 75. Ebd., S. 70. Die neben Aphra Behn und Delariviere Manly jetzt auch näher erforschte Haywood verfasste über 70 Werke (Dramen, Romane, Lyrik, Übersetzungen, Verhaltensschriften und The Female Spectator, 1744–46) erhielt etwa 3–5 Guineas pro Band (soviel kostete 1 Pfund Kaffee, ein einfacher Frauen-Unterrock, der Tageslohn eines Tischlergesellen in London um 1750) als einmalige Bezahlung. Pope verspottet sie in seiner Dunciad als käufliche Frau und Autorin, als »vacuous« und bezichtigte sie des Plagiats.

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Barbara Becker-Cantarino me with having too great an Opinion of my own Genius […] I have nothing to value my25 self on, but a tolerable share of Discernment.

Haywood benutzt den Bescheidenheitstopos der Frau als Autorin, um ihre ›amatory fiction‹ zu verteidigen, in denen sie die Dialogizität von Liebesbriefen zur Emotionalisierung des Lesers wie der Leserin anwendet. Haywood vergleicht ihre Feder mit der Macht von Cupidos Pfeil: The Pen can furrow a fond Female’s Heart, And Pierce it more than Cupid’s Dart: Letters, a kind of Magick Virtue have, 26 And, like strong Philters, human Souls enslave!

In ihren Briefromanen setzte sie Briefe strategisch als heimliche, intime Kommunikation ein, um eine Art von Dreiecksbeziehung zu schaffen, bei der der Leser als Voyeur in die erotisierte, gegenseitige Attraktion mit hineingezogen wird. Freundschaft zielt hier auch immer darauf, die inneren und äußeren Widerstände gegen die Leidenschaft zu beseitigen, geht über in eine übermächtige Liebesleidenschaft, deren Verhinderung, Verzögerung, Beherrschung oder moralisch-physische Vernichtung den Plot ausmachen. Haywood parodierte Richardson, den Konkurrenten auf dem Buchmarkt, mit Anti-Pamela, or Feign’d Innocence Detected (1741), einer Satire auf die Verkäuflichkeit der Virginität für einen Platz in der Gesellschaft. Über 100 Briefromane sind in England schon zwischen 1665 und 1740 – also vor Richardsons Pamela – erschienen; von diesen Briefromanen waren 72 von einem männlichen Autor verfasst, 54 von Frauen (darunter allein 29 von Haywood).27 Bereits diese Zahlen zeigen die Bedeutung des Briefromans als Variante (nicht Sub-Genre, was eine hierarchische Wertung impliziert) des Romans. Richardson konnte die Popularität der Gattung nutzen, denn er hatte im Kommunikationssystem der Zeit große Vorteile gegenüber anderen Autorinnen und Autoren: er war als erfolgreicher Buchhändler finanziell abgesichert, kannte den Buchmarkt bestens und konnte so seine Position selbst darstellen und ausbauen.28 Er hatte den wirtschaftlichen Vorteil, dass die Einnahmen aus allen Auflagen ihm allein zuflossen; Autoren wurden jeweils mit einem Honorar pro Band bezahlt, erhielten keine Tantiemen von weiteren Auflagen oder Nachdrucken. Richardson war zunächst Buchdrucker und Verleger, der dann sein 25

26 27 28

Eliza Haywood: Secret Histories, Novels, and Poems. Bd. 3. London 1725, S. [203]; im Netz zugänglich unter URL: http://digital.lib.upenn.edu/women/haywood/fatal/fatal.html [Stand: 17.12.2009]. Essay vor der zweiten Ausgabe von Letters from a Lady of Quality to a Chevalier von 1724, zitiert nach Day: Told in Letters, S. 103. Chronologische Liste bei Day: Told in Letters, S. 237–258; und bei Thomas O. Beebee: Epistolary Fiction in Europe, 1500–1850. Cambridge [u. a.] 1999, S. 231–258. Zu Richardsons Rolle in der Printkultur als Erfolgsautor und Verleger vgl. Carol Flynn: Samuel Richardson. Man of Letters. Princeton 1982, S. 235–245; Austin Dobson: Samuel Richardson. Honolulu 2003, S. 170–187; Day: Told in Letters, S. 205–211.

Freundschaft und Briefroman in England

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eigenes Werk vermarkten konnte. So konnte er auch den Versand, Verkauf und die Übersetzung seiner Bücher selbst arrangieren und kontrollieren. (1741 kam Johann David Michaelis, der später einflussreiche Orientalist an der Universität Göttingen, auf seiner Bildungsreise nach England und veröffentlichte die erste deutsche Übersetzung von Pamela – eine bezahlte Auftragsarbeit – bereits 1741; Michaelis Übersetzung Die Geschichte der Clarissa, eines vornehmen Frauenzimmers erschien 1749–53 in 8 Bändchen).29 Und als eifriger Korrespondent, der als Auftragsarbeit einen Briefsteller für junge Damen mit Familiar Letters (1741) publizierte, hatte Richardson ein Netzwerk von literarischen und gesellschaftlichen Beziehungen aufgebaut sowie einen großen Vorrat von Briefen gesammelt, die er geschickt verwertete, um so die lebensweltliche Seite des Briefromans, als ›conduct novel‹ (Erziehungsroman) für Geschlechterbeziehungen und Moralvorstellungen ausbauen zu können, in denen die Komplikationen erotischer Beziehungen besonders zwischen den Geschlechtern wie auch der Standesunterschiede das Handlungsgerüst bilden. Mit Richardsons Romanen verlagerte sich jedoch die Perspektive des Briefromans vom eher egalitären Freundschaftsmodell der Geschlechterbeziehungen zum Herrschafts- und Gewaltdiskurs, zur Thematisierung von Liebe, Verführung, Sexualität und Tod der Protagonistin wie bei Rousseaus ebenso wirkungsvollem Roman La Nouvelle Héloïse.30

4. Freundschaft in Briefromanen von Autorinnen als Kommunikation und Subversion Unter den mehr als 100 weiteren Briefromanen, die nach Richardson noch im 18. Jahrhundert allein in England erschienen sind, haben Autorinnen wie Frances Burney (Evelina, 1778), Charlotte Lennox (Euphemia, 1790) und Jane Austin (Pride and Prejudice, 1813) homosoziale Freundschaften und erotische wie egalitäre Geschlechterbeziehungen ausgeleuchtet und damit dem Konzept von 29

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Michaelis kam von theologischen Studien aus Halle, um seine orientalischen Forschungen in Oxford, wo er die Orientalisten Robert Lowth und Benjamin Kennicot kennenlernte, und in London zu vertiefen, wo er als Hilfsprediger des deutschen Hofkaplans Friedrich Michael Ziegenhagen tätig war; seine Berufung auf die (zunächst undotierte) Stellung an der neu gegründeten Universität Göttingen wurde 1745 durch den (pietistischen) Baron von Münchhausen bewirkt, dessen Protektion Michaelis (Vater u. a. von Caroline SchlegelSchelling) bis zu dessen Tod 1771 genoss. 1747 richtete Michaelis eine Bittschrift an den preußischen König um »Anlegung einer Universität für das schöne Geschlecht« (Ida Hakemeier: Bemühungen um Frauenbildung in Göttingen 1747. Göttingen 1949; Thomas O. Beebee: Clarissa on the Continent. Translation and Seduction. London 1990, S. 18–24). Christine Lehmann: Das Modell Clarissa. Liebe, Verführung, Sexualität und Tod der Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991; Rita Goldberg: Sexuality and Enlightenment. Women in Richardson and Diderot. Cambridge, New York 1984.

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Barbara Becker-Cantarino

›domesticity‹ oder ›domestic space‹ (Häuslichkeit, eine lebensweltliche Sphäre als komplementären Raum zu der ihnen verschlossenen Tätigkeit in der politischen Öffentlichkeit) fiktional gestaltet.31 (Der deutsche Begriff ›Häuslichkeit‹ trägt noch immer das Stigma der beschränkten, nicht-intellektuellen und nicht ästhetischen Sphäre, was auch zur Abwertung von dem erfolgreichen Briefroman La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim, 1771, geführt hat.)32 Ein wichtiger Aspekt von ›domesticity‹ war aber der Raum für das fiktionale Spiel mit der offenen Konzeption von geselliger Freundschaft in diesem ›domestic space‹, die ›sensibilité‹33 und ›common sense‹ verlangt, aber sich nicht einfach in Sentimentalität oder Emotionen (Erotisierung, Liebe) erschöpft, war die Gestaltung von selbst denkenden und fühlenden Frauenfiguren, die nicht wie Julie oder Lotte bloße Wunschprojektionen des Autors blieben und selbst gar nicht zu Wort kamen. Mit dem Freundschaftskult und der ›Leserevolution‹ (der Literarisierung besonders von Frauen aus dem Bürgertum, auch der Männer aus vormals bildungsfernen Mittelschicht- und kleinstädtischen Familien) kam die Verlagerung in der Buchproduktion von der gelehrten und religiösen zur Schönen Literatur, eine Art von Feminisierung der Literatur, bei der die von oder für Frauen verfassten Romane – zumeist Briefromane – eine wichtige Rolle spielten. Dieser Prozess der Interaktion vom Entstehen neuer Leserschichten und Entwicklung des Romans zur populärsten literarischen Gattung, der in England etwa hundert Jahre früher als in Deutschland begann, wird in der Fokussierung auf die Briefromane von Autorinnen in England deutlich. Besonders in der deutschen Literaturgeschichte gab es jedoch eine Dialektik der Ausschließung. Die von Philologen und national gesinnten Professoren dominierten Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts schlossen die im 18. Jahrhundert erfolgreichen, ›weiblich‹ kodierten Texte der Briefkultur (darunter die Gattung des Briefromans) weitgehend als nicht ästhetisch aus, werteten sie als zu emotionale, unreflektierte und ›triviale‹ (so besonders die deutsche Diskussion)34 Produkte der moralischen Empfindsamkeit ab. Dagegen liest die neuere, kommunikationshistorisch orientierte Forschung die Produktion der Briefromane als Relativierung von literarischen Normen und als Weigerung, sich tradierten narrativen und rhetorischen

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32 33 34

So schon die These von Ruth Perry (Women, Letters, and the Novel), die jetzt mehrfach differenziert worden ist, u. a. von April Alliston: Virtue’s Faults. Correspondences in Eighteenth-Century English and French Fiction. Stanford 1996. Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern. Sophie von La Roche als professionelle Schriftstellerin. Heidelberg 2008, S. 87–107. Vgl. Frank Baasner: Der Begriff ›sensibilité‹ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals. Heidelberg 1988, S. 45–54. Schon Marion Beaujean (Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bonn 1964, S. 35–40) hatte Schwierigkeiten damit, universale Kriterien (wie das Alltägliche des Inhalts, die wenig gebildete Leserschaft, der Unterhaltungscharakter) für die Wertung des Briefromans (Richardson, La Roche) als ›trivial‹ aufzustellen.

Freundschaft und Briefroman in England

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Mustern zu beugen, als deviante oder innovative Form von Literatur. Sozialgeschichte und gendersensitive Anthropologie haben das narrative, kommunikative und psychologische Potential betont, das diese Briefromane entwickelt haben. Dieses Potential geht in die Richtung von Domestizierung und Subversion von Geschlechterbeziehungen und der Entwicklung von Imaginationsprozessen vom Ich und dem »Ganzen des Lebens«.35

35

Robert Vellusig: Verschriftlichung des Erzählens. Medienprobleme des Romans im 17. und 18. Jahrhundert. In: IASL 30 (2005), H. 1, S. 55–97, hier S. 97.

Birgit Wagner

Strategien der Wissensselektion in den Lettres persanes Montesquieu liest Jean Chardin und Jean-Paul Marana

Montesquieus berühmteste literarische Schrift ist ein Text, in dem Wissensbestände unterschiedlichster Provenienz verarbeitet werden, darunter solche, die den in der Aufklärung etablierten Wissenschaftszweigen entstammen, aber auch Reiseberichte und Meinungswissen. In mancher Hinsicht sind die Lettres persanes als enzyklopädischer Roman1 zu bezeichnen, der nicht nur literarisch vieles vorwegnimmt, was der Autor später in De l’esprit des lois ausgearbeitet hat, sondern der die Wissensbestände literarisch modelliert. In die Fiktion eines polyphonen Briefromans eingebaut, werden sie durch die Pluralisierung der Äußerungsinstanz in bestimmte Perspektiven gerückt und durch die Handlungslogik und sprachliche Stilmittel in Frage gestellt, ironisiert oder affirmativ bekräftigt. Der literarisch vermittelte Eindruck der Unmittelbarkeit der brieflichen Mitteilung hat an diesem Prozess entscheidenden Anteil. So besitzen etwa Usbeks Briefe, die sich an gelehrte Freunde richten, eine andere Form der Wissenslegitimation als jene, die er an seine Frauen und Eunuchen schreibt. Doch auch in letztere sind vielfache Wissensbestände integriert, die sich jedoch nicht als solche deklarieren und für den Leser zu erkennen geben. Umso interessanter erscheint es, der für sie spezifischen Form der narrativen Integration und ihrem Anteil an der Bedeutungsbildung des Romans nachzugehen. Der Brief als Distanz überwindendes Medium bedarf der Anlässe; die Reise bietet den Anlass schlechthin, sie stellt Distanz her und generiert das Erzählen, in der Fiktion wie in der historischen Realität. Ich beginne daher mit einer kleinen Vedute, die den Autor selbst auf Reisen zeigt.

1

Der erste, der von der »encyclopaedic form« bestimmter narrativer Texte gesprochen hat, war Northrop Frye: Anatomy of Criticism. Four Essays. Princeton 1954, bes. S. 55–61 und S. 311ff., wo er »the display of erudition«, der die enzyklopädische Form kennzeichnet, auch für den europäischen Roman der Neuzeit diskutiert.

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Birgit Wagner

1. Eine Reise von Wien nach Graz2 im Jahr 1728 Genau so wie die fiktiven Perser Usbek und Rica, war auch der Schöpfer dieser beiden literarischen Figuren ein großer Reisender. Er ist zwar nicht über die Grenzen Europas hinausgelangt, innerhalb des Kontinents aber hat er viele Länder besucht, darunter auch die Habsburger Monarchie. Im Juli und August des Jahres 1728 weilte Montesquieu in Graz. Er stand damals am Beginn einer mehrjährigen Reise, die ihn nach Italien, in die Schweiz, nach Deutschland und Holland und zuletzt nach England führen sollte. Von Wien kommend, reiste er in der Kutsche über den Semmering, wo auf der Passhöhe eine Säule die Grenze zwischen dem Erzherzogtum Österreich und dem Herzogtum Steiermark markierte, und fuhr über Bruck nach Graz weiter. Wenn man auch den Fragmenten seines Voyage en Autriche nicht viele Details über seinen Grazer Aufenthalt entnehmen kann, so wird zumindest die Tatsache deutlich, dass ihn das Murtal bezaubert hat: Depuis qu’on est entré en Styrie, on suit le Mürz, qui se jette dans le Mur (ou Mour) à Bruck (ou Brouk), et l’on suit ces rivières, marchant dans une vallée qui est entre deux chaînes de montagnes, qui continue jusques à Gratz. Je n’ai jamais vu un paysage si agréable, ni n’ai été, par un si beau chemin, dans un si beau pays. Ce chemin va d’un bout de la Styrie à l’autre (environ 36 lieues), et l’on va, depuis Vienne jusques à Gratz, à travers les 3 montagnes, comme sur la levée de la Loire.

Am 12. August 1728, nach einem Aufenthalt von etwa vier Wochen, verlässt der Reisende Graz in Richtung Venedig.

2. Was zuvor geschah: reale und fiktive Reisen Zum Zeitpunkt seines grand tour war Montesquieu bereits der Autor der Lettres persanes, die in erster Fassung, ohne Autorennennung, im Jahr 1721 erschienen waren. Abgesehen von längeren Aufenthalten in Paris waren Bordeaux und sein Stammschloss, das Chatêau de la Brède, noch die Lebensmittelpunkte des Autors. Bis zur Publikation seines Briefromans war ihm das Reisen also vor allem

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In Graz fand im September 2008 die Tagung zur Gattungspoetik des Briefromans statt, deren Ergebnisse nun in gedruckter Form vorliegen. Charles Louis de Secondat de Montesquieu: Œuvres complètes. Bd. I. Hg. v. Roger Caillois. Paris 1949 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 541. Übersetzung (hier und in der Folge von der Verf.): »Sobald man in die Steiermark gelangt ist, folgt man der Mürz, die in Bruck (oder Brouk) in die Mur (oder Mour) mündet, und dann folgt man diesen Flüssen in einem Tal zwischen zwei Bergketten bis Gratz. Nie habe ich eine angenehmere Landschaft gesehen noch war ich je auf einer schöneren Straße in einer schöneren Gegend. Diese Straße durchquert die Steiermark von einem Ende zum anderen (ungefähr 36 Meilen), und von Wien her kommend, führt der Weg, so wie bei den geologischen Ablagerungen entlang der Loire, durch Berge. «

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aus Reiseberichten und fiktiven Reiseerzählungen bekannt, die Reise als Denkfigur, wenn man so will. Das lebhafte Interesse für das Fremde, vor allem das außereuropäisch Fremde, teilte Montesquieu bekanntlich mit vielen seiner Zeitgenossen. Eine »nahezu maßlose [literarische] Produktion«, wie Paul Hazard schreibt,4 versorgte diese mit Nachrichten aus allen Erdteilen, in die die Neugier, die Lust am Wissen, die Profitsucht und die koloniale Politik die Europäer getrieben hatten; für die Jahre 1665 bis 1740 zählt Pierre Martino nicht weniger als 100 Berichte von Reisen allein in den Orient, wobei zu diesem Zeitpunkt unter ›Orient‹ überwiegend das osmanische Reich, Persien und Indien verstanden wurden.5 Unter den zahlreichen Quellen, die Montesquieu für seine Lettres persanes herangezogen hat, werde ich mich in diesem Aufsatz mit zweien beschäftigen, von denen man heute weiß, dass sie zentral am Entstehungsprozess seines Briefromans beteiligt waren:6 der ausführliche Bericht Jean Chardins über seine Reisen nach Persien sowie ein zu seiner Zeit viel gelesener Briefroman eines italienischen Autors namens Giovanni Paolo Marana. L’Espion du Grand Seigneur, so lautet der französische Titel, ist jener Roman, der die Figur des außereuropäischen Beobachters in die europäische Literatur, vor allem aber in die Gattung des Briefromans eingeführt hat. Chardins Reisebericht entnimmt Montesquieu ein Gutteil dessen, was er über die persische Geschichte, Politik und Gesellschaft weiß. Jean Chardin, nach den Worten eines rezenten Herausgebers »oft zitiert und weniger gelesen, als er es verdient«7, ist der Autor eines vielbändigen Werks, das 1711 das erste Mal in der Gesamtausgabe vorlag.8 Aus einer hugenottischen Pariser Juweliersfamilie stammend, bereiste er zweimal Persien und Indien, wobei er sich jahrelang als Juwelenhändler in Isfahan aufhielt und dort das Wohlwollen des jeweils herrschenden Schahs von Persien genoss. Chardin beendete sein Leben im englischen Exil, wo er bereits im Vorfeld der Widerrufung des Edikts von 4

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»[…] une production qui va jusqu’à la démesure, Narrations, Descriptions, Rapports, Recueils, Collections, Bibliothèques, Mélanges curieux«. Paul Hazard: La crise de la conscience européenne. 1680–1715. Paris 1961, S. 8. Vgl. Pierre Martino: L’Orient dans la littérature française au XVIIe et au XVIIIe siècle. Genf 1970 [zuerst 1906], S. 55f. Zur Bedeutung dieser beiden Quellen für Montesquieu vgl. Pierre Malandain: La Bibliothèque du philosophe. In: Montesquieu: Lettres persanes. Paris 1989, S. 339–357. Der zu Lebzeiten des Autors erstellte (und von Erben später ergänzte) Katalog der Bibliothek des Château de la Brède wurde von Louis Desgraves im 20. Jahrhundert ediert: Catalogue de la bibliothèque de Montesquieu. Genf, Lille 1954. »Toujours cité et moins lu qu’il ne le mérite«: Claude Gaudon: Introduction. In: Jean Chardin: Voyages en Perse. Textes choisis et présentés par Claude Gaudon. Paris 2007, S. 7. Voyages de M. le chevalier Chardin en Perse et autres lieux de l’Orient. Amsterdam 1711, 10 Bde. Montesquieu besaß, wie man dem Katalog seiner Bibliothek entnehmen kann, eine zweibändige Ausgabe aus dem Jahr 1687 und die zehnbändige aus dem Jahr 1711. Zu Chardin vgl. Dirk van der Cruysse: Chardin le Persan. Paris 1998, sowie die kommentierte englische Auswahlausgabe von Ronald W. Ferrier: A Journey to Persia. Jean Chardin’s Portrait of a Seventeenth-century Empire. London, New York 1996.

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Nantes im Jahr 1685 Zuflucht vor konfessioneller Verfolgung suchte und von König Karl II. geadelt wurde. Sein Reisebericht gehörte zu den beliebtesten seiner Zeit und ist, im Verein mit anderen Reiseberichten9 sowie der 1704–1717 erfolgten Publikation der Mille et une nuits in der Übersetzung/Anverwandlung eines anderen Orientreisenden, nämlich Antoine Galland, der Auslöser der französischen Persienmode um 1700.10 Auch der Genovese Giovanni Paolo Marana – Jean-Paul Marana für die französische Literaturgeschichte – musste aus politischen Gründen seine Heimatstadt verlassen und suchte im Frankreich Ludwigs XIV. Zuflucht, was erklärt, warum sein dort erschienener Briefroman nicht nur dem Sonnenkönig gewidmet ist, sondern diesem auch in vielfacher Weise huldigt. Unter dem halben Dutzend Texten, die von der Forschung als mögliche oder nachweisliche Vorbilder für das erzählerische Dispositiv der Lettres persanes genannt werden, nimmt Maranas Espion du Grand Seigneur, der in drei Bänden von 1684 bis 1686 erschienen ist, die wichtigste Rolle ein.11 L’Espion du Grand Seigneur entwickelt eine Herausgeber- und Übersetzerfiktion, die fast Punkt für Punkt jene der Lettres persanes vorwegnimmt, und führt, wie bereits erwähnt, die Figur des muslimischen Beobachters europäischer Verhältnisse ein. Es handelt sich bei dieser Schrift, die Marana auf Italienisch verfasste und die von einem unbekannten Übersetzer ins Französische übertragen wurde, um einen der großen Romanerfolge seiner Zeit, der nicht nur eine Subgattung des Briefromans begründete, sondern auch eine äußerst spannende Geschichte des Fortschreibens und der Übersetzungen besitzt. Die Ausgaben, die der Katalog von Montesquieus Bibliothek verzeichnet, sind eine sechsbändige, die 1717 und eine weitere sechsbändige, die 1727 (also nach der Erstpublikation der Lettres persanes) erschienen sind.12 Beide enthalten bereits viele Briefe, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von anderen Autoren hinzugefügt wurden. Großen Erfolg hatte die 1687 erschienene Übersetzung der ersten Ausgabe ins Englische, die von englischen Autoren fortgeschrieben und teilweise wieder ins Französische rückübersetzt wurde und zu der kein Geringerer als Daniel Defoe im Jahr 1718 eine Fortsetzung publiziert hat.13 Maranas ursprünglicher Briefroman und sein literarisches Schicksal sind also ein überzeugendes Argument für die These, dass

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Für Montesquieus Briefroman relevant ist vor allem auch Jean-Baptiste Taverniers Reisebericht Voyages en Turquie, en Perse et aux Indes (1667). Zur Persienmode vgl. Martino: L’Orient dans la littérature française, S. 176ff., sowie Charles Dédéyan: Montesquieu ou l’alibi persan. Paris 1988, Kap. »L’orientalisme avant les Lettres persanes«. Vgl. Malandain: La bibliothèque du philosophe, S. 351. Giovanni-Paolo Marana: L’espion turc dans les cours de princes chrétiens. Köln 1717 und Köln 1727. A Continuation of Letters Written by a Turkish Spy at Paris. London 1718.

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die Geschichte des Briefromans nicht innerhalb der Grenzen von vermeintlichen Nationalliteraturen geschrieben werden kann.14 Montesquieu verdankt den genannten Hypotexten – dem Reisebericht über Persien und dem ersten Briefroman, der die Figur eines fiktiven orientalischen Beobachters einführt – Unterschiedliches. In beiden Fällen jedoch begegnet er in ihnen Konfigurationen des Vergleichs, die den ›Orient‹ Frankreich beziehungsweise Europa gegenüberstellen; in seiner Aneignung der Hypotexte hat er jeweils Entscheidendes verändert. Eine vergleichende Lektüre der drei Texte erlaubt es, die Frage zu beantworten, welchen literarischen und argumentativen Nutzen Montesquieu aus dem ›Wissenkomplex Orient‹ gezogen und wie und mit welchen Folgen er sich dieses Wissen angeeignet und anverwandelt hat. Als ›Wissenskomplex Orient‹ bezeichne ich dabei Informationen geographischer, klimatischer, historischer, religionshistorischer und kultureller Art, die getrennt oder im Verbund, immer aber gleichsam automatisch, kulturvergleichende Reflexionen und Urteile aus sich hervor treiben. Dieser Wissenskomplex kann daher niemals auf wertneutrale Bestände reduziert werden (im Sinne des Bereitstellens einer wahren gerechtfertigten Überzeugung), denn er situiert sich im Zentrum der von Paul Hazard so benannten »crise de la conscience européenne« und produziert in seiner Aneignung unvermeidlich Bekräftigungen und Erschütterungen der bestehenden Doxa;15 diese Wissensinhalte haben Teil an einem jahrhundertealten Diskurs und produzieren auch Meinungen. Darüber hinaus verschwimmen in der zeitgenössischen Rezeption die Gattungsgrenzen zwischen dem Reisebericht, den Schriften der frühen Orientalisten und fiktionalen Aufbereitungen in der Literatur: Alle drei Textsorten speisen die Vorstellungen, die man sich in Frankreich vom ältesten Anderen Europas machen konnte. Im Falle der Lettres persanes lässt sich zeigen, dass der ›Wissenskomplex Orient‹ das, was unter der Bezeichnung ›Orient‹ verstanden wird, in den Dienst der europäischen Aufklärung stellt, eine Operation, die für die Semantik des Begriffs ›Orient‹ nicht folgenlos bleibt.

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Eine Auswahl an Aufsätzen über Marana: Alessandro S. Crisafulli: L’observateur oriental avant les »Lettres Persanes«. In: Les Lettres Romanes 8/2 (1954), S. 91–113; Joseph Tucker: The Turkish Spy and its French Background: In: Revue de Littérature comparée 32 (1958), S. 74–91; Robin Howells: The Secret Life: Marana’s Espion du Grand Seigneur (1684/1686). URL: http:/www.fs.oxfordjournals.org/cig/reprint/LIII/2/153.pdf [Stand: 30.7.2008]; Pascal Nicklas: Letters of the Self: Otherness and Epistolary Writing in Giovanni Paolo Marana’s Letters Writ by a Turkish Spy. In: Narrative Strategies in Early English Fiction. Hg. v. Wolfgang Görtschacher u. Holger Klein. New York, Salzburg 1995, S. 353–365. Im Sinn von Roland Barthes: Doxa als zweite sprachliche ›Natur‹. Roland Barthes: Le plaisir du texte. Paris: 1973, S. 47.

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3. Montesquieus Aneignung seiner Hypotexte, oder: der Orient im Dienst der europäischen Aufklärung Jean Chardin, der Handelsreisende mit multiplen Sprachkenntnissen, verfügt bei der Abfassung seines Reiseberichts über eine Fülle von Wissen über einen Raum, der von der Türkei über Persien bis Indien reicht. Wenngleich ihm die Gelehrtheit der großen Orientalisten seiner Zeit fehlt, entwickelt er einen Blick für die andere – namentlich die persische – Kultur, der ihn durchaus zu einem Vorläufer der Kulturanthropologie macht.16 Er interessiert sich für Klima, Geographie, Wirtschaft, Herrschaftsform, Verwaltung, Gesellschaft, Gesetzgebung, Architektur, Stadtplanung, Landwirtschaft, aber auch für alltagskulturelle Phänomene wie Ess- und Trinksitten, Feste, Spiele, Badesitten, Handwerkergebräuche und Höflichkeitsformen. Montesquieu hat bei ihm die Anregung zu seiner Klimatheorie17 und für die Konzeption des asiatischen Despotismus gefunden, und er hat seinem Reisebericht zahlreiche Details über die Organisation und Gebräuche des königlichen Harems sowie den Stand der Eunuchen entnommen. Wenn sein fiktiver Briefeschreiber Usbek zu Beginn seines ersten Briefes schreibt: »Rica et moi sommes peut-être les premiers parmi les Persans que l’envie de savoir ait fait sortir de leur pays et qui aient renoncé aux douceurs d’une vie tranquille pour aller chercher laborieusement la sagesse«,18 wenn er also die Singularität hervorhebt, die eine Bildungsreise für die Perser seiner Zeit darstellt, so antwortet er direkt auf Chardin, der an mehreren Stellen darauf hinweist, dass den Persern jede Neugier für andere Völker, Sitten und Wissensbestände abgehe. »Il n’y a que les Européens au monde qui voyagent par curiosité«,19 schreibt Chardin, um an anderer Stelle hinzuzufügen: »Pour ce qui est des voyages, ceux de simple curiosité sont encore plus inconcevables aux Persans que les simples promenades.«20 Den quecksilbrigen europäischen Geist und das persische Ideal der Ruhe erklärt Chardin mit der Klimatheorie, und Montesquieu wird es ihm nachtun. Ausführlich schildert Chardin den Regierungsstil des Schahs von Persien als Despotismus, der die Furcht vor allem unter den hohen Würdenträgern verbreite, während das gemeine Volk in relativ angenehmen und wohlgeordneten Verhältnissen lebe; ein Echo dieser Darstellung findet sich bei Montesquieu über die Lettres persanes hinaus noch bis in 16 17

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Vgl. Ferrier: A Journey to Persia, bes. S. 11. Chardin führt Argumente für die Klimatheorie an, die er aus seiner Reiseerfahrung gewinnt. Als Argument ist die Theorie jedoch bis zu Jean Bodin ins 16. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Vgl. van der Cruysse: Chardin le persan, bes. S. 26 und 58. Montesquieu: Œuvres complètes I, S. 133. Übersetzung: »Rica und ich sind vielleicht die ersten Perser, die die Lust am Wissen aus ihrem Land getrieben hat und die auf die Annehmlichkeiten eines ruhigen Lebens verzichtet haben, um die Weisheit mühsam suchen zu gehen.« Chardin: Voyages en Perse, S. 23. Übersetzung: »Es sind auf der ganzen Welt nur die Europäer, die aus Neugier auf die Reise gehen.« Ebd., S. 107. Übersetzung: »Was das Reisen betrifft, so ist eine Reise aus purer Neugier für die Perser noch weniger verständlich als das schlichte Spazierengehen.«

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De l’esprit des lois, wenn er über die Bedingungen nachdenkt, unter denen eine Despotie zumindest für eine Weile stabil sein kann.21 Chardins Schilderungen des königlichen Harems, und das heißt der ›Perversionen‹ generierenden Konkurrenz der Frauen untereinander und der Frauen mit den Eunuchen, sind direkt in die Persischen Briefe eingeflossen, wobei Montesquieu allerdings das, was Chardin für den Palastharem eines Herrschers und Despoten schildert, auf die private Sphäre eines wohlhabenden Bürgers (Usbek) überträgt. Eines aber hat Montesquieu nicht in seinen Roman übernommen, ja aufgrund seiner Handlungsstruktur und der »chaîne secrète«22 zwischen den romanhaften Ereignissen und der aufklärerischen Argumentationslinie nicht übernehmen können: jene Stellen, an denen Chardin davon berichtet, wie er durch die Erfahrung mit einer anderen Kultur seine Vorurteile über diese berichtigt hat. Chardin tut das unter anderem am Beispiel der Strafrechtspraktiken, die ihm zunächst ›barbarisch‹ scheinen: »Quand j’arrivai en Perse, je pris d’abord les Persans pour des barbares, voyant qu’ils ne procédaient pas méthodiquement, comme nous faisons en Europe, à la punition des criminels.«23 Die Erfahrung habe ihn aber gelehrt, dieses rasche Urteil zu berichtigen. »[…] mais après avoir passé quinze ans en Orient, j’ai raisonné d’une autre manière«.24 Dasselbe gilt auch für sein Gesamturteil über die Gesellschafts- und Herrschaftsform des persischen Despotismus: Je finirai ce traité du gouvernement de Perse en rapportant le jugement que j’en ai fait, après avoir demeuré beaucoup d’années dans le pays. Il m’a donc semblé qu’il y a beaucoup d’humanité dans toutes ses lois et dans toutes ses pratiques, et bien au-delà de ce 25 qu’on pourrait s’imaginer d’un gouvernement despotique et d’une puissance arbitraire.

Darüber hinaus lobt Chardin – der Hugenotte, der in Frankreich unter der Rekatholisierungskampagne zu leiden hatte – mehrfach die Toleranz gegenüber Andersgläubigen, die in Persien herrsche.

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Vgl. die stellenweise fast wortgleichen Formulierungen in De l’esprit des lois, Livre II, chapitre V (»Les lois relatives à la nature de l’état despotique«) und in Livre III, chapitre IX (»Du principe du gouvernement despotique«). Charles Louis de Secondat de Montesquieu: Œuvres complètes II. Hg. v. Roger Caillois. Paris 1951 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 249f. bzw. 258f. Montesquieu lanciert diesen Ausdruck bekanntlich in den Quelques réflexions sur les Lettres persanes, die er für die Ausgabe von 1754 geschrieben hat. Chardin: Voyages en Perse, S. 91. Übersetzung: »Als ich nach Persien kam, hielt ich die Perser zuerst für Barbaren, da ich sah, dass sie bei der Verfolgung von Straftätern nicht methodisch vorgingen, wie wir es in Europa tun.« Ebd., S. 92. Übersetzung: »aber nachdem ich fünfzehn Jahre im Orient verbracht habe, habe ich anders argumentiert.« Ebd., S. 96. Übersetzung: »Ich möchte diese Abhandlung über die Regierungsform in Persien mit dem Urteil abschließen, das ich mir nach vielen Jahren im Land über sie gebildet habe. Es schien mir also, dass in seinen Gesetzen und Praktiken viel Menschlichkeit liegt, viel mehr, als man sich von einer despotischen Herrschaftsform und einer willkürlichen Macht erwarten würde.«

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Mit Ausnahme der religiösen Toleranz sind alle positiven Züge des Persienbilds, die bei Chardin wiederholt hervortreten, aus Montesquieus fiktivem Persien weitgehend verschwunden. Vielleicht lässt sich das mit seiner Neigung zum Denken in Oppositionen erklären, die in Laurent Versinis rezenter Studie Baroque Montesquieu im Mittelpunkt steht.26 Versini, der über weite Strecken stilanalytisch argumentiert, hebt die Zweipoligkeit des Stils hervor, die Vorliebe des Autors für Parallelismen, Chiasmen und Antithesen, seine Tendenz zur verallgemeinernden Aussage. Das Denken in Oppositionen, so Versini, dominiere als Strukturprinzip besonders augenfällig die Lettres persanes: Orient und Okzident, Despotismus und gemäßigte Monarchie, Obskurantismus und Aufklärung. Dieses Denken in Oppositionen geht somit weit über den Bereich der Stilistik hinaus und ist verbunden mit der Gefahr einer ›Orientalisierung‹ der französischen Monarchie, die Montesquieus konstante Sorge darstellt. Versinis These lässt sich auch auf die politische Theorie des Autors übertragen, in der der (asiatische) Despotismus ebenso wie das Idealmodell der antiken Demokratien als Vergleichsfolien für die kritische Analyse der zeitgenössischen monarchischen Regierungsformen dienen. Folgt man ein Stück weit Versinis These, die dem traditionellen, von prominenten Forschern wie Todorov und Starobinski vertretenen Bild eines Montesquieu der modération (der Mäßigung) und des Denkers des Universellen widerspricht,27 so wird es nachvollziehbar, warum der Autor eine selektive Lektüre von Quellen wie dem Reisebericht Chardins praktiziert: weil er nämlich ein ganz bestimmtes, eindeutig konnotiertes Bild von Persien benötigt, um im kontrastiven Vergleich die modération – (s)ein Ziel der Aufklärung – in Europa und besonders in Frankreich zu befördern. Es lässt sich zeigen, dass er auch im Fall des Espion du Grand Seigneur eine ähnlich selektive Praxis der Aneignung entwickelt, wobei das Wissen über den ›Orient‹ sich im Fall des Türkischen Spions wie auch bei Montesquieu in der narrativen Form niederschlägt, die ihre Quellen so weit integriert, dass sie als übernommene Wissensbestände gleichsam unsichtbar werden. Woher Giovanni Paolo Marana seine Kenntnis ›orientalischer‹, in seinem Fall ottomanischer Verhältnisse nahm, kann ich nicht beantworten; vermutlich jedoch, wie Montesquieu, aus Reiseberichten. Die Briefe seines monologischen Briefromans, die der Herausgeberfiktion zufolge vom Ich der Vorrede aus dem Arabischen ins Italienische übersetzt wurden,28 schreibt ein arabischsprachiger

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Laurent Versini: Baroque Montesquieu. Genf 2004, S. 77. Bei Todorov ist Montesquieu der positive Held seiner Großen Erzählung: Tzvetan Todorov: La Modération. In: Ders.: Nous et les autres. La réflexion française sur la diversité humaine. Paris 1989, S. 465–524. Starobinski sieht in der im Roman durchgängigen Konfrontation gegensätzlicher Meinungen und Lebensstile das Angebot an die Leser, im Akt der Lektüre zu einem Denken des Universellen zu gelangen. Jean Starobinski: Exil, satire, tyrannie. Les Lettres persanes. In: J. S.: Le remède dans le mal. Critique et légitimation de l’artifice à l’âge des Lumières. Paris 1989, S. 91–122, hier S. 92. Vollständiger Titel des ersten Bands: L’ESPION / DU / GRAND-SEIGNEUR, / ET / SES RELATIONS SECRETES / Envoyées au Divan de Constanti- / nople; & découvertes à Pa-

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Mann namens Mahmut, der unerkannt 45 Jahre lang in Paris in der Funktion eines Spions des türkischen Sultans lebt und seine Briefe über das französische und europäische Leben an verschiedene Briefpartner richtet: an Freunde, Familienmitglieder und an seine Auftraggeber in Konstantinopel. Auf der inhaltlichen Ebene geben die Briefe einen historischen Abriss über die Ereignisse am französischen Hof und in Paris für die Zeitspanne von 1637 bis 1682, stellen also eine zeithistorische Chronik aus der Sicht eines fiktiven Muslim dar. So wie es Montesquieu später praktizieren wird, wird der ›orientalische‹ – oder nach der antiken Stillehre der asianische – Stil weg retouchiert: »N’entendez pas, mon cher Lecteur, de trouver dans ces Lettres les titres superbes & toutes les ceremonies dont se servent les Orientaux que le Traducteur a jugé à propos de retrancher.«29 Montesquieu wird eine sehr ähnliche Formulierung verwenden.30 Mahmuts Briefe aus Paris sind, trotz ihrer Grundtendenz, die Figur Ludwigs XIV. als vorbildlichen und über alle europäischen Herrscher hervorragenden König zu konstruieren, kritisch dort, wo sie andere zeithistorische Quellen oder die Dogmen der Kirche in Frage stellen und manche Facetten des Alltagslebens in Paris und bei Hof aus vermeintlich naiver Perspektive schildern und somit der Lächerlichkeit preisgeben oder zumindest eine kritisch-distanzierte Sichtweise auf sie erlauben. In der Wahl der Bezeichnungen für das kulturell Fremde liefert Marana Montesquieu ebenfalls das Vokabular, so steht etwa »Derwisch« für »Priester«, »Tempel« für »Kirche«, »Ungläubige« für »Christen« usf. Die medialen Rahmenbedingungen des Briefromans – die fiktive Kommunikation zwischen örtlich getrennten Romanfiguren im Medium der Schrift – werden in der Untergattung des europäischen und auch des frühen amerikanischen Briefromans,31 die mit der Figur des fremden Beobachters arbeitet, beson-

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ris, / pendant le Regne, de Louis / le Grand. / Traduites de l’Arabe en Italien / Par le Sieur JEAN-PAUL MARANA, / Et de l’Italien en François par *** / Ces Relations contiennent les Evenemens le [sic] plus / considerables de la Chrestienté & de la Fran- / ce, depuis l’Année 1637, jusques en / l’Année 1682. / A AMSTERDAM, / Chez H. WETSTEIN & H. DES BORDES, / 1684. L’Espion du Grand Seigneur. Bd. 1. Au lecteur (ohne Seitenangabe im Original). Übersetzung: »Erwarten Sie nicht, geschätzter Leser, in diesen Briefen die klingenden Titel und all die Höflichkeitsformen zu finden, deren sich die Orientalen bedienen, der Übersetzer befand es für richtig, sie wegzulassen.« Montesquieu: Œuvres complètes I, S. 131. Préface (der Ausgabe von 1721): »J’ai soulagé le lecteur du langage asiatique autant que je l’ai pu, et l’ai sauvé d’une infinité d’expressions sublimes, qui l’auroient ennuyé jusque dans les nues.« Übersetzung: »Ich habe den Leser, so gut es ging, mit der asiatischen Ausdrucksweise verschont, und ich habe ihm die zahllosen Ausdrücke im hohen Stil erspart, die ihn unendlich gelangweilt hätten.« In der Romanproduktion der jungen USA nimmt das ›Oriental spy/observer genre‹ einen prominenten und nationale Identität stiftenden Platz ein. Der erste dieser Romane war Peter Markoes The Algerine Spy in Pennsylvania (1787). Vgl. Lofti Ben Rejeb: Observing the Birth of a Nation: The Oriental Spy/Observer Genre and Nation Making in Early American Literature. URL: http://www.128.36.236.77/workpaper/pdfs/MESV5-9.pdf [Stand: 30.7. 2008].

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ders sinnfällig genützt und stehen immer in Zusammenhang mit identitären Selbstkonstruktionen. Die Briefe sind bei Marana fiktionsintern legitimiert als notwendige Korrespondenzen, insofern Mahmut seinen offiziellen und remunerierten Auftrag als Spion erfüllt und andererseits sich von seinen privaten Briefpartnern Informationen über die innenpolitischen Entwicklungen in Konstantinopel geben lässt und aus der Ferne die Intrigen seiner Feinde abzuwehren versucht. Anders als bei Montesquieu, erhalten die Leser diese Informationen nur indirekt aus Mahmuts Briefen, in denen er auf die im Text ja nicht vorhandenen Antworten seiner Briefpartner eingeht und so Rückschlüsse auf diese nahe legt. Maranas Briefroman könnte man mit gleichem Recht auch eine briefliche Chronik nennen, denn er lässt die romanhaften Möglichkeiten des Genres über lange Passagen hinweg ungenützt, und vor allem fehlt die durchlaufende Intrige des Haremslebens, die Montesquieu in seinem Selbstkommentar für die erweiterte Ausgabe der Lettres persanes von 1754 unter dem Titel Quelques réflexions sur les lettres persanes zu Recht für den eigentlichen Grund des Erfolgs seines Romans hält: »Rien n’a plu davantage, dans les Lettres persanes, que d’y trouver, sans y penser, une espèce de roman.«32 In seiner Vorrede trägt Marana dafür Sorge, die Figur seines Mahmut in ein positives Licht zu rücken. Mahmut ist zwar hässlich von Angesicht, doch steht er in Paris im Ruf, einen vorbildlichen Lebenswandel zu führen und ein großer Gelehrter zu sein. Überhaupt finde man weise und tapfere Menschen auch bei nichtchristlichen Nationen: […] parmy ceux de cette Nation [i. e. les turcs] que nous appellons Barbare, il y a de grands & de sages Capitaines, des gens de bien, & de scavants Autheurs, comme nous avons quelquefois parmy nous des Generaux sans courage de faux devots, & des ignorans 33 qui font profession d’enseigner.

Dem solchermaßen nobilitierten Spion kommt im Laufe seines Pariser Lebens mehrfach die Zweideutigkeit seiner Daseinsform zu Bewusstsein, und er reflektiert in seinen Briefen darüber, ob er denn noch ein guter Muslim sei, obwohl er nach außen die Lebensweise eines Christen führen muss, und ob man ihn in Konstantinopel noch für einen Rechtgläubigen halte. Vor allem aber entwickelt er durch den fortwährenden Vergleich zweier Kulturen ein vernunftgeleitetes Religionsverständnis, das ihn allmählich sowohl das Christentum als auch den Islam mit distanzierter Anteilnahme sehen lässt. Immer aber bleibt er ein Un-

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Montesquieu: Œuvres complètes I, S. 129: Quelques réflexions sur les Lettres persanes. Übersetzung: »Was an den Persischen Briefen am meisten gefallen hat, war die Tatsache, dass man in ihnen gleichsam nebenbei eine Art Roman vorgefunden hat.« L’Espion du Grand Seigneur, Au lecteur (ohne Seitenangabe im Original). Übersetzung: »unter den Menschen dieses Volks [i. e. die Türken], das wir barbarisch nennen, gibt es große und weise Heerführer, schätzenswerte Menschen & gelehrte Autoren, so wie es bei uns gelegentlich wenig couragierte Generäle, falsche Fromme und Ignoranten, die sich dem Lehrberuf widmen, gibt.«

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dercoveragent, ein Mensch, dessen Sein nicht mit dem Schein übereinstimmt, dessen wahres Sein nur im Medium des Briefs seinen Ausdruck findet. Montesquieu nun hat, zumindest auf den ersten Blick, die Zweideutigkeit und das Anrüchige der Daseinsform des Agenten nicht in seinen Roman aufgenommen. Usbek, der charakterlich Mahmut gleicht, und sein jüngerer Reisebegleiter Rica, der wiederum viele Züge mit einem Cousin und Briefpartner Mahmuts teilt, Usbek und sein Gefährte Rica reisen, wie der bereits zitierte erste Brief behauptet, um sich zu bilden und europäisches Wissen zu erwerben. Bereits im achten Brief erfährt man jedoch, dass zumindest Usbek ein politischer Exilant ist. Seine Weigerung, sich an der im Despotismus unvermeidlichen Praxis der Schmeichelei zu beteiligen, hat ihn bei Hof unbeliebt gemacht und in Gefahr gebracht; er musste sich unter einem Vorwand zurückziehen. »Je feignis un grand attachement pour les sciences, et, à force de le feindre, il me vint réellement. Je ne me mêlai plus d’aucunes affaires, et je me retirai dans une maison de campagne.«34 Der achte Brief ist somit, wie Edgar Mass argumentiert hat, ein Signal, »das auf die Doppelsinnigkeit des Textes hinweist«35 und, wie ich hinzufügen möchte, ein Hinweis auf die sich im Laufe des Romans enthüllende Inkongruenz von Sein und Schein auch dieser Figur. Usbeks intellektuelle Interessen sind fiktionsintern die direkte Folge einer Verstellung, zu der er durch politische Umstände gezwungen war. Eben diese Umstände generieren schließlich seinen Entschluss, ins Ausland zu reisen: »J’allai au Roi; je lui marquai l’envie que j’avois de m’instruire dans les sciences de l’Occident; je lui insinuai qu’il pourroit tirer de l’utilité de mes voyages. Je trouvai grâce devant ses yeux; je partis, et je dérobai une victime à mes ennemis. Voilà, Rustan, le véritable motif de mon voyage.«36 Usbeks Reise ist also das Ergebnis einer List, mit der er sich vor politischer Verfolgung schützen will und die er antreten darf, weil er sich in gewisser Weise als Spion anbietet (»je lui insinuai qu’il pourroit tirer de l’utilité de mes voyages«). Allerdings hat Montesquieu in der Folge das Spionage-Motiv nicht genützt; Usbek schreibt, außer den Frauen und Eunuchen seines Hausstands, vornehmlich an Freunde, Gelehrte und Religionsgelehrte, mit denen ihn Bande der Freundschaft und Wertschätzung verbinden; sein Blick auf die europäische und die französische Gesellschaft bleibt der eines einfachen

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Montesquieu: Œuvres complètes I, S. 140. Übersetzung: »Ich schützte ein großes Interesse für die Wissenschaften vor, das ich dann als Folge dieses Heuchelns tatsächlich entwickelte. Ich mischte mich in keine Hofangelegenheiten mehr ein und zog mich in ein Landhaus zurück.« Edgar Mass: Literatur und Zensur in der frühen Aufklärung. Produktion, Distribution und Rezeption der Lettres persanes. Frankfurt a. M. 1981, S. 83. Vgl. auch die Ausführungen S. 98ff. Montesquieu: Œuvres complètes I, S. 141. Übersetzung: »Ich ging zum König; ich sprach zu ihm von dem Wunsch, mich in den Wissenschaften des Okzidents zu unterrichten; ich gab ihm zu verstehen, dass er aus meinen Reisen Nutzen ziehen könnte. Ich fand Gnade vor seinen Augen; ich brach auf und beraubte meine Feinde eines Opfers. Das ist, Rustan, der wahre Grund meiner Reise.«

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Reisenden, der zu dem Bild, das er der Pariser Gesellschaft bietet, stehen kann, obwohl er, wie sich herausstellt, ebenfalls einiges zu verheimlichen hat. Das Motiv und das Wahrnehmungsdispositiv der Spionage tauchen nämlich an anderer Stelle wieder auf, nämlich in der romanhaften Haremshandlung; diese Verschiebung kann erneut zeigen, wie selektiv Montesquieu sich seine Vorlagen aneignet. Der Autor erlaubt durch seine Fiktion seinen Lesern einen traditionell verbotenen Blick, nämlich den Blick ins Innere eines Harems. Es sind also schlussendlich die Leser, die sich den verstohlenen Blick des Spions – oder des Voyeurs – aneignen, ja aneignen müssen. Dass es sich um einen verbotenen Blick handelt, ist Montesquieu durchaus bewusst. So behauptet die Herausgeberfiktion der Ausgabe von 1721, dass das Ich des Vorworts die Briefe von Persern erhalten habe, mit denen es unter einem Dach gelebt habe: Les Persans qui écrivent ici étoient logés avec moi; nous passions notre vie ensemble. Comme ils me regardaient comme un homme d’un autre monde, ils ne me cachoient rien. En effet, des gens transplantés de si loin ne pouvoient plus avoir des secrets. Ils me communiquoient la plupart de leurs lettres; je les copiai. J’en surpris même quelques-unes dont ils se seroient bien gardés de me faire confidence, tant elles étoient mortifiantes pour la va37 nité et la jalousie persanes.

An diesem Ausschnitt eines Paratexts sind im Kontext meines Themas mehrere Dinge interessant. Die Formulierung »un autre monde« – hier Paris für die Perser – erinnert an Chardins Reisebericht, in dem er Persien als eine für die Europäer »andere Welt« bezeichnet.38 Die Begegnung mit Menschen einer »anderen Welt« habe, behauptet das Ich von Montesquieus Vorwort ohne jede weitere Begründung, große Offenherzigkeit zur Folge. Allerdings ist diese Offenherzigkeit einseitig, denn das Ich begnügt sich nicht mit dem, was die beiden Perser von sich aus kommunizieren wollen, es erschleicht sich vielmehr Einblick in jene Briefe, die die Perser – gemeint ist aber nur Usbek, denn Rica hat keine Geheimnisse – vor fremden Augen verborgen halten wollen. So teilt einerseits Usbek mit Maranas Mahmut die Diskrepanz von Schein und Sein; er ist für seine Pariser Gesprächspartner ein gebildeter und allem Wissen offener Mann, für seine Frauen und Eunuchen jedoch ein strenger und im Lauf der Zeit zunehmend despotischer Herrscher. Andererseits teilt das Ich der Vorrede mit Mahmut den Spionagestatus, insofern es sich Einblick in eine private Welt

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Ebd., S. 131. Übersetzung: »Die Perser, die hier schreiben, wohnten mit mir zusammen, wir verbrachten das Leben miteinander. Da sie in mir einen Menschen aus einer anderen Welt sahen, hielten sie nichts vor mir verborgen. Und in der Tat konnten Leute, die von so weit her kamen, keine Geheimnisse haben. Sie zeigten mir die meisten ihrer Briefe; ich schrieb sie ab. Ich verschaffte mir sogar Einblick in einige, die sie mir wohl nicht hätten zeigen wollen, waren sie doch beschämend für die persische Eitelkeit und Eifersucht.« »[…] un pays que nous pouvons appeler un autre monde, soit par la distance des lieux, soit par la différence des mœurs et des maximes.« Chardin: Voyages en Perse, Textstelle zit. nach der Einleitung von Claude Gaudon, S. 10. Übersetzung: »ein Land, das wir, sei es auf Grund seiner räumlichen Entfernung, sei es wegen des Unterschieds der Sitten und der Werte, eine andere Welt nennen können.«

Strategien der Wissensselektion in den Lettres persanes

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verschafft, die nach dem Willen des Besitzers der Informationen verborgen bleiben sollte; das ist der Blick eines Spions. Montesquieus Leser wiederum geraten bei der Lektüre unvermeidlich in die Position von Voyeuren, die den verbotenen Blick des Ichs der Vorrede teilen und in einen persischen Harem Einsicht erlangen. Was sie dort vorgeführt bekommen, kann man auch bei Chardin lesen, bei ihm allerdings über den Palast des Schahs von Persien: junge Mädchen aller Abstammung werden gekauft, die Frauen sind aufgrund ihrer Gefangenschaft auf die Leidenschaft der gegenseitigen Eifersucht konditioniert, andererseits neigen sie – wie insinuiert wird: faute de mieux – der gleichgeschlechtlichen Liebe zu, sie intrigieren ebenso wie die Eunuchen um die Gunst des Herren, der wiederum, sobald er Grund zu Verdacht oder auch nur zu Missfallen hat, vor physischen und psychischen Grausamkeiten aller Art nicht zurückschreckt.39 Unschwer kann man in diesem Gemälde auch die Zustände des persischen Haushalts von Usbek erkennen. Allerdings: Usbek ist nicht der Schah von Persien, sondern Privatmann. Andere und zum Teil wesentlich positivere Bilder der privaten Geschlechter- und Liebesverhältnisse des ›Orients‹ hätte Montesquieu in Gallands Übersetzung der Mille et une nuits gewinnen können, die mehrfach von privat und öffentlich aktiven Frauen verschiedener Stände erzählen und die dem Motiv der leidenschaftlichen Liebe großen Raum geben.40 Wenn Montesquieu überhaupt etwas aus Mille et une nuits übernommen hat, ist es das voyeuristische Dispositiv des verbotenen Blicks, das in der Rahmenerzählung der Märchen durch das Dreieck Sultan – Scheherazade – Dinarzade im Schlafgemach des Sultans vorgebildet wird. Diese Rahmenerzählung, die Dinarzade als beobachtende Dritte im Eheleben der Schwester inszeniert, ist, wie ich meine, eine Gründerszene des europäischen Orientalismus.41 Auch sie gehört zu dem, was ich eingangs als den ›Wissenskomplex Orient‹ bezeichnet habe. Der Einsatz eines ›verbotenen Blicks‹ wird Montesquieu also einerseits durch eine Verkehrung der Figurenanordnung in Maranas Espion du Grand Seigneur, andererseits durch die Rahmenerzählung von Tausend und eine Nacht nahe gelegt. Die Haremserzählung, die durch die »chaîne secrète« an die Reise39 40

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Vgl. Chardin: Voyages en Perse, S. 51ff. Die Liebe, die große Leerstelle der Lettres persanes (vgl. dazu Starobinski: Exil, S. 112), ist dagegen das Hauptthema nicht weniger Märchen aus 1001 Nacht, auch in der Übersetzung Gallands. Ausführlicher argumentiert in meinem Aufsatz: Haremskonstellationen, oder: die Leerstelle der ›orientalischen Liebe‹ in der französischen Liebeskonzeption. In: Liebe und Emergenz. Neue Modelle des Affektbegreifens im französischen Kulturgedächtnis um 1700. Hg. v. Kirsten Dickhaut u. Dietmar Rieger. Tübingen 2006, S. 117–131. – Der Katalog von Montesquieus Bibliothek in La Brède verzeichnet kein Exemplar von Gallands Übersetzung, wohl aber eines der Märchensammlung Mille et un jours von Gallands Kollegen und Nachahmer Pétis de la Croix. Aus dieser hat Montesquieu den ›conte persan‹ des falschen Ibrahim entnommen, eine der eingelegten Geschichten der Lettres persanes. Zur Bedeutung der Mille et une nuits für Montesquieu vgl. Martino: L’Orient, S. 253 und 293 sowie Dédéyan: Montesquieu, S. 25f.

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erzählung gebunden ist, erlaubt es dem Autor, sein Publikum zu unterhalten und zugleich in einer Narration versteckt seine Lehre von der Neigung der politischen Verhältnisse zum Despotismus allegorisch abzubilden, eine Lehre, die er in ausgearbeiteter und diskursiver Form in De l’esprit des lois vorlegen wird. Diese Neigung zum Despotismus sieht Montesquieu bekanntlich auch in den europäischen Monarchien, vor allem aber in der französischen Monarchie angelegt; ihr gilt seine langjährige und berechtigte Sorge. Um sie dem Publikum in ansprechender Form zu illustrieren, hat er im Rahmen der Persienmode des frühen 18. Jahrhunderts seinen Briefroman mit dem privaten Briefwechsel zwischen Usbek und seinen Frauen und Eunuchen angereichert. Dieser Teil des Briefwechsels, der von Affekten handelt, steht gleichwohl quer zum späteren empfindsamen Briefroman. Er lädt nicht zur Identifikation und zum Mit-Fühlen, sondern zum Erschauern und zum Voyeurismus ein. Unvermeidlich wird dadurch ein Bild des Orients geschaffen, das zwar im Dienst der europäischen Aufklärung, nicht aber im Dienst der Selbstaufklärung der Europäer über ihr Verhältnis zu orientalischen Kulturen steht. Montesquieus Briefroman ist schon aufgrund seiner großen Verbreitung und seines literarischen Prestiges für die Semantik des Begriffs ›Orient‹ nicht folgenlos geblieben, er ist ein entscheidender Baustein in der Ausbildung eines französischen orientalistischen Diskurses.

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»I have done with the science of man« Empirismus und poetische Form in den Briefromanen Richardsons, Rousseaus und Smolletts

1. Von der Epochenhistorie zur Wissens- und Mediengeschichte: Der Briefroman im Spannungsfeld seiner Kontexte Der Briefroman galt und gilt als literarische Erscheinungs- bzw. Verwirklichungsform einer geistesgeschichtlichen Epoche und der ihr entsprechenden Weltanschauung: der Empfindsamkeit.1 Bei diesem literarhistorischen Dogma erweist es sich als unerheblich, ob die Empfindsamkeit als reflexives Moment der Aufklärung, als eigenständige, eher gegenaufklärerische Epochentendenz oder gar als epochenübergreifender Medienkonflikt behandelt wird.2 Trotz wiederholter Einsprüche3 hat sich dieses Vorurteil in der Forschung verfestigt.4 1

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Jürgen von Stackelberg: Der Briefroman und seine Epoche: Briefroman und Empfindsamkeit. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 293–309. Diese enge systematische Verbindung von Briefroman und Empfindsamkeit behaupten auch Norbert Oellers: Der Brief als Mittel privater und öffentlicher Kommunikation in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Brief und Briefwechsel in Mittel- und Osteuropa im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. v. Alexandru DuĠu, Edgar Hösch, Norbert Oellers. Essen 1989 (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa 7, 1), S. 9– 36, spez. S. 27ff.; Michael Neumann: Unterwegs zu den Inseln des Scheins. Kunstbegriff und literarische Form in der Romantik von Novalis bis Nietzsche. Frankfurt a. M. 1991 (Das Abendland N. F. 19), S. 221ff.; Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik. Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Abhandlungen 71), S. 194–215; Gerhard Sauder: Briefroman. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Gem. mit Harald Fricke [u. a.] hg. v. Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, S. 255– 257 und erneut Jürgen von Stackelberg: Briefroman. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. v. Dieter Lamping [u. a.]. Stuttgart 2009, S. 84–95. Vgl. hierzu u. a. Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 30), S. 71–88. Vgl. schon Janet G. Altman: Epistolarity. Approaches to a Form. Columbus (Ohio) 1982; Christiane Arndt: Antiker und neuzeitlicher Briefroman. Ein gattungstypologischer Vergleich. In: Der griechische Briefroman. Gattungstypologie und Textanalyse. Hg. v. Niklas Holzberg unter Mitarbeit v. Stefan Merkle. Tübingen 1994 (Classica Monacensia 8), S. 53– 83; Gideon Stiening: Briefroman und Empfindsamkeit. In: Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. Hg. v. Klaus Garber u. Ute Széll. München 2005, S. 161–190.

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Dennoch weist die strenge Korrelation von Gattung und Epoche – die vielmehr die Erklärung einer Gattung aus einer Epoche enthält – grundsätzliche Problemlagen in methodischen und historischen Hinsichten auf: Zum einen wird das empfindsame Weltverhältnis5 zu Recht über Inhalte definiert, wobei sich der Fokus auf die Kultivierung eines spezifisches Gefühlsverständnisses sowie dessen moraltheoretische Legitimation6 und literarische Gestaltung richtet.7 Selbst die Kontroverse über die Frage nach einer religiösen Fundierung des europaweit auftretenden Emotionalismus ist weitgehend inhaltlich bestimmt und somit keineswegs privilegierter Gegenstand der Literaturwissenschaft.8 Gegenüber solchen Inhalten jedoch ist der Brief – und zwar sowohl in seiner lebensweltlichen Erscheinung als auch in der fiktionalen Form des Briefromans – je schon indifferent; nicht allein der Amtsbrief, der ein produktives, noch immer vielfach unterschätztes Eigenleben im 18. Jahrhundert (und weit darüber hinaus) führt,9 sondern auch andere Beispiele gelehrter oder privater Briefschaften zeugen von der reichen Varianz epistolarer Reflexion und deren Darstellungsinhalten: Zwar sind Leibniz’,10 Wolffs11 oder Lessings12 Briefe ebenso wie

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Vgl. selbst Rainer Warning: Schreibendes Imaginieren: Glücksphantasien des Briefromans. Richardson / Rousseau / Laclos. In: Aufklärung. Hg. v. Roland Galle u. Helmut Pfeiffer. München 2007 (Romanistisches Kolloquium 11), S. 375–403, spez. S. 379ff.; Esther Suzanne Pabst: Die Erfindung der weiblichen Tugend. Kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007 (Ergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung N. F. 12), S. 89ff. Vgl. hierzu grundlegend: Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974; Frank Baasner: Der Begriff ›sensibilité‹ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Gefühls. Heidelberg 1988 (Studia Romanica 69); Ingo Berensmeyer: Empfindsamkeit als Medienkonflikt. Zur Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts. In: Poetica 39 (2007), S. 397–422. Vgl. hierzu die philosophiegeschichtliche Studie von Helke Panknin-Schappert: Innerer Sinn und moralisches Gefühl. Zur Bedeutung eines Begriffspaares bei Shaftesbury und Hutcheson sowie in Kants vorkritischen Schriften. Hildesheim, Zürich, New York 2007 (Europea Memoria 1, 65). Siehe hierzu u. a. Alberto Martino: Emotionalismus und Empathie. Zur Entstehung bürgerlicher Kunst im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 81/82/83 (1977/78/79), S. 117–130; Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988. Vgl. hierzu die Darstellung bei Gerhard Sauder: Empfindsamkeit – Tendenzen der Forschung. In: Aufklärung 13 (2001), S. 308–338. Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: Die »Freiheit der gelehrten Feder« und der »Strich des Censors«. Immanuel Kant und die Universitätszensur. In: Studien zur Entwicklung preußischer Universitäten. Hg. v. Reinhard Brandt, Werner Euler u. Werner Stark. Wiesbaden 1999 (Wolfenbütteler Forschungen 88), S. 163–201. Vgl. hierzu Karin Ilg: Leibniz’ Briefgespräche mit den Damen. In: Von Diana zu Minerva. Philosophierende Aristokratinnen des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. v. Ruth Hagengruber unter Mitwirkung v. Ana Rodrigues. Berlin 2011, S. 67–82. Vgl. hierzu die Studie von Johannes Bronisch: Der Mäzen der Aufklärung. Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus. Berlin, New York 2010 (Frühe Neuzeit 147).

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Montesquieus Lettres persanes oder Smolletts The Expedition of Humphry Clinker inmitten einer empfindsam dominierten Kultur geschrieben, sie sind zudem mustergültige Briefe bzw. innovative Briefromane; und doch sind sie nicht der Empfindsamkeit zuzurechnen. Vielmehr müssen sie – wie auch Kants oder Lichtenbergs private Briefe13 oder Jacobis Briefromane14 – zu solchen Erscheinungen der Epistolarkultur des 18. Jahrhunderts gerechnet werden, die in dieser Reflexionsform eine Kritik des empfindsamen Emotionalismus ausbildeten.15 Selbst im Zeitalter der Empfindsamkeit ist der Brief bzw. der Briefroman mithin keineswegs notwendig mit dieser emotionalistischen Weltanschauung verknüpft.16 Darüber hinaus haben nicht nur ältere Forschungen die Genese des Briefromans im 17. Jahrhunderts – und damit vor der Empfindsamkeit – nachzeichnen können,17 auch neuere Forschungen haben einen Schwerpunkt in der Deutung von Briefromanen um 1800 ausgebildet und dabei – zumindest in Ansätzen – Thesen zu einem spezifisch romantischen Briefroman entwickelt.18 Tatsächlich sind weder Ludwig Tiecks William Lovell noch Sophie Mereau-Brentanos Amanda und Eduard oder gar Étienne Pivert de Senancours Oberman mit den sprachlichen und konzeptionelle Instrumenten des empfindsamen Briefromans geschrieben und daher – gerade wegen ihres formal wie inhaltlich innovativen Gehaltes – nicht in die von der Forschung dogmatisierte epochale Relation zu

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Siehe hierzu u. a. Hans Erich Bödeker: Lessings Briefwechsel. In: Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Perspektiven, Institutionen und Medien. Hg. v. H. E. B. u. Ulrich Herrmann. Göttingen 1987 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 85), S. 113–138 sowie Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000 (Literatur und Leben N. F. 54), S. 108–125. Vgl. zum Ersteren Karl Vorländer: Immanuel Kant – Der Mann und das Werk. Bd. 2. Hamburg 31992, S. 112ff. sowie zum Letzteren Ulrich Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber. Göttingen 1993 (Lichtenberg Studien 5). Vgl. hierzu den Beitrag von Werner Euler in diesem Band. Vgl. hierzu die präzisen Ausführungen bei Winfried Engfer: Die Lettres Persanes oder wie bei Montesquieu der Orient den Okzident erzählt. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 80 (2005), S. 51–69, spez. S. 54f. So aber die immergleichen Insinuationen u. a. bei Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 455). Vgl. hierzu schon Charles E. Kany: The Beginnings of the Epistolary Novel in France, Italy, and Spain. Berkeley (California) 1937 sowie Joe Bray: The Epistolary Novel. Representations of Consciousness. London, New York 2003 (Routledge Studies in EighteenthCentury Literature 1), p. 29–53. Vgl. auch den Beitrag von Barbara Becker-Cantarino in diesem Band. Siehe u. a. Markus Heilmann: Die Krise der Aufklärung als Krise des Erzählens. Tiecks »William Lovell« und der europäische Briefroman. Stuttgart 1992 (Germanistische Abhandlungen 74); Joachim Küpper: ›Politische Romantik‹. Ugo Foscolos Ultime lettere di Jacopo Ortis. In: Poetica 30 (1998), S. 98–128; Thomas Borgstedt: Frühromantik ohne Protestantismus. Zur Eigenständigkeit von Clemens Brentanos ›Godwi‹-Roman. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2002), S. 185–211.

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pressen. Nimmt man hinzu, dass der Oberman in den 1830er Jahren eine eigentümliche Renaissance erlebte19 und sich mit Alfred de Musset, Honore de Balzac, Théophile Gautier, Jane Austen oder auch Henry James bedeutende Autoren der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts jener Gattung bedienten,20 wird jene strenge Verknüpfung von Gattung und Epoche vollends unhaltbar.21 Dennoch ist zugleich unbestreitbar, dass der Briefroman als narrative Form im 18. Jahrhunderts eine besondere Blüte erlebte, was sich nicht allein an der Quantität,22 sondern auch an der besonderen literarischen Qualität ablesen lässt, die die Lettres persanes, die Nouvelle Héloïse, Werthers Leiden oder die Liaisons dangereuses fraglos auszeichnet. Wenn der Grund für diese ›Karriere‹ nicht nur – und das heißt nicht wesentlich – in der Ausdruckfähigkeit des Briefes für empfindsame Emotionen liegt, dann muss er in einem anderen Bedingungsgefüge gesucht werden, weil es die hierarchisch anzuordnenden Kontexte sind, die nicht nur die je historische Präferenz für Inhalte, sondern auch für Formen und so für eine Gattungsgeschichte hervorbringen.23 Gegen den Trend kulturwissenschaftlicher Kontextnivellierung ist allerdings an dem regulativen Ideal einer je angemessenen Hierarchisierung der Kontexte festzuhalten.24 Im Hinblick nun auf die Geschichte der Gattung Briefroman weist die mediengeschichtlich erweiterte Sozialgeschichte zu Recht darauf hin, dass es im 18. Jahrhunderts zu einer Medienrevolution kam,25 deren realgeschichtliche wie kulturhistorische Auswirkungen u. a. im Briefroman ausgestaltet und kritisch reflektiert wurden. Schreiben, vor allem Briefe schreiben, wurde zu einem ›way 19 20 21 22

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Vgl. hierzu u. a. Béatrice Didier: Senancour Romancier. Paris 1985, p. 310ff. Vgl. hierzu Altman: Epistolarity, S. 185ff.; Thomas O. Beebee: Epistolary Fiction in Europe. 1500–1850. Cambridge 1999, S. 166ff. sowie Bray: Epistolary Novel, p. 108ff. Siehe auch Hans Rudolf Picard: Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts. Heidelberg 1971 (Studia Romanica 23), S. 18ff. Zur Frage Quantitäten vgl. Dieter Kimpel: Entstehung und Formen des Briefromans in Deutschland. Interpretationen zur Geschichte einer epischen Gattung des 18. Jahrhunderts und zur Entstehung des modernen deutschen Romans. Phil. Diss. Wien 1961, S. 18ff.; sowie Gerd Mattenklott: Briefroman. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 4: Zwischen Absolutismus und Aufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang 1740–1786. Hg. v. Ralph-Rainer Wuthenow. Reinbek b. H. 1980 (rororo 6253), S. 185–203. Ansätze zu einer elaborierten Kontexttheorie finden sich bei Jürgen Fohrmann: Textzugänge. Über Text und Kontext. In: Scientia Poetica 1 (1997), S. 207–223; Ursula Peters: Text und Kontext: Die Mittelalter-Philologie zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kulturanthropologie. Wiesbaden 2000 (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 365); Lutz Danneberg: Kontext. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2. Hg. v. Harald Fricke [u. a.]. Berlin, New York 2000, S. 333–337. Vgl. hierzu Gideon Stiening: »Glücklicher Positivismus«? Michel Foucaults Beitrag zur Begründung der Kulturwissenschaften. In: http://www.germanistik.ch/publikation.php?id= Gluecklicher_Positivismus (Oktober 2009). Vgl. hierzu Vellusig: Schriftliche Gespräche, sowie Berensmeyer: Empfindsamkeit als Medienkonflikt.

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of life‹ nicht – wie seit dem 15. Jahrhundert – allein der Gelehrten, sondern weiter Kreise des Bürgertums in ihrem Alltagsleben, und dies mit allen Vorzügen der Reflexionsleistungen und der kommunikativen Vernetzungen sowie allen Nachteilen der Schreibwut und der ›Briefkrankheit‹ als Ausdruck eines im Schreiben verpassten Lebens.26 Allerdings bedarf die literarische Reflexion auf diese Briefkultur des 18. Jahrhunderts im Briefroman noch einiger weiterer Voraussetzungen, die allererst die hinreichenden Bedingungen dafür schaffen, eine ›Welt aus und in Briefen‹ entstehen lassen zu wollen und zu können. Diese besonderen historischen Bedingungen lassen sich unter Rückgriff auf zwei wesentliche Elemente des Briefes und deren historisch spezifische Ausgestaltung erläutern: Eines der von den meisten Brieftheorien27 akzeptierten Wesenmerkmale des Briefes ist die explizite Bindung des in ihm dargestellten Inhalts an die Subjektivität und Individualität des Schreibers; darüber hinaus konstituiert den Brief die Bindung dieser individuell gestalteten und zu verantwortenden Reflexion an einen (oder mehrere) quantitativ und qualitativ bestimmte(n), d. h. ebenfalls individuelle(n) Adressaten.28 Diese historisch invarianten Wesenmerkmale des Briefes werden im 18. Jahrhundert in spezifischer Weise interpretiert, indem der Emotionalismus sowohl den Ausdruck von gelungener Individualität als auch die Ausbildung einer vorbildlichen Briefgemeinschaft an die Dominanz des Gefühls bindet.29 Eine entscheidende Voraussetzung für diesen Prozess war die europaweit sich ereignende Reform des Privatbriefes, in dem sich seit der Mitte des Jahrhunderts Individualität als emotionalistische realisieren können sollte.30 Eine solcherart gefühlsfundierte Individualität konnte und sollte jedoch zugleich die Voraussetzung für eine unentfremdete Vergemeinschaftung abgeben, die sich eines Netzes empfindsamer Kommunikation in Briefen nicht allein bediente, 26

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Vgl. u. a. Wulf Koepke: Epistolary Fiction and Its Impact on Readers. Reality and Illusion. In: Aesthetic Illusion. Theoretical and Historical Approaches. Hg. v. Frederic Burwick u. Walter Pape. Berlin, New York 1990, p. 263–274 sowie Hannelore Schlaffer: Glück und Ende des privaten Briefes. In: Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Hg. v. Klaus Beyer u. Hans-Christian Täubrich. Frankfurt a. M. 1996, S. 34–45 sowie Götz, Jacobi im Kontext, S. 76ff. Vgl. hierzu Reinhardt Nickisch: Brief. Stuttgart 1991 (SM 260). Vgl. hierzu Wolfgang G. Müller: Der Brief als Spiegel der Seele. Zur Geschichte eines Topos der Epistolartheorie von der Antike bis zu Samuel Richardson. In: Antike und Abendland 26 (1980), S. 138–157; Wolfgang G. Müller: Der Brief. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Hg. v. Klaus Weissenberger. Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 34), S. 67–87. Vgl. hierzu auch Wegmann: Diskurse, S. 73ff.; dass diese Emotionalisierung sowohl der Individualität als auch der Interpersonalität nur eine, durchaus nicht die ideale Möglichkeit des Briefes ist, betont Gideon Stiening: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 105), S. 5ff. Vgl. hierzu u. a. Uwe Hentschel: »Briefe sind Spiegel der Seelen.« Epistolare Kultur des 18. Jahrhunderts zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. In: Lessing-Yearbook XXXIII (2001), S. 183–200.

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sondern sich in dieser und als diese ›Gesellschaft in Briefen‹ verwirklichte.31 Das Genre der Freundschaftsbriefe, Gottlieb Wilhelm Rabeners, Christian Fürchtegott Gellerts oder Karl Wilhelm Ramlers, hatte nicht nur als Ausdruck spezifischer Individualität ein moralisches, sondern als Verwirklichung eines gegenständischen ›Gemeinwesens‹ ein ›politisches‹ Fundament.32 Sowohl die gegenweltliche Epistolargemeinschaft als auch die in ihr sich realisierende schreibende Individualität sollen allererst im sprachlich angemessenen Ausdruck des Gefühls Wirklichkeit finden, u. a. weil mit dem common sense Anthony Earl of Shaftesburys und Francis Hutchesons das sentiment als Garant natürlicher Moralität gilt.33 Je gefühlvoller, desto moralischer und damit ebenso maximal individuell wie ideal vergemeinschaftet, so die Gleichung einer empfindsam popularisierten Variante der ›Theorie ethischer Gefühle‹,34 die durch Jean-Jacques Rousseau und Adam Smith die Aufklärungsdebatten nachhaltig prägte; in Rousseaus »Gefühl der Gleichheit« oder Catherine Macaulays Freiheitsenthusiasmus wird die Emotion gar – kompensatorisch – politisch.35 Es war aber eben diese Kombination von historisch spezifischen Interpretationen zweier wesenhafter Momente des Briefes, die den Briefroman zu einer bevorzugten literarischen Darstellungs- und Reflexionsform der Empfindsamkeit machten.36 Erst mit Kants Kritik am moralischen Gefühl beginnt die als natürlich interpretierte Verknüpfung von Gefühl (als Mitleid) und Moralität brüchig zu werden.37 Neben dieser im 18. Jahrhundert ebenso innovativen wie produktiven Verknüpfung von Brief, moralischem Gefühl, Individualität und Gemeinschaft lassen sich allerdings sowohl auf der Ebene der privaten Briefschaften als auch auf der Ebene fiktiver Narrationen Beispiele nachweisen, die von dieser Kon31 32 33

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Vgl. hierzu John Mullan: Sentiment and Sociability. The Language of Feeling in the Eighteenth Century. Oxford 1990. So schon Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1990. Vgl. hierzu Panknin-Schappert: Innerer Sinn und moralisches Gefühl, S. 70ff. und 129ff. sowie Jan Engbers: Der »Moral-Sense« bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland. Heidelberg 2001. Vgl. hierzu Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle. Nach der Auflage letzter Hand übersetzt u. mit Einleitung, Anmerkungen u. Registern hg. v. Walther Eckstein. Hamburg 2004 (Philosophische Bibliothek 200 a/b). Siehe Jean Starobinski: Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Aus d. Franz. von Ulrich Raulff. München, Wien 1988, S. 151ff. sowie Vera Nünning: A Revolution in Sentiments, Manners, and Moral Options. Catherine Macaulay und die politische Kultur des englischen Radikalismus, 1760–1790. Heidelberg 1998 (Anglistische Forschungen 255). Dass diese historisch spezifische Interpretation keineswegs eine dem Wesen des Briefes überhaupt besonders nahe kommende Auslegung ist – so aber noch und immer wieder in der Reproduktion der Briefforschung des 19. Jahrhunderts (vgl. Pabst: Erfindung, S. 89– 102) – lässt sich nachlesen bei Stiening: Briefroman und Empfindsamkeit, S. 162–176. Vgl. hierzu Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. und mit Einleitung sowie einem Personen- und Sachregister versehen v. Karl Vorländer. Hamburg 1990 (Philosophische Bibliothek 38), S. 88ff.

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zeption grundsätzlich abweichen: Erwähnt wurden schon die Lettres persanes, Humphry Clinker und die Liaisons dangereuses, also keineswegs marginale oder gar misslungene Beispiele; genannt werden muss als eines der ästhetisch anspruchsvollsten Exempel der Gattung auch Hölderlins Hyperion.38 Alle vier Romane sind herausragende Briefromane des 18. Jahrhunderts, aber sie sind in ihrer formalen wie inhaltlichen Anlage nicht empfindsam. Bei allen erheblichen inhaltlichen sowie die epistolare Form der fiktiven Narration betreffenden Differenzen, ist jedoch allen Briefromanen – sowohl empfindsamer als auch aufklärerischer wie romantischer Provenienz – eines gemeinsam: Sie entfalten ihren Plot ausschließlich aus der Sicht einer bzw. mehrerer beteiligter oder beobachtender Akteure bzw. Schreiber. Diese formale Kontur der Bindung aller Handlung an subjektive Darstellungsperspektiven macht das entscheidende Konstitutionskriterium der Gattung aus. Im Hinblick auf Gründe für das Interesse der Autoren an einer solchen Bindung ihrer Narration an subjektive Perspektiven scheint es nun einen wissensgeschichtlichen Kontext zu geben, der einigen Aufschluss über die Konjunktur der Gattung im 18. Jahrhundert geben kann. Denn die unhintergehbare Bindung alles dessen, was ist, an die Perspektive des erkennenden Subjekts ist eine Einsicht der Erkenntnistheorien des europäischen Empirismus. Spätestens seit John Lockes Essay concerning human understanding weiß man in Europa um die Fundierungsleistungen des individuellen empirischen Bewusstseins für alles Denken und Handeln.39 Keineswegs leugnete Locke die Realität einer Außenwelt,40 doch haben wir zu ihr nur Zugang über die je individuelle Wahrnehmung, Beobachtung und Erfahrung sowie die auf diesen Vermögen gründende Erkenntnis. Diese wird allererst ermöglicht durch die personal identity des individuellen empirischen Bewusstseins und Selbstbewusstseins, die eine spezifische Verknüpfung aller Vorstellungen zu einem Ganzen ermöglichen.41 Die Geschichte der allmählichen Durchsetzung empiristischer Epistemologie und Methodologie in der theoretischen Philosophie, aber auch in den Naturwissenschaften sowie in spezifischen Formen rechtlicher, moralischer und politischer 38

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Vgl. hierzu auch Andreas Dittrich: So dacht’ ich. Friedrich Hölderlins Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland als ästhetisch-idealistischer Sonderweg. In: Euphorion 98 (2004), S. 347–383. Vgl. hierzu Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2005 (Quellen und Studien zur Philosophie 64). John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. 2 Bde. Hg. v. Reinhard Brandt. Bd. 2. Hamburg 41988, S. 310ff. (IV, 10). Locke: Versuch, Bd. 1, S. 410ff. (II, 27); vgl. hierzu die grundlegenden Beiträge von Udo Thiel: Individuation und Identität (Essay II.xxvii). In: John Locke. Essay über den menschlichen Verstand. Hg. v. Udo Thiel. Berlin 1997 (Klassiker Auslegen 6), S. 149– 167, spez. S. 163ff.; Udo Thiel: Individuation. In: The Cambridge History of Seventeenth Century Philosophy. Ed. by Daniel Garber and Michael Ayers. Vol. I. Cambridge 1998, p. 212–262; sowie Udo Thiel: Person und persönliche Identität in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Person. Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie. Hg. v. Dieter Sturma. Paderborn 2001 (ethica 3), S. 79–101.

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Theorie42 bildet eine der bedeutenden, d. h. prägenden geistesgeschichtlichen Entwicklungen im Europa des 18. Jahrhunderts.43 Dabei weist der Einfluss weit über die Wissenschaften hinaus bis in das Alltagsbewusstsein der Zeitgenossen.44 Im Hinblick auf die Geschichte des Briefromans und seine unvergleichliche Karriere im 18. Jahrhundert bildet die empiristische Epistemologie des 18. Jahrhunderts – so die hier versuchte These – einen konstitutiven wissensgeschichtlichen Kontext aus,45 der sozialgeschichtlich nicht einzuholen ist, doch die Ergebnisse mediengeschichtlicher Forschungen zu ergänzen vermag,46 weil es epistemischer Voraussetzungen bedarf, um nicht nur überhaupt das je eigene ›Leben‹ in epistolarer Form zu reflektieren und so zu verdoppeln, sondern eine ganze Welt aus subjektiv reflektierten Perspektiven entstehen zu lassen. Dabei ist die Geschichte des europäischen Empirismus an sich von ihrer Funktion als Kontext einer literarischen Gattungsgeschichte wohl zu unterscheiden: Fraglos setzt sich empiristischen Epistemologie und Methodologie vor allem in der Philosophie und den naturforschenden sowie medizinischen oder auch ökonomischen und politischen Einzelwissenschaften durch.47 Dennoch gibt es auch Transformationen in andere Wissens- und Handlungsbereiche, die über den Rahmen der Wissenschaften hinausreichen, so in religiöser und moralischer, aber eben auch ästhetischer und poetischer Hinsicht.48 Sowohl im Hinblick auf die bewusstseinsgebundene Konstitution von Wirklichkeit als auch im Hinblick auf die einzig mögliche Erweiterung eines streng empiristischen Subjektivismus durch 42 43 44

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Vgl. hierzu Wolfgang Röd: Geschichte der Philosophie. Bd. 8: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau. München 1984, S. 28ff. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1981, S. 357ff. Vgl. hierzu u. a. Michel Vovelle: Der Mensch der Aufklärung. In: Der Mensch der Aufklärung. Hg. v. M. V. Frankfurt a. M., New York 1996, S. 7–41; Barbara Stollberg-Rillinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2000 (RUB 17025), S. 176f. Vgl. hierzu auch in Ansätzen Bray: Epistolary Novel. Zu einem Beispiel für eine ideengeschichtlich anschlussfähige Form von Sozialgeschichte der Literatur vgl. Daniel Fulda: Schau-Spiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 102). Vgl. hierzu u. a. Hans-Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiehistorischen Schemas. Paderborn 1996; The Sciences in Enlightened Europe. Ed. by William Clark, Jan Golinski, Simon Schaffer. Chicago, London 1999 oder auch Ilse Jahn: Biologische Fragestellungen in der Epoche der Aufklärung (18. Jh.). In: Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiografien. Hg. v. I. J. Hamburg 3 2004, S. 231–273. Die grundlegende Bedeutung des englischen Empirismus und Sensualismus für die Künste der Aufklärung hat schon Gerhard Sauder (Empfindsamkeit, S. 65ff.) betont; vgl. ebenso Sven Aage Jørgensen, Klaus Bohnen, Per Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. 1740–1789. München 1990 (Geschichte der deutschen Literatur 6), S. 49ff.; Walter Göbel (Der Shaftesbury-Mythos. Zum Verhältnis von Philosophie und Empfindsamkeit in England. In: Anglia 110 (1992), S. 100–118) hat diesen Zusammenhang bezweifelt; erst Jan Engbers (»Moral-Sense«) hat ein differenziertes Modell dieses Bedingungsverhältnisses vorgelegt.

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intersubjektive Korrelation erweist sich der Briefroman als ideale literarische Gestaltungsform.49 Seine gegenüber der Philosophie und den Wissenschaften besondere Leistung besteht darin, dass er das empiristische Konzept nicht mehr nur theoretisch postuliert, sondern in einer literarisch gestalteten empirischen Praxis auf seine Leistungen und Grenzen hin reflektiert. Eine solche literarische Reflexion aber ist keine schlichte Reproduktion oder ›Widerspiegelung‹ der genannten Epistemologie, sondern ein kritischer und daher eigengesetzlicher Transformationsprozess im Medium einer an Sinnlichkeit gebundenen Sprache.50 Der Briefroman ›repräsentiert‹ somit nicht das Bewusstsein51 oder spiegelt es – gleichsam als poetische Anwendung einer Theorie – wider, sondern er reflektiert die Möglichkeiten und Grenzen dieser empiristischen Weltanschauung in einer (fiktiven) Praxis.

2. Bewusstsein und Brief Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu. – Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war. Dieses Prinzip des epistemologischen Empirismus hat sich seit jeher52 programmatisch des nisi intellectus ipse Leibnizens entschlagen53 und erst recht der hegelschen These, dieses Gesetz gelte ebenso wie seine Umkehrung.54 Seit John Locke kommt dem zuvor vermögenspsychologisch formulierten Grundsatz allerdings der Status eines erkenntnistheore-

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Vgl. hierzu auch Bray: Epistolary Novel. Zu dem hier zugrunde gelegten Reflexionsbegriff vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 6: Wissenschaft der Logik II. Frankfurt a. M. 1986 (stw 606), S. 24–35. Vgl. dazu Bray: Epistolary Novel, S. 14ff. Zum scotistischen Hintergrund dieser These vgl. Paul F. Cranfield: On the Origin of the Phrase nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu. In: Journal of the History of Medicine 25 (1970), S. 77–80. Gottfried Wilhelm Leibniz: Betrachtungen über die Lehre von einem einigen, allumfassenden Geiste (1702). In: G. W. L.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Hg. v. Ernst Cassirer. Bd. 2. Hamburg 31966, S. 48–62, hier 54. »Es ist ein alter Satz, der dem Aristoteles fälschlicherweise so zugeschrieben zu werden pflegt, als ob damit der Standpunkt seiner Philosophie ausgedrückt sein sollte: ›nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu‹, – es ist nichts im Denken, was nicht im Sinne, in der Erfahrung gewesen. Es ist nur für einen Mißverstand zu achten, wenn die spekulative Philosophie diesen Satz nicht zugeben wollte. Aber umgekehrt wird sie ebenso behaupten: ›nihil est in sensu, quod non fuerit in intellectu‹, – in dem ganz allgemeinen Sinne, dass der nous; und in tieferer Bestimmung der Geist die Ursache der Welt ist, und in dem näheren, dass das rechtliche, sittliche, religiöse Gefühl ein Gefühl und damit eine Erfahrung von solchem Inhalte ist, der seine Wurzel und seinen Sitz nur im Denken hat.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Hg. v. Karl Markus Michel u. Eva Moldenhauer. Bd. 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. Frankfurt a. M. 1986, S. 51f. (§ 8A).

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tischen Prinzips zu,55 das als Fundamentalgesetz aller Theorie und Praxis dienen soll und damit neben der Psychologie und Erkenntnistheorie auch eine übergreifende Wissenschaftsmethodologie bedingt: Let us then suppose the mind to be, as we say, white paper, void of all characters, without any ideas: – How comes it to be furnished? Whence comes it by that vast store which the busy and boundless fancy of man has painted on it with an almost endless variety? Whence has it all the materials of reason and knowledge? To this I answer, in one word, from Experience. In that all our knowledge is founded; and from that it ultimately derives itself. Our observation employed either, about external sensible objects, or about the internal operations of our minds perceived and reflected on by ourselves, is that which supplies our understandings with all the materials of thinking. These two are the fountains of knowl56 edge, from whence all the ideas we have, or can naturally have, do spring.

Beobachtung und Erfahrung bilden also spätestens seit 1690 die unübersteigbaren Grundlagen empiristischer Epistemologie und Methodologie.57 Das hat Auswirkungen auf weite Teile der Wissenschaften: Der Ausgang und das – schon bei Locke – nur problematische Hinauskommen über das an die Sinne gebundene menschliche Bewusstsein58 hat über die Ausformung einer entsprechenden, konsequent utilitaristischen Moralphilosophie eminente Auswirkungen auf Status und Gehalt theoretischer und praktischer Anthropologie, die spätestens mit David Humes epochalem Modell die Theologie als materiale Grundlagenwissenschaft ablöst: Here then is the only expedient, from which we can hope for success in our philosophical researches, [...], to march up directly to the capital or center of these sciences, to human nature itself; which being once masters of, we may every where else hope for an easy victory. [...] There is no question of importance, whose decision is not compriz‘d in the science of man; and there is none, which can be decided with any certainty, before we become acquainted with that science. In pretending therefore to explain the principles of human nature, we in effect propose a complete system of the sciences, built on a foundation almost entirely new, and the only one upon which they can stand with any security. And as the science of man is the only solid foundation for the other sciences, so the only solid 59 foundation we can give to this science itself must be laid on experience and observation.

Die europaweit Auswirkungen zeitigende empiristische ›Revolution der Denkungsart‹, die von der Erkenntnistheorie ausgehend über die Moralphilosophie 55

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Zu diesem die Aufklärung von der Frühen Neuzeit trennenden Unterschied zwischen Erkenntnislehre und Erkenntnistheorie, die allererst durch Locke ausgeführt wurde, vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Bd. 2. Berlin 31922 [ND Darmstadt 1991], S. 227. Locke: Versuch, Bd. 1, S. 106f. (II, 1). Vgl. hierzu auch Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 31973, S. 131. Vgl. hierzu Jürgen Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie. Berlin 1969, S. 400ff. David Hume: A Treatise of Human Nature. Ed. by David Fate Norton, Mary J. Norton. Oxford 2000, p. 4; zu Humes Rolle in der Entstehung und Entwicklung einer Anthropologie der Aufklärung vgl. u. a. Marina Frasca-Spada: The Science and Conversation of Human Nature. In: The Science in Enlightened Europe. Ed. by William Clark, Jan Golinski, Simon Schaffer. Chicago, London 1999, p. 218–245.

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in ihrer ethischen und politischen Ausprägung zu einer Fundamentalanthropologie führte,60 bleibt nicht auf den engeren Bereich wissenschaftlicher Philosophie oder der Einzelwissenschaften begrenzt: »But let us have recourse to experience«,61 ruft Jeremy Bramble mehr als einmal in seinen Briefen aus, die kritisch die seines Onkels Matthew Bramble in Smolletts Humphry Clinker begleiten; und Letzterer nimmt für sich in Anspruch: »I have done with the science of man […].«62 Wenn Hume daher am Ende seiner Enquiry concerning human understanding dazu aufruft, alle Bücher, die nicht mathematischen, naturwissenschaftlichen oder empirisch-moralphilosophischen Inhalts sind, den Flammen zu übergeben – und damit meint er vor allem solche theologischen und metaphysischen Inhalts – ,63 dann kann man sich nicht nur die wissensgeschichtlichen und kulturellen Voraussetzungen, die zu diesem Postulat führten, sondern auch die theoretischen und praktischen Konsequenzen, die aus ihm resultieren, nicht grundstürzend genug vorstellen. »I will abide by that experiment«,64 freut sich Bramble im Zusammenhang der Ausübung von Erziehungsprinzipien und zeigt so, dass die empiristische Epistemologie und Methodologie 1771 längst die Alltagswelt organisierte, weil Beobachtung und Experiment zu Indikatoren für lebensweltlich relevante Fragen wurden. Dass alles nicht »der Beobachtung und Erfahrung« entspringende Wissen keinerlei Dignität beanspruchen konnte,65 veränderte als formale Doktrin also nicht nur die Wissenschaften, sondern als materiale Überzeugung auch Mentalitäten und Handlungszwecke des Alltags, mithin geltende Weltanschauungen.66

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Vgl. hierzu u. a. Cassirer: Aufklärung, S. 155f.; Wolfgang Pross: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. In: Johann Gottfried Herder: Werke. Hg. von W. P. Bd. 2. Darmstadt 1987, S. 1128–1216; John H. Zammito: Kant, Herder, and the Birth of Anthropology. Chicago 2002; Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 25). Tobias Smollett: The Expedition of Humphry Clinker. Ed. with an Introduction and Notes by Lewis M. Knapp. Revised by Paul-Gabriel Boucé. Oxford, New York 1984, p. 51. Ebd., p. 107. David Hume: Enquiry concerning human understanding. Ed. by Lewis A. Selby-Bigge. Oxford 21984, p. 165: »When we run over libraries, persuaded of these principles, what havoc must we make? If we take in our hand any volume; of divinity or school metaphysics, for instance; let us ask, Does it contain any abstract reasoning concerning quantity or number? No. Does it contain any experimental reasoning concerning matter of fact and existence? No. Commit it then to the flames: for it can contain nothing but sophistry and illusion.« Smollett: Humphry Clinker, p. 52. Vgl. erneut Hume: Enquiry, p. 7. Zum Begriff der ›Weltanschauung‹ als historiographischer Kategorie vgl. Horst Thomé: Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts ›Weltanschauung‹ und der Weltanschauungsliteratur. In: Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag. Hg. v. Werner Frick [u. a.]. Tübingen 2003, S. 387–401.

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Kaum der Erwähnung bedarf es, dass diese skizzenhaften ideengeschichtlichen Ausführungen weder auf eine aufklärerische Heldengeschichte noch auf den Nachweis einer intensiven Empirismus-Rezeption durch die jeweiligen Briefromanen-Autoren67 oder gar auf eine schlichte ›Widerspiegelung‹ von Theorie in Literatur abzielen. Vielmehr dient diese Überlegung als Hinweis auf die prägende Stellung eines neuen philosophischen Konzepts für die Einzelwissenschaften, aber auch für das soziokulturelle Zeitgeschehen des 18. Jahrhunderts, ganz im Sinne der hegelschen Formel, dass Philosophie ihre Zeit in Gedanken fasst.68 Dass man nur erfahrungsfundierten Wissen trauen könne und dürfe, musste erst einmal gedacht und in seinen unerhörten Konsequenzen durchdacht werden. Zu diesen Gedanken, die sich in John Lockes, David Humes oder Adam Smiths Philosophien kristallisieren, gehört auch, dass sie ihre philosophischen Programme ausdrücklich in praktischer Absicht verfassten.69 Nicht erst die französische und deutsche Popularphilosophie,70 sondern schon Systematiker des britischen Empirismus pflegten das Postulat einer engen Verknüpfung von philosophischer Theorie und gesellschaftlicher Praxis. Mit allem Nachdruck verweist Hume im Treatise of human nature auf die pragmatische Ausrichtung seiner umfassenden Anthropologie, deren erkenntnistheoretischer Ausgang bei den sinnlichen Vermögen des Menschen über den naturwissenschaftliche Evidenz beanspruchenden Nachweis des unübersteigbaren Fundaments aller Moralität im moralischen Gefühl auf eine Veränderung der lebensweltlichen Praxis abzielt: It is certain that the easy and obvious philosophy will always, with the generality of mankind, have the preference above the accurate and abstruse; and by many will be recommended, not only as more agreeable, but more useful than the other. It enters more into common life; moulds the heart and affections; and, by touching those principles which actuate men, reforms their conduct, and brings them nearer to that model of perfection which 71 it describes.

Dieser systemkonstitutive Nutzen, den Hume in der für ihn unhintergehbaren Anthropologie als Grundlagenwissenschaft für Logik, natürliche Religion, 67

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Smolletts Hume-Lektüre ist allerdings bekannt. Vgl. hierzu schon: Milton Alan Goldberg: Smollett and the Scottish School. Studies in Eighteenth Century Thought. Albuquerque 1959. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Hg. v. Karl Markus Michel u. Eva Moldenhauer. Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt a. M. 1986, S. 26; zur These eines ideengeschichtlichen Zusammenhang zwischen Humes Philosophie und der Entwicklung der literarischen Gattung Briefroman vgl. auch Bray: Epistolary Novel, p. 92ff. Vgl. hierzu Heiner F. Klemme: Die praktische Bedeutung metaphysischer Untersuchungen. In: David Hume. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Hg. v. Jens Kulenkampff. Berlin 1997 (Klassiker Auslegen 8), S. 19–35. Vgl. hierzu Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. Hume: Enquiry, p. 7.

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Moral und Ästhetik sieht, ist aber nicht ausschließlich ein theoretischer, im Sinne präzise begrenzter und so bestimmter Evidenz und vollständiger Systematizität aller Wissenschaften; er ist auch und in besonderem Maße ein praktischer im Sinne einer moralischen Fundierung des Gemeinwesens. Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass für Hume die erkenntnistheoretische und die moralisch-praktische Dimension seines philosophischen Modells auf empiristischer Grundlage als Momente einer Konzeption vermittelt sein sollen.72 Eine der bedeutenden Leistungen jener empirischen Erkenntnistheorie besteht – wie schon erwähnt – in dem Nachweis einer strengen Bewusstseinsimmanenz aller Erkenntnis und alles Wissens. Zu den Objekten der Vorstellung hat der Mensch hiernach ausschließlich Zugang im Medium der Vorstellung, in strenger Konsequenz kommen wir über sie nicht hinaus. In einer der prägnantesten Beweisführungen dieser These, in dem Essay on Consciousness eines unter dem Namen Pseudo-Mayne anonym publizierenden Autors aus dem Jahre 1728, heißt es dazu: And whereupon it follows, that Consciousness is indeed the basis and Foundation of all Knowledge whatsoever; in asmuch as whatever I know or apprehend of a thing by observing it, and reflecting on it with my Understanding, depends altogether on my first considering and regarding it as an Object, or something which hath such a certain Appearance to 73 me in my perceiving it.

Noch in den 1780er Jahren reproduziert Johann Karl Wezel, einer der wichtigsten deutschsprachigen Empiristen des Zeitalters, dieses Grundlagentheorem: Wir kennen die nächsten Gegenstände um uns […] und […] die Dinge, die in mir vorgehen, nur durch meine Vorstellung und mein Bewußtsein, was zu diesen beiden nicht gelangt, weder durch unmittelbare Empfindung, noch durch Bobachtung, noch durch Schlüsse, das ist für mich nicht in der Welt: wie alles in und außer mir meinem Bewußt74 seyn und meiner Vorstellung erscheint, so ist es für mich.

Dass dieses Theorem strenger Bewusstseinsimmanenz aller Erkenntnis und alles Wissens erhebliche Schwierigkeiten mit sich führte, liegt auf der Hand. Nicht nur diverse Skeptizismen, sondern gar der subjektive Idealismus Berkeleys, jener »Skandal der Philosophie und der allgemeinen Menschenvernunft«,75 wie Kant sagen wird, dräuten am Horizont. Wichtiger als solcherart schnell auftretende Abwehr ist jedoch, die entscheidende systematische Leistung dieser Kon72 73

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Vgl. hierzu Klemme: Praktische Bedeutung, S. 20ff. Pseudo-Mayne: Über das Bewusstsein (1728). Englisch-Deutsch. Übersetzt und mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. v. Reinhard Brandt. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek 358), S. 8. Johann Karl Wezel: Versuch über die Kenntniß des Menschen. In: J. K. W.: Gesamtausgabe in acht Bänden. Hg. v. Klaus Manger. Bd. 7: Versuch über die Kenntnis des Menschen. Rezensionen. Schriften zur Pädagogik. Hg. v. Jutta Heinz u. Cathrin Blöss. Heidelberg 2001, S. 7–281, hier S. 2716–282. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. v. Raymund Schmidt. Mit einer Bibliographie v. Heiner Klemme. Hamburg 31990, B XXXIX.

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zeption herauszuarbeiten und damit die Gründe ihrer historischen Geltung zu reflektieren: Nach dieser Theorie bedarf das Bewusstsein zur Konstitution von Wissen und Wahrheit keiner vorausgesetzten extramentalen Instanz, deren Existenz- und Funktionsnachweis stets nur innermental erfolgen könnte. Noch bei Descartes76, Leibniz und Wolff77 oder den theonomen Epistemologien in der Nachfolge Philipp Melanchthons oder Francisco Suárez bleibt die Gottesinstanz als Vermittlung von Gegenstand und Vorstellung in einer essentiellen Funktion – und sei es zur Kompensation des Sündenfalls.78 Davon kann sich der empiristische Bewusstseinsbegriff endlich lösen, weil er (noch in seiner transzendentalen Variante) nur in sich selbst die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis suchen und finden kann; was liegt also näher, als sich von dem Rückgriff auf solcherart Instanzen – seien sie Gott oder die Natur – zu verabschieden und sie im Bewusstsein selber zu fundieren. Tatsächlich ist der Ausgang vom Menschen, den Hume als einzig evidenzermöglichende Erkenntnisgrundlage postulierte, kaum konsequenter als in dieser – Erkenntnistheorie als Erkenntnisgenese betreibenden79 und damit auch methodisch empiristischen – Bewusstseinstheorie umgesetzt.80 Auf der Grundlage dieser Konzeption ist jedoch der Verzicht auf eine Wahrheit oder Moralität garantierende extramentale Instanz nicht nur möglich, sie ist notwendig – und an dieser Stelle lassen sich Gründe für eine zeitweilige Distanz zur heterodiegetischen Erzählerinstanz bzw. für die starke Konkurrenz durch eine epistolare Homodiegese im 18. Jahrhundert namhaft machen. Schon Rudolf Picard hatte festgestellt, dass im Briefroman – im Gegensatz zu früheren, aber auch zu späteren Romantypen – die Reflexion des Helden die Narration in formaler und gehaltlicher Hinsicht stärker prägt als dessen Taten steht: Eine solche Wendung in der Darstellungstechnik des Romans kann als ästhetische Parallele zu den Wendungen von der scholastischen zur erkenntnistheoretischen Philosophie verstanden werden. Die reflektorisch durchgestaffelte, aus dem Zweifel sich nährende subjektive Perspektive der dargestellten Personen entspricht in dem Jahrhundert der erkenntnistheoretischen Philosophie einer modernen Denk- und Darstellungsweise. Es ist diejenige

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Zur konstitutiven Funktion der Gottesinstanz in Descartes’ Wahrheitstheorie vgl. Wolfgang Röd: Descartes. Die Genese des cartesianischen Rationalismus. München 31995, S. 102ff. Zur anthropologischen und epistemologischen Stellung der prästabilierten Harmonie vgl. Engfer: Empirismus versus Rationalismus, S. 165ff. Zur melanchthonischen Epistemologie vgl. Gideon Stiening: »Deus vult aliquas esse certas noticias«. Philipp Melanchthon, Rudolf Goclenius und das Konzept der notitiae naturales in der Psychologie des 16. Jahrhunderts. In: Philipp Melanchthon und die Marburger Professoren (1527–1627). Ausstellungskatalog. Hg. v. Barbara Bauer. Bd. 2. Marburg 1999, S. 757–787; zu Suárez: Christian Schäfer: ›Freedom‹ or ›Liberty‹? Der freie Mensch in der (spät)scholastischen Deutung von De anima. In: Politische Metaphysik. Die Entstehung moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Scholastik. Hg. v. Matthias Kaufmann u. Robert Schnepf. Frankfurt a. M. 2007, S. 85–105. Vgl. hierzu u. a. Cassirer: Aufklärung, S. 229 und 232ff. Röd: Philosophie der Neuzeit 2, S. 313ff.; Engfer: Empirismus versus Rationalismus, S. 316ff.

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literarische Form, die wesentlich geeignet ist, die Leistungen des Verstandes in literari81 sches Abbild zu bringen.

An diese These lässt sich vor dem Hintergrund der obigen Skizze zur empiristischen Kultur des 18. Jahrhunderts anschließen, und zwar durch Präzisierung in methodischer und systematischer Hinsicht: Systematisch lautet diese Verdichtung, dass es nicht Erkenntnistheorie überhaupt, sondern die Bewusstseinsimmanenz und damit die Negation eines Bezuges auf extramentale Instanzen entwerfende empiristische Erkenntnistheorie war, die einen wohl begründeten Bezugs- und d. h. Legitimationsrahmen und daher ein poetisches Interesse für die strenge Bindung der Darstellung von Welt – was für den Roman natürlich Handlung und sei es Reflexionshandlung82 ausmacht – an das Bewusstsein empirischer, innerweltlicher Individualität bot.83 Methodisch lässt sich mithilfe des Begriffes vom Kontext84 die These Picards, dass es sich beim Briefroman um eine »ästhetische Parallele« handele, dahingehend präzisieren, dass das Wissen um die Bindung alles Wissen und aller Wahrheit an das empirische Bewusstsein eine konstitutive Voraussetzung dafür abgibt, die erzählte Welt ausschließlich subjektiv zu perspektivieren: Das Streben nach psychologischem Realismus führt im 18. Jahrhundert zu einer Darstellungsweise, in der sich die Personen mit ihrer eigenen Verstandesleistung erfassen und ihr Sein und ihre Gefühle, wenn nicht bewältigen, so doch in Erscheinung bringen. Die Darstellungsweise, in der die Personen sich selbst reflexiv sichtbar machen, geht über die traditionellen Darstellungsweisen hinaus, die entweder in tragischer Überhöhung oder in 85 grotesker Sicht des Schwankes oder auch in moralistischer Beschreibung bestehen.

Noch aber leistet diese Argumentationsbewegung mit ihrer kontextualisierenden Konstellation weder für die spezifische Kontur des Briefes noch für die des Briefromans eine hinreichende Begründung; wir haben den Bedingungsfaktor für ein wesentliches Moment seiner Struktur, nämlich das Interesse an einer Bindung der dargestellten Welt an ein empirisches Bewusstsein entworfen. Isoliert ergäbe diese Überlegung auch einen angemessenen Bezugsrahmen für

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Picard: Illusion der Wirklichkeit, S. 19. In Hölderlins Hyperion ist die entscheidende Tat die Reflexionsleistung des in Briefen sich seines Lebens erinnernden Protagonisten; vgl. hierzu Stiening: Epistolare Subjektivität, S. 409ff. Vgl. hierzu auch schon Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968, S. 198ff. und Wilhelm Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: DVjS 45 (1971), S. 80–116. Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: »Und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei.« Zum Verhältnis von Wissen und Literatur am Beispiel von Goethes Die Metamorphose der Pflanzen. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge der Literaturwissenschaft. Hg. v. Tilmann Köppe. Berlin, New York 2010 (linguae & litterae 4), S. 192–213. Picard: Illusion von Wirklichkeit, S. 13.

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die Konfessionsliteratur oder die Tagebuchkultur des 18. Jahrhunderts.86 Beide aber – und das ist für eine zu entwerfende historische Briefromantheorie von essentieller Bedeutung – sind in Form und Gehalt von der epistolarer Narration substanziell zu unterscheiden.87 Eine Abgrenzung wird möglich durch das zweite konstitutive Moment, das sowohl die Epistolarität der Reflexion überhaupt als auch unterschiedliche Ausprägungen des Briefromans bedingt. Dieses Moment lässt sich mit einem Rekurs auf die oben angedeuteten Aporien eines strengen Empirismus näherhin erläutern: In engem Zusammenhang mit dem Problem des Außenweltskeptizismus generiert die These von der strengen Bewusstseinsimmanenz alles Wissen und Handelns nämlich die Gefahr des Solipsismus, der sowohl in epistemologischer als auch in moralischer Hinsicht kontroverse Auswirkungen zeitigte – wie Berkeley dokumentierte.88 Mehr entschärft als aufgehoben wird diese Gefahr innerhalb des Empirismus durch eine konsensualistische Wahrheitstheorie und eine naturalistische Ethik, deren Geltungsüberprüfung intersubjektiv erfolgt.89 Descartes’ Weg aus der Immanenz des cogito, der nicht nur eine Substanzialisierung der Materie,90 sondern auch eine beide Substanzen vermittelnde rationale Gottessubstanz erforderte, war dem Empirismus stets versperrt: Mit Substanzen hatte schon Locke seine Schwierigkeiten91 und für Hume gehören sie – wie erwähnt – ins Feuer.92 Der Empirismus strenger Observanz ist mithin in theoretischer und praktischer Hinsicht an Modelle der Intersubjektivität und Interpersonalität gebunden, weil das stets an seine selbsteigenen, unmittelbar bewussten Vorstellungen gebundene Subjekt zur Überprüfung ihrer Wahrheit und Gültigkeit anderer Subjekte bedarf. Das Subjekt des Empirismus drängt

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Vgl. hierzu Sibylle Schönborn: Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode. Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 68). Es gehört seit den wegweisenden Arbeiten von Miller (Der empfindsame Erzähler) und Voßkamp (Dialogische Vergegenwärtigung) zumindest in der deutschsprachigen Forschung zum Briefroman zum guten Ton, die formale Besonderheit der novel in letters durch eine Analogie mit anderen Gattungen – zumeist dem Drama (für den polylogischen) oder dem Tagebuch (für den monologischen) – zu definieren. Solcherart Hilfskonstruktionen, die eine literarische Gattung durch eine andere zu erklären suchen, erschweren allerdings nicht nur eine konstruktive Gattungstheorie, sondern verhindern jene Kontextualisierungen, die zum Behuf einer angemessenen historischen Gattungsdefinition tatsächlich erforderlich sind. Vgl. Röd: Philosophie der Neuzeit 2, S. 111ff. Vgl. hierzu den Überblick bei David Fate Norton, Manfred Kuehn: The Foundation of Morality. In: The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. Ed. by Knud Haakonssen. Vol. 2. Cambridge 2006, p. 939–985. Vgl. Michaela Boenke: Körper, Geist, Spiritus. Psychologie vor Descartes. München 2005 (Humanistische Bibliothek 1, 57), S. 211ff. Locke: Versuch, Bd. 1, S. 366ff. (II, 23 u. 24); vgl. hierzu auch Michael Ayers: Die Idee von Kraft und Substanz (Essay II.xxi, xxiii, xxvi; III.vi). In: Udo Thiel (Hg.): John Locke, S. 119–148. Vgl. Hume: Enquiry, p. 165.

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also, um sich in seinen Vorstellungen von den ›Träumen eines Geistersehers‹ garantiert zu unterscheiden und der richtigen Inhalte sowie der Obligationsmacht seiner Werte zu vergewissern, zum intersubjektiven Austausch oder zur Kommunikation: Dass sich dieses ebenso an seine Vorstellungen wie an die anderer gebundene empirische Subjekt des Briefes bedient, um sich seiner bewusst und gewiss zu werden, zu sein und zu bleiben, hat eine Fülle polit-, sozial- und kulturgeschichtlicher Voraussetzungen. Dennoch bietet keine andere Reflexionsform dieses Zeitraums eine der entworfenen wissensgeschichtlichen Konstellation angemessenere poetische Realisations- und Reflexionsmöglichkeit, so dass der Brief im Zeitalter des Empirismus eine diesem Kontext entsprechende Stellung erhalten muss. Erst der Brief ermöglicht reflektiertes Selbstbewusstsein in und durch interpersonale Korrelation,93 und erst eine Reihe von Briefen entwirft eine an empirisches Bewusstsein gebundene Welt. Dabei zeichnen sowohl den Empirismus94 als auch seine poetische Reflexion einige Konzeptionsbrüche aus, die vergleichbare Ursachen haben: Schon John Locke hatte die These von der ausschließlichen Bewusstseinsimmanenz aller Erkenntnis mit der Behauptung verbunden, natürlich gäbe es eine die Vorstellung der Dinge verursachende bewusstseinsunabhängige Außenwelt dieser Dinge.95 Locke entkommt dem als obskur zurückgewiesenen Außenweltskeptizismus nur durch schlichte, seiner Epistemologie gegenüber äußere Setzung, d. h. dass es so etwas wie eine gegenüber dem Kosmos der Vorstellungen (ideas) unabhängige Welt der Dinge gibt, kann Locke nicht ableiten; man muss es ihm einfach glauben. Zu Recht spricht Hegel von einem »metaphysizierenden Empirismus«,96 der zudem ohne größere Schwierigkeiten auf einen Gottesbegriff zurückgreifen kann.97 Analoges gilt für den Briefroman: Diese Gattung, die sich des alter deus der heterodiegetischen Erzählerinstanz entschlagen muss, greift – wie Locke – auf zwei Surrogate transmentaler bzw. überbewusster Observanz zurück: Herausgeber und Leser. Dabei verlagert die Leserinstanz den Konflikt um die Grenzen der Subjektivität nur in den Rezeptionsvorgang, verlängert also die epistemologischen Aporien des Empirismus; der notwendig interpretierende Leser garantiert ebenso wenig wie einer der Briefschreiber die Objektivität der Perspektiven. Einzig die Herausgeberinstanz, die den Schein einer Authentizitätsfiktion98 93 94 95 96

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Vgl. hierzu ähnlich Wegmann: Diskurse, S. 73–80. Vgl. hierzu u. a. die präzisen Ausführungen bei Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung, S. 400–411. Locke: Versuch, Bd. 2, S. 310ff. (IV, 10). Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Hg. v. Karl Markus Michel u. Eva Moldenhauer. Bd. 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Frankfurt a. M. 1986, S. 209. Vgl. Locke: Versuch, Bd. 2, S. 295ff. (IV, 10). Zu Recht wies Rudolf Picard (Illusion von Wirklichkeit, S. 16) schon 1971 darauf hin, dass »die Werkimmanenz des Herausgebers vom Publikum gewußt« wurde, dass also der Schein empirischer Authentizität als Moment der ästhetischen Kontur der Gattung von Autor und Leser reflektiert wurde. Damit wird jedoch die in der nachfolgenden Forschung

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und bisweilen auch eine Verständniserleichterung beim schwierigen Entree in jeden Briefroman erwirken sollte,99 durchbricht durch Vor- und Nachreden sowie mithilfe von Anmerkungen den rein subjektiven bzw. intersubjektiven Darstellungsraum des Briefromankosmos. Neben den berühmten einleitenden Worten des Herausgebers in Goethes Werther sind es die schon berüchtigten Anmerkungen des autoritären Sammlers in Rousseaus Julie, die eine konstitutive Funktion für das narrative Ganze einnehmen: »Je n’ai guère besoin, je crois, d’avertir que, dans cette seconde partie et dans la suivante, les deux amants séparés ne font que déraisonner et battre la campagne; leurs pauvres têtes n’y sont plus.«100 Mit solcherart Durchbrechung der individuellen Darstellungsperspektiven gingen die Autoren im 17. und 18. Jahrhundert allerdings höchst unterschiedlich um: Bisweilen fehlte eine Herausgeberinstanz völlig, wie bei Gabriel de Guilleragues’ Lettres portugaises oder in Samuel Richardsons Pamela, bisweilen aber kam dem Herausgeber eine starke Rolle zu, so in Goethes Leiden des jungen Werther oder Rousseaus Nouvelle Héloïse; doch dient der Herausgeber im Werther keineswegs als Authentifizierungsgarant, sondern vor allem als Instanz, die die Grenzen epistolar realisierbarer empirischer Individualität markiert: Der Tod entzieht sich dem empirischen Bewusstsein und damit der epistolaren Reflexion – und zwar apriori.101 Anders als Richardson und Rousseau, die eine Schilderung des Todes ihrer Protagonistinnen der Epistolargemeinschaft übertragen konnte, weil sie sie auch narrativ ausführten, zwingt der strenge Monoperspektivismus des Werther seinen Autor zum Rückgriff auf die Gottesinstanz: den Herausgeber, der in seiner Allmacht jedoch dem Sterbenden auch näher kommt als die beteiligten Briefschreiber. Diese vorläufigen Überlegungen zu einem konstitutiven wissensgeschichtlichen Kontext der Gattung Briefroman sollen nunmehr an ausgewählten Texten überprüft werden: Samuel Richardsons Clarissa, die zeitgenössisch ebenbürtige, heute jedoch weniger bekannte Expedition of Humphry Clinker Tobias Smolletts sowie die gattungsgeschichtlich wie konzeptionell weithin wirksame Nouvelle Héloïse Jean-Jacques Rousseaus. Sie wurden 1747/48, 1762 und 1771 publiziert und damit in einem Zeitrahmen, in dem das empfindsame Paradigma

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beliebte These von einer konstitutiven Authentizitätsfiktion des Briefromans unsinnig. Vgl. aber u. a. Annette C. Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1995, S. 128ff. sowie Arata Takeda: Die Erfindung des Anderen. Zur Genese des fiktionalen Herausgebers im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2008 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 656). Vgl. hierzu Miller: Der empfindsame Erzähler, S. 155f. Jean-Jacques Rousseau: Julie, ou: La Nouvelle Héloïse. Édition établie par Michael Launay. Paris 1967, p. 131. Vgl. hierzu erneut Picard: Illusion von Wirklichkeit, S. 119: »Der Briefroman hat durch seine Begrenzung auf die Selbstdarstellung der Helden im Wege der Reflexion verständlicherweise nicht die Möglichkeit, über den Tod des oder der Protagonisten unter strenger Beibehaltung der Personalperspektive hinauszukommen. Es muß die Handlung entweder von Nebenfiguren oder vom fingierten Herausgeber weitergeführt werden.«

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europaweit eine weitgehende Diskursherrschaft behauptete. Dabei soll für alle drei Romane die je spezifische Gestaltung der Bewusstseinsimmanenz, der interpersonalen Korrelationen sowie deren literarisch gestalteten Grenzen demonstriert werden.

3. Clarissa oder über die Grenzen des Empirismus Blickt man auf die für die gattungstheoretische Frage wichtigsten Elemente des Richardson’schen Romans, ergeben sich folgende Zusammenhänge zwischen Form und Inhalt dieser novel in letters: Clarissa Harlowe, als titelgebende Protagonistin des Romans Tochter aus bürgerlichem Hause, wird durch eigene und Briefe ihrer Freundin Anna Howe als eine Person vorgestellt, die in einem tiefen moralischen Dilemma steckt: Ihre Familie wünscht die Heirat mit einem vermögenden Kandidaten, die die bestehenden familiären Besitzverhältnisse erheblich verbessern würde. Nicht nur Clarissas Eltern, auch ihr Bruder haben an diesem Arrangement ein erklärtes Interesse, obwohl sie von der fehlenden Zuneigung Clarissas zu diesem Kandidaten wissen. Zugleich wird Clarissa vom aristokratischen Intriganten Lovelace bestürmt und in geheime, weil verbotene Liebeshändel verstrickt. Diese Händel werden, weil Clarissa zur Bewahrung ihres kostbarsten Gutes in die Familienfestung eingekerkert wird, über heimliche Briefe ausgetragen. Und diese Briefe sind nicht nur Ausdruck ihrer emotiven Befindlichkeiten und Darstellung erlebter Ereignisse, sie sind zudem selbst handlungskonstitutiv.102 Diese Funktion ihrer Briefe und derjenigen Lovelaces wird Clarissa allerdings erst erkennen, als es zu spät ist: But their faults are their own, and not excuses for mine. And mine began early: for I ought not to have corresponded with him […] This last evil, although the remote yet sure conse103 quence of my first – my prohibited correspondence! by a father early prohibited.

Es zeigt sich in diesem Zusammenhang, dass Briefe, weil rein formale Reflexions- und Kommunikationsinstrumente, nicht nur Medien gelungener, d. h. hier moralisch intakter Interpersonalität sind, sondern auch Instrumente des durch sie im Rahmen empfindsamer Epistemologie an sich zu Verhindernden sein können: des moralisch Bösen. Es ist die Last konsensueller Wahrheits- und Moraltheorie, dass Kommunikation, die sie einzig verwirklichen können soll, zugleich auch missbraucht werden kann zu ihrem Gegenteil: zur Lüge und zur 102

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Zu dieser Unterscheidung von Briefen im Hinblick auf ihre Funktion innerhalb der darstellten Handlungen vgl. Altman: Epistolarity, p. 185–215 und Monika Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Héloïse und Laclos’ Liaisons Dangereuses. Tübingen 1990 (Romanica Monacensia 34), S. 31–33. Samuel Richardson: Clarissa or, the History of a young Lady. Ed. and introduced by John Butt. 4 vols. Vol. 1. London, New York 1967, p. 486.

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Amoralität. Es muss die an sich schöne, tugendhafte Seele Clarissas sein, die durch das epistolare Medium zur eigenen Lust104 und damit zum Ungehorsam gegenüber den Eltern verführt wird. Unter der Hand seiner schreibenden Protagonistin durchbricht Richardson die empfindsame Utopie einer tugendhaften Epistolargemeinschaft, weil er die moralische Indifferenz des kommunikativen Mediums inszeniert. Gleichwohl legt er sich bei dieser Enttarnung strenge Grenzen auf; denn vor dem Hintergrund dieser Last scheint es kein Zufall, dass die invisibel hand des Herausgebers den Lesern die verbotenen Liebesbriefe Clarissas an Lovelace vorenthält. Mit Ausnahme eines einziges Briefes, der – nach der Trennung von Lovelace verfasst – Clarissas zurück gewonnene moralische Integrität zum Ausdruck bringen soll – »the integrity of my heart«, wie sie schreibt –,105 dürfen wir nicht einen der offenbar zahlreichen und sicherlich langen Briefe an den Liebhaber lesen. Richardson muss nämlich als guter Konsensualist Clarissas Brieflichkeit, zu der sie zeitweise durch ›Isolationshaft‹ ausschließlich gezwungen ist,106 als moralisches Bollwerk noch nach ihrer als Fall interpretierten Vergewaltigung vorführen.107 Da erweisen sich dann Briefe eines Intriganten zum Kontrast durchaus nützlich; aber wie sollen Briefe aussehen, die Clarissa in jene Liebeshändel sich verstricken lassen, die sie mithin zur Unmoral treiben, ja als unmoralisch vorführen? Ausführlich vorgestellt wird dagegen Clarissas Rückkehr in das ethische gemeine Wesen der Familie, der sie sich in den Briefen an ihr Freundin Anna Howe langsam und wortreich unterwirft. Diese Läuterung traut Richardson der subjektiven Perspektive des Briefes und seiner Einbindung in die freundschaftliche Kommunikationsgemeinschaft zu; die vorhergehende Abkehr von ihr aber verfällt der Zensur des Herausgebers. Dem Leser bzw. der Leserin mag Richardson diese Amoralität seiner Protagonistin offenbar noch nicht zumuten. Rousseau wird das ändern und dennoch den Herausgeber noch weiter stärken.108 Der Gefahr der Erosion aller Epistolarität als Realisationsinstrument oder Medium moralischer Interpersonalität entgeht der Autor – wie Locke dem Außenweltskeptizismus – durch schlichten Eingriff von außen in die geschlossene Welt epistolarer Kommunikation. Der Herausgeber ist gegenüber dem geschlossenen Kosmos des empirischen Bewusstseins der beteiligten Briefschreiber jene

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Dass Richardson den Plot – trotz Vergewaltigung – auch um der (natürlich verbotenen) Lust seiner jungen Protagonisten willen schreibt, betont: Pascal Nicklas: The School of Affliction. Gewalt und Empfindsamkeit in Samuel Richardsons Clarissa. Hildesheim, Zürich, New York 1996 (Anglistische und amerikanistische Texte und Studien 9), S. 216ff. Richardson: Clarissa, vol. 1, p. 103. Vgl. hierzu zu Recht: Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a. M. 1979 (es 921), S. 213ff. Vgl. hierzu u. a. E. Derek Taylor: Reason and Religion in Clarissa. Samuel Richardson and ›the Famous Mr. Norris, of Bemerton‹. Farnham 2009, p. 50. Vgl. hierzu auch Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung, S. 203ff.

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metaphysische Hilfskonstruktion, die Schlimmeres zu verhindern helfen muss. Clarissas virtue – von den Genderstudies stets als Konstrukt männlicher Unterwerfungsphantasien kritisch analysiert109 – entpuppt sich als Produkt eines – quasi-okkasionalistischen – göttlichen Eingriffs in die Welt der Briefschreiber. Lovelace wird übrigens in diesem Konstrukt als Intrigant beschrieben und deshalb dürfen wir seine Briefe lesen. Denn er liebt Clarissa zunächst nicht, sondern will sie nur als weibliche Festung erobern. Der Marquise de Merteuille verwandt,110 legitimiert er dieses Eroberungsansinnen damit, von seiner ersten Liebe schmählich betrogen worden zu sein, so dass er nunmehr diese Untreue an ihrem ganzen Geschlechte rächen werde: It was in my early manhood – with that quality-jilt, whose infidelity I have vowed to revenge upon as many of the sex as shall come into my power. I believe, in different climes, 111 I have already sacrificed an hecatomb to my Nemesis, in pursuance of this vow.

Damit ist selbst der Verführer wenigstens halbwegs legitimiert. Vor allem aber wird er – nur noch auf Briefe angewiesen nach seiner letztendlichen Niederlage – zur wahren Liebe zu Clarissa und damit zum Guten konvertieren. Doch Richardson traut erneut der reinen Brieflichkeit dieser Konversion nicht über den Weg. In einem im letzten Drittel des umfangreichen Romans zunehmendem Maße meint er, den Bewusstseinswandel seines Antihelden mit kommentierenden Herausgeberfußnoten begleiten zu müssen; und schon zuvor betreibt er in ostentativer Weise eine Exkulpation Clarissas durch kommentierende Werturteile zu Lovelace: The reader who has seen his account, which Miss Howe could not have seen when she wrote thus, will observe that it was not possible for a person of her true delicacy of mind to 112 act otherwise than she did, to a man so cruelly and so insolently artful.

Richardson traut seiner epistolaren Kommunikationsgemeinschaft offenbar nicht zu, solcherart Werturteile deutlich genug auch beim Leser zu generieren.113 Ein außerweltlicher Normschöpfer muss die nur interpersonal garantierte und daher potentiell brüchige Werteordnung fundieren. Es sind die Aporien einer dem Empirismus entstammenden konsensuell-kommunikativen Wahrheitstheorie, die diesen ›Herausgebergott‹ hervorbringen. Vor aller Verschärfung des Konflikts durch Entführung und Vergewaltigung Clarissas steckt die Protagonistin jedoch schon in jenem Dilemma, das mit den

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Vgl. hierzu u. a. Barbara Vinken: Unentrinnbare Neugierde. Die Weltverfallenheit des Romans: Richardsons Clarissa und Laclos’ Liaisons dangereuses. Freiburg i.Br. 1991 (Litterae 14). Pierre Ambroise Choderos de Laclos: Les Liaisons dangereuses. Édition revue et corrigée par Yves Le Hir. Paris 1995, p. 174; ausdrücklich hält die Marquise nämlich in ihrem Bekenntnisbrief an Valmont fest, dass sie geboren sei, »pour venger mon sexe et maîtriser le vôtre«. Richardson: Clarissa, vol. 1, p. 145. Richardson: Clarissa, vol. 2, p. 156. Vgl. hierzu auch Picard: Illusion von Wirklichkeit, S. 53ff.

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gleichzeitigen Ansprüchen von Autonomie und Gehorsam einen Grundkonflikt der Aufklärung reflektiert: Ihrem in der empiristischen Ethik gut gegründeten Autonomiebegehren – in der Freiheit nämlich eigener Entscheidungen in solch lebenswichtigen Fragen wie Verehelichung – steht das in der Naturrechtstradition des 18. Jahrhunderts ebenso gut begründete Postulat der Gehorsamspflicht gegenüber den essentiellen Vergemeinschaftungsinstanzen Familie und Staat. So hält Rousseau im Contrat sociale unmissverständlich fest, »que l’essence du corps politique est dans l’accord de l’obéissance & de la liberté, & que ces mots de sujet & de souverain sont des corrélations identiques dont l’idée se réunit sous le seul mot de Citoyen.«114 Bekannt ist, dass dieses klassisch aufklärerische Dilemma zwischen den Ansprüchen innerer Freiheit und denen der – äußere Freiheit garantierenden – Gemeinschaftsinstanzen erst Immanuel Kant löste mit seiner Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft.115 In Clarissa löst sich dieses Dilemma mörderisch, nämlich im Tode der Protagonistin, der sich erst auf dem Sterbebett ihre Familie versöhnend wieder zuwendet und sie sich ihnen verzeihend: She waved her hand to us both, and bowed her head six several times, as we have since recollected, as if distinguishing every person present; not forgetting the nurse and the maidservant; the latter having approached the bed, weeping, as if crowding in for the divine lady’s blessing; and she spoke faltering and inwardly – Bless – bless – bless – you all – and – now – and now – [holding up her almost lifeless hands for the last time] come – O come – blessed Lord – JESUS! And with these words, the last but half-pronounced, expired: – such a smile, such a charming serenity overspreading her sweet face at the instant, as 116 seemed to manifest her eternal happiness already begun.

Weil der Empirismus mehr Schwierigkeiten mit dem Bösen als mit dem Tode hatte, kann Richardson diese Episode durchaus einem Freunde Lovelaces in die Feder diktieren; es ist zudem eine angemessene Sühne für den Verführer, der ob dieser Schilderungen in Wahn verfällt und stirbt. Innerhalb dieser Plotstruktur ist von konstitutiver Bedeutung, dass sich Clarissa, überwältigt von den zunehmenden Schwierigkeiten für sich und ihre Familie – immerhin duelliert sich Lovelace mit ihrem Bruder – den Gründen und der Struktur jenes Dilemmas zunächst nicht bewusst ist. Es bedarf vielmehr des den Schwerpunkt ihrer Korrespondenz ausmachenden Briefwechsels mit ihrer Freundin Anna Howe, damit sie sich allmählich nicht nur ihrer Fähigkeit, sondern ihres Willens zur unbedingten Gehorsamspflicht gegenüber der Familie einerseits und ihres ebenso unbedingten Willens nach innerer Freiheit bewusst wird. Letzteres wird allererst befördert durch die Liebe zu Lovelace, die sie sich allerdings zunächst nicht eingesteht. Auf alle drei Erkenntnisse wird Clarissa 114 115

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Jean-Jacques Rousseau: Du Contrat social ou Principes du Droit politique. Strasbourg 1791, p. 171 (CS, III, 13). Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: Kants Begriff des öffentlichen Amtes oder »Staatsverwaltung« zwischen Aufklärung und Rechtstaatlichkeit. In: Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 19 (2007), S. 141–169. Richardson: Clarissa, vol. 4, p. 347.

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mit allem Nachdruck von ihrer Freundin hingewiesen. Selten ist die interpersonale Vermittlung von im Bewusstsein hergestellter Personalität deutlicher vorgeführt worden als in diesem ersten Briefwechsel zwischen den beiden Freundinnen. Nicht nur weiß Anna viel früher als Clarissa, dass diese Lovelace liebt, sie hält ihr zugleich gegen ihre Unsicherheiten in Bezug auf die Fähigkeit zur Gehorsamspflicht energisch entgegen: »You are so obediently principled that perhaps you would have told a mild man that he must not entreat but command.«117 Neben der unübersehbaren geschlechterpolitischen Dimension zeigt ebendieses Urteil, dass Clarissa auf ihre Fähigkeit und ihren Willen zur Gehorsamspflicht nachdrücklich hingewiesen wird, und zwar von ihrer Vertrauen Anna. Zu Recht weist diese jener Fähigkeit den Status zu, einen Grundsatz auszubilden, »that constitute our political union«.118 Nur weil Clarissa also Briefe schreibt und mächtige Antworten von ihrer Freundin erhält, weiß sie schließlich um Gehalt, Struktur und Status des Dilemmas, in dem sie sich befindet. Dass weder die epistolare Gemeinschaft sie aus diesem Konflikt zu befreien noch der Herausgeber-Gott sie daraus zu erlösen vermag, sondern in ihm und durch es zerstören lässt, weist auf die für den Empirismus objektive Unlösbarkeit dieser Aporie zwischen prätendierter Autonomie und notwendiger Gehorsamspflicht gegenüber der political union hin. Wer seine Freiheit nutzt, um sich – den eigenen Lüsten folgend – den Gesetzen der ethisch-politischen Gemeinschaft im Medium des politisch und moralisch geschätzten Briefes zu widersetzen, darf sich zwar unter Anleitung wohlwollender Freunde epistolar die Rückkehr erkämpfen, diese Anstrengung aber übersteigt das menschliche Maß und endet daher im Tode durch Erschöpfung. Es sind Clarissas gegen die Familie missbrauchte Briefe an Lovelace, die ihr letztlich zum Verhängnis werden.

4. Pluralisierung und mangelnde Autorität – Smolletts Humphry Clinker Auch in Tobias Smolletts Humphry Clinker erscheint die Handlung in einer engen, ebenso kontroversen Verzahnung mit der epistolaren Form der Narration: Matthew Bramble, ein von psychosomatischen Krankheiten und deren hypochondrischer Überpotenzierung gequälter, gleichwohl gut betuchter Bürger, bereist auf Anraten seines Arztes Dr. Lewis die englischen Bäder, um sich Linderung zu verschaffen. Es entsteht bei dieser Rundreise über die britischen Inseln nach und nach das Sittengemälde einer zwar durchaus korrupten, von Einzelinteressen und Idiosynkrasien durchsetzten, aber letztlich stabilen Gesell-

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Richardson: Clarissa, vol. 1, p. 341. Ebd.

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schaft.119 Brambles Witz, sein Scharfsinn ebenso wie seine Unbestechlichkeit in theoretischer und praktischer Hinsicht, ja gar seine häufig versteckte, dennoch tief verankerte Mitleidsfähigkeit werden durch seine hypochondrischen Eigentümlichkeiten keineswegs unterminiert. Vielmehr werden seine Schilderungen und Urteile über Erfahrungen auf den verschiedenen Stationen seiner Bäderreise, die er regelmäßig, aber ausschließlich an Dr. Lewis übermittelt, durch die gleichzeitig verfassten Briefe der Mitglieder seiner zahleichen Entourage mal bestätigt, mal konterkariert, immer jedoch mit Momenten versehen, die Bramble nicht ausführte bzw. nicht ausführen konnte. Sowohl in normativer wie in deskriptiver Hinsicht ergänzen sich die verschiedenen Briefwechsel, und zeichnen erst in ihrer Kombination ein nicht vollends einheitliches Gemälde der britischen Gesellschaft im späten 18. Jahrhundert.120 Die Begrenztheit der subjektiven Perspektive auf Welt wird durch die parallelen Briefwechsel zwischen seinem Neffen Jerry Melford und einem Freund sowie seiner Nichte Lydia und deren Freundin ergänzt. Darüber hinaus gibt es noch Brambles heiratswütige Schwester und eine Dienerin, die beide aber zahlenmäßig geringere Briefwechsel mit ihren Adressaten führen. Smolletts komplex komponierter Briefroman wird also durch zwei, bisweilen fünf parallel geführte Briefwechsel konstituiert, die sich nicht überschneiden und deren Gemeinsamkeit die je geschilderten Erlebnisse und Erfahrungen auf der Reise ausmachen.121 Mit Humphry Clinker liegt mithin kein vollständig polyperspektivischer Briefroman vor,122 zumal die Schreiber von ihren Adressaten kaum je Antworten erhalten, sondern ein System von sechs monoperspektivischen Briefreihen, die gegenseitig diskursiv vermittelt werden – allerdings ausschließlich durch den Leser.123 Den entscheidenden Unterschied zu Clarissa macht neben dieser eigentümlichen formalen Konstruktion das gänzliche Fehlen von Herausgeberkommentaren aus. Nach der in rein satirischer Absicht ausgeführten Vorrede hält sich eine der epistolaren Reisegesellschaft gegenüber externe Instanz vollkommen zurück. Smollett vertraut – hierin als Hume-Kenner empiristischer als Richardson – seiner Diskursgemeinschaft in sowohl wahrheitstheoretischer als auch in moralischer Hinsicht. Eines der zentralen Themen der Briefe Brambles und seines Neffen ist die detaillierte Darstellung der Auflösung der Ständegesellschaft auf soziokulturel119 120 121

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Vgl. hierzu William L. Gibson: Art and Money in the Writings of Tobias Smollett. Lewisburg (Pennsylvania) 2007, p. 137–161. Vgl. hierzu auch ähnlich, allerdings mit anderen Schlussfolgerungen: Jerry C. Beasley: Tobias Smollett Novelist. Athens 1998, p. 183ff. Zu den Umfängen der jeweiligen Briefwechsel vgl. Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972 (UTB 163), S. 100f. Diese eigentümliche Konstruktion sich ergänzender Monologe verkennen Altman: Epistolarity, S. 200 und Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung, S. 32, weshalb deren Zuordnung des Humphry Clinker zur polylogischen Form unangemessen ist. Zur eigentümlichen Funktion des Lesers für den Clinker vgl. schon Iser: Der implizite Leser, S. 94ff.

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ler (nicht politischer) Ebene, »the general mixture of all degrees«. Den Anlass zu einer Reflexion auf diese soziokulturelle Erscheinung gibt zunächst die egalitarisierende Wirkung des Badeortes Bath: Here, for example, a man has daily opportunities of seeing the most remarkable characters of the community. He sees them in their natural attitudes and true colours; descended from their pedestals, and divested of their formal draperies, undisguised by art and affectation – Here we have ministers of state, judges, generals, bishops, projectors, philosophers, wits, poets, players, chemists, fiddlers, and buffoons. If he makes any considerable stay in the place, he is sure of meeting with some particular friend, whom he did not expect to see; and to me there is nothing more agreeable than such casual reencounters. Another entertainment, peculiar to Bath, arises from the general mixture of all degrees assembled in our public rooms, without distinction of rank or fortune. This is what my uncle reprobates, as a monstrous jumble of heterogeneous principles; a vile mob of noise and impertinence, with124 out decency or subordination.

Sind diese Nivellierungserscheinungen für Bramble also Grund zur Sorge und Wut, so kann sein Neffe, der hier berichtet, ihnen nur heitere Seiten abgewinnen: »But this chaos is to me a source of infinite amusement.«125 Politisch gefährlich sind diese Einebnungen also nicht. Werden diese Erscheinungen vom jungen Jeremy Bramble eher belustigt zu Kenntnis genommen und ausführlich beschrieben, so beklagt sich der alte Bramble über diesen Ordnungsverlust zunehmend abgestoßen; nicht nur im Badeort, sondern auch in der politischen Hauptstadt sieht Bramble das gesellschaftliche Chaos wüten: In short, there is no distinction or subordination left – The different departments of life are jumbled together – The hod-carrier, the low mechanic, the tapster, the publican, the shopkeeper, the pettifogger, the citizen, and courtier, all tread upon the kibes of one another: actuated by the demons of profligacy and licentiousness, they are seen every where rambling, riding, rolling, rushing, justling, mixing, bouncing, cracking, and crashing in one vile ferment of stupidity and corruption – All is tumult and hurry; one would imagine they were impelled by some disorder of the brain, that will not suffer them to be at rest. The foot-passengers run along as if they were pursued by bailiffs. The porters and chairmen trot with their burthens. People, who keep their own equipages, drive through the streets at full speed. Even citizens, physicians, and apothecaries, glide in their chariots like lightening. The hackney-coachmen make their horses smoke, and the pavement shakes under them; and I have actually seen a waggon pass through Piccadilly at the hand-gallop. In a word, the whole nation seems to be running out of their wits.126

Unübersehbar ruft Bramble in nur leicht ironisiertem Ton die Bilder der Apokalypse auf; soziale Nivellierung, moralische Depravation, Neuro- und Psychopathologien scheinen die Menschen des modernen London zu beherrschen. Aber Bramble ist nicht verängstigt, er ist wütend und verhalten kulturpessimistisch, während sein Neffe sich erneut belustigt zeigt.

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Smollett: Humphry Clinker, p. 48f. Ebd., p. 49. Ebd., p. 88.

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Entscheidend ist nun, dass die geschilderte Auflösung gesellschaftlicher Hierarchien durch das Arrangement der Briefe stärker noch realisiert wird als durch die in den Briefen dargestellten Begebenheiten. Denn trotz der unterschiedlichen Quantitäten wird keiner der Schreiber als privilegiert in seiner Darstellung der Ereignisse vorgeführt. Die innerfamiliär bestehende, oft energisch durchgesetzte Autorität Brambles wird durch die gleichzeitigen Briefe seiner Nichte, vor allem seiner Schwester und auch seines ihm wohlgesonnenen Neffen unterminiert; selbst die Magd Winifred Jenkins erhält ihre eigene Stimme, die bei allen sprachlichen Mängeln ihre eigene Legitimität hat; im Hinblick auf das von Bramble perhorreszierte London hält sie fest: O Molly! what shall I say of London? All the towns that ever I beheld in my born-days, are no more than Welsh barrows and crumlecks to this wonderful sitty! Even Bath itself is but a fillitch, in the naam of God – One would think there’s no end of the streets, but the land’s end. Then there’s such a power of people, going hurry skurry! Such a racket of coxes! Such a noise, and haliballoo! So many strange sites to be seen! O gracious! my poor Welsh brain has been spinning like a top ever since I came hither! And I have seen the Park, and the paleass of Saint Gimses, and the king’s and the queen’s magisterial pursing, and the sweet 127 young princes, and the hillyfents, and pye bald ass, and all the rest of the royal family.

Jenkins sieht also weder die gesellschaftliche Apokalypse noch eine soziale Komödie, sondern sie genießt ihre Neugierde auf das moderne Metropolenleben in vollen Zügen; keine der Sichtweisen auf die Weltstadt London wird jedoch der anderen vorgezogen.128 Als Briefschreiber hat Matthew Bramble alle Autorität verloren; er muss sich als einfaches Mitglied in der egalitär konkurrierenden Diskursgemeinschaft behaupten. Smollett löst dieses Dilemma keineswegs auf; die Synthesisleistung der Vervollständigung des Bildes, das durch die sich gegenseitig als Briefschreiber nicht wahrnehmenden Protagonisten entworfen wird, die sich in den Inhalten ihrer Briefe sowohl ergänzen als auch aufheben, wird ausschließlich dem Leser überantwortet. Smolletts Verzicht auf den Herausgeber überträgt die Wahrheits- und Gewissheitsgarantie an die intersubjektive Epistolargemeinschaft. Die Positionen ihrer Teilnehmer werden jedoch nicht in ihr, sondern nur vom Leser synthetisiert. Dieser aber reproduziert in seinen historisch, sozial oder kulturell unterschiedlich kontextualisierten Lektüren jene nur intersubjektive Wahrheitsgewissheit, die nur annäherungsweise zu vermitteln bleibt.129 127 128

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Ebd., p. 107f. Weil sie nicht auf die spezifische Erzählform reflektiert, übersieht Isabel Karremann (Männlichkeit und Körper: Inszenierungen eines geschlechtsspezifischen Unbehagens im englischen Roman des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Königstein i. Ts. 2010, S. 188ff.) diese relative Gleichheit der Urteile über London; Smolletts Kritik richtet sich eben nicht nur gegen bestimmte Erscheinungen der Moderne, sondern auch gegen deren Kritiker. So auch Iser, Der implizite Erzähler, S. 115, der eine Verknüpfung zu epistemologischen Fragen herstellt, weil auch für ihn »empirische Realität nicht mehr als Beglaubigung einer ihr vorausliegenden Vorstellung zu fungieren hat, sondern selbst gesehen werden soll. Ja es läßt sich sagen, daß empirische Wirklichkeit desto differenzierter erscheint, je mehr Modelle zu ihrer Betrachtung kombiniert werden. […] in jedem Falle aber zeigt die von

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›Welt‹ entsteht in der Expedition of Humphry Clinker ausschließlich über ein nicht vollends vermitteltes System subjektiver und als solche stark individualisierter Perspektiven, die grundsätzlich gleichwertig sind. Das Gewicht der briefsprachlich reflektierten und so fixierten Stimme ist sowohl gegenüber sozialen als auch gegenüber geschlechts- oder altersspezifischen Bedingungen indifferent. Selbst die durch ihre Sprache als Unterprivilegierte und damit dem bürgerlichen Stand ihrer Herrschaft nicht zugehörige Dienerin Jenkins ergänzt und konterkariert – wie gesehen – durch ihre Berichte die Aussagen anderer Briefschreiber – zumal die ihres Herren. Als epistolare ›Kommunikationsgemeinschaft‹, die sich ihrer selbst nicht bewusst ist, hat die Reisegesellschaft um Matthew Bramble soziale Hierarchien längst hinter sich gelassen. Wahrheit und Wirklichkeit ergibt sich in dieser Konstruktion ausschließlich aus einem Mosaik kommunikativen Handelns; dessen Rationalität und Wahrheitsgewissheit bleibt – weil sich Smollett der Herausgeberinstanz weitgehend entschlägt – ausschließlich intersubjektiv gebunden. Gleichwohl wirft dieser Briefroman letztlich ein kritisches Licht auf das empfindsame Modell einer epistolaren Gegengemeinschaft: Zwar kommt allen sechs Briefschreibern in der Konstitution von Wirklichkeit grundsätzlich jene beschriebene Gleichwertigkeit zu; dennoch bilden sie untereinander keine Gemeinschaft aus: Weil sie ihre je subjektive Perspektive über die gemeinsam erlebten Ereignisse an Briefpartner mitteilen, die der Reisegesellschaft nicht angehören, kommt es zu keiner intersubjektiven Korrelation dieser Sichtweisen – in wie reflektierter Form sie auch erfolgen. Beim Schreiben ihrer Briefe bildet die Reisegesellschaft keine Gemeinschaft aus, sondern konstituiert ein unvermitteltes Nebeneinander individueller Darstellungen der erlebten Wirklichkeit. Egalitär sind diese Perspektiven, gerade weil sie sich nicht miteinander abgleichen. Die epistolare ›Gegengemeinschaft‹ empfindsamer Provenienz wird von Smollett durch diese Konstruktion als abstraktes, streng subjektiviertes Nebeneinander gegeneinander isolierter Perspektiven enttarnt; der soziale Egalitarismus epistolarer ›Gemeinschaft‹ ist erkauft durch gegenseitige Isolation.130 Daher kommt dieser gesellschaftliche Hierarchien unterminierenden epistolaren Gegenkultur zwangsläufig das Telos der Selbstaufhebung zu: Gegen Ende der Reise weiß Bramble, dass seine körperlichen Gebrechen ihren wesentlichen Grund in mangelnder Bewegung haben; daraus zieht er nach seiner Rückkehr nach Brambleton Hall den folgenden Schluss:

130

Smollett praktizierte Technik, daß es eine unvermittelte Wiedergabe des Wirklichen nicht gibt.« So auch in Ansätzen, allerdings mit einer problematischen Anbindung an moderne Modelle sozialer Konstruktivismen Nicola Glaubitz: Der Mensch und seine Doppel. Perspektiven einer anthropologischen Denkfigur in Philosophie und Romans der schottischen Aufklärung. Sankt Augustin 2003 (Anglistik, Amerikanistik im Kontext 1), S. 111–118.

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Gideon Stiening As I have laid in a considerable stock of health, it is to be hoped you will not have much trouble with me in the way of physic, but I intend to work you on the side of exercise. – I have got an excellent fowling-piece from Mr Lismahago, who is a keen sportsman, and we shall take the heath in all weathers. – That this scheme of life may be prosecuted the more effectually, I intend to renounce all sedentary amusements, particularly that of writing long letters; a resolution, which, had I taken it sooner, might have saved you the trouble which you have lately taken in reading the tedious epistles of 131 Nov. 20. Matt. Bramble,

Es ist das Schreiben der Briefe selbst, das seine Gesundheit ruinierte und dem er nunmehr nach getaner Reise abschwören will; Briefeschreiben, zugleich poetische Bedingung der Möglichkeit einer Darstellung jener Reise durch England als Ensemble subjektiver Perspektiven unterminiert nicht nur die anthropologischen Grundlagen der menschlichen Existenz, seine Gesundheit, es desavouiert im Rücken der Schreibenden die sozialen Ordnungsstrukturen; machtvoller sind die Antinomien medialisierter Existenz132 kaum gestaltet worden.

5. La Nouvelle Héloïse oder Schreiben als Selbsttäuschung Mit Rousseaus 1761 erschienenem Briefroman liegt ohne Zweifel eines der formal komplexesten Beispiele der Gattung zur Mitte des 18. Jahrhunderts vor. Erst die Liaisons dangereuses als polylogischer sowie Werther und Hyperion als monologische Briefromane werden das Komplexitätsniveau der Nouvelle Héloïse in formaler Hinsicht übersteigen. Rousseau entwirft ein kompliziertes Netz epistolarer Briefwechsel, in dessen Zentrum zwar derjenige zwischen Julie und St. Preux steht; beide Protagonisten stehen jedoch zugleich mit einem vertrauten Freund bzw. einer vertrauten Freundin intensiv in Kontakt. Die Komplexität erhöht sich noch, weil beide Protagonisten auch mit diesen Freunden des bzw. der Geliebten Kontakt aufnehmen. Es entsteht also in der Tat ein sich mehrfach überschneidendes System von Briefwechseln, deren einzelne Stimmen – wie bei Smollett – vollkommen gleichberechtigt sind. Einzig die für die politische Theorie des zweiten Teils gewichtige Figur Wolmars, des Ehemanns von Julie, tritt als Briefschreiber kaum in Erscheinung. Als ›sanfter‹ »aufgeklärter Despot«133 des soziopolitischen Ideals der »Idylle Clarens« hat er den Zwang zur epistolaren Reflexion seines Erlebens längst überwunden. Wolmar handelt und muss also nicht mehr schreiben.134 131 132 133 134

Smollett: Humphry Clinker, p. 351. Vgl. hierzu u. a. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a. M. 2008, S. 23ff. Starobinski: Rousseau, S. 152. Dass epistolare Reflexion und politische Handlung einander ausschließen, wird sich in den Briefromanen nach der Französischen Revolution bestätigen – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Hyperion und Jacopo Ortis schreiben Briefe, weil für sie die politische Tat der revolutionären Umstürzung des Ancien Régime gescheitert ist.

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Obwohl Rousseau der Versuchung eines starken, stets kommentierenden Herausgebers unterlegen ist, bleiben die Briefe das eigentliche Darstellungsund Handlungszentrum, das durch den alter deus des Herausgebers in seiner Autonomie nicht gestört wird. Explizit hält dieser sich im Moment des größten Konfliktes aus der Erzählung zurück: Im Zusammenhang des tödlichen Ausgangs und der unverhofften Liebes-Beichten Julies lässt der Herausgeber jeden Kommentar vermissen: Julies Dilemma, das demjenigen Clarissas verwandt und doch ins Extrem unauflöslicher Widersprüche getrieben ist, kann kein Gott mehr auflösen – selbst der Herausgeber nicht. Diese relative Ohnmacht des gleichwohl wortgewaltigen Herausgebers hat u. a. damit zu tun, dass Rousseaus Briefstil den seiner Vorgänger im Genre des roman épistolaire im Hinblick auf die Darstellung expressiver Emotionen weit übertrifft. Der Autor macht in seiner zweiten Vorrede unmissverständlich deutlich, dass die Rhetorik dieser epistolaren Liebesrede eigenen Gesetzen folgt: »Que parlez-vous de lettres, de style épistolaire? En écrivant à ce qu’on aime, il est bien question de cela! ce ne sont plus des lettres que l’on écrit, ce sont des hymnes.«135 Im Hintergrund dieser Kritik jeglicher Briefrhetorik steht ein Verständnis von Individualität, das nicht allein die moralische und politische Problematik der Romanhandlung, sondern auch die narrative Form der Briefe konstituiert. Denn gelungene Individuation realisiert sich für Rousseau einerseits in einer bedingungslosen Abkehr von äußeren Einflüssen und andererseits durch eine unmittelbare Identität mit sich, die nur als Zustand des glücklichen, ekstatischen, zeitenthobenen Gefühls zu erlangen ist. Zu Recht spricht Jean Starobinski davon, dass Rousseau »nichts so liebt wie das Unmittelbare«.136 Einzige Ausnahme von dieser solipsistischen Individuation ist die ebenso reflexionswie körperfreie Vereinigung zweier Seelen in der Liebe, die sich idealiter in schweigender Seelenverwandtschaft, behelfsweise aber auch in epistolarer Kommunikation verwirklichen kann. Vorausgesetzt ist allerdings die oben skizzierte empfindsame Epistolartheorie, nach der sich das (ehrlich empfundene) Gefühl unmittelbar »aufs Papier wühlen« kann.137 Diesem Authentizitätspostulat, das die entscheidende Bedingung der Möglichkeit gelungener Interpersonalität als einzig angemessener Bestätigung und Steigerung der eigenen Individualität ausmacht, kann aber die verstandesfundierte Ordnung eines Briefes nach Stil und Rhetorik nur widersprechen: Briefe an den geliebten Menschen dürfen nur ›Hymnen‹ sein, die sich der diskursiven Ordnung und damit einer vernünftigen Kommunikation apriori entziehen. Diese als emotionalistische dezidiert antirationalistische Konzeption von Epistolarität entspricht jedoch

135 136 137

Rousseau: Julie, p. 575. Starobinski: Rousseau, S. 132. So die unübertreffliche Formulierung bei Albrecht Schöne: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hg. v. Herbert Singer u. Benno von Wiese. Köln, Graz 1967, S. 193–229, hier S. 229.

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nicht nur der Auffassung des Herausgebers, sondern ist auch Moment des selbstreflexiven Briefwechsels zwischen Julie und St. Preux. Schon früh weist sie ihren Geliebten auf diesen Sachverhalt hin: Puis vous vous rétractez de l’engagement que vous avez pris comme d’un devoir trop à charge; en sorte que, dans la même lettre, vous vous plaignez de ce que vous avez trop de peine, et de ce que vous n’en avez pas assez. Pensez-y mieux, et tâchez d’être d’accord avec vous pour donner à vos prétendus griefs une couleur moins frivole; ou plutôt, quittez toute cette dissimulation qui n’est pas dans votre caractère. Quoi que vous puissiez dire, votre cœur est plus content du mien qu’il ne feint de l’être: ingrat, vous savez trop qu’il n’aura jamais tort avec vous! Votre lettre même vous dément par son style enjoué, et vous 138 n’auriez pas tant d’esprit si vous étiez moins tranquille.

Julie erläutert St. Preux eine Diskrepanz zwischen seinem Briefstil, der dem hymnischen Auftrag seelenverwandter ›Kommunikation‹ schon gerecht würde, und den Inhalten dieser Briefe, die diesem Auftrag widersprächen. Dass sich der Briefstil der meisten Schreiberinnen und Schreiber – vor allem der Julies und St. Preux’ – sehr ähnelt,139 liegt daran, dass diese in der Lage sind, die Postulate ihres Autors reflektiert zu verwirklichen: Hymnische Liebesbriefe sind gegenüber einem spezifizierbaren Personalstil indifferent. Rousseaus Briefschreiber verwirklichen also in ihren Briefen ihre Subjektivität als Gefühlsexpression in einer Weise, die ihre Individualität tendenziell sowohl im Hinblick auf ihren Stil als auch im Hinblick auf das Gemeinschaftserlebnis aufhebt. Das Ideal eines ›hymnischen‹ Briefwechsels nimmt das eine Telos liebender Interaktion vorweg: die sexuelle Vereinigung als Auflösung der je eigenen Individualität; dieses Telos abstrahiert jedoch sowohl von der Reflexivität als auch von der Kommunikativität epistolarer Subjektivität. Nun weiß Rousseau jedoch, dass dieser Form der ›Vergemeinschaftung‹ keine Stabilität verheißen ist; sie ist zudem – zumindest als sexuelle – einem moralischen Verdikt unterworfen. Eine tragfähige Verknüpfung von glückseliger Unmittelbarkeit und unentfremdeter Interpersonalität bietet allein die Ehe mit Wolmar und deren Integration in das soziopolitische Experiment von Clarens. Hier nur scheint es Julie zu gelingen, den beiden unvereinbaren Ansprüchen an ihren Willen, ihrem Bedürfnis nach individuellem Glück und dem ebenso starken Bedürfnis nach Einhaltung der Grundsätze der Moral, gerecht zu werden. Zu Recht hat Jean Starobinski darauf aufmerksam gemacht, dass Julie beide Ansprüche zu erfüllen begehrt, weshalb die in der Forschung zum Briefroman übliche Unterscheidung zwischen einem passion-Diskurs und eine vertuDiskurs unterkomplex ist.140 Sowohl ihr Wunsch nach individueller Glücksverwirklichung mit St. Preux als auch ihr Wunsch, den Ansprüchen der Moral nach Gehorsam gegenüber den Eltern gerecht zu werden, ist emotiv besetzt; nur 138 139 140

Rousseau: Julie, p. 23. So mit leiser Kritik an einer »Einförmigkeit des Stils«: Starobinski: Rousseau, S. 130, der allerdings die Gattung dieses Romans kaum reflektiert. So u. a. bei Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung, S. 183ff. oder Pabst, Erfindung, S. 157ff.

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deshalb schwankt sie so abrupt in ihren Briefen des ersten Teils zwischen der Überzeugung, einmal dem einen, einmal dem anderen Begehren entsprechen zu wollen.141 In Clarens aber scheinen die zuvor unvereinbaren Handlungsziele – Liebe und Moral – endlich vermittelt; nicht nur kann sie in ihren Rollen als Ehefrau und Mutter den geltenden moralischen Prinzipen leidenschaftlich entsprechen, als ›Seele von Clarens‹ ist sie zugleich emotiv-ideelles und rational-reeles Zentrum des gesellschaftsähnlichen Sozialgefüges. Erst in dieser Aufhebung in ein gesellschaftliches Modell sind auch ihre individuellen Problemlagen zu lösen: »Was sich auf höherer Ebene einstellt, ist eine neue Gesellschaft und eine neue Liebe, die künftig nicht mehr feindlich sind. Das erotische Verlangen und das Verlangen nach Ordnung sind endlich versöhnt.«142 Selbst die zuvor zerstörerische Leidenschaft für St. Preux scheint in eine Freundschaft überführbar zu sein; es ist Julies Ehemann, der diesen Freundschaftsbund zu stiften versucht: Aussitôt M. de Wolmar, me prenant par la main, me dit en la serrant: »Vous avez des amis, et ces amis ont des enfants; comment l’affection paternelle vous serait-elle étrangère?« Je le regardai, je regardai Julie; tous deux se regardèrent, et me rendirent un regard si touchant, que, les embrassant l’un après l’autre, je leur dis avec attendrissement: »Ils me sont aussi chers qu’à vous.« Je ne sais par quel bizarre effet un mot peut ainsi changer une âme; mais, depuis ce moment, M. de Wolmar me paraît un autre homme, et je vois moins en lui le mari de celle que j’ai tant aimée que le père de deux enfants pour lesquels je donnerais 143 ma vie.

Dennoch bleibt diese Idylle brüchig. Das zeigt sich in der despotischen Organisationsstruktur des Sozialgefüges, das nur deshalb stabil bleibt, weil die Dienerschaft sich bedingungslos der Herrschaft unterwirft und dies auch freudig will.144 Die ›Idylle von Clarens‹ entpuppt sich bei näherem Hinsehen als paternalistische Despotie, in der die Freiheit des Einzelnen weitestgehend eingeschränkt wurde.145 Streng geregelt ist nicht nur das im eigentlichen Sinne politische Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten, in dem es ein vollständiges Hierarchiegefälle gibt; die Rechte der Bediensteten fallen mit ihren Pflichten zusammen; in der Tradition des neuzeitlichen Aristotelismus wird daher auch der Trennung zwischen Recht und Moral entgegengewirkt. Nicht nur für das Volk auch für Julie und Woldemar sind Rechts- nur als Tugendpflichten verbindlich. 141 142 143 144

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Vgl. hierzu die Briefe III, 15 und III, 18. Starobinski: Rousseau, S. 131f. Rousseau: Julie, p. 358. Vgl. hierzu Gideon Stiening: Natürliche Geselligkeit? Die aristotelische Tradition als Herausforderung des neuzeitlichen Naturrechts im Spiegel der europäischen Aufklärungsliteratur: Jonathan Swift – Jean-Jacques Rousseau – Johann Karl Wezel. In: Zumutung Tradition. Hg. v. Peter-André Alt, Andrew Johnston u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Göttingen 2012. [Im Druck.] Vgl. hierzu auch Nicola Graap: Das Gemeinwesen von Clarens. Zum Verhältnis zwischen Utopie, ›Vertu‹ und ›Amour‹ in Jean-Jacques Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 36 (1995), S. 63–81.

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Überhaupt besteht in der weitestmöglichen Verhinderung einer Ausübung der gleichwohl vorhandenen Zwangsgewalt des Souveräns ein Großteil der Organisationsanstrengungen des Herrscherpaares: Das Ziel dieser Herrschaftsgewalt ist die emotive Identifikation des Untergebenen mit dem politischen Allgemeinen, ist die Liebe der Knechte zum Herrn und zur Herrin: Qui n’aurait vu que cette maison n’imaginerait pas même qu’une pareille difficulté pût exister, tant l’union des membres y paraît venir de leur attachement aux chefs. C’est ici qu’on trouve le sensible exemple qu’on ne saurait aimer sincèrement le maître sans aimer tout ce qui lui appartient: vérité qui sert de fondement à la charité chrétienne. N’est-il pas bien simple que les enfants du même père se traitent de frères entre eux? C’est ce qu’on nous dit tous les jours au temple sans nous le faire sentir; c’est ce que les habitants de cette 146 maison sentent sans qu’on leur dise.

Diese Liebe zum personifizierten politischen Allgemeinen ist letztlich jedoch nur Mittel zum eigentlich materialen Staatszweck: die Glückseligkeit aller, das Gemeinwohl. Kaum je deutlicher als an dieser ›Idylle‹ zeigt sich jedoch Kants Diktum von der Despotieanfälligkeit aller Staatsgebilde mit materialem Staatszweck.147 Clarens ist daher nichts anderes als der Versuch der politischen Verwirklichung der zuvor nicht in Epistolargemeinschaften möglichen unentfremteten Vergemeinschaftung; wie diese aber, das zeigten Rousseaus Reflexionen auf den Liebesbrief, endet auch jener Versuch im Despotismus. Es bedarf nämlich u. a. der organisierten Reflexionsbegrenzung, die sich daran zeigt, dass es ausschließlich St. Preux ist, der dieses Gemeinwesen in seinen Briefen beschreibt, also ein Außenstehender. Reflexive Briefkultur ist dieser Idylle notwendig äußerlich; wie erwähnt widersetzt sich Wolmar der epistolaren Reflexion. Julie aber schreibt weiter an ihre Freundin und es sind Briefe tiefen Selbstzweifels, die nur durch den energischen Einspruch Frau von Orbes gedämpft werden können. Zwar klagt sich Julie ob dieser Zweifel an, so dass ihre Freundin ihr nahe legen muss, weniger Strenge gegenüber sich selbst aufzubringen; aber die eingestandene Furcht vor dem Aufbrechen der alten Leidenschaften lässt sich nicht beherrschen, gerade weil Julie sie brieflich mitteilt und ihnen damit allererst Wirkmacht verleiht. Es sind Julies Briefe an die Außenwelt, die das Fragile des Clarens’schen Paradieses nicht allein aufzeigen, sondern befördern. So nimmt die Zerstörung des scheinbar verwirklichten Ideals seinen Lauf: Nicht nur brechen die scheinbar gebändigten Leidenschaften auf einer gemeinsamen Kahnfahrt wieder auf; die ihr Leben für die Rettung ihrer Kinder aufs Spiel setzende Julie – ein Akt von weiblichem Altruismus, der im Roman zu

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Rousseau: Julie, p. 346. So Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: I. K.: Werke in 10 Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 9. Darmstadt 1983, S. 125–172, spez. S. 145f.: »Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, […] ist der größte denkbare Despotismus.«

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Hymnen der Ästhetisierung führt – gesteht kurz vor ihrem letzten Atemzug, dass sie von der Liebe zu St. Preux nie habe ablassen können: Adieu, adieu, mon doux ami ... Hélas! j’achève de vivre comme j’ai commencé. J’en dis trop peut-être en ce moment où le cœur ne déguise plus rien ... Eh! pourquoi craindrais-je d’exprimer tout ce que je sens? Ce n’est plus moi qui te parle; je suis déjà dans les bras de la mort. Quand tu verras cette lettre, les vers rongeront le visage de ton amante, et son cœur où tu ne seras plus. Mais mon âme existerait-elle sans toi? sans toi quelle félicité goûteraisje? Non, je ne te quitte pas, je vais t’attendre. La vertu qui nous sépara sur la terre nous unira dans le séjour éternel. Je meurs dans cette douce attente: trop heureuse d’acheter au 148 prix de ma vie le droit de t’aimer toujours sans crime, et de te le dire encore une fois!

Die in das paternalistische Modell der oikos-Gemeinschaft integrierte eheliche Verbindung zwischen Wolmar und ihr bleibt gegenüber dem wilden Wüten des liebenden Gemüts ein schlechter Schein staatsraisonabler Emotion. Gegen den ewigen Krieg der Geschlechter ist das kleine Paradies von Clarens nach Rousseau machtlos. Und es sind die Briefe zwischen Julie und St. Preux, die diese Einsicht nicht allein darstellen, sondern hervorbringen. Nach dem gescheiterten ›Experiment von Clarens‹ wird Rousseau seine politische Theorie des zweiten Discours grundlegend modifizieren;149 vor allem das empirisch-historische Verständnis des Naturzustandes wird im Contrat Social zugunsten der rationalen Konstruktion einer Vertragstheorie zurücktreten. Wenigstens im Rahmen seiner politischen Theorie wird Rousseau den Empirismus distanzieren.

6. Schluss – mit einem Ausblick auf die Liaisons dangereuses Es ist wohl kaum ein Zufall, dass Choderos de Laclos’ Liaisons dangereuses kaum acht Monate nach der Kritik der reinen Vernunft erschienen sind. Seit den 1770er Jahren zeigten sich europaweit erste fundamentale Kritiken an den Variationen des strengen Empirismus – sei es in epistemologischer, sei es in moralischer oder politischer Hinsicht.150 Kant führte eine Reihe von Auseinandersetzungen mit Gegnern, die in wissenschaftsmethodischer, aber auch erkennt-

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Rousseau: Julie, p. 566. Zu dieser substanziellen Differenz beider Modelle von politischer Theorie, die Rousseau im zweiten Discours und im Contrat Social entwickelt, vgl. Carlfriedrich Herb: Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft. Voraussetzungen und Begründungen. Würzburg 1989. Das gilt selbstverständlich nicht erst für Kant; erkennbar ist diese Entwicklung schon an dem ebenso wuchtigen wie bedeutenden Entwurf Johann Nicolas Tetens, der den Empirismus mit dessen Mitteln zu überwinden sucht: Johann Nicolas Tetens: Versuch über die Natur des Menschen uns einer Entwicklung. Leipzig 1777. Vgl. hierzu demnächst: Johann Nicolas Tetens und die Tradition des europäischen Empirismus. Hg. v. Gideon Stiening u. Udo Thiel. Berlin 2013.

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nistheoretischer Hinsicht einen an Locke und Hume lose angebundenen Empirismus vertraten.151 Auch die Liaisons dangereuses können als Moment einer solchen Kritik am strengen Empirismus interpretiert werden, weisen sie doch in ihrer formalen wie inhaltlichen Kontur darauf hin, dass die epistolare Darstellung empirischer Individualität so weit einzuüben ist, dass sich der Briefschreiber eine nahezu unbegrenzte Fülle von Identitäten verschaffen kann, gerade weil die Medialität seiner Darstellung diese ebenso verbirgt wie enthüllt. Die Marquise de Merteuille, jene zentrale Gestalt aller Intrigen der Romanhandlung, weist mehrfach darauf hin, dass alle Arten von Briefstilen, vor allem jene empfindsamer Unmittelbarkeit, durchaus einzuüben ist;152 sie zerstört noch die Rousseau’sche Illusion, im hymnischen Liebesbrief würde die Diskursivität der Vernunft endlich überwunden, weil sie nicht nur postuliert, sondern vorführt, wie solcherart Briefe ohne jede innere Beteiligung zu verfertigen sind. Für die Geschichte der Gattung Briefroman hat dieser auch in formaler Hinsicht hochkomplexe Roman die Stellung einer kritischen Wende; denn es ist ausschließlich die Marquise, die den Mut und die Fähigkeit hat, sich in allen Lebenslagen ihres Verstandes zu bedienen.153 Wie Kant schafft sie den Empirismus nicht ab, beweist aber theoretisch und praktisch eindrücklich, dass es Bedingungen seiner Möglichkeit gibt, die er selber nicht zu erfassen vermag. Gut vierzig Jahre nach Richardsons Pamela hatte der Briefroman mit den Liaisons dangereuses seinen vorkritischen Empirismus überwunden.

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Vgl. hierzu u. a. Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche? Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster-Kontroverse. Hg. v. Rainer Godel u. Gideon Stiening. München 2011 (Laboratorium Aufklärung 10). Vgl. u. a. Pierre Ambroise Choderlos de Laclos: Les Liaisons dangereuses. Édition revue et corrigée par Yves Le Hir. Paris 1995, p. 247: »Voyez donc à soigner davantage votre style. Vous écrivez toujours comme un enfant.« Insofern und weil auch nur die Natur sie am Ende bestrafen kann, scheint mir von einer Krise weiblicher Subjektivität oder von Subjektivität überhaupt keine Rede sein zu können; vgl. aber jüngst Anne Brüske: Das weibliche Subjekt in der Krise. Anthropologische Semantik in Laclos’ Liaisons dangereuses. Heidelberg 2010, spez. S. 27ff.

BEWUSSTSEINSPOESIE: DER BRIEFROMAN ALS MEDIUM DER EMPFINDSAMKEIT

Gisbert Ter-Nedden

Der Kino-Effekt des Briefromans Zur Mediengeschichte der Empfindsamkeit am Beispiel von Richardsons Clarissa und Lessings Miss Sara Sampson

1. Der Kino-Effekt des Briefromans Thomas Mann war bekanntlich ein leidenschaftlicher Kinogänger. In den Tagebüchern beziehen sich mehr als 600 Eintragungen auf das Kino; sie bezeugen den Konsum von ca. 300 Filmen. Dabei war Thomas Manns Verhältnis zu diesem neuen Medium ambivalent. Er selbst verstand sich als Vertreter einer Kunst der Kälte: »Die Kunst ist kalte Sphäre, man sage, was man wolle; sie ist eine Welt der Vergeistigung und hohen Übertragung«.1 Sie ist »ein strengeres, distanzierenderes, kühleres Medium« als der Film mit seiner abphotographierten »Wirklichkeit, des unmittelbaren Lebens«.2 Am Kino frappiert und fasziniert ihn nun aber gerade die Wärme, die sich im Zwang zum Weinen dokumentiert. Er erlebt es als »Stoff, das ist durch nichts hindurchgegangen, das lebt aus erster, warmer, herzlicher Hand, das wirkt wie Zwiebel und Nieswurz«.3 1928 schreibt er: »Sagen Sie mir doch, warum man im Cinema jeden Augenblick weint oder vielmehr heult wie ein Dienstmädchen!«4 Eine der Antworten, die er sich selbst gibt, liegt im Verweis auf die Großaufnahme des menschlichen Gesichts. Das Gesicht eines Hauptdarstellers findet er »betrachtenswert für Stunden.«5 Der Filmkritiker Hans-Christoph Blumenberg zieht daraus den Schluss: »Wenn das ›ungeheure Vieh‹ Film den Literaturnobelpreisträger ebenso ergreift wie das Dienstmädchen, dann sprengt seine Macht alle Grenzen von Herkunft, Bildung, Klasse.«6 1 2 3 4

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Thomas Mann: Über den Film. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. 10: Reden und Aufsätze 2. 2., durchges. Aufl. Frankfurt a. M. 1974, S. 898–901, hier S. 900. Thomas Mann: [Unterhaltungsmacht Film]. In: Mann, Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 932– 934, hier S. 933. Mann: Über den Film, S. 900. Ebd., S. 899. – Kafka notiert lakonisch: »Im Kino gewesen. Geweint.« Franz Kafka: Tagebücher 1910–1923. Hg. v. Max Brod. Frankfurt a. M. 1986, S. 242 (20.11.1913). Vgl. Hanns Zischler: Kafka geht ins Kino. Reinbek b. H. 1996, S. 136. Thomas Mann: Tagebücher 1940–1943. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1982, S. 440 (12.6.1942). Hans-Christoph Blumenberg: Die Macht der Magie. Faszination Film für mehr als hundert Jahre. In: Making of ... Wie ein Film entsteht. Die Kunst des Filmemachens von A bis Z. Hg. v. Dirk Manthey. Hamburg 1996, S. 6–17, hier S. 8/11.

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Was Thomas Mann notiert, ist das Protokoll über die Wirkung einer neuartigen Bewusstseinsdroge, das sich durchaus mit den Protokollen über die Wirkung des Konsums berauschender Substanzen vergleichen lässt. Jeder FilmKonsument hat diese Wirkung am eigenen Leibe erlebt. Wer im Kino noch nie Tränen der Rührung vergossen hat, ist nicht etwa anders sozialisiert als seine Mitmenschen, sondern gehört zu den bedauernswerten Zeitgenossen, die an einer autistischen Persönlichkeitsstörung leiden. Die Macht des Kinofilms birgt kein Rätsel. Die Fähigkeit und das Bedürfnis, sich von rührenden (erheiternden, spannenden, schaurigen etc.) Geschichten faszinieren zu lassen, ist ein Anthropologicum. Zu den eindrucksvollen Erfahrungen der Elternschaft gehört das fassungslose Weinen des Kindes über eine traurige Geschichte. Auch die neuesten Medien knüpfen an elementaren Dispositionen an, mit denen wir auf die Welt kommen. Es wäre offenbar unsinnig, den Siegeszug des Kinos und vergleichbarer Medien auf den Wandel kollektiver Mentalitäten zurückführen zu wollen. Neu am Kino ist nicht die Macht, seine Konsumenten mit erfundenen Geschichten bis zu Tränen zu rühren; neu sind die technischen Mittel, mit denen der Film den Imaginationsbedarf und Erlebnishunger seiner Konsumenten befriedigt, indem er die Möglichkeiten nutzt, die sich durch die neuen audio-visuellen Speicher- und Übertragungsmedien, also durch die Verbindung von Kinematographie und Phonographie ergeben hatten. Nun ist das Kino nicht das erste Massenmedium, das die medial vermittelte tränenselige Rührung ihren Konsumenten als Genussmittel zur Verfügung stellt. Die europäische Literaturgeschichte beginnt mit der schriftgestützten Ausarbeitung und Bereitstellung einschlägiger Bewusstseinsdrogen. Dichtung, so definiert der Sophist Gorgias, ist diejenige Rede, von der gilt: »Von ihr aus dringt auf die Hörer schreckenerregender Schauder ein und tränenreiche Rührung und wehmütiges Verlangen, und in Fällen von Glück und Unglück für fremde Angelegenheiten und von fremden Personen leidet die Seele stets vermittelt durch Reden ein eigenes Leiden.«7 Eine Kommunikationsgemeinschaft redebegabter Gruppenwesen, die ohne erzähltes Leid und ohne verbalisierte Klage auskommt, ist ebenso unvorstellbar wie eine Lebens- und Gesprächsgemeinschaft, die unfähig oder unwillig ist, Lachgemeinschaften zu bilden. Im Zentrum der Poesie der Griechen steht die Tragödie, deren Zweck es ist, durch die mimetische Vorstellung einer Leidens-Geschichte Mit-Leid zu erregen. Im

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Vgl. Gorgias von Leontinoi: Lobpreis der Helena. In: G. v. L.: Reden, Fragmente und Testimonien. Griechisch – deutsch. Hg. mit Übers. und Kommentar v. Thomas Buchheim. Hamburg 1989 (Philosophische Bibliothek 404), S. 2–17, hier S. 9. Vgl. auch ebd., S. 11/13: »Im selben Verhältnis steht die Wirkkraft der Rede zur Ordnung der Seele wie das Arrangement von Drogen zur körperlichen Konstitution: Denn wie andere Drogen andere Säfte aus dem Körper austreiben, und die einen Krankheit, die anderen aber das Leben beenden, so auch erregen unter den Reden die einen Leid, die anderen Genuß, und dritte Furcht, und wieder andere versetzen die Hörer in zuversichtliche Stimmung, und noch andere berauschen und bezaubern die Seele mit einer üblen Bekehrung.«

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Zentrum des christlichen Kults steht die Passionsgeschichte. Auch der Autor des Werther erwartet – in absichtsvoller Anspielung an die Leiden des ›Menschensohnes‹ – in der Rolle des Herausgebers von seinen Lesern, dass sie der Passionsgeschichte seines Helden »ihre Tränen nicht versagen« werden.8 Die antike Dramatik, der Ursprung des europäischen Literaturtheaters, beruht auf einer arbeitsteiligen Steigerung der Kunst des epischen Sängers, der sein eigener Dichter, Schauspieler und Musiker war, und bezeugt durch die Größe der Theater die ungeheure Faszinationskraft, die von dieser multimedialen Aufführung von Geschichten ausging. Von den ca. 30.000 Bürgern, die Athen in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts hatte, besuchten ca. 6.000 die Volksversammlung, aber 14.000 das Theater. Angesichts dieser Popularität des Mediums ›literarisches Theater‹ sieht sich Aristoteles veranlasst, dieselbe Unterscheidung zwischen einer exklusiven epischen und einer vulgären theatralischen Kunst zu treffen, die auch den Romancier Thomas Mann dazu bewegt, zwischen der Kunst des Romans und der trivialen Halbkunst des Kinos zu unterscheiden: Man kann sich die Frage stellen, welche Art der Nachahmung die bessere sei, die epische oder die tragische. Wenn nämlich die weniger vulgäre die bessere und wenn das stets diejenige ist, die sich an das bessere Publikum wendet, die bessere ist, dann ist klar, dass die9 jenige, die alles nachahmt, in hohem Maße vulgär ist.

Die Ironie der Medien- und Gattungsgeschichte will es, dass der moderne Roman, für dessen hochliterarische Steigerungsform Thomas Mann einsteht, seinerseits als triviale Halbkunst und als Kino des 18. Jahrhunderts in die Welt gekommen ist, und zwar in Gestalt der Briefromane Richardsons. In ihnen entdeckten die Zeitgenossen einen neuartigen, süchtig machenden Typ von poetischer Literatur, deren Macht von ihnen als Zwang zum Weinen beschrieben wurde. Die literarisch Gebildeten unter ihnen haben darin eine Verifikation dessen gesehen, was die antiken Zeugnisse von der Macht der Poesie über das Bewusstsein der Zuhörer berichten. Einer von ihnen war Gellert: Liebster Graf, Ich bin ausser mir, und ich muß es Ihnen sagen, daß ichs bin; ob ich gleich erst gestern an Sie geschrieben habe. Gestern war ich noch nicht mit dem fünften Theile des Grandison zu Ende. Ich las zwar bis des Nachts um zwölf Uhr – ein Fehler, den ich seit der Clarissa nicht begangen. Ich schlief, wie Sie leicht denken können, die ganze Nacht wenig, elend. Kaum hatte ich heute Morgen nach sechs Uhr in der Bibel gelesen: so ergriff ich den Grandison, um ihn statt einer Rede aus dem Tillotson zu lesen. Ich las, ich kam auf den Abschied des Grandison u. der Clementine – Ach Graf, bester Graf! Nun habe ich wieder das größte Vergnügen des Lebens geschmecket, das ich schmeckte, als ich den letzten Theil der Clarissa las. Seit so vielen Jahren habe ich weder über Natur, noch Nachahmung (einige bittre Thränen der Traurigkeit ausgenommen) weinen können, nicht weinen können, um aller 8

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Vgl. auch Robert Vellusig: Si vis me flere … revisited. Anthropologische und medienästhetische Reflexionen zur Geschichte eines Stilprogramms. In: literatur für leser 34 (2011), H. 1, S. 23–40. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. und hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982 (RUB 7828), S. 95 (Kap. 26).

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Gisbert Ter-Nedden Wunder der Natur nicht; so hart, so verschlossen ist mein Herz gewesen. Und heute, diesen Morgen, den 3 April, zwischen 7 u 10 Uhr (gesegneter Tag!) habe ich geweinet, theuerster Graf, mein Buch, mein Pult, mein Gesicht, mein Schnupftuch durch – durchgeweinet, laut geweinet, mit unendlichen Freuden; geschluchzet, als wäre ich in Bologna, als wäre ich er, als wäre ich sie, als wäre ich das seligste Gemische von Glück u Unglück, von Liebe u. Schmerz, von Tugend u. Schwachheit gewesen; u. kein Mensch hat mich gestöret. Gott, was ist in diesem Buche! Nun begreife ich, wie die Tragoedien der Alten haben so gewalt10 same u. unglaubl. Wirkungen thun können.

Auch Lessing gehört zu den Autoren, die in der Fähigkeit der modernen Literatur, ihre Konsumenten bis zu Tränen zu rühren, das antike Vorbild wiedererkannten. Mit seinem ersten Trauerspiel Miss Sara Sampson modernisiert er die Medea des Euripides und damit eine attische Tragödie, von der man schon in der Antike gesagt hatte, der Dramatiker sei hier »ins Weinerliche verfallen« (ʌȡȠʌİıİȚѺȞ İȓȢ įȐțȡȣĮ).11 Dabei verfolgte er ein doppeltes Ziel: Erstens soll seine Modernisierung in polemischer Opposition gegen den konventionellen Klassizismus exemplarisch die Kunst der wahren Nachahmung der antiken Vorbilder vormachen, die sich nicht damit begnügt, das Kostüm, den sensationellen Plot und einige Formalia zu übernehmen, sondern ein modernes Äquivalent für die Kunst und das Ethos der attischen Tragiker zu gestalten sucht. Das bedeutete zweitens, jene Verbindung von authentischer Leiderfahrung und Leidenschaft zurückzugewinnen, die bei Seneca und dessen neuzeitlichen Nachahmern verloren gegangen war und die geeignet ist, das Mit-Leid der Zuschauer herauszufordern und sie weinen zu machen. Bekanntlich war er damit erfolgreich. Zu Recht gilt seine Sara als deutsches Gegenstück zu den Briefromanen Richardsons. Auch hier haben die Zeitgenossen eine reiche Fülle von Dokumenten hinterlassen, in denen sie die Neuartigkeit der Wirkung protokollieren und analysieren, die von der bis dahin unerhörten Intensität und Intimität des dargestellten personalen Erlebens und Erleidens ausging und die sich typischerweise im Zwang zum Weinen dokumentiert. Überblickt man die einschlägigen Zeugnisse im Ganzen, so ergibt sich der gleiche Befund für die Sara wie für die Romane Richardsons: Die Faszinationskraft des neuen Literaturtyps ist so wenig wie die des Kinofilms oder des antiken Theaters an bestimmte Bildungsvoraussetzungen gebunden. »In his own days Samuel Richardson was read und admired by all kinds of people, from the King to a small boy who liked eating gingernuts«, so vermelden die Richardson-Philologen.12 Diderot, dessen Éloge de Richardson (1762) sich wie Thomas Manns Notizen über den Film als Protokoll der unvergleichlichen Wirkung dieses neuen Produkts der Erlebniskultur liest, beschreibt denselben Effekt: »Les ouvrages de Richardson plairont plus ou moins à tout homme,

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C[hristian] F[ürchtegott] Gellert: Briefwechsel. Hg. v. John F. Reynolds. Bd. I (1740– 1755). Berlin, New York 1983, S. 231. In der Hypothesis Medeias. Euripides: Medea. Griechisch – deutsch. Übers. u. hg. v. Karl Heinz Eller. Stuttgart 1983 (RUB 7978), S. 5f. Jocelyn Harris: Samuel Richardson. Cambridge 1987, S. 1.

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dans tous les temps et dans tous les lieux«.13 Auch bei der Sara stellt sich der Kino-Effekt über alle sozio-kulturellen Grenzen hinweg ein. Wiederum ist es Diderot, dem dieser Effekt auffällt und der berichtet: »Dieses Stück, das vor der vornehmsten Gesellschaft Frankreichs aufgeführt wurde, hat großen Beifall gefunden und die stärksten Eindrücke hinterlassen.«14 Der Berliner Jude Mendelssohn wie der französische Intellektuelle Diderot, die Studenten in Greifswald und die Pariser höfische Gesellschaft, die Erwachsenen und die Kinder, die Gelehrten und die Ungelehrten, die Männer und die Frauen, diejenigen, die das Stücke auf dem Theater sehen, und diejenigen, die es lesen15 – sie alle erweisen sich für diesen Effekt als gleichermaßen empfänglich. Insbesondere weinen nicht nur diejenigen, die sich zur Mode der Empfindsamkeit bekennen, sondern gerade auch ihre Kritiker. So schreibt etwa der Berliner Verleger Friedrich Nicolai, der nicht nur den Werther, sondern auch die Romane Richardsons parodieren wird, aus Anlass einer Berliner Aufführung der Sara an Lessing: Ehe ich Ihnen genauer von der Aufführung Nachricht gebe, muß ich Ihnen sagen, daß ich ungemein gerührt worden bin, daß ich bis an den Anfang des fünften Aufzugs öfters geweint habe, daß ich aber am Ende desselben, und bei der ganzen Szene mit der Sarah, vor starker Rührung nicht habe weinen können; das ist mir noch bei keinem Trauerspiele be16 gegnet[.]

Weit davon entfernt, sich der rührenden Wirkung mit jener hemmungslosen Rührseligkeit hinzugeben, wie sie aus dem Bericht Gellerts über seine Lektüre des Grandison spricht, liest sich dieser Bericht – ähnlich wie derjenige Thomas Manns über das Kino – eher wie ein analytisch-nüchternes Protokoll über die Wirkung eines neuartigen Konsumartikels. Eben dies verleiht diesem und vergleichbaren Zeugnissen ihre Signifikanz. Signifikant ist beispielsweise das Zuschauerverhalten, von dem sie berichten. »[D]ie Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde zugehört, stille geseßen wie Statüen, und geweint«, erzählt Karl Wilhelm Ramler in einem Brief an

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Denis Diderot: Éloge de Richardson. In: D. D.: Œuvres. Texte établi et annoté par André Billy. Paris 1951 (Bibliothèque de la Pléiade 25), S. 1059–1074, hier S. 1062. Denis Diderot: Bemerkungen über Lessings Fabeln und seine »Miß Sara Sampson« (1764). In: D. D.: Ästhetische Schriften. Hg. v. Friedrich Bassenge. Bd. 1. Berlin, Weimar 1968, S. 430f., hier S. 431. Vgl. Christian Heinrich Schmid: Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen und Nachricht von den besten Dichtern und den angenommenen Urtheilen. Leipzig 1767, S. 492: »Eben lege ich die ›Sara‹ weg. Aber ich hätte sie jetzt nicht noch einmal lesen sollen, um sie desto feuriger loben zu können. Stumme Thränen sind der edelste Beifall, den sich der Poet vom Parterre wünschen kann. Aber wie soll eine Feder Empfindung ausdrücken, die kaum die trockene Wahrheit zeichnen kann?« Friedrich Nicolai: Brief an Lessing vom 3.11.1756. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 11/1: Briefe von und an Lessing 1743–1770. Hg. v. Helmuth Kiesel [u. a.]. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 17), S. 111f.

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Gleim.17 Das steht in krassem Gegensatz zu dem Zuschauerverhalten, über das in den Theaterzeitschriften der zweiten Jahrhunderthälfte Klage geführt wird. Die Zuschauer betrachteten das Theater als geselligen Ort, zu dem man kam und ging, wie es einem gefiel, wo man aß und trank, sich auch während der Aufführung laut unterhielt, sich im Zuschauerraum hin- und herbewegte, den man also als Ort der Kurzweil und Zerstreuung nutzte. Nun stand ein solches Verhalten durchaus in Übereinstimmung mit dem üblichen Aufführungsprogramm. Bis in die achtziger Jahre kündigen die Theaterzettel vor allem unterhaltsame Nummernprogramme an: Haupt- und Staatsaktionen, die ihrerseits aus unzusammenhängenden Episoden bestanden, Zwischen-Musiken und Zwischen-Spiele, pantomimische Ballette, musikalische Prologe, lustige NachComoedien, Harlekinaden – kurz, ein Unterhaltungsprogramm für kulturelle Analphabeten, das eine so konzentrierte Rezeption, wie sie die oben zitierten Berichte bezeugen, schlechterdings ausschloss. Die stereotypen Klagen über dieses Zuschauerverhalten sind ebenso wie die extrem gegensätzliche Reaktion der Zuschauer auf die Sara ein sprechendes Indiz. Sie belegen, dass Lessing mit seiner Sara das erste prominente deutsche Libretto für das moderne Literaturtheater schreibt und damit das Theater und die Dramatik neu erfindet, so wie Richardson mit seinen Briefromanen das Roman-Schreiben neu erfunden hatte. In beiden Fällen ist das Lektüreerlebnis mit dem der üblichen Romane bzw. Dramen unvergleichlich, wie gerade die literarisch Gebildeten unter den Lesern konstatieren, und wird von ihnen als unvergessliches biographisches Schlüsselerlebnis beschrieben. Diderot etwa schreibt in seiner Éloge de Richardson: »Je me souviens encore de la première fois que les ouvrages des Richardson tombèrent entre mes mains: j’etais à la campagne.«18 Vergleichbar ist es für ihn nur mit der Erfahrung, die das Kind macht, das zum ersten Mal ins Theater geht und von dem Erlebnis vollkommen überwältigt wird.19 Neu sind dabei nicht die Themen und Inhalte – Fragen der Moral, der Menschenkenntnis etc.; neu ist die Art der literarischen Gestaltung, die Kunst des ›mettre en action‹: »Tout ce que Montaigne, Charron, La Rochefoucauld et Nicole ont mis en maximes, Richardson l’a mis en action.«20 Und neu ist vor allem die Stärke des Ergriffenseins, die sich im Weinen dokumentiert: »venez, nous pleurerons ensemble sur les personnages malheureux de ses fictions«.21 Auch Iffland, der erfolgreichste Dramatiker der Goethezeit, hat in seiner autobiographischen Schrift Meine theatralische Laufbahn ein solches biographisches Schlüsselerlebnis überliefert – eine Aufführung der Sara, die 1769 im königlichen Schloss in Hannover stattfand und das neunjährige Kind zusammen mit seinem Vater zu einer Erlebnisgemeinschaft verband: 17 18 19 20 21

Zit. nach Richard Daunicht: Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971, S. 88 (Brief vom 25.7.1755). Diderot: Éloge de Richardson, S. 1061. Ebd., S. 1060. Ebd., S. 1059. Ebd., S. 1062.

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Einst kam mein ehrwürdiger Vater [ein Kanzleiregistrator] aus einer Vorstellung der Miß Sara Sampson nach Hause. Er war ganz erweicht von den Leiden der Sara, er sprach viel von der Reue des Mellefont und von dem Grame des alten Vaters Sampson. Es ist lehrreich anzusehen, sprach er […]. Ich will alle meine Kinder hinschicken, wenn dieses Schauspiel 22 wiederholt wird.

Das Kind ist überwältigt: Ich bin in Thränen zerflossen während dieser Vorstellung. Das Gute, das Edle wurde so warm und herzlich gegeben – die Tugend erschien so ehrwürdig! Die Leiden der Menschen kannte ich bis dahin nur aus Hübners biblischen Geschichten, oder von armen Leuten, welche Almosen empfingen: von einer solchen Leidensgeschichte, von einer solchen Sprache hatte ich keinen Begriff. Eckhof als Mellefont, die Hensel als Sara, die Bäck als Marwood! Solch eine wahre, hinreißende Schilderung, diese Allmacht des Gefühls, welche jedes Gefühl erregte und führte wohin es wollte – das reizte, erhob und überwältigte meine Seele. Ich war ganz aufgeregt – der Vorhang sank herab – ich konnte nicht aufstehen, ich weinte laut, wollte nicht von der Stelle […]. Ich mußte meinem Vater alles erzählen, er erzählte mir selbst davon, und seine Seele, sein väterliches Herz, das so weich zu empfinden wußte, wurde noch einmal in den Augenblick der Vorstellung selbst versetzt. Von diesem Augenblick an ward mir der Schauplatz eine Schule der Weisheit, der schönen 23 Empfindungen.

Iffland vergleicht diese prägende Begegnung mit der modernen Literatur nicht mit anderen ästhetisch vermittelten Erfahrungen, sondern – auch das ist typisch für die zeitgenössischen Berichte – mit den gewohnten Ritualen der Religion: Nun fiel es mir zum ersten Male ein, die Kirche mit dem Theater zu vergleichen, weil ich hoffte, […] die Empfindung, die ich vor dem großen Vorhange gehabt hatte, dort wieder zu erneuern. […] Nun trat der Prediger auf die Kanzel. Ich stand auf und wollte ihn mit denen vergleichen, die aufgetreten waren, als der Vorhang sich hinaufgeschwungen hatte. Aber eben das fehlte mir bei seiner Erscheinung. Es ging kein Zauberwerk vor seinem Auftreten her. Er stand allein, er stand im Dunkeln, in einem engen Raume, bedeckt bis an die Brust und beschattet von einer aufgetürmten finstern Masse über seinem Haupte stand er da. Er sprach nicht wie andere Menschen. Er sang in einem heulenden Jammertone, 24 niemand antwortete ihm, und Menschen waren eingeschlafen.

Die moderne poetische Literatur, wie sie mit dem Roman des Richardson-Typs, mit dem von Lessing begründeten modernen Drama und mit der Lyrik Klopstocks in Erscheinung tritt, beendet die weitgehende Monopolisierung des Gutenberg-Mediums im kommunikativen Alltag der Gesamtgesellschaft durch die Libretti der religiösen Rituale. Die historistische Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat darum den Prozess der Entstehung der modernen Literatur als Dokument der Verweltlichung und Verbürgerlichung gedeutet. Tatsächlich bezeugen die einschlägigen Quellen jedoch die Faszinationskraft, die von den neuartigen Produkten der Schriftkultur auf alle sozialen Gruppen, die Frommen und die Weltlichen, die Aristokraten und die einfache Landbevölkerung gleichermaßen ausging. Hier der Erfahrungsbericht 22 23 24

August Wilhelm Iffland: Meine theatralische Laufbahn. Leipzig 1798, S. 12. Ebd., S. 18f. Ebd., S. 8f.

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eines alten Landpfarrers mit den sentimentalen Liebesromanen des Erfolgsautors August Lafontaine, die ein junger Kollege abends seiner Frau und den Töchtern vorliest: Denken Sie, wie es mir mit den la Fontainischen Romanen gegangen ist. Ich bin gewohnt, alle Morgen ein Capitel aus dem alten, alle Abende eins aus dem neuen Testamente in der Grundsprache zu lesen. Ihr Mättig [der junge Seminarist] ist abends bei mir, und lieset nach Tische meiner Frau und meinen zwei Töchtern, während diese nähen und stricken, la Fontaines Romane vor. Ich schmälte im Anfange: Was leset ihr so dummes Zeug? Leset dafür etwas Erbauliches. Aber am Ende interessieren die Geschichten mich selbst. Ich spreche halb zehn Uhr: Höret auf! Ich will mein Capitel lesen. Morgen muß ich doch hören, wie der Knoten sich entwickelt. Am Ende – hat la Fontaine bei mir die Bibel mehrere 25 Monate lang verdrängt.

Dieselbe Art von Erfahrung bezeugt die Anekdote, die Rousseau im elften Kapitel der Bekenntnisse als Beispiel für den Erfolg seiner Nouvelle Heloïse in der Pariser höfischen Gesellschaft anführt: Es [das Buch] erschien zu Beginn des Karnevals. Ein fliegender Buchhändler brachte es der Frau Prinzessin von Talmont […] am Tage des Opernballs. Nach dem Abendessen ließ sie sich ankleiden, um dorthin zu gehen, und begann, den Aufbruch erwartend, den neuen Roman zu lesen. Um Mitternacht befahl sie anzuspannen und las weiter. Man meldete ihr, die Pferde seien angespannt. Sie antwortete nichts. Ihre Leute machten sie, da sie sie ganz versunken sahen, darauf aufmerksam, daß es zwei Uhr sei. »Es eilt noch nicht«, sagte sie und las immer fort. Etwas später, da ihre Uhr stehengeblieben war, schellte sie und fragte, wie spät es sei. Man entgegnete ihr, es sei vier. »Dann ist es schon zu spät, auf den Ball zu fahren«, erklärte sie, »man möge wieder abschirren.« Sie ließ sich auskleiden und ver26 brachte den Rest der Nacht mit Lesen.

In Gestalt des Lesen-Hörens kann der neuartige Briefroman sogar die ländlichen Analphabeten erreichen und faszinieren, wie eine der Anekdoten bezeugt, die von dem sensationellen Erfolg der Pamela berichten: Ein Dorfschmied habe an den langen Sommerabenden, auf seinem Amboss sitzend, Abend für Abend die Geschichte Pamelas vorgelesen und immer ein großes und aufmerksames Publikum gefunden. Das glückliche Ende der Geschichte sei von der Dorfgemeinschaft mit Freudenrufen und mit dem Läuten der Kirchenglocken gefeiert worden.

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So der Bericht Gustav Friedrich Dinters in: Dinter’s Leben, von ihm selbst beschrieben; ein Lesebuch für Aeltern und Erzieher, für Pfarrer, Schul-Inspectoren und Schullehrer. Neustadt a. d. Orla 1829, S. 217. Vgl. Dirk Sangmeister: August Lafontaine oder Die Vergänglichkeit des Erfolges. Leben und Werk eines Bestsellerautors der Spätaufklärung. Tübingen 1998 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 6), S. 325. Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse. Übers. v. Alfred Semerau, durchges. von Dietrich Leube. Mit einem Nachwort u. Anmerkungen von Christoph Kunze. München 21984 (dtv 2096), S. 539.

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2. Gedruckte Briefe Medien sind immer Teil eines Medienverbunds. Der Siegeszug des Briefromans war so wenig wie der des Kinofilms ein isoliertes Phänomen, sondern integraler Bestandteil eines epochalen Medienwandels. Zur Rekonstruktion dieses Wandels empfiehlt es sich, von der Mediengeschichte des Briefs auszugehen, oder genauer: von der Geschichte des Übergangs vom geschriebenen zum gedruckten Brief. Im Zentrum der Mediengeschichte des 18. Jahrhunderts standen auf dem Gebiet der Printmedien drei epochale Innovationen: der Aufstieg der Zeitung zum Leitmedium des kollektiven Interaktionsalltags, der Aufstieg der Zeitschrift zum Leitmedium der Wissenskultur, der Aufstieg des Romans vom verachteten Außenseiter der etablierten literarischen Kultur zur zentralen Gattung des Literaturbetriebs und zum Leitmedium der Erlebniskultur. Alle drei Innovationen lassen sich als Übergang vom geschriebenen zum gedruckten Brief rekonstruieren. Den Beginn macht die Zeitung, die Anfang des 17. Jahrhunderts aus der Verbindung von Presse und Post hervorgegangen war. Sie leitet die zweite Phase der »typographischen Revolution«27 ein. In seiner ersten Phase hatte das Gutenberg-Medium die Speicherfunktion der Schrift potenziert, während für die Übertragungsfunktion aktueller Informationen wie im Manuskriptzeitalter das personal adressierte Punkt-für-Punkt-Medium des Briefverkehrs zwischen den Handelszentren, Höfen und Gelehrten zuständig blieb. Die Nutzung der neuen Technologie zum Zweck einer analogen Potenzierung und Entgrenzung der Übertragungsfunktion setzte eine entsprechende Infrastruktur – einen hohen Alphabetisierungsgrad und ein entwickeltes Postwesen – voraus. Hier lag der Grund für die Führungsrolle des deutschen Reiches bei der Entwicklung der periodischen Presse. Wegen seiner föderalen Struktur verband es einen hohen Alphabetisierungsgrad mit einem entwickelten Postwesen. Ohne die Periodizität der Post keine periodische Presse. Wie bei allen späteren medientechnischen Innovationen erfolgte die Komplettierung der neuen Speichertechnik durch neue Übertragungstechniken zeitversetzt: erst die Photographie, dann der Film, dann die Television; erst der Phonograph und das Telefon, dann das Radio. Erst der Computer, dann das Internet. Die Post gehört ebenso zu den epochalen Basis-Innovationen wie der Druck mit beweglichen Lettern mit Hilfe der umgebauten Weinpresse. »[D]as Netzwerk, zu dem sich das europäische Postsystem in der Frühen Neuzeit entwickelte, das nicht an geographischen, politischen, konfessionellen oder kulturellen Grenzen halt machte und jedem Benutzer offen stand, war in seiner bereits von den Zeitgenossen erkannten Universalität […] im welthistorischen Maßstab 27

Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a. M. 1991.

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einzigartig.«28 Der Buchdruck mit beweglichen Lettern hatte die Manuskriptproduktion innerhalb weniger Jahrzehnte abgelöst.29 Mit derselben ereignishaften Plötzlichkeit vollzog sich der Siegeszug der aus der Verbindung von Presse und Post hervorgegangenen periodischen Presse. Am Ende des 17. Jahrhunderts erreichte die Zeitung ebenso den sozialen Alltag, wie zuvor auf der Basis des Drucks die religiöse Gebrauchsliteratur und der Volkskalender den Alltag der Gesamtgesellschaft erreicht hatten. Die Zeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts hatten noch wenig mit der Presse des 19. Jahrhunderts zu tun. An ihrem Ursprung steht der Abdruck von ungeordneten und unkommentierten Nachrichtenbriefen auf der Basis des etablierten Briefverkehrs der Handelszentren, Höfe und Gelehrten. Die Innovation bestand hier darin, dass die Postmeister begannen, das personal adressierte Punkt-zu-Punkt-Medium Brief durch den Druck in ein Broadcast-Medium zu verwandeln. Die Entstehung der Zeitung blieb kein isolierter Vorgang. Sie wirkt als Initialzündung für die Übertragung des Prinzips des periodischen Publizierens von den Aktualitäten des kollektiven Interaktionsalltags auf alle anderen sozialen Handlungsfelder. Ende des 17. Jahrhunderts entstehen die ersten gelehrten, politischen und unterhaltenden Zeitschriften, aus denen sich im Laufe des 18. Jahrhunderts eine nach Tausenden von Titeln zählende Zeitschriften-Landschaft entwickelt, die kein soziales Handlungsfeld, keinen Wirklichkeitsbereich und keine Adressatengruppe auslässt. In synchroner wie vor allem in diachroner Perspektive erweist sich die Entstehung der (häufig zunächst noch scheiternden) Periodika der Wissenskultur als die bei weitem folgenreichste Innovation. Auch diese zweite epochale Innovation bestand im Kern darin, das Punkt-zu-PunktMedium des gelehrten Briefwechsels durch ein Broadcast-Medium zu ergänzen und damit den Prozess der wissenschaftsförmigen Wissensgewinnung zu veröffentlichen. Auch die Erfolgsgeschichte des Romans steht anfänglich im Zeichen des Übergangs vom geschriebenen zum gedruckten Brief. Die Briefromane Richardsons, Rousseaus und Goethes sind die ersten echten internationalen literarischen Bestseller der Literaturgeschichte, die über alle geographischen, religiösen und sozio-kulturellen Grenzen hinweg jeweils das Bewusstsein einer ganzen Generation prägten. Die Nouvelle Heloïse etwa erfuhr mehr als hundert Auflagen und wurde von den Pariser Buchhändlern stundenweise gegen Geld ausgeliehen, war also – genau wie die Richardson-Romane und der Werther –

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Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 189), S. 685. Vgl. Uwe Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspekte. Bd. 1. Wiesbaden 1998 (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München 61).

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so etwas wie ein literarisches Äquivalent für die Blockbuster der modernen Kinogeschichte.30 Dieser sensationelle Erfolg, der für die Autoren vollkommen überraschend kam, macht sie nicht nur zu einem Ereignis in der Literaturgeschichte des Romans oder gar nur des Briefromans. Vielmehr wird hier ein epochaler Strukturwandel der Erlebniskultur als Ganzer zum medien- und literarhistorischen Ereignis: Das überwältigende Echo dokumentiert, dass die neu entstandene Medienöffentlichkeit gewissermaßen auf diese neuartige Bewusstseinsdroge gewartet hatte. Mit ihren Briefromanen werden die drei Autoren nicht nur zu den Gründungsvätern des modernen Bewusstseinsromans, sondern damit zugleich zu den ältesten Klassikern der modernen Erlebniskultur und Bewusstseinsindustrie. Dem modernen Roman, der mit den Briefromanen in Erscheinung tritt, kommt für die die Genese der modernen ›Erlebnisgesellschaft‹ (G. Schulze) dieselbe Schlüssel- und Eröffnungsfunktion zu wie der Zeitung für die moderne Informationsgesellschaft und der Fachzeitschrift für die moderne Wissensgesellschaft. Auch hier ist der Übergang vom geschriebenen zum gedruckten Brief ebenso gut dokumentiert wie bei der Entstehung der Zeitung. Richardson berichtet in einem seiner autobiographischen Briefe, bereits als Junge habe er den jungen Frauen der Nachbarschaft als Ghostwriter ihrer Liebesbriefe gedient. Die Armut des Vaters, eines ehrbaren Schreiners, versperrt ihm den Weg zur gelehrten Bildung. So ist er, der so gern Pfarrer geworden wäre, gezwungen, statt sich die Buchgelehrsamkeit anzueignen, unter einem harten Patron das harte Gewerbe des Buchdruckens zu erlernen, und bleibt zeitlebens ein bildungshungriger Autodidakt. Nachdem er sich als Buchdrucker etabliert hat, schreibt er, der gewesene Lehrling, ein moralistisches und frommes Anstandsbuch für Lehrlinge, The Apprentice’s Vade Mecum: Or, Young Man’s PocketCompanion (1733). Sein erster Roman, Pamela or, Virtue Rewarded (1740), sollte ursprünglich ein Gegenstück für einfache junge Frauen vom Lande in Gestalt einer Verbindung aus letter-writer und conduct book werden. Mit seinem Einfall, daraus eine Lovestory in Briefen zu geben, knüpft er an einer populären, von und für Frauen geschriebenen Literaturgattung an. Aus diesen Vorgaben entsteht der moderne Briefroman und damit einer der Gründungstexte des modernen Bewusstseinsromans. Die medienhistorische Signifikanz dieser Ursprungsgeschichte des Briefromans neuen Typs liegt zunächst in der Adressatengruppe, an die sich diese Handreichung im Dienst der schriftkulturellen Alphabetisierung richtet und die in der Titelheldin als Identifikationsfigur Gestalt gewinnt: Pamela ist in dreifacher Hinsicht Repräsentantin einer bildungsfernen sozialen Schicht: durch ihr

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Dabei war der Erfolg von Anfang an mit dem Vorwurf verbunden, er sei durch Trivialität erkauft. Die Richardson-Parodien Fieldings entsprechen etwa den Rousseau-Parodien Voltaires. Auch Lessing, Mendelssohn und Nicolai äußern sich über die Briefromane aller drei Autoren mit deutlicher Reserve.

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weibliches Geschlecht, durch die Armut ihrer Eltern, die sie dazu zwingt, sich als Kammerzofe ihren Lebensunterhalt zu suchen, und durch ihre Zugehörigkeit zur Landbevölkerung. Die Briefsteller des 17. Jahrhunderts hatten sich an die männliche akademische Jugend gerichtet. Wenn jetzt der erfolgreiche Verleger die einfachen Frauen vom Lande als Zielgruppe des Nachhilfe-Unterrichts im Gebrauch der Schrift im Alltag identifiziert, dann ist das ein sprechendes Beispiel für den rasanten Fortschritt, den der Prozess der Veralltäglichung des Schriftgebrauchs gemacht hatte. Eben weil der Autor selbst Autodidakt ist und der Ausgangspunkt seines Weges zur literarischen Produktivität im außerliterarischen kommunikativen Alltag der kulturellen Analphabeten lag, gewinnt er mit seiner literarischen Innovation der poetischen Literatur einen neuen ›Sitz im Leben‹.

3. Zur Poetik des modernen Briefromans Der Aufstieg des Romans zum Leitmedium der literarischen Kultur bedarf so wenig einer Erklärung wie der Aufstieg der Zeitung zum Leitmedium der Alltagskultur. Beides erklärt sich unmittelbar aus dem Alphabetisierungsprozess selbst. Dass eine Bevölkerung, die das Lesen und Schreiben gelernt hat, ihren Informationsbedarf durch die Zeitung und ihren Imaginationsbedarf durch den Roman befriedigt, und zudem im Bereich der Nahweltkommunikation den Brief als Medium der Kultivierung der persönlichen Beziehungen zwischen Freunden und Freundinnen, Eltern, Kindern und Geschwistern und zumal zwischen Liebenden entdeckt, versteht sich ebenso von selbst wie die Nutzung der folgenden medien- und kommunikationstechnischen Innovationen für dieselben Zwecke. Wohl aber bedarf die Frage nach dem Erfolgsgeheimnis des Briefromans in der Gestalt, die ihm Richardson gegeben hat, eines erklärenden Kommentars. Was macht er anders als die älteren Romane und Briefromane? Sowohl die Zeitung wie der Roman tauchen im Alltag dort auf, wo vorher nicht Schrift, sondern Rede war. Die ersten Printmedien, die den Alltag der Gesamtgesellschaft erreichten, waren die religiöse Gebrauchsliteratur und der sogenannte Volkskalender. Die Zeitung ist aber weder ein Äquivalent für die religiösen Rituale der Gebet- und Gesangbücher noch für die profanen Rituale des Volkskalenders mit seinen Aderlassmännlein, Lostagen und astrologisch gedeuteten Planetenkonstellationen, sondern sie ergänzt und marginalisiert die alltäglichen Neuigkeiten vom Hörensagen. Analoges gilt für den Roman. Er löst nicht die Lektüre älterer poetischer Texte ab, sondern ergänzt und ersetzt die Bildung von Erzählgemeinschaften in Familie und Nachbarschaft, an die sich so viele Verfasser autobiographischer Schriften der Epoche gerne und nicht ohne

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Nostalgie erinnern.31 Zwar waren auf dem Markt für Printmedien im 17. Jahrhundert im Rahmen der beginnenden Massenproduktion von Unterhaltungsliteratur (›Curiositätenliteratur‹) eine wachsende Zahl von Titeln aufgetaucht, die dem Leser unterhaltsame Geschichten versprachen, aber diese Kompilationen bestanden typischerweise aus literarisch anspruchsloser aufgeschriebener ›oral poetry‹, die nicht für die selbstgenügsame Lektüre bestimmt war, sondern dem Leser Stoff für die Wiederaufführung im Rahmen von Erzählgemeinschaften an die Hand geben sollten. Erwähnt werden immer wieder die Reisegesellschaft, die Hausgemeinschaft, für deren erbauliche Unterhaltung der Hausvater zu sorgen hat, die Hofgesellschaft und der Kampf des Predigers gegen den Kirchenschlaf.32 Der Briefroman, den Richardson mit der Pamela erfindet und mit der Clarissa perfektioniert, ergänzt nun gerade nicht das Erzählen, sondern gewinnt seinen überlegenen Lesereiz wesentlich dadurch, dass er sich von den Formvorgaben des mündlichen Erzählens emanzipiert, und zwar durch die Aufkündigung der Bindung des narrativen Schreibens an einen wieder- und weitererzählbaren Plot und damit an die zentrale Möglichkeitsbedingung des vor- und außerliterarischen Erzählens. Die Verwandlung des Geschehens in eine wieder- und weitererzählbare Geschichte, der res gestae in die narratio rerum gestarum, ist an eine unvergessliche Ereignisfolge gebunden, also an das, was Aristoteles den Mythos, ein ereignishaftes Substrat aus Anfang, Mitte und Ende, genannt hat. Die ältere Romanliteratur hatte sich von den Formvorgaben des vorschriftlichen Erzählens durch endlose Vermehrung der Plots emanzipiert und Großtexte geschaffen, wie sie nur am Schreibtisch auf der Basis der unbegrenzten Speicherkapazität der Schrift produziert und nur durch stumme Lektüre rezipiert werden können. So besteht beispielsweise der heroisch-galante Roman Aramena, wie Clemens Lugowski nachgezählt hat, aus den miteinander verflochtenen Abenteuergeschichten von ca. dreißig Liebespaaren, die mit zwei Massenhochzeiten enden – ein für die Barockromane typischer hybrider Text, der die Gedächtniskapazität des Lesers hoffnungslos überfordert.33 Richardson geht den umgekehrten Weg.

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Vgl. Helmut Möller: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gruppenkultur. Berlin 1969, S. 252ff. Reiches Anschauungsmaterial für diese Phase der Alphabetisierungsrevolution findet sich in der Dissertation von Uta Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus in der Frühen Neuzeit. Eberhard Werner Happels Relationes Curiosae im Medienverbund des 17. Jahrhunderts. Bremen 2008 (Presse und Geschichte – Neue Beiträge 33). Clemens Lugowski: Die märchenhafte Enträtselung der Wirklichkeit im heroisch-galanten Roman [1936]. In: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Hg. v. Richard Alewyn. Köln, Berlin 31968 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 7), S. 372–394, hier S. 373. Auch Lugowski ist die Kontinuität zwischen der realistischen Inszenierung märchenhafter Liebesgeschichten im Barockroman und dem »vulgären Unterhaltungsroman« aufgefallen, der »schließlich als Gesellschaftsfilm mit der unvermeidlichen Vereinigung der Liebenden am Schluß in ungeheuren Mengen hergestellt und verschlungen wird.« (S. 391)

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Auch er produziert, wie die Clarissa zeigt, tendenziell endlose Großtexte, aber auf der Basis der radikalen Reduktion der ereignishaften Außenseite des Geschehens. »Richardson’s solution was remarkable simple: he avoided an episodic plot by basing his novels on a single action, a courtship.”34 Auch er schreibt Lovestories, und zwar zunächst (mit Pamela) die märchenhaft-glückliche, dann (mit Clarissa) die mythisch-tragische Variante des Dramas der Gattenwahl. Und es versteht sich, dass die Orientierung an diesen Masterplots – einer Art von Aschenputtelgeschichte einerseits und die unsterbliche Geschichte vom frauenräuberischen Despoten, der die Jungfrau durch sein sexuelles Begehren in den Tod treibt, andererseits – zu den Erfolgsbedingungen seiner Romane gehört. Aber immer schon sind die Kommentatoren über die »startling disproportion of scale between story and discourse«, die Diskrepanz zwischen der Simplizität des Plots und des Roman-Umfangs, »between the agonizing simplicity of the novel’s plot and the agonized mass of writing that circles around it« gestolpert.35 Hier liegt auch der Unterschied zu den Briefromanen des älteren Typs. Bei ihnen war der Brief das Mittel, um eine Geschichte zu inszenieren. Bei Richardson kehrt sich das Verhältnis um. Er versteht sich nicht als Literat, sondern verfolgt mit seinen Texten außerliterarische Ziele und Zwecke, und darum dient ihm der Plot als Mittel, um eine zusammenhängende Sequenz von Briefen zu generieren. Damit ist die zweite entscheidende Innovation verbunden: Die Brieffiktion ist das Mittel der Wahl, die Vorgängigkeit des Geschehens vor seiner Verbalisierung aufzuheben. Eben weil die Gestaltungsleistung sich nicht auf die ereignishafte Außenseite, sondern einzig auf die erlebnishafte Innenseite des Geschehens richtet, dient die Brieffiktion dazu, das Erleben und seine Verbalisierung zu synchronisieren.36 Die berühmte Formulierung lautet: »written, as it were, to the Moment, while the Heart is agitated by Hopes and Fears, on Events

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Ian Watt: The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson, and Fielding. London 1972 [Berkeley 1957], S. 152. Bereits Erich Schmidt hat diesen Punkt im Vergleich der Schwedischen Gräfin Gellerts mit Richardson deutlich gemacht: »Den Inhalt der vielbändigen Richardsonschen Romane konnten wir, ohne Wesentliches bei Seite zu schieben, in ein paar Zeilen zusammenfassen; die gedrängte Inhaltsangabe der ›schwedischen Gräfin‹ [...] erforderte mehrere Seiten. [...] Während Richardson [...] die eigentliche Handlung auf ein Minimum herabsetzt, steht Gellert noch so sehr unter der Tradition des älteren Romans, dass [...] eine an Verwicklungen überreiche Handlung geboten wird. Ein wahrer Rattenkönig von Doppelheiraten, Verbrechen und Blutschande. Wo bleibt Richardson? Gellert ist mit diesem Versuche eines moralischen Familienromans kläglich gescheitert.« (Erich Schmidt: Richardson, Rousseau und Goethe. Ein Beitrag zur Geschichte des Romans im 18. Jahrhundert Jena 1875 [ND 1924], S. 29.) Tom Keymer: Samuel Richardson, Clarissa. In: A Companion to literature from Milton to Blake. Ed. by David Womersley. Oxford 2000 (Blackwell companions to literature and culture 7), S. 322–330, hier S. 322. Vgl. statt anderer: Janet Gurkin Altman: Epistolarity. Approaches to a Form. Columbus (Ohio) 1982, S. 122–129: »The Pivotal and Impossible Present«.

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undecided«.37 Das Gestaltungsziel ist eine zukunftsoffene Gegenwartsfolge. In seiner eigenen Wahrnehmung und Begrifflichkeit bestand die darstellungstechnische Innovation darin, keine »history«, sondern eine »dramatic novel« zu schreiben.38 Das bedarf der Erläuterung. Die Brieffiktion macht eine Form des narrativen Schreibens möglich, die auf die Synchronie zwischen dem Geschehen und seiner Mitteilung zielt, die also mit vergleichbarer Radikalität wie das Drama die Vorgängigkeit des Geschehens gegenüber seiner Mitteilung aufhebt. Darin und in der Einheit der Handlung (der bereits genannten Simplizität des Plots) liegt die Analogie zum Drama. Aber die ›dramatic novel‹ lässt sich nicht dramatisieren. Zwar orientiert sich Richardson insbesondere in der Clarissa an den Plots und Situationen der zeitgenössischen Tragödienproduktion, »but it is a tragedy in which event is translated into the language of the inner world.«39 Die Briefe sind keine graphisch codierte direkte Rede. Die Romane Richardsons, Rousseaus und Goethes gestalten zwar Liebesdramen, bestehen aber nicht aus Liebesbriefen. Clarissas Martyrium oder Werthers Leiden lassen sich nicht nur nicht aus der Dritte-Person-Perspektive eines Erzählers wiedergeben; sie lassen sich genauso wenig dialogisieren oder in einen Briefwechsel zwischen den jeweiligen Zentralfiguren übersetzen. Es ist in allen Fällen für die literarische Gestaltung konstitutiv, dass die Verbalisierung der erlebten und erlittenen Interaktionsdramen nicht selbst Teil dieser Interaktionen ist, sondern das situationsverhaftete Erleben und Erleiden verbal für einen abwesenden und unbetroffenen, wenn auch teilnehmenden Dritten aufbereitet. Die Adressaten der Briefe Pamelas, Clarissas oder des Lovelace haben eine analoge Funktion wie die Vertrauten der klassizistischen Dramatik: sie dienen als Mittel der personae narrationis, über ihre inner- und interpersonalen Erleben und Erleiden zu sprechen bzw. zu schreiben, ohne dass der Akt der Mitteilung selbst Teil der mitgeteilten Interaktion ist. Erst auf der Basis dieser Differenz kann die Abwesenheit des Lesers beim Schreiben und des Schreibers beim Lesen jene Frei- und Spielräume der Verbalisierung eröffnen, die die Texte zu suggestiven Imaginationsvorlagen für das Kopfkino des Lesers macht und der literarischen Darstellung die Qualität eines verbalen Films verleiht, der die bis dahin unerhörte Faszinationskraft dieses neuen Romantyps ausmacht. Daraus lassen sich eine Reihe von Konsequenzen ableiten: Erstens folgt daraus, dass die Brieffiktion des modernen Briefromans im Dienst der Imaginati-

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Samuel Richardson: The History of Sir Charles Grandison. In three parts. Ed. with an introduction by Jocelyn Harris. Part 1. London, New York, Toronto 1972, S. 4. Ähnlich schon die Formulierung in einem Brief von Lovelace: »I love to write to the moment.« (Samuel Richardson: Clarissa, or The History of a Young Lady. Ed. with an Introduction and Notes by Angus Ross. London 1985) Ich weise Zitate mit der Sigle ›C‹ und Angabe der Seitenzahl (hier: C 721) im fortlaufenden Text nach. Ira Konigsberg: Samuel Richardson and the Dramatic Novel. Lexington 1968. Margaret Anne Doody: A Natural Passion. A Study of the Novels of Samuel Richardson. Oxford 1974, S. 151.

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onstätigkeit der realen Leserschaft steht. Die Rolle der Eltern Pamelas oder Werthers Wilhelm beschränken sich weitgehend auf die innerliterarische Stellvertreterschaft des Lesers. Insoweit gehört die Brieffiktion der Darstellung, nicht der dargestellten Welt zu.40 Sie spielt bei der Genese des modernen Romans die Rolle eines Vehikels,41 das die Verbalisierung eines Interaktionsdramas aus der Erste-Person-Perspektive des Erlebens motivieren soll, das aber in der Sache mehr oder weniger deutlich überschritten und gesprengt wird (etwa wenn St. Preux die Feder auch dann noch nicht aus der Hand legt, als er die Geliebte auf dem Gang zur verabredeten Liebesnacht bereits kommen hört, und ihr eben dies noch schreibend mitteilt).Weil und insofern die Brieffiktion eine Darstellungsperspektive generieren soll, gehört sie selbst nicht wirklich zur dargestellten Welt. Darum konnte sie durch andere Darstellungskonventionen und -techniken wie personales Erzählen, erlebte Rede, Liquidierung der inquitFormel, innerer Monolog etc. überflüssig gemacht und ersetzt werden.42 Richardson ist nicht einfach nur der Erfinder einer neuen Art von Briefromanen, sondern einer der Schöpfer des modernen Romans als solchem: »The modern novel began with Richardson, and whether or not we are repelled by his puritanism, didacticism, and sentimentality, we must recognize that he did more for the new art form than any other writer of his century.«43 Daraus folgt zweitens, dass dem neuen Briefroman eine Eröffnungsfunktion in der Geschichte der modernen Literatur insgesamt zukommt. Die strukturelle Innovation, also die Ausdifferenzierung eines Sprechens bzw. Schreibens aus der Erste-Person-Perspektive des situationsverhafteten personalen Erlebens von einem Sprechen bzw. Schreiben über das personale Erleben aus der Dritte-Person-Perspektive des Erzählers (und sei es auch die des rückblickenden IchErzählers) blieb nicht auf den Roman beschränkt. Zu den Texten, in denen die kategoriale Differenz zwischen dem anonymen Weltwissen und dem ich-zentrierten Welterleben auf dieselbe programmatische Weise literarisch Gestalt gewinnt wie in den Richardson-Romanen, gehört z. B. die Empfindsame Reise. Laurence Sterne grenzt sich hier von der Faktographie der gängigen Reisebeschreibungen zugunsten der Erfahrungen, die das reisende Ich in der Fremde

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Zu den hermeneutischen Konsequenzen vgl. auch den Beitrag von Robert Vellusig in diesem Band. »What he invented was the dramatic novel, not merely the idea of writing in letters. The epistolary form is a means, not an end. It is an attempt to gain something of the immediacy of a playgoer’s experience«, so Mark Kinkead-Weekes in der Einleitung zur Pamela-Edition in der Everyman’s Library (London, New York 1966), S. VIf. So ist beispielsweise der Eröffnungssatz des Wilhelm Meister (»Das Schauspiel dauerte schon sehr lange.«) ebenso aus der situationsverhafteten Erlebnisperspektive der Figur heraus formuliert und damit ein ›Anfang ohne Anfang‹ wie der erste Satz des Werther (»Wie froh bin ich, dass ich weg bin!«) oder der Eröffnungssatz der Empfindsamen Reise (»›In Frankreich‹, sagte ich, ›versteht man sich besser darauf.‹«). Lessings schon von den Zeitgenossen gerühmte Expositionstechnik in der Minna und Emilia ist das dramatische Äquivalent für diese Anfänge ohne Anfang. Konigsberg: Richardson, S. 1.

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mit sich selbst und in der Begegnung mit dem fremden (typischerweise weiblichen) Du macht, ebenso nachdrücklich ab wie Richardson von der Ereignisfülle der gängigen Romane, und erzielt damit einen gleichermaßen sensationellen europaweiten Erfolg. Vor allem aber stehen der moderne Bewusstseinsroman und die moderne Bewusstseinsdramatik in einem Verhältnis wechselseitiger Anregung. Es war wiederum Diderot, dessen programmatische Überlegungen zur Überwindung des rhetorischen Dramas sich auf die Richardson-Romane beriefen: Besonders entzückt uns das Gemälde der Bewegungen in den häuslichen Romanen. Man sehe nur, wie gern der Verfasser der Pamela, des Grandison und der Clarissa dabei verweilt. Man sehe nur, wie stark, wie bedeutend, wie pathetisch seine Reden dadurch werden. Ich sehe die Person; ich sehe sie, sie mag reden oder mag schweigen; und ihre Aktion 44 rührt mich mehr als ihre Reden.

Dem rhetorischen Drama, so sein Befund, ist die Kunst abhanden gekommen, das vorgestellte Geschehen als personales Erleben imaginierbar zu machen, über die »die Alten« verfügten: »Wir reden in unsern Schauspielen zu viel, und folglich spielen unsere Akteure nicht genug. Wir haben die Kunst, welche die Alten so vortrefflich zu nutzen wußten, ganz verloren«.45 Die Figuren des rhetorischen Dramas sind dort, wo sie über ihr Erleben reden, »selten mehr als eiskalte Zuschauer ihrer Wut, oder altkluge Professoren ihrer Leidenschaft«46, so Schillers Polemik gegen Corneille, in der er sich die Argumentation Lessings und Diderots zueigen macht. Dieselbe Argumentation liegt aber auch der Kritik an den traditionellen Romanen zugrunde, etwa wenn Blanckenburg auf den Spuren Lessings konstatiert: Die Romanendichter schränken sich gewöhnlich aufs bloße Erzählen der Leidenschaften und Empfindungen ihrer Personen ein. Wenn diese lieben, so erzählen sie uns, daß sie lieben; und damit ist die Sache gemacht. […] Und diesen flachen, kahlen Eindruck, den die bloße Erzählung der Begebenheit macht, und der unsre Leidenschaften gar nicht erregt, kann nun der Romanendichter vermeiden, wenn er diese Erzählung in Handlung zu ver47 wandeln weis.

Am Ursprung des modernen Romans und des modernen Dramas steht das Erlernen der Kunst, Texte zu schreiben, die dem Eigenrecht und dem Eigenwert des ich-zentrierten Welterlebens gegenüber dem anonymen Weltwissens ge44

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Denis Diderot: Von der dramatischen Dichtkunst. In: Das Theater des Herrn Diderot. Aus dem Französischen übersetzt v. G. E. Lessing. Anmerkungen u. Nachwort v. Klaus-Detlef Müller. Stuttgart 1986 (RUB 8283), S. 281–402, hier S. 384. Denis Diderot: Unterredungen über den »Natürlichen Sohn«. In: Das Theater des Herrn Diderot, S. 81–179, hier S. 107. Friedrich Schiller: Die Räuber. Unterdrückte Vorrede. In: F.S.: Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Bd. 1. München 1958, S. 481f. Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965 (SM 39), S. 493f. Zum Verhältnis zwischen zeitgenössischer Dramen- und Romantheorie vgl. Robert Vellusig: Verschriftlichung des Erzählens. Medienprobleme des Romans im 17. und 18. Jahrhundert. In: IASL 30 (2005), H. 1, S. 55–97, v. a. S. 88–96.

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recht werden. Dieser Prozess war nun nicht einfach ein innerliterarischer Stilund Gestaltungswandel, sondern integraler Teil der Ausdifferenzierung der Wissens- und der Erlebniskultur als Ganzer, also Teil der unfassenden Verwissenschaftlichung des Weltwissens einerseits und der ebenso umfassenden Ästhetisierung des Welterlebens andererseits. Eine Wissenskultur, die sich über sich selbst aufklären will, muss sich auf das Welterleben als das Andere des Weltwissens unterscheidend beziehen, so wie umgekehrt die Theoretiker und Praktiker der ästhetischen Kulturtechniken sich auf das Wissen als des Anderen des Erlebens beziehen müssen. Das, was von der historistischen Geschichtsschreibung als ›Empfindsamkeit‹ kleingerechnet worden ist, war ein modisches Oberflächenphänomen, bei dem die strukturgeschichtliche Tiefendimension verdeckt blieb. Tatsächlich wurde mit der Entdeckung und Kultivierung des Erlebens eine Schwelle zu unserer eigenen Gegenwart überschritten.

4. Richardsons Clarissa und Lessings Clarissa-Kontrafaktur Die Zeitgenossenschaft, die über Clarissa und Sara Tränen vergossen hat, war denkbar heterogen zusammengesetzt – so unser Ausgangsbefund. Derselbe Befund ergibt sich, wenn man die Autoren und ihre Werke miteinander vergleicht. Lessing und Richardson sind Antipoden. Die Dramatik des einen und die Romane des anderen verhalten sich wie Feuer und Wasser zueinander. Die Kunst, die Leser bzw. Zuschauer Weinen zu machen, beruht auf einer darstellungstechnischen, nicht auf einer wie immer gearteten inhaltlichen Gemeinsamkeit. Zwar ist die Sara seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von den Literarhistorikern als rührselige Dramatisierung der Clarissa gedeutet worden. Aber das beruht auf demselben Typ von Missverständnissen wie die Behauptung, mit seinem Philotas habe Lessing seinen literarischen Beitrag zu den patriotischen Durchhalteparolen im Krieg des Preußenkönigs abgeliefert48 und mit seiner Emilia den antiken Virginia-Mythos in eine bürgerlich-christliche Märtyrertragödie verwandelt.49 Lessing schreibt auch mit seiner Sara keine Wiederholung, sondern eine geistreiche Kontrafaktur der zeitgenössischen Muster. Sara ist eine Anti-Clarissa, und zwar betrifft die Opposition eben jene Punkte, die von Theodor Danzel bis zu Hugh Barr Nisbet als Belege der Abhängigkeit angeführt 48

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Vgl. Verf.: Philotas und Aias, oder Der Kriegsheld im Gefangenendilemma. Lessings Sophokles-Modernisierung und ihre Lektüre durch Gleim, Bodmer und die Germanistik. In: »Krieg ist mein Lied«. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien. Hg. v. Wolfgang Adam u. Holger Dainat in Verb. m. Ute Pott. Wallstein 2007 (Schriften des Gleimhauses Halberstadt 5), S. 317–378. Vgl. Verf.: Lessings dramatisierte Religionsphilosophie. Ein philologischer Kommentar zu Emilia Galotti und Nathan der Weise. In: Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Hg. v. Christoph Bultmann u. Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 159), S. 283–336.

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worden sind, nämlich die Konfliktkonstruktion und -lösung, die Sexual- und Ehemoral, die Sprache der Träume und Ahnungen, die Gestaltung des Sterbens und – vor allem – die religiöse Botschaft des Kirchenchristen Richardson einerseits und des religiösen Aufklärers Lessing andererseits.50 Lessing selbst hat mit Empörung auf die Unterstellung reagiert, er habe mit seiner Sara den Plot der Clarissa dramatisiert, und er hatte dafür gute Gründe. Die Arbeit des Dichtens bestand für ihn erklärtermaßen in der Ausarbeitung eines durchdachten ›Plans‹. Er hätte sich selbst verachtet, wenn er den Plot zu seinem Stück von anderen übernommen hätte. ›Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums‹ ist ihm fremd. Als er seinen Bruder dabei erwischt, wie dieser sich für seine Komödie Der Wildfang des Plots der Komödie The Constant Couple (1700) des englischen Dramatikers George Farquhar bedient, macht er ihm strenge Vorhaltungen: »Du hast nicht wohl getan, daß Du Deine Quelle verschwiegen.«51 Zudem konnte ihm bei seiner Lektüre der Clarissa nicht entgehen, dass die Leidensgeschichte der Titelheldin durchgängig als Modernisierung und Christianisierung des Lucretia-Mythos ausgewiesen wird. Er selbst aber war sich bewusst, seine Sara ebenso durchgängig als Modernisierung und Christianisierung der Medea kenntlich gemacht zu haben. Zunächst sind also die beiden Plotkonstruktionen zu rekonstruieren.

4.1. The Rape of Clarissa Das Martyrium der Lucretia gehört zu den ältesten und prominentesten Varianten des Masterplots vom Kampf zwischen »Tyrannic Love and Virgin Martyr«.52 Voltaire hatte mit seiner Brutus-Tragödie (1730) in England eine Reihe

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Für Danzel (Gotthold Ephraim Lessing, sein Leben und seine Werke. Bd. 1. Leipzig 1850, S. 309) ist das Stück »nichts mehr und nichts weniger als eine Zusammensetzung aus den Grundmotiven des Kaufmanns von London, des ersten bürgerlichen Trauerspiels einerseits, und der Clarissa Harlowe, des ersten Familienromanes, andererseits«. Auch für Nisbet (Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 264) »rührt der wichtigste Einfluß auf Miss Sara Simpson […] von Richardsons Clarissa […]. Abgesehen von den äußeren Zügen wie den Namen […] ähnelt die Zwangslage der Hauptgestalt im großen und ganzen der Clarissas mit ihren moralischen Selbstquälereien, ihrem vergeblichen Drängen auf Eheschließung, ihrem Angsttraum und ihrem Sterben in der Aura der Heiligkeit.« Beide Autoren sind der Meinung, dem Stück sei diese Abhängigkeit nicht gut bekommen. Danzel befindet: »Lessing wird in der Sara zum ersten und letzten Mal in seinem Leben wirklich langweilig.« (S. 311) und Nisbet sekundiert: In der Sara steckt »wenig von dem eigentlichen Lessing: vergeblich sucht man nach Auflockerung durch Witz und Ironie«. Zu den Fehlern des Stücks gehören »Langatmigkeit, gelehrte Anspielungen, oft gestelzter Dialog, überwältigende Gefühlsseligkeit« (S. 281). Das halte ich für ein Missverständnis. Auch die Sara will als eminentes Beispiel für jene »Mischung von Literatur, Polemik, Witz und Philosophie« (Friedrich Schlegel) gelesen werden, die seit je als Signatur der poetischen und prosaischen Produktion dieses Autors gilt. Brief an Karl Lessing vom 6.7.1769. In: Lessing: Werke und Briefe, Bd. 11/1, S. 616. Doody: Natural Passion, S. 99.

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von Nachahmern gefunden, die zu Richardsons Bekanntenkreis gehörten. Dadurch war der Lucretia-Mythos in seinen Gesichtskreis geraten. Dazu kam die prominente Rolle, die der Selbstmord der Lucretia in der theologischen und philosophischen Suizid-Debatte dadurch gewonnen hatte, dass Pierre Bayle in dem Lucretia-Artikel seines (1738 ins Englische übersetzten) Dictionnaire versucht hatte, ihren Ehren-Selbstmord gegen die Kritik des Augustinus zu verteidigen, und zwar durch das Beispiel einer Nonne, die von Soldaten vergewaltigt wird: Let us suppose that se had contracted such a love for the purity both of body and mind, that the bare idea of the most involuntary pollution, should throw her into a most insupportable sorrow, and she should die of it, would not this be convincing proof of the highest chastity? Would not her innocence and virtue be thereby set in a more lovely light? And yet, were we to follow St. Austin’s dilemma, as much as should be given to her affliction, would in proposition be substracted from her chastity; si pudica, cur mortua? Thus it is manifest, that the argument of this Father of the Church is rather subtle than solid. And thus Lucretia is perfectly secured from St. Austin’s attacks, except with regard to the murther; for had she died only of grief, both he and the rest of the Fathers of the Church would have con53 firmed, by her dying in that manner, the praises of her incomparable chastity.

Das ist zwar kein überzeugendes Argument gegen Augustinus, der die christlichen Frauen, die bei der Eroberung Roms durch die Westgoten unter Alarich (410) vergewaltigt worden waren und diese Entehrung überlebten, als die wahren Heldinnen gegen das Vorbild der Lucretia mit der Begründung verteidigt, deren Selbstmord sei ein reiner Ehrenmord gewesen, der sich weder moralisch noch religiös rechtfertigen lasse.54 Aber das Martyrium der hypothetischen Nonne Bayles liest sich wie das Konzept für eine Tragödie einer christianisierten Lucretia, als die Richardson seine Clarissa ausweist. Belford, der Briefpartner des Wüstlings und modernen Tarquinius Lovelace, prophezeit ihm den tragischen Ausgang, der die Titelheldin zu einer neuen Lucretia machen werde: If thou proceedest, I have no doubt that this affair will end tragically, one way or other. It must. Such a woman must interest both gods and men in her cause. But what I most apprehend is, that with her own hand, in resentment of the perpetrated outrage, she (like another Lucretia) will assert the purity of her heart: or, if her piety preserve her from this violence, that wasting grief will soon put a period to her days. (C 710)

Das ist der Clarissa-Plot im Klartext. Im Zentrum des Geschehens steht Entehrung und Schändung der Titelheldin durch den ›tyrant lover‹, der Befriedigung seiner despotischen Gelüste auf dem Gebiet des ›battle of sexes‹ sucht. Bereits in der Pamela hatte Richardson diesen Masterplot

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die die the des

Pierre Bayle: Lucretia. In: A General Dictionary, Historical and Critical […] of the Celebrated Mr. Bayle. Translated by John Peter Bernard, Thomas Birch, and John Lockman. Vol. VII. London 1738, S. 212–220, hier S. 217. Vgl. Ian Donaldson: The Rapes of Lucretia. A Myth and its Transformations. Oxford 1982, S. 58f. Vgl. Aurelius Augustinus: Werke. Hg. v. Carl Johann Perl. Bd. 16: Der Gottesstaat. De Civitate Dei. Bd. 1. In deutscher Sprache v. C. J. P. Paderborn [u. a.] 1979, S. 53–65 (Buch 1, Kap. 25–28).

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Geschlechterkampfs herbeizitiert (und damit sein nächstes Romanprojekt angekündigt). Als Pamelas Herr sie auf seine Knie zu ziehen sucht, gerät sie in Panik: O now I was terrified! I said, like as I had read in a book a night or two before, »Angels and saints, and all the host of heaven, defend me! And may I never survive, one moment, that fatal one in which I shall forfeit my innocence!« […] He by force kissed my neck and lips; and said, »Who ever blamed Lucretia? All the shame lay on the ravisher only: and I am content to take all the blame upon me [...].« – »May I«, said I, »Lucretia-like, justify myself with my death, if I am used barbarously?« – »O my good Girl!« said he, tauntingly, 55 »you are well read, I see […].«

Als er seinen Worten Taten folgen lässt und ihr mit der Hand in den Busen greift, reißt Pamela sich los, schließt sich in einem Zimmer ein, und fällt für zwei Stunden in Ohnmacht, wie ihr despotischer Liebhaber durchs Schlüsselloch beobachtet. Das sind dieselben Ingredienzien, aus denen auch die Clarissa gemacht ist. Gemeinsam ist erstens die umstandslose und durchgängige Identifikation von sexueller Unberührtheit mit Tugend und Frömmigkeit: »to rob a person of her virtue is worse than cutting her throat«,56 weiß Pamela. Auch Clarissas ultimativer Tugendbeweis besteht in der Bereitschaft, vor der Vergewaltigung in den Tod zu fliehen. Als Lovelace den Ausbruch eines Feuers zum Vorwand nimmt, nachts in ihr Zimmer einzudringen, ergreift das Opfer in panischer Angst zunächst zu einer Schere, um sich mit diesem Dolchersatz seiner Attacke zu entziehen, und erfleht dann auf den Knien den Tod von seinen Händen: Kill me! kill me! – If I am odious enough in your eyes, to deserve this treatment; and I will thank you! – Too long, much too long, has my life been a burden to me! – or, wildly looking all around her, give me but the means, and I will instantly convince you that my honour is dearer to me than my life! (C 725)

Der fromme Teufel Lovelace erkennt: »By my soul, thought I, thou art upon full proof an angel and no woman!« (C 725f.), und muss anerkennen, dass es »truly pious, and truly virtuous girls (now I believe there are such)« gibt (C 728). Die Richardson-Philologie hat im Einzelnen nachgewiesen, dass und wie sich Richardson mit dieser und vergleichbaren Szenen seines Romans an den Motive der zeitgenössischen heroischen Trauerspiele orientiert.57 Zudem sind die beiden für die Lucretia-Ikonographie zentralen Bild-Motive nicht zu übersehen: das Eindringen des gewalttätigen Mannes in das Schlafgemach der halb entkleideten Frau, deren er sich zu bemächtigen sucht, und das Bild der Frau im Glanz ihrer entblößten weiblichen Schönheit, mit dem tödlichen Dolch in der Hand. 55 56 57

Samuel Richardson: Pamela. In two volumes. Introduction by Mark Kinkead-Weekes. Vol. 1. London, New York 1972 (Everyman’s Library 683), S. 20. Ebd., S. 93. Vgl. Doody: Natural Passion, S. 119.

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Die Schändung selbst gelingt ihrem teuflischen Liebhaber, der sich selbst abwechselnd mit dem Frauenräuber Jupiter und dem Satan Miltons vergleicht, nur dadurch, dass er ihr das Bewusstsein raubt. »All the princes of the air, or beneath it, joining with me, could never have subdued her while she had her senses« (C 899). So muss er zum Betäubungsmittel Laudanum greifen, um sich an der bewusstlosen Frau zu vergehen. Auch sie selbst betont immer wieder, nur weil sie »robbed indeed of my intellects« (C 997) gewesen sei, habe sich dieser moderne Tarquinius – »A less complicated villainy cost an Tarquin« (C 895) – ihrer bemächtigen können. Damit entzieht ihr Autor sie jener mit dem Selbstmord Lucretias verbundenen kruden Kasuistik, nur durch den Tod beweisen zu können, zum unfreiwilligen Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein, und verbürgt ihre mentale Jungfräulichkeit und Asexualität. Nach der Schändung ist der frommen Christin die Flucht in den Selbstmord, mit dem sie zuvor mehrfach gedroht hatte, versperrt. Stattdessen stirbt sie den geistlichen Selbstmord der Nonne Pierre Bayles. Zwar ist die natürliche Folge der sexuellen Missbrauchs einer bewusstlosen Frau allenfalls eine ungewollte Schwangerschaft, auf die Lovelace hofft, und nicht ein ungewollter Tod. Richardson braucht aber den Tod, um seine Heldin zur Heiligen stilisieren zu können, die für ihr irdisches Martyrium im Jenseits entschädigt wird. Clarissas Sterben ist das eigentliche Telos der Plotkonstruktion und das Erste, was bei der Konzeption des Romans von Anfang an feststand.58 Clarissa, so schreibt der Autor in einem der vielen Briefe, mit denen er sein Werk kommentiert, »is designed to make those think of Death who endeavour all they can to banish it from their Thoughts«.59 Das letzte Drittel des Romans ist der Ausgestaltung des Themas »Holy and Unholy Dying«60 gewidmet. Dabei sucht und findet er seine Inspirationsquellen im Bereich der religiösen Gebrauchs- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts, etwa in der Reden des berühmten Predigers Tillotson, die auch Gellert nach Auskunft des oben zitierten Briefs zu seiner Erbauung zu lesen pflegte und aus gegebenem Anlass zugunsten der Richardson-Lektüre vernachlässigt. In der Predigt The Wisdom of Religion justified, in the different Ends of good and bad Men (1686)61 beschreibt Tillotson eindrucksvoll die Seelenqualen des Sünders, der auf seinem Totenbett von Sündenfurcht und Höllenangst terrorisiert wird, und liefert damit eine der Vorlagen für den schrecklichen Tod der Verzweiflung, der am Beispiel des Mr. Belton, einer der 58 59 60

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Vgl. E. Derek Taylor: Reason and Religion in Clarissa. Samuel Richardson and ›the Famous Mr. Norris, of Bemerton‹. Farnham 2009, S. 1–31 (»The End of Clarissa«). Brief an Aaron Hill vom 12.7.1749. In: Richardson: Selected Letters, S. 126. Vgl. Taylor: Reason and Religion, S. 3. Doody: Natural Passion, S. 150–187 (»Holy and Unholy Dying: The Deathbed Theme in Clarissa«). Für entsprechende deutschsprachige und französische Zeugnisse vgl. Uli Wunderlich: Sarg und Hochzeitsbett so nahe verwandt! Todesbilder in Romanen der Aufklärung. St. Ingbert 1998 (Schnabeliana 4). John Tillotson: Sermon CXXXIII. The Wisdom of Religion justified, in the different Ends of good and bad Men. In: The Works of the Most Reverend Dr. John Tillotson [...]. Seventh Edition. London 1714, S. 200–212. Vgl. Doody: Natural Passion, S. 158.

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Freunde des Lovelace, in aller Ausführlichkeit vorgestellt wird, und in dem hoffnungslosen Verlangen nach Annihilierung der eigenen Existenz gipfelt: »To hear the poor man wish he had never been born! To hear him pray to be nothing after death! Good God! how shocking!« (C 1242), so berichtet Belford an Lovelace. Noch grässlichere Züge gewinnt das Sterben der Prostituierten und Bordellbesitzerin Mrs Sinclair, die Lovelace dabei geholfen hatte, Clarissa zu quälen und zu schänden. Sie gehört – als weibliches, geistloses und abstoßend hässliches Pendant zu dem immerhin geistvollen und attraktiven Satan Lovelace – zu den menschlichen Teufeln, die mit diabolischer Lust das Böse tun, weil es das Böse ist. Ihr Sterben entfaltet ihr Autor zu einem wahren Horrorgemälde physischer und psychischer Qualen: Die, did you say, sir? – die! – I will not, I cannot die! – I know not how to die! – Die, sir! – And must I then die! – leave this world! – I cannot bear it! […] I cannot, I will not leave this world. Let others die who wish for another! who expect a better! – I have had my plagues in this: but would compound for all future hopes, so as I may be nothing after this! (C 1389)

Vor diesem Hintergrund erglänzt das Sterben Clarissas in einem umso strahlenderen Licht. Auch hier spricht Richardson dieselbe Sprache wie die ›devotional literature‹: »He that looks upon death only as a passage to glory, may welcome the messengers of it as bringing him the best and most joyful news that ever came to him in his whole life«,62 schreibt Tillotson in einem seiner Sermons und liefert dem Roman-Autor damit wiederum einen Text, den er nur von der dritten in die erste Person zu übersetzen braucht. Clarissa weiß zwar einerseits, dass sie ihr Leben nicht verkürzen darf; sie weiß aber auch, dass sie sterben wird, und fragt ihre Ärzte: »Tell me how long you think I may hold it? And believe me, gentlemen, the shorter you tell me my time is likely to be, the more comfort you will give me« (C 1249). Ihre Apotheose erfährt Clarissa in dem prophetischen Traum des Lovelace, der ihm das eigene grässliche Ende und die überirdische Verklärung Clarissas verkündet. Zunächst zeigt ihm der Traum das Duell mit Morden, in dem er die tödliche Wunde empfangen wird. Als Clarissa um sein Leben bittet, will er sie mit seinen Armen umfangen. Da verwandelt sie sich in eine himmlische Erscheinung: immediatly the most angelic form I had ever beheld, vested all in transparent white, descended from a ceiling, which, opening, discovered a ceiling above that, stuck round with golden cherubs and glittering seraphs, all exulting: Welcome, welcome, welcome! and, encircling my charmer, ascended with her to the region of seraphims; and instantly, the opening ceiling closing, I lost sight of her, and of the bright form together [...]. And then (horrid to relate!) the floor sinking under me, as the ceiling had opened for her, I dropped into a hole […], I awakened in a panic (C 1218).

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John Tillotson: Sermon VIII. Of the Happiness of a Heavenly Conversation. In: Tillotson: Works, S. 91–101, hier S. 99. Vgl. Doody: Natural Passion, S. 172.

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Das ist – so wird man doch wohl sagen müssen – literarischer Devotionalienkitsch. Die Stilisierung der sterbenden Clarissa zur heiligen Jungfrau der unbefleckten Vergewaltigung mitsamt ihrer Himmelfahrt und dem Höllensturz ihres diabolischen Liebhabers stellt die Identifikation von christlicher Frömmigkeit mit Tugend und von religiösem Freigeistertum mit moralischer Lasterhaftigkeit wieder her, gegen die Bayles »Refutation of St. Austin’s dilemma«63 sich gerichtet hatte. Das Dilemma des Augustinus lautet: Entweder Lucretia tötet sich, weil sie Ehebruch begangen hat, dann ist sie nicht zu loben, oder sie blieb keusch, dann tötet sie eine Unschuldige. »Si adulterata, cur laudata? si pudica, cur occisa?«64 Mit seiner fiktiven Nonne sucht Bayle zu demonstrieren, dass Augustinus hier »more subtility, than solidity«,65 »mehr Spitzfindigkeit, als Gründlichkeit«66 (so Gottscheds Übersetzung) demonstriere. Wer der christlichen Nonne die Tugend der Keuschheit zuspreche, der dürfe sie der nichtchristlichen Lucretia nicht absprechen. Diese Demonstration der Unabhängigkeit von Tugend und Laster von der Religion stellt Richardson auf den Kopf und betreibt damit religiöse GegenAufklärung. Seine Lucretia-Modernisierung stellt sich in den Dienst der ideenpolitischen Propaganda für das traditionelle Kirchenchristentum und gegen religiöse Freigeisterei, indem er die Keuschheit zum ultimativen Frömmigkeitsbeweis erhebt und die Position des religiösen Freigeists mit einem Wüstling besetzt, der nicht etwa die christliche Religion bezweifelt oder gar überhaupt ohne Religion auskommt, sondern ein menschliches Abbild des Satans Miltons ist, der gleichzeitig »lästert und zittert« und seine sexuellen Verbrechen selbst als gotteslästerlich wahrnimmt. Als Antwort auf die Frage der religiösen Aufklärung nach der Wahrheit des überlieferten religiösen Erbes lässt sich eine solche Konfiguration gewiss nicht verstehen. Es ist instruktiv, in diesem Zusammenhang einen Blick auf Lessings Auseinandersetzung mit dem Lucretia-Motiv zu werfen. Denn auch bei ihm taucht die Lucretia-Kritik des Augustinus und damit – darauf hat Friedrich Vollhardt zu Recht hingewiesen67 – implizit auch die von Bayle geführte Debatte auf, und zwar an einer höchst prominenten Stelle, nämlich im Finale der Emilia, dort, wo sie sich zur Begründung ihres Todeswunsches auf das Vorbild der christlichen Märtyrerinnen beruft, die auf der Flucht vor sexueller Verfolgung zu Tausenden 63 64 65

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67

Bayle: Lucretia, S. 217. Ebd. So der Wortlaut in der englischen Übersetzung der zweiten Auflage, die offensichtlich auch Gottscheds Vorlage darstellte. Pierre Bayle: Lucretia. In: The Dictionary Historical and Critical of Mr. Peter Bayle. The Second Edition. Vol. 3. London 1736, S. 909–917, hier S. 913. Pierre Bayle: Lucretia. In: Herrn Peter Baylens Historisches und Critisches Wörterbuch, nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt […] von Johann Christoph Gottscheden. Dritter Teil. Leipzig 1743, S. 203–209, hier S. 207. Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt: Sinn und Unsinn literaturwissenschaftlicher Innovation. Mit Beispielen aus der neueren Forschung zu G. E. Lessing und zur ›Empfindsamkeit‹. In: Aufklärung 13 (2001), S. 33–69, hier S. 65ff.

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in die Fluten gesprungen seien und als Heilige verehrt würden (V/7). Bereits 1904 hatte Gustav Kettner darin den zitathaften Hinweis auf die Kritik des Augustinus an den Ehrenmorden des Lucretia- und Virginia-Typs erkannt und philologisch korrekt nachgewiesen, dass der von Emilia und Odoardo gemeinschaftlich begangene Selbst- und Kindesmord aus Furcht vor einem sexuellen Sündenfall dort mit allem Nachdruck als in sich unsinnig und unchristlich verworfen wird.68 Der Gedanke, Lessing könne diese Kritik bewusst herbeizitiert haben, um den Gebildeten unter seinen Lesern und Kollegen den Schlüssel zur Konzeption seiner Virginia-Modernisierung an die Hand zu geben, bei der das, was in den konventionellen Lucretia- und Virginia-Dramen so unkritisch zur exemplarischen Tugendprobe verfeierlicht worden war, als das Produkt einer wahnhaften und selbstzerstörerischen Verblendung kenntlich gemacht wird, vor dem auch der fromme Tugendheld nicht gefeit ist, lag so weit außerhalb des Vorstellungshorizonts Kettners (und der gesamten älteren Lessing-Philologie), dass er in seiner Erklärungsnot auf die absurde Unterstellung verfiel, das Zitat dieses eminenten Kenners der Patristik beruhe auf einem »Irrtum Lessings über die Anschauungen des Katholizismus vom Selbstmord«,69 verbunden mit dem üblichen Kopfschütteln über die verfehlte Motivierung des Schlusses. So musste die Entdeckung des Augustinus-Zitats folgenlos bleiben und ist in Vergessenheit geraten. Erst in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde es neu entdeckt, diesmal aber in sein Gegenteil verkehrt. Die von Kettner offengelegte kognitive Dissonanz wurde nun durch die Unterstellung beseitigt, bei Augustinus werde der Selbstmord aus Furcht vor sexueller Verfolgung legitimiert und eben darum habe Lessing sich mit seinem Zitat auf ihn berufen. Dieser krasse Lesefehler ist zwar inzwischen korrigiert worden, die Frage nach der Funktion des Zitats ist aber immer noch offen.70 Die hier vertretene Antwort lautet: Mit der Emilia verwandelt Lessing den Virginia-Mythos nicht in eine christlich-bürgerliche Märtyrertragödie, sondern in eine Anti-Virginia, bei der 68 69 70

Gustav Kettner: Lessings Dramen im Lichte ihrer und unserer Zeit. Berlin 1904, S. 288. Ebd. Vgl. zur Genese und Korrektur dieses Lesefehlers Verf.: Dramatisierte Religionsphilosophie, S. 290f. – Das Beispiel des überlesenen bzw. in sein Gegenteil verkehrten Augustinus-Zitats zeigt ebenso wie die Desinformationen über die Quellen der Sara, die die Kommentatoren seit Generationen voneinander abschreiben, auf welch fragwürdigen philologischen Grundlagen der gängige Interpretationsbetrieb dieses Lieblingsautors der Germanistik noch immer beruht. Das gibt mir Gelegenheit, auf eine der seltenen substanziellen Erweiterungen und Vertiefungen des Textverständnisses hinzuweisen, die die LessingPhilologie zu verzeichnen hat und von der das Thema ›dramatisierte Religionsphilosophie‹ zentral betroffen ist. Sie besteht in dem Nachweis, dass Lessing in der Religion Zarathustras einen vierten Monotheismus entdeckt hat, dem er im Nathan und im Alcibiades-Fragment auch dramatisch Gestalt gegeben hat, und weiterhin in der umfassenden Rekonstruktion des religionshistorischen und religionsphilosophischen Diskussionszusammenhangs, dem diese Gedankenspiele zugehören. Diese bemerkenswerten Entdeckungen finden sich in der großen Abhandlung des Philosophen Stephan Eberle: Lessing und Zarathustra. In: Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft 17 (2006/07) [2008], S. 73–130.

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der Kindesmord aus Tugendliebe diejenige Stelle einnimmt, die in den konventionellen Virginia- und Lucretia-Tragödien dem sexuellen Begehren des frauenräuberischen Despoten zukommt.71 Wer die Emilia als neue Einkleidung des Virginia-Mythos zu lesen versucht, kann nur das groteske Scheitern ihres Autors konstatieren. Bei der Lektüre der Sara steht der Leser vor demselben Dilemma: Wer das Stück als eine Art von Clarissa-Dramatisierung zu lesen versucht, kann über den Autor nur den Kopf schütteln. Auch hier erschließt sich die Konzeption nur, wenn man das polemisch akzentuierte Oppositionsverhältnis dieser Medea-Modernisierung zu Richardsons Lucretia-Modernisierung mitvollzieht. Die Lucretia-, Virginia- und Medea-Mythen sind Varianten eines Musters: Jedes Mal wird ein Ehrenmord in Gestalt eines Selbst- oder Kindesmords exekutiert, der im Dienst der Rache an dem männlichen Beleidiger der weiblichen Ehre steht. Während Richardson den Sieg der keuschen Tugend über das sexuelle Laster feiert, verwandelt Lessing in beiden Dramen den Sieg des Rachebedürfnisses über die Kindesliebe in die eigentliche moralische Katastrophe.

4.2. Die Rache der ›neuen Medea‹ Was hat das alles mit Lessings Sara zu tun? Alles und nichts, so möchte man sagen, insofern Lessing von dem allen das genaue Gegenteil macht. Das betrifft zunächst den Plot. Sowohl die Clarissa wie die Sara werden als tragische Versionen des ›battle of the sexes‹ ausgewiesen, und zwar werden beide Titelheldinnen Opfer eines ›rake‹, also eines Wüstlings, der zu den stehenden Figuren der Restoration comedy gehört. Dennoch haben die Plots der beiden Tragödien so viel oder wenig miteinander zu tun wie der Lucretia-Mythos und der JasonMedea-Mythos. Clarissa wird das Opfer der aggressiven Sexualität eines Mannes, der sich das Objekt seiner Begierde mit despotischer Gewalt unterwirft. Sie stirbt, weil sie sich über den Verlust ihrer sexuellen Unberührtheit zu Tode grämt, könnte man sagen – wenn ihr Autor nicht jede natürliche Erklärung verweigern müsste, um ihr Sterben zum Abbild der Verklärung einer Heiligen machen zu können. Lessings Frauenheld hingegen ist ein moderner Jason. Seine Titelheldin Sara stirbt, weil sie, die ›neue Geliebte‹, die Rache der verstoßenen ›alten Geliebten‹ und ›neuen Medea‹ Marwood dadurch auf sich zieht, dass sie sich an der moralischen Rechtfertigung ihrer Verstoßung beteiligt. Die Tatsache, dass sie sich in der Vorgeschichte von dem modernen Frauenhelden hat verführen lassen und damit ihre Jungfräulichkeit, dieses höchste Gut der Clarissa, immer schon verloren hat, spielt dabei nicht die mindeste Rolle, wie ja auch in der antiken Vorlage Jason die Rache der alten Geliebten nicht wegen sexueller Untreue, sondern wegen der Verstoßung der Mutter seiner Kinder auf sich zieht, die eben jene Zugehörigkeit zum Königshaus für ihn aufgeopfert 71

Ausführlich dazu Verf.: Dramatisierte Religionsphilosophie.

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hatte, die er nun auf ihre Kosten für sich selbst durch die Ehe mit der Königstochter Kreusa gewinnen will. Beide Texte sind nicht nur Modernisierungen, sondern auch Christianisierungen der antiken Mythen. In beiden Texten werden die jeweiligen Konflikte in der Bildersprache der christlichen Mythen von Teufel und Engel, Hölle und Himmel, Erlösung und Verdammung etc. ausgetragen; in beiden Texten wird das Ende des Konfliktverlaufs durch prophetische Träume antizipiert und das Sterben der Titelheldin minutiös ausgestaltet. Aber alle diese Gemeinsamkeiten stehen unter dem Gesetz des polemisch akzentuierten Gegensatzes. Während Richardson seine Titelheldin zur christlichen Märtyrerin der Keuschheit stilisiert, macht Lessing aus der Medea des Euripides, der ältesten und prominentesten aller aus dem Geschlechterkampf geborenen Rachetragödien, ein Lehrstück über das meta-moralische Doppelgebot der Bergpredigt »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet« und »Vergebt, so wird euch vergeben«, wie schon einer der ersten Rezensenten, der Theologe Michaelis, angemerkt hat. Wer sich mit Lessings Anthropologie und Religionsphilosophie vertraut gemacht hat, der weiß, dass es in seiner Welt menschliche Engel und Teufel nach Art der Clarissa-Lovelace-Konfiguration ebenso wenig gibt wie den Himmel und die Hölle des religiösen Wunsch- und Alptraums, in die Richardson seine Figuren auf- und niederfahren lässt. [W]enn es wahr ist, daß der beste Mensch noch viel Böses hat, und der schlimmste nicht ohne alles Gute ist: so müssen die Folgen des Bösen jenem auch in den Himmel nachziehen, und die Folgen des Guten diesen auch bis in die Hölle begleiten; ein jeder muß seine 72 Hölle noch im Himmel, und seinen Himmel noch in der Hölle finden.

So entmythisiert Lessing mit Hilfe der Philosophie Leibnizens die Bildersprache der religiösen Mythen, die sich – wenn man sie, wie der Kirchenchrist Richardson, im 18. Jahrhundert noch immer wörtlich versteht – in kruden Aberglauben verwandelt. Es wäre darum ein fundamentaler hermeneutischer Kunstfehler, die Religion der Figuren mit der ihres Autors zu identifizieren. Erstens gewinnt die Sprache der religiösen Mythen in Lessings Drama unüberhörbar metaphorische Züge, und zweitens ist der Autor der Sara so wenig ein Christ wie der Autor des Nathan – das unterscheidet die Sara ganz grundsätzlich von der Clarissa. Lessing schreibt die Sara (wie dann die Emilia und den Nathan), um die Bildersprache der religiösen Mythen zu entmythisieren und damit gleichsam zu retten: Das religiöse Erbe lässt sich nicht einfach als Priestertrug und Aberglaube entsorgen; es spricht vielmehr in der Sprache des Mythos von erfahrbaren Wirklichkeiten, und es ist das erklärte Ziel dieses Autors, der auch

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Gotthold Ephraim Lessing: Leibnitz von den ewigen Strafen. In: G. E. L.: Werke und Briefe in 12 Bänden. Bd. 7: Werke 1770–1773. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a. M. 2000 (Bibliothek deutscher Klassiker 172), S. 472–501, hier S. 497. Zur Einheit von Lessings religionsphilosophischem und dramatischem Werk vgl. Verf.: Dramatisierte Religionsphilosophie.

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seine Dramatik in den Dienst der Theologiekritik und Religionsphilosophie stellt, eben diese Wirklichkeiten zur anschauenden Erkenntnis zu bringen. Am Ursprung des Einfalls, die Medea zu modernisieren, liegt die Entdeckung des eminenten Philologen Lessing, dass in der Bergpredigt die Medea und in der Medea die Bergpredigt zitiert wird. »Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ›Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.‹ Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde …« (Matthäus 5, 43f.), so zitiert das Neue Testament das ebenso alltägliche wie archaische Gesetz der Freund-Feind-Orientierung. Es ist dieses Ethos, auf das sich Medea zur Rechtfertigung ihrer Rache beruft: »Nie hab ich den niederen Sinn geteilt, / Nie hat man mich feig oder schwach gesehn: / Den Feinden furchtbar, den Freunden treu: / So gedenke man meiner in aller Welt!«73 Die attische Tragödie antwortet auf dieses vorpolitische Ethos der Rache und Vergeltung durch ein Ethos der Konfliktbegrenzung, auf das die Polis bei Strafe ihres Untergangs angesichts der immer drohenden ›Stasis‹, des Zerfalls der politischen Handlungs- und Schicksalsgemeinschaft, angewiesen war. Darum lautet die Antwort der Chorführerin als der Stimme der Polis: »Du hast uns geheimste Gedanken vertraut; / Als treuester Freund und im Namen des Rechts / Der Menschen verbiet ich die furchtbare Tat!«74 Für den Pfarrerssohn Lessing war es schlechterdings unmöglich, die Verwandtschaft dieses Ethos der Konfliktbegrenzung mit dem urchristlichen Ethos der Feindesliebe zu übersehen. Das Bergpredigt-Ethos antwortet auf die destruktive Rückbezüglichkeit der Rache und Vergeltung mit dem Gebot der Vergebung und der Feindesliebe: »Ich aber sage Euch: Liebet eure Feinde.« Wenn Sir William sich im Finale sich selbst anklagend sagt: »Sollen wir nur die lieben, die uns lieben?«,75 dann beruft er sich ebenso ausdrücklich auf diese Antwort, wie sich die Marwood als »neue Medea« (II/7) ihrer Rache rühmt. Lessings eigentliches Thema und Gestaltungsziel ist diese Logik der Selbsterfüllung. Der göttliche Grund der Wirklichkeit begegnet dem Menschen im anderen Menschen. Indem die Menschen einander lieblos, richtend und verdammend begegnen, provozieren sie sich wechselseitig zu Rache und Vergeltung, und schaffen sich so die einzige Hölle und die einzigen Teufel, die es für sie gibt. Und umgekehrt: Indem sie einander liebend und vergebungsbereit 73

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Euripides: Medeia. In: Euripides: Sämtliche Tragödien und Fragmente (griechischdeutsch). Bd. 1. Hg. v. Gustav Adolf Seeck. Übers. v. Ernst Buschor. München 1972, S. 88–181, hier S. 141. (V. 806ff.) Zu Lessings Modernisierung der Medea des Euripides vgl. die ausführliche Analyse in: Verf.: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stuttgart 1986 (Germanistische Abhandlungen 57), S. 87–98. Ebd. (V. 810ff.) Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel, in fünf Aufzügen. In: G. E. L.: Werke und Briefe in 12 Bänden. Bd. 3: Werke 1754–1757. Hg. v. Conrad Wiedemann unter Mitwirkung v. Wilfried Barner u. Jürgen Stenzel. Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek deutscher Klassiker 184), S. 431–526. Ich weise Zitate mit Angabe des Aufzugs und des Auftritts (hier: V/9) im fortlaufenden Text nach.

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begegnen, können sie an der »unüberschwenglichen Seligkeit Gottes« partizipieren, »dessen ganze Erhaltung der elenden Menschen ein immerwährendes Vergeben ist« (III/3), und schaffen sich damit den einzigen Himmel und die einzige Seligkeit, die ihnen in der erfahrbaren Wirklichkeit zugänglich ist. Diese Erfahrung der destruktiven Rückbezüglichkeit des Richtens und Verdammens und der konstruktiven Rückbezüglichkeit der Liebe und Vergebung wird in Gestalt der Liebesproben ausbuchstabiert, mit denen sich die Figuren konfrontiert sehen und die hier die Stelle einnehmen, die bei Richardson den Keuschheitsproben zukommt. Die Architektur dieser Rachetragödie besteht aus einer Doppelhandlung, nämlich aus einer zwischen den Geschlechtern spielenden Rachehandlung und einer zwischen den Generationen spielende Vergebungshandlung. Beide sind durchgängig in der Form der Spiegel- und Gegenbildlichkeit aufeinander bezogen. In der Eltern-Kind-Beziehung ist es am ehesten möglich, den Sieg der Liebe über die Eigenliebe als erfahrbare Wirklichkeit vorzustellen. Die Geschlechterbeziehung, in der der eine Partner seine Lust und der andere seinen Nutzen sucht, ist hingegen das geeignete Spielmaterial, um den Sieg der Eigenliebe über die Liebe durchzuspielen, der sich in einem Prozess wechselseitiger Verletzungen zu einem Rachebedürfnis steigert, das über die Liebe zum Kind triumphiert und dabei selbstzerstörerische Züge gewinnt. Auch die Architektur dieser Medea-Modernisierung lässt sich als Kontrastprogramm zur modernisierten Lucretia-Tragödie Clarissas verstehen. Hier ist die Vater-Kind-Beziehung von exakt derselben Despotie geprägt wie die MannFrau-Beziehung. Bereits in der Liste der »Principal Charakters« wird der Esquire James Harlowe als »despotic, absolute, and when offended not easily forgiving« (37) vorgestellt. Dieser Vater setzt gegenüber der Tochter seinen Willen mit derselben unglaublichen Lieb- und Erbarmungslosigkeit durch wie der Esquire Lovelace, ihr despotischer Liebhaber. Die Funktion dieser PlotArchitektur liegt darin, Clarissa zum schuldlosen Opfer zu stilisieren, um ihr jene religiöse Verklärung zuteil werden zu lassen, auf die es Richardson bei seinem Unternehmen ankommt. Lessings erklärtes Ziel ist es hingegen, seine Titelheldin die Erfahrung der Wahrheit des Doppelgebots der Bergpredigt machen zu lassen. Das Mittel der Wahl sind hier die Liebesproben, mit denen sie durch die um ihretwillen verstoßene ›alte Geliebte‹ konfrontiert wird. Zunächst lässt sich Sara dazu hinreißen, sich in einer wahren Orgie des Richtens und Verdammens an der selbstgerechten Rechtfertigung der Verstoßung der alten Geliebten zu beteiligen, durch die bereits Mellefont die Marwood zur Raserei der Rache getrieben hatte. Und zwar liegt hier die – für Lessing typische – ironische Pointe darin, dass sie die Versöhnung mit dem Vater in einem Akt blasphemischer Egozentrik dem Himmel zuschreibt und als Mittel im Kampf gegen die Konkurrentin einsetzt, obwohl sie sehr wohl – wie der für die Exposition zentrale Orakeltraum (vgl. I/7) verrät – weiß, dass es eben die Marwood war, die sie ins Werk gesetzt hat. Die zweite Liebesprobe besteht in der Konfrontation mit der Medea-Frage, ob das Rachebedürfnis über die Liebe zum Kind oder die Elternliebe über das

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aus dem Geschlechterkampf geborene Rachebedürfnis siegen soll. Es ist wiederum die ›neue Medea‹ Marwood, die nach der Vergiftung der neuen Geliebten die Opfer ihrer Rache mit dieser Frage konfrontiert, indem sie das Kind als Geisel nimmt und zu töten droht, wenn sie der rächenden Gerechtigkeit ausgeliefert wird. Der Vater Mellefont lässt sich von Marwoods Rache-Triumph um den Verstand bringen und besteht auf der Verfolgung durch die rächende Gerechtigkeit. Sara hingegen verhindert diesen indirekten Kindesmord, indem sie das Bekennerschreiben vernichtet und Mellefont dazu verpflichtet, die Mutter entfliehen zu lassen, um das Kind zu retten. Zusammen mit Arabella soll er dem verwaisten Sir William in der Rolle des Sohnes die verlorene Tochter ersetzen. Mit dieser Erwartung der Versöhnung und Wiedergutmachung auf der Basis des Verzichts auf Rache und Vergeltung hat Sara ihren verlorenen Seelenfrieden wieder gefunden und erfährt – nach dem Erleiden der destruktiven Folgen des Richtens und Verdammens – nun auch die heilende Kraft der Vergebung, und auch diese Erfahrung gehorcht der Logik einer ganz natürlichen Selbsterfüllung. Mellefont freilich wird durch Saras Tod in die innere Hölle der »stummen Verzweiflung« desjenigen stürzen, der sich selbst seine Tat nicht vergeben kann. Zwar wird er auch von Sir William dazu aufgefordert, dem verwaisten Vater das verlorene Kind und dem verwaisten Kind die verlorene Mutter zu ersetzen und auf diese Weise das Geschehene wieder gutzumachen, aber dazu ist er in der Raserei der Rache, zu der er sich von Marwoods Rache-Triumph hatte vergiften lassen, nicht fähig. »Diese Heilige befahl mehr, als die menschliche Natur vermag!« (V/10) – mit diesem Argument weist er die Aufforderung zur Annahme der Vergebung und zur Wiedergutmachung zurück, als werde damit Übermenschliches von ihm verlangt. Statt das Natürliche zu tun, tut er das Absurde und ersticht sich mit dem Dolch, den er der Marwood abgenommen hatte. Mit diesem Kindesmord raubt er dem Vater, dem er die Tochter geraubt hatte, zum zweiten Mal das Kind und vollendet damit die Rache der ›neuen Medea‹. So bleibt es am Ende Sir William überlassen, durch das Nathan-Motiv der Adoption des Kindes der Mörder seines Kindes die Vergebungshandlung und damit dieses Lehrstück über die selbstzerstörerische Logik der Rache und die heilende Kraft der Vergebung zu beschließen.

4.3. Die Rolle der Sexualität In der Sara werden drei Kontexte ausdrücklich herbeizitiert: die antike MedeaLiteratur (Euripides, Seneca, Ovid und die Argonautica des Apollonios Rhodios), die Bergpredigt und das Milieu der Richardson-Romane. Das hatte die im Banne des positivistischen Historismus stehende Lessing-Philologie des 19. Jahrhunderts dazu verführt, die Ähnlichkeiten mit der Clarissa als Abhängigkeiten zu lesen und Lessing zu unterstellen, er habe mit seiner Sara nicht nur

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die Namen und das Milieu, sondern auch die christliche Deutung der Sexualmoral von Richardson übernommen. Noch immer kann man lesen, der Konflikt Saras bestehe in der »Erfahrung des vorehelichen Sexualverkehrs als Sünde«.76 In dieser Hinsicht ist denn doch eine Ehrenrettung der Sara und ihres Autors fällig. Immer schon ist den Richardson-Lesern die geradezu pornographische Monomanie aufgefallen, mit der sich dieser Vater von vier erwachsenen Töchtern, der mit seinen zwei Ehefrauen insgesamt zwölf Kinder gezeugt hat, von seinem ersten Roman an, den er im reifen Alter von 50 Jahren schreibt, auf das eine und einzige Thema der sexuelle Unberührtheit seiner weiblichen Heldinnen fixiert. Bereits seine Pamela hat denn auch alsbald aus diesem Grund den Spott Henry Fieldings in Gestalt der parodistischen Kontrafaktur Shamela auf sich gezogen. Auch Lessing hat die Fixierung auf die Sexualmoral in der Clarissa als moralistisch verkleidete Pornographie wahrgenommen und in dem zwischen Fielding und Richardson ausgetragenen Literaturstreit für Fielding Partei genommen und sich eine einschlägige Kritik aus der Monthly Review zu eigen gemacht, in der es heißt, es gebe »very delicate persons«, die sich zwar über die offene Sprache in Fieldings Tom Jones entrüsten, »while the impure and oscene thoughts that occur in ›Clarissa‹, have not given them the least umbrage.«77 Die späteren Leser und Kommentatoren sind immer wieder über diesen Punkt gestolpert. So konstatiert etwa D. H. Lawrence: »Boccaccio at his hottest seems to me less pornographical than Pamela or Clarissa Harlowe«.78 Der Autor des Richardson-Artikels im New Pelican Guide to English Literature schreibt, Swifts »broom-stick« zitierend: »Richardson is ›sharing all the while in the very same pollutions he pretends to sweep away‹. Pamela is sentimental and obscene: its obscenity is a direct result of its sentimentaly.«79 Lothar Müller identifiziert Richardsons Romane als »Pornographie für Puritaner«80 und wandelt damit ein Diktum des Literarhistorikers V. S. Pritchett ab: »What is it that the Puritan cannot get out of his mind, so that it is a mania and obsession? It is sex. Richardson is mad about sex.«81 Schon Erich Schmidt nimmt an Richardsons Sexualmoral Anstoß: »Man vergaß, wie unsittlich im Grunde diese Moral-

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So Axel Schmitt in: Gotthold Ephraim Lessing: Miß Sara Sampson. Text und Kommentar. Frankfurt a. M. 2005 (Suhrkamp BasisBibliothek 52), S. 164. In der Notiz über »Delicatesse« in den Paralipomena zur Hamburgischen Dramaturgie in: G. E. L.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 6: Werke 1767–1769. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a. M. 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker 6), S. 695–713, hier S. 710. D. H. Lawrence: Pornography and Obscenity. In: D. H. L.: Phoenix. The Posthumous Papers. Ed. with an Introduction by Edward D. McDonald. London 1936, S. 170–187, hier S. 174. Frank W. Bradbrook: Samuel Richardson. In: The New Pelican Guide to English Literature. Vol. 4: From Dryden to Johnson. Ed. by Boris Ford. London 1957, S. 291f. Lothar Müller: Mund der Wahrheit. Pornographie für Puritaner: Der Starr-Report jetzt im Bahnhof. In: F. A. Z. vom 4.11.1998, S. 41. V[ictor] S[awdon] Pritchett: Clarissa. In: V. S. P.: The Complete Essays. London 1990, S. 155.

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fracht sei, wenn die fabelhafte spröde Zofe mit tausend Freuden ihr Ja sagte, sobald der lüsterne Baronet sich zu dem Umweg durch die Kirche verstand.«82 Derselbe Gedanke wird von Ian Watt ausführlich entwickelt. Über Pamela heißt es dort: His sub-title, ›Virtue Rewarded‹, draws attention to the immitigable vulgarity of the books moral texture; it is surely evident that Pamela is in any case chaste only in a very technical sense which is of scant interest to the morally perceptive, and that Fielding hit upon the major moral defect of the story when he made Shamela remark: ›I thought once of making 83 a little fortune by my person. I now intend to make a great one by my virtue.‹

Wenn Clarissa wegen des »tapferen und ängstlichen Zusammenhaltens der Unterröcke« (wie Gottfried Keller mit Bezug auf eines der im 19. Jahrhundert produzierten unsäglichen Virginia-Dramen sarkastisch formuliert) zu einer Heiligen und Märtyrerin stilisiert wird, für deren irdische Leiden es keine angemessenen irdischen Kompensationen geben kann und die deshalb »could not be rewarded by any hapiness short of the Heavenly«, wie Richardson in einem seiner Briefe schreibt,84 wird dieser bornierte Moralismus nicht geheilt, sondern eher noch gesteigert. Ian Watt erblickt in dieser Verbindung aus Lüsternheit und Puritanismus eine zukunftsträchtige Vorform des Hollywood-Kinos: »In the Hollywood film, and in the type of popular fiction which Richardson initiated, we have an unprecedentedly drastic and detailed Puritan censorship in conjunction with a form of art which is historically unique in its arousing sexual interests.«85 Es seien eben diese »ambiguities of the sexual code«, die Richardson dazu befähigt hätten, »to produce the first true novel«, und zwar in Gestalt eines Werkes, »that could be praised from the pulpit and yet attacked as pornography, a work that gratified the reading public with the combined attractions of a sermon and a striptease.«86 Wenn man der Lessing-Philologie glauben will, dann hat der Autor der Sara und Emilia sich desselben bornierten Moralismus schuldig gemacht wie der Autor der Pamela und Clarissa. Aber das beruht auf dem Typ von Missverständnissen, von denen oben bereits die Rede war. Das Clarissa-Thema, der Verlust der sexuellen Unberührtheit, wird bereits mit den ersten Sätzen der Exposition als moralisch irrelevant entsorgt. »Es war der Fehler eines zärtlichen Mädchens, und ihre Flucht war die Wirkung ihrer Reue. Solche Vergehungen sind besser, als erzwungene Tugenden« – so kommentiert ihr Vater im Namen seines Autors die Tatsache, dass sich seine Tochter in der Vorgeschichte hat verführen lassen. Auch Sara selbst bekennt sich in der Konfrontationsszene mit Marwood zu dieser antimoralistischen »Sitten-

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Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften Bd. 1. 4. Aufl. Berlin 1923, S. 262. Watt: Rise of the Novel, S. 170. Samuel Richardson: Selected Letters. Ed. by John Carroll. Oxford 1964, S. 99. Watt: Rise of the Novel, S. 171. Ebd., S. 172.

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lehre«, die bereit ist, »die menschliche Schwachheit zu entschuldigen, wenn sie in diesen Schranken [die uns die Tugend bei der Liebe setzt] nicht geblieben ist, und die daraus entstehenden Folgen nach den Regeln der Klugheit zu beurteilen.« (IV/8) Gegenüber Marwood, die in der Maske einer Lady Solmes mit ihr spricht, muss auch Sara eingestehen, dass sie Mellefont mit ihren »Reizen […] zu gefallen bestrebt« (IV/8) war und sich dazu hat verführen lassen, dem »Liebhaber« die »Rechte eines Gemahls« einzuräumen. »Mellefont besitzt alles, was uns eine Mannsperson gefährlich machen kann. Niemand kann hiervon überzeugter sein, als Miß Sampson selbst« (IV/8) – darin sind sich die beiden vom selben Mann verführten Frauen einig, die beide im vertrauten Umgang mit ihm die Unmöglichkeit erfahren haben, dass »ein hitziges Temperament diese engen Grenzen [der Freundschaft] nicht überschreiten sollte« (IV/8). Saras Schuldbewusstsein speist sich denn auch keineswegs aus dem Verlust ihrer sexuellen ›Unschuld‹, sondern aus der moralischen Schuld, die sie dadurch auf sich geladen hat, dass sie ihren Vater, der sie liebt, hintergangen, verlassen und damit – wie sie fürchtet und er bestätigt – an den Rand des Grabes gebracht hat. Diesen Liebesverrat, den sie aus Liebe zum Mann an dem geliebten Vater begangen hat, ist die Schuld, die sie sich selbst nicht vergeben könnte, wenn der Vater seinerseits nicht dazu fähig wäre, sein Straf- und Rachebedürfnis, mit dem er zunächst auf diesen Liebesverrat reagiert hatte, zu überwinden und seiner Tochter und ihrem Verführer seinerseits zu vergeben. Aber der junge Autor begnügt sich nicht damit, in dieser provokativen Manier die Stelle, die bei Richardson die Sexualmoral einnimmt, durch das Bergpredigt-Ethos zu besetzen. Vielmehr wird mit derselben Lust an der Provokation die Sexualität als solche literarisch gestaltet, und zwar dadurch, dass sie auf der Bühne in Form eines veritablen verbalen Geschlechtsakts ausgestellt wird – auch das in betontem Kontrast-Programm zu Richardson, der zwar eine Million Wörter dazu verwendet, um seinen Leserinnen das sexuelle Begehren des Mannes und seinen Lesern den heroischen Widerstand seiner Heldin in der Imagination mit- und nachvollziehbar zu machen, den Sexualakt selbst jedoch ausgespart. Er wird erstens in die verdeckte Handlung dieser ›dramatic novel‹ verlegt – der entscheidende Satz, mit dem der Täter seinem Vertrauten Belford – und der Autor seinen Lesern – den Vollzug der Schändung mitteilt, lautet: »And now, Belford, I can go no farther. The affair is over. Clarissa lives.« (C 883) Zweitens erspart der Autor dieses ersten modernen Bewusstseinsromans seiner Heldin das bewusste Erleben dessen, was mit ihr geschieht. Bereits in der Pamela hatte sich die Titelheldin der drohenden Vergewaltigung mehrfach dadurch entzogen, dass sie in Ohnmacht fiel. Entsprechend wird die Schändung Clarissas an einer bewusstlosen Frau exekutiert. Es versteht sich, dass ein derart einseitiger Sexualakt mit Erotik nichts zu tun hat. »Sexual penetration of an unconscious woman gives him little if any erotic pleasure«,87 so befindet eine Kommentatorin. Die Austreibung der Lust 87

Doody: Natural Passion, S. 103.

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aus der Sexualität kann man auch drastischer formulieren: »Lovelace hates sex itself and he turns this sexual act into an unforgettable expression of that contempt [...] the rape is probably the most thoroughly sexless act of sexual intercourse in all literature«.88 Lessings Kontrastprogramm zu dieser Perversion der Sexualität besteht aus der Rekapitulation des Gangs der wechselseitigen Verführung, der mit dem ersten Anblick beginnt und mit dem gemeinsam genossenen Orgasmus seinen Höhepunkt findet. Es ist Marwood, die den treulosen Liebhaber an diese Urszene erinnert: Ich will Sie an den ersten Tag erinnern, da Sie mich sahen und liebten; an den ersten Tag, da auch ich Sie sahe und liebte; an das erste stammelnde, schamhafte Bekenntnis, das Sie mir zu meinen Füßen von Ihrer Liebe ablegten; an die erste Versicherung von Gegenliebe, die Sie mir auspressten; an die zärtlichen Blicke, an die feurigen Umarmungen, die darauf folgten; an das beredte Stillschweigen, wenn wir mit beschäftigen Sinnen einer des andern geheimsten Regungen errieten, und in den schmachtenden Augen die verborgensten Gedanken der Seele lasen; an das zitternde Erwarten der nahenden Wollust; an die Trunkenheit ihrer Freuden; an das süße Erstarren nach der Fülle des Genusses, in welchem sich die ermatteten Geister zu neuen Entzückungen erholten. (II/3)

Das ist ein erstaunlicher Text. Eine so offene, geradezu physiologisch präzise Darstellung des Liebesakts wird man in der Literatur des 18. Jahrhunderts vor und neben Lessing vergeblich suchen. Dennoch handelt es sich auch bei dieser Passage um ein Musterbeispiel der für Lessing so charakteristischen Kunst des geistreichen Zitats, folgt doch seine verbale Zweitfassung des Liebesakts in zitathafter Wortwörtlichkeit der topischen Formel von den »quinque lineae amoris«, die zum festen Motivbestand der erotischen Dichtung seit der Antike gehören: »Quinque enim lineae sunt amoris, scilicet visus, allocutio, tactus, osculum sive suavium, coitus.«89 Das ist der natürliche Gang der wechselseitigen Verführung, den Marwood rekapituliert: Am Anfang steht der visus, der Wechselblick, der zur Liebe entflammt (»da Sie mich sahen und liebten … da auch ich Sie sahe und liebte«); dann folgt die allocutio, das wechselseitige Liebesgeständnis (»das erste stammelnde, schamhafte Bekenntnis«); darauf der tactus und die oscula sive suavia, die feurigen Umarmungen und Küsse, die zum coitus überleiten, der im Genuss des gemeinsam erreichten Orgasmus gipfelt. Bevor er die Sara publiziert, hatte Lessing seine Rettungen des Horaz erscheinen lassen, in denen er sich als eminenter Kenner und Liebhaber der anti88 89

John Allen Stevenson: »Alien Spirits«: The Unity of Lovelace and Clarissa. In: New Essays on Samuel Richardson. Ed. by Albert J. Rivero. London 1996, S. 85–99, hier S. 87. So Aelius Donatus in seinem Kommentar zu Terenz, Eunuchus IV/2, und Porphyrio in seinem Kommentar zu Horaz, Carm. 1, 13, 15, zit. nach Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948, S. 421. Heinz Schlaffer hat den topischen Charakter der »quinque lineae« in der erotischen Literatur des 18. Jahrhunderts nachgewiesen. Vgl. Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland. Stuttgart 1971 (Germanistische Abhandlungen 37), S. 77ff.

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ken erotischen Literatur ausgewiesen und seinen Lieblingsdichter auf höchst offensive Weise gegen den Vorwurf verteidigt hatte, er sei »in den venerischen Ergötzungen unmäßig gewesen«.90 Die »quinque lineae amoris« hatte er dort gefunden, wo auch die modernen Philologen, nämlich Ernst Robert Curtius und Heinz Schlaffer, sie wiederentdeckt haben: bei den antiken Kommentatoren der antiken Literatur, im Terenz-Kommentar des Aelius Donatus und im HorazKommentar des Scholiasten Porphyrio. Diese offensive Behandlung des Themas Sexualität steht in mehrfacher Hinsicht in Opposition zu Richardson und dem von ihm repräsentierten Ethos. Erstens opponiert Lessing mit dem programmatischen Insistieren auf dem sexuellen Klartext gegen die Verbindung von Prüderie auf der Textoberfläche mit der Stimulierung von Sexualphantasien, die er an Autoren wie Richardson und Gellert kritisiert. Prüderie gilt ihm, wie sein Bruder berichtet, als Zeichen für »Sinnenstumpfheit und Heuchelei«.91 Zweitens trägt das Bekenntnis zur Antike programmatische Züge. Die christliche Kultur und Erziehung, die – wie es in seiner bekannten Werther-Kritik heißt – »ein körperliches Bedürfnis so schön in eine geistige Vollkommenheit zu verwandeln weiß«,92 hält er ebenso für einen Irrweg, der die menschliche Natur verfehlt, wie das christliches Verständnis des Todes als der Sünde Sold. Gegen beides beruft er sich durchgängig auf die nichtchristliche Antike als der besseren, weil der menschlichen Natur angemesseneren Alternative. Und darum gestaltet er drittens so überaus nachdrücklich die Wechselseitigkeit der sexuellen Lusterzeugung und -gewährung dort, wo Richardson mit gleichem Nachdruck die Einseitigkeit des Sexualakts betont, den der Mann am bewusstlosen Leib der asexuellen Frau exekutiert und den ein Interpret geradezu als »necrophilic aspect of the rape«93 identifiziert hat. Darin liegt zugleich seine Antwort auf die Frage, wie sich die Liebe und die sexuelle Lust zueinander verhalten. Richardson gibt seine Antwort auf diese Frage im Nachwort zur Clarissa, in dem er seine Heldin gegen den Vorwurf verteidigt, sie sei »too cold in her love«: It was not intended that she should be in Love, but in Liking only, if that expression may be admitted. It is meant to be every-where inculcated in the Story, for Example-sake, that she never would have married Mr. Lovelace, because of his immoralities, had she been left to herself; and that her ruin was principally owing to the persecutions of her friends. What is too generally called Love, ought (perhaps as generally) to be called by another name. Cupidity, or a Paphian Stimulus, as some women, even of condition, have acted, are

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93

Gotthold Ephraim Lessing: Rettungen des Horaz. In: Lessing: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 153–197, hier S. 163. K[arl] G[otthelf] Lessing: Gotthold Ephraim Lessings Leben. Von neuem mit Anmerkungen hg. und eingel. v. Otto F. Lachmann. Leipzig: Reclam [1887], S. 35. Brief an Johann Joachim Eschenburg vom 26.10.1774. In: G. E. L.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 11/2: Briefe von und an Lessing 1770–1776. Hg. v. Helmuth Kiesel [u. a.]. Frankfurt a. M. 1988. (Bibliothek deutscher Klassiker 36), S. 667. Stevenson: Alien Spirits, S. 88.

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not words too harsh to be substituted on the occasion, however grating they may be to deli94 cate ears.

Lessings Antwort auf die Frage nach dem angemessenen Wortgebrauch findet sich in seinen Reflexionen über ›Liebe‹ und ›Hass‹, zu denen ihn Edmund Burkes Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful angeregt hatten, und von denen eine dem Verhältnis von ›Liebe‹ und ›Wollust‹ gilt: Was hat aber der Genuß der venerischen Wollust mit der Liebe gemein, daß man ihn des Namens der Liebe gewürdigt hat? Setzt er die wahre Liebe voraus? oder sollte er sie doch wenigstens voraussetzen? Keins von beiden. Das Wesen der Liebe besteht darin, daß ich das Vergnügen der geliebten Person für das meinige, und mein Vergnügen für das ihrige halte. Nun aber findet sich eine ähnliche Erscheinung bei der venerischen Wollust; die angenehmen Empfindungen der einen Person sind von den angenehmen Empfindungen der andern unzertrennlich; die einen reizen und unterhalten die andern; keins von beiden weiß, ob es mehr Vergnügen erhält oder mitteilt. Und aus dieser ähnlichen Erscheinung kömmt es, daß man den Beischlaf zu einer Art von Liebe gemacht. Er ist es auch in den kurzen Augenblicken seiner Dauer wirklich, und vielleicht die intimste Liebe in der ganzen Na95 tur.

Unaufgeregter kann man über Sexualität nicht sprechen. Nirgendwo in Lessings gesamten Denken und Dichten findet sich der denunziatorische Gestus, mit dem Richardson den »Paphian Stimulus« verfolgt – im Gegenteil.96 Zur »unheiligen Leidenschaft« wird das Streben nach der sexuellen Lust freilich dort, wo sie – wie in der Beziehung zwischen Mellefont und Marwood – eigennützige Züge annimmt. Sexuelle Attraktivität ist eine leicht verderbliche Ware und darum für sich genommen ungeeignet, ein dauerhaftes Liebesverhältnis zu stiften. Wer, wie Mellefont, »seiner Lust wegen« (II/4) bereit ist, die Opfer seiner Verführungskunst »in unabsehliches Unglück« (I/3) zu stürzen und »auf das grausamste« (IV/8) zu hintergehen, der handelt allerdings lasterhaft, und zwar nicht, 94

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So die Erläuterung in der Nachschrift zur dritten Auflage, in der Richardson auf Briefe seiner Leserinnen und Leser reagiert. Samuel Richardson: CLARISSA. OR, THE HISTORY OF A YOUNG LADY: Comprehending The most Important Concerns of Private Life. And particularly shewing, The Distresses that may attend the Misconduct Both of Parents and Children, In Relation to Marriage. Vol. VIII. The Third Edition. London 1751, S. 290. Gotthold Ephraim Lessing: Bemerkungen über Burke’s Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Begriffe vom Erhabenen und Schönen. In: G. E. L.: Werke und Briefe in 12 Bänden. Bd. 4: Werke 1758–1759. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 148), S. 448–452, hier S. 451. Als Minna durch die Wiedervereinigung mit Tellheim in einen Glücksrausch versetzt wird, äußert sich ihr Glück nicht nur in einem Gebet, das nichts mehr zu tun hat mit dem contemptus-mundi- und memento-mori-Frömmigkeit der ›devotional literature‹, an der sich Richardson orientiert (»Ich bin glücklich! und fröhlich! Was kann der Schöpfer lieber sehen als ein fröhliches Geschöpf!«); sondern sie erlebt dieses Glück ausdrücklich als Aufhebung des pseudo-moralischen und pseudo-religiösen Gegensatzes zwischen Frömmigkeit und Wollust: »Franziska, wenn alle Mädchens so sind, wie ich mich jetzt fühle, so sind wir – sonderbare Dinger – zärtlich und stolz, tugendhaft und eitel, wollüstig und fromm.« (II/7)

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weil er sexualmoralische Normen, sondern weil er andere Menschen verletzt und sich extrem lieblos und eigensüchtig verhält. Es ist wiederum Marwood, die sich dort, wo es ihren eigenen Interessen dient, dieser moralisch relevanten Dimension der Sexualität zur Sprache verhilft und an Mellefonts Gewissen appelliert. Nicht in der Verführung des unerfahrenen Mädchens liege seine Schuld, sondern darin, dass er durch die gemeinsame Flucht den Vater und die Tochter ins Unglück gestürzt habe: Allein, daß Sie einem alten Vater sein einziges Kind raubten; daß Sie einem rechtschaffnen Greise die wenigen Schritte zu seinem Grabe noch so schwer und bitter machten; daß Sie, Ihrer Lust wegen, die stärksten Bande der Natur trennten: das, Mellefont, das können Sie nicht verantworten. Machen Sie also Ihren Fehler wieder gut, so weit es möglich ist, ihn gut zu machen. (II/4)

Den scheinbaren Sieg bei dem Versuch, den treulosen Liebhaber zurückzuerobern, kommentiert sie mit dem Satz: »Ach, ich weiß es ja, daß die Redlichkeit Ihres Herzens allezeit über den Eigensinn Ihrer Begierden gesiegt hat.« (II/4) Das ist zwar einerseits ein Beispiel für die bitteren Witze, an denen dieser Text so reich ist, versucht doch die Marwood, die wie ihr antikes Vorbild die neue Geliebte unter Berufung auf die Solidarität der Frauen gegenüber den Männern vergiften wird, den Frauenheld Mellefont dadurch an sich zu binden, dass sie ihm das Ausleben seiner Begierden auf Kosten der Redlichkeit seines Herzens bei anderen Frauen ausdrücklich zugesteht. Andererseits spricht sie aber auch moralischen Klartext. Nicht der Gegensatz zwischen Keuschheit und Unkeuschheit, sondern zwischen dem Eigensinn der Begierden und der Redlichkeit des Herzens ist der Ursprung des Bösen, aus dem das Leid entspringt, das Anspruch auf das Mit-Leid der Zuschauer machen kann. An diesem Zwiespalt leiden aber auch alle anderen Hauptfiguren dieses Stücks.

5. Medien und Mentalitäten. Über ›Phänomene der dritten Art‹ Lessing und Richardson sind mit ihren literarischen Werken gleichermaßen zu Schlüsselfiguren im Prozess der Modernisierung der Literatur geworden. Beide machen dabei das Medium zur Botschaft. Sie lautet: Das Gestaltungsziel der poetischen Literatur muss das personale Welterleben sein. Lessing erklärt sich über diesen Punkt im programmatischen Ersten Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie mit der ihm eigenen Klarheit und Bewusstheit: [S]ich aus dem Gesichtspunkte des Erzehlers in den wahren Standort einer jeden Person versetzen können; die Leidenschaften nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen, und ohne Sprung, in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu las-

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sen, dass dieser sympathisieren muß, er mag wollen oder nicht: das ist es, was […] das 97 Genie […] tut, und was der bloß witzige Kopf nachzumachen, vergebens sich martert.

Das ist die gemeinsame Schnittmenge zwischen der Bewusstseinsdramatik Lessings und der ›dramatic novel‹ Richardsons. Auch Lessings erklärtes Ziel ist die Minimalisierung der ereignishaften Außenseite des Geschehens zugunsten eines Maximums an ›innerer Handlung‹, mit dem Ziel den Bewusstseinsprozess der dramatis personae zum eigentlichen Schauplatz des dramatischen Geschehens zu machen. Beide Autoren ratifizieren damit die poetischen Gestaltungsmöglichkeiten, die der epochale Verschriftlichungsprozess der Literatur eröffnet hatte, und verabschieden eine Dichtkunst, die aus einer Schriftkultur stammte, deren Texte für die kulturellen Praktiken der Redekultur bestimmt waren. Lessing findet seinen Lieblingsgegner bekanntlich im Dramatiker Voltaire, dem Repräsentanten des rhetorischen Dramas. Nun ist die Dominanz der Rhetorik das Signum einer Schriftkultur, die im Dienst der Eloquenz und der Vermittlung von Formulierungswissen stand und die im 18. Jahrhundert deshalb zu einem medienhistorischen Anachronismus wurde.98 Die rhetorische Rede richtet sich per definitionem an die Gruppe. Die kulturrevolutionäre Konsequenz der neuen periodischen und nicht-periodischen Printmedien liegt aber gerade in der Herstellung einer Öffentlichkeit, die jede reale Interaktionsgemeinschaft überschreitet. Analoges gilt für den Privatbrief. Für die Kommunikation des Ich mit dem Du sind die rhetorischen Rede-Rituale der traditionellen Briefsteller dysfunktional und wurden deshalb in Gellerts Briefreform entsorgt. Hier liegt auch der Grund dafür, dass das rhetorische Drama obsolet wurde. Die rhetorische Rede ist ungeeignet, die innere Unendlichkeit des bewussten Welterlebens auszugestalten. Voltaire ist zwar der erfolgreichste Dramatiker seiner Zeit, markiert aber keinen Anfang, sondern ein Ende. Seine 29 Tragödien und 14 Komödien haben ihre Epoche nicht überlebt. Lessing hingegen hat mit seinem nächsten für die Bühne bestimmten dramatischen Text, seiner Minna, das älteste moderne Drama der Deutschen geschaffen, das bis heute auf der Bühne und im Bewusstsein der Gebildeten lebendig geblieben ist, so wie Goethe mit seinem Werther auf den Spuren Richardsons den Deutschen ihren ältesten modernen Roman gegeben hat. Die Gemeinsamkeit zwischen den Autoren liegt also auf der Ebene der Gestaltungsweise, nicht aber auf der Ebene der dargestellten Inhalte, der Ideologien oder Mentalitäten. Das sollte durch die vergleichende Lektüre der beiden Texte deutlich gemacht werden. Die Entdeckung und Kultivierung der neuartigen Möglichkeiten, die der epochale Medienwandel der poetischen Literatur

97 98

Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 181–694, hier S. 187f. Vgl. Verf.: Das Ende der Rhetorik und der Aufstieg der Publizistik. Ein Beitrag zur Mediengeschichte der Aufklärung. In: Kultur und Alltag. Hg. v. Hans-Georg Soeffner. Göttingen 1988 (Soziale Welt. Sonderbd. 6), S. 171–190.

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eröffnet hatte, lassen sich nicht angemessen als Epiphänomene mentalitäts-, ideologie-, wissens- oder ökonomiehistorischer Wandlungsprozesse rekonstruieren. Kommunikationsmedien und -techniken bilden soziokulturelle Wirklichkeiten nicht ab, sondern sind an ihrer Konstitution beteiligt, so lehren die inzwischen zum Gemeinplatz gewordene zentrale Inspiration der Medientheorie und unser eigener Alltag. Mediengeschichtsschreibung ist also rückwärtsgewandte Technikfolgenabschätzung. Sie fragt nach den Spielräumen und Zwangsläufigkeiten, den Wirkungen und Nebenwirkungen, den Folgen und Folgelasten, die mit den kommunikationstechnischen Basis-Innovationen verbunden waren. Solche Folgen sind »Phänomene der dritten Art« in dem einleitend von den Herausgebern erläuterten Sinn – zwangsläufige Folgen menschlichen Handelns, die als solche nicht intendiert, nicht vorhersehbar und nicht zu verhindern waren.99 Nun hat die historistische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts den Medien- und Kulturwandel des 18. Jahrhunderts bekanntlich durch die Bedürfnisse von aufsteigenden Kollektivsubjekten – der deutschen Nation und des deutschen Bürgertums – zu erklären versucht. Das ist noch immer nicht Vergangenheit. Es sind nach wie vor »die aufsteigenden bürgerlichen Mittelschichten«, die sowohl als »die Hauptträger der Aufklärungsbewegung«100 wie als Träger des »europäischen Sentimentalismus«101 und damit für den KinoEffekt des modernen Romans und Dramas in Anspruch genommen werden. Die Plausibilität dieses Passe-partout-Deutungsmusters beruht auf der Evidenz, dass der allgemeine Medien- und Kulturwandel per definitionem weder eine Sache von exklusiven Kasten wie der Hofaristokratie oder der lateinischen Gelehrtenkultur sein konnte, noch von den bürgerlichen und unterbürgerlichen Schichten getragen worden ist, die ihren Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit gewannen und darum der Schriftkultur von Hause aus fernstanden. Mithin kommt als Träger primär die ›Gruppe der Gruppen‹ in Frage, deren männliche Mitglieder in ihrem beruflichen Alltag ohnehin auf den Gebrauch der Schrift angewiesen waren. Die Schwächen dieses Deutungsmusters sind jedoch seit langem be-

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Vgl. Rudi Keller: Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. 2., überarb. und erw. Aufl. Tübingen, Basel 1994 (UTB 1567), S. 87–95. Wilfried Barner: Über die Verstehbarkeit des ›Aufklärers‹ Lessing. In: Aufklärung im 21. Jahrhundert. Hg. v. Helwig Schmidt-Glintzer. Wiesbaden 2004 (Wolfenbütteler Hefte 18), S. 11–40, hier S. 19. Dieses Deutungsmuster beginnt sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchzusetzen. So versteht etwa der preußisch-nationalistische Historiker Heinrich von Treitschke die Sara als Beitrag zum ideologischen Klassenkampf des deutschen Bürgertums: »Schon ›Sara Sampson‹, dies erste bürgerliche Trauerspiel der Deutschen, konnte nur gedichtet werden in einem Volke, dessen Mittelstände sich erhoben, und wirkte belebend zurück auf das Selbstgefühl dieser Klasse.« Heinrich von Treitschke: Lessing (1863). In: H. v. T.: Historische und politische Aufsätze. Bd. 1. 4. verm. Aufl. Leipzig 1871, S. 55–72. Zit. nach: Lessing – ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Hg., eingel. u. komm. v. Horst Steinmetz Frankfurt a M., Bonn 1969, S. 375. Barner: Verstehbarkeit, S. 22.

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kannt. Erstens gab es diese Schichten nicht erst seit dem 18. Jahrhundert;102 von einer signifikanten Aufstiegsbewegung im Übergang von 17. zum 18. Jahrhundert kann nicht die Rede sein. Und zweitens hat es eine in sich homogene Sozialformation ›Bürgertum‹ im 18. Jahrhundert in Deutschland – geschweige denn in Europa – weder als Stand noch als Klasse gegeben, sondern nur eine Pluralität sozio-kulturell heterogener Mittelschichten. Die Vorstellung, der ›europäische Sentimentalismus‹ lasse sich auf einen gesamteuropäischen Wandel der Sozialstruktur zurückführen, müsste eigentlich jedem empirisch arbeitenden Sozialhistoriker die Haare zu Berge stehen lassen. Üblicherweise wird das Erklärungsdefizit notdürftig durch das Konstrukt einer kollektiven bürgerlichen Mentalität (›Mittelschichtsethos‹) kompensiert. Aber kollektive Mentalitäten können sich nur auf der Basis von Interaktionsgemeinschaften ausbilden, wenn man nicht auf einen rein chronikalisch definierten ›Zeitgeist‹ rekurrieren will. Zudem sind sie Produkte langfristiger Prägungen. Eine Erscheinung wie der ›europäische Sentimentalismus‹, die innerhalb des Lebensalters einer Generation auftaucht und wieder verschwindet, erweist sich schon durch seine Kurzfristigkeit nicht als Dokument einer Mentalität, sondern einer Mode. Dabei sind die kognitiven Revolutionen, denen die Zeitgenossen den Namen ›Aufklärung‹ gaben, und die Kultivierung des Fühlens des Fühlens, die von ihnen – pars pro toto – ›Empfindsamkeit‹ genannt wurde, einerseits ausgesprochen transnationale, gesamteuropäische Phänomene; andererseits bestanden sie aus konfliktträchtigen Innovationen, die innerhalb jeder der von ihnen betroffenen bürgerlichen und nicht-bürgerlichen Schichten höchst umstritten waren. Der Konflikt zwischen dem traditionellen Kirchenchristentum und der religiösen Aufklärung beispielsweise wurde in Lessings Elternhaus zwischen den Eltern und dem hochbegabten Lieblingssohn ausgetragen. Er fand dann seine wirksamste öffentliche Gestalt im Fragmentenstreit zwischen dem bürgerlichen Hamburger Hauptpastor Goeze und dem Sohn des nicht weniger bürgerlichen Primarius aus Kamenz. Wenn dieser Sohn es ablehnte, den seit Generationen vorgelebte Lebenslauf des Theologen für sich zu übernehmen, und eine Lebensführung praktizierte, die in krassem Gegensatz zu der seines Vaters stand, dann war dieser konfliktträchtige Bruch mit den etablierten Biographie-Mustern einerseits von

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Gerhard Sauder rechnet die folgenden Personengruppen zu den sozialen Aufsteigern: »Zum neuen Bürgerstand gehören die landesherrlichen Beamten, Juristen (Notare, Advokaten), Ärzte, Pfarrer, Offiziere, Künstler, Gelehrten, aber auch die ›Aufsteiger‹ wie große Handelskaufleute, Händler, Bankiers, Verleger und Manufakturisten.« (G. S.: Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 51f.) Alle diese Gruppen – so lautet der naheliegende Einwand von Robert Vellusig – gab es schon vorher. Nicht die Personengruppen sind neu, sondern der Medienverbund von periodischen und nichtperiodischen Printmedien, dessen Genese zur Erklärung ansteht. Vgl. Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000 (Literatur und Leben N. F. 54), S. 153. Der Zusammenhang zwischen Medien- und Kulturwandel, den ich hier nur thesen- und skizzenhaft nachgezeichnet habe, wird dort ausführlich entfaltet.

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durchaus überindividueller Repräsentanz und hatte andererseits nichts mit Veroder Entbürgerlichungsprozessen zu tun. Ein ganz analoger Konflikt wurde z. B. auch zwischen dem frommen Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. und seinem Sohn Friedrich II. ausgefochten. Auch hier erwartete der Vater von seinem Nachfolger, er werde sich auf sein Amt durch die Lebens-, Arbeits- und Gesprächsgemeinschaft mit seinem Vater vorbereiten, und war von der Hinwendung seines Sohnes zur neuen ästhetischen und intellektuellen Medienkultur äußerst irritiert. Und wenn dieser Sohn, der die Bindung an die Religion seines Vaters ebenso radikal aufkündigte wie Lessing, an seine Schwester empfindsame Briefe richtete103 und im Briefwechsel mit Voltaire das Weinen zum entscheidenden ästhetischen Kriterium des Trauerspiels ernannte,104 dann ist auch das repräsentativ für die gesamtgesellschaftliche Dimension des epochalen Medien- und Kulturwandels. Auch das Lesen empfindsamer Romane war ein einerseits innerhalb der Generationenfolge konfliktträchtiges und zugleich gesamtgesellschaftliches Phänomen. Hier waren es typischerweise die Mütter, die die weltliche Lektüre als sündigen Müßiggang wahrnahmen und bei ihren Töchtern bekämpften.105 Aber auch Friedrich Wilhelm I. suchte seinem Sohn und seiner Tochter Wilhelmine das Lesen französischer Romane mit dem Rohrstock auszutreiben. Von einer Generation zur nächsten war mit der Entstehung der modernen Medienkultur und -öffentlichkeit eine neue Sozialisationsinstanz aufgetaucht, die die Kinder daran hinderte, die von den Eltern vorgelebten Lebenslaufmuster nachzuleben. Richard Alewyn hat anschaulich dokumentiert, dass die Vertreter der modernen literarischen Kultur sich nicht mehr, wie bis zur ersten Hälfte des Jahrhunderts, aus den erwachsenen literarisierten Männern rekrutierten, sondern aus einer gemischt-geschlechtlichen Jugendkultur, die ihre Distinktionsgewinne typischer- und naheliegenderweise nicht in Abgrenzung gegen die nicht-bürgerlichen Ober- oder Unterschichten, sondern gegen die erwachsenen, männlichen und prosaischen Vertreter ihrer jeweiligen Herkunfts- und Bezugsgruppen suchten.106 Die zwischen Alewyn (bzw. seinem Schüler Pikulik) und Gerhard Sauder ausgetragene Kontroverse über die Frage, ob die Empfindsamkeit eine bürgerliche oder anti-bürgerliche Bewegung gewesen sei, hat sich denn auch als Sackgasse erwiesen: Sie wurde nicht beantwortet, sondern ergebnislos abgebro103

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Vgl. die schöne Analyse von Norbert Elias über den ergreifenden Brief Friedrichs an seine Schwester (20.10.1758), in dem Essay: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Frankfurt a. M. 1982 (Bibliothek Suhrkamp 772), S. 41–44. Vgl. Uwe Steiner: »Der König hat geweint«. Friedrich der Große und die Empfindsamkeit. In: Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. Hg. v. Klaus Garber u. Ute Széll. München 2005, S. 139–160. Vgl. auch das von Ute Frevert aufbereitete Material in: Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen? Göttingen 2012. Belege bei Barbara Becker-Cantarino: Empfindsamkeit und Frauenlektüre. In: Das Projekt Empfindsamkeit, S. 191–214, hier S. 200f. Vgl. Richard Alewyn: Klopstocks Leser. In: Festschrift für Rainer Gruenter. Hg. v. Bernhard Fabian. Heidelberg 1978, S. 100–121.

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chen und ist in der Tat gegenstandslos. Beide Parteien fischen aus dem Meer der Texte diejenigen heraus, die sich auf ihre jeweiligen Themen und Thesen beziehen lassen, und deuten sie als Dokumente eines kollektiven Mentalitätswandels. Dabei übersehen sie das Meer selbst und damit die eigentliche Innovation. Die epochale Alphabetisierungsrevolution war ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, der neue Zugehörigkeiten und neue Unterschiede schuf und die Regeln der sozialen In- und Exklusion als solche veränderte. Eine Bevölkerung, die – aus welchen Gründen auch immer – lesen und schreiben gelernt und sich daran gewöhnt hat, ihren Informationsbedarf durch Zeitungs- und ihren Imaginationsbedarf durch Romanlektüre zu befriedigen, unterscheidet sich – ceteris paribus – fundamental von einer Gesellschaft, in der die Schrift als Basis-Technologie der außeralltäglichen Funktionsbereiche (Bürokratie, Ökonomie, Politik, Theologie, lateinisches Gelehrtentum) fungiert, während der soziale Alltag durch den anthropologische Normalfall, die Lebens-, Arbeits-, Schicksals-, Rede- und Erzählgemeinschaft im Nahbereich der Kleingruppen geprägt bleibt. Es ist üblich geworden, die explosive Zunahme an geschriebenen und gedruckten Texten als ›Kommunikationsverdichtung‹107 zu beschreiben. Aber auf der Basis einer nur quantitativen Beschreibung lässt sich der Zusammenhang zwischen Medien- und Kulturwandel nicht aufklären. Kommunikation als solche kann nicht gesteigert werden: erstens, weil das Gruppenwesen Homo sapiens unter Anwesenden ohnehin nicht nicht kommunizieren kann; zweitens, weil Aufmerksamkeit ein prinzipiell knappes Gut ist, das nur umverteilt, aber nicht unbegrenzt vermehrt werden kann. Wenn der Medienkonsum insgesamt zunimmt, muss das den einzelnen Produkten gewidmete Maß an individueller und kollektiver Aufmerksamkeit abnehmen. Da Bücher aber, anders als ihre Autorinnen und Autoren, nicht sterben, musste das exponentielle Wachstum an gedruckten Texten von den Zeitgenossen als strukturelle Überproduktionskrise wahrgenommen werden. Zudem konnte nicht unbemerkt bleiben, dass die Aufmerksamkeit, die das Geschriebene und Gedruckte auf sich zog, der Rede verloren ging. Wer liest und schreibt, zieht sich aus der aktuell ablaufenden Interaktion und Kommunikation zurück und kommuniziert nicht mehr, sondern anders. Deshalb konnte und musste die Veralltäglichung des Schriftgebrauchs als ambivalenter Vorgang erlebt werden. Das medienhistorische Datum, dessen Folgen der Analyse bedürfen, ist also nicht die Zunahme an Kommunikation, sondern deren faktische und strukturelle Verschriftlichung sowie die Entgrenzung ihrer Reichweite. Die traditionellen Lesarten des Zusammenhangs zwischen Medien- und Kulturwandel bewegen sich in dem bekannten argumentativen Zirkel: Die Zunahme des Medienkonsums wird auf ein wachsendes kollektives Bedürfnis zurückgeführt, das an dem wachsenden Medienkonsum abgelesen wird, der 107

Vgl. das Kapitel »Verdichtung der öffentlichen Kommunikation« in: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära. 1700–1815. München 1987, S. 303–316.

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erklärt werden soll. Das literarhistorische Konstrukt einer Epoche der ›Empfindsamkeit‹ bietet dafür ein gutes Beispiel: Der Siegeszug der Briefromane und vergleichbarer literarischer Werke wird nach dem Henne-Ei-Prinzip auf den zeitgenössischen ›Sentimentalismus‹ zurückgeführt, der durch die Lektüre sentimentaler Druckerzeugnisse zu einer gesamteuropäischen Epidemie geworden sei. Wie aber unser eigener Medienalltag zeigt, lässt sich die evolutionäre Logik des Medienwandels nicht auf einen von außen induzierten Bedarf zurückführen. Zwar knüpfen kommunikationstechnische Basisinnovationen – wie alle anderen auch – an vorhandenen Bedürfnissen an, aber dann werden sie dadurch zu Selbstläufern, dass sie den Bedarf, auf den sie antworten, in Form von Rückkopplungsschleifen selbst erzeugen. Die Ökonomen sprechen in solchen Fällen von einem tendenziell zunehmenden ›Grenznutzen‹: Die Investition von Zeit, Geld und Aufmerksamkeit in ein Medium wird umso lohnender, je weiter es sich bereits verbreitet hat. Damit koppelt sich der Medienwandel von anderen sozialen Prozessen, etwa von demographischen und ökonomischen Entwicklungen, ab. Die drei Leitmedien der Schriftkultur – Zeitung, Fachzeitschrift und Roman – geraten Ende des 17. Jahrhunderts fast gleichzeitig in einen nicht nur kontinuierlichen, sondern kontinuierlich sich beschleunigenden, von außen unbeeinflussten Wachstumsprozess, der durch das ganze 19. Jahrhundert – die erste und letzte Epoche der Menschheitsgeschichte, in der die gedruckte Schrift das einzige Massenmedium war – anhielt. Wenn die Zeitgenossen diese Medienrevolution als eine Abfolge von Suchtkrankheiten erlebten, die Ende des 17. Jahrhunderts mit einer ›unzeitigen Neue-Zeitungs-Sucht‹ einsetzte und über die ›Romanenseuche‹, die ›Briefwuth‹, die ›Journalsucht‹ und ›Broschürenflut‹ bis zu einer allgemeinen ›Lesesucht‹ reichte,108 dann lässt sich daran ablesen, dass sie mit Effekten einer kommunikationstechnischen Innovation konfrontiert wurden, die niemand hatte antizipieren können und die nichts mehr mit den Gründen und Zwecken zu tun hatten, um derentwillen die neue Kommunikationstechnologie eingeführt worden war. Der medientheoretische und -historische Blick kann die Literarhistoriker von dem Denkzwang befreien, für solche ungeplanten, ungewollten und unvorhersehbaren Folgen und Nebenfolgen die Ideologien, Mentalitäten und Interessen von Kollektivsubjekten haftbar zu machen.

108

So schon der Hinweis von Vellusig: Schriftliche Gespräche, S. 7–9.

Robert Vellusig

»Werther muss – muss seyn!« Der Briefroman als Bewusstseinsroman

1. Die Gretchenfrage Am Werther führt kein Weg vorbei. Alles, was das Fach bewegt hat und bewegt, ist an Goethes Roman durchgespielt worden: positivistische und biographische Spurensuche, psychoanalytische Symptomdeutung1 und werkimmanente Detailanalyse,2 sozialgeschichtliche Ortsbestimmung,3 deren systemtheoretische Revision4 und diskursgeschichtliche Erweiterung,5 dekonstruktivistisches Gedankenspiel6 und die diversen Konzepte der Kulturwissenschaft7 – 1

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Vgl. etwa Helmut Schmiedt: Woran scheitert Werther? In: »Wie froh bin ich, dass ich weg bin!« Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther« aus literaturpsychologischer Sicht. Hg. v. Helmut Schmiedt. Würzburg 1989, S. 147–172. Nennenswert: Hans-Egon Hass: Werther-Studie. In: Gestaltprobleme der Dichtung. Hg. v. Richard Alewyn, Hans-Egon Hass, Clemens Heselhaus. Bonn 1957, S. 83–125. Vgl. als prominentes Zeugnis für die marxistisch inspirierte Sozialgeschichte der 1970er Jahre: Klaus Scherpe: Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert. Bad Homburg [u. a.] 1970. Für die neuere Sozialgeschichte exemplarisch: Karl N. Renner: »Laß das Büchlein deinen Freund seyn«. Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther« und die Diätetik der Aufklärung. In: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende. Hg. v. Günther Häntzschel, John Ormrod u. Karl N. Renner. Tübingen 1985 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 13), S. 1–20. Vgl. etwa Gerhard Plumpe: Kein Mitleid mit Werther. In: Systemtheorie und Hermeneutik. Hg. v. Henk de Berg u. Matthias Prangel. Tübingen, Basel 1997, S. 215–232. Luhmanns Liebe als Passion wurde zur Berufungsinstanz zahlreicher Arbeiten zum Wandel der Liebessemantik, in denen Goethes Werther eine zentrale Rolle spielt. Vgl. etwa Julia Bobsin: Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe. Studien zur Liebessemantik in der deutschen Erzählliteratur 1770–1800. Tübingen 1994 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 48). Maßgeblich: Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988. Vgl. auch Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart, Weimar 1995 (Germanistische Abhandlungen 77). Vgl. etwa Philippe Forget: Aus der Seele geschrie(b)en? Zur Problematik des ›Schreibens‹ (écriture) in Goethes ›Werther‹. In: Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte. Hg. v. Philippe Forget. München 1984 (UTB 1257), S. 130–180. Vgl. etwa Natalie Binczeks Beitrag in dem Band: Germanistik als Kulturwissenschaft. Hg. v. Claudia Benthien u. Rudolf Velten. Reinbek b. H. 2002 (re 55643), S. 152–175, hier

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der Werther ist nicht nur der prominenteste »Probierhengst«8 der Germanistik, er ist schlicht der »Inbegriff der neuzeitlichen Literatur«,9 der Roman, mit dem die moderne deutsche Literatur beginnt.10 In der Fülle der einzelnen Perspektiven und divergierenden literaturtheoretischen Konzepte lassen sich gleichwohl Konstanten erkennen, in denen sich die Eigenlogik des Romans schemenhaft abbildet. Die Fragen, die der Roman seinen modernen Interpreten aufdrängt, sind mit den Fragen identisch, mit denen sich bereits die Zeitgenossen konfrontiert sahen. Im Kern reduziert sich der Fall Werther auf einen Komplex von Fragen, die zu ergründen suchen, woran Werther scheitert (bzw. wer für dieses Scheitern verantwortlich zu machen ist), welche historische Signifikanz dieses Scheitern besitzt (bzw. welche soziale oder kulturelle Wirklichkeit sich in dieser Geschichte des Scheiterns abbildet) und nicht zuletzt, wie Goethe (bzw. der Text) sich zu diesem Scheitern verhält – oder vielmehr: wie man sich als Interpret zu diesem Scheitern verhalten soll. Die Interpretationsgeschichte des Romans ist so gut wie seine Rezeptionsgeschichte eine Ausarbeitung dieser letzten Frage, die als solche kaum artikuliert wird,11 aber doch als Gretchenfrage des Textes gelten kann. Nun hat sich der Autor des Werther mit der Antwort auf diese Frage selbst schwergetan.12 Dass die Arbeit an dem Roman – das »Bruchstück[] einer gro-

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S. 165–168. – Zu den Arbeiten, die den Versuch einer Gesamtdarstellung unternehmen, zählen: Horst Flaschka: Goethes »Werther«. Werkkontextuelle Deskription und Analyse. München 1987 und Gert Mattenklott: Die Leiden des jungen Werthers. In: Goethe-Handbuch. Bd. 3: Prosaschriften. Hg. v. Bernd Witte u. Peter Schmidt. Stuttgart, Weimar 1997, S. 51–101. Frei nach den Hanswurst-Versen: »Mir ist das liebe Wertherische Blut / Immer zu einem Probierhengst gut«. Für Details vgl. Johann Wolfgang Goethe: Hanswursts Hochzeit oder Der Lauf der Welt. In: J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 1.2: Der junge Goethe. 1757–1775. 2. Hg. v. Gerhard Sauder. München, Wien 1987, S. 122–133, hier S. 131. So Gerhard Lauer: Grundkurs Literaturgeschichte. Stuttgart 2009, S. 99. Vgl. auch Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008, S. 71: »Für den Aufstieg des Romans in Deutschland ist das Jahr 1774 eine Sternstunde.« Ich zitiere den Werther in der Fassung von 1774 nach der Münchner Ausgabe (MA 1.2, S. 196–299); die Zweitfassung des Romans nach J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 2.2: Erstes Weimarer Jahrzehnt. 1775–1786. 2. Hg. v. Hannelore Schlaffer [u. a.]. München, Wien 1987, S. 349–465 – jeweils mit der Sigle ›W‹ im fortlaufenden Text. Zu den wenigen Ausnahmen zählt Bjørn Ekmann: Erlebnishaftigkeit und Klassizität. Einfühlung und Verfremdung im »Werther«-Roman. In: Text & Kontext 14 (1986), H. 1, S. 7–47. Ekmann hält Ablehnung und Euphorie für gleichermaßen legitim und fasst dies als Spezifikum des Werks auf. Für eine Typologie historischer Leserreaktionen vgl. Georg Jäger: Die Leiden des alten und des neuen Werther. Kommentare, Abbildungen, Materialien. München, Wien 1984 (Hanser Literatur-Kommentare 21). Wolfgang Bunzel hat Goethes facettenreiche Auseinandersetzung mit dem Werther als Antwort auf die Reaktionen seiner Zeitgenossen gedeutet. Vgl. Wolfgang Bunzel: RückWirkung: Goethes literarische Reaktionen auf die Rezeption seines Romans Die Leiden des jungen Werthers. Eine historische Fallstudie als Baustein zu einer künftigen Theorie der

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ßen Konfession«13 auch er – für den jungen Goethe eine existenzielle Bedeutung hatte, ist unbestritten. Als »Gebetbuch, Schazkästgen oder wie du’s nennen magst«,14 bezeichnet er ihn in einem Brief an Charlotte Kestner; ihrem Mann schreibt er: »Ich wollt um meines eignen Lebens Gefahr willen Werthern nicht zurück rufen […]. – Werther muss – muss seyn!«;15 und ähnlich, wenn auch aus sicherer Distanz, äußert er sich drei Jahre später in einem Brief an Charlotte von Stein: »Gott möge mich behüten, dass ich nicht ie wieder in den Fall komme, einen zu schreiben und schreiben zu können.«16 Bei der als »delikat[] und gefährlich[]«17 bezeichneten Arbeit an der Zweitfassung des Romans findet Goethe dann allerdings, »daß der Verfasser übel gethan hat, sich nicht nach geendigter Schrifft zu erschiesen«18 – eine Feststellung, die er 1824, in den einleitenden Versen zur Jubiläumsausgabe, nüchtern bilanzierend aufgreift: »Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren, / Gingst du voran – und hast nicht viel verloren.«19 Im autobiographischen Rückblick deutet Goethe Werthers Selbstmord als Folge »eines kranken jugendlichen Wahns«, der ihm symptomatisch für eine Generation erscheint: von unbefriedigten Leidenschaften gepeinigt, von außen zu bedeutenden Handlungen keineswegs angeregt, in der einzigen Aussicht, uns in einem schleppenden, geistlosen, bür-

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Autor/Leser-Kommunikation. In: Spuren, Signaturen, Spiegelungen. Zur Goethe-Rezeption in Europa. Hg. v. Bernhard Beutler u. Anke Bosse. Weimar, Wien 2000, S. 129–167. Für einzelne Korrekturen an dieser These vgl. Katja Mellmann: Emotionalität und Verhalten. Eine literaturpsychologische Kritik des Werther-Mythos. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes (2007), H. 3, S. 328–344, v. a. S. 330f. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 16: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Peter Sprengel. München, Wien 1985, S. 306. In der Folge zitiert als ›DuW‹. Brief an Charlotte Kestner vom 26.–31.8.1774. In: J. W. G.: Briefe. Hamburger Ausgabe. Bd. 1. Textkrit. durchges. u. mit Anmerk. vers. v. Karl Robert Mandelkow. München 4 1988, S. 168f. Brief an Johann Christian Kestner vom 21.11.1774. In: Goethe: Briefe 1, S. 173. Brief an Charlotte von Stein vom 2.11.1779. In: Goethe: Briefe 1, S. 282. Brief an Karl Ludwig von Knebel vom 21.11.1782. In: Goethe: Briefe 1, S. 415. Brief an Charlotte von Stein vom 25.6.1786. In: Goethe: Briefe 1, S. 512. Johann Wolfgang Goethe: An Werther. In: J. W. G.: Münchner Ausgabe. Bd. 13.1: Die Jahre 1820–1826. Hg. v. Gisela Henckmann u. Irmela Schneider. München, Wien 1992, S. 134 bzw. S. 112. Den Gedankenstrich hat Goethe erst bei der Aufnahme der Verse in die Trilogie der Leidenschaften eingefügt. Ähnlich lakonisch hatte er bereits 1816 in einem Brief an Zelter, der ihn vom Tod seines jüngsten Sohnes benachrichtigt hatte, bemerkt, »daß lange leben so viel heißt als viele überleben und zuletzt weiß man denn doch nicht was es hat heißen sollen. Vor einigen Tagen kam mir zufälliger Weise die erste Ausgabe meines Werthers in die Hände und dieses bei mir längst verschollene Lied fing wieder an zu klingen. Da begreift man denn nun nicht, wie es ein Mensch noch Vierzig Jahre in einer Welt hat aushalten können, die ihm in früher Jugend schon so absurd vorkam.« (Brief an Carl Friedrich Zelter vom 26.3.1816. In: J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 20.1: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. Hg. v. Hans-Günter Ottenberg [u. a.]. München, Wien 1991, S. 405.)

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gerlichen Leben hinhalten zu müssen, befreundete man sich, in unmutigem Übermut, mit dem Gedanken, das Leben, wenn es einem nicht mehr anstehe, nach eignem Belieben allenfalls verlassen zu können und half sich damit über die Unbilden und Langeweile der Tage notdürftig genug hin. (DuW 616)

Den Selbstmord nimmt Goethe als anthropologisches Faktum. Er nennt ihn »ein Ereignis der menschlichen Natur«, das »einen jeden Menschen zur Teilnahme fordert« und »in jeder Zeitepoche wieder einmal verhandelt werden muß« (DuW 617). Das Eigentümliche seiner Epoche sieht er darin, dass der Selbstmord nicht den letzten Akt eines heroischen Kampfes darstellt, sondern sich als »Grille« in »herrlichen Friedenszeiten bei einer müßigen Jugend eingeschlichen hatte« (DuW 618): Hier […] ist von solchen Personen nicht die Rede, die ein bedeutendes Leben tätig geführt, für irgend ein großes Reich oder für die Sache der Freiheit ihre Tage verwendet, und denen man wohl nicht verargen wird, wenn sie die Idee die sie beseelt, sobald dieselbe von der Erde verschwindet, auch noch jenseits zu verfolgen denken. Wir haben es hier mit solchen zu tun, denen eigentlich aus Mangel an Taten, in dem friedlichsten Zustande von der Welt, durch übertriebene Forderungen an sich selbst das Leben verleidet. (DuW 617)

Friedenszeiten, Jugend, Müßiggang: Es sind die Leiden des jungen Werther, die Goethes Roman zur Sprache bringt, nicht seine Taten; und es sind die Leiden des jungen Werther, auf die ihr Autor in reiferen Jahren zurückblickt – im Urteil wie in der Haltung schwankend. In einem Brief an Zelter, dessen Stiefsohn Selbstmord begangen hatte, argumentiert er als jemand, dem nichts Menschliches fremd ist: »Wenn das taedium vitae den Menschen ergreift, so ist er nur zu bedauern, nicht zu schelten. Daß alle Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen als unnatürlichen Krankheit auch einmal mein Innerstes durchrast haben, daran lässt ›Werther‹ wohl niemand zweifeln.«20 Unnatürlich ist der Lebensüberdruss zu nennen, weil er das elementare Bedürfnis nach Selbsterhaltung negiert und so das Leben als Ganzes in Frage stellt; natürlich nennt ihn Goethe, weil sich die Frage, wie man sich zu seinem Leben verhalten soll, nur dem Menschen stellt und weil sie sich als eine anthropologische Notwendigkeit nicht von der Hand weisen lässt. Noch 1824 wird er im Gespräch mit Eckermann die »Empfindungen und Gedanken« des Buches als »lauter Brandraketen« bezeichnen, bei deren erneuter Lektüre ihm »unheimlich« wird, weil er fürchtet, »den pathologischen Zustand wieder durchzuempfinden«, aus dem der Roman hervorgegangen war, – und sich im selben Atemzug doch zu dem Roman und seinem jugendlichen Helden bekennen: Die viel besprochene Wertherzeit gehört, wenn man es näher betrachtet, freilich nicht dem Gange der Weltkultur an, sondern dem Lebensgange jedes Einzelnen, der mit angeborenem freiem Natursinn sich in die beschränkenden Formen einer veralteten Welt finden und schicken lernen soll. Gehindertes Glück, gehemmte Tätigkeit, unbefriedigte Wünsche, sind nicht Gebrechen einer besonderen Zeit, sondern jedes einzelnen Menschen, und es müßte

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Brief an Carl Friedrich Zelter vom 3.12.1812. In: MA 20.1, S. 294.

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schlimm sein, wenn nicht jeder einmal in seinem Leben eine Epoche haben wollte, wo ihm 21 der Werther käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben.

»Gehindertes Glück, gehemmte Tätigkeit, unbefriedigte Wünsche« sind »Gebrechen«, denen Goethe nun, anders als in Dichtung und Wahrheit, eine nicht bloß epochenspezifische, sondern eine anthropologische Bedeutung zuschreibt, die er also nicht einfach als Ausdruck einer pathologischen Disposition, sondern als Folgen einer krisenhaften und als solcher auch unvermeidlichen Lebenserfahrung begreift. Die Krise, die der junge Werther durchlebt, ist eine Krise, in der das Gelingen des Lebens als Ganzes auf dem Spiel steht; »schlimm« müsste es sein, »wenn nicht jeder einmal in seinem Leben eine Epoche haben wollte, wo ihm der Werther käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben«, weil solche Krisen den Sinn dafür schärfen, wofür sich zu leben lohnt. Wenn es in Büchners Novelle von Lenz heißt: »Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er that Alles wie es die Andern thaten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine nothwendige Last. – –« und wenn ihn der Erzähler mit den Worten »So lebte er hin« ins Leben entlässt,22 dann ist über dieses Leben, das Lenz nun fristen wird, ein vernichtendes Urteil gesprochen. Lenz ist die elementarste Voraussetzung für ein gelingendes Leben abhanden gekommen: Er hat nichts mehr, was ihm am Herzen liegt und seinem Leben eine Notwendigkeit geben könnte.23 Dem eigenen Leben eine Notwendigkeit geben heißt, nach etwas zu streben, das das Leben als Ganzes trägt, insofern es ein »inneres Gravitationszentrum von Wünschen« bildet, dessen »bestimmender Kraft« man bereitwillig folgt.24 Wer so lebt, lebt entschieden (»wholehearted«); er ist mit sich eins, weil er sein Wollen will.25 Nichts aber ist zermürbender, als die Bewegungen des eigenen

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J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 19: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. v. Heinz Schlaffer. München, Wien 1986, S. 491. In diesem Gespräch vom 2.1.1824 findet sich auch Goethes Charakterisierung des Werther als ein »Geschöpf […], das ich gleich dem Pelikan mit dem Blute meines eigenen Herzens gefüttert habe.« (S. 489f.) Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Hg. v. Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer. Bd. 5: »Lenz«. Hg. v. Burghard Dedner [u. a.]. Darmstadt 2001, S. 49. Ich reformuliere den Problemzusammenhang, um den es hier geht, in Begriffen von Harry G. Frankfurt. Vgl. v. a. H. G. F.: Gründe der Liebe. Aus dem Amerikan. von Martin Hartmann. Frankfurt a. M. 2005; H. G. F.: Sich selbst ernst nehmen. Hg. v. Debra Satz. Aus dem Amerikan. von Eva Engels. Frankfurt a. M. 2007. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. München, Wien 2001, S. 425 (Kap. »Leidenschaftliche Freiheit«). Frankfurt: Sich selbst ernst nehmen, S. 30. Vgl. Frankfurt: Gründe der Liebe, S. 97: Der Wunsch einer Person, »Ziele zu haben, die sie als ihre eigenen akzeptieren muss und denen sie sich um ihrer selbst willen […] hingibt«, ist die »rudimentärste Form der Selbstliebe«.

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Willens nicht zu kennen, ihnen im Wege zu stehen oder ihnen nicht gewachsen zu sein. Entschieden zu leben heißt, sich selbst, seine Anlagen und Bedürfnisse handelnd zu entfalten. Dieses riskante und offene Projekt hat Goethe ein Leben lang beschäftigt; Figuren, die Gefahr laufen, an sich selbst zu verzweifeln oder sich zu verfehlen, bevölkern sein poetisches Universum. Goethe hat an ihnen »die disproportion des Talents mit dem Leben«26 diagnostiziert und dem Anspruch auf Selbstentfaltung das Gebot der Selbstbewahrung entgegengehalten, die alles Streben auf ein lebbares Maß beschränkt. ›Entsagung‹ ist der Begriff, auf den er diese Kunst, sich zu seinen eigenen Wünschen mäßigend zu verhalten, bringt. Auch dabei aber versucht er, zu einer Notwendigkeit und Entschiedenheit zu finden, die das Leben trägt.27 Heil, ganz, »complet«, so die Maxime in den Betrachtungen im Sinne der Wanderer, wird nur, wer sein Sehnen und sein Vermögen »ebenmäßig« aufeinander abzustimmen vermag;28 »inkomplett[], unvollständig[]« sind Menschen, »deren Sehnsucht und Streben mit ihrem Tun und Leisten nicht proportioniert sind.«29 Das Urteil über die Unvollständigen ist freilich ganz aus der Außenperspektive gesprochen. Aus der Perspektive der Erinnerung hatte Goethe das eigene Sehnen und Streben viel verheißungsvoller gedeutet: »Unsere Wünsche«, heißt es da, sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten im Stande sein werden. Was wir können und möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im Stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausgreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliche. Liegt nun eine solche Richtung entschieden in unserer Natur, so wird mit jedem Schritt unserer Entwickelung ein Teil des ersten Wunsches erfüllt, bei günstigen Umständen auf dem geraden Wege, bei ungünstigen auf einem Umwege, von dem wir immer wieder nach jenem einlenken. (DuW 418)

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So – Caroline Herder zufolge – Goethes Charakterisierung des Tasso. Brief an Johann Gottfried Herder vom 20.3.1789. In: Johann Gottfried Herder: Italienische Reise. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen 1788–1789. Hg., kommentiert u. mit einem Nachwort versehen v. Albert Meier u. Heide Hollmer. München 1988 (dtv klassik 2201), S. 391. JeanJacques Ampère hat den Tasso bekanntlich als »gesteigerten Werther« bezeichnet – »sehr treffend«, wie Goethe 1827 im Gespräch mit Eckermann (MA 19, S. 564) bemerkt. Vgl. Hans-Jürgen Schings: »Gedenke zu wandern«. Wilhelm Meisters Lebensreise. In: »Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig«. Festschrift zum 60. Geburtstag von HansGert Roloff. Hg. v. James Hardin u. Jörg Jungmayr. Bern [u. a.] 1992, S. 1029–1044, v. a. S. 1040. Johann Wolfgang Goethe: Betrachtungen im Sinne der Wanderer. In: J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Maximen und Reflexionen. Hg. v. Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann u. Johannes John. München, Wien 1991, S. 518. Ebd., S. 517f. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman. In: Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1984, S. 42–68, v. a. S. 50ff.

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»Ganz« zu werden, seiner Sehnsucht und seinem Streben im Handeln Gestalt zu verleihen, sodass es in die Wirklichkeit tritt, ist eine Aufgabe, der sich niemand, der ein bewusstes und in diesem Sinne authentisches Leben führen möchte, verschließen kann. Es ist die Aufgabe, die Goethe in den Gedanken von der »geregelten Steigerung seiner natürlichen Anlagen«30 und von der »entelechischen Monade«, die sich »in rastloser Tätigkeit« erhält,31 gefasst hat. Solche Vorstellungen sind, gerade auch dort, wo sie die Grenzen des Wissbaren überschreiten, religiös: Sie antworten auf die Frage nach der »Bestimmung des Menschen«.32 Es sind die ersten und letzten Fragen eines Lebewesens, das in der Lage und dazu genötigt ist, sich das Ganze seines Lebens zum Endzweck zu machen und sein Leben auf diesen Endzweck bezogen zu führen,33 und dem es beinahe unmöglich ist, das endgültige Ende dieses einen Lebens zu denken. Deshalb ist es mehr als nur eine façon de parler, die Frage, wie man sich zu Werthers Leben und Sterben verhält, als Gretchenfrage des Textes zu bezeichnen. Goethes Werther ist ein religiöses Buch, insofern es einen Helden vorführt, der sein Leben im Blick auf die Bestimmung dieses einzigen Lebens führt und der dabei immer auch das Ende dieses Lebens im Auge hat; der sich vornimmt, den Tag zu nutzen und sich seiner Vergänglichkeit bewusst zu sein, ohne sich doch irgendeiner religiösen Dogmatik verpflichtet zu fühlen. Insofern ist der junge Werther ein Bildnis seines Autors, der sich die Frage nach der Bestimmung des Menschen in seiner Wetzlarer Zeit zur vornehmsten Aufgabe gemacht hatte. Das Porträt, das Johann Christian Kestner 1772 von ihm zeichnet, zeigt dies auf besonders anschauliche Weise: 30

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Brief an Wilhelm von Humboldt vom 17.3.1832. In: J. W. G.: Briefe. Hamburger Ausgabe. Bd. 4. Textkrit. durchges. u. mit Anmerk. vers. v. Karl Robert Mandelkow. München 3 1988, S. 480. Zu diesem eminenten Brief vgl. Albrecht Schöne: Johann Wolfgang Goethe: »Der letzte Brief«. An W. von Humboldt vom 17. März 1832. In: Querlektüren. Weltliteratur zwischen den Disziplinen. Hg. v. Wilfried Barner. Göttingen 1997, S. 106–123. Zu Goethes Bildungs-Begriff vgl. Fotis Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Komponenten- und Funktionsanalyse des Begriffs ›Bildung‹ am Beispiel von Goethes »Dichtung und Wahrheit«. Tübingen 1996 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 56), v. a. S. 37–42 u. 139–148. So die besonders prominente Stelle im Brief an Zelter vom 19.3.1827. (In: MA 20.1, S. 981f.). Zu Goethes Leibniz-Rezeption vgl. die Überblicksdarstellung von Mathias Mayer: Kraft der Sprache. Goethes »Lebenslied« im Kontext monadischen Denkens. In: Monadisches Denken in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Sigmund Bonk. Würzburg 2003, S. 113–131. Zum Entelechie-Begriff vgl. Andreas Anglet: Entelechie. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/1: Personen, Sachen, Begriffe. Hg. v. Hans-Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stuttgart, Weimar 1998, S. 264f. Die Formel ist mit dem einflussreichen Buch von Johann Joachim Spalding (Greifswald 1748) verknüpft. Vgl. die von Norbert Hinske und Karl Eibl besorgte Edition der 10. Auflage aus der »Hoch-Zeit der Spalding-Wirkung« (Leipzig 1768) in: Aufklärung 11 (1996), H. 1, S. 69–95. Zur Formel selbst vgl. Fotis Jannidis: Die ›Bestimmung des Menschen‹. Kultursemiotische Beschreibung einer sprachlichen Formel. In: Aufklärung 14 (2002), S. 75–96. Vgl. Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie. München 2003, hier S. 35.

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Im Frühjahr kam hier ein gewisser Goethe aus Franckfurt, seiner Handthierung nach Dr. Juris, 23 J[ahr] alt, einziger Sohn eines sehr reichen Vaters, um sich hier, dies war seines Vaters Absicht, in Praxi umzusehen, der seinigen nach aber, den Homer, Pindar p. zu studieren und was sein Genie, seine Denkungsart und sein Herz ihm weiter für Beschäftigun34 gen eingeben würde.

Dieser junge Dr. Juris »thut, was ihm einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es anderen gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt.«35 Frauen36 interessieren ihn ebenso wie die Frage nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält: Er »strebt nach Wahrheit und nach Determinirung über gewisse Haupt-Materien, glaubt auch schon über die wichtigsten determinirt zu seyn, so viel ich aber gemerckt, ist er es noch nicht. Er geht nicht in die Kirche, auch nicht zum Abendmahl, betet auch selten. Denn, sagt er, ich bin dazu nicht genug Lügner.«37 Kestner begegnet Goethe das erste Mal, als dieser unter einem Baum liegend über Gott und die Welt philosophiert; von den Sorgen des Lebensunterhalts entlastet, gilt seine ganze Beschäftigung dem Versuch, sich über dieses Leben Klarheit zu verschaffen: »Er hat schon viel gethan und viele Känntnisse; viel Lecture aber doch noch mehr gedacht und raisonniret. Aus den schönen Wissenschaften und Künsten hat er sein HauptWerck gemacht, oder vielmehr aus allen Wissenschaften, nur nicht denen sogenannten Brodwissenschaften.«38 Die traditionellen Antworten der Religion sind für den jungen Goethe unannehmbar geworden; die Fragen aber, um die es den traditionellen Religionen geht, sind als solche auch für ihn unabweislich.39 Er gehört zu jener Generation junger Intellektueller, die in einem von Zeitungen und Zeitschriften geprägten Alltag aufgewachsen sind und für die die Kirchen das Monopol, das menschliche Leben auf exklusive und verbindliche Weise zu deuten, verloren haben. Zu Goethes prägenden Erlebnissen zählt das Medienecho, das das Erdbeben von Lissabon, ausgelöst hat (vgl. DuW 32ff.);40 seine religiöse Biographie ist von

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Entwurf eines Briefes an August von Hennings [Herbst 1772]. In: Goethe, Kestner und Lotte. Hg. u. eingeleitet v. Eduard Berend. München 1914, S. 106–108, hier S. 106. Ebd., S. 107. »Für dem weiblichen Geschlecht hat er sehr viele Hochachtung« (ebd.). Ebd., S. 108. Ebd. Vgl. mit Bezug auf Kants in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft formulierten Gedanken, dass die menschliche Vernunft »durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen […], aber auch nicht beantworten kann«: Karl Eibl: Aporien-Reflexion. Zur funktionalen Äquivalenz von Religion und Dichtung. In: Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Hg. v. Hans-Edwin Friedrich, Wilhelm Haefs u. Christian Soboth. Berlin, New York 2011 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 41), S. 1–13. Grundlegend: Ulrich Löffler: Lissabons Fall – Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 1999 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 70). Vgl. auch die medienwissenschaftlichen Beiträge in dem Band: Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im

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der Lektüre kirchenkritischer Werke, allen voran Arnolds Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie, aber auch des Englischen Bibelwerks bestimmt;41 seine intellektuelle Auseinandersetzung mit religiösen Fragen besitzt ein Maß an autodidaktischer, synkretistisch-eklektizistischer Eigenständigkeit, die ihn auch zur Dogmatik pietistischer Gemeinschaften auf Distanz bringt. Sein »Weltbild« ist eine offene Folge von »experimentierenden Lebensphasen«42. Goethe gehört zu jenen Autodidakten der Sattelzeit, die keine verbindlichen oder vorbildlichen Modelle der Lebensdeutung und der individuellen Lebensführung mehr vorfinden und für die es jene Lebensläufe, die die moderne Welt der Institutionen hervorbringen wird, noch nicht gibt.43

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18. Jahrhundert. Hg. v. Gerhard Lauer u. Thorsten Unger. Göttingen 2008 (Das 18. Jahrhundert. Supplementa 15). Von seiner frühen Begegnung mit dem »großen englischen Bibelwerk« berichtet Goethe im vierten, von seiner Arnold-Lektüre im achten Buch von Dichtung und Wahrheit (vgl. DuW 138f. u. 376). Schöffler hat an Goethes früher bibelkritischer Lektüre »den Ruin eines Kinderglaubens« sich vollziehen sehen. Herbert Schöffler: Der junge Goethe und das englische Bibelwerk (1938). In: H. S.: Deutscher Geist im 18. Jahrhundert. Essays zur Geistes- und Religionsgeschichte. Göttingen 1956, S. 97–113, hier S. 112f. Zu Goethe und Arnold vgl. Hans Schneider: »Mit Kirchengeschichte, was hab’ ich zu schaffen?« Goethes Begegnung mit Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie. In: Goethe und der Pietismus. Hg. v. Hans-Georg Kemper u. Hans Schneider. Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen 6), S. 79–110. So das Fazit der instruktiven Darstellung von Gerhard Sauder: Der junge Goethe und das religiöse Denken des 18. Jahrhunderts. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 97–110, hier S. 110. Für eine detaillierte Beschreibung der religiösen und kirchlichen Verhältnisse in Frankfurt a. M. vgl. Karl Dienst: Zur Religion des jungen Goethe. In: Journal of Religious Culture / Journal für Religionskultur 30 (1999). URL: http://web.uni-frankfurt.de/irenik/ relkultur30.pdf. [Stand: 3.1.2010.] In der systemtheoretisch inspirierten Rekonstruktion der Epochenschwelle des 18. Jahrhunderts ist es üblich geworden, von ›Exklusionsindividualität‹ zu sprechen und Goethe als prominentesten Vertreter eines solchen modernen Identitätskonzepts zu sehen. Vgl. etwa die Darstellung bei Marianne Willems: Individualität – ein bürgerliches Orientierungsmuster. Zur Epochencharakteristik von Empfindsamkeit und Sturm und Drang. In: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis u. Marianne Willems. Tübingen 2006 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 105), S. 171– 200, v. a. S. 177: Die Vorstellung, dass der Einzelne »in der funktional differenzierten Gesellschaft nicht mehr wie in der primär schichtdifferenzierten Gesellschaft durch Einordnung in die Gesellschaft Identität gewinnen« kann, weshalb er genötigt sei, »sich selbst seine Identität zu geben, die sich gerade in der Abweisung aller gesellschaftlichen Bindungen konstituieren und in einem distanzierten Umgang mit ihnen als Rollenfunktionen bewähren muß«, mag – versteht man den Begriff der ›Bindung‹ nur unspezifisch genug – stimmen oder auch nicht: für die um die Jahrhundertmitte geborenen jungen Intellektuellen aber ist die Diagnose anachronistisch. Die Welt der gesellschaftlichen Institutionen, die die Welt der Gemeinschaften ablöst, ist die Welt des 19. Jahrhunderts. – Karl Eibl versteht Goethes »lebenslange Fremdheit in der Welt der ›Geschäfte‹« und seine »Weigerung, sich in kontingente Bestimmungen einzulassen, den offenen Möglichkeitsraum des Ich zum Wirklichkeitsraum einzuengen« als exemplarischen Ausdruck einer »modernen Individualität«, die eine Instanz zu postulieren habe, »die in keiner sichtbaren Erscheinungsform« aufgehe. (Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a. M., Leipzig 1995, S. 49ff.)

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Die Frage, wie man leben soll, zielt nicht auf ein theoretisches Wissen, sondern ist eine Frage nach Formen der Lebensführung, denen man zustimmen kann, weil sie sich stimmig anfühlen und dem, was einem am Herzen liegt, entsprechen. Die Antwort auf diese Frage muss vom je eigenen Leben ihren Ausgang nehmen; sie schließt die Perspektive der ersten Person notwendigerweise mit ein.44 Es ist daher kein Zufall, dass die poetische Gestaltung des Lebens in dem kulturgeschichtlichen Moment zur Aufgabe der Poesie wird, in dem die geoffenbarte Religion ihren Status, Wissen zu sein, verliert. Das, wovon die Religion kündet, ist kein Wissen, sondern eine Lebenspraxis, und es ist diese Lebenspraxis, an der sich die Wahrheit der Religion zu erweisen hat.45 Der junge Goethe, unter einem Baum liegend, Pindar, Homer, den schönen Wissenschaften und Künsten zugetan, ist das Sinnbild einer Erfahrung, deren kulturgeschichtliche Relevanz der Autor Jahrzehnte später in folgende Verse fassen wird: »Wer Wissenschaft und Kunst besitzt / Hat auch Religion; / Wer jene beiden nicht besitzt / Der habe Religion.«46 Die Poesie ist ein Medium der Selbstverständigung, insofern sie die Innenseite des gelebten Lebens vergegenwärtigt und es dem Autor wie seinen Lesern ermöglicht, sich zu diesem deutungsoffen präsentierten Erleben in ein Verhältnis zu setzen. »Die wahre Poesie«, so lautet das Credo, das Goethe in Dichtung und Wahrheit formuliert, kündigt sich dadurch an, dass sie als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. […] Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu mäßigen. (DuW 614)

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Dieser Hochrechnung kann ich mich nicht anschließen. Goethes Eigenwilligkeit ist mehr als der soziologische Normalfall; er bleibt auch nach modernen Maßstäben die eigenwillige Ausnahme. Die »Spannung zwischen subjektiver Perspektive und Verallgemeinerbarkeit« ist anthropologischen Fragen inhärent: Sie weisen eine Dynamik auf, die vom Subjektiven zum Objektiven führt (vgl. Ernst Tugendhat: Anthropologie als »erste Philosophie«. In: E. T.: Anthropologie statt Metaphysik. München 2007, S. 34–54, hier S. 39.) – und finden in der poetischen Mimesis des einzelmenschlichen Lebens ihre Entsprechung, insofern diese das menschliche Leben auf exemplarisch allgemeine Weise darstellt. Werthers Briefe sprechen von ganz persönlichen Erfahrungen und fassen diese als Ausdruck der Conditio humana auf. Zur anthropologischen Fragestellung des Romans vgl. Katja Mellmann: Das Buch als Freund – der Freund als Zeugnis. Zur Entstehung eines neuen Paradigmas für Literaturrezeption und persönliche Beziehungen, mit einer Hypothese zur Erstrezeption von Goethes Werther. In: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis u. Marianne Willems. Tübingen 2006 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 105), S. 201–240, hier v. a. S. 205–208. Vgl. als besonders prominente Stimme: Gotthold Ephraim Lessing: Gegensätze des Herausgebers. In: G. E. L.: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl [u. a.] hg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 7. München 1976, S. 457–491, hier S. 458: »Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist.« Johann Wolfgang Goethe: Zahme Xenien aus dem Nachlaß. In: J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 18.1: Letzte Jahre. 1827–1832. Hg. v. Gisela Henckmann u. Dorothea Hölscher-Lohmeyer. München, Wien 1997, S. 58– 83, hier S. 76.

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Lust und Schmerz, Glück und Unglück des einzelmenschlichen Lebens aber sind die elementarsten Wirklichkeiten, denen sich die Dichtung, die den Anspruch erhebt, verbindliche Lebensdeutung zu sein, zuwenden kann. Insofern sie es mit der Gebrechlichkeit dieses Lebens zu tun hat, ist sie, wie Goethe im Briefwechsel mit Schiller diagnostiziert, »doch eigentlich auf die Darstellung des empirisch-pathologischen Zustandes des Menschen gegründet«.47 Goethes Roman stellt den Anspruch, die Frage nach der Bestimmung des Menschen nicht einfach als eine theoretische Frage zu diskutieren, die zu neuem Wissen über den Menschen führt, sondern als erlebte Wirklichkeit zur Sprache und das exemplarisch Allgemeine dieses Erlebens zur Geltung zu bringen – als Darstellung, die den Blick auf das Ganze des einzelmenschlichen Lebens, auf Glück und Leid, richtet und in dem Ganzen die Göttlichkeit der Schöpfung wahrnimmt: »Alles gaben Götter die unendlichen / Ihren Lieblingen ganz / Alle Freuden die unendlichen / Alle Schmerzen die unendlichen ganz.«48 – so die emphatische Selbstbehauptung in einem Brief an Auguste zu Stolberg, in dem Goethe vom Tod seiner Schwester berichtet. Sein Roman versteht sich als »weltliches Evangelium«, insofern er aus einer authentischen Glücks- und Leidenserfahrung hervorgeht und von dieser Erfahrung Zeugnis ablegt.49 »Generalbeichte« (DuW 621) nennt Goethe in Dichtung und Wahrheit diese Arbeit und greift damit die Formulierung auf, mit der er sein gesamtes literarisches Werk charakterisiert hatte: Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl Niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf. Alles was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession. (DuW 306)

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Brief an Friedrich Schiller vom 25.11.1797. In: J. W. G.: Briefe. Hamburger Ausgabe. Bd. 2. Textkrit. durchges. u. mit Anmerk. vers. v. Karl Robert Mandelkow. München 31988, S. 316. Brief an Auguste Gräfin zu Stolberg vom 17.7.1777. In: Goethe: Briefe 1, S. 234. Goethe formuliert hier ein Lebens- und Glaubensbekenntnis, das sich ähnlich bereits in der Rezension von Sulzers Schrift über Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung findet: »Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertreten jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und hässlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte neben einander existierend.« (In: MA 1.2, S. 397–402, hier S. 400.) Wie sehr Goethes »Autor- und Ausdrucksästhetik« in der »Authentizität des Erfahrens und Fühlens« verankert ist, betont auch Hans-Georg Kemper: »Göttergleich«. Zur Genese der Genie-Religion aus pietistischem und hermetischem ›Geist‹. In: Goethe und der Pietismus. Hg. v. Hans-Georg Kemper u. Hans Schneider. Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen 6), S. 171–208, hier S. 185.

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In all dem geht es nicht um eine Erweiterung des Wissens im eigentlichen Sinn, sondern um eine Erkenntnis, die sich dem Subjekt im gesammelten Selbstbezug erschließt. Man kann es Gewahrwerden nennen oder Besinnung und als eine Weise der bewussten Erlebnisverarbeitung charakterisieren, in der sich das, was einem »aus Geschick oder eigner Schuld« (W 197) widerfahren ist, fassbar wird. Dieses ›Begreifen‹ verdankt sich nicht einer begrifflich abstrakten Benennung; es vollzieht sich im Prozess einer imaginativen Vergegenwärtigung, die »so Lust als Schmerz« ›mäßigt‹, indem sie das Durchlebte sprachlich artikuliert und dieser sprachlichen Artikulation Prägnanz verleiht. Wer Goethes Werther ernst nehmen will, darf sich nicht scheuen, bei solchen Überlegungen seinen Ausgang zu nehmen, aber er kann es dabei nicht belassen: er muss sie um medienästhetische Reflexionen erweitern.

2. Die Medienfrage Briefromane sind – so die lange Zeit konkurrierende Gattungsbezeichnung – »Romane in Briefen«.50 Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Medium Brief zum Medium des Erzählens machen. Damit ist alles und doch auch nichts gesagt, denn so wenig der Brief als Kommunikationsform auf spezifische Inhalte festgelegt ist, so wenig ist es das narrative Schreiben, das sich des Briefes als einer außerliterarischen Kommunikationsform bedient.51 Briefromane sind, wie der Roman selbst, in der traditionellen Gattungspoetik nicht verankert. Eine Gattung galt dieser bekanntlich als ein deutlich umrissenes Modell, in dem nicht nur ein obligater Komplex von Stoffen, Motiven und Personen, nicht nur eine obligate Sprache und Technik, sondern auch ein vorgeschriebenes Weltbild und ein vorgeschriebener Gedankengehalt so zusammengehören, daß 52 keiner seiner Bestandteile verrückbar oder auswechselbar ist.

Vom Roman des 17. Jahrhunderts lässt sich dies durchaus behaupten: Romane sind Liebesgeschichten in Prosa, nicht aber vom Briefroman. Der Briefroman selbst ist zunächst nicht mehr als eine literarische Technik.53 Genrekonventio-

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Vgl. Gerhard Sauder: Briefroman. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Gem. mit Harald Fricke [u. a.] hg. v. Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, S. 255–257, hier S. 255. Zur Unterscheidung von Medium, Kommunikationsform und Textsorte vgl. Christa Dürscheid: Medienkommunikation im Kontinuum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Theoretische und empirische Probleme. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 38 (2002), S. 37–56, v. a. S. 37ff. Richard Alewyn: Gestalt als Gehalt: Der Roman des Barock. In: R. A.: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a. M. 1982 (st 845), S. 117–132, hier S. 118. Vgl. François Jost: L’Évolution d’un genre. Le Roman épistolaire dans les lettres occidentales. In: F. J.: Essais de littérature comparée. Europeana II. Première série. Fribourg / Ur-

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nen bilden sich dort aus, wo das Erzählen in Briefen traditionelle Plotmuster aufgreift. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang die Geschichte von der verfolgten Unschuld,54 genereller gesprochen: vom Einander-Fliehen und Einander-Finden der Geschlechter, die v. a. Richardsons Romane zu europäischen Bestsellern und zu Begründern einer literarischen Tradition machten, die in der gattungsgeschichtlichen Rekonstruktion als Prototyp des Briefromans aufgefasst wurde.55 Diese Plotmuster des Erzählens aber, das Intrigenspiel und die Bewährungsprobe, die Irrungen und Wirrungen, sind so alt wie das Erzählen selbst; sie finden im Briefroman nur eine neue, genuin schriftliche Ausdrucksform. Die Charakterisierung eines Textes als ›Briefroman‹ sagt deshalb über den Text selbst noch nichts aus.56 Das gilt auch für den Werther, dessen singuläre Stellung in der Gattungsgeschichte häufig betont wurde, obwohl die Frage nach dem Status des Briefs in Goethes Roman keineswegs als geklärt gelten kann. Ich versuche die im ersten Abschnitt skizzierten Perspektiven der Interpretation fortzuführen, indem ich zunächst die Grenzen reflektiere, die der Interpretation durch die Brieffiktion gesteckt sind, und beschränke mich auf die Diskussion zweier prominenter Studien, die sich die Gattungslogik von Goethes Roman ausdrücklich zum Thema gemacht haben. Die erste stammt von Gert Mattenklott: Mit Goethes Die Leiden des jungen Werthers […] bekommt das Genre eine neue Dimension, die seinen Begriff entscheidend wandelt. Das Werk widerspricht der appellativen Voraussetzung des B[riefroman]s, daß seine Korrespondenzen sich symbolisch auf eine wirklich bestehende oder prinzipiell herstellbare Geselligkeit beziehen. Hier wird der Wirklichkeitsgehalt des dialogischen Modells bestritten, indem auf Werthers Briefe angemessene Antworten nicht mehr vorstellbar sind. Sie sind lyr[ische] Monologe u[nd] als Briefe v. a. darum abgefaßt, um die gesellschaftl[iche] Resonanzlosigkeit emphatisch ge57 äußerter Subjektivität hervortreten zu lassen: ein Desillusionsroman avant la lettre.

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bana (Illinois) 1968, S. 88–179. Briefromane, so Jost, sind kein »genre littéraire«; »ils incarnent une technique« (S. 89). Vgl. Ian Donaldson: The Rapes of Lucretia. A Myth and its Transformations. Oxford 1982, S. 56–82. Vgl. den Beitrag von Gisbert Ter-Nedden in diesem Band. Vgl. etwa Jürgen von Stackelberg: Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 293– 309. Jüngst auch Jürgen von Stackelberg: Briefroman. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. v. Dieter Lamping [u. a.]. Stuttgart 2009, S. 84–95. Das soll die Leistung typologischer Studien nicht schmälern. Vgl. insbesondere Janet Gurkin Altman: Epistolarity. Approaches to a Form. Columbus (Ohio) 1982. Monika Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Héloïse und Laclos’ Liaisons Dangereuses. Tübingen 1990 (Romanica Monacensia 34). Gert Mattenklott: Briefroman. In: Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. v. Walther Killy. Bd. 13: Begriffe, Realien, Methoden. Hg. v. Volker Meid. Gütersloh, München 1992, S. 129–132, hier S. 131f. Mattenklott rekapituliert hier Überlegungen seines Beitrags zu Glasers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Vgl. Gert Mattenklott: Briefroman. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 4: Zwischen Aufklärung und Absolutismus: Rationalismus, Empfindsamkeit,

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Das Argument lässt sich in etwa so ausbuchstabieren. Der Roman in Briefen, der als Folge von Korrespondenzen entwickelt wird, beruht auf der Überzeugung, dass sich im Briefwechsel eine Form von »Geselligkeit« herstellen lässt. Goethes monologische Romanform widerspricht dieser Voraussetzung. Werthers Briefe bleiben zwar nicht ohne Antwort, wie Mattenklott suggeriert, »angemessene Antworten« auf Briefe, wie Werther sie schreibt, lassen sich aber kaum vorstellen. Mattenklotts Pointe lautet daher: Das strukturelle Spezifikum von Goethes Roman – die monologische Form – ist seine Botschaft. Der Briefroman demonstriert, dass »emphatisch geäußerte Subjektivität« ohne gesellschaftliche Resonanz bleibt und desillusioniert damit alle Hoffnungen, dass Verständigung möglich sei.58 Nun könnte freilich nichts weniger zutreffen als die Behauptung, Werthers »emphatisch geäußerte Subjektivität« bliebe ohne gesellschaftliche Resonanz. Wahr ist: Werthers Briefe finden im Roman keine Resonanz; die Resonanz des Romans aber hätte größer nicht sein können. Mattenklott fasst Goethes Darstellungsmittel als Darstellungsgegenstand auf. Dem wird man entgegenhalten müssen: Das Medium Brief ist das Mittel, eine »Krankheit zum Tode« (W 235) zu vergegenwärtigen, nicht der Gegenstand der Darstellung. Dass wir keine Briefe von Wilhelm zu lesen bekommen, hat nicht damit zu tun, dass sich auf Werthers Briefe keine Antwortbriefe denken ließen (wie denn auch die Briefe des jungen Goethe beweisen, die denen seines Helden um nichts nachstehen). Monologische Briefromane vor und nach Goethes Werther – die Lettres portuguaises (1669) des Comte de Guilleragues etwa oder die Vingt-Quatre Heures d’une femme sensible (1824) der Constance de Salm – leben davon, dass die Briefe der verlassenen oder sich verlassen wähnenden Heldinnen tatsächlich ohne Echo bleiben, und gleichen darin den Heroides Ovids. Wilhelm antwortet durchaus,59 doch die Mitteilung dieser Briefe würde den Briefroman selbst zerstören.

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Sturm und Drang 1740–1786. Hg. v. Ralph-Rainer Wuthenow. Reinbek b. H. 1980 (rororo 6523), S. 185–203, v. a. S. 196ff. Gleichlautend dann auch die Formulierung in Mattenklott: Werther, S. 69. Matthias Luserke variiert dieses Deutungsmuster, wenn er Goethes Gattungswahl folgendermaßen kommentiert: »Zum Dreh- und Angelpunkt des Romans wird […] das Verständnis von einer Individualität, die in ihrer radikalsten Form, das zeigen Werthers Briefmonologe, unweigerlich zu sozialer und kommunikativer Vereinzelung führt.« Matthias Luserke: Der junge Goethe. »Ich weis nicht warum ich Narr soviel schreibe«. Göttingen 1999, S. 115. Bernhard Siegert will dies in seiner ebenso scharfsinnigen wie eigenwilligen Beweisführung für die These, dass Werthers Briefe nie abgeschickt wurden, nicht wahrhaben. Vgl. Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post. 1751–1913. Berlin 1993, S. 45f. Wie sehr Werthers Briefe von seinem Verhältnis zu Wilhelm geprägt sind, hat Dieter Martin gezeigt. Vgl. Dieter Martin: Werthers Brieffreund. In: Wechselleben der Weltgegenstände. Beiträge zu Goethes kunsttheoretischem und literarischem Werk. Hg. v. Hee-Ju Kim unter redaktioneller Mitarb. v. Sebastian Kaufmann. Heidelberg 2010, S. 197– 217.

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Mattenklott liest Die Leiden des jungen Werthers als Briefroman, der einen Briefwechsel auf die Briefe eines Einzelnen reduziert. Das ist ein Kurzschluss von Briefroman und Briefkultur. Zwar wurde der Briefwechsel im 18. Jahrhundert zu einer Form des ›geselligen Betragens‹ (Schleiermacher), die im Briefroman ihr literarisches Echo fand, aber die Funktion des Briefes im Briefroman liegt nicht darin, eine Korrespondenz nachzubilden oder »sich symbolisch auf eine wirklich bestehende oder prinzipiell herstellbare Geselligkeit [zu] beziehen«, sondern darin, das epische Geschehen als eine und aus einer Folge von Briefen zu entwickeln.60 Der Briefroman macht den Brief zum Medium eines Erzählens, für das es im konversationellen Alltag, dort also, wo das Erzählen seinen Sitz im Leben hat, keine Entsprechungen gibt, und das bislang auch dem traditionellen Roman verschlossen blieb.61 Goethes Roman bildet keinen Briefwechsel nach, sondern arrangiert eine Folge von fiktiven Einzelbriefen zu einer profanen Passionsgeschichte.62 Goethes autobiographischer Rückblick auf die Entstehung des Werther unterstreicht dies nachdrücklich. Er führt die Idee, die Geschichte des jungen Werther in einer Folge von Briefen darzustellen, auf seine Neigung zurück, »das einsame Denken zur geselligen Unterhaltung« (DuW 610) mit imaginären Gesprächspartnern zu verwandeln, und er weist auf die Verwandtschaft hin, die »ein solches Gespräch im Geiste mit dem Briefwechsel« hat: Im einen Fall sieht man »ein hergebrachtes Vertrauen erwidert«; im anderen weiß man »ein neues, immer wechselndes, unerwidertes sich selbst zu schaffen«: Als daher jener Überdruß zu schildern war, mit welchem die Menschen, ohne durch Not gedrungen zu sein, das Leben empfinden, mußte der Verfasser sogleich darauf fallen, seine Gesinnung in Briefen darzustellen: denn jeder Unmut ist eine Geburt, ein Zögling der Einsamkeit; wer sich ihm ergibt, flieht allen Widerspruch, und was widerspricht ihm mehr, als jede heitere Gesellschaft? Der Lebensgenuß anderer ist ihm ein peinlicher Vorwurf, und so wird er durch das was ihn aus sich selbst herauslocken sollte, in sein Innerstes zurückgewiesen. Mag er sich allenfalls darüber äußern, so wird es durch Briefe geschehn: denn ei-

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Vgl. Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968, S. 144. Vgl. Robert Vellusig: Verschriftlichung des Erzählens. Medienprobleme des Romans im 17. und 18. Jahrhundert. In: IASL 30 (2005), H. 1, S. 55–97. Den Unterschied zwischen einem echten Briefwechsel und einem Briefroman kann man daran erkennen, dass die Frage, ob der Herausgeber seiner Aufgabe entsprochen hat, in der literarischen Fiktion gegenstandslos ist. Der Herausgeber ist eine Funktion des Textes, nicht dessen Möglichkeitsbedingung. – Das hat die Werther-Forschung natürlich nicht daran gehindert, die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit des Herausgebers zu stellen und Beobachtungen zusammenzutragen, die jeden echten Editor desavouieren müssten, für das Verständnis des Romans aber ganz ohne Belang sind. Vgl. etwa Jürgen Nelles: Werthers Herausgeber oder die Rekonstruktion der »Geschichte des armen Werthers«. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1996), S. 1–37. Ähnlichen (meiner Ansicht nach überflüssigen) Detailfragen widmet sich Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2009. Für eine kritische Würdigung des Buches vgl. meine Rezension in: Arbitrium 28 (2010), H. 3, S. 336–344.

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nem schriftlichen Erguß, er sei fröhlich oder verdrießlich, setzt sich doch niemand unmittelbar entgegen; eine mit Gegengründen verfaßte Antwort aber gibt dem Einsamen Gelegenheit, sich in seinen Grillen zu befestigen, einen Anlaß, sich noch mehr zu verstocken. Jene in diesem Sinne geschriebenen Wertherischen Briefe haben nun wohl deshalb einen so mannigfaltigen Reiz, weil ihr verschiedener Inhalt erst in solchen ideellen Dialogen mit mehreren Individuen durchgesprochen worden, sie sodann aber in der Komposition selbst, nur an einen Freund und Teilnehmer gerichtet erscheinen. (DuW 611)

Das ist eine bemerkenswerte Reflexion. Goethe führt die Brieffiktion weder auf den lebensweltlichen Briefwechsel zurück noch stellt er die »Wertherischen Briefe« in die Tradition des Briefwechsel-Romans; er sieht in ihnen schriftliche Äußerungen, die dem Gespräch nahe stehen, das derjenige, der »in sein Innerstes zurückgewiesen« ist, mit anderen und sich selber führt. Werthers Briefe sind über weite Strecken gesprächsförmig konzipiert; sie inszenieren einen »Dialog ohne Sprecherwechsel«63 und geben dem Schreibenden Raum, sich ohne Einschränkungen zu entfalten. In diesem Sinne ist der Brief »doch immer eine freundliche Zuflucht, […] im Augenblick der Noth ein wahrer, theilnehmender Freund, der uns durch keine wiedrige Ecken des Charackters zurükstöst, wie man’s wohl oft just in den Stunden erfährt, da man am wenigsten so berührt werden mögte.«64 Der Briefroman, der sich an dieser lebensweltlichen Erfahrung orientiert, ist eine Form der Bewusstseinspoesie, in der das Ausdrucks-, Mitteilungs- und Anerkennungsbedürfnis desjenigen, der auf sich allein gestellt ist, lesbare Spuren hinterlassen hat. Die zweite Antwort auf die gattungstheoretische Frage nach dem Status des Mediums Brief in Goethes Roman stammt von Albrecht Schöne.65 Schöne, der seine Werther-Interpretation im Kontext einer viel beachteten Studie zu einem Brief des 19-jährigen Goethe an den Freund Ernst Wolfgang Behrisch entwickelt hat, sieht in Werthers Briefen eine »Todesentelechie«66 am Werk. Seine These lautet: Werthers Neigung, sich seine Leiden beim Schreiben von Briefen mit der »Emsigkeit der Einbildungskraft« (W 197) zu vergegenwärtigen, ist die eigentliche Wurzel des Übels. Schönes Fazit lautet: »Weil Werther Briefe schreibt, solche Briefe, muß er im Selbstmord enden.«67 Das ist ein faszinierendes Argument, aber es ist sowohl sachlich als auch methodisch unhaltbar: Sachlich unhaltbar ist es, weil sich derjenige, der sich

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Vgl. Gerhard Tschauder: Dialog ohne Sprecherwechsel? Anmerkungen zur internen Dialogizität monologischer Texte. In: Dialoganalyse II. Referate der 2. Arbeitstagung, Bochum 1988. Hg. v. Edda Weigand u. Franz Hundsnurscher. Bd. 1. Tübingen 1989 (Linguistische Arbeiten 229), S. 191–205. Brief an Sophie von La Roche vom 1.8.1775. In: WA IV, 2, S. 271. Vgl. Albrecht Schöne: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hg. v. Herbert Singer u. Benno von Wiese. Köln, Graz 1967, S. 193–229. Ebd., S. 217. Ebd. – Schönes Werther-Deutung wurde von Jürgen Stenzel übernommen und im Detail ausgearbeitet. Vgl. Jürgen Stenzel: Zeichensetzung. Stiluntersuchungen an deutscher Prosadichtung. Göttingen 1966 (Palaestra 241), S. 40–54.

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sein Leid Briefe schreibend in Erinnerung ruft, in dem, was ihn so quälend beschäftigt, nicht notwendigerweise verliert. Das Schreiben bietet dem Schreibenden immer auch die Möglichkeit, sich dem erlebten Leid gegenüber bewusst zu verhalten. Und umgekehrt: Wer sein Elend unaufhörlich wiederkäut und seine Zufriedenheit allein »in der tausendfachen imaginären Vervielfältigung desselben« findet (DuW 235), läuft Gefahr, sich in sein Unglück auch dann zu verstricken, wenn er keine Briefe schreibt. Methodisch problematisch ist Schönes Deutung, weil sie die Frage nach den Beweggründen der Figur (der Rückzug aus der Interaktion) mit der Frage nach der Darstellungsabsicht des Autors (die Vergegenwärtigung eines Erlebens- und Ausdrucksprozesses) kurzschließt. Werther ist der fiktive Verfasser der Briefe, Goethe der Autor des Romans. Will man sich die Darstellungsleistung des Romans bewusst machen, kann man nicht im selben Atemzug den Kopf darüber schütteln, dass Werther solche Briefe schreibt. Die Frage nach der ästhetischen Finalität des Romans beschränkt die Möglichkeit, Werthers Schreiben psychologisch zu deuten. Mit größerem Recht wird man daher sagen dürfen: Weil Werther im Selbstmord endet, muss er solche Briefe schreiben. Goethe findet im Werther zu einer Form der Bewusstseinsdarstellung, die seine Leserinnen und Leser in die Lage versetzt, diesen Prozess – die personale Innenseite des Geschehens – empathisch nachzuvollziehen. Goethes Werther ist ein eminenter Text – »a novel to be taken seriously and read carfully or not at all«.68 Eminent ist der Roman, weil er dem Leser eine Erfahrung erschließt, die man als Erfahrung immer nur selbst machen kann. Eminent ist er, weil er für diese Erfahrung eine authentische Sprache findet, d. i. eine Sprache, in der sich im konkreten Fall eine exemplarisch allgemeine Wahrheit artikuliert. Goethes poetologisches Programm für dieses Projekt heißt »wahre Darstellung«: »Die wahre Darstellung« hat keinen »didaktischen Zweck«: Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge und dadurch erleuchtet und belehrt sie.« (DuW 623) Die Geschichte von den Leiden des jungen Werther ist die Geschichte eines Scheiterns, aber dieses Scheitern der Figur wird vom Roman selbst auf äußerst gelungene Weise vergegenwärtigt. Das Gelingen des Romans lässt sich nicht darauf reduzieren, dass er eine literarische Figur scheitern lässt, um die Gründe für dieses Scheitern anschaulich zu machen.69 Wie also soll man sich zu dieser Darstellung und zur Darstellungsleistung des Romans verhalten? 68

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So Roger Paulins Einspruch gegen David Wellberys Versuch, den Werther als psychoanalytische Fallstudie zu lesen. Roger Paulin: Goethe, Die Leiden des jungen Werthers. In: Landmarks in the German Novel (I). Ed. by Peter Hutchinson. Oxford [u. a.] 2007 (Britische und Irische Studien zur deutschen Literatur und Sprache 45), S. 15–30. Eine von Lavater kolportierte Äußerung Goethes scheint eine solche Lesart nahezulegen: »Historiam morbi zuschreiben, ohne unten angeschriebene Lehren, a. b. c. d. – sagte mir einst Göthe, da ich ihm einige Bedenklichkeiten über seinen Werther an’s Herz legte – ist tausendmal nüzlicher, als alle noch so herrliche Sittenlehren. Geschichtlich oder Dichterisch dargestellt; ›Siehe das Ende dieser Krankheit ist Tod! Solcher Schwärmereyen Ziel ist

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3. Eine Geschichte, die sich selber schreibt Diderot bemerkt in seiner Lobrede auf Richardson, dass über Pamela, Clarissa und Sir Charles Grandison geklatscht und getratscht wurde wie über Leute, die man kennt und für die man sich interessiert: »J’ai entendu disputer sur la conduite de ses personnages, comme sur des événements réels; louer, blâmer Paméla, Clarisse, Grandisson, comme des personnages vivants qu’on aurait connus, et auxquels on aurait pris le plus grand intérêt.«70 Diderots Éloge ist ein Zeugnis für die suggestive Wirkung, die von der Präsentation eines Interaktionsdramas als ein intimes Bewusstseinsdrama ausging. Das gilt auch und mehr noch für den Werther und versteht sich von selbst. Selbstverständlich ist es, bei der Lektüre eines Romans mit dem Helden mitzubangen und mitzuhoffen, ihm sein Liebes- und Lebensglück zu wünschen, über sein Leid zu klagen oder mit ihm zu hadern. Wer es aber unternimmt, über die Erfahrung, die der Roman ihm ermöglicht, Klarheit zu gewinnen, kann sich weder damit begnügen, den Helden zu loben oder zu tadeln, noch kann er sich zur Aufgabe machen, »die Fehlschlüsse als Fehlschlüsse, die irrigen Begriffe als irrig, die falschen Gründe als falsch, und die daher entspringenden Handlungen als wirklich verwerflich«71 auszuweisen, sondern wird sich zunächst schlicht

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Selbstmord!‹ Wer’s aus der Geschichte nicht lernt, der lernts gewiß aus der Lehre nicht.« (Zit. nach Jäger: Leiden, S. 107.) – Das ist eine etwas zwiespältige Auskunft, ist doch die Notwendigkeit, dass solche »Schwärmereyen« verhängnisvoll enden, keineswegs erwiesen – nicht zuletzt deshalb nicht, weil der Autor selbst die selbstmörderischen »Grillen«, die er seinem Helden zuschreibt, überlebt hat. Denis Diderot: Éloge de Richardson. In: D. D.: Œuvres Esthétiques. Textes établis avec introductions, bibliographies, notes et relevés de variantes, par Paul Vernière. Paris 1959, S. 29–48, hier S. 37. Christian Garve: Über die Leiden des jungen Werther. Aus einem Briefe [1775]. Zit. nach Jäger: Leiden, S. 139. Die jüngere Werther-Literatur hat es sich zur Aufgabe gemacht, Garves Forderung an den Romancier als ein vom Roman selbst eingelöstes Programm auszuweisen. Vgl. als eine der frühen Studien für diese ›ironische‹ Lesart: Heinz Schlaffer: Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen. In: Goethe-Jahrbuch 95 (1978), S. 212–226. Die gängigen Argumente, die gegen Werther ins Feld geführt werden, lauten: Werther liest falsch. (Erdmann Waniek: Werther lesen und Werther als Leser. In: Goethe Yearbook 1 (1982), S. 51–92.) – Werther verwechselt Literatur und Leben. (Peter Pütz: Werthers Leiden an der Literatur. In: Goethe’s Narrative Fiction. The Irvine Goethe Symposium. Hg. v. William J. Lillyman. Berlin 1983, S. 55–68.) – Werthers ästhetisierender Umgang mit der Natur verkennt deren domestizierten Status und liefert ihn der eigenen ungebändigten Natur aus. (Dirk Grathoff: Der Pflug, die Nußbäume und der Bauernbursche. Natur im thematischen Gefüge des »Werther«-Romans. In: Goethe-Jahrbuch 102 (1985), S. 184–198.) – Werther glaubt, authentisch zu sein, obwohl er literarischen Vorbildern nachempfindet. (Walter Erhart: Beziehungsexperimente. Goethes »Werther« und Wielands »Musarion«. In: DVjs 66 (1992), S. 333–360.) Erharts Interpretation kulminiert in der eigenwilligen These, Werther sei von der Begegnung mit dem wahnsinnig gewordenen Schreiber so betroffen, weil er erfahren muss, dass auch dieser Platz bei Lotte schon besetzt ist (vgl. S. 344).

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bewusst machen müssen, dass für das Gelingen des Romans nichts tödlicher wäre als Werthers Rettung. Um sich die Darstellungsleistung des Romans verständlich zu machen, lohnt es sich, bei einer Erfahrung des jungen Goethe anzusetzen, die Albrecht Schöne in der zitierten Interpretation des Goethe-Briefes an Behrisch hervorgehoben hat.72 Der Brief dokumentiert ein Eifersuchtsdrama: Der 19-jährige Goethe hat seine Geliebte (Anna Katharina Schönkopf) mit einem anderen Mann im Theater gesehen, glaubt sich betrogen, stürzt nach Hause, macht seiner Empörung über die Geliebte schreibend Luft und beginnt dabei zu erzählen, was ihn so aufbringt: sodass er in der Folge abwechselnd erzählt, was sich zugetragen hat, neue Federn schneidet, sich zum Schreiben mahnt, an die laufende Theateraufführung denkt, sich in Gedanken an die Zukunft verliert und sich schließlich erschöpft zu Bett legt: »Gute Nacht. Mein Gehirn ist in Unordnung. O wäre die Sonne wieder da. Unzufriedenheit! Ich weiß warrlich nicht mehr was ich schreibe.« (S. 61) Tags darauf – der Brief beginnt mit den Worten: »Ich habe eine schröckliche Nacht gehabt!« (S. 61) – erfährt er: Es war alles nur ein Missverständnis. Als Goethe diesen Brief zwei Tage später wieder liest, entdeckt er in dem, was er da von Moment zu Moment geschrieben hat, einen literarischen Text: »Mein Brief hat eine hübsche Anlage zu einem Werckgen, ich habe ihn wieder durchgelesen, und erschröcke vor mir selbst. Ich weiß nicht warum ich schreibe. Gute Nacht. Es war nur um dir gute Nacht zu sagen.« (S. 63) Und einen Tag später kommentiert er: »Ich dencke, nun hörte ich auf, Zwey Bögen. Lieber Gott was für ein Geschreibe. Ich hab’s wieder durchgelesen, und glaube, daß es dich von jedem Fremden divertiren würde, allein deinen Freund wirst du bedauern. Es ist wahr ich bin ein groser Narr, aber auch ein guter Junge«. (S. 64) Goethe macht eine Erfahrung, die nur jemand machen kann, der in der Lage ist, seinem Erleben schreibend Ausdruck zu verleihen, und der es auch darauf anlegt, sich sein Erleben schreibend zu Bewusstsein zu bringen. Es ist der Brief eines Jugendlichen, der das Eifersuchtsdrama, in das er sich verstrickt, schreibend durchlebt, ohne doch der Autor des »Werckgen[s]« zu sein, das dabei entsteht. Möglich wurde dieser Text, weil Goethe den Freiraum zur Artikulation 72

Brief an Ernst Wolfgang Behrisch vom 10.11.1967. In: Goethe: Briefe 1, S. 57–64. Ich weise Zitate aus diesem Brief mit einfacher Seitenzahl im Text nach. Goethes Brief ist im Anschluss an Schöne mehrfach kommentiert worden. Vgl. etwa Rudolf Käser: Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in den Texten des »Sturm und Drang«. Herder – Goethe – Lenz. Bern [u. a.] 1987 (Europäische Hochschulschriften I, 1007), S. 124–130, oder auch Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830. Mit einem Beitrag von Edith Anna Kunz. Göttingen 2002, S. 58–69. Biographisch anschaulich, aber ohne Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschung: Manfred Zittel: Erste Lieb’ und Freundschaft. Goethes Leipziger Jahre. Halle 2007. Ich greife im Folgenden Gedanken meines eigenen Versuchs auf, mir die ästhetischen Qualitäten und die literarhistorische Signifikanz dieses Briefes verständlich zu machen. Vgl. Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000 (Literatur und Leben N. F. 54), S. 129–145.

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nutzt, den ihm das Schreiben, der Rückzug aus der Interaktion, eröffnet, und sich dem Verbalisierungszwang aussetzt, der entsteht, wenn man versucht, das eigene Erleben schriftlich mitzuteilen. Weil er schreibend mit sich allein ist, kann er mehr sagen, als das Gespräch vielleicht zuließe, und muss er mehr sagen, als im Gespräch zu formulieren nötig wäre. Das Papier ist zwar »nur eine kalte Zuflucht« gegen die »Arme« des Freundes (S. 57), wie Goethe eingangs klagt, aber es ist ein Medium, in dem der Schreibende, indem er sich mitteilt, ganz bei sich bleiben kann. So entsteht ein Text, von dem man nicht sagen kann, ob er im Sinne Karl Bühlers eine Sprechhandlung oder ein Sprachwerk ist: Sprechhandlungen bewältigen das »Problem des Augenblicks« und sind in dem Maße »erledigt«, wie sie »die Aufgabe, das praktische Problem der Lage zu lösen, erfüllt« haben. Ein Sprachwerk »will entbunden aus dem Standort im individuellen Leben und Erleben seines Erzeugers betrachtbar und betrachtet sein«.73 Bühlers Unterscheidung reflektiert die Differenz von Diskurs und Text.74 Diskurse verbrauchen sich. Texte sind ›Wiedergebrauchsreden‹ (Lausberg); sie weisen per definitionem eine »situationsüberdauernde Stabilität« auf, weil sie darauf angelegt sind, tradiert zu werden.75 Liest man Goethes Brief als subjektund situationsgebundene Sprechhandlung, dann wird man ihn als Versuch verstehen, sich im Augenblick der seelischen Not einem imaginierten Gesprächspartner zuzuwenden. Liest man ihn als situationsentbundenes Sprachwerk, dann vergegenwärtigt er das Toben eines Eifersüchtigen und die wechselhafte Erregungskurve dieses Tobens. Eben dies ist die Erfahrung, von der Goethe spricht: Gestern um diese Zeit, wie war das anders als jetzt. Ich habe meinen Brief wieder durchgelesen und würde ihn gewiß zerreissen, wenn ich mich schämen dürfte, vor dir in meiner eigentlichen Gestalt zu erscheinen. Dieses heftige Begehren, und dieses eben so heftige Verabscheun, dieses Rasen und diese Wollust werden dir den Jüngling kenntlich machen, und du wirst ihn bedauern. (S. 62)

Dass Briefe, die sich nicht darin erschöpfen, prosaische Informationen zu vermitteln, immer beides sind: individuell adressierte Sprechhandlungen und 73

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Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart 31999 (UTB 1159), S. 53f. Und weiter heißt es: »Man muss die Dinge nach den höchsten Ordnungsgesichtspunkten von Praxis und Poesis einmal soweit aufgespalten haben, um danach das faktische Ineinander der Leitfäden im Falle des hochgeübten kultivierten Sprechens nicht zu leugnen, sondern als eigenes Problem und Thema allererst richtig zu sehen. Es gibt eine Kunst des schlagfertigen und treffsicheren Fassens und Gestaltens im praktisch fruchtbaren Augenblick.« Bühlers Zusatz ist bedeutsam, weil er darauf hinweist, dass es hier um eine Ausdruckskompetenz geht, die geschult werden will und die, wenn sie einmal zu Gebote steht, hochgradig intuitiv ist – im Reden wie im Schreiben. Vgl. Wolfgang Raible: Konzeptionelle Schriftlichkeit, Sprachwerk und Sprachgebilde. Zur Aktualität Karl Bühlers. In: Romanistisches Jahrbuch 39 (1988), S. 16–21. Dazu grundlegend Konrad Ehlich: Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Schrift und Gedächtnis. Hg. v. Aleida u. Jan Assmann u. Christof Hardmeier. München 1983 (Archäologie der literarischen Kommunikation 1), S. 24–43.

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Sprachwerke, macht sie zu schillernden, interpretatorisch schwer fassbaren EgoDokumenten. Der geschriebene und versandte Brief ist ein Kommunikationsmedium; im Brief aber ist der Prozess der Artikulation dauerhaft aufbewahrt. Wer ihn liest, tritt in einen Imaginationsprozess ein, der sich bei jeder Lektüre neu entfaltet. In diesem unwillkürlich dokumentarischen Charakter solcher Briefe hat Goethe denn auch ihren eigentlichen Wert gesehen: Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann. Lebhafte Personen stellen sich schon bei ihren Selbstgesprächen manchmal einen abwesenden Freund als gegenwärtig vor, dem sie ihre innersten Gesinnungen mitteilen; und so ist auch der Brief eine Art von Selbstgespräch. Denn oft wird ein Freund, an den man schreibt, mehr der Anlaß als der Gegenstand des Briefes. Was uns freut oder schmerzt, drückt oder beschäftigt, löst sich von dem Herzen los, und als dauernde Spuren eines Daseins, eines Zustandes sind solche Blätter für die Nachwelt immer wichtiger, je mehr dem Schreibenden nur der Augenblick vorschwebte, je weniger ihm eine Folgezeit in 76 den Sinn kam.

Auf diese Entdeckung einer Unmittelbarkeit aus dem Geist der Schrift hat Goethe auch die »glückliche Erfindung« der Gattung Briefroman zurückgeführt: Wie bedeutend das Leben eines Menschen sei, kann ein jeder nur an ihm selbst empfinden, und zwar in dem Augenblick, wenn er auf sich selbst zurückgewiesen das Vergangene zu betrachten und das Künftige zu ahnen genötigt ist. Alle spätere Versuche, solche Zustände darzustellen, bringen jedoch jenes Gefühl nicht wieder zurück. Deshalb sind Briefe so viel wert, weil sie das Unmittelbare des Daseyns aufbewahren, und der Roman in Briefen war 77 eine glückliche Erfindung.

Der Brief bewahrt das »Unmittelbare des Daseyns« insofern auf, als er dieses Dasein sprachlich, in seiner personalen Prägnanz, vergegenwärtigt und die augenblicksverhaftete sprachliche Artikulation »ohne menschliche Dazwischenkunft«78 überliefert. Er dokumentiert, wie sich jemand »in dem Augenblick, wenn er auf sich selbst zurückgewiesen das Vergangene zu betrachten und das Künftige zu ahnen genötigt ist«, zu seinem Leben verhält. Die Briefkultur des 18. Jahrhunderts ist das Experimentierfeld einer neuartigen, genuin schriftlichen Poesie, auf dem auch der junge Goethe zum Dichter wird.79 Beim Schreiben (und Lesen) von Briefen macht er die Erfahrung einer

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Johann Wolfgang Goethe: Winckelmann (1805). Winckelmanns Briefe an Berendis. Zit. nach Goethe: Briefe 4, S. 486. Johann Wolfgang Goethe: Autobiographische Einzelheiten. Aristeia der Mutter (1831). Zit. nach Goethe: Briefe 4, S. 488. Wilhelm von Humboldt: Ueber den Zusammenhang der Schrift mit der Sprache. In: W. v. H.: Gesammelte Schriften. Erste Abt.: Werke. Bd. V: 1823–1826. Hg. v. Albert Leitzmann. Berlin 1906, S. 31–106, hier S. 35. Das kritische Argument, der sogenannte »empfindsame Brief« strebe einen »Sprung aus der Rhetorik« an, ende aber »nur in einer neuen Rhetorik des Authentischen, Ursprünglichen, Naiven« (Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 82), beruht auf einem Kategorienfehler. Der pauschale Hinweis auf die »rhetoricity« der Sprache (de Man) und auf ihre »letztlich nicht aufhebbare Realität […] als einem arbiträren Spiel von Signifikant und Signifikat« (ebd.) tut hier nichts zur Sache: Er diskutiert Kommunikationsprozesse auf

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Werkgenese. Möglich wird diese Erfahrung, weil die sprachliche Artikulation und ihre Speicherung zusammenfallen. So wie der junge Goethe schreibt, erlebt man sein Leben, so erzählt man es nicht. So erzählen kann man es nur, wenn man schreibt. Goethe entdeckt beim Schreiben und Lesen solcher Briefe, was es heißt, lebendig zu erzählen. Lebendig erzählen heißt, eine Geschichte so zu schreiben, dass sie den Leser nicht zum Adressaten von Informationen über eine Vergangenheit, sondern zum Augen- und Ohrenzeugen einer imaginierten Gegenwart macht.80 Man kann das als Transformation eines Wissens über die Vergangenheit in die Vergegenwärtigung ihres Erlebens bezeichnen. Jauß hat in diesem Sinne von der »Überwindung der epischen Distanz« gesprochen und dieses Projekt des modernen Erzählens folgendermaßen charakterisiert: Der Erzähler, für den die Geschichte schon abgeschlossen ist, wenn er sie zu erzählen beginnt, muß sich wieder an ihren Anfang stellen und beginnen, als ob nichts geschehen wäre. Sein Wissen von den Begebenheiten darf ihm nur als Anhalt dienen, um das Geschehen im offenen Horizont seines Verlaufs zu vergegenwärtigen. Das ›nunc‹, von dem aus er erzählt, kann mit dem ›nunc‹, von dem er berichtet, nur dann in absoluter Gegenwart zusammenfallen, wenn die vorrückende Zeit selbst und nicht etwa sein vorgängiges Wissen 81 die Folge der Ereignisse konstituiert.

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Wortebene und denkt Sprache immer schon in ihrer schriftlich vergegenständlichten Form, hat also keinen Sinn für die personalen Qualitäten der Rede, die von der geschriebenen Poesie als der eigentliche Bezugspunkt des literarischen Ausdrucks entdeckt werden. Albrecht Koschorkes Lesart zufolge ist die schriftliche Nachbildung des Sprechens ein paradoxes Unternehmen, das auf phantasmatischen und halluzinativen Strategien beruht (vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 300f.). Koschorke denkt Imagination als »Seelenvermögen, das Wahrnehmung unter den Bedingungen von Abwesenheit garantiert« (S. 297) und deshalb auf illusionäre Weise Präsenz erzeugt: »Illusion bedeutet Vergessen der Zeichen.« (S. 298) Das macht sein anti-repräsentationistisches Argument raffiniert, verzerrt aber den Sachverhalt: Es identifiziert Imagination mit Illusion und Vergegenwärtigung mit Präsenz, wendet diese Identifikation zeichentheoretisch und generalisiert sie zum Prinzip der Schriftkultur schlechthin. Für eine ausführlichere Diskussion vgl. meine Rezension in: Sprachkunst 31 (2000), H. 1, S. 165–170. Vgl. Gisbert Ter-Nedden: Die Unlust zu fabulieren und der Geist der Schrift. Medienhistorische Fußnoten zur Krise des Erzählens im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft 32/33 (1997/98), S. 191–220. Üblicherweise wird dies als paradoxe Strategie aufgefasst, insofern die Schrift – ein Medium, das Kommunikation auf graphische Zeichen reduziert – sprachliche Ausdruckformen entwickelt, die Unmittelbarkeit suggerieren. Dieser Argumentationslogik muss man nicht folgen. Sie hat keinen Sinn für die sozialen, sprachlichen und mnemotechnischen Grenzen, die dem mündlichen Erzählen in der Interaktion gesetzt sind, und sie lässt unbedacht, dass das schriftgestützte Formulieren dem Erzählen eigene ästhetische Darstellungsmöglichkeiten erschließt. Alle dekonstruktivistischen Topoi versammelt Franz Meier: Die Verschriftlichung des Gefühls im englischen Briefroman des 18. Jahrhunderts: Richardsons Pamela. In: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Renate Stauf, Annette Simonis, Jörg Paulus. Berlin, New York 2008, S. 273–291. Hans-Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts »À la recherche du temps perdu«. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Frankfurt a. M. 1986 (stw 587), S. 25f.

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Das »Geschehen im offenen Horizont seines Verlaufs zu vergegenwärtigen«, war – wie unschwer zu erkennen ist – das Programm Richardsons. In der Vorrede zur Clarissa heißt es: the letters on both sides are written while the hearts of the writers must be supposed to be wholly engaged in their subjects: the events at the time generally dubious – so that they abound not only with critical situations, but with what may be called instantaneous descriptions and reflections, which may be brought home to the breast of the youthful reader: as also, with affecting conversations, many of them written in the dialogue or dramatic 82 way.

Und in der Vorrede zur History of Sir Charles Grandison findet sich die berühmt gewordene Charakterisierung dieser Briefe als »Letters, written, as it were, to the Moment, while the Heart is agitated by Hopes and Fears, on Events undecided«.83 Man versteht dieses Programm im vollen Umfang nur, wenn man es nicht einfach als literarische Technik begreift, sondern sich bewusst macht, dass es das Programm des Erzählens überhaupt ist – gerade auch des mündlichen Erzählens, bei dem sich der Erzähler zum Schauspieler macht und ein personales Interagieren mimisch, gestisch, artikulatorisch aufführt. In dieser Hinsicht beginnt sich das moderne narrative Schreiben als eine bewusste Steigerung derjenigen personalen Qualitäten zu verstehen, die das Erzählen als proto-ästhetische Ausdrucksform immer schon bestimmen. Auf die nachbildende Vergegenwärtigung des Sprechens und Interagierens kann keine noch so rudimentäre Form des Erzählens verzichten. Kein Erzählen ohne Mimesis des Sprechens.84 Als oberste ästhetische Maxime des narrativen Schreibens kann deshalb die von Blanckenburg, Engel und anderen formulierte Einsicht gelten: Der »Romanendichter« hat »die bloße Erzählung der Begebenheit […] in Handlung zu verwandeln«.85 82 83 84

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Samuel Richardson: Clarissa, or The History of a Young Lady. Ed. with an Introduction and Notes by Angus Ross. London 1985 (Penguin Classics) S. 36. Samuel Richardson: The History of Sir Charles Grandison. Ed. with an Introduction by Jocelyn Harris. Part 1. London, New York, Toronto 1972, S. 4. Katja Mellmann hat in ihrer Werther-Studie von einem epochentypischen »emotiven Sprachmuster« gesprochen und dieses als »erlebnissimultane[]«, »der Musik vergleichbare, ›realistische‹ Zeitgestaltung« charakterisiert (Mellmann: Buch als Freund, S. 209f.). Das verdient generalisiert zu werden. Erzählen ist eine Zeitkunst, und signifikant ist die Sprache des Werther gerade insofern, als sich hier der schriftliche Ausdruck an den prozesshaften Qualitäten des Sprechens orientiert. Ähnliches lässt sich auch für einen Autor wie Kleist geltend machen, der beim Erzählen auf Figurenrede beinahe verzichtet; die Syntax der Erzählerrede aber folgt dem Prozess des Atmens und verleiht seinem (scheinbar kanzlistischen) Perioden-Stil eine eigene ästhetische Kraft. Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: Stimme und Atemsyntax in Vortragskunst, Prosa und Musik. In: Musik & Ästhetik 51 (2009), S. 73–106, hier S. 90f. Zum allgemeinen Trend einer Prozessualisierung der poetischen Ausdrucksformen vgl. Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. München 2007. Vgl. auch Dirk Oschmanns Beitrag in diesem Band. Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965 (SM 39),

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Dazu bedarf es nicht notwendigerweise eines Herzens, das von »hopes and fears«, genereller gesprochen: von ›Schicksalsgefühlen‹86 erfüllt ist, aber doch eines erlebnisfähigen Subjekts, das sich schreibend als Person darstellt und das sich zu dem, was es erlebt, schreibend noch einmal verhält. Für die Frage nach der Darstellungsleistung des Romans ist dies von entscheidender Bedeutung.

4. Geschichte eines Selbstmörders Die Geschichte, die der Roman vergegenwärtigt, ist nicht zufällig die Geschichte eines Selbstmörders. Es ist die Geschichte eines Selbstmörders, ›von ihm selbst geschrieben‹, und es ist ein Roman, der seinen Leserinnen und Lesern zumutet, diese Geschichte eines Selbstmörders empathisch nachzuvollziehen, indem er ihn selbst zu Wort kommen lässt. Dem Selbstmörder eine Stimme zu geben und ihm Gehör zu verschaffen, ist nicht die Erfindung Goethes. Michael MacDonald und Terence Murphy haben in ihrer Studie zur Geschichte des Selbstmords im England der Frühen Neuzeit gezeigt, dass die periodische Presse im 18. Jahrhundert wesentlich dazu beitrug, einen verständnisvollen Umgang mit dem Phänomen zu ermöglichen.87 Zeitungen begannen im frühen 18. Jahrhundert »bills of mortality« zu veröffentlichten, die unter der Rubrik »Casualities« auch Selbstmorde verzeichneten. Wer von der Zeitung regelmäßig über Selbstmordfälle informiert wurde, musste den Eindruck gewinnen, dass Selbstmord etwas Alltägliches ist. Die periodische Presse erweiterte so den sozialen Wahrnehmungshorizont und versachlichte das sensationelle Ereignis zur profanen Nachricht: »The papers persuaded the english that suicide was a frequent calamity that had social, economic, and psychological causes, rather than supernatural ones.«88 Die Zeitungen berichteten aber auch über die näheren Umstände der Tat und sie veröffentlichten »suicide notes«, letzte Nachrichten von Selbstmörderinnen und Selbstmördern. Die Bitte solcher Abschiedsbriefe lautete: Urteilt nicht zu streng, seht auf die Gründe für mein Unglück, betrachtet mein Schicksal mit Mitgefühl: »be not too censorious before you have thoroughly surveyed the Cause of my Misfortune …

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S. 493f. Vgl. Rolf Tarot: Drama – Roman – Dramatischer Roman: Bemerkungen zur Darstellung von Unmittelbarkeit und Innerlichkeit in Theorie und Dichtung des 18. Jahrhunderts. In: Momentum dramaticum. Festschrift Eckehard Catholy. Hg. v. Linda Dietrick u. David G. John. Waterloo (Ontario) 1990, S. 241–269. Vgl. Philipp Lersch: Aufbau der Person. 8., überarb. Aufl. München 1962, S. 285–293. Lersch differenziert zwischen Erwartung, Hoffnung, Befürchtung, Sorge, Resignation und Verzweiflung. Zum Folgenden vgl. Michael MacDonald, Terence R. Murphy: Sleepless Souls. Suicide in Early Modern England. Oxford 1990, S. 301–337, v. a. S. 316. Ebd., S. 302.

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look on my Condition with Compassion”89 – so eine Nachricht im Gentleman’s Magazine aus dem Jahr 1743. Damit eröffnete sich dem Zeitungsleser die Möglichkeit, eine Tat, die als unnatürlich, sündhaft und asozial galt,90 als persönliche Lebenskatastrophe wahrzunehmen. Goethes Roman ist Teil einer solchen übergreifenden Medien- und Kulturgeschichte der Empathie, zu der in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auch Publikationen wie die Biographien der Selbstmörder (Leipzig 1785)91 und jene journalistischen Fallgeschichten zählen, die von ›unglücklichen Verbrechern‹ berichten.92 In ihnen wird die Frage nach den Gründen des Selbstmords – Selbstmord aus Liebe, aus Melancholie, aus Zukunftsangst, Ehrgeiz, Gefühl, aus Behaglichkeit, Todesangst, kleinen Ursachen u. ä. m. – zur stehenden Formel, die den individuellen Fall begrifflich klassifiziert. Goethes Roman verfolgt ein komplementäres Ziel. Zwar ist es auch ihm darum zu tun, die Person gegen ihre Tat in Schutz zu nehmen und in ihr eigenes Recht zu setzen – »Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, und seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen« (W 198), lauten die einleitenden Worte des Herausgebers; aber diese ›Geschichte eines Selbstmörders, von ihm selbst geschrieben‹, ist keine Kausalanalyse, die die Genese des Selbstmords psychologisch erforscht und auf den Begriff bringt, sondern eine Imaginationsfolge, die die Innenseite des Ereigniszusammenhangs – »die innern Verhältnisse einer Handlung« (W 233) – vergegenwärtigt. Die Geschichte des jungen Werther wird nicht aus der Perspektive der dritten Person vergegenständlicht, sondern der Imagination aus der Perspektive der ersten Person er89 90

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Zit. nach ebd., S. 329. Zur Geschichte des Selbstmords vgl. statt anderer: Vera Lind: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Plack-Instituts für Geschichte 146). – Die Stigmatisierung des Selbstmords ist kein spezifisch christliches Phänomen. Auch in zahlreichen Stammeskulturen ist der Selbstmörder eine persona non grata, deren Geist als bedrohlich erlebt wird und die nicht zum Ahnherrn werden kann, also aus dem kulturellen Gedächtnis ausgeschlossen wird. Vgl. Anton Quack: Heiler, Hexer und Schamanen. Die Religion der Stammeskulturen. Darmstadt 2004, z. B. S. 58ff. Die frühneuzeitlichen Formen der ›Totenbannung‹, die üblichen ›Berührungs‹- und ›Wiedergänger‹-Ängste sind in diesem größeren Zusammenhang zu sehen. Instruktiv: Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften. Hg. v. Gabriela Signori. Tübingen 1994 (Forum Psychohistorie 3), v. a. die Beiträge von Michael Frank: Die fehlende Geduld Hiobs. Suizid und Gesellschaft in der Grafschaft Lippe (1600–1800), S. 152–188, und David Lederer: Aufruhr auf dem Friedhof. Pfarrer, Gemeinde und Selbstmord im frühneuzeitlichen Bayern, S. 189–209. Ausgewählte Beiträge sind dokumentiert in dem Band: Christian Heinrich Spieß: Biographien der Selbstmörder. Ausgewählt u. hg. v. Alexander Košenina. Göttingen 2005. Mediengeschichtlich instruktiv: Holger Dainat: Der unglückliche Mörder. Zur Kriminalgeschichte der deutschen Spätaufklärung. In: ZfdPh 107 (1988), S. 517–541. Ausgewählte Fallgeschichten dokumentiert der Band: Kriminalgeschichten aus dem 18. Jahrhundert. Hg. v. Holger Dainat. Bielefeld 1987. Vgl. auch August Gottlieb Meißner: Ausgewählte Kriminalgeschichten. Mit einem Nachwort hg. v. Alexander Košenina. St. Ingbert 2003.

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schlossen.93 Einen Fall Werther gibt es nicht so, wie es einen Fall Karl Wilhelm Jerusalem gab. Der Fall Werther ist eine Imaginationsfolge, die Goethe gestaltet, indem er, so seine prägnante Charakterisierung des Verfahrens, der »Geschichte« des armen Jerusalem seine eigenen »Empfindungen« leiht – »und so macht’s ein wunderbaares Ganze«.94 Das wunderbare Ganze des Romans beruht auf der Fiktion, der schreibenden Person dort nahe zu sein, wo sie mit sich allein ist, und es entfaltet das gesamte phänomenale Spektrum, die facettenreiche Erlebniswirklichkeit dieses Alleinseins. Sie reicht von der Erfahrung festlicher Daseinsfreude bis zur Erfahrung innerer Leere und existenzieller Verlassenheit: Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich denen süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin so allein und freue mich so meines Lebens, in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist, wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühl von ruhigem Dasein versunken (W 198f.),

heißt es im Brief vom 10. Mai. – Am 22. August wird Werther schreiben: Es ist ein Unglück, Wilhelm! all meine tätigen Kräfte sind zu einer unruhigen Lässigkeit verstimmt, ich kann nicht müßig sein und wieder kann ich nichts tun. Ich habe keine Vorstellungskraft, kein Gefühl an der Natur und die Bücher speien mich alle an. Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles. (W 240)

Mit diesen beiden Briefen ist die Spannbreite der Erfahrungen umrissen, die der Roman zur Sprache bringt. In ein Gefühl von »ruhigem Dasein« versunken zu sein, ist Werthers Ausdruck für die Erfahrung eines paradiesischen Behagens, das als Geschenk erlebt wird und in der das Bewusstsein von sich selbst befreit ist. Dass alle tätigen Kräfte zu einer »unruhigen Lässigkeit« verstimmt sind, ist die Bezeichnung für ein Leiden, das ein Leiden an eben diesem Bewusstsein ist. Der Roman steigert die Erfahrung, in sich selbst keinen Halt zu finden und sich selbst doch auch nicht zu entkommen, zur Erfahrung einer existenziellen Not, die ihren gültigen Ausdruck in den Worten der Passionsgeschichte findet: Und warum sollte ich mich schämen, in dem schröcklichen Augenblicke, da mein ganzes Wesen zwischen Sein und Nichtsein zittert, da die Vergangenheit wie ein Blitz über dem finstern Abgrunde der Zukunft leuchtet, und alles um mich her versinkt, und mit mir die Welt untergeht. – Ist es da nicht die Stimme der ganz in sich gedrängten, sich selbst ermangelnden, und unaufhaltsam hinabstürzenden Kreatur, in den innern Tiefen ihrer vergebens aufarbeitenden Kräfte zu knirschen: Mein Gott! Mein Gott! warum hast du mich verlassen? (W 268)

Goethes Werther ist ein Bewusstseinsroman, der das Maß des menschlichen Glücks und des menschlichen Leides auslotet und als exemplarisch allgemeine 93 94

Vgl. Ter-Nedden: Die Unlust zu fabulieren, S. 204. Brief an Johann Caspar Lavater vom 26.4.1774. In: Goethe: Briefe 1, S. 159. – Zur Tragödie des jungen Jerusalem vgl. Roger Paulin: Der Fall Wilhelm Jerusalem. Zum Selbstmordproblem zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit. Göttingen 1999 (Kleine Schriften zur Aufklärung 6).

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Erfahrung zur Sprache bringt. Die Frage, auf die er eine Antwort zu geben versucht, lautet: Wie fühlt es sich an, in eine Situation zu geraten, aus der man sich aus eigener Kraft nicht mehr zu retten weiß – »Was ist der Mensch? der gepriesene Halbgott! Ermangeln ihm nicht da eben die Kräfte, wo er sie am nötigsten braucht?« (W 273) – und in der man für die Hilfe anderer nicht mehr empfänglich ist? In dem für das Verständnis des ›wunderbaren Ganzen‹ zentralen Gespräch über den Selbstmord bringt Werther diesen Gesichtspunkt zur Sprache. Er versucht Albert, der für solche Dimensionen des Erlebens keinen Sinn hat, sinnfällig zu machen, »wie es dem Menschen zu Mute sein mag, der sich entschließt, die sonst so angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen« (W 235). Dies sinnfällig machen kann man nur, wenn man es der Imagination erschließt, und der Imagination erschließen kann man es nur, wenn man es erzählt. Dies tut auch Werther. Er erinnert Albert »an ein Mädgen, das man vor weniger Zeit im Wasser tot gefunden, und wiederholt ihm ihre Geschichte« (W 235). Werthers Erzählung vergegenwärtigt, wie eine junge Frau in eine existenzielle Ausweglosigkeit gerät, und stellt diesen Prozess als Folge deutlich markierter Phasen dar. Zunächst: ein Leben in alltäglichen, von kleinen Freuden unterbrochenen Routinen, dann: das Erwachen sinnlicher Bedürfnisse, die den bisherigen Vergnügungen ihren Reiz nehmen, darauf: die Begegnung mit einem Mann, die dem Leben neue Orientierung gibt und die bisherige Existenz als Mangel erscheinen lässt, endlich: die Erwartung des höchsten Glücks und dann: deren jähe Enttäuschung: sie schwebt in einem dumpfen Bewußtsein, in einem Vorgefühl aller Freuden, sie ist bis auf den höchsten Grad gespannt, wo sie endlich ihre Arme ausstreckt, all ihre Wünsche zu umfassen – und ihr Geliebter verläßt sie – Erstarrt, ohne Sinne steht sie vor einem Abgrunde, und alles ist Finsternis um sie her, keine Aussicht, kein Trost, keine Ahndung, denn der hat sie verlassen, in dem sie allein ihr Dasein fühlte. Sie sieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht die Vielen, die ihr den Verlust ersetzen könnten, sie fühlt sich allein, verlassen, von aller Welt, – und blind, in die Enge gepreßt von der entsetzlichen Not ihres Herzens stürzt sie sich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode all ihre Qualen zu ersticken. (W 236)

Werthers Erzählung bildet die Erregungskurve dieses Prozesses nach und sie gestaltet diesen Prozess so, dass er als leiblich-seelisches Erleben in seinen sinnlichen Modalitäten anschaulich wird, z. B. in Wendungen wie »Erstarrt, ohne Sinne steht sie vor einem Abgrunde, und alles ist Finsternis um sie her« oder: »blind, in die Enge gepreßt von der entsetzlichen Not ihres Herzens stürzt sie sich hinunter« usw. Die Botschaft dieser Erzählung lautet: Selbstmord ist keine Tat eines Schwächlings, wie Albert meint, sondern das Ende eines Prozesses, in den sich eine Person ausweglos verstrickt; keine Tat im eminenten Sinn, sondern ein Geschehen. Und: Wer nicht fähig ist, solche Bewusstseinslagen, in die ein Mensch geraten kann, zu imaginieren, soll sich auch nicht anmaßen, darüber zu urteilen: »nur in so fern wir mit empfinden, haben wir Ehre von einer Sache zu reden« (W 235).

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Dabei steht mehr auf dem Spiel als ein Auffassungsunterschied in der Sache. Anders als in der Nouvelle Héloïse, in der das Thema Selbstmord begrifflichdiskursiv, in einer Folge von Brief (St. Preux) und Gegenbrief (Eduard) abgehandelt wird,95 geht es hier nicht um die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Selbstmords, sondern um die Erschließung einer Erlebniswirklichkeit: um die Grenzen des Erlebens und um dessen Legitimität. Tatsächlich ist es ja Alberts moralische Borniertheit, die Werther aus der Fassung bringt – »Ich war im Begriffe abzubrechen, denn kein Argument in der Welt bringt mich so aus der Fassung, als wenn einer mit einem unbedeutenden Gemeinspruche angezogen kommt, da ich aus ganzem Herzen rede.« (W 234) – und es ist Alberts Verständnislosigkeit, die ihn aus dem Haus treibt, weil er sich im Innersten nicht verstanden fühlt: »O mir war das Herz so voll – Und wir gingen auseinander, ohne einander verstanden zu haben. Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht.« (W 237) Die junge Selbstmörderin durchlebt ihre Geschichte, kann sie aber als Geschichte nicht erzählen: nicht nur, weil sie in ihr umkommt, sondern auch weil ihr über dem Verlust ihres Geliebten die Welt selbst verloren geht. Wenn Werther ihre Geschichte erzählt, dann verhilft er einem exkommunizierten Bewusstsein zur Sprache.96 Das ist eine poetische Gestaltungsleistung im prägnanten Sinn: die Darstellung des subjektiven Erlebens einer dritten Person als einer dritten Person.97 Was Werther von der jungen Selbstmörderin erzählt, kann tatsächlich nur jemand von sich selbst erzählen; und doch kann er eben das, was Werther erzählend vergegenwärtigt, in der Situation selbst nicht artikulieren. Werther nimmt empathisch auch all das wahr, wofür die junge Frau blind geworden ist: »Sie sieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht die Vielen, die ihr den Verlust ersetzen könnten« (W 236). Die Überzeugungskraft seiner Geschichte liegt eben darin begründet, dass er ein fremdes Bewusstsein, gerade auch insofern es selbst nicht sprachlich verfasst ist, mit aller möglichen sinnlichen Prägnanz erschließt und zugleich einen offenen Sinn dafür hat, was der jungen Frau mangelt.

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96 97

Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. In der ersten dt. Übertr. v. Johann Gottfried Gellius. Vollst. überarb. u. ergänzt. Mit Anmerkungen u. einem Nachwort v. Reinhold Wolff. München 1978, S. 393–410 (3. Teil, 21. u. 22. Brief). Vgl. Klaus Oettinger: »Eine Krankheit zum Tode«. Zum Skandal um Werthers Selbstmord. In: DU 28 (1976), H. 2, S. 55–74. Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Ungekürzte Ausg. nach der 3. Aufl. 1977. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980 (Ullstein-Buch 39007), S. 79: »Die epische Fiktion ist der einzige erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann.«

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5. ›Wahre Penetration‹ und ›tiefe reine Empfindung‹ Die Geschichte von den Leiden des jungen Werther unterscheidet sich von der Geschichte der jungen Selbstmörderin darin, dass Werther sein Erleben selbst zur Sprache bringt. Es ist das Bewusstseinsdrama eines jungen Mannes, den sein Autor mit aller nur möglichen Reflexions- und Erlebnisfähigkeit begabt hat, eines wachen Intellektuellen, der die Medien- und Kulturrevolution, in die sein Autor hineingeboren wurde, miterlebt und wie dieser selbst betreibt.98 Dass Goethes Held gerade deshalb ins Unglück gerät, weil er den Versuch unternimmt, »aus seinen wertvollsten Anlagen zu leben«,99 dass das Bestreben, sich selbst ganz auszubilden,100 zur Selbstzerstörung führt, ist der eigentliche Skandal, von dem der Roman erzählt. Es ist auch der Punkt, der Goethe an der Geschichte des jungen Jerusalem so betroffen gemacht hatte. Dessen einziger Vertrauter, Freiherr von Kielmannsegg, hatte Goethe versichert, dass »das ängstliche Bestreben nach Wahrheit und moralischer Güte […] sein Herz so untergraben [hatte], dass misslungene Versuche des Lebens und Leidenschafft, ihn zu dem traurigen Entschlusse hindrängten«101 – eine Diagnose, die Goethe emphatisch kommentiert: Ein edles Herz und ein durchdringender Kopf, wie leicht von auserordentlichen Empfindungen, gehen sie zu solchen Entschliessungen über, und das Leben – was brauch, was kann ich Ihnen davon sagen. Mir ists Freude genug, dem abgeschiednen Unglücklichen, dessen Taht von der Welt so unfühlbaar zerrissen wird, ein Ehrenmaal in Ihrem Herzen er102 richtet zu haben.

Dass es Werthers Vorzüge sind, die ihn in eine tödlich endende Geschichte verstricken, hat Goethe auch in dem frühesten überlieferten Zeugnis zur Entstehung des Romans betont: Allerhand neues hab ich gemacht. Eine Geschichte des Titels. die Leiden des iungen Werthers, darinn ich einen iungen Menschen darstelle, der mit einer tiefen reinen Empfindung, und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, biss er zulezt durch dazutretende unglückliche Leidenschafften, besonders 103 eine endlose Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor den Kopf schiesst.

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Vgl. Richard Alewyn: Klopstocks Leser. In: Festschrift für Rainer Gruenter. Hg. v. Bernhard Fabian. Heidelberg 1978, S. 100–121. Kayser: Entstehung, S. 442. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 5: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hg. v. Hans-Jürgen Schrimpf. München, Wien 1988, S. 288: »Daß ich dir’s mit Einem Worte sage, mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.« Emphatisch auch die Formulierung in Dichtung und Wahrheit: Der »Versuch, sich auf seine Füße zu stellen, sich unabhängig zu machen, für sein eigen Selbst zu leben, er gelinge oder nicht, ist immer dem Willen der Natur gemäß.« (DuW 266) Brief an Sophie La Roche vom 20.11.1772. In. Goethe: Briefe 1, S. 137. Ebd. Brief an Gottlieb Friedrich Ernst Schönborn vom 1.6.–4.7.1774. In: Goethe: Briefe 1, S. 161. Helmut Flaschka hat auf die narrativen Gemeinsamkeiten zwischen dieser Skizze und

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Die Rede von der »wahre[n] Penetration« bezieht sich auf Werthers insistierende Frage nach der Bestimmung des Menschen und seine Sensibilität dafür, was Menschen umtreibt und womit sie sich das Leben schwer machen. Das zeigt sich programmatisch im ersten Brief des Romans, in dem Werther klagt und sich klagend an der Nase nimmt: O was ist der Mensch, daß er über sich klagen darf! – Ich will, lieber Freund, ich verspreche Dir’s, ich will mich bessern, will nicht mehr ein Bißgen Übel, das das Schicksal uns vorlegt, wiederkäuen, wie ich’s immer getan habe. Ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiß Du hast recht, Bester: der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht – Gott weiß, warum sie so gemacht sind – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen, ehe denn eine gleichgültige Gegenwart zu tragen. (W 197)

Das zeigt sich im Brief vom 17. Mai, in dem Werther darüber den Kopf schüttelt, dass die Menschen über der Sorge um den Lebensunterhalt das Leben selbst aus den Augen verlieren.104 Und es zeigt sich, dezidierter noch, im darauf folgenden Brief, in dem Werther die traditionellen Antworten der Religion auf »gewisse Punkte des Nachforschens« als »träumende Resignation« belächelt und das Treiben des Menschen aus einer existenzphilosophisch zu nennenden Perspektive betrachtet: Daß die Kinder nicht wissen, warum sie wollen, darin sind alle hochgelahrten Schul- und Hofmeister einig. Daß aber auch Erwachsene, gleich Kindern, auf diesem Erdboden herumtaumeln, gleichwie jene nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, eben so wenig nach wahren Zwecken handeln, eben so durch Biskuit und Kuchen und Birkenreiser regiert werden, das will niemand gern glauben, und mich dünkt, man kann’s mit Händen greifen. Ich gestehe dir gern, denn ich weiß, was du mir hierauf sagen möchtest, daß diejenige die glücklichsten sind, die gleich den Kindern in Tag hinein leben, ihre Puppen herum schleppen, aus- und anziehen, und mit großem Respekte um die Schublade herum schleichen, wo Mama das Zuckerbrot hinein verschlossen hat, und wenn sie das gewünschte endlich erhaschen, es mit vollen Backen verzehren, und rufen: Mehr! das sind glückliche Geschöpfe! Auch denen ists wohl, die ihren Lumpenbeschäftigungen, oder wohl gar ihren Leidenschaften prächtige Titel geben, und sie dem Menschengeschlechte als Riesenoperationen zu dessen Heil und Wohlfahrt anschreiben. Wohl dem, der so sein kann! Wer aber in seiner Demut erkennt, wo das alles hinausläuft, der so sieht, wie artig jeder Bürger, dem’s wohl ist, sein Gärtchen zum Paradiese zuzustutzen weiß, und wie unverdrossen dann doch auch der Unglückliche unter der Bürde seinen Weg fortkeicht, und alle gleich interessiert sind, das Licht dieser Sonne noch eine Minute länger zu sehn, ja! der ist still und bildet auch seine Welt aus sich selbst, und ist auch glücklich, weil er ein Mensch ist. (W 203f.)

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Werthers Geschichte von der jungen Selbstmörderin aufmerksam gemacht. Beide rekonstruieren einen Prozess, dessen Folge eine innere Logik besitzt und der auf eine finale Katastrophe zusteuert. Vgl. Flaschka: Werther, S. 223f. »Wenn Du fragst, wie die Leute hier sind? muß ich Dir sagen: wie überall! Es ist ein einförmig Ding ums Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das Bißgen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um’s los zu werden. O Bestimmung des Menschen!« (W 201)

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Werthers szenisches Bild vergegenwärtigt das menschliche Streben nach Glück in seiner kindlichen Beschränktheit und es konfrontiert diese Beschränktheit, die Bindung des Willens an Belohnung (»Biskuit und Kuchen«) und Strafe (»Birkenreiser«), mit der Frage nach den »wahren Zwecken« der Existenz. Kindlich sind diese Bedürfnisse, weil sie um die Vergänglichkeit des Lebens und alles in ihm Erreichbaren nicht wissen und die Unverfügbarkeit des Lebens als Ganzes ignorieren, insofern sie danach trachten, sich in der Welt behaglich einzurichten (ihr »Gärtchen zum Paradiese zuzustutzen«) und so Beständigkeit und Sicherheit (»Heil und Wohlfahrt«) zu finden. In der Frage nach dem Woher, Wozu und Wohin und in dem Gedanken, dass Erwachsene, Kindern gleich, »nicht wissen, warum sie wollen«, und der Grund allen Strebens sich dem Bewusstsein entzieht, artikuliert sich die Fähigkeit, von dem, was einen antreibt und bewegt, zurückzutreten. Nach »wahren Zwecken« zu fragen, heißt, sich »in der Frage nach dem Wie des Lebens« zu sammeln105 und über den zahlreichen Belangen des Lebens die Frage, »wie (aus welcher Perspektive) wir uns zu ihnen verhalten«, nicht aus den Augen zu verlieren.106 Die Rede von der »tiefen reinen Empfindung« bezieht sich auf Werthers Erlebnisfähigkeit, auf seinen Sinn für die Anmutungsqualitäten von Personen, Szenen, Landschaften und auf seine Bereitschaft, sich diesen Anmutungen zu öffnen. Exemplarisch lässt sich dies an der Brotschneideszene beobachten, die Werther als das »reizendstes Schauspiel« erscheint, »das ich jemals gesehen habe« (W 209): Sein Blick fällt auf eine junge Frau inmitten einer ›wimmelden‹ Schar von Kindern, die sie belagern, nach einem Stück Brot reckend, »eh es noch abgeschnitten war« (W 209), und um die diese sich mit leichter Hand, dem Fremden gegenüber ganz unbefangen, sorgt: Ich bitte um Vergebung, sagte sie, daß ich Sie herein bemühe, und die Frauenzimmer warten lasse. Über dem Anziehen und allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit, habe ich vergessen meinen Kindern ihr Vesperstück zu geben, und sie wollen von nieman105 106

Tugendhat: Egozentrizität, S. 107. Ebd., S. 94. Diese genuin menschliche Fähigkeit, seine jeweiligen Antriebe zu transzendieren und sich, im Bewusstsein seiner Endlichkeit, auf das eigene Leben zu sammeln, kehrt in Goethes Anthropologie als Vorstellung von den ›zwei Seelen‹ wieder, die in des Menschen Brust leben: Der Mensch ist, so das Credo, »zugleich unbedingt und beschränkt« (DuW 380). Diese Deutung des Humanen ist im intuitiven Dualismus unseres leiblich-seelischen Erlebens verankert: »Wir erleben uns als verkörperte Wesen mit einer eindeutigen Position im Raum; der andere Teil, das bewusste Modell unserer kognitiven Prozesse, erscheint im subjektiven Erleben als frei von räumlichen Eigenschaften. Er hat scheinbar keinen Ort in der Welt«. (Thomas Metzinger: Das Leib-Seele-Problem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Grundkurs Philosophie des Geistes. Bd. 2: Das Leib-SeeleProblem. Hg. v. Thomas Metzinger. Paderborn 2007, S. 11–33, hier S. 17f.) – Ich deute diese phänomenale Dimension der Leib-Seele-Problematik hier an, um ideengeschichtliche Rekonstruktionen zu erden. Manche philologischen Kommentare vermitteln gelegentlich den Eindruck, wir hätten es mit einem Wesen zu tun, dessen Erleben sich allenfalls im Rekurs auf gnostisches Geheimwissen erschließt. Vgl. etwa Hans-Edwin Friedrich: Der Enthusiast und die Materie. Von den »Leiden des jungen Werthers« bis zur »Harzreise im Winter«. Frankfurt a. M. [u. a.] 1991 (Trierer Studien zur Literatur 21).

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den Brot geschnitten haben als von mir. Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, und meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich von der Überraschung zu erholen, als sie in die Stube lief ihre Handschuh und Fächer zu nehmen. (W 209f.)

Als »Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der Tätigkeit« (W 208) hatte Werther diese junge Frau zunächst charakterisiert und diese Formel zugleich als »garstiges Gewäsche« und »leidige Abstraktionen« (W 208) für einen Eindruck verworfen, den die Erzählung zu vergegenwärtigen und einem Bewusstsein nahezubringen versucht, das für solche Erfahrungen empfänglich ist. Dieses »häuslich Leben«, das – so Lottes Worte – »freilich kein Paradies, aber doch im Ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist« (W 211), ist das Sinnbild einer Geborgenheit, die der Erfahrung äquivalent ist, die Werther macht, wenn er – so die Worte im berühmten Brief vom 10. Mai – in der Natur mit ›aufgespannten‹ Sinnen »die Gegenwart des Allmächtigen« fühlt, »der uns all nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält.« (W 199) Dieses Erleben ist darauf angelegt, die Grenzen, die dem Erleben gesetzt sind, zu überschreiten und das Ganze der Schöpfung als ein Ganzes zu erfassen: wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten – dann sehne ich mich oft und denke: Ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! – Mein Freund – Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen. (W 199)

Das Glück des Urvertrauens, das aus Werthers Zeilen spricht, liegt nicht einfach darin, sich in der Schöpfung geborgen zu fühlen, sondern zugleich auch in dem Bewusstsein, imstande zu sein, sich dieser Erfahrung zu öffnen. Klopstocks Oden, die den Erlebnisraum sprachlich entfalten, dem Werthers Briefe nachgebildet sind, fassen den Gedanken, um den es hier geht, in die Worte: »Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht, / Auf die Fluhren verstreut; schöner ein froh Gesichte, / Das den grossen Gedanken / Deiner Schöpfung noch einmal denkt.«107 Das frohe Gesicht, in dem die Seele ihren unmittelbaren Ausdruck findet, ist, mit Werther zu sprechen, »der Spiegel des unendlichen Gottes«, und diese Freude drängt danach, sich mitzuteilen, weil sie jenes Gefühl ist, das den Einzelnen über sich hinausführt: als ein »gesteigertes Pathos der Lebendigkeit«, dem die Ausdrucksgebärde des »Sichöffnens, des Umfassens und des Sichverschenkens« zugehört.108 107

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Friedrich Gottlieb Klopstock: Fahrt auf der Zürcher See. 1751. In: Klopstocks Oden und Elegien. Faksimiledruck der bei Johann Georg Wittich in Darmstadt 1771 erschienenen Ausg. Mit einem Nachwort u. Anmerkungen hg. v. Jörg-Ulrich Fechner. Stuttgart 1974 (SM 126), S. 95. Lersch: Aufbau der Person, 237. Vgl. auch: »Die Freude über etwas ist ein Gefühlsvollzug, in dem innerweltlich Begegnendes – ein Ding, ein Wesen, ein Ereignis – in der Weise unmittelbar zu unserer Innerlichkeit wird, daß wir es als Geschenk erleben, daß es sich uns

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Werthers Leiden sind die Kehrseite solcher Erfahrungen und ohne die Empfänglichkeit für solche Erfahrungen nicht zu denken. Es sind die Leiden daran, dass Menschen sich das Leben schwer machen – nicht in böser Absicht, aus »List und Bosheit« (W 198), sondern aus einer egozentrischen Befangenheit, die sich in »Missverständnisse[n] und Trägheit« (W 198) äußert. Der Inbegriff einer solchen Trägheit ist die »üble Laune«, die den Einzelnen auf sich zurückwirft, weil er sich eben vor denen zu verschließen genötigt fühlt, deren Zuwendung ihn aus seiner Egozentrik befreien könnte: Ist es nicht genug, daß wir einander nicht glücklich machen können, müssen wir auch noch einander das Vergnügen rauben, das jedes Herz sich noch manchmal selbst gewähren kann? Und nennen Sie mir den Menschen, der übler Laune ist und so brav dabei, sie zu verbergen, sie allein zu tragen, ohne die Freude um sich her zu zerstören! Oder ist sie nicht vielmehr ein innerer Unmut über unsere eigene Unwürdigkeit, ein Mißfallen an uns selbst, das immer mit einem Neide verknüpft ist, der durch eine törichte Eitelkeit aufgehetzt wird? Wir sehen glückliche Menschen, die wir nicht glücklich machen, und das ist unerträglich. (W 222)

Werthers Geschichte ist das Bewusstseinsdrama eines jungen Mannes, der seinen Platz in der Welt sucht: einen Ort, »der für solche Seelen geschaffen ist wie die meine« (W 199), Menschen, in deren Gegenwart er mehr zu sein scheint, als er ist, weil er alles ist, was er sein kann (vgl. W 202), ein Betätigungsfeld, auf dem sich »die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen« (W 203) frei entfalten können. Man kann das als Sehnsucht nach »Begegnung« bezeichnen, d. h. als Wunsch, »mit der Welt in Kontakt zu treten«109 und für solche Begegnungen offen zu sein. Diese Offenheit ist auf ein besonderes Selbstverhältnis angewiesen – Werther nennt es »Ruhe der Seele« und »Freude an sich selbst« (W 253)110 –, das sich seinerseits auf dem Boden der Erfahrung bildet, in seinem Wesen angenommen zu sein: »Es ist doch gewiß, daß in der Welt den Menschen nichts notwendig macht als die Liebe.« (W 237) Die Qual des Bewusstseins liegt in der Erfahrung, über diese ›liebevolle‹ Offenheit – über ›guten Mut‹, ›leichten Sinn‹, »Selbstvertrauen und Genügsamkeit« (W 247) – willentlich nicht verfügen zu können:

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zeigt mit einem Antlitz der Helligkeit und des Lichtes« (S. 236). Wem so zumute ist, den mutet die Welt als »tragender Horizont des Daseins, als geschenkter Sinnwert« an (S. 237). Ich verwende den Begriff im Sinne von Gerhard Schulze, der ihn seiner »Soziologie des Seins« zugrunde legt. »Das Seinwollen […] ist nicht nach innen gerichtet, sondern nach außen; es zielt nicht auf Abkapselung, sondern auf Wechselwirkung. Seinwollen heißt, nach Grenzerfahrungen zu suchen«. Vgl. Gerhard Schulze: Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert? München, Wien 2003, S. 209f. Man wird in diesen Formulierungen Spuren von Goethes Auseinandersetzung mit Spinozas Ethik sehen dürfen, dessen »ausgleichende Ruhe« (DuW 667) er in Dichtung und Wahrheit rühmt. Spinozas Schlüsselbegriff lautet »acquiescentia in se ipso«. Vgl. Baruch de Spinoza: Sämtliche Werke. Bd. 2: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Neu übersetzt, hg., mit einer Einleitung versehen v. Wolfgang Bartuschat. Lateinisch – Deutsch. Hamburg 1999 (Philosophische Bibliothek 92), S. 468/469 (IV. Teil, Lehrsatz 52): »Selbstzufriedenheit ist in der Tat das Höchste, worauf sich unsere Hoffnung richten kann.«

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Weiß Gott! ich lege mich so oft zu Bette mit dem Wunsche, ja manchmal mit der Hoffnung, nicht wieder zu erwachen, und Morgens schlag ich die Augen auf, sehe die Sonne wieder, und bin elend. O daß ich launisch sein könnte, könnte die Schuld aufs Wetter, auf einen dritten, auf eine fehlgeschlagene Unternehmung schieben; so würde die unerträgliche Last des Unwillens doch nur halb auf mir ruhen. Weh mir, ich fühle zu wahr, daß an mir allein alle Schuld liegt, – nicht Schuld! Genug daß in mir die Quelle alles Elendes verborgen ist, wie es ehemals die Quelle aller Seligkeiten war. Bin ich nicht noch eben derselbe, der ehemals in aller Fülle der Empfindung herumschwebte, dem auf jedem Tritte ein Paradies folgte, der ein Herz hatte, eine ganze Welt liebevoll zu umfassen. Und das Herz ist jetzto tot, aus ihm fließen keine Entzückungen mehr, meine Augen sind trocken, und meine Sinne, die nicht mehr von erquickenden Tränen gelabt werden, ziehen ängstlich meine Stirne zusammen. Ich leide viel, denn ich habe verloren, was meines Lebens einzige Wonne war, die heilige belebende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf. Sie ist dahin! – Wenn ich zu meinem Fenster hinaus an den fernen Hügel sehe, wie die Morgensonne über ihn her den Nebel durchbricht und den stillen Wiesengrund bescheint, und der sanfte Fluß zwischen seinen entblätterten Weiden zu mir herschlängelt, o wenn da diese herrliche Natur so starr vor mir steht wie ein lackiertes Bildgen, und all die Wonne keinen Tropfen Seligkeit aus meinem Herzen herauf in das Gehirn pumpen kann, und der ganze Kerl vor Gottes Angesicht steht wie ein versiegter Brunnen, wie ein verlechter Eimer. Ich habe mich so oft auf den Boden geworfen und Gott um Tränen gebeten, wie ein Ackersmann um Regen, wenn der Himmel ehern über ihm ist, und um ihn die Erde verdürstet. Aber, ach ich fühl’s! Gott gibt Regen und Sonnenschein nicht unserm ungestümen Bitten, und jene Zeiten, deren Andenken mich quält, warum waren sie so selig? als weil ich mit Geduld seinen Geist erwartete, und die Wonne, die er über mich ausgoß mit ganzem, innig dankbarem Herzen aufnahm! (W 266f.)

Dies sind »die innern Verhältnisse« (W 233) der Handlung, die der Roman in einer Folge von Briefen entfaltet. Die »heilige belebende Kraft« öffnet das Bewusstsein für die lebendige Fülle der Welt; ihr Verlust nimmt ihm jeden Sinn. Werther ist auf sich selbst zurückgeworfen – und doppelt elend, weil er eben dies niemandem zurechnen kann und über dieser Erkenntnis an sich selbst noch einmal verzweifelt. Die ereignishafte Außenseite des Romans gestaltet diese innere Geschichte als eine Sequenz von Fluchtbewegungen, die mit Werthers Flucht aus einem beengenden Liebesdrama beginnt, in das er sich unwillkürlich verstrickt hatte – »Wie froh bin ich, dass ich weg bin!« (W 198) – und zunächst mit der Flucht aus Wahlheim – »Ich muß fort!« (W 242) – endet. Diese Bewegung wiederholt sich in der Flucht aus der Residenz und kommt an ein Ende im Bewusstsein, in der Welt selbst keinen Platz mehr zu haben, weil ihm diese Welt verloren gegangen ist: »Ich bin nirgends wohl, und überall wohl. Ich wünsche nichts, verlange nichts. Mir wärs besser, ich ginge.« (W 275)

6. Buchdruck und Bewusstseinskultur oder: Wie hast du’s mit der Poesie? Moses Mendelssohn hat in seiner Beantwortung der Frage: »Was heißt aufklären?« zwischen Aufklärung und Kultur unterschieden: »Eine Sprache«, so seine Erläuterung, »erlanget Aufklärung durch die Wissenschaften und erlanget Kultur durch gesellschaftlichen Umgang, Poesie und Beredsamkeit. Durch jene

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wird sie geschickter zu theoretischem, durch diese zu praktischem Gebrauche.«111 Das ist wahr und doch auch unvollständig. Es übergeht die Tatsache, dass sich der gesellschaftliche Umgang und die Poesie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch und vorrangig im Medium der Schrift vollzogen. Die Kultivierung der Sprache erhielt dadurch ein neues Niveau. Aufklärung war (und ist) die Anstrengung, von der Perspektive des Erlebens systematisch zu abstrahieren und die Welt im Medium des Begriffs, des Messens und Zählens zu vergegenständlichen. Die moderne, sich als geschriebene Literatur begreifende Poesie gestaltet eben dieses Erleben variantenreich und sprachlich differenziert aus und erweitert so die Möglichkeiten des Einzelnen, sich zu sich selbst im Spiegel einer dritten Subjektivität in ein Verhältnis zu setzen. Goethes Held verteidigt dieses Erleben mit den Worten: »Ach was ich weiß, kann jeder wissen. – Mein Herz hab ich allein.« (W 259) Das Schreiben von Briefen war diejenige kulturelle Praxis, in der dieses Erleben entdeckt und in sein Recht gesetzt, d. h. sprachlich kultiviert werden konnte.112 Der Briefroman war Teil jenes Prozesses, in dem das, was nicht immer schon Rede ist, gerade deshalb zur Sprache finden konnte, weil es nicht Rede, sondern Schrift wurde. Aufklärung war (und ist) ein kollektives Projekt. Das gilt auch für die Kultivierung des Erlebens. Der Einzelne ist in diesem Erleben zwar unvertretbar, aber er ist darin, wie Werther weiß, keineswegs einzigartig: »Manchmal sag’ ich mir: Dein Schicksal ist einzig […]; dann lese ich einen Dichter der Vorzeit, und es ist mir als säh’ ich in mein eignes Herz. […] Ach sind denn Menschen vor mir schon so elend gewesen?« (W 429) Ohne diese prinzipielle Gleichsinnigkeit wäre das Projekt einer Bewusstseinskultur nicht denkbar. Deshalb ist es ungereimt, das einzelmenschliche Leben und dessen poetische Zweitfassung gegeneinander auszuspielen und nur diejenigen Formen des Erlebens als authentisch begreifen zu wollen, die tatsächlich einzigartig und nicht durch Lektüre vermittelt sind: Werther steht nicht nur [...] im Banne überlieferter Literatur, sondern er behandelt darüber hinaus auch dort, wo er sich nicht direkt auf Vorgegebenes bezieht, sein Erleben so, wie ein Autor sein Werk komponiert. In geradezu artistischer Manier inszeniert und arrangiert er seine Empfindungen, so daß seine Künstlerexistenz nicht nur daran krankt, keine Kunst hervorbringen zu können, sondern auch daran, daß ebendiese Existenz zum einzigen Gegenstand seiner künstlerischen Tätigkeit zu werden droht. Sein Leben mißlingt ihm zum 113 Kunstprodukt, wird im schlechten Sinne »künstlich.«

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Moses Mendelssohn: Über die Frage: was heißt aufklären? In: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Hg. v. Ehrhard Bahr. Stuttgart 1974 (RUB 9714), S. 3–8, hier S. 4f. Vgl. Robert Vellusig: Aufklärung und Briefkultur. Wie das Herz sprechen lernt, wenn es zu schreiben beginnt. In: Das 18. Jahrhundert 35 (2011), H. 2, S. 154–171. Pütz: Werthers Leiden, S. 65. Radikaler noch Erhart: Beziehungsexperimente, S. 345: »Werther, auf der Suche nach seiner Einzigartigkeit und Authentizität, macht die – für ihn – schockhafte Erfahrung, daß die erst im Schnittpunkt der Vermittlungen und diskursiven Medien zu lokalisierende Individualität nur aus Zeichen und Beziehungen besteht. […] Im

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Die Geschichte von den Leiden des jungen Werther ist der Roman eines jungen Menschen, der sein Leben in einem emphatischen Sinne gestalten möchte, weil er eben dies als die eigentliche Lebensaufgabe begreift. Zu dieser Kultivierung des Lebens gehört auch die Anstrengung, sich zum eigenen Erleben artikulierend zu verhalten.114 Werther ist kein Künstler, wohl aber sein Autor, der ihn dazu nötigt, die Grenzen des menschlichen Glücks und Leids auszuschreiten und »niemalen ein größerer Maler« (W 199) zu sein als in den Momenten, in denen er, selig in sich selber ruhend, zum Malen nicht in der Lage ist.115 – In solchen kunsttheoretischen Reflexionen redet der ›Maler Werther‹ dem Autor Goethe das Wort, dem das gelingt, was jenem versagt bleibt. Von einer Erlebnis- oder Bewusstseinskultur lässt sich in gültigem Sinne nur dort sprechen, wo der Versuch unternommen wird, das eigene Erleben auch anderen zugänglich zu machen, und wo Lernprozesse in Gang kommen, die die Wahrnehmungsfähigkeit und die Ausdrucksfähigkeit schulen. Goethes Werther nimmt in diesem Prozess eine zentrale Stellung ein. Er ist eines der prominentesten Zeugnisse einer neuartigen, weder ständisch noch regional gebundenen, massenmedial organisierten Erlebniskultur und er gehört zu jenen Büchern, die den Anspruch erheben, sich in der Lektüre nicht zu verbrauchen, also nicht nur ästhetisch wirkungsvoll, sondern auch ›tief‹ zu sein, insofern sie das Phänomen, von dem sie handeln, auf gültige Weise gestalten.116 Könnten wir uns unser Erleben nicht mitteilen, blieben wir existenziell einsam. Bei der Lektüre von Romanen wie Goethes Werther aber sind wir auch denen nahe, die existenziell einsam sind, und diese Nähe ist mit der Nähe identisch, die wir zu uns selbst gewinnen, indem wir lesend eine Erfahrung mit unserem Bewusstsein machen. Die Antwort auf die Frage, wie man sich zu den Leiden des jungen Werther verhalten soll, kann deshalb nur lauten: »Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, und seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen.« (W 197) Das aber kann man nur dann, wenn man die poetische Mimesis, die das Leben deutet, indem sie ihm eine prägnante Gestalt verleiht, nicht mit dem Leben selbst verwechselt, indem man nach »charakterlichen Schwächen und Fehlhaltungen«117 sucht, an denen der Held zugrunde geht.118

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vermeintlichen Zentrum der Ichsuche verbreitet sich die Erfahrung, daß dieses Ich nicht nur in Illusionen und Bildern schwelgt, sondern selbst aus Bildern zusammengesetzt ist.« Vgl. Bieri: Handwerk der Freiheit, S. 381–415 (Kap. »Die Aneignung des Willens«). Achim Aurnhammer hat philologisch überzeugend nachgewiesen, dass Werther eine Lebensweise kultiviert, die in den kunsttheoretischen Schriften der Zeit vorgebildet ist. Diese empfehlen dem angehenden Maler enthusiastische Inspirationsübungen und spielen den malerischen Blick gegen ein bloß technisches Kunstverständnis aus. Nicht anschließen kann ich mich Aurnhammers globalerer These, dass die Leiden des jungen Werthers die Leiden eines Malers sind, der im Leben scheitert, weil er seine Beziehungen für sein Werk instrumentalisiert. Vgl. Achim Aurnhammer: Maler Werther. Zur Bedeutung der bildenden Kunst in Goethes Roman. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 36 (1995), S. 83–104. Zur Unterscheidung zwischen ›wirkungsvoller‹ und ›tiefer‹ Kunst vgl. Henning Tegtmeyer: Kunst. Berlin, New York 2008, S. 114–120 (Kap. »Ästhetische Einsicht«). Flaschka: Werther, S. 227.

»Werther muss – muss seyn!«

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Lenz hat die »Moralität« von Goethes Roman darin gesehen, dass er seinen Leserinnen und Lesern eine Erfahrung erschließt: »Eben darin besteht Werthers Verdienst daß er uns mit Leidenschaften und Empfindungen bekannt macht, die jeder in sich dunkel fühlt, die er aber nicht mit Namen zu nennen weiß. Darin besteht das Verdienst jedes Dichters.«119 Dieses Verdienst kann aber auch darin bestehen, Leserinnen und Lesern eine innere Wirklichkeit zu zeigen, die ihnen nicht immer schon vertraut ist. Denn auch dann stellt sich in der Imagination ein intimer Selbstbezug her, den Adam Smith folgendermaßen charakterisiert hat: Wir fühlen mitunter für einen anderen einen Affekt, dessen er selbst ganz und gar unfähig zu sein scheint; denn dieser Affekt entsteht in unserer Brust, sobald wir uns in seinen Fall hineindenken, aus der Einbildungskraft; während er in seinem Herzen durch die Wirklichkeit nicht hervorgerufen wird. […] Die Qual, welche die Menschenliebe beim Anblick eines Kranken [der seine Vernunft verloren hat] fühlt, kann also nicht der Widerschein einer Empfindung des Leidenden sein. Das Mitleid des Zuschauers muß vielmehr ganz und gar aus der Erwägung entstehen, was er selbst wohl fühlen würde, wenn er in die gleiche unselige Lage versetzt wäre und wenn er dabei gleichzeitig ganz unfähig wäre […] diese Lage mit seiner gegenwärtigen Vernunft 120 und Urteilskraft zu betrachten.

Das ist das eigentliche Feld des modernen Bewusstseinsromans: Nur dort ist es ohne Grenzen möglich, zu erleben, was ein anderer erlebt, und dies als ein Erleben wahrzunehmen, das mit dem eigenen Erleben nicht identisch ist. Die Artikulation des Erlebens ist eine Form der Selbsttranszendenz; wer ein bewusstes Leben führen möchte, kann auf sie nicht verzichten. Die Erfahrung, die Goethes Werther seinen Leserinnen und Lesern ermöglicht, ist dem analog: Es ist die Erfahrung einer Intensität, die aus der imaginierten Begegnung mit einem fremden Bewusstsein entsteht und die denjenigen, der sich für dieses Bewusstsein öffnet, aus der Enge des eigenen Erlebens befreit.121

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Besonders drastisch betreibt dies Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie. Tübingen 2002 (Studien zur deutschen Literatur 168), S. 57–105. Jakob Michael Reinhold Lenz: Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers. In: J. M. R. L.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Bd. 2: Prosa. Leipzig 1987, S. 673–690, hier S. 676 u. 682. Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle. Nach der Auflage letzter Hand übersetzt u. mit Einleitung, Anmerkungen u. Registern hg. v. Walther Eckstein. Hamburg 2004 (Philosophische Bibliothek 200 a/b), S. 6–7. Vgl. Richard Rorty: Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit. In: Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Hg. v. Joachim Küpper u. Christoph Menke. Frankfurt a. M. 2003 (stw 1640), S. 49–66.

Dirk Oschmann

›Schreibart‹ oder ›Stil‹? Zur Werther-Rezeption bei Karl Philipp Moritz

Briefroman und Sprachreflexion teilen im 18. Jahrhundert zwei wesentliche Gemeinsamkeiten: Sie haben erstens, zumindest dem Anspruch nach, jeweils Berichte vom Inneren zu liefern. Im Falle des Briefromans Berichte vom Inneren des Subjekts, im Falle der Sprachreflexion Berichte vom Inneren der Sprache. Und sie erheben zweitens den Anspruch auf Totalität. Folgt man Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman aus dem Jahr 1774, dann wird vom Roman generell erwartet, dass er gleich auf mehreren Ebenen ein Ganzes biete. Zunächst für sich selbst betrachtet, soll der Roman ein »vollkommen dichterisches Ganzes« sein.1 Das kann offenbar aber nur gelingen, wenn er in der Darstellung darauf achtet, auch die handelnden Figuren in »ihrem ganzen Seyn«2 zu veranschaulichen, »als völlige, runde Gestalt«,3 und wenn er darüber hinaus dem Leser »eine, bis ins Unendliche fortgehende Reihe verbundener Ursachen und Wirkungen« zeigt.4 Auf ganz andere und doch verwandte Weise widmet sich auch die aufklärerische Sprachreflexion einem Ganzen, indem sie, in der pointierten Formulierung Herders, den Menschen als ›Sprachgeschöpf‹ begreift, als Kreatur nämlich, die sich durch Sprache von anderen Lebewesen unterscheidet, sodass ein Verstehen der Sprache im besten Falle auf ein Verstehen des Menschen hinausläuft: »Wir sind Sprachgeschöpfe.«5 Es sind also letztlich anthropologische Aspekte und Fragestellungen, in denen Roman und Sprachtheorie konvergieren. Im Folgenden gilt die Aufmerksamkeit vornehmlich dem ersten Aspekt, das heißt der unterstellten Parallelität vom Inneren des Subjekts und vom Inneren der Sprache; hier wie dort bildet das Innere einen metaphysischen Grund, den es zu erkunden gilt. Mit Blick auf den Roman und näherhin den Briefroman besteht für Blanckenburg kein Zweifel, dass in diesen Gattungen stets das Innere der Personen zur Darstellung kommen müsse. Der Autor, so lautet seine Forde-

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Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort v. Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965, S. 10. Ebd., S. 208. Ebd. Ebd., S. 313. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: J. G. H.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker 1), S. 695–810, hier S. 747.

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Dirk Oschmann

rung, solle »das ganze innere Seyn«6 der Protagonisten zur Anschauung bringen und dürfe sich nicht hinter dem »Vorwand« verstecken, »daß er das Innre seiner Personen nicht kenne. Er ist ihr Schöpfer: sie haben ihre ganzen Eigenschaften, ihr ganzes Seyn von ihm erhalten; sie leben in einer Welt, die er geordnet hat.«7 Demnach genügt es nicht, bloße Handlungen zu erzählen, falls nicht zugleich die inneren Voraussetzungen als Handlungsgrundlage miterzählt werden, da Handlungen hier, anders als es die dominierenden, meist vom Drama her perspektivierten Handlungskonzepte der Zeit unterstellen,8 nicht schon von sich aus etwas zu verstehen geben. Es scheint auf den ersten Augenblick schon eine Beleidigung, – wenigstens eine strafbare Geringschätzung und Gleichgültigkeit für das, was wir selbst sind, wenn wir aus den Begebenheiten, aus dem Aeußern des Menschen das Hauptwerk in Fällen machen, wo es uns frey steht, aus dem Innern desselben, aus dem, was eigentlich Mensch ist, und heißt, unsern 9 Endzweck zu bilden.

Offensichtlich kommt es auf das Innere vor den Handlungen an, denn »ist etwan dies Innre nicht das Wichtigste bey unserm ganzen Seyn? [...] Wenn der Dichter nicht das Verdienst hat, daß er das Innre des Menschen aufklart, und ihn sich selber kennen lehrt: so hat er gerade – gar keins.«10 Dass solche Überlegungen romantische Konzepte vom Inneren des Menschen vorbereiten, leuchtet unmittelbar ein.11 Aber wenige Autoren des späten 18. Jahrhunderts scheinen sich Blanckenburgs romantheoretisches Postulat so radikal zueigen gemacht zu haben wie der Herausgeber des Magazins für Erfahrungsseelenkunde Karl Philipp Moritz, der schon im Untertitel seines zwischen 1785 und 1790 veröffentlichten Buches Anton Reiser ausweist, dass es sich hier um einen Bericht vom Inneren des Menschen handelt. Der vollständige Titel heißt bekanntlich: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Moritz ist nun freilich auch derjenige, der sich in sei6 7 8

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Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 265. Ebd., S. 264f. Von Lessing über Engel, Schiller und Goethe bis hin zu Hegel ist man sich einig, dass in anthropologischer Sicht Handlungen unmittelbare Anschauungen vom Inneren des Menschen bieten. In Hegels – die Diskussion resümierender – Formulierung: »Die Handlung ist die klarste Enthüllung des Individuums, seiner Gesinnung sowohl als auch seiner Zwecke; was der Mensch im innersten Grunde ist, bringt sich erst durch sein Handeln zur Wirklichkeit [...].« Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 13: Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt a. M. 1989 (stw 613), S. 285. Die Handlungsdeutung beansprucht damit neben Physiognomik, Pathognomik und Mimik einen wichtigen Platz auf dem Feld konkurrierender Hermeneutiken des Inneren. Vgl. dazu Dirk Oschmann: Ästhetik und Anthropologie. Handlungskonzepte von Gottsched bis Hegel. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 55 (2011), S. 91–118. Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 355. Ebd., S. 355f. Vgl. etwa Novalis: »Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.« Novalis: Vermischte Bemerkungen / Blüthenstaub (1797/98). In: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Darmstadt 1999, S. 225–285, hier S. 233.

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nen sprachtheoretischen Schriften ausführlich mit dem Inneren der Sprache befasst hat. Mehr noch: Er hat sich in umfassender Weise mit dem dreigliedrigen Beziehungsgefüge vom Inneren des Subjekts, vom Inneren des Romans und vom Inneren der Sprache auseinandergesetzt. Dabei ist die Rede vom Inneren an keinem Punkt als metaphorische Verkürzung zu verstehen, vielmehr in jedem Falle durch Moritz’ eigene Begrifflichkeit gedeckt. In seiner Deutschen Sprachlehre für die Damen von 1782 nennt er als ausdrückliches Ziel, den »innern Bau«, »das Innre unsrer Sprache«12 bzw. »das innre Triebwerk der Sprache«13 untersuchen zu wollen, denn »Sprache ist die erste Quelle aller menschlichen Wissenschaften«.14 Diese Vorstellung von einer Erforschung des »Sprachinneren« setzt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den sprachhistorischen und bereits sprachwissenschaftlich zu nennenden Studien fort. Wie Moritz will beispielsweise Friedrich Schlegel den »inneren Bau« der Sprachen erkunden,15 während Wilhelm von Humboldt die folgenreiche Idee von der »inneren Sprachform« ausbildet16 und Wilhelm Grimm eine »innere Grundansicht« der Sprache fordert;17 noch Ferdinand de Saussure wird später fast analog vom »inneren Organismus einer Sprache« handeln, den folglich eine »innere Sprachwissenschaft« zu analysieren habe.18 Durch seine Formulierung von der Erforschung des Sprachinneren fasst Moritz demnach einerseits einen bestimmten Reflexionsprozess im 18. Jahrhundert zusammen, andererseits bereitet er das Feld für die sprachwissenschaftliche Arbeit im engeren Sinne, wie sie sich im frühen 19. Jahrhundert konstituiert; die gründliche Auseinandersetzung Wilhelm von Humboldts und August Wilhelm Schlegels mit den sprachtheoretischen Schriften von Moritz legt dafür ein beredtes Zeugnis ab.19 Wenn also Michel Foucault in der Ordnung der Dinge 12 13 14 15

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Karl Philipp Moritz: Deutsche Sprachlehre für die Damen. Berlin 1782, S. 9. Ebd., S. 69. Ebd., S. 8. Friedrich Schlegel: Ueber die Weisheit und Sprache der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde. In: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler [u. a.]. Bd. 8: Studien zur Philosophie und Theologie. Eingel. u. hg. v. Ernst Behler u. Ursula Struc-Oppenberg. Paderborn [u. a.] 1975, S. 105–317, hier S. 153. Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: W. v. H.: Werke in fünf Bänden. Hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. Bd. III: Schriften zur Sprachphilosophie. Stuttgart 81996, S. 368–756, hier S. 463. Wilhelm Grimm: Über deutsche Runen. Vorbemerkungen (1821). In: Jacob und Wilhelm Grimm: Über das Deutsche. Schriften zur Zeit-, Rechts-, Sprach- und Literaturgeschichte. Hg. und mit einem Nachwort v. Ruth Reiher. Leipzig 1986, S. 154–164, hier S. 161. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 21967, S. 24–27, hier S. 26f. Zu Moritz’ Sprachdenken vgl. Corinna Fricke: Zwischen Leibniz und Humboldt. Zur Stellung des sprachwissenschaftlichen Werkes von Karl Philipp Moritz im geistigen Leben des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Berlin 1990 (Linguistische Studien des ZISW A, 201); Ute Tintemann: Grammatikvermittlung und Sprachreflexion. Karl Philipp Moritz’ Italiänische Sprachlehre für die Deutschen. Hannover 2006 (Berliner Klassik – eine Großstadtkultur um 1800 11), S. 73–92; Albert Meier: Karl Philipp Moritz. Stuttgart 2000 (RUB 17620), S. 76–85 und Claudia Kestenholz: Karl Philipp Moritz. Eine Theorie bildlichen

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konstatiert, Autoren wie Friedrich Schlegel, Franz Bopp und die Brüder Grimm hätten danach gefragt, »wie eine Sprache sich von innen charakterisieren und von den anderen sich unterscheiden kann«,20 so bedarf dies einer Präzisierung dahingehend, dass bereits die Entwicklung der Sprachreflexion im 18. Jahrhundert als gezieltes Eindringen in das ›Innere‹ der Sprachformen und der Sprache selbst verstanden werden kann. Mit einem Wort Heideggers, die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist insgesamt ›unterwegs zur Sprache‹.21 Diese wird nicht länger als rhetorisches Reservoir begriffen, aus dem man sich nach bestimmten Regeln bedient, sondern dessen innere Organisation selbst zur Disposition steht. Weil das Innere des Subjekts im 18. Jahrhundert rasant an Bedeutung gewinnt und vermeintlich ›ausgedrückt‹ werden soll,22 muss man sich allererst des Wesens und der Struktur, aber auch der Leistungsfähigkeit der Sprache versichern. Die Verständigung über das Innere des Subjekts, also über das Innere eines Sprachgeschöpfs, geht einher mit einer Verständigung über Wesen und Natur der Sprache – über ihr ›Inneres‹. Und umgekehrt: Wenn das einzelne Ich spricht, dann spricht idealerweise immer zugleich der allgemeine Mensch. Allgemeine Menschennatur und allgemeine Sprachnatur werden nach 1750 kontinuierlich aufeinander bezogen. Auch dies meint Herders Rede vom Menschen als ›Sprachgeschöpf‹. Dass ein solch intensives Nachdenken über die Sprache wiederum für die Literatur und ihre Repräsentationsverfahren nicht ohne Folgen bleiben kann, liegt ebenso nahe wie die Tatsache, dass dieses Nachdenken in wachsendem Maße in der Literatur selbst stattfindet. Beinahe jeder Dichter in der zweiten Hälfte des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts hat sich mit dem Problem befasst, auf welche Weise das Sprachbewusstsein in die literarische Darstellung einwandert und diese zugleich konstituiert; Lessing, Klopstock, Schiller, Goethe, die Frühromantiker oder Heinrich von Kleist sind lediglich die prominentesten Beispiele. Dementsprechend taucht bei ihnen die zentrale poetologische Frage auf, ob der auf diese Weise bestimmbare Status des Menschen selbst wiederum spezifische literarische Redeweisen und Darstellungsformen erfordert. In anderer Akzentuierung bringt Hegel dieses Problem auf den Begriff, indem er feststellt, dass das neue »Prinzip der Subjektivität« sich in der jeweili-

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Sprechens. In: Karl Philipp Moritz. Literaturwissenschaftliche, linguistische und psychologische Lektüren. Hg. v. Annelies Häcki Buhofer. Tübingen, Basel 1994 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 67), S. 55–76. Siehe außerdem: Karl Philipp Moritz und das 18. Jahrhundert. Bestandsaufnahmen – Korrekturen – Neuansätze. Hg. v. Martin Fontius u. Anneliese Klingenberg. Tübingen 1995, S. 59–98. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 91990 (stw 96), S. 344. Vgl. Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Stuttgart 122001. Hierin lag der systematische Grund für Böckmann, die Transformation der literarischen Rede als Wandel von der »Sinnbildsprache« zur »Ausdruckssprache« zu erklären. Vgl. Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Erster Band: Von der Sinnbildsprache zur Ausdruckssprache. Hamburg 1949.

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gen Kunst »nun auch an dem sinnlichen Material geltend zu machen« habe,23 was aber in der Konsequenz nichts anderes heißt, als eine Subjektivierung des Materials anzustreben. Das bedeutet für die Literatur: Ihre »alte« Sprache und überlieferten Muster vermögen nur bedingt das neuentdeckte Innere zu repräsentieren. Ist der Mensch ein Sprachgeschöpf und erlaubt die Erkenntnis der Sprache das Erkennen des Menschen, dann muss die Literatur, sofern sie von den Autoren als ausgezeichnete Form der Sprache verstanden wird, den Menschen um so genauer zu erkennen geben. Aber dies kann offenbar nur gelingen, wenn die Literatur zugleich etwas vom Wesen der Sprache selbst zu erkennen gibt. Die Literatur befindet sich aus Sicht der Autoren folglich in dem Augenblick auf der Höhe ihres anthropologischen und ästhetischen Potentials, wenn sie sich als Anschauungsfeld menschlicher Handlungsweisen einerseits und als Erprobungsfeld sprachlicher Möglichkeiten andererseits darbietet. Ein Paradebeispiel nun für eine adäquate Form sprachlicher Repräsentation des Inneren bildet Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, der Blanckenburgs Forderung im selben Jahr ihres Erscheinens sogleich aufs Beste einlöst. Moritz bezieht sich auf doppelte Weise darauf. Zum einen im Anton Reiser, der durchaus als auktorial erzählte Kontrafaktur zum Werther verstanden werden kann,24 zum anderen, dabei »Goethes Romantext [...] als stilistisches Exempel«25 präsentierend, in seinen 1793 publizierten Vorlesungen über den Stil. Das ist kein Zufall. Der Text des Werther ist für Moritz nicht deshalb interessant, weil darin etwa eine verzweifelte Liebesgeschichte erzählt würde, sondern weil hier für die Darstellung innerer Vorgänge eine diesem Inneren entsprechende Form, nämlich diejenige des Briefes, und hier wiederum eine dem Maß an Intimität, Privatheit und Authentizität korrespondierende Sprache, nämlich Ausdruck gefunden wurde: Ausdruck ist maßgeblich Ausdruck eines Inneren.26 Wie kein anderes Medium scheint der Brief als Form zum Selbstausdruck einzuladen und gleichzeitig eine Sprache für das Innere zu befördern, dadurch aber eben zu ermöglichen, dass sich im Sinne Hegels das Prinzip der Subjektivität auch an dem sinnlichen Material der Sprache geltend macht. Bevor Anton Reiser, die titelgebende Hauptfigur des Romans, den Werther liest, liest er Shakespeare und kommt im Zuge dessen auf die Idee, seine »in-

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 15: Vorlesungen über die Ästhetik III. Frankfurt a. M. 21990 (stw 615), S. 14. Vgl. ausführlich Volker Dörr: Reminiscenzien. Goethe und Karl Philipp Moritz in intertextuellen Lektüren. Würzburg 1999 (Epistemata 269), S. 49–115. Gerhart Pickerodt: Das »poetische Gemählde«. Zu Karl Philipp Moritz’ Werther-Rezeption. In: Weimarer Beiträge 36 (1990), H. 8, S. 1364–1368, hier S. 1364. Vgl. dazu auch Gumbrecht: »Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wird die Struktur der Subjektivität konstitutiv für die Semantik des Wortes ›Ausdruck‹, denn es soll sich nun vor allem auf die – stets spannungsreiche – Beziehung zwischen der Innensphäre eines Subjekts und ihren Objektivierungen richten.« Hans Ulrich Gumbrecht: Ausdruck. In: H. U. G.: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München 2006, S. 210–230, hier S. 214.

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nere Geschichte«27 in einer Form aufzuschreiben, die auf den Werther vorausdeutet: Das Bedürfnis, seine Gedanken und Empfindungen mitzuteilen, brachte ihn auf den Einfall, sich wieder eine Art von Tagebuch zu machen, worin er aber nicht sowohl seine äußern geringfügigen Begebenheiten, wie ehemals, sondern die innere Geschichte seines Geistes aufzeichnen, und das, was er aufzeichnete, in Form eines Briefes an seinen Freund richten wollte. – Dieser sollte denn wiederum an ihn schreiben, und dies sollte für beide 28 eine wechselseitige Übung im Stil werden.

Anton zeigt sich demnach als übender Schreiber eines Briefromans unter Freunden sowie als besessener und weit ausgreifender Leser, bevor Goethes Text in sein Leben tritt. Seine Lesewut, die Werthers eigener Lesewut in nichts nachsteht,29 richtet sich auf poetische Werke ebenso wie auf philosophische und naturwissenschaftliche Studien. Gleichwohl bildet der Werther ein einschneidendes Erlebnis, da ihm hier eine völlig neue Welt durch die Sprache aufgeschlossen wird – es ist vor allem seine eigene, innere Welt, der er hier zu begegnen meint und die hier bereits auf vollendete Weise Sprache geworden ist. »Zu diesem allen kam nun noch, daß gerade in diesem Jahre die Leiden des jungen Werthers erschienen waren, welche nun zum Teil in alle seine damaligen Ideen und Empfindungen von Einsamkeit, Naturgenuß, patriarchalischer Lebensart, daß das Leben ein Traum sei, u. s. w. eingriffen. –«30 Reiser ist zudem beeindruckt von jenen »dem Papier lebendig eingehauchten echten Schilderungen einzelner Naturszenen, und die Gedanken über Menschenschicksal und Menschenbestimmung waren es, welche vorzüglich sein Herz anzogen. [...] Kurz, Reiser glaubte sich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen [...] im Werther wieder zu finden.«31 Aber bei dieser Spiegelung und Identifikation bleibt es nicht. Die Themen, Gegenstände und Betrachtungsweisen mögen übereinstimmen, Reiser mag sich im Werther in seiner Subjektivität gänzlich entfaltet sehen, dennoch geht er sich dabei auch ein Stück verloren, weil Sprache und Stil der fremden Innerlichkeit in einem Maße Besitz von ihm ergreifen, dass er sich beinahe um seine Eigentümlichkeit gebracht fühlt. Allein die zu oft wiederholte Lektüre des Werthers brachte seinen Ausdruck sowohl als seine Denkkraft um vieles zurück, indem ihm die Wendungen und selbst die Gedanken in diesem Schriftsteller durch die öftere Wiederholung so geläufig wurden, daß er sie oft für seine eigenen hielt, und noch verschiedene Jahre nachher bei den Aufsätzen, die er entwarf, 32 mit Reminiszenzien aus dem Werther zu kämpfen hatte [...].

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Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: K. P. M.: Werke. Hg. v. Horst Günther. Bd. 1: Autobiographische und poetische Schriften. Frankfurt a. M. 21993, S. 33–399, hier S. 226. Ebd. Vgl. Erich Meuthen: Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert. Freiburg 1994 (Litterae 23), S. 240–250. Moritz: Anton Reiser, S. 244. Ebd., S. 245f. Ebd., S. 246.

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Werther hat und schreibt einen gepflegten Stil, Anton Reiser noch nicht, deshalb muss er noch üben. Was der Romanfigur Anton Reiser an Überwältigung widerfährt, das versucht der Autor Moritz in seinen Vorlesungen über den Stil durch eine Sprachanalyse zu explizieren; und von Reisers ›Übungen im Stil‹ zu Moritz Vorlesungen über den Stil ist es nicht weit.33 Dass Moritz allerdings überhaupt Vorlesungen über den Stil hält, ist vorab durchaus kommentierungsbedürftig. Denn der althergebrachte rhetorische terminus technicus im Deutschen ist die Schreibart. In seiner Critischen Dichtkunst vergleicht noch Gottsched jene drei schulmäßigen Möglichkeiten miteinander, in die sich die sogenannte »poetische Schreibart« ausfaltet: erstens die »natürliche oder niedrige«, zweitens die »sinnreiche oder sogenannte hohe« und drittens die »pathetische, affectuöse, oder feurige und bewegliche« Schreibart,34 wobei er der mittleren den Vorzug gibt, da sie am besten folgenden drei Forderungen des Dichters entspreche, denn der »Redner oder Dichter will seine Zuhörer entweder schlechterdings unterrichten und lehren, oder er will sie belustigen, oder er will sie endlich bewegen. Mehr Absichten kann er bey der Schreibart nicht haben.«35 Wenn nur wenige Jahre später der Begriff der Schreibart zunehmend durch denjenigen des Stils ersetzt wird,36 dann erwächst das aus dem geschärften Bewusstsein vom unauflöslichen Zusammenhang zwischen Subjektivität und sprachlicher Entäußerung. Pointiert gesagt: eine Schreibart kann man wählen, seinen Stil jedoch nicht. Mit dem Hinweis auf diesen Umstand verteidigt sich auch Lessing gegen die vom Hauptpastor Goeze erhobenen Vorwürfe, er bediene sich einer unerlaubten Form der Darstellung: »Jeder Mensch hat seinen eigenen Stil, so wie seine eigne Nase; und es ist weder artig noch christlich, einen ehrlichen Mann mit seiner Nase zum besten zu haben, wenn sie auch noch so sonderbar ist.«37 Der zugespitzte Vergleich des Stils mit der Nase ist einerseits witzig und verweist andererseits zugleich darauf, dass es sich bei Stilfragen nicht um eine freie Entscheidung handelt, die im Belieben eines Autors stünde. Sprache, aufgefasst als Stil, ist in diesem Sinne nicht verfügbar, vielmehr Erscheinungsort des

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Vgl. auch Meuthen, Selbstüberredung, S. 250–260. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Vierte u. vermehrte Aufl. Leipzig 1751. ND Darmstadt 1977, S. 355. Ebd., S. 356. Ein anschauliches Beispiel für den Übergang bietet Sulzer, der in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste dem Begriff des Stils noch keinen eigenen Eintrag zugesteht und ihn noch der Schreibart subsumiert. Das Changieren der jeweiligen Verwendung von Schreibart und Stil dokumentiert innerhalb des Artikels eine signifikante Unsicherheit in systematischer Hinsicht. Vgl. Johann Georg Sulzer: Schreibart; Styl. In: J. G. S.: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Neue vermehrte zweyte Aufl. Bd. IV. Leipzig 21794. ND Hildesheim, Zürich, New York 21994, S. 328–343. Gotthold Ephraim Lessing: Anti-Goeze. In: G. E. L.: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl [u. a.] hg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 8: Theologiekritische Schriften III. Philosophische Schriften. Darmstadt 1996, S. 160–308, hier S. 193f.

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Subjekts und zugleich »Ausdruck ›innerer Einzigartigkeit‹«,38 sodass sich erneut Herders Rede vom Menschen als Sprachgeschöpf bewährt. Im Kontrast zu Goeze wurde von den meisten anderen Zeitgenossen die epochale Leistung von Lessings Stil für die Entwicklung der deutschen Sprache sehr wohl gesehen.39 Mit seiner Art zu schreiben war die deutsche Sprache offenbar endlich zu sich selbst gekommen, und jene lange Zeit, in der das Deutsche vor allem von seinen französischen und englischen Nachbarn Hohn und Spott geerntet hatte, weil es unbeholfen, steif, behäbig und letztlich aufgrund dieser Attribute nicht literaturfähig zu sein schien, war durch ihn beendet. Hatte er doch, beispielsweise in Herders Sicht, den Beweis für »Geschlankigkeit« und »Leichtigkeit«,40 demnach für Eleganz und Beweglichkeit des Deutschen erbracht, mithin für Eigenschaften, nach denen sich der Wert von Sprache und Literatur und damit in einem weiteren Schritt von einer kulturellen Entwicklungsstufe zunehmend bemisst. Das Ideal, unter dem Herder diese Anforderungen subsumiert, ist dasjenige ›sprachlicher Biegsamkeit‹,41 das auch Klopstock als wichtiger Qualitätsausweis einer Sprache dient42 – ebenso wie Lambert, der 1764 in seinem Neuen Organon äußert, dass das Deutsche »in Ansehung der Wortordnung noch ungleich biegsamer könne gemacht werden«.43 In den Fragmenten über die neuere deutsche Literatur kehrt Herder immer wieder zu diesem Konzept der ›Biegsamkeit‹ zurück, in dem sich Geschmeidigkeit und Beweglichkeit einer Sprache vereinen, wobei in seinen Augen gerade Lessing die entscheidenden Kriterien der »Biegsamkeit, Abwechslung und Munterkeit« erfüllt – im selben Maße wie die besten Autoren der Engländer und Franzosen, nämlich Shaftesbury und Diderot.44 Doch zurück zu Gottsched und Moritz. Über die Ersetzung von Schreibart durch Stil hinaus gibt es nämlich noch einen zweiten, hier relevanten Unterschied zwischen den beiden Autoren, der nicht zuletzt mit dem von Herder und anderen formulierten Ideal ›sprachlicher Biegsamkeit‹ verbunden ist. Während Gottsched den mittleren Ton bevorzugt, also das genus medium, favorisiert Moritz mit dem genus humile den natürlichen Ton bzw. »die natürliche Dar-

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Hans Ulrich Gumbrecht: Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs. In: Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, S. 159–209, hier S. 182. Vgl. dazu die nach wie vor lehrreiche Studie von Eric A. Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700–1775. Stuttgart 1966, S. 266–292. Johann Gottfried Herder: G. E. Lessing. In: J. G. H.: Werke in zehn Bänden. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M. 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker 95), S. 689–708, hier S. 689f. Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. In: Herder: Werke, Bd. 1, S. 161–649, hier S. 177 u. ö. Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Sprache der Poesie. In: F. G. K.: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hg. v. Winfried Menninghaus. Frankfurt a. M. 1989 (it 1038), S. 22–34, hier S. 23 u. 33. Johann Heinrich Lambert: Neues Organon. In: J. H. L.: Philosophische Schriften. Hg. v. Hans-Werner Arndt. Bd. II. Hildesheim 1965, S. 179. Herder: Über die neuere deutsche Literatur, S. 208.

Zur Werther-Rezeption bei Karl Philipp Moritz

175

stellung«,45 wie es im »Vorbericht« zu seinen Vorlesungen heißt. Diese natürliche Darstellung umfasst Kriterien wie »Geschwindigkeit«,46 »Leichtigkeit und Wärme«,47 vor allem aber »Lebhaftigkeit«: »Die Lebhaftigkeit des Ausdrucks besteht eben darin, daß man mit mehr Geschwindigkeit, als gewöhnlich, seine Gedanken zu ordnen weiß, und eben daher bei der Übersicht eines großen Ganzen sich nicht so leicht verwirrt.«48 Zu diesen Kriterien treten weitere hinzu, etwa Kürze, Nachdruck und Bündigkeit.49 Sie alle sind freilich abhängig von einer übergeordneten Größe, die über die gewünschte Natürlichkeit der Darstellung entscheidet, ja aus der alles andere hervorzugehen scheint – aus dem Phänomen der Wortfolge. In Moritz’ Perspektive scheint Werther sämtliche genannten Kriterien vorbildlich zu erfüllen, insbesondere aber dasjenige der Wortfolge. In der zweiten Vorlesung zitiert Moritz mehrere Sätze aus Goethes Roman und stellt abschließend fest: »Wer dies nun nachahmen und eben dasselbe anders sagen wollte, würde es schlechter sagen müssen, weil hier die Schönheit des Ausdrucks gerade darin besteht, daß alles so und nicht anders aufeinander folgen kann, wie es wirklich folgt; und daß diese Folge gar nicht zufällig, sondern in der Natur der Sache gegründet ist.«50 In dieser Konzentration auf die Wortfolge reflektiert Moritz die übergreifende Wendung im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts, das sich, modern gesprochen, allmählich von der Zeichentheorie in eine Syntaxtheorie verwandelt, weil Satz und Text wichtiger werden als das einzelne Wort.51 Von wegweisender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang erneut das Beispiel Lessings, der in den fünziger Jahren noch den Begriff der ›Wortfügung‹ gebraucht, diesen dann aber zugunsten des Begriffs der ›Wortfolge‹ fallen lässt.52 Der Unterschied zwischen ›Fügung‹ und ›Folge‹ liegt auf der Hand: Er besteht nicht allein darin, dass das erste Statik und das zweite Bewegung unterstellt, dass das erste den Geist bindet und das zweite ihn entbindet, sondern auch darin, dass die Fügung die Verfügbarkeit eines sprechenden Subjekts über die Sprache impliziert, während die Folge die Sprache eher autonom auffasst. Die ›Fügung‹ zielt mehr auf das Vermögen eines Subjekts, das über die Sprache wahlweise gebietet und ein festes Gefüge herstellt, die ›Folge‹ bezieht sich auf die phänomenale Variabilität der Sprache selbst. Zudem legt ›Fügung‹ eher eine paradigmatische Sprachvorstellung nahe, Folge hingegen eine syntagmatische. Das einzelne Wort, die Fügung, die Schreibart und die Nachahmung entsprechen im Horizont der 45 46 47 48 49 50 51

52

Karl Philipp Moritz: Vorlesungen über den Stil. In: K. P. M.: Werke. Hg. v. Horst Günther. Bd. 3: Erfahrung, Sprache, Denken. Frankfurt a. M. 21993, S. 585–756, hier S. 588. Ebd. Ebd., S. 587. Ebd., S. 588. Ebd., S. 600 u. 616. Ebd., S. 599. Eine analoge Entwicklung zeigt sich auch in Frankreich, wo sich am Ende des 18. Jahrhunderts ebenfalls das »Primat der Grammatik« etabliert. Vgl. Gérard Genette: Mimologiken. Reise nach Kratylien. Frankfurt a. M. 2001 (stw 1511), S. 271. Vgl. dazu Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. München 2007, S. 126–130.

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Dirk Oschmann

Rhetorik einander ebenso wie der Satz, die Folge, der Stil und der Ausdruck im Horizont des neuen Ideals ›sprachlicher Biegsamkeit‹. Diese Umorientierung hängt letztlich auch bei Lessing, der nicht zufällig als Meister des flüssigen Stils gilt, mit dem Postulat der ›natürlichen Darstellung‹ zusammen. Gegenüber Friedrich Nicolai hatte er gefordert, die Poesie müsse ihre willkürlichen Zeichen in natürliche Zeichen transformieren. »Mittel« zur Umwandlung von willkürlichen in natürliche Zeichen seien »der Ton, die Worte, die Stellung der Worte, das Sylbenmaß, Figuren und Tropen, Gleichnisse u. s. w.«53 Besonders aber kommt es ihm auf das Moment der Wortfolge als dem geradezu natürlichen Aggregatzustand der Wörter an. Anders gesagt, die Natürlichkeit ist überhaupt nur in der Wortfolge zu realisieren. Das hebt Lessing besonders in den Paralipomena zu Laokoon hervor: »Die Poesie bedient sich ferner nicht bloß einzelner Wörter, sondern dieser Wörter in einer gewissen Folge. Wenn also auch schon nicht die Wörter natürliche Zeichen sind, so kann doch ihre Folge die Kraft eines natürlichen Zeichens haben. Wenn nämlich alle die Worte vollkommen so aufeinander folgen, als die Dinge selbst welche sie ausdrucken.«54 An den Wörtern selbst, diesen ›willkürlichen Zeichen‹, lässt sich nichts ändern, aber auf die Wortfolge als das flexible und zugleich natürliche Element der Sprache kann man zweifellos Einfluss nehmen.55 Ganz in diesem Sinne argumentiert auch Moritz. Wenn nämlich »die Worte gleichsam unwillkürlich, wie von selbst erfolgen«,56 dann gewinnt die »Folge der Worte selber [...] eine Art von Zauberkraft«,57 und er führt in diesem Zusammenhang unablässig Beispiele aus dem Werther-Roman an.58 Ironischerweise ist Werther als handelnde Figur im Roman selbst mit dem Problem der Wortfolge als Teilaspekt des Individualstils befasst, weil der Gesandte seine Texte kritisiert: Ich arbeite gern leicht weg, und wie’s steht so steht’s, da ist er im Stande, mir einen Aufsaz zurükzugeben und zu sagen: er ist gut, aber sehen sie ihn durch, man findt immer ein besser Wort, eine reinere Partikel. Da möchte ich des Teufels werden. Kein Und, kein Bindwörtchen darf aussenbleiben und von allen Inversionen die mir manchmal entfahren, ist er

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54

55

56 57 58

Lessing an Nicolai, 26. Mai 1769. In: G. E. L.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 11/1: Briefe von und an Lessing 1743–1770. Hg. v. Helmuth Kiesel [u. a.]. Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 17), S. 610. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon (Nachlaß). In: G. E. L.: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl [u. a.] hg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften. Darmstadt 1996, S. 555–660, hier S. 649. Auf den ersten Blick ergibt sich hier ein Widerspruch zwischen einer bewussten Einflussnahme auf die Wortfolge und der Überzeugung von der Unhintergehbarkeit des Stils, ein Widerspruch also zwischen Wahl und Nichtwahl. Da die Wortfolge jedoch nur ein, wiewohl zentraler, Teilaspekt des Stils ist, lässt sich der Widerspruch auflösen. Moritz: Vorlesungen über den Stil, S. 593. Ebd., S. 628. Vgl. ebd., S. 598f., 622–629, 676–678 u. 746f.

Zur Werther-Rezeption bei Karl Philipp Moritz

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ein Todtfeind. Wenn man seinen Period nicht nach der hergebrachten Melodie heraborgelt; so versteht er gar nichts drinne.59

Der Gesandte und Werther repräsentieren nicht nur zwei grundverschiedene Charaktere, sondern, gemäß der Entsprechung von Individualität und Stil, Subjektivität und Durchbildung des Materials, auch zwei völlig divergierende Ansichten der Sprache: Der Gesandte argumentiert im Horizont der wählbaren ›Schreibart‹, Werther indes legitimiert den ›Stil‹. Während der Gesandte die stark formalisierte schriftliche Form und eine strikte Korrelation von Ordnung der Ideen und Ordnung der Wörter schätzt, bevorzugt Werther den mündlichen Duktus auch im Schriftlichen und ist keineswegs von der Notwendigkeit einer Parallelität zwischen Ordnung der Ideen und Ordnung der Wörter überzeugt. Er berichtet negativ von einer Form der Schriftlichkeit und praktiziert im Medium des Briefs eine fingierte Mündlichkeit,60 ja der Brief erscheint als unmittelbare Fortsetzung der tendenziell entformalisierten mündlichen Rede. Moritz selbst nennt dies »die natürlichste Nachbildung der affektvollen mündlichen Rede, die man sich denken kann«.61 Was die Darstellungsform im Werther auszeichnet, hat Albrecht Koschorke für die Zeit um 1770 folgendermaßen verallgemeinert: Die ganze Dichtung des Sturm und Drang ist von der paradoxen Anstrengung geprägt, sich mit den emphatischen Mitteln der Schriftlichkeit – nämlich durch eine gestikulierende, Atemnot, Ausrufungen, sogar Lautstärke simulierende Schreibweise – gegen ein aus ihrer 62 Perspektive blutarmes Bücherspezialistentum älterer Prägung zu kehren.

Mit der impliziten Frage nach der Zulässigkeit oder Fragwürdigkeit von Inversionen thematisiert Werther eine dieser Simulationen. Der Gesandte empfindet sie als Todfeind, als existentielle Bedrohung, die nicht nur das Verstehen gefährdet, sondern die überlieferte Ordnung als Ganzes. Bereits die Sprachfigur selbst, als vermeintlich aus der Norm geratenes Sprechen, vermag augenscheinlich das Unterste zuoberst zu kehren und muss auf Abstand gehalten werden. Damit kommt zugleich das ihr eingeschriebene autonomisierende Moment zur Geltung. Denn von einer bewussten Sprecherabsicht Werthers ist nicht die Rede, wohl aber davon, dass ihm die Inversionen als Bestandteil seines Stils »manchmal entfahren«, dass sie eine unkontrollierbare Eigendynamik besitzen, die ihm die Sprache als Bewegung auferlegt: »entfahren« ist dabei die genaue Diagnose dafür, dass hier etwas unabhängig geschieht und dass dies nur in Form der Bewegung begriffen werden kann. Wo Werther eine Wahrheit des Inneren sich authentisch artikulieren sieht und Nähe – sowohl zum Leser wie 59

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Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. In: J. W. G.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung. Bd. 8: Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. Hg. v. Waltraud Wiethölter. Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 109), S. 9–267, hier S. 126 u. 128 (Fassung A). Vgl. dazu grundsätzlich Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000 (Literatur und Leben N. F. 54), insbesondere S. 126– 140. Moritz: Vorlesungen über den Stil, S. 746. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 301.

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Dirk Oschmann

zum Gegenstand – herzustellen sucht, beglaubigt gerade aufgrund der eigentümlichen Wortfolge, da vermutet der Gesandte in der unkontrollierten Folge der Wörter zurecht unabsehbare Folgen und will die Sprache als Medium der Distanzierung instrumentalisiert sehen. Enthusiasmus und Nominalismus vertragen sich offensichtlich nicht. Denn wo die Ordnung der Wörter in stilabhängig aufgeregtes Wanken kommt, ist die Unordnung der Sachen nicht mehr weit. Das weiß auch Moritz: Wer einigermaßen lebhaft denkt und schreibt, dem entschlüpfen alle Augenblick dergleichen Inversionen, ohne daß er seine Aufmerksamkeit eigentlich darauf richtet; denn diese Inversion ist eben so natürlich, wie der Ton der Stimme, wodurch man das Bedeutende vor dem Unbedeutenden herauszuheben versucht. Wer nun aber ordentlich bei sich dächte: hier muß ich wohl einmal eine Inversion anbringen, um meinem Ausdruck mehr Lebhaftigkeit 63 zu geben; wie steif und abgeschmackt müßte nicht dessen ganze Schreibart werden?

Inversionen als schöne, doch unkalkulierbare Wortfolgen sind ebenso natürlich wie gefährlich. Sie künden als autonomer Sprachprozess zugleich von einer Wahrheit des Inneren, dessen Ordnung man noch nicht kennt. Wer dagegen Inversionen sucht, statt dass sie ihm entfahren, dem wird von Moritz nur eine ›Schreibart‹ zugestanden. Übungen im Stil sind hier unvermeidlich.

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Moritz: Vorlesungen über den Stil, S. 632.

BRIEFROMANE NACH DEM WERTHER: PHILOSOPHISCHE REFLEXIONSFORMEN UM 1800

Werner Euler

Friedrich Heinrich Jacobis philosophische Briefsammlung

1. Jacobis Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobi steht heute in der Erforschung der Geistesgeschichte des späten 18. Jahrhunderts mehr im Interesse der Philosophie als der Literaturgeschichte.1 Dabei ist es nicht erst der Paukenschlag seiner Spinoza-Briefe (1785), der die Gelehrtenwelt erschütterte und den Autor für manchen Zeitgenossen zum reaktionären Feind der Aufklärung werden ließ, sondern es sind die eher leisen Klänge, mit denen ein literarischer Anfänger, von außen ermuntert, wie es scheint seine ganz private Gefühlskultur zaghaft in eine romanhafte Darstellungsform zu bringen versucht, die Jacobi im letzten Quartal des 18. Jahrhunderts zur Berühmtheit machten. Jacobi hat der an Literatur und Philosophie interessierten Öffentlichkeit seiner Zeit fast gleichzeitig zwei Romane in fragmentarisierter und fragmentarischer Form übergeben, von denen er einen jeden über Jahrzehnte hinweg gehegt

1

Zu den jüngeren philosophischen Veröffentlichungen vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000; Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hg. v. Walter Jaeschke u. Birgit Sandkaulen. Hamburg 2004 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 29); System und Systemkritik. Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie. Hg. v. Birgit Sandkaulen. Würzburg 2006 (Kritisches Jahrbuch der Philosophie 11). Zur jüngeren Entwicklung in der literaturwissenschaftlichen Forschung vgl. Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010 (Zur Genealogie des Schreibens 13), bes. S. 95–131, 133–155, 189–213; Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 30); Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin, New York 1996; Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Hg. v. Herbert Jaumann. Berlin, New York 1995, S. 79–100; Thomas Stäcker: Der Aufruhr der Seele. Zur Romankonzeption Friedrich Heinrich Jacobis. Hamburg 1993; Friedrich Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹ im Spiegel der Kritik. Eine rezeptionsästhetische Untersuchung. Frankfurt a. M. 1990 (Europäische Hochschulschriften 20); Klaus Hammacher: Jacobis Romantheorie. In: Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805). Hg. v. Walter Jaeschke u. Helmut Holzhey. Hamburg 1990 (Philosophisch-literarische Streitsachen 1.2), S. 176–189; Friedrich Vollhardt: Friedrich Heinrich Jacobi. In: Deutsche Dichter. Hg. v. Gunter E. Grimm u. Rainer Frank. Bd. 3: Aufklärung und Empfindsamkeit. Stuttgart 1988 (RUB 8613), S. 387–396.

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und weiterentwickelt und schließlich zu einem mehr oder weniger gelungenen Abschluss gebracht hat.2 Nur Allwill kann als echter Briefroman angesehen werden, denn nur dieser ist durchgängig aus Briefen (und anderen Handschriften) zusammengesetzt. Woldemar hingegen ist eine Mischform aus Briefen, Gesprächen, Erzählung und anderen Darstellungsformen.3 Neben vielen anderen hat Jacobis Romandichtung vor allem eine Wurzel: die Rezeption und Interpretation von Goethes Werther. Unmittelbar nach dessen Lektüre lässt er den Verfasser in einem Brief vom 21. Oktober 1774 wissen, wie »unaussprechlich« sein Herz durch dessen Werk erfüllt sei.4 Jedoch hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits »den Plan zu einem Roman in Briefen entworfen, und würklich auszuarbeiten angefangen«.5 Diese Absicht verdankte sich zwar Jacobis Begegnungen mit der Natur und deren »unsägliche[n] Schönheit«, aber sie geschah in Goethes Namen, wie dieser in einem späteren Rückblick bezeugte.6 2

3

4 5 6

Friedrich Heinrich Jacobi: Eduard Allwills Papiere. In: Iris (1775), Bd. 4, 3. Stück, S. 193– 236; erweiterte Fassung in: Der Teutsche Merkur (1776), Bd. 14, S. 14–75, Bd. 15, S. 57– 71, Bd. 16, S. 229–262; Buchausgabe in: F. H. J.: Vermischte Schriften. 1. Teil. Breslau 1781, S. 143–268; neue Ausgabe unter dem Titel: Eduard Allwills Briefsammlung. Hg. v. Friedrich Heinrich Jacobi, mit einer Zugabe von eigenen Briefen. 1. Bd. Königsberg 1792. – Friedrich Heinrich Jacobi: Woldemar. Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte, von dem Herausgeber von Eduard Allwills Papieren. In: Der Teutsche Merkur (1777), 2. Vierteljahr, S. 97–117, 202–231, 3. Vierteljahr, S. 32–49, 229–259, 4. Vierteljahr, S. 246– 267; Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit. Aus dem zweiten Bande von Woldemar. In: Deutsches Museum (1779), Bd. 1, S. 307–348, 393–427; Der Kunstgarten. Ein philosophisches Gespräch. In: F. H. J.: Vermischte Schriften. 1. Teil. Breslau 1781, S. 1–142 (neue Ausgabe des zweiten Teils des »Woldemar«); erste Buchausgabe unter dem Titel: Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte. 1. Bd. Flensburg, Leipzig 1779; Woldemar. Teil 1 und 2. Königsberg 1794. Zur Entwicklungsgeschichte und poetologischen Bedeutung des Briefromans im 18. Jahrhundert vgl. u. a.: Gideon Stiening: Briefroman und Empfindsamkeit. In: Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. Hg. v. Klaus Garber u. Ute Széll. München 2005, S. 161– 190; Janet Gurkin Altman: Epistolarity. Approaches to a Form. Ohio State University Press 1982; Gert Mattenklott: Der Briefroman. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 4: Zwischen Aufklärung und Absolutismus: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang 1740–1786. Hg. v. Ralph-Rainer Wuthenow. Reinbek b. H. 1980 (rororo 6523), S. 185–203; Jürgen von Stackelberg: Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 293–309; Wilhelm Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 80–116; Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968, S. 138–214. Jacobi an Goethe, 21.10.1774. In: Briefwechsel zwischen Goethe und F. H. Jacobi. Hg. v. Max Jacobi. Leipzig 1846, S. 43f. Jacobi an Goethe, 26.8.1774. In: Briefwechsel zwischen Goethe und F. H. Jacobi, S. 32– 37. »Wir waren beide von der lebendigsten Hoffnung gemeinsamer Wirkung belebt, dringend forderte ich ihn [Jacobi] auf, alles, was in ihm sich rege und bewege, in irgendeiner Form kräftig darzustellen. Es war das Mittel, wodurch ich mich aus so viel Verwirrungen he-

Jacobis philosophische Briefsammlung

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Aus dem gefassten Plan entstand die Urform eines Romans, der im September 1775 im vierten Band der von Jacobis Bruder Johann Georg herausgegebenen Zeitschrift Iris unter dem Titel Eduard Allwills Papiere erschien. Das Romanwerk umfasste zunächst ohne eine ausdrücklich angekündigte Fortsetzung7 nur fünf Briefe, wurde jedoch später stetig erweitert8 und erlebte bis 1854 insgesamt sogar neun Auflagen. Die erste Erweiterung erfolgte bereits 1776 mit der Veröffentlichung in Wielands Teutschem Merkur (Bd. 14). In drei Lieferungen kamen zu den ursprünglichen sieben weitere Briefe und ein »Vorbericht« hinzu. Noch weitgehende Übereinstimmung mit dieser Fassung zeigt die erste Buchausgabe von Eduard Allwills Papieren im ersten Teil der Vermischten Schriften Jacobis (1781). Zwei Briefe wurden allerdings aus der Sammlung wieder entfernt.9 1792 legt Jacobi eine neue Ausgabe mit weitreichenden Veränderungen und einer erneuten Ergänzung um neun Briefe und das abschließende Sendschreiben (»Schreiben an Erhard O«) vor. Einer der beiden 1781 getilgten Briefe wird wieder aufgenommen (Amalia an Sylli). Der Roman trägt nun den Titel Eduard Allwill’s Briefsammlung. Die einzelnen Stücke werden durchnummeriert. Ihre bis dahin noch chronologische Datierung gerät durcheinander. In der »Vorrede« wird dem Leser das baldige Erscheinen eines zweiten und womöglich noch eines dritten Bandes versprochen. Dieser Plan wurde nicht ausgeführt. Offenbar für eine folgende Erweiterung schon bereitliegende Briefe wurden auf Anweisung Jacobis nach dessen Tod vernichtet.10 Schon äußerlich betrachtet ist der Roman also ein Fragment. Jacobi hat seiner Briefsammlung noch im hohen Alter eine aus dem Gesamtwerk herausragende Bedeutung beigemessen. Sie eröffnet die Werkausgabe von 1812 (1. Bd.) und enthält nach seiner Einschätzung »wirklich den ächten allgemeinen Schlüssel zu meinen Werken, sowohl was den Inhalt angeht, als den Vortrag.«11

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9 10 11

rausgerissen hatte, ich hoffte, es solle auch ihm zusagen. Er säumte nicht, es mit Mut zu ergreifen, und wie viel Gutes, Schönes, Herzerfreuendes hat er nicht geleistet!« Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter [u. a.]. Bd. 16: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Peter Sprengel. München, Wien 1985, S. 670. Über die fiktiven Gründe der Unterbrechung vgl. Jacobis Vorbericht zur Allwill-Ausgabe von 1776 im Teutschen Merkur. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Bd. 6,1: Romane I: Eduard Allwill. Hg. v. Carmen Götz u. Walter Jaeschke. Hamburg, Stuttgart-Bad Cannstatt 2006, S. 37. Im Folgenden zitiert als »GA 6,1«. Vgl. Jacobis eigene Skizze der Entstehung der einzelnen Romanfassungen in seinem Brief an Charles Truemann (Pseudonym für Graf d’Angiviller) vom 11.10.1796. In: Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel. Bd. 2. Hg. v. Friedrich Roth. Leipzig 1827, S. 238. Vgl. Hans Schwartz: F. H. Jacobis »Allwill«. Halle 1911, S. 8. Amalia an Sylli (11. März), GA 6,1, S. 27–33; Lenore von Wallberg an Sylli, GA 6,1, S. 33ff. Vgl. Friedrich Roth: Einleitung. In: Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel. Hg. v. Friedrich Roth. Bd. 1. Leipzig 1825, S. V. Vorrede zur Ausgabe von 1792, GA 6,1, S. 97.

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Aus der skizzierten Rekonstruktion der Romanentwicklung anhand des Verlaufs der Veränderungen der Briefabfolge und des Einzelschicksals mancher Briefe scheint notwendig zu folgen, dass es sich um fiktive Briefe handelt bzw. dass ihr eigentlicher Verfasser der Romanautor in eigener Person ist. Dieser Vermutung steht jedoch Jacobis ursprüngliche Intention entgegen, nach der es außer den Briefschreibern gar keinen Autor gibt, vielmehr nur den »Besitzer« einer »Sammlung« und deren »Herausgeber«.12 Die Natürlichkeit der Briefe soll erstens besagen, dass es sich um Originalfassungen von Schreiben einzelner Privatpersonen an andere dieser Spezies handelt; zweitens, dass diese Spezies nicht aus heldenhaften Wesen, sondern aus einfachen, »unbedeutenden« Leuten besteht;13 drittens, dass der Inhalt, der in den Briefen mitgeteilt wird, dem natürlichen Inneren der Verfasser oder anderer Subjekte entstammt; und viertens schließlich und vor allem, dass sich die Briefe trotz einiger sparsamen Kunstgriffe weder im Einzelnen noch im Ganzen zu einem Werk formen lassen. Sie sollen bleiben, was sie von vornherein zu sein scheinen: archivierte Dokumente, Urkunden einer vergangenen Zeit, die allen kulturgeschichtlichen Einflüssen und Modifikationen trotzen und somit in ihrer authentischen Gestalt einer Lesegesellschaft öffentlich mitgeteilt werden. Zu ihrer Natur, die ansonsten unbestimmt bleibt, gehören deshalb auch von Anfang an die Merkmale des Zufälligen und des Fragmentarischen. Es kann das gelten, was Jacobi von seinen Briefen über die Lehre des Spinoza (die übrigens auch als Sammlung deklariert wird) sagt: »Der Gang dieser Schrift ist ein durchaus geschichtlicher, er ist nicht gemacht, sondern geworden, und wie nun Alles in ihr entstand und seitdem bestand, muß man es gegenwärtig lassen, ohne Tugenden mehren oder Gebrechen mindern zu wollen.«14 Umrahmt wird die Briefausgabe von den Berichten eines Ich-Erzählers, der nicht als Autor, sondern in der Rolle eines Vermittlers oder bloßen MaterialLieferanten auftritt, dem der Sinn und Zweck des ganzen Unternehmens, sowohl des Zustandekommens der Sammlung als auch der geplanten Edition, rätselhaft ist. Er bezieht die Briefe von einem zunächst anonymen »Besitzer« (der sich später jedoch als Eduard Allwill entpuppt) und übergibt sie dem »Herausgeber« der Iris, den er seinen »Freund« nennt. Der Vermittler als in die Materie nicht eingeweihter Moderator der Briefausgabe verbürgt durch seine neutrale und distanzierte Haltung die Natürlichkeit bzw. den Fragment- und Zufallscharakter des Brief-Ensembles. Der Vorbericht an den Herausgeber der Iris (1775) mag dies verdeutlichen:

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Zur Herausgeberfiktion im Briefroman vgl. Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung, S. 90–97. Zur Vorstellung der einzelnen Briefschreiber vgl. den Vorbericht zur Ausgabe von 1776, GA 6,1, S. 5. Friedrich Heinrich Jacobi: Vorbericht. In: F. H. J.: Werke. Bd. 4. 1. Abt. Reprograf. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1819. Darmstadt 1980, S. IXf.

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Endlich, mein Freund, übersende ich Ihnen einige Briefe aus der Sammlung, wovon ich Sie bey unserm letzten Zusammenseyn unterhielt, ohne Ihnen sagen zu können, was es damit eigentlich für eine Bewandniß habe. Der Besitzer von Eduards Papieren hat mir immer nur solche einzelne Stücke daraus vorgelesen, die zu keinen Muthmassungen über das System oder die Natur des Ganzen Anlaß geben konnten. Vielleicht ist es nicht einmahl ein Ganzes. Die Stücke, die ich Ihnen heute liefere, sind aus der Mitte eines Heftes genommen, ob aus dem zehnten oder dem ersten? Weiß ich wieder nicht. Wollen sie dieselben drucken lassen, so müssen Sie Ihren Leserinnen nur schlechtweg sagen: Da wären einige Briefe; ob 15 sie beliebten?

Dem Vermittler sind demnach die Briefe zunächst nur mündlich mitgeteilt worden, d. h. er hat sie vielleicht erst eigenhändig (aus dem Gedächtnis) schriftlich reproduziert. Die ersten fünf Briefe des »Romans« sind fiktiver Teil eines realen, unbekannten Ganzen, einer ehemals zwar in Hefte gebundenen, dann aber wieder aufgelösten Kollektion. Insofern in dieser »Sammlung« weder ein Zusammenhang erkennbar ist, noch ihre Vollständigkeit sichergestellt ist, stellen die Briefe kein »System« dar. Ihre Anordnung unterliegt dem Zufall. An der unromanhaften Form der Briefsammlung ändert sich auch in der vermehrten Ausgabe von 1776 wenig, denn das Arrangement der Texte bleibt weiterhin der Willkür des Besitzers überlassen. Er wollte sogar, dass ihre ursprüngliche Gestalt geschliffen und das Ganze »zur allgemeinen Brauchbarkeit umgearbeitet« werde.16 Auch der Herausgeber, d. i. der Freund des Ich-Erzählers, hatte sich ohne Angabe von Gründen geweigert, mit den ersten Briefen der Sammlung anzufangen: Sein Vorhaben ist gewesen, aus diesen Materialien einen Roman zu bilden; da dieses aber, leider! nicht in Erfüllung gegangen: so folgt, dass Allwills Papiere, in ihrem gegenwärtigen Zustande, kein Roman sind. Ich zweifle sogar, ob sie nur tauglichen Stoff dazu an die Hand 17 gäben.

So bleibt also das Produkt scheinbar eine zusammenhanglose »Sammlung«, ein ungeordneter Haufen von Papieren heterogenen Inhalts. Wieland hat dieses Verfahren alsbald vehement kritisiert.18 Man sieht aber, dass seine Einwände gegen den Stil des Fragmentierens nicht gefruchtet haben, denn er lag in Jacobis Absicht, die man geradezu eine gattungspoetische Provokation nennen könnte.19 Noch in der Ausgabe von 1781 bezeichnet Jacobi sein Werk in diesem Sinne als »Bruchstücke aus einem Bruchstücke; ein Ding ohne Anfang, ohne Ende, ohne

15 16 17 18

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Vorbericht 1775, GA 6,1, S. 3, Anm. Vorbericht 1776, GA 6,1, S. 7. Ebd., S. 4. Briefe an Merck, 13.5.1776 und 24.7.1776. In: Briefe an und von Johann Heinrich Merck. Eine selbständige Folge der im Jahr 1835 erschienenen Briefe an J. H. Merck. Aus den Handschriften hg. v. Karl Wagner. Darmstadt 1835, S. 64f. und 72f. Wieland hat den Sinn des Fragmentierens in Jacobis Allwill vielleicht ebenso wenig verstanden wie Goethe, dem er sich mit seiner Kritik anschließt. Ihr Einwand gegen Allwills Papiere richtet sich nur gegen die Ungeschicklichkeit beim Schreiben und Edieren, nicht gegen das Stilmittel des Fragmentierens als solches.

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wahren Zusammenhang. Etwas das nicht einmal den Namen eines Fragments, eines ganzen Stücks behaupten kann.«20 Im Gegensatz dazu stellt die Vorrede zur Ausgabe von 1792 unmissverständlich klar, dass kein anderer als Allwill, der selbst auch als Autor in der Korrespondenz in Erscheinung tritt, in den Besitz der ganzen Sammlung gelangt sei und sie zu seinem Eigentum gemacht habe.21 Er selbst erklärt sich als Sammler, Autor und Herausgeber in einer Person. Spielerisch bittet er seine Leser, bohrende Fragen nach der Herkunft der Briefe und den in der Korrespondenz ineinander verstrickten Personen in Zukunft doch bitte zu unterlassen und sie stattdessen freiwillig und hypothetisch (nicht im Sinne einer historischen Wahrheit) als seine Erdichtung zu betrachten.22 Konsequenterweise muss er dann auch einräumen, die Gestalt der Briefe verändert zu haben.23 In Jacobis Romanen tritt der Dichter in den Hintergrund oder verbirgt sich in einem Rollenspiel. Allwill weist keine Erzählstruktur auf, äußere Handlungen finden nur sparsamste Verwendung. Es gibt keinen Helden, der Handlungen und Leitmotive trägt. Wenn Allwill einmal von Luzie »Held« genannt wird, dann ist dies ironisch gemeint. Er ist der Antiheld, der in seinem Verhältnis zu anderen nicht weiß, was er eigentlich will. Friedrich von Blanckenburg hat diese neuartige Kunstform des Romans zeitlich im unmittelbaren Vorfeld von Jacobis ersten Gehversuchen als Schriftsteller und wegweisend für die Entwicklung des Genres im späten 18. Jahrhundert entworfen.24 Das Eigentümliche des Romans sind demnach nicht die abenteuerlichen Begebenheiten und heldenhaften Taten, von denen das Epos handelt, sondern die »innre Geschichte«25 des »von allem, was […] Sitten und Stand, und Zufall geben können, entblößte[n]« Menschen.26

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25 26

Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Bd. 7,1: Romane II: Woldemar. Unter Mitarbeit v. Dora Tsatoura hg. v. Carmen Götz u. Walter Jaeschke. Hamburg, Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, S. 112. Im Folgenden zitiert als »GA 7,1«. Vgl. Jacobis Brief an Charles Truemann, 11.10.1796. In: Jacobi, Auserlesener Briefwechsel 2, S. 239. Jacobi folgt damit einem neuen künstlerischen Prinzip, das im Wesentlichen durch Gellerts Forderung nach der Natürlichkeit des Briefes angeregt wurde. Wilhelm Voßkamp hat es auf die Formel der »Kunst einer gewollten Kunstlosigkeit« gebracht (vgl. Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung, S. 85); zur Bedeutung Gellerts für die Entwicklung des Briefromans vgl. vor allem die aufschlussreiche und kritische Studie von Gideon Stiening: Briefroman und Empfindsamkeit; vgl. auch Ortlieb: Jacobi, S. 138. Vgl. Vorrede 1792, GA 6,1, S. 87f. Ebd. Vgl. Vorrede 1792, GA 6,1, S. 91. Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965 (SM 39). Vgl. zum Folgenden auch Gisbert Ter-Nedden: Die Unlust zu fabulieren und der Geist der Schrift. Medienhistorische Fußnoten zur Krise des Erzählens im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 32/33 (1997/98), S. 191–220; vgl. Ortlieb: Jacobi, S. 194f. Blanckenburg, Versuch, S. 392 u. ö. Ebd., S. XV. Vgl. auch ebd., S. 58, 305f., 355, 390ff.

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An die Stelle einer bloß »historische[n] oder erzählende[n]«27 Darstellung, die sich damit begnügt, die »äußere Geschichte eines Menschen«28 berichtend zu rekapitulieren, soll eine Form der Darstellung treten, die die personale Innenseite des Geschehens anschaulich macht. Das neue »Medium«, »durch das die Person, oder die Begebenheit, hindurch gehen müsse, um irgend eine Wirkung auf eine andre zu machen«, ist das »Herz, die ganze Geistes- und Gemüthsverfassung der Person, auf welche gewirkt wird«.29 Äußere Handlungen sind in Jacobis Roman auf das Schreiben von Briefen reduziert. Doch ist der Allwill-Roman auch nicht ganz frei von Erzählung und Traktat. Beide Formen treten innerhalb von Briefen sogar an vielen Stellen zum Vorschein. Sie bilden den Stoff, der perspektivisch umgestaltet und funktional als Mittel der Begegnung und Anfreundung der Herzen mit dem Ziel ihrer Verschmelzung verwendet wird, sozusagen als Lockmittel für die herzustellende psychische und fremdpsychische Transparenz. Sollen Allwills Papiere in der Urfassung, die fast ausschließlich aus SylliBriefen besteht, die weibliche Leserschicht der Iris ansprechen, so wendet sich die vermehrte Ausgabe im Teutschen Merkur an ein breiteres Publikum. Erwartet wird vom Leser ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen. Er muss ein Menschenfreund sein. Besonders in Bezug auf die ersten fünf Briefe gehöre »ein ziemlich hoher Grad an Empfindung, und die Erfahrung ähnlicher Schicksale dazu«, »um in den Sinn einer Sylli ganz überzugehen.«30 Die Begebenheiten der Briefe seien alltäglich. Da das einzig Interessante darin die Menschen sind, so ist die Sympathie der einzige Zugang zu ihrem Verständnis: »wer überhaupt durch das Leben, so wie es sich gewöhnlich in unserer Werktags-Welt ergiebt, ohne herzliche Theilnehmung an allem durchschleichen kann, der muß viele Briefe dieser Sammlung äußerst schaal und langweilig finden.«31 In philosophischer und moralischer Hinsicht ist zunächst nicht viel von den Briefen zu erwarten. Denn obschon sich darin ein anthropologisches Interesse zu artikulieren scheint, haben die Briefschreiber doch nicht das Menschengeschlecht im Ganzen, noch Angelegenheiten des Weltalls im Blick, sondern immer nur Einzelpersonen und private Kleingeschäfte.32 Der Herausgeber als Autor spricht nun dezidiert seine Motive und die inhaltliche Zielsetzung seines Unternehmens an. Er geht von einem ursprünglichen persönlichen Anliegen in Bezug auf seine Seele aus. Im Zentrum steht eine besondere Art von Liebe, die zwar Bedingung des Lebens, aber nicht einfacher Lebenstrieb sei.33 Diese Liebe zu rechtfertigen und genauer zu beleuchten, ist der Zweck von Jacobis Romanen, zu dessen Verwirklichung ihm Wissenschaft 27 28 29 30 31 32 33

Ebd., S. 304. Ebd., S. 345. Ebd., S. 260. Vorbericht 1775, GA 6,1, S. 3, Anm. Vorbericht 1776, GA 6,1, S. 4. Ebd. Vorrede 1792, GA 6,1, S. 89.

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und Kunst nur Mittel sind.34 Das Bedürfnis jedoch zu dieser Aufgabe ist dem Autor aus der Selbstbeobachtung erwachsen, aus einer »unmittelbaren Anschauung« des Kampfes der eigenen Seele um die Herrschaft über die Leidenschaften. Dieser subjektive, individuelle Standpunkt eines Philosophenlebens ist das Unverrückbare, die Substanz, die in der Allwillschen Briefsammlung zur Darstellung gebracht werden soll. Erklärtes Ziel der Dichtung Jacobis ist es also, diese subjektive Selbsterkenntnis in ihrer reinen Unmittelbarkeit mitzuteilen. Die Kunstform kann angesichts dieser inhaltlichen Vorgabe nur äußeres Darstellungsmittel sein. Jacobi drückt dies sehr bestimmt in einer Formel aus, wenn er sagt: »So entstand in seiner Seele der Entwurf zu einem Werke, welches mit Dichtung gleichsam nur umgeben, Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen stellen sollte.«35 »Menschheit wie sie ist« – diese Tatsachenwahrheit ist der philosophische Kerngedanke, der Inhalt, der in den Briefen philosophisch enthüllt werden soll, ohne dass die poetische Form daran etwas verändert. Dieselbe Absicht liegt auch dem Roman Woldemar zugrunde,36 obwohl Jacobi Wert legt auf die Feststellung einer Differenz: Im Woldemar scheine »die Darstellung einer Begebenheit die Hauptsache zu seyn«. Das Ziel des Bearbeiters der Allwill-Briefe ist es dagegen, den Materialien »nicht eine dichterische, sondern nur eine philosophische Rundung zu geben.«37 Die »Dinge selbst« sollen sichtbar gemacht, veranschaulicht werden. Für Jacobi besteht das größte Verdienst des Forschers darin, »Daseyn zu enthüllen«, nicht zu erklären oder zu begreifen. Das Erklären ist nur ein Weg zum Ziel. Der »letzte Zweck« aber ist, »was sich nicht erklären lässt, das Einfache, das Unauflösliche«.38 Aus dieser Absicht ist die Idee des Romans geboren, aber er ist nicht allein deswegen geschrieben worden; denn er ist auch durch »Ergießungen [...] aus überfüllter Seele« entstanden: »So wurde die Allwillsche Briefsammlung fast unwillkürlich begonnen, um Gedanken und Gefühlen zu ihrem Seyn ein Bleiben zu verschaffen.«39 Das ist jedoch nur die eine Seite des jacobischen Briefromans. Denn natürlich verhält es sich damit so, dass sich die Enthüllung dessen, was ich Jacobis Standpunkt der Philosophie nenne, sowohl an den Briefinhalten als auch an der Schreibweise der einzelnen Briefautoren vollzieht und sich insofern erst entwickelt. Das Veränderliche, Sichgestaltende ist ein wesentliches Moment dieses Romans und macht das besondere Interesse an seinem Verständnis aus. An Hand der Briefe lässt sich hinreichend zeigen, dass die eigentliche Leistung der Briefsammlung als eines Romans darin besteht, Veränderungen innerhalb der 34 35 36 37 38 39

Ebd. Ebd. Vgl. Jacobis Brief an Hamann, 16.6.1783. In: F. H. J.: Werke. Bd. 1. Reprograf. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1812. Darmstadt 1980, S. 364. So die Charakterisierung in der Vorrede zu den Vermischten Schriften von 1781 (GA 7,1, S. 112). Jacobi an Hamann, 16.6.1783. In: Jacobi: Werke 1, S. 364–365. Ebd., S. 365.

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denkenden und empfindenden Reflexion und an deren Produkten zu veranschaulichen. Eine These meines Beitrags lautet, dass im Briefroman Jacobis an zentraler Stelle Empfindungen zwar ausgedrückt, beschrieben und reflektiert werden, dass diese aber nicht dazu berechtigen, den Roman in die epochale Kategorie der ›Empfindsamkeit‹ einzuordnen.40 Liest man vor allem die philosophischen Problemstellungen genau, so formiert sich in ihm, trotz aller Gefühlspostulate deutlicher Widerstand gegen die Ausbreitung einer empfindsamen Lebens- und Schreibkultur. Eine zweite These besagt, dass sich in Jacobis Allwill eine bestimmte, wechselseitige Beeinflussung von Darstellungsform und Briefinhalten feststellen lässt, derzufolge beide unter der Einheit des Kunstwerks zueinander gehören. Gemeint ist damit u. a. die Annäherung oder Entzweiung philosophischer Standpunkte, Gefühle, Verhaltensweisen einerseits und der sie vermittelnden Ausdrucks- und Schreibweise andererseits.41 Als dritte These sei die Behauptung gewagt, dass der spezifisch jacobische Standpunkt des philosophischen Wissens in der Form des unmittelbaren subjektiven Gefühls und Glaubens notwendig nach der Darstellungsform verlangt, die der Autor ihm auch verliehen hat, d. h. einer subjektivistischen und fragmentaristischen. Die Bestätigung dieser These würde einer eingehenden Analyse der Philosophie Jacobis bedürfen, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht erbracht werden kann.42 40 41 42

Zur Kontroverse dieser Einordnung vgl. Götz: Jacobi, S. 9–11 u. ö. Vor dem Hintergrund dieser These erscheint Cornelia Ortliebs Analyse der Schreibart in Jacobis Romanen als einseitiger Formalismus. Mit der These der subjektivitätsphilosophischen Fundierung der jacobischen Romandichtung ist jedoch nicht die Behauptung verbunden, sie gründe sich auf autobiografische Zeugnisse und Erfahrung. Vielmehr erscheint es mir als ein Irrweg der Werkinterpretation, von der Überzeugung auszugehen, Jacobi habe die Charakterbilder in seinen Romanen als Ausdrucksmittel der eigenen Introspektion in der pietistischen Selbsterfahrung seiner Jugendjahre entworfen (so Hammacher: Jacobis Romantheorie, S. 175–179, 188). Eine vielfältige Vermischung der Denkweise Jacobis mit dessen persönlicher Selbsterfahrung, die eine ganz äußerliche Annäherung an die Inhalte seines Briefwechsels und deren Charakterträger dokumentiert, beinhaltet auch die Jacobi-Monografie von Carmen Götz. Sie bemüht sich, das Vernunft- und Aufklärungspotential seines Denkens zu verteidigen, orientiert sich dabei aber am Böhme-Böhme-Modell der Andersartigkeit des Vernünftigen, ohne jemals den Vernunftbegriff selbst zu explizieren. Wenn man verdeutlichen will, was »andere« Vernunft heißen kann, muss man wissen, was Vernunft ist oder zumindest, was sie besagen soll. Götz erklärt das Andere der Vernunft in Form von fünf Begriffstiteln zum »Leitfaden« (oder »Raster«) ihrer Analyse des jacobischen Briefwechsels, weist aber zugleich jede Tendenz von sich, die Momente desselben (»teilweise höchst problematische Implikationen des Konzepts«, S. 86) als auch bloß formale Interpretamente explizit oder implizit in die entdeckten Werkmotive Jacobis einfließen zu lassen. So bleibt es notwendigerweise inhaltlich-begrifflich und methodisch unklar, was mit den »Leitbegriffen« einer negativen Vernunftandersheit eigentlich gemeint ist, aus welchem Grunde sie als Erklärungsmittel gewählt werden und zu welchen Entdeckungen sie schließlich führen sollen (vgl. Götz: Jacobi, bes. S. 84ff.). Walter Jaeschke hat den Zusammenhang von Jacobis Kri-

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2. Wissensgeschichtliche Aspekte Jacobis Briefroman weist kaum Handlungsbezüge auf. Die äußeren Begebenheiten sind so belanglos, dass sie in komprimierter Form noch im »Vorbericht« Platz finden. Dabei wird sogar eine Vorstellung der Titelperson für überflüssig erklärt.43 Die Nebensächlichkeit der äußeren Umstände wird damit begründet, dass sich der sonderbare Gemütszustand, in dem sich die Briefautoren befänden, doch nicht aus ihnen erklären lasse, sondern nur in »lebendiger Darstellung« erwiesen und nur durch »Sympathie« verstanden werden könne. Es ist mithin das Ziel dieses Romans, die eigentlichen Inhalte erst durch Anordnung vieler Einzelheiten zur Entstehung zu bringen. Thematisch gesehen speisen sich die Inhalte der Briefe, wie aus den geführten Gesprächen, Überlegungen und Selbstgesprächen zu erkennen ist, aus unterschiedlichen Feldern des philosophischen Wissens und seiner Geschichte, verziert mit Exkursen in die Literaturgeschichte. Wissensgebiete werden in den Briefszenen durch verschiedene Zitierweisen aufgeschlossen.44 Sie haben primär nicht die Funktion einer Wissens- als vielmehr einer Kontaktvermittlung. Philosophisch betrachtet steht das Wissen, steht die Metaphysik vielmehr in der Kritik. Platonisches Wissen in Form von Mythen erscheint als Paraphrase und zugleich als Umgestaltung. Platonische Dialoge liefern den Stoff und zugleich die lebendige Ausdrucksform des philosophischen Gesprächs, in dem die mediale Darstellung selbst reflektiert wird.45 Sokrates heißt die wiederbelebte Kunstfigur, die eine Annäherung zwischen Philosophielehrer und Schüler ermöglicht.46 Ähnlich erscheint Montaigne als Bindeglied einer möglichen Verbrüderung, wird gar zu einem lebendigen Bundesgenossen in tiefster Einsamkeit.47 Sequenzen aus Shakespeare-Dramen zwängen sich hier und da in die Gespräche, so dass es scheint, als ob sich in der Erinnerung an Macbeth wie durch Hexenzauber die Dinge »sammeln, um das Werk ohne Namen zu bereiten«.48 Zu nennen ist auch der textkommentierende Rousseau-Einschub, der das Brieferlebnis unterbricht und es von außen reflektiert.49

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tik am Vernunftbegriff der Aufklärung und seinem alternativen Vernunftkonzept gründlich untersucht und einsichtig gemacht (vgl. Walter Jaeschke: Eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist. Jacobis Kritik der Aufklärung. In: Friedrich Heinrich Jacobi, S. 199–216). Vgl. Vorbericht 1776, GA 6,1, S. 7. Zur Zitierweise vgl. Ortlieb: Jacobi, S. 140–142 und 189ff. Vgl. Allwill an Cläre (30. März), GA 6,1, S. 171–175. Zu Platon-Exkursen im Allwill vgl. Ortlieb: Jacobi, S. 206f. Ebd., S. 171. Vgl. Sylli an Amalia (19. März), GA 6,1, S. 179 [neu in der Ausgabe von 1792]. Vgl. Ortlieb: Jacobi, S. 193. Vgl. Sylli an Clerdon (6. März), GA 6,1, S. 9. Vgl. auch Allwills exemplarische Erläuterung des Tugendbegriffs anhand von Othello (Eduard Allwill an Luzia, GA 6,1, S. 63). Zur Einarbeitung der Hexenszene aus Macbeth vgl. Ortlieb: Jacobi, S. 147f. und 151. Vgl. Note des Herausgebers, GA 6,1, S. 42.

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Welche wissenschaftsphilosophischen Teilgebiete treffen wir in den Briefgesprächen und Kommentaren an? Die Anthropologie ist vertreten, insofern der Bestimmung des »ganzen« Menschen im Briefwechsel ein Hauptplatz eingeräumt wird. Die Psychologie ist fast überall präsent. Denn die Frage nach Bewusstsein, Ich, Selbstgefühl und ihren Konstitutionsbedingungen stellt sich im Zusammenhang mit der Beschreibung und Mitteilung des Wechselspiels konträrer Affekte und seiner Auswirkungen auf das Befinden des individuellen Seelenlebens.50 Im selben Zusammenhang wird die soziologische Frage nach den Folgen individueller Seelenzustände für den sozialen Handlungsablauf von Personen relevant. Vitalismus, Ästhetik, Moral und Religion sind gleichfalls Wissensgebiete, aus denen die Briefverfasser des Allwill den Stoff ihres Schreibens beziehen. Ich stelle meiner Betrachtung das Erkenntnisproblem des Verhältnisses zwischen Gefühl (Empfindung) und Vernunft voran, dessen Bearbeitung sich durch fast alle Briefe der Sammlung hinzieht, aber zu ganz verschiedenen Ergebnissen führt. Die Darstellung der übrigen Fächer würde eine breiter angelegte Untersuchung voraussetzen. Auch die Namen vieler berühmter Philosophen, Gelehrten und Künstler der Geistesgeschichte, die in die Diskussion über Sachthemen eingestreut werden, bedürfen eigentlich eines Textkommentars und bleiben hier gänzlich unberücksichtigt.

3. Empfindung und Vernunft: Widerlegung der Empfindsamkeit Die Entwicklung des Allwill-Romans zeigt seit seiner Entstehung eine deutliche Verminderung des Anteils empfindsamer Mitteilung zugunsten einer Zunahme sachbezogener Reflexion.51 Man kann beim Gegengewicht zum Sentimentalen sogar von einer Überfrachtung der späteren Briefe mit philosophischen (und pseudophilosophischen) Inhalten und deren weitläufiger Zergliederung sprechen. Im Folgenden werde ich eine Rekonstruktion der Hauptcharaktere des Briefromans und ihres Verhältnisses zueinander versuchen. Dabei sollen einzelne Gefühls- und Verstandeseinstellungen, Spielszenen, Gesprächsthematiken, 50

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Friedrich Bouterwek, Schüler und Freund Jacobis, fordert theoretische Kenntnis des eigentlichen Menschen, d. i. den »anschaulichen Beweis einer psychologischen Wahrheit«, um im Roman die ästhetische mit der philosophischen Komponente zu verbinden: »Besonders was man empirische Psychologie, oder Erfahrungs-Seelenkunde nennt, Kenntniß des Zusammenhangs menschlicher Empfindungen, Leidenschaften und Phantasien, ist recht eigentlich Dichter-Studium, wenn anders der Dichter etwas mehr will, als an der Oberfläche des menschlichen Herzens hinstreifen. Die Resultate dieses Studiums nennen wir vorzugsweise Menschenkenntniß« (Friedrich Bouterwek: Philosophie der Romane. In: Kleine Romanen-Bibliothek. Hg. v. Karl Reinhard. Bd. 1. Göttingen 1798, S. 8f.). Vgl. dazu Götz: Jacobi, S. 11.

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Ausdrucksweisen, Zitier- und Schreibarten analysiert und gedeutet werden mit dem Ziel, zu einer möglichst genauen Einschätzung der Bedeutung dieses Romanwerks zu gelangen.

3.1. Sylli Die Korrespondenz wird in allen Entwicklungsstadien des Romans mit den Briefen von und an Sylli (geb. von Wallberg) eröffnet. Sylli steht als Leitfigur ohne Zweifel im Brennpunkt der Aufmerksamkeit zelebrierter Freundschaftsbekenntnisse und Lebensgestaltungen. Sie erweckt nach verschiedenen Richtungen hin Sympathiebezeugungen aller Briefschriftsteller. Dabei sind sowohl der innere Antrieb zum Mitgefühl als auch die Mitteilungsform sehr heterogen. Ihre »Cousinen« Clärchen und Lenore z. B. lesen und beraten stundenlang Briefe von ihr.52 Sie werden stückweise wiederholt »und so nach und nach zu einem für uns eigenen Ganzen umgebildet. [...] Wer wollte nicht Sylli seyn?«53 Sylli wird uns in der Vorrede vorgestellt als 28-jährige Patrizierin, die in ihrer Jugend zur Waise wurde, sich unglücklich verheiratete mit einem Gespielen aus ihrer Kinderzeit, schließlich früh zur Witwe wurde. Ihr einziges Kind verlor sie schon zwei Jahre nach dessen Geburt. Eng befreundet ist sie mit Heinrich Clerdon, dem Bruder ihres verstorbenen Mannes. Es heißt, die widrigen äußeren Umstände ihres jungen Lebens seien keine hinreichende Erklärung für ihren »sonderbare[n] Gemüths-Zustand«, der Ausdruck in ihren Briefen findet. Es ist ein Zustand, »der keinen Namen hat« – also von der Betroffenen nicht mitteilbar und auch nicht erklärbar ist – und deswegen »nur in lebendiger Darstellung gezeigt, und nur durch Sympathie begriffen werden« kann.54 Der »sonderbare Gemütszustand«, den sie selbst nicht kennt und den sie selbst nicht mitteilen kann,55 fällt auch anderen Teilnehmern am Briefverkehr auf. Sie nehmen Anteil an ihrem Leiden, besonders ihr Freund Clerdon, der aber auch keinen Namen dafür weiß. Sylli leidet unter dem Zwiespalt ihres Gemüts, unter dem, was ihr »Herz zugleich so warm und so kalt macht«, ihre Seele »so offen und so zugeschlossen«.56 Ihre »Cousinen« beschreiben ihre innere Spannung als einen »Wechselgesang« aus Himmel und Hölle. Der seelische Konflikt besteht darin,

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Vgl. Clärchen an Sylli (18. März), GA 6,1, S. 39; vgl. Cläre an Sylli (30. März), GA 6,1, S. 170 [Ausgabe von 1792]. Ich bin der für die Interpretation des Briefromans vielleicht nicht uninteressanten Frage nach der Bedeutung der nicht leiblich gemeinten Verwandtschaftsgrade (»Cousine«, »Schwester«, »Bruder«, »Vater«, »Mutter«, »Tante«, »Onkel« usw.) nicht nachgegangen. Es handelt sich bei Jacobi um eine Art geistiger Seelenverwandtschaft mit unterschiedlichen Ausprägungen von Freundschaftsbeziehungen und Liebesverhältnissen. Lenore im Brief von Clärchen an Sylli (18. März), GA 6,1, S. 40f. Vorrede 1776, GA 6,1, S. 6. Vgl. Sylli an Amalia (19. März), GA 6,1, S. 179. Sylli an Clerdon (6. März), GA 6,1, S. 8.

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dass sich der extreme Antagonismus der Gefühlsneigungen zu einer künstlerischen Einheit bilden soll, so wie »feindliche Töne« sich zu »einer Melodie« vereinigen müssen.57 Aber wer soll hier der Künstler sein, der dieses Kunstwerk vollbringt? Sie selbst (ihre eigene Seele) ist in Bezug auf diese Vorgänge ratlos.58 In ihrer Ohnmacht fragt sie ihre Seele: »Du mit den vielen Namen, das die Menschen alle zu einander zerrt, durch einander schlinget, was bist du? Quell und Strom und Meer der Gesellschaft, woher? Und wohin? ...«59 Das »Werk ohne Namen« ist nicht ein »Zauberwesen« aus dem Hexenkessel von Macbeth, das erscheint und verschwindet, sondern wirkt im Gegenteil wie »eine bunte hölzerne Jahrmarkts-Puppe, Rumpf und Rock aus einem Klötzchen, Arme, Füße, Kopf daran geleimt, und ein Bretchen darunter, daß es stehe: ist denn das ein Gespenst? –«60 Auf der einen Seite ist es die konkrete, unmittelbare Anschauung der Seele, genau »diese Empfindung« als lebendige, die Syllis Herz in Bewegung setzt und damit Quell ihrer Sympathie ist. Nur auf diese Weise ist nach ihrem Bezeugen überhaupt Leben in ihr.61 Sie zeigt sich (z. B. in ihrem zweiten Brief an Clerdon) als Frau, deren Herz erfüllt wird von großem Naturerleben, das sie hoffnungsvoll stimmt. Durch ihre Beobachtung identifiziert sie sich mit der Natur, die ihr Anlass zu innerer Selbstbefreiung wird.62 Die Naturschau und der dabei empfundene innere Seelenzustand ist zugleich ein Bindemittel zu anderen, wie wir in Clärchens Beobachtung und Erinnerung z. B. eine Geistesverwandtschaft erkennen können.63 So ist es auch nicht verwunderlich, dass von allen befreundeten Briefkorrespondenten Cläre den genauesten Einblick in Syllis Innenleben hat; denn das Einfühlen in die Seelennatur des Anderen setzt Gefühlsgleichheit voraus. Gemäß der Absicht des Romans, Menschheit darzustellen »wie sie ist«,64 zeigt sich Sylli in ihrem Brief an Clerdon (8.3.) enttäuscht vom blinden, bewusstlosen Treiben der Menschen um sie her: »Ich habe lange ein Bild alles 57

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Clärchen an Sylli (18. März), GA 6,1, S. 41. Zur Seele als Kunstwerk mit Bezug auf Hegel und den mit Jacobi befreundeten Jean Paul vgl. Michael Wolff: Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389. Frankfurt a. M. 1992, S. 185f. (Fußnote 110); vgl. Jean Paul: Hesperus oder 45 Hundsposttage. Eine Lebensbeschreibung. In: J. P.: Sämtliche Werke. Abt. 1. Bd. 1. Hg. v. Norbert Miller. München 1960, S. 471– 1236, hier S. 1175–1181 (41. Hundsposttag). Vgl. Sylli an Amalia (19. März), GA 6,1, S. 181. Sylli an Clerdon (6. März), GA 6,1, S. 9. Ebd., S. 9f. Sylli an Amalia (20. März), GA 6,1, S. 182 [Ausgabe von 1792]. Sylli an Clerdon (7. März), GA 6,1, S. 10f. Vgl. Nachschreiben von Clärchen, GA 6,1, S. 37f. [fehlt in der Ausgabe von 1792]. Vgl. Jacobis Brief an Hamann, 16.6.1783: »[...] meine Absicht bey Woldemar wie bey Allwill ist allein diese: Menschheit wie sie ist, begreiflich oder unbegreiflich, auf das gewissenhafteste vor Augen zu legen. [...] Nach meinem Urtheil ist das größeste Verdienst des Forschers, Daseyn zu enthüllen. Erklärung ist ihm Mittel, Weg zum Ziele, nächster, niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären lässt, das Einfache, das Unauflösliche« (Jacobi: Werke 1, S. 364f.).

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menschlichen Thuns und Seyns, unserer sogenannten Laufbahn, in der Seele; ein ärgerliches, aber richtiges Bild: den Gang im Kranen.«65 Trotzdem hänge ihr Herz an den Menschen, und obwohl sie sich von den teilnahmslos Gleichgültigen unter ihnen »ausgesogen« fühlt wie eine Pflanze, wird sie auch zu ihnen hingezogen, weil jede Sonne »unsterbliche Liebe, unsterbliche Freundschaft auf die Welt« bringe.66 Dass die vielfältig geäußerte Fürsorge um sie gepaart ist mit Erwartungen und Aufforderungen an sie, die ihre Bedrängnis nur verschlimmern können, belegen verschiedene Briefe, die an sie adressiert sind.67 Selbst noch Clerdons zurückhaltende (fast blasphemische) Scheu (»Du solltest wissen, liebe Sylli, wie manche Stunde ich damit zubringe, dass ich Dir – Nicht schreibe.«)68 und seine Ermunterung zur Selbsthilfe (»Schwester, Freundinn, holde liebe Sylli – Auf! Raffe Dich, so gut Du kannst, zusammen; Du wirst Hilfe finden, denn Du hast sie in Dir selbst!«)69 erfolgt weniger aus uneigennütziger Anteilnahme als aus eigener Beklemmung (»wie werde ich nicht gedrückt und verwundet, bis zur Verzweiflung oft gehemmt in den täglichen Geschäften meines Lebens und Berufs«).70 Um das Trauern der anderen über sie und deren Trost zu verstehen, mutet Clerdon ihr zu, durch sein Herz zu empfinden.71 Das kommt der Aufforderung gleich, das zu tun, worüber sich Sylli beklagt: ihr Selbst aufzugeben in der Hingabe für andere. Konsequent muss sie Clerdon gegenüber, den sie als »Blutsfreund meiner Leiden« betitelt,72 eingestehen, dass seine Briefe sie nicht »erwecken« können und dass sie vielmehr ganz auf sich allein gestellt bleibt: »Angegriffen im Mittelpunkte meines Wesens, muß mir aus dem Mittelpunkte meines Wesens Hülfe, volle Hülfe kommen. Sie wird kommen; Du sagst es; ich sage es auch.«73 Beklemmungen haben aber nach Syllis eigener Einschätzung eine positive, belebende Wirkung, indem unter ihnen ihr »Herz nur immer regsamer, an sich ziehender, sehnender und strebender wird.«74 Ihr Lebensprinzip ist unmittelbare Anschauung: Jeder Tropfen Blut in mir scheint seine Bewegung nur davon zu haben, daß meine Seele dieses da, gerade dieses jetzt anschaut; es so anschaut, gerade so, daß diese Empfindung, diese und keine andere daraus entspringt; diese Empfindung, die lebendige, setzt allein mein Herz in Bewegung; davon schlägt es; es schlüge sonst nicht; – mein Blut, es wallt in

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Sylli an Clerdon (8. März), GA 6,1, S. 15. Ebd., S. 14. Vgl. z. B. Clerdon an Sylli (8. März), GA 6,1, S. 17; Amalia an Sylli (11. März), GA 6,1, S. 27. Clerdon an Sylli (4. März), GA 6,1, S. 101 [neu in der Ausgabe von 1792]. Ebd., S. 103. Vgl. Syllis Entgegnung in ihrem Brief an Clerdon (18. März), GA 6,1, S. 178. Ebd., S. 102. Vgl. Clerdon an Sylli (4. März), GA 6,1, S. 103: »Sylli, Du müßtest in mein Herz schauen; nicht schauen; Du müßtest in Deinen Busen es aufnehmen können, um zu empfinden das Trauern über Dich, das in mir ist, und den Trost für Dich, der in mir ist.« Sylli an Clerdon (18. März), GA 6,1, S. 177. Ebd., S. 178. Sylli an Amalia (20. März), GA 6,1, S. 182.

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meinen Adern nur von diesen Schlägen, stockte ohne sie; denn anderes Leben ist nicht 75 mehr in mir.

Auf der anderen Seite betätigt sich Sylli als Philosophin,76 deren Denken ihre eigenen seelischen Konflikte allerdings mehr verbirgt als löst. Ihr philosophisches Heilmittel ist die schmerz- und lustfreie (religiöse) Liebe (im Anschluss an Fénelon), die aber reflektierend nicht zu durchdringen ist.77 In ihrer gründlichen Charakterstudie zur Person Eduards beweist sie analytischen Scharfsinn. Sie ordnet ihn einer Species zu, die sie lange beobachtet habe und die sie »Allwille« nenne. Allwills Name steht damit für ein anthropologisches Klassenmerkmal, das sich durch ein Übermaß an Kräften, die zu Gewalttätigkeit und Unterdrückung reizen, zugleich durch eine »besonders zarte und lebhafte Sinnlichkeit«, Gewalt des Affekts, Einbildungskraft usw. auszeichnet.78 Aus dieser allgemeinen Bestimmung fallen spezifische Besonderheiten heraus, die die jeweilige individuelle Eigenheit eines Allwill, d. h. eines spezifischen Repräsentanten dieser Art, ausmachen.79 Der Allwill als Gattungsmensch wird von Sylli als einer rasanten Entwicklung fähig vorgestellt, im Uebergang von der Empfindung zur Reflexion; zur Beschauung und Wiederbeschauung [...] bis endlich Anschauung, Betrachtung und Empfindung jeder Art, von der zur größten Fertigkeit gediehenen Selbstbesinnung, Geistesgegenwärtigkeit und inneren Sammlung, welche die Helden dieser Gattung, selbst in der ärgsten Beklemmung der Leidenschaft, nie ganz verlässt, unaufhörlich nur verschlungen werden, und für sich keine Gewalt und natürliche Rechte mehr haben. Der ganze Mensch, seinem sittlichen Theile nach, ist Poesie geworden; und es kann dahin mit ihm kommen, daß er alle Wahrheit verliert, und keine ehrliche Faser an ihm bleibt. Die Vollkommenheit dieses Zustandes ist ein eigentlicher Mysti80 cismus der Gesetzesfeindschaft, und ein Quietismus der Unsittlichkeit.

Sylli sucht einen Standpunkt jenseits der Sittlichkeit und praktischen Gesetzlichkeit, ja auch abseits jeder Wahrheit, nämlich Selbstbesinnung, innere Sammlung, Poesie, geistige Individualität und Innerlichkeit, die unbestimmbar ist und sich nur poetisch umschreiben lässt. An diese eindrucksvolle philosophische Reflexion schließt sich eine Kritik der Empfindsamkeit an. Der empfindsame Mensch (d. h. der bloß Empfindsame) ist, weil leidenschaftlich bewegt, eigensüchtig. Trotz aller guten Vorsätze wird er nur von sich selbst gerührt. Von den Empfindsamen heben sich die Allwille oder der Allwill-Typus dadurch ab, dass sie, solange sie noch nicht verdorben sind, häufig »die schönsten Regungen der Seele« durchblicken las-

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Ebd. U. a. liest sie Montaigne (vgl. Sylli an Amalia, 19. und 20. März, GA 6,1, S. 179f.) und zitiert Fénelon (vgl. Sylli an Amalia, 25. März, GA 6,1, S. 189). Sylli an Amalia (25. März), GA 6,1, S. 190. Sylli an Amalia (27. März), GA 6,1, S. 191. Ebd. Ebd.

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sen. Man könne sie weder verachten, noch ständig hassen, und das mache sie so gefährlich.81 Paradoxerweise geht die Perfektionierung psychologischer Kenntnisse einher mit der Häufung von Irrtümern, bis schließlich erdichtete Menschen für uns wirklich und wirkliche zu erdichteten werden.82

3.2. Clärchen (Cläre) Cläre ist diejenige Freundin, deren Briefe die nächste Seelenverwandtschaft zu Sylli bezeugen. Im Gegenzug scheint ihr Sylli von den sie umgebenden Personen das meiste Vertrauen entgegen zu bringen. Im Erleben und Beschreiben der beschaulichen Natur erinnert sich Clärchen an ihre Verbundenheit mit Sylli.83 Ihre innere Anteilnahme an Syllis Seelenschmerz und ihre treffsichere Interpretation ihres Leidens sind so mächtig, dass sie sich aus Mitleid zu ihr hingezogen fühlt. Es ist die Liebe, die sich »ewig weiß und ewig erwiedert«, die sie anzieht. Dabei weiß sie aber von Syllis innerer Zerrissenheit: »du hast den Himmel in dir selber«; aber sie säße mit ihrem Himmel »dann doch in einer Art von Hölle. Deine Briefe sind ein eigentlicher Wechselgesang aus beyden, voll Verzweiflung und Wonne«.84 Derart »feindliche« Töne könnten nicht zu einer Melodie vereinigt werden. Sie müssten ihre Grundlage, das Instrument, sprengen.85 Clärchens Lebensgefühl, ja ihre Identität, hängt von ihrem Einswerden mit Sylli ab: »Ich hätte gern mehr Freude an mir selber, und die erhielt ich zuverläßig, wenn ich Dir ähnlicher würde.«86 Der Briefwechsel zwischen Cläre und Sylli zeugt von beiderseitiger Rührung.87 Und doch wird Cläre unter dem Eindruck der Lektüre von Syllis Briefen von Zweifeln am Wert ihres eigenen Schreibens so sehr erfasst, dass sie beim Korrekturlesen ihres bereits angefertigten Briefes beschließt, ihn nicht abzuschicken, sondern zu vernichten: »Es überkam mich ein solcher Ekel und Verdruß an dem Geschwätze, daß ich die Bogen, die gerade auf dem Tische lagen, zusammenknüllte, um sie hernach ins Feuer zu werfen. Clerdon riß sie mir aus der Hand [...]«.88 Auch gegenüber Amalia empfindet sich Cläre unvollkommen (»daß ich neben ihr doch so gar Nichts bin. In allem ist sie so ganz, mit Sinnen Herz und Geist«).89 81 82 83 84 85 86 87 88 89

Ebd., S. 192. Ebd., S. 193. Lenore von Wallberg an Sylli (12. März), Nachschreiben von Clärchen, GA 6,1, S. 37f. [fehlt in der Ausgabe von 1792]. Clärchen an Sylli (18. März), GA 6,1, S. 41. Ebd. Ebd., S. 42. Vgl. auch Cläre an Sylli (29. März), GA 6,1, S. 157 [Ausgabe von 1792]. Vgl. Cläre an Sylli (30. März), GA 6,1, S. 170. Ebd. Ebd.

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Cläre philosophiert mit eifrigem Interesse und liefert sich einige Streitgespräche mit Clerdon. Dabei führt sie gerne den Namen Platons im Munde,90 muss aber dann doch zugeben, dass sie kaum einen platonischen Dialog kennt.91 Lenore berichtet, dass ein solcher Disput aus dem Kopieren von Texten heraus entstehe: »beyde sind beständig an einander, und wer anfängt, das ist immer Cläre. Gewöhnlich mit einer Frage. Dann ist sie mit der Antwort nicht zufrieden; und fragt weiter; ist wieder, und noch einmal, und immer weniger zufrieden: damit ist der Streit im Gange, der schon mehr als einmal Zank geworden ist.«92 Der Streit resultiert also aus einem Arbeitskonflikt, und Clerdon, so heißt es, nutze ihre Unkenntnis zu seiner eigenen Übung aus. Umgekehrt nutzt aber auch die »schlaue Cläre« diesen Umstand für ihr Interesse aus und hat »sich bald vom Geheimschreiber zum wirklichen Beysitzer empor geschwungen«.93 Man fürchtet schon, Cläre werde »am Ende wirklich zu gelehrt«.94 Dass aber dieser Disput keinen Gelehrtenstreit über philosophische Sachfragen darstellt, sondern sich viel mehr aus harmlosen Wortscharmützeln zusammensetzt, belegt der eigenhändige Bericht Cläres in ihrem langen Schreiben an Sylli vom 29. März. In den Verlauf dieser Auseinandersetzung im Briefgespräch greifen auch Amalia und Allwill ein. Zwischen Clerdon und Cläre geht es, grob gesprochen, um den in ganz hohler Form vorgetragenen Streitpunkt der Beschränkung der Sinnlichkeit durch die Vernunft.95 Deshalb kann Cläre nur unsere Zustimmung finden, wenn sie sagt: »der Ärger, den wir uns einander machen, Clerdon und ich, ist närrisch genug«.96 Es finden auch wechselnde Koalitionen statt: Amalia, um Beistand gebeten, unterstützt kurzerhand Clerdon, um sich dann »unvermerkt« auf Cläres Seite zu schlagen.97 Als Allwill die Bühne betritt, wird er zwar zum Schiedsrichter ernannt, ergreift aber selbst Partei.98 Allwill stellt die Unbegreiflichkeit der Objektivität des Empfindens und die Unbegreiflichkeit der Frage, wie wir ohne den Weg der Empfindung »uns selbst, und was zu unserem inneren Zustande gehört, unterscheiden und uns vorstellen können«, in den Vordergrund.99 Man müsse sich dabei »auf einen ursprünglichen Instinkt, mit dem alle Erkenntniß der Wahrheit anfängt«, berufen.100 Dieser Instinkt setze Wesen und Wahrheit unmittelbar voraus.101 Cläre wurde »roth und blaß vor Freude« darüber, dass Allwill zu ihren Gedanken die passenden Worte gefun-

90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101

Vgl. z. B. Cläre an Sylli (29. März), GA 6,1, S. 157. Ebd., S. 169. Lenore an Sylli (22. März), GA 6,1, S. 152. Ebd. Ebd. Cläre an Sylli (29. März), GA 6,1, S. 158f. Ebd., S. 159. Ebd., S. 160. Ebd. Ebd., S. 161. Ebd. Ebd., S. 162.

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den hatte.102 Sie lobt seine »stille Aufmerksamkeit«, seinen heiteren Blick, der »eine wirklich schöne, ich möchte sagen fromme Seele, die sich nicht verbergen konnte, sehen ließ«.103 In dieser geselligen Runde fand Cläre Sympathien an Allwill (»ich war Allwilln an diesem Abend sehr gut geworden«)104, dessen Natur sie gegen Syllis negatives Charakterbild verteidigt: »Was soll denn einen Menschen gut machen, wenn nicht das, was Allwill in so reichem Maaße in sich trägt? Des Guten und Schönen in ihm ist zu viel, als dass es nicht dem Bösen Meister werden sollte.«105 Allwill jedoch nutzte zu Cläres Irritation seine philosophische Verbrüderung mit ihr für den Versuch einer erotischen Annäherung106 und rechtfertigt seine Annäherung später mit dem Vergleich einer Berührung zwischen Sokrates und einem seiner Schüler.107 Anregung zum Gespräch findet sich beim Musizieren. Allwill sitzt am Klavier und singt.108 Cläre »weiß kaum etwas angenehmeres, als die Gespräche, worin man zufällig beym Ausruhen am Clavier geräth; denn es ist fast unmöglich dann auf andere, als sehr interessante Gegenstände zu kommen, und für ihre Behandlung in einer besseren Stimmung zu seyn. Alles legt sich, wie von selbst, auseinander und wieder zurecht ---«.109 Allwill wird durch das Musizieren sogar zum Parteiwechsel bewegt.110 Cläre zitiert im weiteren Verlauf des Gesprächs aus einem ungedruckten Aufsatz, den sie für Clerdon abschreiben musste (einer Handschrift, die der Herausgeber in einer Fußnotennotiz sein eigen nennt). Dieser handelt u. a. vom »Buch der Natur und der Geschichte«, das aus Chiffren bestehe, deren Auslegung eines besondern Schlüssels bedürfe.111 Dazu passt eines der Zitate, die als Motto der zweiten Briefausgabe vorangestellt sind, nämlich eine Textstelle aus Kants Kritik der Urteilskraft, die stark verkürzt und sinnentstellend paraphrasiert wird: Die Natur in ihren schönen Formen spricht figürlich zu uns, und die Auslegungsgabe ihrer Chiffernschrift ist uns im moralischen Gefühl verliehen. -- Schon der bloße Reiz in Farben und Tönen nimmt gleichsam eine Sprache an, die einen höhern Sinn zu enthalten scheint 112 und die Natur näher zu uns führt. Kant (Cr. d. Uk. S. 168. 170).

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Ebd., S. 161. Ebd., S. 168. Ebd., S. 169. Ebd. Ebd., S. 168f. Allwill an Cläre (30. März), GA 6,1, S. 172f. Cläre an Sylli (29. März), GA 6,1, S. 163. Ebd., S. 164. Ebd., S. 165. Motto zur Ausgabe von 1792, GA 6,1, S. 167. GA 6,1, S. 93. Vgl. Immanuel Kant: Werkausgabe. Bd. 10: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974 (stw 57), S. 234 bzw. 235 (§ 42, 8. bzw. 10. Abs.): »Man wird sagen: diese Deutung ästhetischer Urteile auf Verwandtschaft mit dem moralischen Gefühl sehe gar zu studiert aus, um sie für die wahre Auslegung der Chiffreschrift zu halten, wodurch die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht.« – »Die Reize in der schönen Natur, welche so häufig mit der schönen Form gleichsam zusammenschmelzend angetroffen werden, sind entweder zu den Modifikationen des Lichts

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Die entsprechenden Textanbindungen finden sich in Kants Theorie des Naturschönen innerhalb der Kritik der ästhetischen Urteilskraft dort, wo ein Brückenbau zwischen dem ästhetischen und dem moralischen Gefühl versucht wird.113 Dass die Sprache der Natur in dem zitierten Paragraphen fast zur Sprache der Moral wird – dieses im Übrigen stoische Motiv dürfte Jacobi mit großem Behagen aufgenommen haben. Was Kant auseinanderhalten wollte, aber in der philosophischen Durchführung vielleicht nicht konsequent genug trennte, scheint Jacobi als willkommenen Anlass zu nehmen, Moral und Ästhetik miteinander zu vermengen. Bei Jacobi finden wir nämlich nicht die Spur einer Kritik, die doch angebracht gewesen wäre angesichts der in der Kritik der Urteilskraft von Anfang an grundlegenden und auch bewiesenen Behauptung, das Geschmacksurteil als solches sei »ohne alles Interesse«.114 Nun bleibt Kant auch an der für unsere Interpretation des jacobischen Zitates ausschlaggebenden Stelle bei der Behauptung, dass das Wohlgefallen »von allem Interesse« unabhängig sein müsse115 und dass zwischen dem reinen Geschmacksurteil und dem moralischen Urteil nur eine Analogie bestehe,116 aber er erhebt doch auch den Anspruch, an der Naturschönheit und unserem »unmittelbaren Interesse« daran die »objektive Realität« der Ideen nachweisen zu können: Da es aber die Vernunft auch interessiert, daß die Ideen (für die sie im moralischen Gefühle ein unmittelbares Interesse bewirkt) auch objektive Realität haben, d. i. daß die Natur wenigstens eine Spur zeige, oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich irgend einen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung ihrer Produkte zu unserm, von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen (welches wir a priori für jedermann als Gesetz erkennen, ohne dieses auf Beweisen gründen zu können) anzunehmen: so muß die Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähnlichen Übereinstimmung ein Interesse nehmen; folglich kann das Gemüt über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden. Dieses Interesse aber ist der Verwandtschaft nach moralisch; und der, welcher es am Schönen der Natur nimmt, kann es nur sofern an demselben nehmen, als er vorher schon sein Interesse am Sittlichguten wohlgegründet hat. Wen also die Schönheit der Natur unmittelbar interessiert, bei dem hat man Ursache, wenigstens eine 117 Anlage zu guter moralischer Gesinnung zu vermuten.

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(in der Farbengebung) oder des Schalles (in Tönen) gehörig. Denn diese sind die einzigen Empfindungen, welche nicht bloß Sinnengefühl, sondern auch Reflexion über die Form dieser Modifikationen der Sinne verstatten, und so gleichsam eine Sprache, die die Natur zu uns führt, und die einen höhern Sinn zu haben scheint, in sich enthalten.« Dieses Lehrstück der kantischen Ästhetik ist problematisch und in der heutigen KantForschung auch umstritten, insofern es die Grenzziehung zwischen Ästhetik und Moral aufzuheben droht. Vgl. Bernd Dörflinger: Lyotards Kant-Lektionen zum Erhabenen. In: Kant und Frankreich – Kant et la France. Hg. v. Jean Ferrari, Margit Ruffing, Robert Theis. Hildesheim 2005, S. 331–343; Birgit Recki: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant. Frankfurt a. M. 2001. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 116–124 (§§ 2–5), hier S. 116. Ebd., S. 234 (§ 42, 7. Abs.). Ebd. (§ 42, 8. Abs.). Ebd., S. 233f. (§ 42, 7. Abs.).

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Obwohl im Allwill-Roman (wie in Jacobis Philosophie) gegen rationale Grundsätze von Moralität gestritten wird, ist doch Jacobis Inanspruchnahme des oben stehenden Kant-Zitates als Motto der Briefsammlung dadurch motiviert, die schöne Natur von vornherein als Vermittlerin moralischer Gefühle auszuwählen, die sich nicht in Begriffen oder Buchstaben, sondern in nur sinnlich wahrnehmbaren und reflektierbaren Zeichen ausdrücken lassen. Umgekehrt ist die moralische Gesinnung des Betrachters der in der erwähnten »Handschrift« geforderte »Schlüssel« zur Entzifferung der Natur.

3.3. Clerdon Clerdon, ein standhafter Philosoph, hat nach dem Zeugnis seiner Gattin Amalia das »Daseyn uneigennütziger Liebe, eines Wohlthuns ohne den entferntesten Gedanken an Ersatz, einer alles überwiegenden Treue« durch seine nahen Familienangehörigen als »Thatsache« in sich selbst.118 Er verkörpert einen Philosophen mit fest gewordenem Standpunkt, den er argumentativ zu verteidigen weiß. Gegen eine Form von Wissensphilosophie, die aus Vernunftgründen spekulativ denkt und ausgiebig von Worten (also von Sprache) Gebrauch macht, setzt er seine Überzeugung vom »Daseyn uneigennütziger Liebe«. Nachdenklich macht den Kreis seiner Verehrer die Lehrformel: »immer hat die tiefer liegende Wahrheit das Wortgewebe wider sich; es ist der Instinkt des Buchstabens, die Vernunft unter sich zu bringen [...]«.119 Die Bedeutung dieses Satzes bleibt unklar. Der Hinweis auf den »Instinkt« erinnert an Allwill, wenn er in seinem Bekenntnis, einvernehmlich mit Cläre, einen »ursprünglichen Instinkt, mit dem alle Erkenntniß der Wahrheit anfängt«, verteidigt.120 Dieser Instinkt muss ein moralischer sein, da er »uns gebietet, Wesen und Wahrheit, als das erste und Vesteste, unmittelbar, vorauszusetzen«.121 Das ist aber anscheinend ein Instinkt, der Vernunft gebiert, also nicht der »Instinkt«, der dem »Buchstaben« (als dem Element der Schriftsprache) anhaftet und der Gegenstand der Sprachkritik ist. Clerdons inhaltliche Positionierung auf dem Gebiet der Philosophie erfährt man im Kontrast zu Cläres (und Allwills) Standpunkt, die in dieser Hinsicht »in offenbarer Feindschaft« mit ihm lebt.122 Er wird wahrgenommen als spöttischer Kritiker sinnlicher Evidenz und Verfechter vernünftiger Einsicht,123 allerdings mittels eines Vernunftverständnisses, das auf der Unmittelbarkeit des Gefühls 118 119 120 121 122 123

Vgl. Amalia an Sylli (20. März), GA 6,1, S. 142; vgl. auch den Traum aus seinem Brief, den Amalia kopiert hat (GA 6,1, S. 143). Amalia an Sylli (20. März), GA 6,1, S. 142. Vgl. auch Sylli an Amalia (26. März), GA 6,1, S. 188. Cläre an Sylli (29. März), GA 6,1, S. 160f. Ebd. S. 162. Cläre an Sylli (29. März), GA 6.1, S. 158. Ebd., S. 158f.

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der Liebe beruht.124 Allwill setzt ihm sein Überzeugtsein von der Objektivität des Empfindens entgegen.125 Lenore von Wallberg schildert Clerdon in einem Brief an Sylli, der sich nur in der Ausgabe von 1776 findet, wie sich Clerdon als Anwalt armer, ehrlicher Leute Verdienste erwarb und dafür nun wie ein Gott verehrt wird. Die Anbetung überwältigt Clerdon. Alle in seinem Haus Anwesenden suchen seine Nähe, umlagern ihn: »Ein Meer von Liebe ergoß sich über uns in seine Augen, welche alles sahen, was in unsern Herzen vorgieng«.126 Clerdon erweist sich als Dirigent eines gemeinschaftlich verfassten Briefes, indem er autoritär gebietet, ob ein Brief abgeschickt wird,127 wann ein Brief abgeschlossen ist, wann er unterbrochen werden muss und welche Begebenheiten nicht erzählt werden können und sollen: »Das Anschauen, die Umarmung einer ganz enthüllten, schönen, tiefempfindenden Seele ist zu heilig, um in Bildern und Worten nachgespiegelt zu werden.«128 An anderer Stelle erzählt er ein »tolles Märchen« und trägt Lenore auf, es Sylli weiterzuerzählen.129

3.4. Amalia Amalia wird von Allwill als Gattin an der Seite Clerdons, Mutter und Hausfrau verehrt. Er sieht sie, die er »Mama« und »Mutter Amalia« nennt, als ideale Verkörperung ehelicher Liebe. Bei ihrem Anblick fühlt sich Allwill »wie untergetaucht in Unschuld und Reinheit«.130 Denn sie habe »allmählich sich so ganz« in ihren Mann »verlohren, daß ihr Herz nun alle seine Rege allein von dem seinigen empfängt, ihre gesammten Kräfte sich unverrückt in seinem Willen fühlen; ... – ihre ganze Seele hingewaget auf ihn«. Er findet an ihr jene »innige Theilnehmung, welche alle Kräfte in einen Willen zusammenschmelzt, und den Menschen wirklich verdoppelt«.131 Aus wechselseitiger Stimulierung verschiedener und entgegengesetzter Kräfte entsteht ein »Bündniß«.132 Für Allwill ist Amalia, die Hausmutter, das Gegenbild zum Weltphilosophen, der das Universum überschauen will und von »brennender Liebe zu den Menschen überhaupt« getrieben wird. Ihre Liebe ist parteiergreifend »für Mann, Kinder, Haus«, sie

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Vgl. Amalia an Sylli (20. März), GA 6,1, S. 142. Cläre an Sylli (29. März), GA 6.1, S. 160f. Lenore von Wallberg an Sylli (12. März), GA 6,1, S. 36. Z. B. verhindert er die Vernichtung eines Briefes von Cläre an Sylli und lässt »durch Amalia befehlen«, dass er abgeschickt wird (Cläre an Sylli, 30. März, GA 6,1, S. 170). Clerdon in Clärchen an Sylli (18. März), GA 6,1, S. 39. Vgl. auch den Brief Lenores an Sylli (22. März), in dem er als maßgeblicher Autor eines Gemeinschaftsbriefes an Sylli fungiert (GA 6,1, S. 151). Lenore an Sylli (22. März), GA 6,1, S. 152f. Eduard Allwill an Clemenz von Wallberg, GA 6,1, S. 46f. Ebd., S. 47f. Ebd., S. 48.

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empört sich »gegen die ganze Welt«,133 vergleichbar mit dem Patriotismus der antiken Republikaner. Durch sie leuchtet die »holde Mutter Natur«; »die Befriedigung ihrer reinen Triebe« vollendet »alle ihre Wünsche« und befreit sie von Begierden.134 Ihre Tugend ist naturwüchsig, ohne Anleitung und Wissen von Pflichterfüllung. Allwill ruft dazu auf, ihr nachzueifern und nicht den »Prächtigen Weltweisen« und »Allumfaßern« zu folgen.135 Amalia scheint kein inneres Bedürfnis nach Mitteilung zu fühlen, bedrängt Sylli, endlich ihr Schweigen zu brechen und sich ihr mitzuteilen und schreibt ihr doch nur aus Zerstreuung, um in den Zwischenzeiten ihrer häuslichen Geschäfte »ein wenig« mit ihr zu plaudern.136 Ohne inneren Antrieb wird ihr Brief durch äußere Vorkommnisse (z. B. das Erscheinen ihres Mannes) unterbrochen und in einzelne Szenen zerlegt. Sie beschreibt Sylli den Zustand ihrer »Glückseligkeit« und wunschlosen Zufriedenheit als Ehefrau und Mutter. In dem »göttlichen Auge« Clerdons, des »Anbetungswürdige[n]«, sieht sie den Vater ihrer Kinder und den Mann.137 Amalie wirkt in allem, was sie sagt und denkt, nüchtern und sachlich. In philosophischen Fragen steht sie ihrem Mann bei, philosophische Gespräche, die im Clerdon-Kreis geführt werden, protokolliert und analysiert sie, über Philosophen von Profession macht sie sich gekonnt lustig.138 Sylli empfiehlt sie, Clerdons Beispiel zu folgen, d. h. wie er die Augen offen zu halten, die sinnliche Anschauung als Korrektiv des Denkens zu verstehen, dann werde »in einem Nu auch wieder alles in der Welt vernünftig«.139 In einem Brief Lenores an Sylli wird geschildert, auf welche Weise Amalia die Abfassung eines Antwortschreibens an Sylli leitet: von Clerdon wird sie aufgefordert, den Beteiligten zu sagen, »was Lenore wegen Allwill antworten soll«; und was sie selbst beisteuerte, war ganz im Sinne von Lenore und Cläre, so dass auch diese beiden ihr »Wörtchen bequem einzumischen fanden«.140

3.5. Eduard Allwill Die Titelfigur ist ähnlich rätselhaft wie Sylli. Zugleich ist sie ihr eigentlicher Gegenspieler, ohne dass es in der Sammlung den Nachweis eines direkten Briefkontaktes zwischen beiden gibt. Eduard erwähnt Sylli nicht einmal in seinen Briefen. Ihre Beziehung kann nur mittelbar aus den Briefen anderer erraten oder erschlossen werden. 133 134 135 136 137 138 139 140

Ebd., S. 49. Ebd. Ebd. Amalia an Sylli (11. März), GA 6,1, S. 27. Ebd., S. 30f. Vgl. Amalia an Sylli (20. März), GA 6,1, S. 142. Ebd., S. 143. Lenore an Sylli (22. März), GA 6,1, S. 151 [nur in der Ausgaben von 1792].

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Im »Vorbericht« steht der Hinweis, es sei »überflüssig« im Voraus an die Person Eduards zu erinnern.141 Das Geheimnis seines Wesens offenbart sich in den Briefen Dritter aus dem Korrespondentenkreis oder muss aus den verwirrenden Selbsteinschätzungen geschöpft werden. Clerdon hält ihn für ein »unbegreifliches Durcheinander von Mensch«.142 Sein Alter ist lange umstritten, bis Amalie urkundlich 25 Jahre feststellt;143 er ist von einer Allgemeinheit des Gefühls beseelt, zugleich von unmittelbarer Empfindung beherrscht, hat aber auch ein offenes Herz, zeigt heftige Begierde nach sinnlicher Lust, die bisweilen autistische Züge annehmen kann.144 Der Umgang mit dem anderen Geschlecht dagegen kühlt, wie Eduard selbst beschreibt, sein hitziges Gemüt ab.145 In früheren Jahren trachtete er danach, weibliche Personen nach seinen Vorstellungen »umzubilden« und litt selbst unter diesem von ihm ausgeübten Zwang.146 Sein Auftritt in geselligem Kreis sorgt in der Regel für eine Veränderung der Stimmungslage, entweder zu einer positiven oder zu einer negativen Seite hin.147 Z. B. berichtet Lenore über den Besuch Allwills in einer sonntäglichen Familienrunde, bei der alle vor Rührung »in ein schönes herzliches Gespräch [gerieten], das uns zusammen in die reinste Stimmung zu aller Wonn’ und Wehmuth setzte [...] nie habe ich eine so rührende Gruppe gesehen«.148 Allwill erweist sich als trefflicher Klavierspieler »und singt mit viel Geschmack und Ausdruck, obgleich er keine sonderliche Stimme hat«.149 Von einem unbändigen Willen gezeichnet, werden seine Züge nach den Erzählungen seines Vaters so zusammengefasst: »Ein größerer Held in der Freundschaft und Liebe ist nie gewesen, und verliebt bis zur Raserey war er schon in seinem neunten Jahre.«150 Am prägnantesten wird Eduard von Sylli charakterisiert, die ihn, wie gezeigt, als Beispiel einer ganzen Menschenklasse stilisiert. In ihrem Brief an Lenore und Clärchen (o. D.) warnt sie die »Cousinen« vor seinen heftigen Temperamentausbrüchen und dem Versuch der Inbesitznahme. Allwill ist ihr kurz

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Vorbericht 1776, GA 6,1, S. 7. Clerdon an Sylli (8. März), GA 6,1, S. 18. Amalia an Sylli (20. März), GA 6,1, S. 144 [Ausgabe von 1792]. Clerdon an Sylli (8. März), GA 6,1, S. 18–22. Autisten erleben die Welt auf idiosynkratische, anderen nur schwer vermittelbare Weise (vgl. Robert Vellusig: Das Erlebnis und die Dichtung. Eine literaturtheoretische Skizze in weiterführender Absicht. In: Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes. Hg. v. Martin Huber u. Simone Winko. Paderborn 2009 (Poetogenesis 6), S. 115–131, v. a. S. 121–123). Für Allwills Gemütsverfassung würde das bedeuten, dass sie für Außenstehende im Grunde nicht zugänglich, eigentlich auch gar nicht mitteilbar ist. Eben deswegen kann sie nur medial im Brief nachgestellt werden. Eduard an Clerdon (als Beilage zum Brief von Clerdon an Sylli, 8. März), GA 6,1, S. 23. Ebd., S. 24. Vgl. Clerdon an Sylli (8. März), GA 6,1, S. 18. Lenore von Wallberg an Sylli (12. März), GA 6,1, S. 36f. Cläre an Sylli (29. März), GA 6,1, S. 163 [Ausgabe von 1792]. Clerdon an Sylli (8. März), GA 6,1, S. 19.

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gesagt ein »unbändiger Mensch«, ein Besessener.151 Für sie ist es eine »unaussprechliche« Schmach des Gefühls, sich an eine geliebte Person zu verlieren. Denn es führt letztenendes zur Selbstauflösung der eigenen Seele. Sie klagt an: »Unser eigenes Selbst entflohen aus uns – entflohen aus Ihm ... Gar kein Daseyn mehr; keins in sich, keins im andern. Man ist verschwunden unter den Lebendigen.«152 In seinen eigenen Briefen gibt sich Allwill ganz anders. Er hängt an dem Ideal »reiner« Liebe, die er in der ehelichen Gemeinschaft als »besondere Leidenschaft« verwirklicht sieht. Dieses Glück verkörpert für ihn Amalia. Ihr gegenüber fühlt er sich »wie untergetaucht in Unschuld und Reinheit«.153 Mit der Freundschaft hält er es ebenso. Sie muss frei sein von Eigennutz und Eigenliebe. Das Objekt, zu dessen Ende sich zwei zusammenfinden »wie rechte und linke Hand«, die gemeinsam etwas »zu Einem Werke [...] bilden«, kann nur Medium sein, mittels dessen einer den anderen fühlt.154 Für sich betrachtet ist Allwill unglücklich. Er lebt in ewiger Zerrüttung und wird, wie er sagt, von der »Liebe zum Schönen verzehrt«.155 Damit ist vor allem die subjektive Schönheit der Seele (sowohl der eigenen als auch der anderen) gemeint. Deshalb will er sich in Zukunft einer eher legeren (absichtslosen) Lebensweise verschreiben. An Clemenz von Wallberg, den er mit »Bruder« anredet, schreibt er: »daß ich mich bessern werde, darauf mußt du nicht zu sicher rechnen. Bisher hab’ ich es mit allem zu ernstlich gemeint; ich spüre, daß man dabey zu Grunde geht, und für nichts.«156 Nicht frei von Ironie sieht er in einem ›nebeligen‹ Kopf das Ende der eigenen Verwirrung. Im »Nebel« sieht er geradezu »das treffendste Bild weiser Gemüthsverfassung«.157 Der umnebelte Geist schafft Klarheit im Blick für das Alltägliche: »dann räume ich mein Zimmer auf, bringe meine Papiere in Ordnung, beantworte alle Briefe nach dem Datum ihrer Ankunft, und würde auch mein Testament machen, wenn ich nur Erben wüßte, die sich’s gefallen lassen könnten.«158 Eine »Art von Nebel« ist für Allwill aber auch »die Tugend der ächten Schul- Stadt- und Heer-Moral, welche die beliebte durchgängig gute Aufführung, das exemplarische Leben hervorbringt«.159

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Sylli an Lenore und Clärchen, GA 6,1, S. 54f. Ebd., S. 56. Eduard Allwill an Clemenz von Wallberg, GA 6,1, S. 47. Ebd., S. 51. Ebd., S. 48. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Ebd. Ebd. Die Nebel-Metapher, die man als Gegensymbol zum Licht der Aufklärung lesen könnte, ist im Briefroman Jacobis durchaus doppeldeutig. Das Nebelige macht die Wahrheit unerkennbar, schützt sie aber auch vor ihren Feinden (vgl. das Zitat »Aus einer Handschrift« am Anfang des Vorberichtes der Erstausgabe, GA 6,1, S. 3).

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Merkwürdig quer stellt sich zu dieser Selbstbeschreibung die in denselben Brief eingeflochtene Sentenz über das an sich erlebte Unvermögen zum Schreiben eines Romans, das sich planmäßiger Organisation zu entziehen scheint.160 In den Schlusspassagen seines Briefes kommt Eduard auf die Nebel-Metapher zurück. Der Nebel verschlingt alle Moral als Instrument der Unterdrückung von Neigungen. »Zehnmal besser« sei ihm »der gutherzige Wildfang, der noch Leben im Busen nährt und Liebe«.161 Eine duft- und nebelfreie Lebenszone, wie sie von gewissen Philosophen propagiert werde, ist für Eduard lebenswidrig: »Unsere Philosophen allein bewohnen Himmel-nahe Felsenhöhen, von keinem Duft getrübt, rundum endlose Helle und Leere. Mir gienge da der Athem aus.«162 Allwill steht der Klasse von Philosophen kritisch gegenüber, die in übersinnlichen (spekulativen) Ideengebäuden hausen.163 Betroffen davon ist vor allem die Moralphilosophie in Verbindung mit einer Kritik der bloßen Vernunft: »Es ist die hohlste Idee von der Welt, daß die bloße Vernunft die Basis unsrer Handlungen seyn könne«. »Am Ende ist es doch allein die Empfindung, das Herz, was uns bewegt, uns bestimmt [...]«.164 Eduard glaubt fest an die Kraft seines Herzens als des Ursprungs des Guten und Schönen: »wird nicht auch die schöne Seele, aus eigenem Keim, sich immer schöner bilden?«, fragt er.165 Eine »Philosophie des Lebens«, d. i. eine Moral als System fester Grundsätze nach Vorschriften der Vernunft – und seien sie auch durch eigenen Antrieb und eigene Erfahrung entworfen –, läuft dem Leben zuwider, ja, sie gebiert einen schlechten Menschen.166 Ihr steht ein Bedürfnis nach natürlicher, freier Selbstentfaltung des individuellen Lebens entgegen: »wir brauchen starke Gefühle, lebhafte Bewegungen, Leidenschaften«.167 Dieses Streben entfacht aber zugleich die erwähnte zerstörerische Wirkung der Begierden. Wie also ist zugleich die Seele im Gleichgewicht zu halten, so dass Philosophieren überhaupt erst möglich wird? Allwill sieht den Ausweg in der Befolgung der stoischen Forderung nach dem Einssein mit der Natur, deren Wesen Unschuld sei.168 An ihr sich zu orientieren, bedeutet den richtigen Weg zum Leben zu finden: »So sind alle meine Thaten gut, oder ihre Folge wird’s; denn durch alle meine Empfindungen weht der lebendige Athem der Natur«.169 Gleichgesinnt mit der Natur zu sein, bedeutet aber, wie es scheint, zugleich den vernünftigen

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Ebd., S. 45f. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd. Eduard Allwill an Luzia ***, GA 6,1, S. 58. Dieser Brief wurde in der Ausgabe von 1792 an manchen Stellen umformuliert und gekürzt. Vgl. GA 6,1, S. 193–202. Ebd., S. 60. Ebd., S. 60f. Ebd., S. 59; vgl. ebd., S. 61. Ebd., S. 59. Ebd., S 62.

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Lebensumgang nach festen Grundsätzen zu verwerfen.170 Denn dieser gründet sich auf spekulative Ideen. Es kommt aber darauf an, sich mit Hilfe der Anschauung zu orientieren.171 Wenn also Seelenruhe im Einklang mit der Natur möglich sein soll, dann muss sie außerhalb des Weges von Tugendvorschriften gefunden werden. Auch mit Clärchen ist Allwill durch Rede und Gespräch, die brieflich dokumentiert sind, verbunden. Clärchen teilt nicht die zurückhaltende Skepsis ihrer Gespielinnen Sylli und Lenore in Bezug auf Allwills Wesen. Sie ist ihm vielmehr zugetan. Und Allwill fühlt die sich ihm bietende Nähe. Hat er im philosophischen Gespräch der Clerdon-Familie bereits für ihre Denkhaltung Partei ergriffen, so versucht er in einem persönlichen Schreiben an sie, den philosophischen Nährboden ihrer geistigen Beziehung zu kultivieren. In seinem Brief an Cläre stellt er sich als Schüler vor, »der von seinem Meister gern erfahren möchte, ob er ihn genug verstanden hat«.172 Er bringt den platonischen Sokrates als Dritten und als seinen Stellvertreter ins Spiel. Zur Sprache kommt zunächst der pseudoplatonische Dialog Theages; dann aber werden verschiedene Stellen aus dem Phaidros paraphrasiert. Dass Cläre nun auf diesem Gebiet Allwills Meisterin sein soll, will nicht recht einleuchten, da sie ja in einem anderen Gespräch auf Allwills Nachfrage hin zu erkennen gab, dass sie über keine durch eigene Lektüre erworbene Kenntnisse Platons verfüge.173 Dennoch soll sie schließlich über Allwill entscheiden, »ob ich, oder ob ich nicht mit meinem Plato auf dem rechten Wege bin?«174 Eine lange Textpassage, die als Zitat kenntlich gemacht ist, sucht man im platonischen Original vergeblich. Allwill hat dieses aus verschiedenen, höchst eigenwillig paraphrasierten Partien künstlich zusammengebaut. An einer Stelle sieht sich sogar der Herausgeber veranlasst, Allwills Zitierweise zu überprüfen und zu kommentieren. Er habe »mit Mühe und Verdruß die durch den ganzen Phädrus zerstreuten Stellen, worauf Allwill Bezug nimmt, zusammengelesen«.175 Diese Anmerkung bezieht sich auf ein Zitat, das die Kritik an der Verschriftlichung des philosophischen Gedankens im Phaidros wiedergeben soll: Worte können nur an schon bekanntes erinnern; und alles ist todtes Wort und sinnloser Buchstabe, ohne den Geist der Deutung, der in unmittelbarer Anschauung und Erkenntniß sein Wesen hat, und der alleinige Geist der Wahrheit ist: unzuverlässig den Rohen; den 176 Weisen aber sicher und gewiß.

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Ebd., S. 59. Ebd., S. 64f. Allwill an Cläre (30. März), GA 6,1, S. 171. Vgl. Cläre an Sylli (29. März), GA 6,1, S. 169. Allwill an Cläre (30. März), GA 6,1, S. 175. Ebd., S. 175, Fußnote des Herausgebers. Allwill an Cläre (30. März), GA 6,1, S. 175.

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Das Zitat ist bei Platon nicht wörtlich nachzuweisen. Dass aber das geschriebene Wort nur eine Erinnerungsfunktion hat und ohne Interpretation leer und ohne Bedeutung ist, ist im Phaidros gedanklich zu finden.177 Nicht zu finden ist die »unmittelbare[] Anschauung« (ein Kernstück jacobischer Philosophie). Allwill ist überzeugt davon, dass er mit Platon »auf dem rechten Weg« sei. Als Beweis dafür will er noch ein Selbstgespräch »in betrauter Abschrift« beifügen.178 In diesem Monolog, der »im Angesicht der herrlichen Linde auf meines Vaters Landhause« ein Jahr zuvor geführt wurde,179 werden in dem Farb- und Lichterspiel des Lindenbaumes Schriftzeichen der Natur entziffert, und Allwill fragt sich, ob dieser »Leben und Liebe erweckende Schein« »eine Schrift ohne Sinn und Sprache« sei. Sein Geist drängt nach Enthüllung der in diesen Zeichen verborgenen »Wahrheit«. Und schließlich sieht sein Geist: »Die ganze Fülle, die ganze Kraft des Wesens da; das war es, was mich ergriff, mich durchdrang, sich mir darstellte, als ich erkannte und nicht wußte vor Entzücken!«180 Auf die gleiche Weise offenbare die Natur im ganzen ihren Inhalt und unterrichte den Menschen unmittelbar.181 Es ist dies eine Reflexion, die Cläre bereits in Allwills Gegenwart zur Sprache brachte, indem sie Regeln zur Entzifferung der Chiffren-Sprache der Natur zitierte, aber nicht mit einem eigenen Kommentar versah. Trotz dieser Verwandtschaft schreibt sich die Beziehung zwischen Cläre und Allwill in den erhaltenen Stücken der Briefsammlung nicht fort. Intensiver noch und allerdings auch komplizierter und problemgeladener entfaltet sich das Verhältnis Eduards zu Luzie. Allwills Reaktion auf Luzies ersten Brief, der in der »Sammlung« nicht mitgeteilt wird, erfahren wir indirekt aus einem weiteren Brief an Clemens von Wallberg. Er beklagt sich darin über die Unredlichkeit in Luzies »Glückwunschs-Schreiben«. Denn sie habe ihn an seiner »schlimmsten Seite, wie vor ihr kein Mensch, ins Auge gefaßt und zu Herzen genommen«.182 Es sei »so natürlich« gewesen, was ihm »mit Luzie begegnete«.183 Eduard begann diesen Brief mit der Absicht, der Freund möge Luzie auf dieses Bekenntnis vorbereiten, doch nun sei er »anderes Sinnes geworden über dem Schreiben«.184 Erst in seinem späteren Brief an Luzie nimmt er zu ihrem Brief, den er »so eben zum drittenmal wieder gelesen«, Stellung.185 Im brieflichen Umgang mit Luzie versucht Eduard, sich mit humorvollen Einlagen und »Verwandlungen« ihr anzunähern, bemerkt aber selbst sogleich,

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Vgl. Platon: Phaidros. In: P.: Meisterdialoge. Eingeleitet v. Olof Gigon. Übertragen v. Rudolf Rufener. Zürich, Stuttgart 1958, S. 183–267, hier S. 259ff. (275c bis 276c). Allwill an Cläre (30. März), GA 6,1, S. 175. Ebd. Ebd., S. 176. Ebd. Eduard Allwill an Clemens von Wallberg, GA 6,1, S. 137. Ebd., S. 138. Ebd., S. 139. Eduard Allwill an Luzie, GA 6,1, S. 56.

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wie er dabei zum »Schelm« wird. Fast unbemerkt für den Leser schlüpft er in der Anrede aus dem »Sie« ins »Du«186 und fordert schließlich in scheinbar hergestellter Intimität von seinem Gegenüber die Erwiderung dieser Anredeform: »wir sind unter vier Augen; schwatzen wir miteinander, wie ich und Du!«187 Zu seinem schelmenhaften Gebahren gehört es schlechthin, so sein zu wollen, wie er nicht ist und nicht sein kann: »ein feuriger geistvoller Jüngling, der ein Epictet sein will«.188 Dies sind aber unvereinbare Gegensätze. Denn die stoische Lehre besagt: »Um die Lehren der Weisheit zu verstehen, um sie annehmlich zu fühlen, muß die Seele sich in einem Zustande von Gleichgewicht befinden«.189 Aber ein »Jüngling« wie Allwill verwünscht einen solchen Seelenzustand und folgt seinen Begierden mit der Überzeugung: »Genießen und Leiden ist die Bestimmung des Menschen«.190 Gefordert sind also gerade nicht Seelenruhe sondern »starke Gefühle, lebhafte Bewegungen, Leidenschaften«.191 Ein kluger Lebenswandel kann daher nur wider die Natur des Menschen gerichtet, nur eine »erkünstelte Sache« sein.192 Luzie versteht (abgesehen von Sylli) Eduards Wesen vielleicht am besten. Sie untersucht seine Konfliktnatur. Um die Wahrheit über ihn zu finden, vergleicht sie mehrere seiner Briefe miteinander wie Dokumente für ein Psychogramm. Von seiner philosophischen Begabung hat sie eine hohe Meinung. Sie redet ihn an als: »mein theurer Freund und Lehrer«.193 Aber in seinen Unschulds-Bekenntnissen erkennt sie eine neue Verstrickung: »Unbändige Sinnlichkeit – und stoischer Hang«? – diese »Ungereimtheit« seines Wesens »läßt sich nicht denken, läßt sich auf keine Weise darstellen« [!].194 Sie moniert vor allem die »unbesonnene Heftigkeit«, mit der er sein Wesen zerteilt, seine Maßlosigkeit, »jenes blinde Ringen nach allem«. Das ist das Merkmal, durch das schon Sylli die allgemeine Natur der »Allwille« auswies. Die ganze Gesellschaft der Korrespondenten, so könnte man schließen, ist bestrebt so zu sein wie Sylli und nicht so zu sein wie Allwill. Indirekt bestätigt sich diese Fremdeinschätzung des Allwillschen Wesens durch die Freundinnen in einem in der zweiten Auflage erst zu findenden Brief Allwills an Clemens von Wallberg.195 Zuerst versucht er, den Liebeskonflikt mit Luzie zu einer flüchtigen Verliebtheit herunterzuspielen, dann will er sich schämen und sich ihr zu Füßen werfen, gesteht seine Unredlichkeit ein. Die Einsicht in die ihm von Luzie vorgehaltenen Verwandlungen (in seinem Brief

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Ebd. Ebd., S. 57. Ebd. Ebd., S. 58. Ebd. Ebd., S. 59. Ebd. Luzia an Eduard Allwill, GA 6,1, S. 65. Ebd., S. 67. Eduard Allwill an Clemens von Wallberg, GA 6,1, S. 136–139.

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an sie), fehlt ihm ganz und gar (»Daß ich plötzlich ein ganz andrer Mensch geworden sey, fiel mir nicht ein«)196.

3.6. Luzie Luzies Denkweise haben wir gerade schon probeweise kennen gelernt. Eduards Brief an sie endete mit dem ausgesprochenen Wunsch, ihr das Leben »dies[es] unendliche[n] Leben[s]« mitteilen und lehren zu können. An diesen Wunsch knüpft ihr Antwortbrief mit der Anredeformel »mein theurer Freund und Lehrer« direkt an. Aber Ironie und Spott enthalten ihre Schmeicheleien und Freundlichkeiten, mit denen sie die tollpatschigen Annäherungsversuche Eduards in seinem Brief quittiert: »Was für ein Zauberer sie sind!«197 Die lebendige Vergegenwärtigung des Genannten durch seinen eindrucksvollen Brief erinnert sie an ihre Trennung von ihm, und sie erinnert ihn zugleich daran, dass sie durch ihn ihre Unschuld verlor: »Großer Mann, verzeihen Sie meine Unbesonnenheit; ich vergaß, daß Sie ein Held sind«.198 Am Ende ihres Briefes, das zugleich die erste Ausgabe der Briefe beschließt,199 kommt Luzie auf den Unschuldgedanken zurück, und erst dort wird die ganze Dimension seiner Bedeutung offenbar. Unschuld muss die Liebe bestimmen, und nur diese Liebe könnte Allwill retten. Am Anfang habe sie selbst noch geglaubt, »selbst berufen zu seyn«, sein Wesen durch ihre Liebe heilen zu können. Als sich dies als Irrtum erwies, trennte sie sich von ihm; sie floh, um sich selbst zu retten. Nun hofft sie, es werde ein anderes weibliches Wesen erfolgreicher bei Allwills Seelenbehandlung sein als sie.200 Um Allwill zur Selbsterkenntnis zu bewegen, zitiert Luzie eine Stelle aus einem Brief eines Bekannten namens »D« an Allwill, in welchem ein junger Graf zu Wort kommt, der aus Überzeugung zu Toleranz und Zurückhaltung mahnt; und anschließend eine andere Stelle aus dem Antwortschreiben des Adressaten.201 Der »feurige Jüngling« in dem Schreiben von »D« tritt für Toleranz, eindeutige geistige Haltung, moralische Prinzipien und einen sicheren Standpunkt ein. Darauf reagierte Allwill aber mit einer Protestnote gegen die elitäre

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Ebd., S. 137. Luzie an Eduard Allwill, GA 6,1, S. 65. Dieser Brief weist die Besonderheit auf, dass er nach Jacobis Erklärung in der Vorrede zu den Vermischten Schriften von 1781 die Möglichkeit bietet, den ganzen Roman »mit einem Blick an[zu]sehn« (GA 7,1, S. 113). Luzie an Eduard Allwill, GA 6,1, S. 66. Er steht auch am Ende der zweiten Ausgabe von 1792, gefolgt von dem Schreiben an Erhard O. als »Zugabe« (vgl. GA 6,1, S. 203–217 und 219ff.). Ebd., S. 80. Die beiden Briefe sind in der Sammlung nicht enthalten. Ihre Existenz beruht allein auf diesen beiden Zitaten.

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und arrogante Geisteshaltung und die eingebildete erhabene Gesinnung des jungen Aristokraten, den er am liebsten geohrfeigt hätte.202 Die zitierte Antwort hält Luzie in ihrem Brief Eduard nun wie einen Spiegel vor, in dem er sich selbst erkennen könnte. Er soll seine Worte vergleichen mit dem letzten Brief an sie und sein Herz befragen, in welchem Brief es sich freier fühlte und es darüber entscheiden lassen, »wo die Fülle der Wahrheit sey, dort oder hier«.203 Der Effekt wird noch verstärkt durch ein weiteres Zitat, eine Kostprobe aus einem älteren Schreiben, das Allwill kurz nach der Trennung von Luzie, seiner einstigen Geliebten, an sie richtete.204 Er enthält Spuren einer tiefen Selbstbesinnung und Selbstanklage, vor allem das Eingeständnis eines Zustandes der eigenen Verwirrung. In diesem Charakterzug steckt aber das Liebenswerte, das Luzie anzieht: »Wie groß, wie lieb! Damahls, wie nah mein Eduard den Besten seiner Gattung!« Aber diesen Weg habe Allwill nicht konsequent fortgesetzt, sondern sei der Unschlüssigkeit seines Temperaments gefolgt: »Es kann nicht anders kommen; die unbesonnene Heftigkeit, womit Sie Sich überall anwerfen, sich so vielfach zertrennen, muß die ungereimteste Verwirrung in Ihrem Wesen verursachen, der gänzlichen Zerrüttung es immer näher bringen.«205 Und mit dieser Feststellung löst sie zugleich das Rätsel des Vergleichs der Briefstellen auf, das sie Eduard zur Aufgabe gegeben hatte. Er sei nämlich eben derjenige junge Graf, dessen »romantische[s] Gebrause« er in seinem Brief an »D« so unerträglich fand,206 seine Kritik im Grunde also eine ungewollte Selbstkritik. Luzies Vorwurf läuft auf eine direkte Negation der Selbsteinschätzung Allwills hinaus. In seinem Liebesverhalten äußere sich dieser Wankelmut als zwiespältige Erwartung an die Geliebte: »die leichtfertige Dirne soll auch die hohen Reize, alle Tugenden, die Liebe eines frommen Mädchens, und das fromme Mädchen hinwiederum, die schnöden Annehmlichkeiten, die ganze Thorheit der leichtfertigen Dirne besitzen«.207 So ist Eduard, Luzie zufolge, in Wahrheit nicht das, was er sein will, nicht »eines Sinnes mit der Natur«, sondern ihr geradewegs entgegengesetzt. Er löst die echte Bande der Natur permanent auf.208 Deshalb kann er auch nicht wirklich konsequent seinem Herzen folgen; vielmehr lässt er sich von der Sinnlichkeit leiten, die er mit Empfindung in seinem Herzen mischt – alles in allem: »Eine fürchterliche Bestimmung, dieser Eduard Allwill zu seyn«.209 Liebe allein könnte ihn retten.210 202 203 204 205 206 207 208 209 210

Luzie an Eduard Allwill, GA 6,1, S. 68f. Ebd., S. 69. Ebd., S. 69f. Auch dieser Brief taucht in der Sammlung sonst nicht auf. Ebd., S. 70. Vgl. ebd., S. 68. Ebd., S. 70. Ebd., S. 70f. Ebd., S. 71f. Ebd., S. 80.

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Allwill habe zwar Moralgrundsätzen abgeschworen, sie aber zugleich durch »Grundsätze der ausgedehntesten Schwelgerey« ersetzt und eine »Theorie der Unmäßigkeit, des Lasters, als einzige Philosophie des Lebens, als den einzigen Weg zur Glückseligkeit« errichtet.211 Aber auf diesem Wege, so lautet Luzies skeptisches Fazit, werde er seine Begierden nie als das erkennen, was sie sind, nämlich mörderische Zerstörungspotentiale.212 Als ehemalige Geliebte und Freundin Allwills213 sieht Luzie in ihm philosophisch ein Vorbild. Sie teilt seine Kritik an einer Wissensauffassung, die sich von menschlichen Bedürfnissen absondert und nur am akademischen Alltag orientiert ist, die Wissenschaft zu etwas Absolutem, fern von jedem Nutzen, erhebt. Wissenschaft müsse von einem »bestimmten Zweck«, nämlich der Aufgabe technischer Lösung für lebenspraktische Fragen ihren Ursprung nehmen.214 In ihrer Auseinandersetzung mit Allwills Gesinnung erkennen wir aber auch deutliche Spuren von Kritik und Widerspruch. Sie wirft ihm vor, seinerseits die Empfindungen zur Theorie und zum »System« zu machen. Luzie vertritt den Standpunkt unmittelbarer praktischer Vernunft und warnt vor einer Verselbständigung der Empfindung: Aber sagen Sie mir, lieber Eduard, ist es eine reellere Sache um das müßige Sammeln von Empfindungen, um das Bestreben, Empfindungen – zu empfinden, Gefühle – zu fühlen; findet nicht hier eine eben so ungereimte Absondrung statt, wie dort bey’m Wissen? Ich glaube, wer eine schöne große Seele in der That besitzt, hält sich nicht damit auf, die Empfindungen, welche seine Handlungen betreiben, auf solche Weise abzusondern; wird sich ihrer nie dergestalt bewusst, daß er sie in Ideen aufbewahren, und aus derselben Betrach215 tung einen unabhängigen Genuß sich bereiten könnte [...].

Eine Philosophie, die von vornherein alles, was Form heißt, verbannen möchte und dagegen setzt, dass die Seele fähig sei, alles Gute und Schöne allein aus sich selbst zu bilden, ist für Luzie keine echte Philosophie. Ebenso sei es »klarer Unsinn«, schlechthin alle Grundsätze und Ideen zu verwerfen, bloß weil Grundsätze öfter als unzulänglich oder unwirksam befunden wurden. Umgekehrt sei es aber auch nicht richtig, Empfindung und Gefühl in ihrer Bedeutung zu unterschätzen. Empfindung, Gefühl und Gedanke müssten einander die Waage halten. Die »Empfindung überhaupt«, d. h. die bis zum Gedanken erhöhte Lebhaftigkeit des Gefühls, sei zu schärfen und zu vergrößern.216 Der Gedanke darf den Trieb nicht verlassen. Verhaltensvorschriften erachtet sie als notwendig, um das menschliche Tun zu sichern. Sie fordert daher eine »feste Lehre der Glückseligkeit«.217

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Ebd., S. 71. Ebd., S. 72f. Vgl. Eduard Allwill an Clemens von Wallberg, GA 6,1, S. 136–138. Luzie an Eduard Allwill, GA 6,1, S. 73. Ebd., S. 73f. Ebd., S. 75. Ebd., S. 76.

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4. Gibt es eine ›medienästhetische Logik‹ in Jacobis Briefsammlung? Typisch für die Briefsammlung ist, dass sich ihre jeweiligen Verfasser immer nur auf Einzelpersonen und in der Hauptsache auf deren Seelenleben ausrichten, obwohl sie teilweise in einem größeren Kreise vorgelesen, in Kleingruppen diskutiert oder an Dritte übermittelt werden. Die Briefe sind also zwar privat, aber nicht streng vertraulich; zwar offen, aber nicht öffentlich. Unter einfachen, bescheidenen Leuten bedarf es keiner besonderen Anredeform, keiner Titel und anderer Stilmittel. Die persönliche Anrede verrät uns die Veränderungen zwischen Nähe und Distanz, z. B. beim unmittelbaren Übergang vom ›Sie‹ zum ›Du‹. Was hier als ›Brief‹ bezeichnet wird, zeigt im Rahmen der ›Sammlung‹ eine hohe Variabilität: Manche Briefe sind aus mehreren zeitlichen Abschnitten derselben Person zusammengesetzt,218 andere kommen durch Montage von Beiträgen verschiedener Skribenten mit heterogenen Inhalten kollektiv zustande219 und bilden auf diese Weise einen Brief als Sammlung von Kurzbriefen oder Aphorismen (ein Fragment aus Fragmenten). Innerhalb von Briefen gibt es Unterbrechungen oder gar Abbrüche durch das Auftreten von Personen, die das Schreiben stören oder hindern, indem sie für einen Stimmungswandel sorgen.220 Die Briefe teilen selbst etwas über die Kulisse ihres Entstehens mit. Zuweilen findet in der direkten Korrespondenz zwischen zwei Partnern gar kein Dialog statt: man redet aneinander vorbei, nimmt das Mitgeteilte nicht als solches wahr, geht in der Antwort nicht auf den Inhalt des vorhergehenden Schreibens ein, sondern stellt das eigene Erleben in den Mittelpunkt. Briefe werden auch absichtlich zurückgehalten, nicht abgeschickt oder bleiben (vorläufig) unbeantwortet; Briefe werden kopiert und als Beilage zu anderen Briefen an neue Adressaten weiterverschickt. Mit keinem standardisierten Merkmal lässt sich ein für die Briefe in Jacobis Roman allgemeingültiges Muster bestimmen. Die für sich bestehende Identität und substantielle Einheit, die einen Brief seiner Natur nach kennzeichnet, wird z. B. in der Form eines Kollektivbriefes, der ein Schreiben in Fragmente zerlegt, polyperspektivisch aufgelöst.221 Um die Bedeutung dieser Varianten der Schreibart zu verstehen, müsste jede im Einzelnen im Verhältnis zu den ihr benachbarten untersucht werden. Eine solche Aufgabe ist im Rahmen dieses Beitrages nicht zu leisten. Sie ist aber auch nicht einmal erfolgversprechend, was die Erwartung einer logischen Konsistenz innerhalb der Vielfalt und des Wechsels der Formen der brieflichen Mitteilung betrifft. Mehr noch: Es darf innerhalb des jacobischen Briefromans keine mediale Logik geben, es sei denn eine solche, die sich selbst permanent negiert. Denn das

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Vgl. z. B. Amalia an Sylli (11. März), GA 6,1, S. 27–32. Z. B. Lenore von Wallberg an Sylli (12. März), GA 6,1, S. 33–37; Lenore schickt ihren Brief an Clärchen, »damit sie noch etwas dran schreiben kann, wenn sie Lust hat« (ebd., S. 37). Vgl. auch Clärchen an Sylli (18. März), GA 6,1, S. 38–42. Vgl. z. B. Clärchen an Sylli (18. März), GA 6,1, S. 39. Zur Einheit der Briefform vgl. Altman: Epistolarity, S. 167ff.

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brieflich Mitgeteilte ist inhaltlich so ausgerichtet, dass es die schriftliche Form der Mitteilung angreift und in Frage stellt. Was nur in der Form der Unmittelbarkeit rein und natürlich ist (Menschheit wie sie ist), ist eben nicht in einheitlicher Form darstellbar; es bedarf eines ständigen Wechsels der Form. Dieser Anforderung wird der Roman Allwill allerdings gerecht. Konsequent kann Jacobi dem Leser seines Briefes deshalb vorschlagen, je nach Absicht in der »Sammlung« zu »blättern, bis er findet was er sucht: Nachäffung, Geniesucht, Empfindeley – was nur Verachtung zuwege bringen, vernünftige Leute abschrecken, und eigener Prüfung in den Weg treten kann.«222 Der einzige, aber immer nur partielle Zusammenhang der Briefe der Allwillschen Sammlung wird durch die Charakterbildung der schreibenden, lesenden und sprechenden Personen bestimmt. Bei aller sonst feststellbaren Diskontinuität des Romans ist das immerhin ein Stück Kontinuität. Das ist aber viel zu wenig, um von einer durchgängigen ›medienästhetischen Logik‹ des Romans sprechen zu können. Gleiches wie für die Schreibart gilt für die Varianten der Lektüretechnik: Briefinhalte werden stundenlang gelesen oder vorgelesen,223 zitiert, Zitate wiederholt, studiert, verglichen und diskutiert oder eben nur flüchtig überflogen, wieder verschlossen und bei günstigerer Stimmungslage (z. B. in Einsamkeit) wieder zum Vorschein geholt.224 Gemeinsam gelesene Briefe Syllis z. B. werden »zu einem für uns eigenen Ganzen umgebildet«.225 Die Lektüre führt sozusagen zu einer zweiten Autorschaft. Der Leser erschafft sich auf je verschiedene Weise den Menschen, der sich durch das Medium Brief mitteilt. Die Schreibarten der verschiedenen Briefautoren divergieren nicht nur in vielerlei Hinsicht voneinander, sondern nähern sich in ihrer Ausdrucksweise auch einander an, und zwar in dem Maße, wie sich die Charaktere der Autoren und Rezipienten näherkommen. Auf originelle Weise dokumentiert Jacobi diesen Zusammenhang durch ein Rousseau-Zitat. Rousseau weise in dem Gespräch an der zitierten Stelle darauf hin, dass die Ähnlichkeit in »Sinn und Schreibart« bei den Personen der Nouvelle Héloïse darauf schließen lasse, dass es sich bei den Briefen eher um ein Werk der Natur als um Kunst handeln müsse.226

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So der Ratschlag in der Vorrede zu den Vermischten Schriften von 1781 (GA 7,1, S. 113). Vgl. Clärchen an Sylli (18. März), GA 6,1, S. 39. Vgl. Sylli an Amalia (25. März), GA 6,1, S. 183. Lenore im Brief von Clärchen an Sylli (18. März), GA 6,1, S. 40. Note des Herausgebers, GA 6,1, S. 43.

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5. Der Brief als Medium der Annäherung der Charaktere: »Note« über Rousseau Das Zitat ist eine eigene Übersetzung Jacobis aus der zweiten Vorrede zu Rousseaus Nouvelle Héloïse. Es unterbricht den Briefwechsel in einer »Note« des Herausgebers am Ende des Sammelbriefes Clärchens an Sylli (18. März), womit dieser noch etwas zur Vorrede nachtragen wolle.227 Rousseau erkläre an der zitierten Stelle auf die Frage, ob er der Verfasser dieser Briefe sei, dass die Ähnlichkeit in »Sinn und Schreibart« bei den Personen der Nouvelle Héloïse und die Häufung von Ungeschicklichkeiten in der Darstellung darauf schließen lasse, dass es sich bei den Briefen eher um ein Werk der Natur als um Kunst handle.228 Und weiter: »Ich habe die Beobachtung gemacht, daß in einer sehr vertrauten Gesellschaft die Stile einander so nahekommen als die Charaktere und daß Freunde, wenn sie ihre Seelen vermengen, auch ihre Arten zu denken, zu empfinden und zu sprechen vermengen.«229 Bei Rousseau wird diese Erklärung unmittelbar auf die Person Julies bezogen: »Diese Julie, so wie sie ist, muß ein bezauberndes Geschöpf sein; alles, was sich ihr nähert, muß ihr ähnlich werden; alles um sie herum muß Julie werden; alle ihre Freunde können nur eine Tonlage haben; diese Dinge aber lassen sich nur wahrnehmen und nicht ausdenken.«230 Das lässt sich auch auf Jacobis Sylli übertragen. Jacobi selbst bringt sie an passender Stelle mit der Ausstrahlung des Clerdon in Verbindung, der den additiven Brief seiner Tochter Clärchen an Sylli (18. März) so sehr dominiert, dass er an der Stelle, die ihm beliebt, die Versiegelung anordnet. Der Enthusiasmus der Damen, die diesen Hausherren umgeben, ist eine »Andacht«, in der sie »immerwährend vor ihm schweben«.231 Allein Amalia, die ihren Gemahl fast vergöttert, behält auffallend eine Eigenheit in Wesen und Stil bei.232 Der Rousseau-Exkurs des Herausgebers der Allwillschen Briefsammlung zeigt erstens, dass die Seelenverwandtschaft der Briefschreiber Voraussetzung für das Gelingen einer speziellen Art von Briefwechsel ist, in dem und durch den psychische Konflikte und Seelenwandlung stattfinden und der eben deswegen keinen Brief an einen Fremden beinhalten kann. Zweitens sehen wir, dass durch Annäherung, d. h. durch Kultivierung der »Verwandtschaft« bis hin zur

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Ebd., S. 42f. Diese »Note« wurde in der Fassung von 1792 getilgt. Vgl. Ortlieb: Jacobi, S. 196f. Ebd., S. 43. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Mit Anm. u. einem Nachwort v. Reinhold Wolff. München 1978, S. 25f. Rousseau: Julie, S. 26. Ich zitiere nicht nach Jacobis Übersetzung (GA 6,1, S. 43), sondern nach der ersten deutschen, von Dietrich Leube revidierten Übertragung durch Johann Gottfried Gellius (1761). Rousseau: Julie, S. 26. Note des Herausgebers, GA 6,1, S. 43. Ebd.

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Verschmelzung zweier Seelen zu einer Art des Denkens, Empfindens und Wollens, die durch den Brief als Verkehrsform der Seelenverwandten ermöglicht wird, das Ideal des »ganzen Menschen« in der Vielfalt unmittelbar erscheinender individueller Persönlichkeit als konkreter Inhalt und Zweck der Briefsammlung allmählich geformt wird.

6. Die Briefsammlung als »Sammeln« des Selbst: Sendschreiben an Erhard O. Das »Schreiben an Erhard O.« wird in der Ausgabe von 1792 erstmals der Briefsammlung angeschlossen, um – wie Jacobi erklärt – die Instanz des Herausgebers zu verstärken.233 Es ist mit seinem Namen unterzeichnet,234 trägt aber als Datum den 28. Januar 1791. Dennoch soll es sich um einen ›ausgerissenen‹ Brief der Sammlung mit philosophischem Inhalt handeln. Die Vorrede zur Ausgabe von 1792 teilt dazu mit, dass zwischen dem Schreiber des Briefes und der Allwillschen Briefsammlung eine »Familienähnlichkeit« (Verwandtschaft) bestehe. Dem Schreiben fehle die philosophische Ausrichtung, »weil es ein Stück der Allwillschen Sammlung ist, das nur Reisaus genommen hatte«, für sich allein aber nicht bestehen konnte.235 Lässt es sich aber im Nachhinein wieder mühelos in die »Sammlung« integrieren? Der Herausgeber der Sammlung (und Autor des Ganzen) wird mit diesem ergänzenden Schreiben für uns zugleich zur Kunstfigur, die am Briefverkehr aktiv und passiv partizipiert. Der Dichter erschafft sich selbst und verringert dadurch die Distanz zu seinem Werk. D. h. er muss den Personen seines Romans charakterlich ähnlich geworden sein. Diese Annäherung findet sich in der Übereinstimmung der hauptsächlichen philosophischen Inhalte, die ich abschließend noch skizzieren möchte. Sie verweisen zugleich auf die Bedeutung und Schlüsselfunktion des Briefe-Sammelns, die dem Romantitel Jacobis seine besondere Note verleihen. Der Schreiber (der Verfasser des Sendschreibens) spricht seinen Adressaten als (ehemaligen) »Freund« an, um ihm dann aber sogleich klarzumachen, was ihm fehle: Dir fehlt Innigkeit; ein tieferes Bewustseyn des ganzen Menschen; ein aus diesem tieferen Bewustseyn hervorgehendes eigenes Vermögen: Sich selbst nährender, stärkender, in sich selbst gedeihender Sinn und Geist! Dir fehlt jene stille Sammlung, die ich – verzeihe! – Andacht nennen muß; jenes feyerliche Schweigen der Seele vor sich selbst und der Natur; das feste Ansaugen an Schönes und Gutes, welches tief lebendig macht, und dadurch unab-

233 234 235

Vgl. Vorrede 1792, GA 6,1, S. 91. Zur Entstehung und Funktion des Sendschreibens vgl. Ortlieb: Jacobi, S. 98 und 102. Vgl. Schreiben an Erhard O. (28. Januar 1791), GA 6,1, S. 241. Vorrede 1792, GA 6,1, S. 92.

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hängig groß. Es fehlt Dir – ein nie verstummendes, eine zweyte bessere Seele allmählich 236 bildendes Echo in dem Mittelpunkte Deines Wesens.

Um sich als Individuum zu einem »ganzen Menschen« zu bilden, fehlt dem Freund die geistige Selbstbestimmung, die Tätigkeit der Seele, die Jacobi Sammeln nennt und die am Ende nicht nur zur Ruhe (zum Stillstand) kommt, sondern lautlos (ohne Dialog) – d. h. ohne Mitteilung – »vor sich selbst und der Natur« verharrt und im Fixieren und Schauen dessen, was schön und gut ist (m. a. W. beim Interpretieren der Chiffren der Natur), mit diesem Eins wird und dadurch erst zu ihrem eigentlichen Leben erweckt wird. Das Echo, das die Seele vernimmt, ist der Widerhall ihrer eigenen, verstummten und von Hindernissen reflektierten Stimme aus ihrer Mitte heraus. Daraus bildet sich »eine zweyte bessere Seele«. Wer diese Existenzweise erreicht – so können wir vermuten – bedarf keines Briefes mehr, weder eines selbst verfassten, noch eines an ihn adressierten. Die Funktion eines Briefes der Freundschaft und Liebe ist für ihn schlechthin aufgehoben. Das Sammeln des »Selbst« oder des »Ich« ist aber gemäß der philosophischen Position Jacobis kein (diskursives) Erkennen. Was dieses Selbst substantiell ist, ist vielmehr unbegreiflich. Nur als Erscheinung, deren Gestalt wechselt, aber sich der Wesenheit nähert, ist sie erfassbar.237 Durch sie offenbaren sich unmittelbar Selbsttätigkeit und Leben. Ihre Substanz ist daher »bildende Kraft«, »reiner Trieb, das Herz der Natur«. »So erfüllt das Unendliche ein lebendiger, sehnender, ordnender, bestimmender Geist«.238 Eine »innerliche Bildungskraft«, eine »unerforschliche Energie« soll es sein, die »alleinthätig« ihren Gegenstand bestimmt, d. h. die »eigene Sinnesart, den eigenen festen Geschmack« hervorbringt, die dem Menschen erst Persönlichkeit gibt.239 Damit wird zugleich einer plakatierten »reinen Vernunft« (sowie dem vernünftigen Begriff) als Grund einer Philosophie des Lebens eine entschiedene Absage erteilt.240 Denn eine reine, in allen Menschen identische Vernunft kann unmöglich zugleich die Grundlage des spezifisch verschiedenen individuellen Lebens sein, das nach Jacobi allein den wirklichen Wert des Menschen als Person ausmacht.241 Wir kommen damit kurz auf das Namenlose, das Unaussprechliche zurück, das im Roman an prominenten Stellen als Titel für die Unbegreiflichkeit einer Gemütsbefindlichkeit eingeführt wurde und das sich mit dem Gedanken an die Naturchiffren verbinden läßt. Das Namentliche eines Mannes (z. B.), sagt Jacobi in seinem Schreiben, verdankt den Begriffen der Vernunft nicht mehr als »die Bewegung seiner Lippen« und der »Schall aus seinem Munde«. Das aber sind nur Zeichen der Körpersprache. Was dagegen die Wahrhaftigkeit seines

236 237 238 239 240 241

Schreiben an Erhard O. (28. Januar 1791), GA 6,1, S. 222. Vgl. ebd., S. 223f. Ebd., S. 224. Ebd., S. 228f. Ebd., S. 228. Ebd.

Jacobis philosophische Briefsammlung

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Wortes verbürgt und damit einen Freundschaftsbund besiegelt, ist »seine Sinnesart, sein Geschmack, sein Gemüth und Charakter«. Das Wort ist also ein unsichtbares, nicht artikulierbares und nicht vernehmbares Wort, verborgen in den Tiefen des Herzens.242 Nun ignoriert Jacobi keineswegs, dass der Trieb der Natur, die vernünftig sein soll, wesentlich von einem Verhältnis abhängt, das auch er »Begriff« nennt, weil der Trieb nach Befriedigung strebe.243 Die Gewalt des Begriffs kommt also zu ihrem Recht. Sie lässt sich nicht abstreiten, ist sogar »im allgemeinen mächtiger als die Empfindung«.244 Der Begriff ist das, was zum Lebenstrieb notwendig hinzukommen muss, damit sich das Leben in seinem Dasein erhält. Es ist die Form des Lebens, des Daseins, des Wesens. Diese Form ist »unbedingter Zweck« des Triebes und zugleich das »Princip der Selbstbestimmung« des geschaffenen Wesens (d. h. Daseinserhaltung).245 Der vernünftige Trieb strebt nach einem vollkommenen Leben, einem »Leben in sich selbst«. Leben ist m. a. W. Selbstzweck »jenseits der Natur«.246 Aber zugleich – und da setzt erneut Jacobis Vernunftkritik an – versagt die Vernunft bei dem Versuch, das Zweckmäßige erklären zu wollen. Je mehr ich nach mir selbst forsche, desto mehr verschwinde ich, werde zu Nichts vor mir selbst. Die Spontaneität und die Freiheit des Menschen sind eine unerforschliche Tatsache.247 Das Zweckmäßige wird gesucht, geschaut und gefühlt. Das ist Jacobis Begriff. Der Zusammenhang der Zwecke kann jedoch nicht mehr erforscht und begriffen werden.248 Die Idee eines absolut Unbedingten, allein Selbständigen ist eben ein Jenseits der Vernunft.249 Das ist die Quintessenz der Philosophie Jacobis, die sich in seinem letzten Freundschaftsbrief am Ende des Allwill als ihr tragisches Ende herausbildet.250 Es dürfte keine große Mühe bereiten, die in dem »Schreiben an Erhard O.« dokumentierten Grundzüge jacobischer Philosophie in die Nähe der im Romanwerk dargestellten Gesinnungen der Briefautoren zu bringen. Diesen Schritt kann ich an dieser Stelle nicht mehr vollziehen. Das Ergebnis wäre vermutlich, dass die an den Personen des Romans oft dargestellten Verlegenheiten beim 242 243 244 245 246 247 248 249

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Ebd., S. 229. Vgl. ebd., S. 231. Ebd., S. 229–231. Ebd., S. 230. Ebd., S. 231. Vgl. ebd., S. 240. Ebd., S. 233f. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie. B. Jacobische Philosophie. In: G. W. F. H.: Gesammelte Werke. In Verb. m. der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 4: Jenaer kritische Schriften. Hg. v. Hartmut Buchner u. Otto Pöggeler. Hamburg 1968, S. 346–386, v. a. S. 382f. (über die Romane Allwill und Woldemar). Vgl. Schreiben an Erhard O. (28. Januar 1791), GA 6,1, S. 233.

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Versuch der begrifflichen Aufarbeitung ihrer Gemütsverfassungen und individuellen Seelenentwicklungen und der ihnen immanenten Konflikte wesentlich nicht empfindsame Gefühlsausbrüche bedeuten, sondern Zeichen eines objektiv notwendigen (philosophisch begründbaren) Scheiterns sind. Wir können sogar behaupten: der Briefroman jacobischer Prägung ist insgesamt die Darstellung einer fiktiven (nicht wissensanalytischen) Geschichte des fortwährenden Scheiterns vernunftgeleiteter Nachforschung nach den Gründen der Entstehung und des Daseins des Menschen als einer vollkommenen, eigenständigen, individuellen Persönlichkeit. Der Sammler Jacobi findet zuletzt ebenso wenig wie seine erdichteten Korrespondenten in ihren Briefen das, was er sucht: sein eigenes Selbst. Das, was er vorgeblich weiß, ist, dass und warum er es nicht finden kann.

Hans-Peter Nowitzki

Anthropologie und Gattungspoetik Wielands Briefwechselroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen im Kontext der zeitgenössischen Anthropologie- und Philosophiedebatte

1. Einführung Monokausal vereinseitigende Gattungsbestimmungen, wie sie der als ›empfindsam‹ deklarierte Briefroman erfahren hat, sind seit längerem schon in ihrem Ungenügen erkannt worden. Eine konzisere gattungspoetische Bestimmung des Briefromans wird stärker noch die Rahmenbedingungen seines Entstehens zu berücksichtigen haben. Statt eines neuerlichen Versuchs einer bloß monokausalen Gattungsbestimmung soll hier am Beispiel von Wielands Spätwerk Aristipp und einige seiner Zeitgenossen1 der Frage nachgegangen werden, ob und in welchem Maße Probleme der zeitgenössischen Anthropologie- und Philosophiedebatte Wielands Gattungswahl beeinflussten. Es wird dabei unterstellt, dass die Art und Weise der Bezugnahme auf derlei Gehalte Aufschluss gibt über die wesentlichen Eigenschaften der Briefromangattung. Im Zentrum steht die Frage, weshalb des Dichters Wahl zur künstlerischen Gestaltung eines konkreten Inhalts auf gerade jene spezifische Form des Romans, den des Briefromans nämlich, fiel. Mit den Intentionen des Dichters bei der Gattungswahl werden dann zugleich die gesuchten Gattungsspezifika indiziert. Wieland wählte für seinen kulturpanoramatischen Aufriss der Alten Welt die Gattung des Briefromans, genauer: des Reisebriefwechselromans. Die zentrale Frage ist nun: Welche Vorteile versprach er sich von der Wahl der Briefromangattung und woraus erschließen sich diese Intentionen unzweifelhaft? Letztlich scheint alles auf die Frage zuzulaufen, welchen heuristischen und ästhetischen Mehrwert die epistolare Perspektivierung des im Roman Behandelten bot, so dass Wieland dieser Gattung schließlich den Vorzug vor anderen gab.

1

C[hristoph]. M[artin]. Wielands sämmtliche Werke. Bde. 33–36: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. [...] Hg. v. C. M. Wieland. Bde. 1–4. Leipzig 1800–01. Zitiert wird nach dem reprographischen Nachdruck, herausgegeben von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur in Zusammenarbeit mit dem Wieland-Archiv, Biberach/Riß, und Dr. Hans Radspieler, Neu-Ulm. Hamburg 1984. Im Folgenden zitiert nach dem Schema: WSW Band, Seite. Die Briefe des Aristipp-Romans werden wie folgt zitiert: Brief Band/Briefnummer, Seite. Die Glossare und Anmerkungen des Aristipp-Romans werden folgendermaßen zitiert: Aristipp Band, Seite.

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Hans-Peter Nowitzki

Die beiden ersten neuzeitlichen Briefromane, die zunächst allerdings noch keine Wirkung zu entfalten vermochten, haben bekanntlich den Spanier Juan de Segura (Processo de cartas de amores que entre dos amantes passaron, 1548) und den Italiener Alvise Pasqualigo (Lettere amorose libri due, 1563) zu Verfassern. Hundert Jahre später erst konnte sich die Gattung als abenteuerlicher und sentimentaler Liebesroman in Frankreich und England nachhaltig etablieren. Daran konnte Richardson mit der Pamela (1740),2 der Clarissa (1748)3 und dem Sir Charles Grandison (1753/54)4 anknüpfen – Romane, die europaweit, insbesondere auch in Deutschland, der Gattung zu großer Beliebtheit verhalfen. Richardson avancierte damit gleichsam zum »Vater des Romanes in Briefen«.5 In Deutschland ist der Briefroman erst relativ spät heimisch geworden. Zaghafte Ansätze, ausschließlich Briefe erzählen zu lassen, finden sich in Gellerts Schwedischer Gräfin (1747/48). Der erste deutsche Briefroman ist Musäus’ Richardson-Parodie Grandison der Zweite (1760–62).6 Hermes folgte kurz darauf mit der Fanny Wilkes (1766)7 und Sophiens Reise (1770–72).8 Europaweit erschienen von 1740 bis 1800 etwa 700 Briefromane,9 so dass das 18. Jahrhundert zu recht verdient, auch das Jahrhundert des Briefromans genannt zu werden.10 Höhepunkte dieser Romanmode sind um 177011 und um 1790 auszu2 3

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Samuel Richardson: Pamela, or Virtue Rewarded. In a Series of Familiar Letters from a Beautiful Young Damsel, to her Parents. London 1740. Samuel Richardson: Clarissa; or, The History of a Young Lady. Comprehending the Most Important Concerns of Private Life. And Particularly Shewing the Distresses that May Attend the Misconduct Both of Parents and Children, in Relation to Marriage. London 1748. Angeregt durch die Lektüre von Richardsons Clarissa verfasste Wieland Araspes und Panthea. Eine Geschichte in Dialogen, nach dem Xenofon (1760). Das Werk ist durchgängig dialogisiert und damit der erste deutsche Dialogroman des 18. Jahrhunderts überhaupt. Vgl. Hans-Gerhard Winter: Dialog und Dialogroman in der Aufklärung. Mit einer Analyse von J. J. Engels Gesprächstheorie. Darmstadt 1974, S. 92. Samuel Richardson: The History of Sir Charles Grandison. In a Series of Letters. Published from the Originals. London 1753/54. So Erich Schmidt: Richardson, Rousseau und Goethe. Jena 1875, S. 71–79: Richardson und die Brieftechnik, hier S. 72. Vgl. auch ebd., S. 46–49: Wielands Verhältniß zu Richardson. Johann Karl August Musäus: Grandison der Zweite, Oder Geschichte des Herrn v. N***, in Briefen entworfen. Eisenach 1760–62. Johann Timotheus Hermes: Geschichte der Miß Fanny Wilkes, so gut als aus dem Englischen übersetzt. Leipzig 1766. Johann Timotheus Hermes: Sophiens Reise von Memel nach Sachsen. Leipzig 1770–72. Vgl. Frank Gees Black: The Epistolary Novel in the Late Eighteenth Century. A Descriptive and Bibliographical Study. Eugene (Oregon) 1940 (Studies in Literature and Philology 2), S. 112ff. Ernst Theodor Voss: Erzählprobleme des Briefromans dargestellt an vier Beispielen des 18. Jahrhunderts. Phil. Diss. Bonn 1960, S. 41. Vgl. Anonymus [Rez.]: [Friedrich Traugott Hase]: Gustav Aldermann. Ein dramatischer Roman. Leipzig 1779. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek 41 (1780), 2, S. 471: »Die Erzählungen von langen Athem aus einem Munde und aus einem Tone, sind seit geraumer Zeit nicht mehr nach dem Geschmack der Leser. Der Briefstyl war, nachdem Richardson die Bahn gebrochen, die Modetracht der Romanen; aber die impertinenten Schwätzereyen

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machen;12 um 1840 scheint die Gattung dann weitgehend der Vergessenheit anheim gefallen zu sein. Während Richardsons Briefromantechnik vorwiegend auf den Briefwechsel mehrerer Personen setzt, die sich mit individuellen Berichten äußerer und innerer Vorgänge wechselseitig unterrichten, erprobt Goethe mit den Leiden des jungen Werthers (1774) eine andersartige Brieftechnik, hierfür an Rousseaus Nouvelle Heloise (1761)13 anknüpfend, die in erster Linie dem durchgängigen Ausdruck gegenwärtigen seelischen Geschehens gilt und nicht mehr dem Bericht von bereits Vergangenem. Diese Briefromantechnik sollte die kommenden Jahrzehnte bestimmen.14 Das Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts erneut anhebende, dabei das humanistische Anliegen der Neubestimmung des Menschen wieder aufgreifende und fortschreibende anthropologische Interesse leistete der Beliebtheit und damit der Karriere des Briefromans Vorschub und bewog nicht zuletzt auch Wieland noch 1800/01 einen solchen zu publizieren15 – zu einer Zeit, als die Gattung bereits übel beleumundet war. Weshalb Wieland sich dennoch für das Genre entschied, wird im Folgenden nachzuzeichnen sein. Es wird sich zeigen, dass neben immanent poetologischen auch spezifische außerliterarische resp. äußere Faktoren seine Gattungswahl bestimmten. Von einer wechselseitigen, multikausalen Verwobenheit innerer und äußerer Faktoren sprachen bereits die Zeitgenossen, während sie eine immense Zunahme der Romanproduktion im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts registrierten. Johann Christoph Gatterer etwa zählte für die Jahre 1769 bis 1771 insgesamt 275 neu erschienene Romane.16 Im Jahr 1803 brachte dann allein schon die

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mancher Correspondenten, haben auch diesen den Lesern gar oft verleidet, und den Dialogen Platz gemacht, und, so sind die Produkte von vermischter Komposition bisher die gewöhnlichsten gewesen.« Um 1780, so Winter (Dialog und Dialogroman, S. 89), lässt sich eine zunehmende Geringschätzung ›bloßen Erzählens‹ beobachten. Parallel zur Abkehr vom auktorialen und der Hinwendung zu mittelbaren, personalen oder neutralen Darbietungsformen in der Dichtung zeigt sich »in der philosophischen, insbesondere popularphilosophischen Literatur eine Wendung von der systematisch-deduktiven Darstellung zur induktiven Methode [...], die zur Beliebtheit von Brief und Dialog auch in ihr führt«. Jean-Jacques Rousseau: Lettres de deux amans, habitans d’une petite ville au pied des Alpes. Amsterdam 1761. Auf dem Schmutztitel der Ausgabe hieß es: Julie, ou la nouvelle Héloïse. Ab der 4. Auflage firmierte der Briefroman unter dem Titel: La Nouvelle Héloïse, ou Lettres de deux amans, habitans d’une petite ville au pied des Alpes. Paris 1764. Vgl. Voss: Erzählprobleme des Briefromans, S. 13–16, 41f. »Der letzte von Wielands großen Romanen, der Briefroman Aristipp (1800/01),« stehe, so Voss, »in dieser Umgebung der Jahrhundertwende isoliert und fast fremdartig« da. Den Grund der Gattungswahl sieht Voss unabhängig von der allgemeinen gattungspoetologischen Entwicklung »in Wielands eigener Entwicklung als Erzähler« (ebd., S. 16). Rf.: Romanen-Literatur. In: Allgemeine Literatur-Zeitung. Nr. 103. Montags, den 22. April 1805, Sp. 153–159. Nr. 104. Montags, den 22. April 1805, Sp. 161–165. Nr. 105. Dienstags, den 23. April 1805, Sp. 169–173. Nr. 106. Mittwochs, den 24. April 1805, Sp. 177– 184. Nr. 238. Donnerstags, den 5. September 1805, Sp. 481–488. Nr. 239. Freytags, den 6. September 1805, Sp. 489–492. Hier Nr. 103, Sp. 153.

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Jubilatemesse 276 neue Romane.17 Die Romankonjunktur sowie die von den Zeitgenossen positiv beurteilte jüngste Kulturentwicklung legten den Gedanken nahe, dass die Romanproduktion einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung Deutschlands hat: »schwerlich ist ein Zweig der Literatur in so naher Berührung mit der Cultur der Nation, als eben dieser«, so der anonyme Verfasser des Beitrages zur Romanen-Literatur in der Allgemeinen Literatur-Zeitung.18 »Die Empfänglichkeit eines Zeitalters für eine gewisse Gattung von Romanen«, schreibt er weiter, »giebt Aufschlüsse über den Geist dieses Zeitalters«. Jenen Geist des Zeitalters zu charakterisieren und die ihn verändernden Umstände zu erforschen, sei Aufgabe des Literarhistorikers, zumal in der gegenwärtigen »ästhetische[n] Krisis«, die ein Widerschein der Krise sei, »in welcher Deutschland sich befindet«.19 Die eigentliche »Romanenperiode in unserer Literatur und Cultur« lässt der Rezensent mit Goethes Leiden des jungen Werthers anheben; denn Wielands Agathon, der erste »classische[] Original-Roman« der Deutschen,20 habe seinerzeit noch nicht auf das ganze Publikum zu wirken vermocht. Dafür sei er zu sehr im ›gehaltenen philosophischen Geiste‹ verfasst. Was diesem versagt blieb, sei jenem vergönnt gewesen. Goethe habe es vermocht, das große Publikum mit einer Liebesgeschichte in »Schwärmerey« zu versetzen. Der ästhetischen Güte des Werks seien einige Zeitumstände unterstützend zu Hilfe gekommen: Die Exzentrizität und die Konflikte des Goetheschen Helden spiegelten den Kampf des Zeitalters, den der Natur gegen die »bestehenden Formen«,21 kongenial wider. Beides, die Zeitumstände und das Genie Goethes, markierten den Beginn der Romangattung in Deutschland. Und die vergangenen 30 Jahre, so der Rezensent im Jahre 1805, bestätigten die Koinzidenz von Romangattungsentwicklung und »Verwandlungen der Nation«,22 Was sich mit der Goetheschen Liebesgeschichte des Werther ankündigte, schien sich fortan zu erfüllen: In der Entwicklung der Liebe von der niederen, bloß tierischen, zur höheren des Herzens und der Einbildungskraft etwa23 dokumentiere sich zugleich die fortschreitende Veredelung des »Geist[es] der gesammten geselligen Verhältnisse«.24 Die Romane seien gleichsam »Documente ihrer [i. e. der Zeit] Sittlichkeit«.

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Ebd. Hochgerechnet auf drei Jahre entspricht das etwa 1500 Neuerscheinungen. Ebd. Ebd. Ebd., Sp. 154. Ebd., Sp. 156. Ebd. Vgl. ebd., Sp. 159: »Von der Zeit an, wo die Kleinmeister tiefgebeugt, bleich und hohlwangig, mit einer Thräne im Auge und einem Seufzer auf der Lippe ehrfurchtsvoll vor ihren Tyranninnen schmachteten, bis jetzt, wo sie mit struppigem Haar, dem großen Prügel unterm Arm, der Brille auf der Nase, steif und gerade wie ein Flügelmann vor die Dame treten, und als Herrn der Schöpfung auf sie niederblicken; wie viele Veränderungen, und was giebt uns mehr Auskunft über sie, als die Romane!« Ebd.

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Und wie in sittlicher: so können sie in vielen andern Hinsichten zu Documenten dienen. Sie zeugen nicht nur von dem Zustand der ästhetischen Bildung, sondern auch was im Intellectuellen, was im Politischen jedesmal an der Tagesordnung war, erkennt man darin 25 wieder.

Wenn dem aber so ist, dass die Beliebtheit bestimmter Gattungen beim Publikum Rückschlüsse auf den Zeitgeist erlaubt, so lässt sich umgekehrt auch danach fragen, ob und inwieweit der Geist der Zeit einen Romanautor dazu habe bewegen können, sich auf eine bestimmte Romangattung festzulegen.26 Und weiter lässt sich dann auch fragen, welche Gattungsspezifika es sind, die die eine Gattung unter bestimmten Bedingungen besonders empfehlen, andere hingegen ausschließen. Drei Entwicklungstendenzen, so der anonyme Referent in der renommierten Allgemeinen Literatur-Zeitung, hätten das Aufleben der Romangattung im allgemeinen Ende des 18. Jahrhunderts begünstigt: (1) die Tendenz zur Natürlichkeit, (2) die Tendenz zur sittlichen Vervollkommnung und (3) die Tendenz zum Extrem. Alle drei – verstanden als Signaturen des Zeitalters um 1800 – haben sich in der Wahl der Gattung geltend gemacht, so die Arbeitshypothese. Dem wird nun im Einzelnen an Wielands Aristipp und einige seiner Zeitgenossen nachzugehen sein. Jene drei Entwicklungstendenzen sekundierten in je unterschiedlicher Weise bestimmten Romangattungen. Im Rückblick auf das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts entdeckt der Autor der kenntnisreichen Sammelbesprechung der Romanen-Literatur zehn Phasen der Gattungsentwicklung, die er in erster Linie stofflich-stilistisch bestimmt sieht: die empfindsame27 (1), die komische28 (2), die psychologische29 (3), die Passions-30 (4), die Ritter-31 (5), die Geisterseher-, Geister-, Zauber-32 (6), die geheime Ordens- und Hofkabalenperiode33 (7), die 25 26

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Ebd. »[…], so geziemt es einem Schriftsteller der gelesen seyn will, sich nach dem Geschmack und Bedürfniß des Publikums zu fügen.« (Wieland an Georg Joachim Göschen (Oßmannstedt, 17. Dezember 1802). In: Wielands Briefwechsel. Bd. 16.1 (Juli 1802 – Dezember 1805). Bearb. v. Siegfried Scheibe. Berlin 1997, S. 80). Johann Martin Miller: Siegwart. Eine Klostergeschichte (1776). Johann Karl August Musäus: Physiognomische Reisen (1778/79). Johann Gottwerth Müller: Der Ring, eine komische Geschichte (1777). August Gottlieb Meißner: Skizzen (1778–96) und Erzählungen und Dialogen (1781–89). Christian Heinrich Spieß: Biographien der Wahnsinnigen (1795/96). Johann Friedrich Ernst Albrecht: Neue Biographien der Selbstmörder (1788/89). Christian Gotthilf Salzmann: Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend (1783– 88). August Friedrich von Kotzebue: Die Leiden der Ortenbergischen Familie (1785/88). Josef Marius von Babo: Schauspiele. Erster Band (1793). Veit Weber: Sagen der Vorzeit (1788). Friedrich Schiller: Der Geisterseher. Eine interessante Geschichte aus den Papieren des Grafen von O** (1787–89). Johann Heinrich Daniel Zschokke: Die schwarzen Brüder. Eine abentheuerliche Geschichte (1791–93); Die sieben Teufelsproben. Eine ehrwürdige Legende für Katholiken und Protestanten. Aus der alten Handschrift eines französischen Klosters (1794). Carl Gott-

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häusliche34 (8), die Musterkarten-35 (9), und die Räuber-, Diebes- und Gaunerperiode36 (10). Nicht immer seien es herausragende Werke gewesen, die solche Moden entfacht hätten, wie die Schar der Referenzautoren erkennen lasse: »[D]iese Funken hätten nicht zünden können, wenn nicht der Zunder in der Zeit bereit lag, und äußere Umstände hinzukamen, ihn anzufachen.«37 Der noch vorherrschende »väterliche Pedantismus und die christlichen Werte mütterlicherseits hätten verhindert«, fährt der Rezensent fort, »daß die mit dem Wertherfieber einhergehende Naturalisierung der Liebe weiter voranschritt«. Die ›natürlichere‹ Liebe fand vielmehr in Siegwarts Tränen ihre Kompensation und religiöse Überformung (1). Auf diese von Klopstock mitgeformte religiöse Liebe hätten die Zeitgenossen dann mit Komik reagiert: Die frömmelnde Liebesschwärmerei wurde gleichsam »zu Tode gelacht«38 (2). Ursächlich für die sich darin ausdrückende neue Einstellung sei insbesondere der von Frankreich aus nach Deutschland einwirkende Materialismus eines Voltaire, Helvetius u. a. gewesen. Jener habe hier in die physiologische bzw. mechanische Psychologie, »die alles Übersinnliche auf Nervenschwingung zu reduciren wußte«,39 eingemündet. Sittliche Schwächen und Verfehlungen seien nun psychophysiologisch als Charakteristika des ›schwachen‹ Menschen interpretiert worden: »Bald waren nun alle Fehler und Schwächen mit einem Firniß von Edelmuth überzogen, man hörte viel von edeln Räubern, edeln Mordbrennern, edeln Blutschändern, edeln Freudenmädchen«40 (3). Der neuen anthropologischen Ausrichtung entsprechend seien die Fehler und Schwächen des Menschen als Leidensgeschichten in Familienbildern thematisiert worden (4). Als Kennzeichen der fortwirkenden Aufklärung mit ihrem entschiedenen Drang zur Natürlichkeit habe im Gegenzug zur schwärmerischen Empfindsamkeit eine männliche, ritterliche Tugenden betonende Tendenz Raum gegriffen: »Damals mußte man, um zu gefallen, durchaus ein alter Deutscher seyn«41 (5). Neben der Aufklärungstendenz habe der irrationale, ins Übersinnliche ausgreifende Zug weiter

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lob Cramer: Leben und Meinungen, auch seltsamliche Abentheuer Erasmus Schleichers, eines reisenden Mechanikus (1789–91); Der deutsche Alcibiades (1791); Leben und Meinungen auch seltsamliche Abentheuer Paul Ysops, eines reducirten Hofnarren (1792/93). Gotthelf Wilhelm Christoph Starke: Gemälde aus dem häuslichen Leben (1793–98). August Heinrich Julius Lafontaine: Die Gewalt der Liebe in Erzählungen (1791–94), Klara du Plessis und Klairant. Eine Familiengeschichte Französischer Emigrirten (1795), Die Familie von Halden (1797), Familiengeschichten (1797–1805). Wilhelmine Karoline von Wobeser: Elisa oder das Weib wie es seyn sollte (1795). Christian August Vulpius: Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann. Eine romantische Geschichte unseres Jahrhunderts in 3 Theilen oder 9 Büchern (1799); Fernando Ferrandino. Fortsetzung der Geschichte des Räuber-Hauptmanns Rinaldini (1800/01). Rf., Romanen-Literatur (1805), Sp. 161. Ebd., Sp. 162. Ebd. Ebd. Ebd., Sp. 163.

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fortgewirkt: »Magnetiseurs, Monddoctoren, Wunderwannen, Geisterbeschwörer, Jesuitenriecher und Geheimniskrämer« allerorten ließen Schillers Geisterseher im Publikum zu einem »Funke[n] in einer Pulvertonne«42 werden (6). Mit dem Ausbruch der Französischen Revolution habe die skizzierte Veränderung von Denkart und Sitten eine grundlegend neue Ausrichtung erfahren: Man suchte sich in Romanen die revolutionären Ereignisse durch höfische Kabalen ausgelöst zu erklären. Die sog. Ordensromane seien ein Beleg der von der Furcht vor jakobinischen Verhältnissen genährten Diffamierungs- und Denunzierungswelle in Deutschland (7). In Reaktion auf die politischen Unruhen sei nun ein Hang ins Private zum Tragen gekommen (8). Erst Kants Philosophie habe »das Zeitalter aus seiner entehrenden moralischen und religiösen Schlafsucht« gerissen.43 Dem erwachenden, materialistischen Tendenzen entgegenwirkenden Idealismus hätten einige Romane mit lebensfernen Darstellungen tugendhafter Protagonisten entsprochen (9). Die in den Koalitionskriegen erodierenden sozialen Verhältnisse seien nun ebenfalls in Romanen thematisiert worden: Fortan handelten viele von »Räuber[n], Banditen und Lazzaroni’s«44 (10). – Damit habe er, so der zeitgenössische Rezensent, die Gattungsentwicklung des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts, die bis an die ›romantische Periode‹ heranreicht, in stofflich-stilistischer Hinsicht skizziert. Zu den ›romantischen Schriftstellern‹ rechnet er Friedrich Maximilian Klinger mit dem Dialogroman Der Weltmann und der Dichter (1798)45 und Christoph Martin Wieland mit dem »als Gegenstück«46 zum Aristipp ebenfalls in Oßmannstedt verfassten Briefroman Krates und Hipparchia. Ein Seitenstück zu Menander und Glycerion. Zum Neujahrs-Geschenk auf 1805.47 Für die zeitgenössischen Betrachter erschien Wielands Aristipp danach in einer krisenhaften, von tiefgreifenden geistigen und sozialen Turbulenzen geprägten Zeit. Bevor es darum gehen wird, Wielands Intentionen bei der Gattungswahl in Beziehung zu setzen zu solchen Umbruchsphänomenen, insbeson42 43 44 45

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Ebd. Ebd., Sp. 164. Ebd. Vgl. ebd., Sp. 180: »Die äußere Form ist ganz originell, Gespräch, aber nur zwischen zwey Personen. Mit immer steigendem Interesse für den Leser, das ihn wie in einen Zauberkreis bannt, erzählen diese sich ihre Begebenheiten. Erzählen? Nicht doch! Hier ist wahres Drama mit ächt platonisch dialogischer Kunst: denn alles wird vor unsern Augen. In meisterhaft angelegten Situationen zeigt, entwickelt und stellt sich dar der Charakter der Personen; nicht in Gemählden, in immer fortschreitender Handlung, wobey die so natürliche Fortleitung der Scenen die Erzählung nothwendig herbeyführt, nur als Mittel aber eines uns wichtig gewordenen Folgenden, wodurch sie schon wieder zu Handlung wird, und unsre Aufmerksamkeit in steter Spannung erhält« (ebd., Sp. 180). Ebd., Sp. 481. Wieland schreibt an Karl August Böttiger (Oßmannstedt, 6. Januar 1803). In: Wielands Briefwechsel, Bd. 16.1, S. 85: »daß ich […] mit einem neuen Werkchen, Menander und Glycerion genannt (eine Art von kleinem Roman in Briefen nach der Weise Aristipps) […] beynahe fertig bin«. Vgl. auch Wieland an Johann Friedrich Vieweg (Oßmannstedt, 6. Januar 1803). In: ebd., S. 87.

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dere in der Philosophie und Anthropologie, seien zunächst einige Worte zum Aristipp-Roman vorausgeschickt (2) und danach grundlegende Bedingungen und Funktionsweisen epistolarer Kommunikation im Reisebriefwechselroman besprochen (3). Im Anschluss daran werden Wielands Konzeption der Philosophie als Lebenskunst (4) und seine Vorstellungen von der Formierung epistolarer Geselligkeit in der Form des Dialogs als ein Modus gelingenden Lebens betrachtet48 (5). Abschließend wird von der Briefromangattung als ästhetischpoetologischer Konkretion der eklektizistisch verfassten Popularphilosophie zu reden sein (6). Doch vorweg einiges zum Aristipp-Roman.

2. Wielands Aristipp und einige seiner Zeitgenossen Wielands Briefroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen – ursprünglich sollte er Aristipp und seine Zeit. Eine Sammlung von Briefen an seine vertrauten Freunde und dieser an ihn49 betitelt werden – präsentiert sich als Geschichte der sokratischen Schulen, der akademischen Platons, der kynischen Antisthenes’ und der kyrenaischen Aristipps, und ihrer Stellung zueinander. Er erschien in der 1794 begonnenen Göschenausgabe von Wielands Sämmtlichen Werken 1800/01 als Bände 33 bis 36. Die Sämmtlichen Werke hatte Wieland mit einem Vorbericht eröffnet, der die jüngere Generation der zeitgenössischen Dichter aufs heftigste brüskierte. Wieland schrieb, er habe seine Schriftstellerlaufbahn begonnen, als »eben die Morgenröthe unsrer Litteratur vor der aufgehenden Sonne zu schwinden anfing; und er beschließt sie – wie es scheint, mit ihrem Untergange.« Knapp zwei Jahrzehnte später starb Wieland, nicht ohne noch seine 39-bändige Ausgabe in vier unterschiedlichen Formaten vollendet und den Neuen Teutschen Merkur, das Attische und das Neue Attische Museum herausgegeben sowie die opulente Übersetzung der Briefe Ciceros in Angriff genommen und eben auch jenen Aristipp verfasst zu haben, von dem es bei Arno Schmidt, einem unbeugsamen Proselyten der Aufklärung und enthusiastischen Wielandverehrer, heißt, er sei ein »unnachahmliches Großmosaik«: von mehreren Schauplätzen her empfängt der Leser jeden Brief selbst; in immer erneuerter Gegenwart; aus Kyrene und Athen spricht es zu ihm; schönste, kunstvoll sich entwickelnde Menschlichkeiten sind ins bedeutend Historische und Kulturgeschichtliche gewoben; [...]

48 49

Gespräche sind Wieland »Duodramas« (Christoph Martin Wieland: Hexameron von Rosenhain (1805). In: WSW 38, S. 307). Wieland an Karl August Böttiger (Oßmannstedt, 12. bis 14. Dezember 1799). In: Wielands Briefwechsel. Bd. 15.1 (Juli 1799 – Juni 1802). Bearb. v. Thomas Lindenberg u. Siegfried Scheibe. Berlin 2004, S. 112. Vgl. auch Wieland an Georg Joachim Göschen (Oßmannstedt, 24. Dezember 1799). In: ebd., S. 116.

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so auch der einzige Briefroman, den wir Deutschen besitzen, und mit Ehren vorzeigen 50 können[.]

Dennoch scheint der Roman seinerzeit nicht die Anzahl von Lesern gefunden zu haben, die sich Wieland gewünscht hätte. Seinem Kieler Schwiegersohn Reinhold gegenüber meint der Autor einmal, dass der Roman für Deutschland wohl zu früh oder zu spät, auf alle Fälle zu ungelegener Zeit gekommen sei: Unsre Litteratur, wie unsre Filosofie, hat eine fatale Revoluzions-Periode erreicht; diese wird aber, wie die französische vorüber gehen; das alte, was gut war, wird bleiben, und manches Neues, das auch gut ist, wird aus den Trümmern […] hervorgehen, das ohne diese Revoluzion nicht erschienen wäre. Aber es wird einen filosofischen u einen litterarischen Bonaparte bedürfen und wolle der Himmel daß diese so bald und unverhofft unter uns 51 auftreten möchten als der Militärisch-Politische unter den Gallofranken!

Es verdross Wieland sichtlich, dass der »schönste[n] Blüthe [s]eines Alters«, dem Aristipp, der durchschlagende Erfolg beim Publikum versagt blieb: »die leidige Politik und die naturphilosophische Hägsa [habe] der jetzigen Lesewelt alle Empfänglichkeit für ein Werk geraubt, das, mit griechischer Mischung und Reinheit gedichtet, auch so empfangen werden müßte«.52 Die beiden den Roman eröffnenden und prospektiv figurierenden Horazischen Motti sind typographisch unterschiedlich ausgezeichnet und lassen eine gestufte Wertigkeit erkennen. Das erste, das zweite vorbereitend, lautet wie folgt: Omnis Aristippum decuit color et status et res, | Tentatem majora fere, minoribus aequum. – Aristipp kleidete jede Farbe, jeder Stand, jedes Vermögen | ob er Höheres erstrebt etwa, ob gelassen gegenüber seiner gegenwärtigen Lage.53 Imperativisch reformuliert und in kursivierter Sperrung herausgehoben, 50 51 52

53

Arno Schmidt: Wieland oder die Prosaformen. In: A. S.: Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek. Karlsruhe 1958, S. 275. Wieland an Karl Leonhard Reinhold (Oßmannstedt, nach dem 3. Februar 1801). In: Wielands Briefwechsel, Bd. 15.1, S. 366. C. M. Wielands Leben. Neu bearb. v. J[ohann]. G[ottfried]. Gruber. Mit Einschluß vieler noch ungedruckter Briefe Wielands. Vierter Theil. VII., VIII. und IX. Buch. Leipzig 1828, S. 360f. Vgl. dass. auch in: Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar. Hg. v. Klaus Gerlach u. René Sternke. Berlin 2005 (AtV 1779), S. 277. Seinem Schwiegersohn Karl Leonhard Reinhold gegenüber spricht er allerdings von der »gute[n] Aufnahme der 4 ersten Theile«. (Vgl. Wieland an Karl Leonhard Reinhold (Oßmannstedt, 16./17. Oktober 1803). In: Wielands Briefwechsel, Bd. 16.1, S. 190: »Ob ich in dem bevorstehenden Winter wieder zu der Stimmung gelangen werde, die zu Fortsetzung und Vollendung meines Aristipps erforderlich ist, wird die Zeit lehren. Die gute Aufnahme der 4 ersten Theile sollte mich billig dazu aufmuntern. Sie ist ziemlich allgemein.« Hor. ep. 1,17,23f. Vgl. dazu: Klaus Manger: Sibi res non se rebus. Zum Anspruch von Wielands Aristipp. In: Sibi res non se rebus submittere. Festschrift für Klaus Manger zum 65. Geburtstag. Hg. v. Jutta Heinz, Dieter Martin, Hans-Peter Nowitzki. Heidelberg 2010 (Wieland-Studien 6), S. 123–134. – Wieland übersetzt wie folgt: »Was mir am Aristipp gefällt, ist daß / ihm jede Farbe, jedes Glück wohl anstand. / Arm oder reich, im netten Hofkleid oder / im schlechten Überrocke, blieb er immer / sich selber ähnlich, immer wie er war / gerade recht, doch so, daß auch nichts Bessers / für ihn zu gut war.« (In: Horazens

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schließt sich das dem ersten semantisch übergeordnete Motto an: Sibi res non se rebus submittere. – Sich die Dinge, nicht den Dingen sich unterwerfen.54 Das

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Briefe aus dem Lateinischen übersetzt und mit historischen Einleitungen und andern nöthigen Erläuterungen versehen von C. M. Wieland. Erster Theil. Neue, verbesserte Ausgabe. Leipzig 1790, S. 264). Hor. ep. 1,1,19. In Wielands Übersetzung der Horaz-Stelle »mihi res, non me rebus, submittere conor« heißt es: »statt mich selbst den Dingen / zu unterwerfen, seh’ ich wie ichs mache / sie unter mich zu kriegen« (ebd., S. 24). In der Anmerkung dazu hebt Wieland darauf ab, dass die »Philosophie, als die Kunst zu leben, [...] bey den Griechen gleich andern schönen Künsten behandelt [worden sei]; sie hatte ihre Meister und Schulen wie die Bildnerey und Mahlerey« (ebd., S. 39). Alle Schul- und Sektenbildungen seien von Sokrates ausgegangen, der selbst keine Schule unterhielt. Darin habe ihm Aristipp geglichen, der »sich zwar sein eignes System [machte], aber [...] so wenig als Sokrates für das Haupt einer Schule gehalten werden« kann (ebd.). Eine philosophische Sekte machte erst Epikur aus der aristippischen Philosophie, indem er »den Egoismus des Aristippus« zu läutern suchte: »Die Epikurische empfahl sich durch die größte Freyheit im Denken, durch den offnen Krieg den sie dem Aberglauben, dem Fanatismus und allen Vorurtheilen ankündigte, und durch eine Sittenlehre, die den meisten einleuchten mußte, weil sie, mit dem wenigsten Aufwand von Anstrengung, ein heitres und schmerzenfreyes Leben versprach« (ebd., S. 39f.). Aristipps Philosophie der Lebenskunst gründet in der Überzeugung, wonach der Mensch »nichts gewisser [weiß], als daß er ist; denn dieß fühlt er; und eben dieß Gefühl sagt ihm alle Augenblicke, was er ist, nämlich ein Wesen, dessen Existenz eine Kette von angenehmen oder unangenehmen Empfindungen ist, die ihm entweder von aussenher kommen, oder die es sich selbst macht« (ebd., S. 48). Die Erkenntnis der bewusstseinsunabhängigen »Dinge für sich selbst« [IJઁਥțIJંࢫ] bleibe ihm auf immer versagt. Deshalb solle er sich »auch nichts darum kümmern« (ebd., S. 48). Stattdessen solle er sich auf das, was er »gewiß weiß«, konzentrieren, und das sind seine Empfindungen [ȝંȞĮ IJ੹ ʌ੺ࢡȘ țĮIJĮȜȘʌIJ੺ (fr. 210 nach Sext. Emp. adv. math. 7,11, 210) – allein die Empfindungen sind erfaßbar]. Denn indem er solche Dinge, die ihm Unlust verschaffen (ijİȣțIJ੺), meidet und solche, die in ihm Lust hervorrufen, sucht (ĮੂȡİIJ੹), besteht die Kunst des Lebens. Es ist letztlich eine Frage der willentlichen und rationalen Einstellung. Der Mensch ist vermögend, Meister über sich selbst, seine »Einbildungen und Leidenschaften« zu sein (ebd., S. 48). Indem er das Unabänderliche geduldig hinnimmt und es »von der angenehmsten oder doch leidlichen Seite« aufzufassen sucht, vermag der in der Lebenskunst Bewanderte »sich frey und unabhängig [zu erhalten], während daß die ganze Welt sein ist. Er verschafft sich jedes Gute um den wohlfeilsten Preis, denn er giebt nichts Bessers darum hin; wird es ihm entzogen, so betrachtet er’s als etwas das nie sein war. Kurz, er kann Alles genießen, Alles entbehren, sich in Alles schicken; und die Dinge ausser ihm werden nie Herr über ihn, sondern er ist und bleibt Herr über sie. – – Das ist’s, denke ich, worin Horaz dem Aristipp ähnlich zu werden suchte, worin er ihm wirklich sehr ähnlich war, und was er durch sein et mihi res, non me rebus, sagen wollte« (ebd., S. 49). Wieland sieht die kynische (resp. stoische) und die aristippisch(-epikurische) Philosophie von »einerley Grundsatz« ausgehen: auf nichts Entbehrliches Wert zu legen (ebd., S. 49). Beide unterscheiden sich aber grundsätzlich, indem diese sich »den ewigen und nothwendigen Gesetzen der Natur der Dinge« vollkommen unterwirft: Die Freiheit bestünde demzufolge darin, das zu wollen, was man soll. Die aristippisch(-epikurische) Philosophie hingegen beharre auf dem ›freien Willen‹ und die dem Menschen damit gegebene Möglichkeit, sich die Dinge zu unterwerfen. Darauf hat es die aristippische »Philosophie, als [...] Heilkunst der Seele« abgesehen (ebd., S. 51). In Aristipps Biographie glaubte Wieland ein vollendetes Exempel praktisch bewährter Lebenskunst gefunden zu haben: Nicht die theoretischen Grundsätze – die man wohl systematisieren und lernen könne – seien es, die ihn

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erste verweist auf den Titelhelden als ein historisch beglaubigtes Beispiel eines Menschen, der auf bewundernswerte und exemplarische Weise zu leben verstanden hat. Das zweite Motto extrahiert aus der aristippischen Lebensweise eine Lebenskunstmaxime und führt, insofern die Motti als Leseanleitungen bzw. hermeneutische Fluchtpunkte aufgefasst werden, die das Kommende rahmen, ins Zentrum des Romans. Leitmotivisch verweisen sie, den Bezug auf die Titelfigur erneuernd und in die Polyphonie der Briefsammlung55 einführend, auf den epistolaren Fluchtpunkt: die Kunst zu leben. Jedes Buch beschließt eine Anmerkungsrubrik mit arabisch gezählten Endnoten. Glossare sind nur dem jeweils ersten der beiden Buchpaare zugewiesen; das erste und umfänglichste findet sich am Schluss des ersten Buchs, das zweite, die »Fortsetzung des erklärenden Verzeichnisses der in diesen Briefen vorkommenden Griechischen Wörter«, am Ende des dritten. Erwachsen ist der Aristipp aus der Idee, Sokratische Denkwürdigkeiten zu verfassen. Dabei hat Wieland Xenophons Erinnerungen an Sokrates (Apomnemoneumata Sokrátus), die sog. Memorabilien in vier Büchern, vor Augen sowie Jean-Jacques Barthélemys Reise des jüngern Anarchis durch Griechenland in der Übersetzung von Johann Erich Biester (1789–1793), aber auch die Sokratischen Briefe aus dem ersten vor- oder nachchristlichen Jahrhundert, ein Briefroman, in dem nahezu alle Sokratiker miteinander Briefe wechseln. Wieland sieht sich mit dem Aristipp inmitten der deutschen und europäischen Aufklärungstradition und führt damit nicht nur den mit der Renaissance begonnenen Aufbruch des frühneuzeitlichen Humanismus fort, sondern stellt sich damit

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vor allen auszeichneten, sondern »die Geschicklichkeit, der gute Anstand«, womit er ihnen Leben einzuhauchen verstand, machten ihn einzigartig und eröffneten ihm im Umgang mit anderen fast unbeschränkte Möglichkeiten: »Aristipp durfte alles sagen, alles thun, weil er immer alles auf die rechte Art und zur rechten Zeit sagte und that, immer im Moment fühlte was sich schickte oder nicht schickte, wie weit er gehen konnte, und was Genug war – ein Gefühl, das in der Kunst des Lebens, so gut wie in allen andern Künsten, den wahren Meister auszeichnet. [...] [D]aher war er überall einheimisch, überall in seinem eignen Elemente; wickelte sich aus jeder Schwierigkeit, machte jeden Vortheil gelten, fand immer an jedem Dinge die gute oder wenigstens die leidliche Seite, wurde durch keinen Verlust muthlos, durch kein Glück übermüthig, kurz, daher war das ǼȤȦȠȣțİȤȠȝĮȚ [Diog. Laert. 2,75] der Schlüssel zu seinem ganzen Leben« (ebd., S. 271f.). Wieland konzedierte, dass es nicht jedem möglich sei, sein Leben aristippisch zu gestalten. Das war – und das räumt er unumwunden ein – individuell und damit einmalig. Nicht zuletzt die Umstände ermöglichten ihm seine hedonistische Lebensweise: »Aristipp wußte es z. B. immer so zu machen, daß es ihm nie an Geld fehlte, ohne daß das Geld jemals mehr in seinen Augen galt, als das was er darum haben konnte« (ebd., S. 49). Der ›authentische‹ aristippische Egoismus erfährt in Wielands Darstellung insofern eine Korrektur, als er ihm einen sympathetischen Trieb mitgab, der altruistische Beweggründe und damit allererst Soziabilität im vollen Wortsinne ermöglichte. Vgl. Jutta Heinz: Narrative Kulturkonzepte. Wielands Aristipp und Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre. Heidelberg 2006 (Ereignis Weimar – Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen 13), S. 167 und S. 173.

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dezidiert in die abendländische Aufklärungstradition – und das inhaltlich wie formal. Der Reisebriefwechselroman bringt insgesamt 145 zwischen dem Kyrenaiker Aristipp, einem Schüler des Sokrates, und einigen seiner Zeitgenossen gewechselte Briefe, herausgegeben von Wieland. Der Briefwechsel hebt 404 v. Chr. an – Aristipp ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt – und dauert bis in dessen 56. Lebensjahr fort, währt demnach etwa 31 Jahre. Aristipp beginnt seine Bildungsreise in seiner Geburtsstadt Kyrene. Die nordafrikanische Küstenstadt ist der Hauptort der Kyrenaika, der einzigen griechischen Kolonie in Nordafrika und Kreuzungspunkt vieler Karawanenstraßen. Sie ist damit der südlichste Vorposten der griechischen Kultur. Von dort bringt ihn ein Schiff zunächst nach Kreta und von da aus nach Korinth, einer bedeutenden Handelsstadt an der Landenge zwischen Griechenland und seiner großen südlichen Halbinsel (Peloponnes). Hier verläuft nicht nur der nord-südliche Landverkehr; Kreta ist zugleich ein zentraler Umschlagplatz für den Seeverkehr. Danach bereist Aristipp den westlichen Peloponnes (Olympia), den auf der nördlich des Peloponnes gelegenen griechischen Halbinsel Attika gelegenen Stadtstaat Athen und die zwischen Peloponnes und Attika gelegene Insel Ägina. Von dort aus besucht er die Kykladen in der südlichen Ägäis. Dann wendet er sich nach Nordosten und besieht zunächst die größte vor der kleinasiatischen Westküste gelegene Insel Lesbos, danach die noch weiter nördlich liegende ägäische Insel Lemnos. Diese Reise findet nach fünf Monaten mit der Rückkehr nach Athen ihr Ende. Gemeinsam mit Hippias bereist er dann die an der Ostküste Siziliens gelegene griechische Stadt Syrakus, den reichsten und mächtigsten aller griechischen Stadtstaaten. Auf der Durchreise durch Korinth verliebt er sich in Lais. Der im Sterben liegende Vater lässt Aristipp nach Kyrene, seinen Ausgangspunkt, zurückkehren. Nach mehr als vier Jahren sieht er schließlich seine Geburtsstadt wieder. – Einstweilen bleibt sein Briefwechsel auf heimische Korrespondenten begrenzt. Nach seinem Athen-Aufenthalt, dem er u. a. eine Vielzahl weiterer Bekanntschaften verdankt, weitet sich seine Korrespondenz auf diese aus. Dynamisierend wirkt sich vor allem sein Verhältnis zu Lais aus. Als auch sie sich auf Reisen begibt, wird der Briefwechsel noch abwechslungsreicher. Nun erreichen ihn neben Nachrichten aus Kyrene auch solche aus Korinth und Athen.56

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Im ersten Buch ist Lais die einzige Korrespondentin, die ebenfalls auf Reisen ist (Athen – Eleusis – Korinth). Sie wechselt mit Aristipp insgesamt 14 Briefe. Alle Briefe des ersten Bandes gehen von Aristipp aus oder sind an ihn adressiert. Darüber hinaus ist ein hier nicht gebotener Brief von Aristipp aus Mytilene an Lais in Athen in I/22 bezeugt. Am Schluss des zweiten Buches kommt Aristipps Bildungsreise an ihr Ende: »Ich habe nun alle Griechischen Pflanzstädte an den Küsten Asiens und den größten Theil des von den Söhnen Hellens bevölkerten festen Landes und der dazu gehörigen Inseln besucht, und nach einer mehr als achtjährigen Abwesenheit sehn’ ich mich in die schöne Athenä zurück« (Brief II/45, S. 307f.). Mehr als acht Jahre liegen zwischen I/34 und II/45. Vgl. auch Brief II/46, S. 311: »Nach Vollendung meines großen Kreislaufs durch alle Hellenischen Kolonien in

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Im zweiten Buch führt ihn seine Reise vom nordafrikanischen Kyrene erneut auf die zwischen Peloponnes und Attika gelegene Insel Ägina, bevor er sich an die kleinasiatische Küste übersetzen lässt: Hier besucht er zuerst die größte unter den griechischen Städten Kleinasiens, die an der Westküste gelegene Hafenstadt Milet. Danach wendet er sich nordwärts, um die ionische Stadt Ephesos, das Zentralheiligtum des Panionischen Bundes im kleinasiatischen Gebirgszug Mykale nördlich von Priene, und die griechische Insel Samos zu besichtigen. Nach einem kleinen Abstecher nach Milet, wo er erneut mit Lais zusammentrifft, wendet er sich wieder nach Süden. Er stattet der vor der Südwestküste Kleinasiens gelegenen griechischen Insel Rhodos einen Besuch ab, um anschließend Zypern und danach die nördliche Ägäis-Küste entlang die hellenischen Kolonien an der Nordwestküste des Schwarzen Meeres aufzusuchen. Von dort kehrt er über Thrakien, Makedonien, Thessalien und Phokis wieder nach Mittelgriechenland zurück. Den letzten seiner Briefe schreibt er in der unweit Athens gelegenen böotischen Stadt Tanagra. – Im Laufe der Reise erreichen ihn vornehmlich Nachrichten aus Mittelgriechenland (Ägina), Kleinasien (Sardes, Milet, Samos), aus Sizilien (Syrakus) und aus seiner Heimatstadt.57 Der Briefwechsel des dritten Buches setzt in Athen ein, wo Aristipp sich inzwischen niedergelassen hat, um seine Philosophie vorlebend zu lehren, und führt nach Stippvisiten auf Ägina, wo er Lais nach drei Jahren wiedersieht, und in Korinth schließlich wieder ins heimatliche Kyrene, wo seiner eine nicht unbeträchtliche Erbschaft harrt. – Die zweite Hälfte des Briefwechsels im dritten Buch bringt in erster Linie Briefe, die zwischen dem nordafrikanischen Kyrene und dem mittelgriechischen Korinth hin- und hergehen. Aristipps Wanderleben ist inzwischen ans Ende gekommen. Von nun an schreibt er nur noch aus Kyrene, wo er Kleonidas’ Schwester geheiratet hat. Von Lais hat er sich, in die Mannesjahre gekommen, innerlich gelöst. Als ein charakterlich Gereifter und Gebildeter, bei dem man um Urteile und Ratschlüsse nachsucht, genießt er weithin großes Ansehen und Vertrauen. Der Briefroman gleitet nun in eine eher reflexive Phase. Aus Athen erreicht Aristipp mit drei Briefen zunächst vergleichsweise wenig Post. Sie sind es dann aber vor allem, die auf das vierte Buch hinlenken.58

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Asien, habe ich noch einige Monate zugebracht, die südliche Küste von Thrazien und Macedonien, und die Landschaft Thessalien und Focis zu besuchen, und befinde mich jetzt, bis meine künftige Wohnung in Athen eingerichtet ist, bey einem Freunde zu Tanagra.« Im zweiten Buch finden sich vier Reisende unter Aristipps Korrespondenten. Sie nehmen folgende Reiserouten: Lais: Ägina – Milet – Sardes – Korinth; Eurybates: Ägina – Athen; Hippias: Syrakus – Samos – Milet; Kleonidas: Milet – Samos – Milet – Kyrene. Lais und Aristipp schreiben einander insgesamt 24 Briefe. Weitere Briefe hat Lais aus Sardes an Aristipp nach Rhodos gesandt (nach II/34), die hier ebensowenig geboten werden wie Aristipps Brief von Rhodos an Lais nach Korinth (nach II/42). Auch in diesem Buch gehen noch alle Briefe von Aristipp aus oder sind an ihn adressiert. Im dritten Buch sind die Reisenden unter den Korrespondenten nicht weniger zahlreich; aber ihre Reisen sind nun deutlich kleinräumiger. Sie nehmen folgende Reiserouten: Kleo-

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Die überwiegende Mehrzahl der Briefe des vierten Buches kommt aus Athen. Nur drei stammen aus dem benachbarten Korinth. Die Korrespondenz läuft jetzt ausschließlich zwischen Nordafrika und Mittelgriechenland. Aristipp wird von Eurybates gebeten, dessen Sohn Lysanias aufzunehmen und zu unterrichten. Als dieser in Kyrene eintrifft, hat er Platons Politeia im Gepäck, zu der sich Eurybates Aristipps Urteil ausbittet. Allein etwa 60 % des vierten Buches räumt Wieland den fünf der Politeia-Kritik gewidmeten Briefen ein.59 Die dramatische Mitte des Briefwechselromans ist, blickt man auf die Intensität der gewechselten Schreiben, mit dem Ende des zweiten Buchs erreicht. Gehen im ersten Buch insgesamt 43 Briefe hin und her, so sind es im zweiten 47, im dritten aber nur noch 36 und im vierten lediglich 18. Erzählt werden so etwa drei Lebensjahrzehnte Aristipps, beginnend in seiner Jugend, als er sich auf eine Bildungsreise begibt, um Welt- und Menschenkenntnis zu erwerben, zuerst als Schüler Sokrates’ in Athen, dann als Freund von Hippias, später als Platons Antipode, endend schließlich im Mannesalter und verheiratet. Seiner kränkelnden Frau zur Erholung ist er im Begriff, mit ihr eine Reise nach Rhodos zu unternehmen. Hier bricht der ›Fragment‹ gebliebene Roman ab.60 Die zeitliche und räumliche Weite zieht eine formale wie stoffliche Vielfalt nach sich: In den Briefen wird Historisches, Politisches und Philosophisches

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nidas: Kyrene – Ägina – Kyrene; Lais: Korinth – Ägina – Korinth; Learchus: Ägina – Korinth; Antipater: Athen – Korinth. Lais und Aristipp schreiben einander insgesamt zwölf Briefe. Sie hat, Aristipps Beispiel folgend, in Begleitung des thessalischen Zauberers Dioxippus Megara, Delphi, Larissa, Tempe u. a. Städte bereist (III/14–15). Zu den Korrespondenten, die nicht reisen, gehören Hippias (Milet), Eurybates (Athen) und Diogenes (Korinth). Sie wechseln untereinander und mit Aristipp insgesamt sieben Briefe. Sieben Briefe haben Aristipp weder zum Verfasser noch zum Empfänger (III/13, III/21–26); sie gehen aber stets von dort aus, wo sich Aristipp gerade aufhält. Einen Brief hat Aristipp gemeinsam mit Kleonidas verfasst (III/36). In III/27 wird ein Auszug eines Briefes Speusippus an Aristipp geboten, der in der Sammlung selbst fehlt. Unter den Korrespondenten des vierten Buches findet sich kein Reisender mehr. Die überwiegende Mehrzahl der Briefe hat Athen zum Zielort (15). Drei Briefe haben Aristipp weder zum Verfasser noch zum Empfänger (IV/13, IV/16–17); sie nehmen aber ihren Ausgang von Kyrene, Aristipps Aufenthaltsort. Zwischen dem letzten Brief des dritten und dem ersten des vierten Buches liegen zwei Jahre. Vgl. Wieland an Georg Joachim Göschen (Oßmannstedt, 23. Juli 1801). In: Wielands Briefwechsel, Bd. 15.1, S. 454: »Nun, da ich mit dem 4ten bald zu Ende bin, findet sichs, daß ich mit dem 4ten zwar allerdings aufhören kann, aber daß die Ausführung meines Plans den Aristipp bis nahe an seinen Tod fortzuführen, wenigstens noch einen starken Band erfodern würde. Im vierten kann ich ihn nicht weiter bringen als bis zum Tode seiner Kleone und zu seinem Entschluß, Cyrene wieder zu verlassen und sich zu seinem Freund Filistus nach Syrakus zu begeben. Ich bin aber gleichwohl entschlossen, es vor der Hand bey den vier Bänden zu lassen […]. Dabey muß und wird es einsweilen bleiben. Denn wenn ich auch vor Fertigung dieses 5ten Bandes aus der Welt gienge, so blieben die 4 Bände doch ein für sich bestehendes Werk, und Niemand hätte sich zu beklagen, daß es unvollständig sey.« Vgl. dazu auch Jan Philipp Reemtsma: Das Buch vom Ich. Christoph Martin Wielands ›Aristipp und einige seiner Zeitgenossen‹. Zürich 1993, S. 282–284.

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thematisch, darüber hinaus auch Literarisches, Musikalisches und Bildkünstlerisches besprochen. Dieser Mannigfaltigkeit vermag die Gattung des Briefromans mit der ihr eignenden Inhaltsindifferenz aufs Trefflichste zu entsprechen.61 Der Briefroman führt in jene Zeitenwende hinein, die das Ende der griechischen Aufklärung und den Beginn der philosophischen Schulenbildung umgreift. Diese wird von Wieland als ein Abschließen der Philosophie vor dem wirklichen Leben gesehen: Die sokratische Lebensphilosophie verkommt in seinen Augen zur Scholastik, zur Berufsphilosophie exklusiver, sich esoterisch gerierender Kreise. Jene versprechen stets aufs Neue, den ›Stein der Weisen‹ gefunden zu haben und damit ans Ende des Denkens gekommen und jedwedem skeptischen Einwurf überhoben zu sein. Für Wieland jedoch ist Philosophie ein Anthropinon schlechthin; es umfasst unabschließbar Welt- und Menschenkenntnis. Die »Freiheit zu philosophiren«, schreibt er einmal, müsse »sich auf alle erstrecken, welche von Gegenständen, die innerhalb des menschlichen Gesichtskreises liegen, ihre Meinungen mit Bescheidenheit sagen, wie seltsam und widersinnig auch immer ihre Meinung scheinen mag«.62 Wieland setzt mit dem sokratischen Dialog auf eine dezidiert exoterische Philosophie, die pragmatisch und skeptisch zugleich ist, im Wissen um die Begrenztheit des dem Menschen Wissbaren, getragen von der Einsicht, dass absolute Gewissheiten nicht zu erlangen und entsprechende Geltungsansprüche von vornherein suspekt und obsolet sind.63 Nicht zuletzt angesichts der Fallibilität eines jeden sei es Pflicht, den Austausch mit anderen zu suchen, sich im Für und Wider der Meinungen gemeinsam ins bislang Ungewisse vorzutasten, dabei stets der Möglichkeit gewärtig zu sein, sich doch wieder geirrt, abermals einen Holzweg betreten zu haben. Mit der Einsicht in die Unmöglichkeit absoluten, axiomatisch darstellbaren, deduktiv bewährbaren Wissens verabschiedet er programmatisch das sogenannte Systemdenken;64 im Gegenzug avanciert der Eklektizismus zur philosophischen und poetischen Aneignungs- und Darstellungsform von Wissens- und Erfahrungsräumen par excellence.

61 62

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Vgl. Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 260. So in den Beyträge[n] zur Geheimen Geschichte der Menschheit (1770). In: Wielands Werke. Oßmannstedter Ausgabe. Bd. 9.1. Hg. v. Hans-Peter Nowitzki. Berlin, New York 2008, S. 107–305, hier S. 221. Vgl. Bernhard Budde: Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa. Tübingen 2000 (Studien zur deutschen Literatur 155), S. 446–457. Brief IV/7, S. 175f.

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3. Bedingungen und Funktionsweisen epistolarer Kommunikation im Reisebriefwechselroman Die in den Briefen gebotenen Ich-Erzählungen sind in der vom Herausgeber besorgten Sammlung aufeinander bezogen und chronologisch gereiht;65 sie folgen der Logik des Gesprächs und bilden so ein organisches Ganzes. Die Frage, wie er in den Besitz der Briefe gekommen ist, lässt der fiktive Herausgeber der Sammlung offen. Die Vielzahl der Briefschreiber und die variierenden Schreiber-Adressaten-Relationen generieren Multiperspektivität und Polyphonie, die gleichsam als Spiegel einer idealen Kommunikationsgesellschaft figurieren.66 Die mit der Multiperspektivität einhergehende Relativierung des jeweils Ausgesagten erfährt durch die Anmerkungen67 und Glossare des Herausgebers eine neuerliche Forcierung. Die Wieland-typische auktoriale Erzählweise ist im Aristipp nur noch rudimentär vorhanden: Es gibt weder eine Vorrede noch eine Einführung. Der Leser wird auf diese Weise unmittelbar ins Geschehen hineingezogen, ist sofort medias in res und direkt daran beteiligt. Der Aristipp weist durch die minimalistische Herausgeberfiktion einen reduzierten Erzählrahmen auf. Gleichwohl gibt es neben den fiktiven Teilnehmerreden mit dem fiktiven »Herausgeber Wieland« noch eine allwissende Instanz, die sichtet, ordnet, aussondert, kürzt, die Briefwechselsammlung betitelt, Motti voranstellt und im nachgesetzten Register Namen sowie Sachverhalte aufklärt, kurz: den Roman arrangiert.68 Der Leser bleibt dem Herausgeber in der Weise überantwortet, insofern ihm nicht zuletzt die Auslassungen und ganz unter-

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Briefsammlungen lassen sich chronologisch, stofflich, aber auch nach ihren jeweiligen Schreibern oder/und Empfängern, also monologisch oder dialogisch ordnen. Wieland zieht in seinen Roman eine chronologische Reihung ein. Vgl. Budde: Aufklärung als Dialog, S. 554; kritisch zu Thomés u. a. ahistorischer Indienstnahme von Jürgen Habermas’ und Karl-Otto Apels ›Diskurstheorie der Wahrheit‹ und ›Ethik der idealen Kommunikationsgemeinschaft‹ für die Interpretation des Aristipp und einige seiner Zeitgenossen in Horst Thomé: Utopische Diskurse. Thesen zu Wielands Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. In: Modern Language Notes 99 (1984), S. 503–521, vgl. Budde, Aufklärung als Dialog, S. 446–457. – Zur Unterscheidung zwischen bloß ›polylogischen‹ und tatsächlich ›polyphonen‹ Briefromanen vgl. Monika Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Héloise und Laclos’ Liaisons Dangereuses. Tübingen 1990 (Romanica Monacensia 34), S. 34–36. Vgl. auch Wilhelm Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: DVjs 45 (1971), S. 80–116, hier S. 95. So schreibt der »Herausgeber Wieland« in der für ihn typischen Manier auktorialen Erzählens in einer Anmerkung einmal: »Ich sehe also weder wie dieser Knoten, wofern unsre Aristippische Briefsammlung echt seyn sollte, aufgelöset, noch wie der Urheber derselben, falls sie erdichtet ist, von dem Vorwurf einer groben Unwissenheit oder Nachlässigkeit frey gesprochen werden könnte.« (Aristipp I, S. 372, Anm. 16). Vgl. Holger Korthals: Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur. Berlin 2003 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 6), S. 111.

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drückten Briefe vorenthalten bleiben. Nur mit Einschränkungen lässt sich daher von einem »allwissenden Leser« des Aristipp-Romans sprechen.69 Die Briefe sind vom Herausgeber buchweise arabisch nummeriert. Der Briefrahmen ist nur noch ansatzweise erkennbar: Genannt werden der Schreiber und der Adressat. Es gibt keine abgesetzten Datierungen, Empfangsvermerke oder explizite Anrede-, Gruß-70 und Schlussformeln.71 Bisweilen birgt der letzte Absatz rudimentäre Abschiedsformeln.72 Solcherart im Brief übliche Angaben erscheinen nur in reduzierter Form in die Briefeingänge und -schlüsse eingelegt. Die dergestalt integrierten, zuweilen stereotyp wirkenden Anredenominative geben als possessivpronominal und/oder adjektivisch, gelegentlich auch diminutiv charakterisierte Eigennamen die Art und Weise des jeweiligen Verhältnisses der Briefpartner zu erkennen. Als Beziehungsindikatoren erlauben sie Rückschlüsse auf die Vertrautheit, emotionale Bindung und gegenseitige Wertschätzung der Korrespondierenden. Je weiter die formalen Elemente des Briefes zurückgedrängt erscheinen, desto mehr verliert die epistolare Gattung an Epizität. Im Gegenzug gewinnt sie an Dramatizität: Je organischer die Bestandteile des Briefwechselromans, die Einzelbriefe, auf diese Weise miteinander verzahnt werden, desto mehr erwächst dem Roman als Ganzes daraus Dialogizität. Die sich phänotypisch monologisch gebenden, funktional aber dialogisch intendierten Briefe werden im Zuge der Dramatisierung ihrer epistolarischen Form weitgehend entkleidet. Denn erst durch die dramatisierende Zurückdrängung des Epistolarischen lassen sich die Monologe dialogisch komponieren und damit die Briefsammlung zum Briefwechselroman formen.73 Der von Wieland vorgenommenen ›Dramatisie-

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Vgl. Klaus Manger: Kommentar. In: Christoph Martin Wieland: Werke in zwölf Bänden. Hg. v. Gonthier Louis-Fink [u. a.]. Bd. 4: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt a. M. 1988 (Bibliothek deutscher Klassiker 28), S. 1019–1526, hier S. 1173. Anreden: »lieber Demokles« (I/12), »Lieber« (I/16), »lieber Aristipp« (I/28, III/9, 15, 18, 20, 36, IV/9, 10, 15), »liebe Musarion« (III/26), »liebster Eurybates« (III/27), »lieber Antipater« (III/31), »liebe Lais« (III/35), »lieber Speusipp« (IV/11), »liebe Mutter« (IV/13), »liebste Freundin« (III/25), »schöne Freundin« (III/29), »mein junger Freund« (I/18), »Freund Antipater« (IV/17), »guter Antisthenes« (I/19), »Freund Aristipp« (III/7), »mein weiser Freund« (I/22), »schöne Halbgöttin« (I/24), »schöne Lais« (I/41), »wunderlicher Mensch« (I/25), »meine Laiska« (I/35), »edler Learch« (I/42, IV/14), »edler Eurybates« (III/12, IV/12), »bester Kleonidas« (III/11). Schlussformeln: »dein Aristipp« (I/9), »mein Freund!« (I/14), »Lebe wohl« (I/11, II/5, III/4, 15, 21, 27, 31, IV/17), »seyd ohne Sorgen« (I/17), »indessen gehabe dich wohl!« (I/39), »Indessen lebe wohl« (I/41), »Lebet wohl!« (II/10, III/36). Ausgenommen sind lediglich die Briefe II/32 und 42, denen ein »L. W.« (»Lebe Wohl«), nachgesetzt ist. Vgl. z. B. die Briefe II/10 und 11. Weitergehende, die Brieffiktion zurückdrängende oder unterlaufende auktoriale Eingriffe unterbleiben jedoch. Eine einzige Fußnote erlaubt sich der »Herausgeber Wieland« im Brieftext: Dort vermerkt er, dass ein angeführter Brief Aristipps an Lais in die »gegenwärtige[] Sammlung« nicht aufgenommen worden ist (Brief III/5, S. 45). Eine zweite Fußnote bringt er zur Anmerkung 1 im IV. Buch (Aristipp IV, S. 383).

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rung‹ der äußeren Briefform korreliert eine der inneren. Die Briefe sind nur in wenigen Fällen ausschließlich für den genannten Adressaten bestimmt,74 gehörte es doch zum guten Ton (da es eine der Bedingungen epistolarer Geselligkeit ist), empfangene Briefe anderen zur Kenntnis zu geben und zum Anlass zu nehmen, das darin Mitgeteilte im geselligen Kreise zu besprechen.75 Oft begleiten die Briefe Beilagen und Beigaben: Werkabschriften,76 ja zuweilen ganze Bücher, in Abschriften oder original, sowie Gastgeschenke; Geld,77 Gemälde78 und Schmuck79 sind ebenso darunter zu finden wie Briefe Dritter oder Auszüge davon.80 In solchen Fällen wird die Chronologie der Briefe vom Herausgeber unterlaufen, um die gebotene Briefschreiberperspektive zu wahren. Die Briefwechselchronologie wird dabei aber insofern weiterhin streng befolgt, als die Handlungslogik des Briefwechselromans nicht nur aus der absoluten Datierung der verschickten und empfangenen Briefe resultiert, sondern sich auch von der konkreten Schreibsituation und -intention her bestimmt. Es verletzt weder Chronologie noch Handlungslogik, dass Diogenes zunächst Lais’ Brief (III/23) erhält und danach erst an Antipater (III/22) schreibt und jenen beilegt. Zur Brieffiktion gehört es, den von Diogenes zuerst geschriebenen Brief und im Anschluss daran den von Lais zuvor erhaltenen Brief zu präsentieren. Die Handlungslogik des Briefromans zeigt sich nicht an eine irgendwie geartete objektive Faktizität eines allumfassenden Handlungsverlaufes gebunden, sondern als Prisma einer Vielzahl unterschiedlicher subjektiver Wahrnehmungsund Handlungsweisen, die epistolarisch konkret aufscheinen, bevor sie von anderen Briefen wieder überblendet werden. Die vom Autor weniger episch-, denn dramatisch-epistolar konzipierte Handlungslogik verlangt anstelle einer absoluten nach einer solch relativen, vom Schreiber her bestimmten Chronologie.81 Dem Leser des Briefwechsels wird eine Vielfalt von Briefarten unterbreitet: Trostbriefe,82 Klagebriefe,83 Abschiedsbriefe,84 Lehrbriefe,85 Freundschafts74 75 76

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Brief IV/17 etwa schließt mit der ausdrücklichen Bitte, davon keine Abschrift anzufertigen und anderen auszuhändigen. Briefe III/20, III/21, IV/4–8 und IV/14 »in der Urschrift« (S. 338). Brief II/11 und II/17: Platons Phaidon. Brief III/1: Aristophanes’ Weibersenat. Brief III/28: Xenophons Kyropädie. Brief IV/2: Platons Politeia. III/17: das milesische Märchen von Amor und Psyche. Brief III/18 und III/19. Brief III/16 und III/17. Brief III/26 und III/34. Brief II/10 in II/11, II/17 in II/18, II/18 in II/19, III/23 in III/22, III/35 in III/34. Brief III/11 sind die Briefe III/9 (Lais an Aristipp) und III/12 (Aristipp an Eurybates) abschriftlich beigeschlossen, dem Brief III/19 ist der Brief III/18 beigelegt; Brief III/23 ist dem vorangegangenen Brief III/22 abschriftlich mitgegeben. Vgl. Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung, S. 109ff. Brief II/6. Brief II/5. Brief II/10 und III/36. Brief II/26.

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briefe,86 Schwärmerische Liebesbriefe,87 Berichtsbriefe88 und Empfehlungsbriefe,89 Kunst- und philosophische sowie Einladungsbriefe, Denkschriften,90 Privat- und Geschäftsbriefe, Zirkulare, Tagebücher91 und Billette.92 In ihnen kommen die unterschiedlichsten Themen zur Sprache: politische Nachrichten,93 Träume,94 Persönliches und Privates wie Öffentliches. Verschiedenste literarische Genres finden in ihnen Platz: Sprichwörter, Anekdoten,95 Erzählungen, Gespräche,96 ja ganze Bücher97 und Rezensionen.98 Auch im Ton sind die Briefe äußerst variabel: Es wird mit- und übereinander gesprochen, diskutiert, gewitzelt, gemutmaßt und geurteilt, getrauert, geschmäht, geschwärmt und geliebt. Sokratische Ironie paart sich in ihnen mit aristophanischem Witz und lukianischem Spott:99 Lais schlägt oft einen geistreich-koketten, Musarion einen innigen, Hippias einen spöttelnden, Kleonidas einen ernsthaften, Antipater und Lysander einen begeisterten und Aristipp einen überlegen-maßvollen Ton an.100 Im Briefwechsel wie im Symposion werden urbane Geselligkeit gelehrt, gelernt und praktiziert, moralische und intellektuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten geschult und Haltungen wie Toleranz und Offenheit ausgeprägt und eingeübt. Grundlegend hierfür ist der gute Ton als das kommunikative a priori. Die Schicklichkeit und Vorsicht, wie sie der gute Ton gebietet, spiegelt sich in Wielands Sprachstil wider. Eine Vielzahl von Konjunktiven, modalen und konzessiven Nebensätzen sorgt dafür, dass der Dialog nicht verletztend und anmaßend wird. Die Politur des urbanen Lebens manifestiert sich in der Geschliffenheit des Dialogs.101 86 87 88 89

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Brief II/28. Brief I/35 (Aristipp an Lais). Brief III/12, S. 152–193: Symposiumsbericht. Brief III/4, IV/2, 18. Diese wurden von den Empfohlenen dem Adressaten persönlich überbracht. Einmal präsentiert sich auch der Titelheld Aristipp als Überbringer eines Briefs (III/21; Antipater an Diogenes). Brief I/29. Briefe I/6–7. Aristipp schildert sein Verhältnis zu Sokrates während seiner Studienzeit in Athen brieflich in Tagebuchform. Brief II/24 a. b. Brief III/7, S. 87 (Hippias »reichliche[] politische[ ] Ergießung«). Brief III/28. Brief III/7, S. 79–81 (zwei von Hippias kolportierte Anekdoten über Platons ›göttliche‹ Abkunft). Brief II/46: Im Brief integriert finden sich die »schriftliche Erzählung« des Eremiten und Atheisten Diagoras von Melos (S. 314–369) über Religion und Aberglauben, in die wiederum zwei Dialoge (Aristipps mit Diagoras; S. 323–326, und Diagoras’ mit Demokrit; S. 340–357) eingeflochten sind. Brief II/43, S. 288: »Ich [Lais] sehe zu spät, daß ich dir ein Buch statt eines Briefes geschrieben habe.« Briefe IV/4–8: Rezension der platonischen Politeia. Vgl. Manger: Aristipp-Kommentar, S. 1141f. Marga Barthel: Das ›Gespräch‹ bei Wieland. Untersuchungen über Wesen und Form seiner Dichtung. Limburg a. d. Lahn 1939, S. 62. Winter: Dialog und Dialogroman, S. 76.

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Zentrum der epistolaren Geselligkeit im Roman ist der Titelheld Aristipp. Von ihm her baut sich das Gespräch auf: 33 von insgesamt 43 Briefen des ersten Bandes entstammen Aristipps Feder; er ist der Sammelpunkt des polyphonen Gesprächs – von den 145 der von 19 Korrespondenten gewechselten Briefen sind 81 von Aristipp verfasst und 54 an ihn adressiert. Die übrigen zehn Briefe tauschen einige der Korrespondenten Aristipps untereinander, Diogenes, Musarion, Droso und Lysanias, die keinen direkten brieflichen Kontakt zu Aristipp unterhalten. Im Fortgang entwickelt sich aus dem einsinnigen, zunächst auf Kleonidas und Demokles beschränkte Gesprächsangebot ein Gespräch mehrerer. Allmählich treffen die Antworten ein und induzieren ein Klima epistolarer Geselligkeit, bis schließlich Gesprächspartner Aristipps ihrerseits miteinander ins Gespräch kommen und Briefe verfassen, die an Aristipp vorbeigehen. Auf diese Weise vermag es Wieland, im Briefroman gelingendes Leben im Modus glückender Kommunikation vorzuführen. Wieland knüpft mit seinem Briefwechselroman indes nicht nur an die literarisch-poetische Gattungstradition im engeren Sinne an, sondern macht sich darüber hinaus auch die Beliebtheit der pragmatischen Gattung zunutze: Man schätzte den Brief im 17. und 18. Jahrhundert vor allem als Dokument des individuellen Lebensvollzuges. In ihm spiegeln sich, einem Topos der Epistolartheorie zufolge, nicht nur die ›Seele‹ des Briefschreibers,102 sondern auch die soziale Rolle von Verfasser und Adressat sowie deren Verhältnis zueinander und zu jenen Personen, die in den Briefen nur erwähnt, gelegentlich aber auch gerade nicht genannt werden. Der Brief ist als Kommunikationsform weder in formaler noch in stilistischer noch in inhaltlicher Hinsicht festgelegt. Er vermag gleichsam alles in sich aufzunehmen, und das auf unterschiedlichste Weise: Alltägliches und Weltbegebenheiten, Privates und Öffentliches, Faktisches und Fiktionales, Wichtiges und Lapidares, Erfahrenes und Spekulatives – nichts widersteht der epistolaren Einkleidung. Die Brauchbarkeit des Briefes als empirisches Dokument im Rahmen einer induktiv-empiristischen Wissenschafts- und Philosophieauffassung liegt damit ebenso auf der Hand wie seine Tauglichkeit als Medium der Diskussion von Themen, die der psychischen und pragmatischen Anthropologie zugehören.103 Darüber hinaus kommen Briefe der dialogisch verfassten Bewusstseinsstruktur des Menschen entgegen. Sie werden von sprachlich vermittelter Soziabilität getragen. Epistolare Dialogizität bedarf der Empathie, der Imagination bzw. Vergegenwärtigung des Adressaten. Jene werden bei der Abfassung des Briefs gedanklich ins Hier und Jetzt zitiert, damit 102

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Vgl. Wolfgang G. Müller: Der Brief als Spiegel der Seele. Zur Geschichte eines Topos der Epistolartheorie von der Antike bis Samuel Richardson. In: Antike und Abendland 26 (1980), S. 138–157; Karl August Neuhausen: Der Brief als ›Spiegel der Seele‹ bei Erasmus. In: Wolfenbütteler Renaissance Mitteilungen 19 (1986), S. 97–110. Diese Tatsache erklärt die bekannte Affinität der Aufklärung zu kleinen, pragmatischen Gattungen wie dem Epigramm, dem Aphorismus, dem Essay und eben auch dem Brief. Gleiches lässt sich hinsichtlich des Feuilletons konstatieren. Vgl. hierzu den Beitrag von Hildegard Kernmayer in diesem Band.

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sich der Briefschreiber im imaginierten Angesicht des Gegenübers in passabler Weise zu entwerfen vermag. Der Brief ist als schriftlicher Text zunächst monologische Selbstaussage; er stellt, was die Epistolartheorie immer schon wusste, die Hälfte eines Gesprächs dar.104 Erst im Verein mit einem Antwortbrief bildet sich ein gesprächsförmiger Gedankenaustausch aus. Deshalb ist der Briefwechselroman auch kein unmittelbarer Dialog; fehlt ihm doch das Präsentische der dramatischen Form. Er bleibt eben wesentlich diagraphein, nicht dialegein, Schreib-, nicht Sprechhandlung. Wieland hat die von ihm von Anbeginn seiner Schriftstellerlaufbahn geschätzte unmittelbare Dialogform um die Dimension der Mittelbarkeit zu erweitern gesucht. Und in der Briefform scheint er sie gefunden zu haben: Die Mittelbarkeit des Briefs bezieht sich nicht nur auf die Art der Kommunikation, also die Präsentation des Berichteten, sondern auch auf die Präsentation des Berichtenden, des Briefschreibers, dessen Person gleichsam hinter dem Berichteten verborgen liegt, sich nur zum Teil im Geschriebenen adäquat darstellt. Schon frühzeitig hatte Wieland die Potentiale des Dialogischen auszuloten begonnen. Bereits im Akademieplan von 1758 empfiehlt er den Dialog der »Leichtigkeit und Anmuth wegen«, wodurch »der Wahrheit am leichtesten Zugang zu unseren Seelen« verschafft werde.105 Philosophie und Dichtung ließen sich auf die Weise ungezwungen miteinander vermitteln. Die über das Monologische hinausweisende Tendenz auf einen Dialogpartner zu, die Gerichtetheit (Intentionalität) ist ebenfalls konstitutiv für die paradigmatische Briefsituation.106 Mehr noch: Zum Briefwechsel gehört die wechselseitige Intentionalität. Mit jedem abgefassten und verschickten Brief stellt sich im Roman aufs Neue die Frage, welche Entwicklung die Kommunikation nehmen wird, ob der jeweilige Briefwechsel aufrechterhalten bleibt oder nicht. Als Distanz überbrückendes Medium ist der Brief an das Faktum der Distanz gebunden;107 schwindet sie, wird der Brief funktionslos. Diese Distanz kann unterschiedlicher Natur sein: räumlicher, zeitlicher,108 epistemischer, emotiona-

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Zum Gesprächstopos vgl. Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000 (Literatur und Leben N. F. 54) S. 26f., 88ff. u. ö. Christoph Martin Wieland: Plan einer Academie zu Bildung des Verstandes und des Herzens junger Leute. In: Wielands gesammelte Schriften. Abt. 1: Werke. Bd. 4: Prosaische Jugendwerke. Hg. v. Fritz Homeyer u. Hugo Bieber. Berlin 1916, S. 183–206, hier S. 199. Vgl. Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung , S. 96, Anm. 65. Vgl. Lothar Müller: Herzblut und Maskenspiel. Über die empfindsame Seele, den Briefroman und das Papier. In: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Hg. v. Gerd Jüttemann, Michael Sonntag, Christoph Wulf. Weinheim 1991, S. 267–290, v. a. S. 281–283. Vgl. Brief III/2, S. 27 (Aristipp an Lais): »Wie nahe mir auch zuweilen meine Einbildungskraft unser Wiedersehen vor die Augen rückt, so kann ich mir doch nicht verbergen, daß bis dahin noch fünf ganze Monate mit schweren bleyernen Füßen vorüber kriechen werden. Wie betrügen wir einen so langen zwischen uns liegenden Zeitraum? Deine Briefe allein, beste Laiska, könnten ihn verkürzen, indem sie ihn in eben so viele kleinere theilten, durch welche ich, in stetem Wechsel von Erwartung und Genuß, wie von einer kleinen Insel zur andern, über diesen langweiligen Sund hinüber schwimmen würde.«

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ler, kultureller, sozialer etc. Mit dem ›literarischen‹ Brief werden derlei Distanzphänomene in unterschiedlicher Weise aufgerufen und instrumentalisiert, weiß doch der Autor nur zu gut, wie es um das Erkalten und Erwärmen von Beziehungen über größere und kleinere Distanzen hinweg bestellt ist. Er kennt auch die Möglichkeit, mit Briefen Entfernungen allererst zu generieren, Befremden hervorzurufen, Entfremden zu beschleunigen. Unterricht, Ränkespiel, Kabale und Liebesbeweis, Freundschaftsbezeugung, Intimität und Illoyalität – es scheint beinahe nichts zu geben, das durch Briefe nicht kolportiert und ins Werk gesetzt werden könnte. Briefe sind nicht zuletzt auch geeignet, Entfernung und drohende Entfremdung anzuzeigen. Anthropologische Neugier wird zum Movens des Briefwechselromans ebenso wie zu dem seiner Rezeption: Stets sind Er oder Sie, die Briefeschreiber, auf der Suche nach Gleichgesinnten, mit denen sie ins Gespräch kommen könnten. Dafür gehen sie auf Reisen: »Mit allem dem finde ich doch nöthig, dass man von Zeit zu Zeit den Ort ändere, und Menschen suche, denen Wir und die Uns etwas Neues sind.«109 Wieland bietet die Gattung somit die Möglichkeit, ›distanzierte Dialogizität‹ zu inszenieren. Solcherart im Briefwechselroman realisierte ›distanzierte Dialogizität‹ ist nicht anzusehen als eine im Vergleich zum unmittelbaren Gespräch defizitäre bzw. sekundäre Dialogizität, sondern als eine Möglichkeit kontrollierterer, besonnenerer Kommunikation. Zwar vermag der Brief im Unterschied zur dramatischen Form des Gesprächs die Distanz zwischen Briefschreiber und -empfänger auf gewisse Weise zu überbrücken, aufheben kann er sie aber nicht. Die Absenz des anderen bleibt ein Faktum. Epistolare Präsenz kann als Vergegenwärtigung angestrebt, nicht jedoch erreicht werden; die Gegenwärtigkeit des Dramatischen bleibt dem Brief versagt. Anstelle dialogischer Simultaneität begleitet den Brief dialogische Sukzessivität, woraus Reflexion ermöglichender Abstand erwächst.110 Und Wieland ist gerade an dieser ganzen Bandbreite von Möglichkeiten des Briefgenres gelegen; er sucht, pointiert gesagt, die poetologische Differenz von epischer Distanz und dramatischer Unmittelbarkeit, die der Gattung des Briefromans innewohnt,111 ganz auszuschöpfen. 109 110

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Brief III/3, S. 36f. (Lais an Aristipp). Vgl. Karin Zimmermann: Die polyfunktionale Bedeutung dialogischer Sprechformen um 1800. Exemplarische Analysen: Rahel Varnhagen, Bettine von Arnim, Karoline von Günderrode. Frankfurt a. M. [u. a.] 1992 (Europäische Hochschulschriften I/1302), S. 27f. Vgl. zudem Wieland an Bodmer und Breitinger (Zürich, 5. Juli 1755): »So oft ich an Freunde schreibe, so segne ich bei mir selbst das Andenken des Menschenfreunds, der die Kunst erfunden hat, unsre flüchtigen Ideen auf einem Stück Papier zu fixiren und durch dieses Mittel mit den Abwesenden zu reden. Da mir meine Umstände das grosse Vergnügen, persönlich bei Ihnen zu seyn, nicht haben erlauben wollen, so ist es mir angenehm, Ihnen wenigstens auf diese weise gegenwärtig zu werden, und Ihre freundschaftlichen Hertzen einige Minuten mit mir zu beschäftigen.« In: Wielands Briefwechsel. Bd. 1 (1. Juni 1750 – 2. Juni 1760). Bearb. v. Hans Werner Seiffert. Berlin 1963, S. 237–240, hier S. 237. Vgl. Janet Gurkin Altman: Epistolarity. Approaches to a Form. Columbus (Ohio) 1982, v. a. S. 122–129: The Pivotal and Impossible Present.

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Spezifisch für die Gattung des Briefromans ist nicht nur die Mittelbarkeit, sondern auch die Diskontinuität der Vergegenwärtigung, indem jeder Brief mit einem neuen Bericht aufwartet.112 Beides steht quer zur Dramatisierung des Berichteten. Damit erweist sich der Briefroman als eine episch-dialogische Mischform.113 Er changiert, worauf oben schon hingewiesen worden ist, zwischen dramatischem Gesprächs- und epischem Roman. Jene damit gegebene Dialektik von Mittel- und Unmittelbarkeit ist es u. a., die Wieland die Gattung des Briefwechselromans so interessant machte. Spontane Lebendigkeit und reflektierte Behutsamkeit treffen hier auf natürliche Weise aufeinander und befruchten sich gegenseitig, nutzen und unterhalten gleichermaßen, ganz so, wie es die Aufklärungspoetik anvisierte. In der Gattung ›Briefroman‹ finden gleichsam zwei Möglichkeiten von Weltprojektionen zueinander: die performative und die narrative. Während die eine eher unmittelbar-subjektiv ist, ist die andere mehr abgeleitet-objektiv. Beider Projektionsformen bedarf der Mensch, so Wielands Einsicht, gleichermaßen. Keine sollte gegen die andere ausgespielt werden. Sobald jedoch die Mittelbarkeit im Briefroman gänzlich ins Unmittelbare ausgreifen, die zeiträumliche Distanz wegfallen, Schriftlichkeit zur Mündlichkeit würde, wäre der Briefroman an sein Ende gekommen. Denn er bedarf essentiell der epischen resp. epistolarischen Retardation des Dramatischen. Die gesellige Konversation wird dadurch zu einer Art ›höherer‹, zu reflektierterer Geselligkeit. Der Briefwechselroman zielt demnach nicht auf Vergegenwärtigung schlechthin, sondern auf eine medial generierte ›distanzierte Vergegenwärtigung‹. Dieses sich auf den ersten Blick paradox ausnehmende Strukturprinzip des Briefwechselromans findet in Aristipps ›Philosophie des vernünftigen Genusses‹ als dem Kern seiner Lebenskunst eine inhaltliche Entsprechung. Die Diskontinuität des Erzählens im Briefwechselroman geht einher mit der radikalen Suspension des auktorialen Erzählens zugunsten mehrerer Erzählerfiguren. Auf diese Weise wird die literarische Gattung ›Brief‹ als eine genuin mittelbare auf das unmittelbare dramatische Genre ausgerichtet. Das Briefwech-

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So schon Voss: Erzählprobleme des Briefromans, S. 7 u. 44. Vgl. auch Altman: Epistolarity, S. 169: »Epistolary narrative is by definition fragmented narrative. Discontinuity is built into the very blank space that makes of each letter a footprint rather than a path. […] In constructing the mosaic of their narrative, epistolary novelists choose constantly between the discontinuity inherent in the letter form and the creation of a compensatory continuity. « Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. In: J. P.: Sämtliche Werke. 1. Abt. Bd. 5. Hg. v. Norbert Miller. München 1963, S. 7–514, hier S. 248f.: »Der Roman in Briefen, welche nur entweder längere Monologen oder längere Dialogen sind, grenzet in die dramatische Form hinein, ja wie in Werthers Leiden, in die lyrische.« Und weiter: »Ungeachtet aller Stufen-Willkür muß doch der Roman zwischen den beiden Brennpunkten des poetischen Langkreises (Ellipse) entweder dem Epos oder dem Drama näher laufen und kommen« (ebd., S. 251). Zum Briefroman als episch-dialogischer Mischform vgl. Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung, S. 89–105, desgl. Monika Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung, S. 25ff., sowie Korthals: Zwischen Drama und Erzählung, S. 162–182, insb. S. 176.

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selromanprojekt ist gewissermaßen das Gegenstück zum auktorialen Erzählen; hier episches Erzählen à la Fielding, dort epistolare Dramaturgie à la Richardson. In der epistolaren Polyperspektivität114 kommt die empirisch-genetische und psychologisierende Tendenz des Zeitalters zum Ausdruck. Der Leser ist im Lesen der Briefe Miterlebender und als Betrachter unterschiedlichster Sichtweisen zugleich synthetisierender Beurteiler des Ganzen.115 Die Beurteilung ist ihm 114 115

Vgl. dazu Karl Robert Mandelkow: Der deutsche Briefroman. Zum Problem der Polyperspektive im Epischen. In: Neophilologus 44 (1960), S. 200–208. Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung, S. 106–111. In der Verabsolutierung einer der beiden Momente, dem des Miterlebens nämlich und der daraus resultierenden Einfühlungsästhetik, liegt die Zuweisung des Briefromans zur ›Empfindsamkeit‹ beschlossen. Mit dem Hinweis auf das erforderliche »teilnehmende[] Sich-Identifizieren und Reagieren[]« des Lesers (S. 107) und dem Rückgriff auf die Affektenlehre der Rhetorik wird der Beitrag des Lesers auf sein Mitempfinden, d. h. seine Sinnlichkeit und deren Beherrschung im Rahmen der neuzeitlichen Affektenregulierung reduziert; die Inanspruchnahme der moralischen und intellektuellen Fähigkeiten wird nicht in gebührendem Maße in Rechnung gestellt, obwohl doch gerade das Zeitalter der Aufklärung – neben der Aufwertung der Sinnlichkeit – auch auf die Macht des richtigen Arguments setzte. Obgleich Voßkamp beide Aspekte betont, entgeht auch er nicht der tradierten Zuweisung der Gattung ›Briefroman‹ zur ›Empfindsamkeit‹, zu der sich parallel »Prinzipien bürgerlicher Empfindens- und Moralvorstellungen« und eine »bürgerliche Psychologie« herausgebildet hätten (S. 110–114). Er folgt darin Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968 (Literatur als Kunst). Dieser legt sich die Frage vor: »Warum tritt der fiktive Erzähler gerade in den Romanen des 18. Jahrhunderts erstmals und zugleich besonders auffallend hervor?« und sieht sich im Bemühen, darauf eine Antwort zu finden, genötigt, auf den zeitgenössischen Erlebnis- und Bewusstseinshintergrund zu rekurrieren, den er als ›Empfindsamkeit‹ bestimmt (S. 28–38). In seinem im Hinblick auf den ›empfindsamen Erzähler und Leser‹ sinnreich »Die vorgefertigten Köpfe« überschriebenen Einleitungskapitel entwickelt Miller ein anthropologisches, konkreter: deterministisch-physiologisches, auf dem Reiz-Reaktions-Schema fußendes Empfindsamkeitskonzept. Danach sei der Empfindende gleichsam »[e]ingesperrt in seine Veranlagung«, empfinden zu können und zu müssen, und verdammt zu einer »unendliche[n] Spiegelung seiner Reflexionen und seiner Empfindungen« (S. 36). Die aus dem unaufhaltsam fortschreitenden Wechselspiel von Einbildungskraft und Affekt resultierende »Rastlosigkeit« des Empfindsamen sehnt sich schließlich nach »dauernder Erfüllung« als Aufhebung der Rastlosigkeit in der »Gelassenheit« (S. 36f.). – ›Empfindsamkeit‹ ist in Millers Verständnis »ein physiologisches und anthropologisches Modell, das sowohl hinter dem geistigen wie hinter dem seelischen Kulturleben der Zeit verborgen liegt«, und das, so Miller weiter, »dieses Zeitalter [...] nur zu einem Teil intuitiv erkannte« und das er selbst sich zur Zeit noch außerstande sehe, auf seine Herkunft und Geschichte hin zu untersuchen (S. 37). Damit ist aber Millers ›Empfindsamer‹ gleichsam ›ungeprägte Münze‹: Er ist es, und nicht das 18. Jahrhundert, der, ohne es zu wissen, die aufklärerische Anthropologie mit ihrem Ideal des ›wohltemperierten Menschen‹ beleiht, das in einer Vielzahl von Anthropologien, angefangen von Thomasius über Wolff bis hin zu Platner, Wezel, Kant, Fries, Hillebrand u. a. thematisiert worden ist (vgl. S. 32f.; desgl. u. a. Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 25 [259]) sowie Hans-Peter Nowitzki: Anthropologie. In: Erleuchtung der Welt. Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften. Essays. Hg. v. Detlef Döring u. Cecilie Hollberg. Dresden 2009, S. 290–

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als Leser aufgegeben, nicht aber im Sinne der Objektivierung unterschiedlicher subjektiver Aussagen; er bekommt durch die Vielfalt der verschiedenen, mehr oder weniger divergierenden und konvergierenden Standpunkte vorgeführt, dass seine eigene, individuelle Sichtweise ebenfalls nur eine subjektive ist und sein kann. Jene Art epistolar evozierte epistemische Verunsicherung116 zeugt vom Zutrauen des Autors zu seinen Lesern. Es ist aber auch ein Ein- und Zugeständnis, dass es keine absoluten, unumstößlichen Gewissheiten gibt, die nur noch zu vermitteln wären. Jeder einzelne sieht sich Unwägbarkeiten des Lebens gegenüber, denen er sich gewachsen zeigen, die er zu beherrschen suchen muss, getreu dem dem Roman vorangestellten Motto, sich die Dinge, nicht sich den Dingen zu unterwerfen. Von Blanckenburg steht diesem selbstverantwortenden Lesen noch ablehnend gegenüber. Er beharrt auf dem Rollenbild des Dichters als eines vates bzw. Genies: »errathen wollen wir nicht; wir wollen vom Dichter lernen«.117 Die nachvollziehbare und einsichtsvolle Darstellung des den Roman kennzeichnenden Pragmatismus, also die genetische Darstellung der inneren und äußeren Kausalitäten, sei Aufgabe des Dichters und könne nicht dem Leser der einzelnen Briefe überantwortet werden, so von Blanckenburg weiter. Denn »wenn die Personen selbst den Roman schreiben, das ist, wenn er in Briefen geschrieben ist«, sei jener »Zusammenhang, mit Wahrscheinlichkeit nicht anschauend [zu] erhalten«, seien sie doch in ihrer Subjektivität befangen und nicht in der Lage, »in sich selbst zurück[zu]kehren, Wirkung und Ursach gegen einander ab[zu]wiegen, und das Wie bey dem Entstehn ihrer Begeben-

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297). Die von Miller angemahnte Weitung des Empfindsamkeitsbegriffes als Tendenzbegriff, der das gesamte 18. Jahrhundert umgreift, deckt sich mit der zeitlichen Ausdehnung des Aufklärungsbegriffes, in dem die Aufwertung der Sinnlichkeit ebenso wie die Selbstgesetzgebung der Vernunft ihren Platz haben. Das alles in Rechnung stellend, müsste Miller vom ›anthropologischen Erzähler‹ und vom ›anthropologischen Briefroman‹ sprechen, nicht aber von einem ›empfindsamen‹ resp. »eigentlichen Gefühlsroman« (Miller: Der empfindsame Erzähler, S. 189)! Christoph Martin Wieland: Fragmente von Beyträgen zum Gebrauch derer, die sie brauchen können oder wollen (1778). In: Wielands Werke. Oßmannstedter Ausgabe. Bd. 14.1. Hg. v. Peter-Henning Haischer, Hans-Peter Nowitzki u. Tina Hartmann. Berlin, Boston 2011, S. 80–85, hier S. 84: »Die Übereinstimmung eines Gefühls oder einer Vorstellung mit den allgemein anerkannten Grundwahrheiten der Vernunft ist eben so wenig als der Zusammenhang einer Vorstellung mit allen übrigen, welche die gegenwärtige innere Verfassung eines Menschen ausmachen, ein sicheres Merkmal der Wahrheit. Jene läßt uns weiter nichts als die Möglichkeit der Sache erkennen: und dieser kann eben sowohl bey der wahresten Vorstellung fehlen, als bey der täuschendesten zugegen seyn.« Und weiter schreibt er: »Die Wahrheit ist weder hier noch da – Sie ist [...] allenthalben; ihr Tempel ist die Natur, und wer nur fühlen, und seine Gefühle zu Gedanken erhöhen, und seine Gedanken in ein Ganzes zusammenfassen und ertönen lassen kann, ist ihr Priester, ihr Zeuge, ihr Organ. Keinem offenbart sie sich ganz; jeder sieht sie nur stückweise, nur von hinten, oder den Saum ihres Gewandes; aus einem andern Punkt; in einem andern Lichte; jeder vernimmt nur einige Laute ihres Göttermundes, keiner die nehmlichen –« (ebd., S. 87). Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort v. Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965 (SM 39), S. 276.

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heiten« in gehörigem Maße aufzuklären.118 Er plädiert deshalb für die auktorial vermittelte und damit abgesicherte Kommunikation dessen, was der Dichter über die metaphysisch-religiös beschirmte Welt lehren könne. Im Briefwechsel werden die unterschiedlichsten personalen Erzähler in einem Gespräch zusammengeführt. Die so entstehende multiperspektivische und polyphone Erzählsituation fordert vom Leser aktivere Teilnahme, insofern ihm nicht irgendein Standpunkt zu übernehmen nahegelegt wird, sondern als ein von ihm erst zu erarbeitender anerkannt werden muss. Damit ist er auf sich und sein Selbstdenken verwiesen.119 Shaftesbury, der zeitgenössische Referenzautor für die dialogische Dissoziation und Distanzierung120 als Methode der Selbsterkenntnis des Menschen, weist auf die durch das Denken als Selbstgespräch121 gegebenen Möglichkeiten hin, die er Autoren und Lesern gleichermaßen nahelegt: »By virtue of this soliloquy he becomes two distinct persons. He is pupil and preceptor. He teaches, and he learns.«122 Voraussetzung der aus Selbsterkenntnis erwachsenden Moral Graces bzw. der »sittliche[n] Liebenswürdigkeit«,123 wie es bei Wieland dann heißt, ist: »Divide your-self, or Be two!«124 118 119 120

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Ebd., S. 285. Zum impliziten Leser des Aristipps vgl. Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 168f., 177f. und S. 246f. Wieland verweist schon im Frühwerk häufig auf ihn, so z. B. im Vorbericht zum Gespräch des Socrates mit Timoclea, von der scheinbaren und wahren Schönheit (1758) und im Theages oder Unterredungen von Schönheit und Liebe. Ein Fragment (1758). In: Wielands gesammelte Schriften. Abt. 1: Werke. Bd. 2: Poetische Jugendwerke. Zweiter Teil. Hg. v. Fritz Homeyer. Berlin 1909, S. 263–277, hier S. 277, und ebd., S. 423–446, hier S. 424 und S. 432. Platon (Theaitetos 189e) definiert das ›Denken‹ wie folgt: »Eine Rede, welche die Seele bei sich selbst durchgeht über dasjenige was sie erforschen will. [...] [S]o schwebt sie mir vor, daß, so lange sie denkt, sie nichts anders tut als sich unterreden, indem sie sich selbst antwortet, bejaht und verneint. [...] Darum sage ich, das Vorstellen ist ein Reden, und die Vorstellung ist eine gesprochene Rede, nicht zu einem Andern und mit der Stimme, sondern stillschweigend zu sich selbst.« Zit. nach: Platons Werke von F[riedrich]. Schleiermacher. Zweiten Theiles Erster Band. Berlin 1818 [ND Berlin 1985], S. 190f. Anthony [Ashley Cooper], Earl of Shaftesbury: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. Vol. I. [s. l.] 1758, p. 108. Auch Wielands Periodenbau kann als eine Ausformung des Gespräches mit sich selbst angesehen werden. Die Perioden beschreiben seine Art zu denken, seine Weise, sich dem Problem zu nähern, es zu untersuchen und sich seiner zu vergewissern: »Die Art wie ich arbeite ist ohngefähr der Arbeit eines Zeichners ähnlich, der nur immer Linien und Striche hinkritzelt, immer mit seinem Brote wegwischt, immer zusetzt, und endlich doch etwas ganz leidliches hervorgehn läßt. So wie ich etwas aus mir selbst produzire, so schreibe ich gleich aufs Papir. Aber mein Gedanke bildet, u. formt sich erst, indem ich ihn drei, viermal u. noch öfter umkehre, ausstreiche, drehe, wende. Daher nichts fürchterlicher, als meine Brouillons.« (Böttiger: Literarische Zustände, S. 177f.) Selbst der Teutsche Merkur mit einer Fülle von Aufsätzen, die auf andere reagieren, sowie einer Vielzahl von Anmerkungen, Einführungen und Nachbemerkungen ist von einer solchen fortwährenden immanenten Dialogizität geprägt. Christoph Martin Wieland: Über Xenofons Gastmahl als Muster einer dialogisirten dramatischen Erzählung betrachet. In: Attisches Museum 4 (1802), 2, S. 99–124, hier S. 116. Er findet sie in ausgezeichneter Weise in Xenophons Gastmahl; sie seien »wie ein leiser lieb-

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Die vom Einzelnen ausgehende dialogisch verfasste Aufklärung und Kultivierung findet dann ihre Fortführung im Intersubjektiven als »reizende Philosophie«.125 Das jener konforme ›gesellige Gespräch‹ ist Resultat und Folge auch von Selbstgesprächen insofern, als die Selbsterkenntnis Grundlage jedweder Erkenntnis ist. Shaftesburys moral sense bzw. moral taste ist ein eingeborenes Prinzip, das auszubilden jedem Menschen aufgegeben ist. Seine Realisation zeige sich in der moral beauty. Im Gegensatz zu Shaftesbury, der noch von einer religiös-metaphysisch abgesicherten Teilhabe des Menschen an der Wahrheit, Schönheit und Güte der Welt ausging, ist für Wieland eine solche nur noch anthropologisch begründbar.126 Wieland aber favorisiert den Briefwechselroman vor allem auch deshalb, weil er nicht nur die der Distanz bedürfende Reflexion sucht, sondern zugleich auch die dramatische Unmittelbarkeit voraussetzende Empfindung angemessen berücksichtigen will: »[W]ehe ihm [dem Menschen], wenn seine Vernunft die einzige Führerin seines Lebens ist!«127 Weniger häufig als die Vernunft, so Wieland, werde der Mensch nämlich durch sein »inneres Gefühl«128 betrogen. Der Briefwechselroman zielt, wie oben dargestellt, auf die reflexive Intensivierung des Dialogischen bei zugleich größtmöglicher Dramatizität. Dies führt zu einer über die Intimität brieflicher Information hinausgehende Beteiligung des Lesers. Vergegenwärtigung verlangt nach Versinnlichung, nach zeiträumlicher Konkretion. Im Rückgriff auf das Briefgenre dokumentiert sich sonach ein Festhalten am und Betonen des Faktischen: Einher mit der in der Polyperspektivität beschlossenen raum-zeitlichen Konkretion geht eine epistemische Unübersichtlichkeit. So zeigt sich Wielands Aristipp in den Briefen als ein Mann, der bestrebt ist, in reisender Anschauung Welt- und Menschenkenntnis zu erwerben. Notwendige Bedingung hierfür ist ein ›akkulturierender Blick‹, die vorurteilslose Wahrnehmung und Akzeptanz des zuweilen auch befremdlich Andersartigen. Wäre dem nicht so, würden die Briefe allenfalls Merkwürdigkeiten, curiositas bieten, nicht aber die anthropologische Neu- und Wissbegierde befriedigen können.

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licher Blütenduft über den ganzen Dialog ausgegossen und der allgemeine Ton des Gemäldes« (ebd.). Vgl. auch Wielands Worterklärung »Kalokagathen« im Aristipp I, S. 394. Shaftesbury: Characteristicks (1758), p. 116. Christoph Martin Wieland: Musarion, oder die Philosophie der Grazien. Ein Gedicht, in drey Büchern (1768). In: Wielands Werke. Oßmannstedter Ausgabe. Bd. 8.1. Hg. v. Klaus Manger. Berlin, New York 2008, S. 475–526, hier S. 525 Vs. 340–359. Manfred Dick: Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland. ›Araspes und Panthea‹ und Shaftesburys ›Soliloquy‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), S. 145–175. Wieland: Fragmente von Beyträgen, S. 85. Ebd.

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Die Erzählmöglichkeiten des Briefwechselromans sind schier unermesslich:129 Die an dem Gespräch beteiligten Briefschreiber und -empfänger, deren Anzahl und Teilnahmeintensität variiert, sowie die sich stets verändernden Erzählorte und die stoffliche und formale Offenheit der Briefform an sich lassen eine dynamische Mannigfaltigkeit entstehen, die unter den literarischen Gattungen ihresgleichen sucht. Die umherreisende Personnage des Romans – Aristipp führt ein Wanderleben nach Art der Sophisten – reflektiert über sich, über ihre Beziehungen zueinander und über die sich um sie her vollziehenden Veränderungen. Sie sehen sich mal mehr, mal weniger radikalen gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber. Thematisch wird dabei die Rolle des Subjekts in der Geschichte ebenso wie die Macht der Umstände in bezug auf die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Der Briefroman ist Sinnbild zeiträumlicher Mobilität und stofflicher Universalität. Er stellt mit der Vielzahl von Briefen unterschiedlicher Schreiber das Gerüst bereit für die Präsentation einer ungezwungen dargebrachten Reihe von den pragmatischen und psychischen Anthropologen interessierenden Fallgeschichten, in denen das vielfältig-spannungsreiche Verhältnis von Natur und Kultur, von Individuum und Gesellschaft ausgelotet wird.130 Die Art und Weise der Formierung des Gesprächs gewährt Einblicke in die emotionale, motivationale und epistemische Verfasstheit der Schreiber und Adressaten. Anstelle statischer Präsentation von Meinungen, Charakteren und Sachverhalten setzt Wieland im Briefroman auf die Darstellung der Dynamik ihres Entstehens und Veränderns in zeiträumlicher Sukzession. Die multiperspektivische Darstellung von Wirklichkeit, d. h. die kompositionell segmentierte, ja fragmentierte Gestaltung von unterschiedlichen, einander nicht selten zuwiderlaufenden, gelegentlich sich aber auch berührenden und einander durchdringenden, zuweilen unterbrochenen, dann wieder neu aufgenommenen und fortgeführten Handlungs-, Geschehens- und Reflexionszusammenhängen, kann als eine Art beau des-

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Vgl. Klaus Manger: Wielands klassizistische Poetik als die Kunst des Mischens. In: Sibi res non se rebus submittere, S. 15–36. Wieland erwartet vom Dichter die pragmatische Gestaltung »moralische[r] Individualgemälde«, d. h. den Aufweis der »verborgenen Federn und Räder [ihrer] Herzen[]«, wodurch dem Leser ihre ›geheime Geschichte‹ entdeckt werde (Christoph Martin Wieland: Über die ältesten Zeitkürzungsspiele. In: WSW 24, S. 93–138, hier S. 129); vgl. seine Unterredungen zwischen W** und dem Pfarrer zu *** (1775): »Aber damit solche Moralische Individual-Gemählde würklich nützlich werden, muß man sich nicht begnügen, uns zu erzählen was diese merkwürdigen Menschen gethan haben, oder was sie gewesen sind. Man muß uns begreiflich machen, wie sie das was sie waren geworden sind? – Unter welchen Umständen, in welcher innern und äussern Verfassung, durch welche verborgene Triebfedern, bey welchen Hindernißen und Hülfsmitteln, sie gerade so und nicht anders geworden sind, so und nicht anders gehandelt haben!« (In: Wielands Werke. Oßmannstedter Ausgabe. Bd. 12.1. Hg. v. Peter-Henning Haischer u. Tina Hartmann. Berlin, New York 2009, S. 205– 257, hier S. 247).

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ordre131 und insofern als ein poetisches Analogon zur empiristischen Wirklichkeitswahrnehmung angesehen werden. Unter Dialog im engeren Sinne versteht Wieland das »Gespräch unter Männern [und Frauen], über irgend einen wichtigen, noch nicht hinlänglich aufgeklärten, oder verschiedene Ansichten und Auflösungen zulassenden Gegenstand«.132 Dialog im weiteren Sinne, wie er ihn im Aristipp-Roman pflegt, nennt er den Lukianischen. Denn dieser sei es gewesen, der als erster auf den ›glücklichen Gedanken‹ verfallen sei, den sokratischen Dialog, oder den Dialog der Philosophen, mit dem dramatischen eines Eupolis und Aristophanes gleichsam zusammenzuschmelzen, und dadurch eine neue Gattung von Composition hervorzubringen, die ihm einen weiten Spielraum gab, alle Fähigkeiten seines Geistes zu deployieren, und ihn in den Stand sezte, alle Endzwecke, die er sich als Schriftsteller für das feinere Publicum vorsezte, auf eine desto gewissere Art zu erreichen, da er, (eben so wie die alte Comödie) sein Vorhaben, durch Kritik und Satyre zu bessern oder zu strafen, hinter den Anschein, bloß zu scherzen und zu belustigen verbergen wollte.

Diese Art »Verschmelzung des philosophischen Colloquiums mit dem rein unterhaltenden, dramatisch lebendigen, heiteren Gespräch«,133 wie er ihn in

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Vgl. Jürgen von Stackelberg: Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 293–309, hier S. 296, sowie Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung, S. 85: Künstlerisches Prinzip des zeitgenössischen Briefromans sei »die Kunst einer gewollten Kunstlosigkeit«. Vgl. Brief IV/5, S. 125–127 (Aristipp an Eurybates): »Was [...] nicht wenig zum Vergnügen der Leser beyzutragen scheint, ist die anscheinende Unordnung, oder, richtiger zu reden, die unter diesem Schein sich verbergende Kunst, wie der Dialog, gleich einem dem bloßen Zufall überlassenen Spaziergang, indem er sich mit vieler Freyheit hin und her bewegt, unter lauter Digressionen dennoch immer vorwärts schreitet, und dem eigentlichen Ziel des Verfassers (wie oft es uns auch aus den Augen gerückt wird) immer näher kommt. Wenigen dieser kleinern oder größern Abschweifungen fehlt es an Interesse für sich selbst: sie schlingen sich aber auch überdieß meistens so natürlich aus und in einander, und lenken wieder so unvermerkt in den Hauptweg ein, daß man den Umweg entweder nicht gewahr geworden ist, oder sichs doch nicht reuen lassen kann, ihn gemacht zu haben. [...] die Komposizion dieses Dialogs, als dichterisches Kunstwerk betrachtet [...] kann und soll weder an die Gesetze der architektonischen Symmetrie, noch an die Regeln des historischen Gemähldes gebunden werden; es ist in dieser Rücksicht noch freyer als die Kratinische und Aristofanische Komödie selbst; die größte Kunst des Dialogendichters ist, seinen Plan unter einer anscheinenden Planlosigkeit zu verstecken, und nur dann verdient er Tadel, wenn er sich von seinem Hauptzweck so weit verirrt, daß er sich selbst nicht wieder ohne Sprünge und mühselige Krümmungen in seinen Weg zurück finden kann.« Brief IV/4, S. 41 (Aristipp an Eurybates). Lucians von Samosata Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C. M. Wieland. Erster Theil. Leipzig 1788, pp. XXIVff. – Böttiger notiert am 6. Februar 1799, Wieland werfe Plato vor, dass dieser »die Sophisten [habe] als dumme Jungen anworten lassen. Lucian habe die Form des Dialogs schon weiter gebracht. Am weitesten Shaftsbury. In seinem Philosopher sei es jedem der Colloquirenden voller Ernst.« (Böttiger: Literarische Zustände, S. 252).

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Lukians Doppelten Angeklagten vorgebildet fand,134 ist konstitutiv für den Aristipp-Roman. Der Dialog ist, gleich, ob wirklich oder fiktiv, ob situativ unmittelbar oder epistolar mittelbar, die soziale Kultivierungsform schlechthin. Die Art und Weise des Gesprächs zeigt, ob und inwieweit die Beteiligten schon in der ihnen individuell zugemessenen ›Kunst zu leben‹ fortgeschritten sind, ob und inwieweit es ihnen gelungen ist, die Harmonie von »angemessene[r] Denkweise und Lebensordnung«135 praktisch werden zu lassen.

4. Philosophie als Lebenskunst136 Die Philosophie, so Wieland, ist die »Kunst zu leben«137 und besteht darin, gemäß der jeweiligen individuellen Menschennatur und den äußeren Bedingungen entsprechend zu leben (secundum naturam vivere).138 Seinen Diogenes lässt Wieland im Aristipp – hierin seine Übereinstimmung mit den Anschauungen Aristipps herausstellend – behaupten, daß jeder Mensch, so bald er Verstand genug hat eine Filosofie, d. i. eine mit sich selbst übereinstimmende Lebensweisheit nach festen Grundsätzen, zu haben, in gewissem Sinn seine eigene hat. Das was den Unterschied macht, ist nicht die Richtung: wir gehen alle auf 139 eben dasselbe Ziel los. Eudämonie[.]

Der Unterschied bestehe in den Mitteln und Methoden. Die direkten Wege seien als Extreme stets die schwierigeren, die indirekten die bequemeren. Erstere gingen Platoniker und Kyniker, letztere Hedoniker à la Aristipp.

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Lucians von Samosata Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C. M. Wieland. Sechster Theil. Leipzig 1789, S. 177–222. Vgl. dazu Wielands Vorrede, p. XXIV. Brief IV/16, S. 353 (Antipater an Diogenes). ›Lebenskunst‹, nicht als Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, worum es Christoph Wilhelm Hufeland in seiner Makrobiotik ging, sondern als Kunst, es zu meistern (ars vivendi), ist das zentrale Anliegen des Romans. Vgl. Christoph Martin Wieland: Fragmente von Beyträgen. Kap. Philosophie – Kunst zu leben – Heilkunst der Seele, S. 80-95, hier S. 89–95; vgl. auch Horazens Briefe (1790), S. 39. Wieland: Fragmente von Beyträgen, S. 90. Die »Kunst zu leben«, d. h. die Philosophie, so Wieland in seinem kleinen Essay, hätten die Griechen zwar nicht erfunden, dafür aber doch »zuerst in formam artis« gebracht (ebd.). Zuvor hätten die Menschen gelebt, »ohne zu wissen, wie sie es damit machten [...]. Und in diesem dicken Nebel der Unwissenheit leben bis auf diese Stunde nicht nur alle die unzähligen Völker in Asia, Africa, America und den Inseln des Südmeers [...] – sondern auch selbst von dem größten Theil der Einwohner unsers aufgeklärten Europa’s läßt sich mit gutem Fug behaupten, daß sie von besagter Kunst zu leben [...] wenig wissen« (ebd.). Die Griechen aber hätten bereits gezeigt, wie man seinem Leben bewusst gestaltend eine angemessene Form geben kann. Ebd. Brief IV/17, S. 367 (Diogenes an Antipater).

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Noch verschiedener sind die Mittel, wodurch jeder auf seinem Wege sich zu erhalten und zu fördern sucht. Tausend innere und äußere, zufällige und persönliche Umstände, Temperament, Erziehung, geheime Neigungen, Verhältnisse, kurz das Zusammenwirken einer Menge von mehr oder minder offen liegenden oder verborgenen Einflüssen auf Verstand und Willen, ist die Ursache der verschiedenen Gestalten und Farben (wenn ich so sagen kann) worin sich eben dieselbe Lebensweisheit (ich erkenne keine Filosofie die nicht Ausübung ist)140 im Leben einzelner Personen darstellt, und worin eben das Eigenthümliche 141 derselben besteht.

Die individuellen Lebensweisheiten differieren untereinander notwendigerweise; jedem ist gewissermaßen eine eigene zugemessen, die zu erkennen und zu befolgen er aufgefordert ist. Die unterschiedlichen Philosophenschulen bieten idealtypisch-paradigmatische Lebensentwürfe. Sie offerieren sich den Interessierten »als Ideal oder Kanon ihrer Denkart und ihres Verhaltens«. Jeder Philosoph sei ein »Repräsentant[] einer ganzen Gattung« von Individuen, weshalb jede von Sokrates ausgehende Philosophenschule zu Recht bestehe.142 Dementsprechend bietet der Briefroman eine Reihe individuell gefärbter Lebensphilosophien unterschiedlicher – akademischer und nichtakademischer – Protagonisten wie die des Hedonikers Aristipp, Platons und seines Proselyten Speusippus, des Kynikers Diogenes und des Atheisten Diagoras. Die Zugemes-

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Wieland anerkennt keine »Kluft zwischen Theorie und Praxis« in der »Lebensphilosophie«. Die aristippische Lebensphilosophie sei eine »bloße Modification« der sokratischen, der Lebensphilosophie schlechthin. »Ich habe in den verschiedenen Hauptpersonen meiner sogenannten philosophischen Romane, mehrere solche Modificationen der einzig wahren Lebensphilosophie aufgestellt: Humanität ist von allen der Grund und Zweck zugleich; Grund weil ein Mensch, wie er’s auch anfangen wollte, doch immer ein Mensch ist und bleibt: Zweck, in so fern die vollkommne Humanität eine Idee, und also etwas Unendliches ist, welchem so wohl der einzelne Mensch als die ganze Gattung sich ewig nähern soll, welches sich aber in beiden, weil sie nur in einer Reihe von Momenten existieren, und von aussen und innen um und um beschränkt sind, nie anders als in mehr oder weniger mangelhaften Gestalten abschatten kann. Agathon, Archytas, Sokrates, Aristipp, Diogenes u Krates, der Agathodämon Apollonius, und sogar der unheilbare Schwärmer Peregrinus Proteus [...] sind [...] eben so viele Repräsentanten verschiedener Gestalten oder Formen, worin die Idee der Humanität sich, mehr oder weniger rein, schön und vollständig abspiegelt, so gut es unter gegebnen Umständen in Raum und Zeit möglich ist. [...] [S]ie alle können als Häupter oder Vormänner besonderer Klassen oder Divisionen der Menschheit angesehen werden, bey welchen noch mancherley Subdivisionen Statt finden – Denn noch fehlt uns ein Anthropologischer Tournefort oder Linné, der die Menschen mit dem gehörigen Scharfsinn in alle ihre Klassen, Gattungen, Arten u Unterarten, Familien u s w abgetheilt und ihre charakteristischen Merkmahle genau und richtig angegeben hätte. [...] Ich meines Orts bekenne mich zur Familie meines Aristipps, wiewohl es den Göttern nicht gefallen hat mich in eine Lage zu setzen, worin ich den Glanz meines Urahnherrn zu behaupten im Stande gewesen wäre: indessen kenne ich keinen Sterblichen, dem ich lieber gleichen, oder mit dem ich (wie mich zuweilen dünkte) meine Individualität lieber vertauschen möchte, wenn’s möglich wäre.« (Wieland an Volrath Friedrich Karl Ludwig zu Solms-Rödelheim (Belvedere, 13. bis 22. August 1808). In: Wielands Briefwechsel. Bd. 17.1 (Januar 1806 – September 1809). Bearb. v. Siegfried Scheibe. Berlin 2001, S. 436–449, hier S. 436f.). Brief IV/17, S. 368 (Diogenes an Antipater). Ebd., S. 370.

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senheit dieser oder jener Lebensweisheit bzw. Philosophie ist anthropologisch begründet: Die platonische Philosophie143 harmoniere nur jenen, denen zu einem schwarz gallichten Temperament ein hoher Grad von Einbildungskraft und Scharfsinn und eine nicht gemeine Kultur mit völliger Freyheit von Geschäften zu Theil wurde, d. i. sehr wenigen. Die Aristippische scheint auf den ersten Anblick weit mehrerern angemessen zu seyn: aber sie macht aus dem Wohl leben [...] eine so schöne und zugleich so schwere Kunst, daß [...] nur ein besonders begünstigter Liebling der Natur, der Musen und des Glücks [...] es darin zu einiger Vollkommenheit zu bringen hoffen darf.144 Wie die Platonische die Filosofie oder Religion der edelsten Art von Schwärmern ist, so sollte Aristipp das Muster und seine Hedonik die Lebensweisheit aller Eupatriden und Begüterten seyn; auf diese Weise würde die Schwärmerey unschädlich, Geburtsadel und Reichthum sogar liebenswürdig werden. Aristipps Filosofie, zum Nießbrauch solcher Leute, die das Glück vergessen oder übel behandelt hat, herabgestimmt, würde sich der Cynischen nähern, nach deren Vorschriften jeder glücklich leben kann, der in einem Staat, wo er als Bürger keinen Anspruch an die höhern und eigentlichen Vortheile des politischen Vereins machen will oder zu machen hat, wenigstens den Genuß seiner Menschheitsrechte in Sicherheit bringen möchte. Um ein Cyniker zu seyn, braucht man nichts als ein bloßer Mensch zu seyn; mit so wenig Zuthaten und Anhängseln als möglich, aber freylich ein edler und guter Mensch; und eben darum wird unser Orden, dem ersten Anschein zu Trotz, 145 immer nur zwey oder drey Mitglieder auf Einmahl zählen.

Danach hat jeder Mensch ein Recht auf eine eigene Lebensphilosophie, ein Recht auf Orientierungswissen, das er sich schlichtweg selbst erarbeiten muss, das ihm von Berufsphilosophen weder aufgedrängt werden kann noch darf. Deren jeweilige Verfasstheit ist stets individuell und nur begrenzt verallgemeinerungsfähig und lehrbar, zu erringen nur von jedem einzelnen selbst. Kommunikabel sind diese Lebensphilosophien allein im geselligen, toleranzgesättigten dialogischen Verkehr.

5. Formierung epistolarer Geselligkeit. Der urbane Dialog als Modus gelingenden Lebens Wieland begründet seine Konzeption epistolarer Geselligkeit als Ziel- und Verlaufsform der praktischen Philosophie, der Kunst zu leben, in dem in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum Aristipp entstandenen Aufsatz Über Xenofons Gastmahl als Muster einer dialogisirten dramatischen Erzählung betrach-

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Mit Platon beginnt die bisherige Philosophie sich von der Lebenskunst zur akademischen Disziplin zu wandeln (vgl. Reemtsma: Das Buch vom Ich, S. 51). Aristipp demonstriert eine Lebensauffassung der Freiheit und Ungebundenheit (ਥȜİȣࢡİȡ઀Į), jenseits zügelloser Libertinage und ausschweifenden Luxus’ (ਕțȠȜĮı઀Į). Jenen entgeht er durch Selbstbeherrschung und Mäßigung (ਥȖțȡ੺IJİȚĮ) in allem. Vgl. Kurt von Fritz: Das erste Kapitel des zweiten Buches von Xenophons Memorabilien und die Philosophie des Aristipp von Kyrene. In: Hermes 93 (1965), S. 257–279. Brief IV/17, S. 371f. (Diogenes an Antipater).

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tet,146 der, worauf Klaus Manger andernorts147 bereits hingewiesen hat, die Poetik des Aristipp-Romans in nuce enthält. Der Aufsatz macht deutlich, dass Wieland bei der Gattungswahl auch und vor allem anthropologische Beweggründe geleitet haben. Er würdigt darin das Xenophon’sche Symposion als »angenehme Unterhaltung«, in dem es »auch dann, wo das Gespräch eine ernsthaftere Wendung nimmt, nicht um Offenbarungen aus der Geister- und Götterwelt, sondern um die schlichte, nackte, menschliche Wahrheit zu thun ist«.148 Wesentlich für den Xenophon’schen Dialog sei darüber hinaus, dass keiner das gesellige Gespräch dominiere, es vielmehr jedem möglich sein müsse, »seine eigene Rolle« zu spielen. Jedem ist die »symposische Freyheit« einzuräumen, sich »in seiner eignen Gestalt zeige[n] [zu dürfen], ohne darüber die gehörige Rücksicht auf andere zu vergessen, welche die Urbanität gebildeten Personen [...] zur unnachläßlichen Pflicht macht«.149 Die Natürlichkeit, die Authentizität, meint Wieland weiter, werde von Xenophon im Symposion nicht durch Anmerkungen oder Überleitungen beeinträchtigt: »um selbst die Möglichkeit eines Verdachts, als ob er uns mit einem Symposion von seiner eigenen Erfindung unterhalten wolle, zu vermeiden«, verbot er sich alle Eingriffe und treibt sogar die Behutsamkeit so weit, daß er durch eine eigene Formel zu verstehen giebt, er habe sich nicht einmal erlauben wollen, der Koncinnität und zierlichern Abrundung des Ganzen zu lieb, die kleinen Lücken auszufüllen, welche durch jene zufällige Pausen oder 150 Übergänge in seiner Erzählung entstehen mußten.

Den symposischen Dialog charakterisiere eine gleichsam objektiv-unmittelbare Darstellung, ohne auktoriale Glättung. Durch die »bloße Nebeneinanderstellung« erscheint der Dialog in jener Natürlichkeit, die Wieland im platonischen Gastmahl vermisst. Bei Xenophon geselle sich zur Tischgesellschaft mit Sokrates zugleich »ein höherer, wiewohl milder und menschenfreundlicher Genius«. Seine Weisheit zeige sich ›eingekörpert‹ in die ›reinste Humanität‹, die sich in seinem Sinn für ›gesellige Ergötzlichkeiten‹, in seinem »Sinn für alles Schöne«151 bezeuge, hierbei immerfort bestrebt, auf die ungezwungenste Weise die wahre Lebensfilosofie mit ins Spiel zu ziehen [...], ohne jemals [...] den Pedanten und Schulmeister zu machen, oder sich mit seiner ganzen Schwere auf einen Gegenstand zu legen, um ihn so lange zu drücken, bis er den letzten 152 Tropfen Saft herausgepreßt hat[.]

Dieser ›Geist des Sokrates‹ durchwalte das gesamte Xenophon’sche Symposion; er ist das Bindende des Ganzen, insofern er all »die Theile zu einem schönen

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Wieland: Über Xenofons Gastmahl, S. 99–124. Manger: Aristipp-Kommentar, S. 1161. Wieland: Über Xenofons Gastmahl, S. 102. Ebd., S. 103. Ebd., S. 104. Ebd., S. 117. Ebd., S. 118.

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Körper« organisiere und Ordnung, Harmonie und Einheit stifte.153 All das macht Xenophons Dialog zu einem »schwer zu übertreffende[n] Muster einer dialogierten dramatischen Erzählung«.154 Die Abhandlung über den Xenophon’schen Dialog verweist auf jene Intentionen, die Wieland bei der Wahl der Briefromangattung geleitet haben werden. Der Xenophon’sche Dialog ist danach nicht nur das Vorbild eines Gesprächs schlechthin, sondern das Muster für die mit dem Aristipp exemplarisch gestiftete epistolarische Geselligkeit. In seiner entwickeltsten Form zeige sich ein solches Gespräch als durchweht von moralischer und ästhetischer Grazie,155 dessen hervorscheinendste Momente Aufrichtigkeit, Deutlichkeit und Toleranz, Leichtigkeit, Ungezwungenheit und Natürlichkeit seien. Verstehensbedingungen gelingender urbaner Kommunikation sind Offenheit, Gedankenfreiheit, durch persönliche, mehr oder weniger intime Bekanntschaft gestiftete Vertrautheit sowie Verständnisoffenheit und -sicherheit.156 Sie setzt eine auf Gleichheit, Akzeptanz, Achtung und Toleranz157 aufbauende symmetrische Kommunikationsstruktur voraus.158 Für den wielandi-

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Ebd., S. 121. Ebd., S. 101, vgl. auch S. 123. Das Gespräch durchwalte »nicht nur eine ästhetische, sondern selbst eine moralische Grazie«, schreibt Wieland unter ausdrücklichem Verweis auf Shaftesburys Moral Graces (ebd., S. 116). Vgl. Christoph Martin Wieland: Gespräche unter vier Augen. Vorbericht (1798). In: WSW 31, S. 7f.: »Gespräche unter vier Augen sind ordentlicher Weise nicht bestimmt das Publikum zum Zuhörer zu haben. Ein paar Freunde, die allein zu seyn glauben, besorgen weder mißverstanden noch unredlich gedeutet zu werden; jeder spricht wie er denkt, und ist versichert, daß sein Freund, wenn er auch nicht immer seiner Meinung ist, oder den Gegenstand, wovon die Rede ist, in einem andern Licht oder von einer andern Seite betrachtet, ihm wenigstens eben dieselbe Gedankenfreyheit zugesteht, wozu er sich selbst berechtigt hält. [...] [M]an spricht da unfehlbar manches, was in Gegenwart eines Dritten entweder gar nicht, oder doch nicht so freymüthig und zurückhaltend gesprochen worden wäre.« Solche Gespräche tragen mithin »den unverkennbaren Karakter der Wahrheitsliebe, Mäßigung und Wohlgesinntheit« (ebd., S. 8f.). Vgl. Christoph Martin Wieland: Meine Erklärung über einen in St. James Chronicle abgedruckten Artikel, die Voraussagung auf Bonaparte betreffend, vom Herausgeber. In: Der neue Teutsche Merkur (1800), 1, S. 243–276, hier S. 256: »Meine natürliche Geneigtheit, Alles (Personen und Sachen) von allen Seiten und aus allen möglichen Gesichtspunkten anzusehen, und ein herzlicher Widerwille gegen das nur allzu gewöhnliche einseitige Urtheilen und Partheynehmen, ist ein wesentliches Stück meiner Individualität. Es ist mir geradezu unmöglich, eine Parthey gleichsam zu heyrathen, Ein Fleisch mit ihr zu werden, in alle ihre Leidenschaften mit Hitze und Eifer einzugehen, alles, was sie thut, gut zu heissen und mit Faust und Fersen zu vertheidigen.« Vgl. Brief IV/4, S. 41 (Aristipp an Eurybates): »Vorausgesetzt, daß die Rede nicht von Unterweisung eines Knäbleins durch Frage und Antwort, sondern von einem Gespräch unter Männern, über irgend einen wichtigen, noch nicht hinlänglich aufgeklärten, oder verschiedene Ansichten und Auflösungen zulassenden Gegenstand ist [...].« Zum Prinzip: »Jedem das Seine ...« vgl. Manger: Aristipp-Kommentar, S. 1172. Es verlangt, das Gegenüber, den Gesprächspartner, stets als ganze Person anzuerkennen, d. h. ohne reduktionistische Vereinseitigungen aufzufassen und zu respektieren, so absonderlich die Eigenheiten, Ansichten und Meinungen bisweilen auch sein mögen.

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schen Briefroman wie überhaupt für den Großteil seines Œuvres, vom Frühwerk einmal abgesehen, ist dann auch zumeist die horizontale Dialogizität, wie sie Gespräche unter Gleichgesinnten kennzeichnen, charakteristisch.159 Abschließend geht Wieland der Frage nach, was die sozialen, die politischen Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Dialogdichtung resp. Geselligkeit sind, und kommt mit Johann Joachim Winckelmann zu dem Schluss, dass »nur unter dem griechischen Himmel, nur unter einem zugleich eben so freien als lebhaften und geistreichen Volke, wie die Hellenen waren«, sich eine solche »Freiheit des Gedankens [und] der Rede« habe entwickeln können: Freye Mittheilung und wechselseitiger Umtausch unsrer Gedanken und Gesinnungen, zwanglose Darstellung unsrer eigenthümlichen Art zu seyn, zu sehen, zu urtheilen, besonders unsrer momentanen Stimmung und Laune, verbunden mit der schuldigen Achtung für unsre gleiches Recht besitzende Gesellschafter und mit feinem Gefühl des Anständigen und Gehörigen, findet nur in einer bürgerlich freyen Gesellschaft Statt, und der Dialog, der 160 alles dies in sich vereiniget, konnte also nur unter den Griechen erfunden werden.

Ihre Freiheit sei aus ihrem »hohen Grade von Bildung, Geschmack und Humanität«161 erwachsen. Nicht nur die Philosophie als die ›Kunst zu leben‹ hat danach zuerst ihre Kunstform in Griechenland erhalten, sondern auch der Dialog. Jener ist gleichsam ihr Medium, denn der gesellschaftliche Mensch ist nur als dialogisierender Mensch denkbar, und nicht zufällig waren die Griechen des Ionischen Stammes die »mittheilsamsten und redseligsten aller Völker, die je gewesen sind und vielleicht je seyn werden« – eine »bekannte Sache«, so Wieland.162 In den Rang »Literarische[r] Kunstwerke« sei der Dialog im Zeitalter des Perikles, der Zeit Sokrates’, Sophokles’, Euripides’, Aristophanes’, Platons, Xenophons u. a. erhoben worden. Bis zu Aristoteles sei das dialogische Prinzip vorherrschend gewesen; mit ihm jedoch vollzog sich ein Umschwung, gelangte das monologische zur Dominanz: »[D]ie monologische Manier, durch Abhandlungen in wissenschaftlicher Form zu unterrichten«, habe die Dialogizität schließlich abgelöst.163 Das Dialogische wie das Monologische sind in Wielands geschichtsphilosophischer Deutung der Gattungsgeschichte des Dialogs und Monologs nicht nur spezifische Arten der Rede, sondern zugleich auch unterschiedlicher Denk- und Wissenskulturen, vor allem aber differenter Lebensformen. So bezeichnet das Monologische ein sich gesellschaftlich entzweiendes, von Verwerfungen geprägtes Zeitalter. Sichtbarer Ausdruck der einsetzenden Entfremdung sei das Entstehen der Philosophenschulen. Die Parallele zur Gegenwart Wielands ist offenkundig: Die im Thomasianismus vornehmlich mit 159

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Für das hymnisch-enthusiastische Frühwerk ist die vertikale Kommunikationsstruktur charakteristisch, und konstitutiv hierfür ist die Mittlerrolle des Dichters als vates, als begeisterter Rhapsode, der zwischen Gott und Leser steht. Später erscheint solcherart vertikale Dialogizität dann nur noch ironisch gebrochen. Wieland: Über Xenofons Gastmahl, S. 106. Ebd. Ebd. Ebd., S. 106f.

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der pragmatischen Anthropologie anhebende deutsche Aufklärung schien ihm durch die umtriebige Sektenbildung Ende des 18. Jahrhunderts essentiell gefährdet. Das im Laufe des 18. Jahrhunderts mühsam erstrittene, offene und weltzugewandte, in der Popularaufklärung beheimatete und kulminierende dialogische Philosophieren drohte durch die monologisierenden Transzendentalphilosophien und -poesien diskreditiert und dispensiert zu werden. Bekanntlich beabsichtigte Wieland, den Lesern mit dem Aristipp-Roman das »Vermächtnis seiner philosophischen Überzeugungen und [...] Gegengift gegen die kantisirende Scholastik«164 zu präsentieren. Wieland sah die von Kant ausgehenden Systementwürfe des transzendentalen Idealismus in fundamentaler Opposition zur Aufklärung und deren tragenden Programmideen. Mit dem Aristipp-Roman führt Wieland die Leserschaft in eine analoge historische Situation: So wenig sokratisch der platonische Sokrates ist, so wenig (lebens)philosophisch ist ihm die transzendentalidealistische Philosophie. Den sokratischen Sokrates, gleichsam die Personifikation der griechischen Aufklärung und Kultur schlechthin, glaubt Wieland in Xenophons Gastmahl, nicht aber in Platons165 Dialogen finden zu können. Gegen den die Aufklärung gefährdenden platonisierenden Impetus des transzendentalen Idealismus166 setzt Wieland programmatisch den weltoffenen und toleranten Sokratesschüler Aristipp.167 Platon, der die sokratische Tradition der Dialogizität fortzuführen und weiterzubilden strebte, habe diese seinerzeit zwar neuerlich auf eine Gipfelhöhe geführt. Allein seinem Werk fehle die innere Form, die Einheit von Inhalt und Form, die Sokrates dem Dialog zu geben verstanden habe. So vollendet sich die Form seiner Dialoge auch ausnehme, so wenig fügten sie sich zu dem »größ-

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Das teilt Karl August Böttiger dem schottischen Pädagogen und Schriftsteller James Macdonald am 30. September 1798 brieflich mit (vgl. Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Bd. 2: 1784–1799. Sigmaringen 1987, S. 671). Wieland an Karl August Böttiger (Oßmannstedt, 20. März 1801). In: Wielands Briefwechsel, Bd. 15.1, S. 408: Plato, »des vergötterten attischen Transcendental-Filosofen«. Vgl. Gruber: Wielands Leben, S. 261–264. Seine Wirkabsicht war den Zeitgenossen einsichtig. So schreibt etwa der Rezensent im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung: Mit der im Aristipp gebotenen »Schilderung der merkwürdigsten Vergangenheit [werde] ein lehrreiches Gemälde für die Gegenwart auf[ge]stellt«. In: Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung Nr. 155 (Mittwochs den 24ten September 1800), Sp. 1305f., hier Sp. 1305. Weiter heißt es: »Alles Merkwürdige, alles Schöne und Große des alten Griechenlands in jener Periode, so reich an Genie, Kultur und Schönheit, von den Tagen des Perikles an bis auf die Dionyse herab, wird uns in dieser Correspondenz lebendig dargestellt. [...] Die mannigfaltigsten Scenen erscheinen in wohlthuender Abwechselung mit den interessantesten Untersuchungen über die Lebensweisheit, Schulphilosophie und Regierungsform der Griechen« (ebd., Sp. 1305). Ein anderer Rezensent, Ernst Brandes, schreibt in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen (203. Stück. Den 20. December 1800, S. 2025): »Daß es an einigen Seitenblicken über den dunkeln Vortrag, das barbarische Gewand und die Neigung zu Spitzfindigkeiten der neuen Philosophie nicht fehlt, versteht sich von selbst«.

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tentheils metafysischen oder transcendentalen Inhalt«.168 Schwerlich könne man sich Sokrates als »spitzfündige[n] Grübler und Haarspalter vorstellen«, für den ihn Platon ausgibt. Das genaue Gegenteil sei er gewesen.169 Nicht in Platons, in Xenophons Symposion trete dem Leser der authentische Sokrates im Kreise einer »edle[n], schöne[n], auserlesene[n] [...] Tischgesellschaft« entgegen. Wieland unterscheidet das natürliche vom künstlichen Gespräch: Ersteres bleibt auf seine mediale Funktion beschränkte Gebrauchsform, ist natürlich und insofern unorganisch, fragmentarisch. Das natürliche Gespräch, in die Kunstform überführt, zeichne sich durch die in das Gespräch eingezogene kompositorische Ordnung und Ganzheit aus. Die Griechen hätten es verstanden, die Gesprächskultur so weit zu entwickeln und das natürliche Gespräch im gesellschaftlichen Verkehr so sehr zu einer eigenen Kunstform zu veredeln, dass noch heute jeder gehalten sei, sich deren Gesprächskultur zum Vorbild zu nehmen. Die private Geselligkeit ist selbstredend etwas Begrenztes, Nichtöffentliches und insofern nicht übertragbar auf die Gesellschaft als Ganzes. Sie ist jedoch deren Keimzelle, Residuum und Spiegelbild.170 Hier nur, im geselligen Kreise, läßt sich ständeübergreifende Dialogizität lernen und praktizieren. Ansonsten ist die stratifikatorische Gesellschaftsstruktur etwas Unhintergehbares. Dennoch, das Dialogische ist eine wesentlich anthropologische Kategorie! In der Dialogisierung als einem Moment der Vergesellschaftung des Einzelnen bewährt sich ein im Anthropologischen begründetes Geselligkeitsideal. Zudem kommt in ihm ein spezifisches Wissenschaftsideal zum Ausdruck, das darauf abzielt, dass Wissens- und Glaubenskontexte nicht mehr unter dem Vorbehalt dogmatischer Unangreifbarkeit stehen, sondern als prinzipiell kritisierbar angesehen werden. Darin bekundet sich eine veränderte Wissenschaftsmethodik, insofern monologisch behauptete Deduktionen durch dialogisch verhandelte Induktionen unterlaufen und an ihre Stelle gesetzt werden. Der Aristipp ist danach auch ein Versuch, die zeiträumlichen Limitierungen des empirischen Individuums im Modus der poetischen Epistolarik insofern zu transzendieren, als die individuell beschränkten Selbst- und Weltwahrnehmungen durch eine größere Anzahl Kommunizierender vervielfältigt, ergänzt und korrigiert werden. Es geschieht dies im Bewusstsein, dass auch die Erfahrungen mehrerer notwendig beschränkt sind und immer bleiben werden. Im lebendigen Erfahrungsaustausch vervielfacht sich einerseits der individuelle Erfahrungsbereich, der nun andererseits intersubjektiver Expertise anheimgestellt werden kann. Hierdurch kommt eine Art ›dialogische Vernunft‹ zum tragen. Die gesellige Gemeinsamkeit wird von Wieland als einzig möglicher Weg der Entwicklung des ganzen Menschen gewiesen. Sie ist nicht nur Recht, sondern auch Pflicht (officium), worauf bereits Thomasius hingewiesen hatte. Für Wieland ist

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Wieland: Über Xenofons Gastmahl, S. 110. Ebd., S. 111. Gabriele Kalmbach: Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Tübingen 1996 (Communicatio 11), S. 217.

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der Mensch, wie er schon in seinen 1770 publizierten Beyträgen zur Geheimen Geschichte der Menschheit in Auseinandersetzung mit Jean-Jacques Rousseau betont hat, ein geselliges Wesen, des kommunikativen Umgangs mit anderen eines »sympathetischen Triebes«171 wegen fähig und der Entwicklung und Vervollkommnung seiner Menschlichkeit wegen auch bedürftig.

6. Der Briefroman als gattungspoetisches Pendant zur eklektisch verfassten Popularphilosophie Der Reisebriefwechselroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen kann als ein gattungspoetisches Pendant zur eklektizistischen Popularphilosophie aufgefasst werden. Sein Erscheinen um 1800/01 markiert das Ende der sog. eklektischen Periode im engeren Sinne, deren Beginn von den Zeitgenossen um 1750 angesetzt wurde.172 Die eklektische Methode benennt nicht nur das Moment der Auswahl schlechthin, sondern das der selbständig begründeten, vorurteilsfreien Auswahl; darüber hinaus auch das Moment der An- und Einordnung des Ausgewählten. Unschwer lässt sich von hier die Brücke schlagen zum sokratischen įȚĮȜ੼ȖİıࢡĮȚ, dass das gemeinschaftliche ›Aussondern‹ und ›Auswählen‹, aber auch ›Beratschlagen‹ und ›Nachdenken‹ benennt. Die Disposition des Ausgehobenen wird vom Eklektiker nach Maßgabe seiner philosophischen Grundüberzeugung vorgenommen, wonach inhaltliche und systematische Vollständigkeit und Richtigkeit zwar leitend sind, nichtsdestotrotz aber nur angestrebt, nie jedoch erreicht werden können. Begrenztheit und Fallibilität menschlichen Wissens verlangen als Fakta unumschränkte Anerkennung: Wahrheit ist stets nur approximativ zu erlangen. Daraus erwächst die skeptische Toleranz, die sich die Denker des maßvollen Ausgleichs, des Eklektizismus, als Tugend anrechneten. Vielbeschworene Maxime war neben Paulus’ Aufforderung an die Thessaloniker: Prüfet aber alles / vnd das gute behaltet (1 Th 5,21) das Horaz-Wort im ersten Brief an Maecenas: nullius addictus iurare in verba magistri, in Wielands Übersetzung: Frey und ohne auf die Worte / von einem Meister, wer er sey, zu schwören, / bin ich.173 In ihnen fand sich die mit Thomasius in der Aufklärungsphilosophie heimisch gewordene philosophia eclectica kongenial charakterisiert. Bekanntlich unterschied Thomasius sektiererische, z. B. diejenige Wolffs, und eklektische Philosophien. Mit ihr, meinten die Popularphilosophen, in deren Tradition sie sich sahen, sei der »ächte eklektische Geist der Philosophie« zur Herrschaft gelangt, verbunden mit der »völligen Verjagung des Sek-

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Wieland: Beyträge zur Geheimen Geschichte der Menschheit, S. 107–305, hier S. 231. Johann Gottfried Gurlitt: Abriß der Geschichte der Philosophie. Zum Gebrauch der Lehrvorträge. Leipzig 1786, S. 218. Hor. ep. 1,1,14.

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tengeistes« und der »Abschüttelung alles Systemjochs mit Beybehaltung der reinen Leibnizischen Philosophie«.174 Auch mehr ausgebreitetes Studium der Naturlehre und Naturgeschichte, – Studium der menschlichen Begriffe und Meynungen, – Studium der Völkerkunde und das dahin abzweckende Bereisen fremder Länder – trugen das Ihrige dazu bey, um von den Vorurtheilen und einseitiger Denkungsart zu befreyen, und den Philosophen williges und ruhiges Gehör zu verschaffen. – Daher ist nun der unbefangene Prüfungsgeist, der ächte Eklektizismus, verbunden mit einer bescheidenen, in gehörigen Schranken bleibenden Skepsis, der Eifer nur den Aussprüchen der Vernunft zu folgen, u. s. w., welcher die Philosophie unsers Zeitalters beseelt, unter allen denkenden Köpfen, besonders Englands, Deutschlands und Frankreichs, durch scharfsinnigere und gemeinnüzige Schriften und Lehrvorträge der Phi175 losophen und philosophischer Köpfe [...] allgemein verbreitet[.]

Analog präsentiert sich die Komposition der vom fiktiven Herausgeber des Reisebriefwechsels für die Edition ausgewählten Briefe nicht als Resultat synkretistischer Verfahrensweise, sondern als wohlüberlegte, kalkulierte Zusammenstellung. Die in den Briefen eklektisch versammelte stoffliche und formale Vielfalt bringt das anthropologische Interesse des Autors zur Geltung, sein Interesse an der Verständigung über unterschiedlichste Arten glückender Lebensführung: Philosophie, Politik, Ästhetik, ja alle Wissenschaften und Künste haben sich, so das Credo des wielandischen Aristipps, am Leben auszurichten. Die Gattungswahl ist somit auch als ein Reflex auf den epistemischen Fragmentismus zu begreifen. Die Über- und Durchschaubarkeit der Welt ist nicht in einem solchen Maße gegeben, wie es die Philosophen des klassischen deutschen Idealismus mit ihren holistischen Systementwürfen den Zeitgenossen vermeinten suggerieren zu müssen. Insofern ist der Briefroman auch die Konstruktion einer Welt im Modus epistolarer Aphoristik.176

7. Zusammenfassung Einher mit der Krise der popularphilosophischen Eklektik seit den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts ging die der Gattung des ›Briefromans‹. So kann es dann auch nicht überraschen, dass die Zeitgenossen das Erscheinen des wielandischen Briefwechselromans Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, das gattungspoetische Pendant zur eklektischen Popularphilosophie, nicht mehr in dem vom Autor erhofften Maße zur Kenntnis nahmen. Die Gattung schien sich mit der Aufklärungsphilosophie überlebt zu haben. Wieland hielt dennoch an der bewährten Briefform fest und beschloss seine Sämmtlichen Werke mit den 174 175 176

Gurlitt: Abriß der Geschichte der Philosophie, S. 253. Ebd., S. 254f. Vgl. Manger: Aristipp-Kommentar, S. 1173: »Die gattungsgemäße Absicht der sich auf den Leser konzentrierenden Vielstimmigkeit tritt [durch die damit bewirkte Auflösung vermeintlicher Gewissheiten] in den denkbar größten Gegensatz zu jeder Art von System.«

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beiden Brieferzählungen Menander und Glycerion (1803) und Krates und Hipparchia (1804). Wenig später, 1806 beginnend, stellte er seinem hellenischen Briefwechsel Aristipp und einige seiner Zeitgenossen eine Verdeutschung der Sämmtlichen Briefe Ciceros als eine Art römischer Briefroman zur Seite. Mit Geselligkeit, Dialogizität und Lebenskunst177 als spezifischen Ausdrucksformen von Anthropologie, Ästhetik und Philosophie, so lässt sich zusammenfassen, sind jene Elemente benannt, die Wieland in seiner Wahl der Gattung für seinen Reisebriefwechselroman leiteten. Er führt im Aristipp vor, wie unter Zugrundelegung und Beobachtung der Lebenskunstregel vom ›goldnen Mittelmaß‹ gelingendes Zusammenleben der Menschen möglich ist. Jene Regel ist [...] die Horazische aurea mediocritas (die mit der Sokratischen ıȠࢥȡȠıȣȞȘEins ist), d. i. Liebe zu allem Gemäßigten, Ruhigen und sanften Schönen in der Natur und im Leben, und die so nahe damit verwandte Menandrische Grazie und Urbanität, und die Lucianische Feindschaft gegen alle falsche Prätension, alles Überspannte, gegen Platonische Praesti178 gias und Stoisches Supercilium[.]

Sie durchwaltet den gesamten Roman, auf sie als probate Lebenskunstregel verweist er die Leser zugleich. Damit fügt sich der wielandische Reisebriefwechselroman organisch in die von dem anonymen Referenten über die Romanen-Literatur benannten Entwicklungstendenzen um 1800 ein, insofern die aristippische Lebenskunst natürlich ist, d. i. im Anthropologischen gründet, auf die sittliche Vervollkommnung des Einzelnen abzweckt und Extreme jedweder Art zu mildern sucht. So steht der Aristipp-Roman exemplarisch ein für eine von den programmatischen Ideen der eklektizistischen Popularphilosophie als einer dialogischen Philosophie für die Welt getragene und geprägte Poetik des aufklärerischen Briefromans.179 Mit der monokausalen, universale Geltung beanspruchenden Erklärung des Entstehens und der Konjunktur der Gattung ›Briefroman‹ aus dem Geiste der ›Empfindsamkeit‹ lässt sich Wielands Aristipp, nicht adäquat beschreiben. Weder produktions- noch rezeptionsästhetisch lassen sich Gattungswahl und -beliebtheit mit dem Verweis auf die literatursoziologisch be177

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Mit der im Briefroman vorgeführten aristippischen Lebenskunstlehre, der zufolge es darauf ankomme, einen »dauernde[n] Zustand eines angenehmen Selbstgefühls [zu erreichen], worin Zufriedenheit und Wohlgefallen am Gegenwärtigen mit angenehmer Erinnerung des Vergangenen und heiterer Aussicht in die Zukunft ein so harmonisches Ganzes ausmacht, als das gemeine Loos der Sterblichen, das Schicksal, über welches wir gar nichts – und der Zufall, über den wir nur wenig vermögen, nur immer gestatten will«, ist zugleich die Wirkabsicht des Romans benannt (Brief IV/16, S. 354 (Antipater an Diogenes); vgl. auch: Hans Heinrich Borcherdt: Geschichte des Romans und der Novelle in Deutschland. I. Teil: Vom frühen Mittelalter bis zu Wieland. Leipzig 1926, S. 317). Wieland: Ein Fragment über den Charakter des Erasmus von Rotterdam (1776). In: Wielands Werke. Oßmannstedter Ausgabe. Bd. 13.1. Hg. v. Peter-Henning Haischer u. Tina Hartmann. Berlin, Boston 2011, S. 234–241, hier S. 237f. Reemtsma sieht in ihm »den letzten großen Versuch zu bestimmen, was Aufklärung sei« (Reemtsma: Das Buch vom Ich, S. 176, vgl. auch S. 156).

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stimmte Kategorie ›Empfindsamkeit‹ hinreichend erklären. ›Empfindsamkeit‹ ist eben keineswegs, wie von Stackelberg behauptet, »für das 18. Jahrhundert nicht minder kennzeichnend [...], als die Aufklärung«,180 sondern ein zeitlich und sachlich eingeschränkteres Phänomen und als »moralische, psychohistorische und literarische Tendenz«181 selbst Charakteristikum der keineswegs nur rationalistischen Aufklärung. Die alleinige Fixierung auf die zumeist sozialpsychologisch generierte Kategorie ›Empfindsamkeit‹ und die behauptete Gleichzeitigkeit, ja Gleichursprünglichkeit von ›Empfindsamkeit‹ und ›Briefroman‹ verstellen den Blick auf die Komplexität des Gattungsbegriffes und sind nicht hinreichend zur poetologischen Bestimmung der Gattung ›Briefroman‹, wie

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Von Stackelberg: Briefroman, S. 294. Von Stackelberg knüpft unmittelbar an Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962) und Arnold Hausers Sozialgeschichte der Kunst und Literatur (1953) an, um mit ihnen eine »Verbindung zwischen der neuen literarischen Gattung und der Empfindsamkeit« zu registrieren (er bezieht seine Darstellung ausnahmslos auf französische Verhältnisse, ohne sich letztlich dann doch eine verallgemeinernde Geltung zu versagen). Danach seien beider Verlaufsformen gleich: »Anfang, Blüte und Ende des Briefromans« kämen mit der des »Aufkommens, [der] Verbreitung und [des] Ausklingen[s]« überein (ebd., S. 298). Träger der Empfindsamkeit sei das Bürgertum, die Empfindsamkeit eine bürgerliche und eine Kompensationserscheinung (Norbert Elias) angesichts der Frustration der Bürgerlichen über die nur intellektuelle Aufklärung resp. adelige Ideologie (S. 301f.). »Die ›Epoche des Briefromans‹ wäre somit identisch mit der Zeit der Reibungen zwischen den beiden Klassen« (S. 304). In dem Moment, in dem sich die Bürgerlichen gleichermaßen »korrupt« wie der Adel erwiesen und die bürgerliche Ideologie sich ebenfalls der Rationalität verschrieben habe, sei nicht nur die »Epoche« der Empfindsamkeit an ihr Ende gekommen, sondern mit ihr zugleich auch die Gattung des Briefromans (S. 303). »Was danach noch kommt, sind Nachzügler, sind wieder Ausnahmen, die nur noch an die Regel erinnern, die einst galt.« (ebd.) – Die These von einer kausalen Verknüpfung der Entstehung der Empfindsamkeit und dem Aufstieg des Bürgertums, die auch Voßkamp behauptet, wird überzeugend von Peter Uwe Hohendahl widerlegt (vgl. P. U. H.: Empfindsamkeit und gesellschaftliches Bewußtsein. Zur Soziologie des empfindsamen Romans am Beispiel von La Vie de Marianne, Clarissa, Fräulein von Sternheim und Werther. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 16 (1972), S. 176–207). Seine Darstellung stützt sich dabei in erster Linie auf die Analyse des Begriffes des ›Bürgerlichen‹ in seinen vielfältigen Facetten, nicht aber auf die Spezifizierung des Empfindungsbegriffes. Er kommt zu dem Schluss: »an der ›Empfindsamkeit‹ teilzuhaben bedeutet, menschlich zu sein und nicht bürgerlich oder aristokratisch. Der neue Humanitätsbegriff abstrahiert von den sozialen Determinanten« (ebd., S. 205). Die Auffassung teilt Wieland nicht, wie aus seiner Beantwortung der Frage, welche sozialen Bedingungen Dialogdichtung resp. Briefroman als Form der Geselligkeit allererst ermöglichen, deutlich wird und wie oben bereits in extenso nachgezeichnet worden ist: Danach verdanke sich die Gattung des Dialogs resp. Briefromans der »[f]reye[n] Mittheilung und [dem] wechselseitige[n] Umtausch unsrer Gedanken und Gesinnungen, zwanglose[r] Darstellung unsrer eigenthümlichen Art zu seyn, zu sehen, zu urtheilen, besonders unsrer momentanen Stimmung und Laune, verbunden mit der schuldigen Achtung für unsre gleiches Recht besitzende Gesellschafter und mit feinem Gefühl des Anständigen und Gehörigen« und kann daher »nur in einer bürgerlich freyen Gesellschaft« statthaben (Wieland, Über Xenofons Gastmahl, S. 106). Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. In: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Hg. v. Werner Schneiders. München 1995, S. 94–95, hier S. 94.

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nicht zuletzt die 200 Jahre zuvor bereits von dem anonymen Beiträger der Allgemeinen Literatur-Zeitung verfasste Retrospektive und ein Blick auf Wielands Aristipp anschaulich zeigen.

Günther A. Höfler

Erleben und Wissen Zur Doppelgestalt der Liebe in Achim von Arnims Briefroman Hollin’s Liebeleben

1. »Fessellos durch die Systeme« Achim von Arnim ist gewiss nicht der einzige romantische Intellektuelle, dem es ein Anliegen war, die seit dem Beginn der Neuzeit ausdifferenzierten Wissensformen in einem metadisziplinären Einheitswissen zu reintegrieren, aber kaum ein anderer hat – allenfalls von Novalis abgesehen – literarisch so konsequent versucht, den Ordo-Gedanken am Leitfaden der Liebe zu exemplifizieren. Die Liebe ist Arnims großes Thema; ihren »Maskeraden«, »dem Eros als Grund aller Tätigkeit« hat er »die größte Aufmerksamkeit gewidmet«.1 Die epistemologischen Prämissen für das Vorhaben einer poetischen Reintegration des Wissens bezieht er aus einer Erkenntnis, die er als Neunzehnjähriger und bereits renommierter Chemiker festschreibt: Die Kraft hinter dem Verbund der Elemente ist die »Liebe«, »durch deren Verbindung die ganze Mannigfaltigkeit des großen unendlichen Lebens hervorgeht [und] durch deren Trennung Tod […] entsteht.«2 Hollin’s Liebeleben, Arnims erstes Werk nach seinem Wechsel von der Wissenschaft zur Dichtung, illustriert das Phänomen Liebe in drei Dimensionen: jener des Wissens (so in den ersten Briefen an Odoardo bis zum 18. April, besonders jenem vom 12. Februar), des Erlebens (in den Brocken- und Roßtrappe-Szenen) und der sozialweltlichen (Un-)Lebbarkeit (in den StadtSzenen bzw. dem Saussure-Abschnitt).

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Ulfert Ricklefs: Sprachen der Liebe bei Achim von Arnim. In: Codierungen von Liebe in der Kunstperiode. Hg. v. Walter Hinderer. Würzburg 1997, S. 237–292, hier S. 238. Achim von Arnim: Nr.4. GSA 03/209,4. Zit. nach: Klaus Stein, Michael Gerten: Unveröffentlichte Texte und Fragmente Achim von Arnims aus dem Goethe- und Schiller-Archiv Weimar. In: »Fessellos durch die Systeme«. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling. Hg. v. Walther Ch. Zimmerli, Klaus Stein u. Michael Gerten. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997 (Natur und Philosophie 12), S. 459–528, hier S. 476f. – Ähnlich Schiller. Vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«. Würzburg 1985 (Epistemata 17), S. 183: »Im Weltbild des jungen Schiller eignet der Liebe gleich der Schwerkraft der Status eines gottgegebenen Naturgesetzes, dessen Aufhebung die Ordnung der Schöpfung zusammenbrechen ließe.«

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Arnim trifft für dieses Werk, das Roswitha Burwick als »Übergangsversuch«3 von der Chemie zur Poesie charakterisiert hat, eine geeignete Gattungswahl. Der Briefroman ist nämlich nicht nur ein bevorzugtes Medium für die Liebesthematik, sondern er bietet durch seine Erzählanlage seit Montesquieu auch ideale Möglichkeiten zum (nicht immer) zwanglosen Einschub von philosophischen und moralischen Erwägungen.4 Arnim wählt, Burwick zufolge, eine offene Form, »die es ihm erlaubt, sich ›fessellos systemlos durch alle Systeme‹ zu bewegen, und eine Sprache, die sachlich und poetisch, objektiv und subjektiv zugleich sein durfte.«5 Über diese hybride Anlage – von seinem Autor »Findling«6 genannt – berichtet Arnim an Brentano, dass ihn »der Werther verführte, die erzählende Form gegen eine ganz brieflige zu vertauschen, nach meiner ersten Meinung sollte es eine Art Trauerspiel werden, mit Erzählungen und Briefen durchschnitten.«7 Zur Unentschiedenheit in Hinsicht auf die Form gesellt sich noch die vorgebliche Unsicherheit Arnims, ob denn die inhaltliche Konzeption die geglückteste sei. Er spricht von einer »Unvorsichtigkeit ihn so drucken zu lassen, der Stoff war gut und ich habe damals gerade daraus weggelassen, was andere rühren könnte« (etwa »Marien’s Tagebuch«), und das sei alles nur geschehen, um »in eine erdichtete Geschichte allerley wahre Szenen einzuflechten«.8 Diese Vorbehalte mag man ohne weiteres auch als Koketterie auffassen, zumal Arnim seinem Freund gegenüber einen geradezu topischen Rezeptionserfolg9 ins Treffen führen kann: »Ich las meinen Roman einigen gutmüthigen Landfräuleins vor, die weinten dabey und ich glaubte, es sey mir alles gelungen.«10 Gewichtiger ist die Äußerung Arnims zu werten: »Der verdammte Werther und meine

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Roswitha Burwick: »Sein Leben ist groß, weil es ein Ganzes war.« Arnims Erstlingsroman Hollin’s Liebeleben als »Übergangsversuch« von der Wissenschaft zur Dichtung. In: »Fessellos durch die Systeme«, S. 49–89, hier S. 51. Vgl. Gideon Stiening: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman »Hyperion oder der Eremit aus Griechenland«. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 105), S. 27. Burwick: »Sein Leben ist groß«, S. 54. Achim von Arnim: Brief vom 17.4.1802. In: Achim von Arnim und Clemens Brentano: Freundschaftsbriefe I. 1801 bis 1806. Vollständige kritische Edition. Hg. v. Hartwig Schultz. Frankfurt a. M. 1998, S. 10. Ebd., S. 69. Ebd., S. 68f. Die Wirkung eines Gedichts auf junge Frauen wurde im 18. Jahrhundert zu einem literarischen Gütesiegel. Dazu anschaulich: Richard Alewyn: Klopstocks Leser. In: Festschrift für Rainer Gruenter. Hg. v. Bernhard Fabian. Heidelberg 1978, S. 100–121, z. B. S. 121: »Am stolzesten war man über Klopstocks Wirkung auf einfache Leute, wie während Klopstocks Zürcher Zeit die zwei Mädchen, die aus Glarus über den See gerudert kamen. Eine nahm ihn an der Hand und sagte entzückt: Ach, wenn ich in der Clarissa lese und im Messias, so bin ich außer mir.« Arnim: Brief vom 17.4.1802, S. 69.

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Verehrung der Göthischen Formen hat mich damals verführt, das Beste aus dem Hollin wegzuschneiden.«11 Die Adaption der »Göthischen Formen« erfolgt allerdings nicht in dem Ausmaß, wie es diese Klage suggeriert. Neben nicht zu übersehenden Entsprechungen gibt es auch markante Unterschiede zum Werther, es fehlt z. B. mit der Dreiecksituation der motivierende Kern des Goetheschen Romans, auch weist Hollin trotz mancher Spiegelungen keine solch konsequent symmetrische Anlage wie der Werther auf und intendiert durch eine stärker objektivierende Anlage auch eine andere Rezeptionssteuerung. Denn die Arnimsche Verbindung der »Naturwissenschaften mit der Dichtung«, die Burwick12 anhand dieses Romans detailreich nachgezeichnet hat, führt über die teils nahe, in Passagen wie der Selbstmordszene aber auch krasse Auslotung der Erlebensinnenseite hinaus zu einer Form der Objektivierung, die von einem eher erklärenden Erkenntnisanspruch gekennzeichnet ist. In diesem Sinn erfasst John Erpenbeck gewiss ein poetisches Grundverhältnis Arnims, wenn er bemerkt, dass im Unterschied zu Brentanos romantischer Subjektivität jene von Armin »realistisch« sei, »nicht im künstlerischen, sondern im wissenschaftlichen Wortsinn«.13 In der poetischen Reflexion drückt sich die im Grunde hyperkritisch-realistische Erkenntnishaltung des Dichters aus. Ein »Gedicht, das wirklich gut« ist, hat – so Arnim – »einen Fuß in der äußeren Welt« und »einen andern Fuß in der innern Lebenserfahrung des Dichters«.14 Die Reserve gegenüber der monoperspektivischen Form des Werther ist also auch durch eine poetologisch-epistemische Haltung motiviert. Das Vorhaben, an einem modernen Helden nicht nur Erkenntnis und Poesie, sondern auch Innen und Außen, also Übersicht und Intensität in der Präsentation von Gefühlswelten, adäquat zu verbinden, konfrontiert Arnim mit dem Problem, dass diesem poetischen Anliegen keine hergebrachte Gattung genügen kann.

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Achim von Arnim: Brief an August Stephan Winkelmann vom 8.11.1802. Zit. nach: Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hg. v. Reinhold Steig u. Herman Grimm. Bd. I. Achim von Arnim und Clemens Brentano. Bearb. v. Reinhold Steig. Mit zwei Porträts. Stuttgart 1894, S. 52. Burwick: »Sein Leben ist groß«, S. 53. John Erpenbeck: Was euch in meinen Werken quält … In: GJb 99 (1982), S. 311. Burwick bestätigt diese Auffassung, die bei Erpenbeck kritisch gemeint ist, indem sie sie affirmativ wendet: »Das persönliche Erleben ist nicht allein subjektiv, d. h. individuell; da es ›menschlich‹ ist, wird es auch objektiviert, d. h. allgemeingültig.« Burwick: »Sein Leben ist groß«, S. 63. Zit. nach: Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hg. v. Reinhold Steig u. Herman Grimm. Bd. III: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Bearb. v. Reinhold Steig. Mit zwei Porträts. Stuttgart 1904, S. 250. – An der Integration der beiden Pole mag es im Hollin noch hapern, wird hier doch einer durchaus stimmigen Innenperspektive fallweise etwas Äußeres angekleistert. Dass Arnim »zusammenflickt« und »zusammenklebt«, stellt übrigens schon Brentano fest, nämlich in Bezug auf die Gräfin Dolores, in der er die Hollin-Einlage als eine der »den Gang störenden, mit Gewalt hingeflickten Unterbrechungen« empfindet. Ebd., S. 88.

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2. Eine »brieflige« Romantragödie Schiller hatte die Entwicklungstendenz der Gattungen darin gesehen, dass das Drama zum Epos hinauf- und »das epische Gedicht […] zu dem Drama herunterstreben« würde, und er hatte diese Gattungsmischung aus den Dynamiken der sinnlichen Vergegenwärtigung bzw. der Distanzierung und des »Gewinn[s] poetische[r] Freiheit gegen den Stoff«15 begründet. Gegen eine »Grenzverwirrung« aber hatte sich Schiller verwahrt.16 Für Arnim jedoch bestand die formale Lösung für die Integration der vielfältigen Darstellungsintentionen gerade darin, die »erzählende Form« zu dramatisieren, eben durch »eine ganz brieflige zu vertauschen«, und auch die ursprünglich intendierte Trauerspielform der Struktur nach beizubehalten, letztlich also eine ›brieflige Romantragödie‹ zu schaffen. Das Werk beginnt nicht in medias res, sondern hat einen ›Anfang mit Anfang‹: Nach Odoardos Anrede an den Leser enthält sein erster Brief an Hollin eine gemächliche, im Plauderton gehaltene Einführung in die Situation. Er beklagt die Abwesenheit des Freundes und charakterisiert ihn als jemanden, den »Sehnsucht und unerfüllte Wünsche umher treiben.«17 Die weitere Exposition ist im Grunde ein Weltanschauungsdialog und besteht in Austausch von Erinnerungen, Meinungen über Bekannte und Philosophemen, besonders solche über Liebe, Wissenschaft, Melancholie und Selbstmord. Und vor allem kommt die folgenschwere, weil Schwärmerei fördernde Wendung Hollins vom Wissenschaftler zum Dichter zur Sprache: »Wissenschaft und wechselnd Leben buhlten um mich, da traten Philosophie und Poesie herbei, und Wissenschaft und Leben war verschwunden.« (15) Die Einführung von kontrastiven Charakteren wie dem Kosmopoliten Santorin und dem Melancholiker Roland verstärkt überdies den Eindruck des Dramenmusters. Eine Steigerung kommt durch Interaktionen ins Geschehen: Hollin verwundet Leonardo im Duell und lernt dessen Schwester Marie kennen. Die Vereinigung mit Marie kann als Höhepunkt gesehen werden; der Umschlag der Handlung erfolgt durch die Trennung der Liebenden, die notwendig ist, weil Hollin sich erst bürgerlich etablieren muss, sowie durch die erotischen Anfechtungen, denen er unterliegt. Nun hat die Intrige Gelegenheit katastrophendynamisch zu greifen. Den vierten und fünften Akt erzählt Frank; er zeigt, wie die Eifersuchtsintrige wirkt und wie sie mit unglücklichen äußeren Umständen sowie

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Schiller an Goethe, 26.12.1797. In: Briefe an Goethe. Bd. 1: Briefe der Jahre 1764–1808. Hg. v. Karl Robert Mandelkow. München 31988, S. 296. 16 Hans Robert Jauß sieht diesen, nach Schiller »reizenden Widerstreit« erst in der Moderne gelöst, wo der Autor verschwindet und das Werk autonom wird, d. h. »Selbstgegenwart« gewinnt – eine Möglichkeit, die Arnim noch nicht zur Verfügung steht. Vgl. Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts »A la recherche du temps perdu«. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Frankfurt a. M. 1986 (stw 587), S. 27. 17  Achim von Arnim: Hollins Liebeleben. In:A. v. A.: Werke in sechs Bänden. Bd. 1: Hollins Liebeleben. Gräfin Dolores. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1989 (Bibliothek deutscher Klassiker 39), S. 14. In der Folge im Text mit einfacher Seitenzahl zitiert.

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Informationsdefiziten zur Katastrophe ausarten kann. Frank will Hollins »schnellen Glückswechsel« nachvollziehbar machen, »der ihn vom Gipfel seiner Hoffnungen hinabstürzte in den traurigen Tod.« (75). Hier bedient sich Arnim der kräftigen Schicksalszeichnung von Schillers Maria Stuart, insgesamt 55 Verse des Stückes werden von Hollin und Maria nicht einfach ›gespielt‹, sondern im Wortsinn realisiert: Der eifersüchtige Hollin als Mortimer ersticht sich und exemplifiziert durch diese drastische Handlung, wie entscheidend er Literatur und Leben verwechselt. Man könnte auch sagen: Letztlich illustriert er eine Einsicht, die er Odoardo gegenüber geäußert hatte: »Mehr als die Handschrift und das Stirnmesser zeichnen uns die Bücher, die wir lieben, nach unsrer innern heimlichen Seite.« (22) – »Täuschende Kunst hat mich hingerafft«,18 bilanziert er in der Version in der Gräfin Dolores. Das Ende ist opernhaft: Der Irrtum klärt sich auf, Hollin gewinnt, etwas zu spät, das Vertrauen in die Liebe und Treue wieder, die beiden werden vermählt und Hollin kann noch manch Tröstliches sagen: »Er sprach herrlich.« (88) Das mit Rührseligkeit durchwirkte, erpresst-versöhnliche, nichtsdestoweniger tödliche Ende kann letztlich nur unterstreichen, dass die hohe Liebesidee Hollins – »die Liebe ist frei« (85) – im Leben nicht verwirklicht werden kann. Der Saussure-Teil kann sodann als eine Art Chor-Erzählung verstanden werden, der das Geschehene deutet und die richtige Lebens-Sentenz herausstellt.

3. Die Botschaft der Romanform Die Struktur des Hollin-Romans, der nur zu zwei Dritteln aus Briefen besteht, den meisten, nämlich zwanzig, von Hollin selbst, in die fallweise tagebuchartige Schreibtaschenblätter eingestreut sind, ist gewiss komplexer als jene des Werther: Dem die Echtheit der Dokumente beglaubigenden Vorwort des Herausgebers folgt eine Leseranrede Odoardos, des Briefadressaten Hollins, selbst Verfasser von fünf Briefen sowie der Beilage, d. h. der nachgereihten Kurzbiographie des Wissenschaftlers Horace Bendedikt von Saussure. Zwischen die Briefe und die Beilage ist die Nachschrift eines nicht näher charakterisierten Frank an den Herausgeber gestellt; sie hat die Funktion, die Folgehandlung nachzutragen. Dieser Frank wird in der narrativen Präsentation von Hollins Schicksal als Tischerzählung in der Gräfin Dolores als Prediger angeführt, der die Wiedergabe als Exempel-Geschichte durch den Grafen motiviert.19 Frank bringt nicht nur die Hollin-Geschichte zu Ende, sondern plausibilisiert dieses Ende auch, indem er den Intrigenverlauf mit auktorialem Gestus rekonstruiert und psycho18

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Achim von Arnim: Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Eine lehrreiche Geschichte zur Unterhaltung armer Fräuleins aufgeschrieben von Achim von Arnim. In: Arnim: Werke, Bd. 1, S. 219. Vgl. ebd., S. 189.

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logisch erklärt. Die Briefhandlung erfordert nämlich eine Ergänzung, die sich nicht in epistolarer Form darstellen lässt: Tote schreiben keine Briefe. Gewiss ist Franks Geschichte an den Herausgeber adressiert, aber die Adressierung ist äußerst schwach, der Schreiber verschwindet völlig hinter den berichteten Ereignissen. Von der Gestalt des »reinen Briefromans« als ein »episches Geschehen«, das »möglichst vollständig aus den gleichzeitigen Briefen der Beteiligten« hervorgeht, ohne Einmischung eines »außenstehende[n] Chronist[en]«,20 ist der Hollin somit ein gutes Stück entfernt, zumal er deutlich Züge des Genres »Geschichte aus Dokumenten«21 trägt.22 Arnims Experiment mit den überlieferten Möglichkeiten des Erzählens, also den unterschiedlichen Formen und Perspektiventechniken im belehrenden Brief, im leidenschaftlichen Brief, der Erzählung Franks und in der biographischen Berichtsprosa, sowie die unterschiedlichen Stillagen bringen es mit sich, dass für den Leser keine Gesamtperspektive des Romans entsteht, salopper formuliert: Der Autor nimmt in seinem Darstellungswillen kaum Rücksicht auf den Leser. Dieser gewinnt nicht nur keinen Angelpunkt für sein Verständnis, er wird auch durch die mehrteilige Rahmengestaltung auf Distanz gehalten. Die heterogene Konstruktion bewirkt, dass eine Distanz letztlich auch zur Figur geschaffen wird. Der Autor lässt Hollin nicht vollends in sein Recht kommen, indem dessen Erleben und Handeln, bei aller Intensität und fallweise auch Drastik der Darstellung, von einer auktorialen Außeninstanz mittels der Saussure-Skizze korrigiert wird. Wie in der Gräfin Dolores wird also ein verfehltes Leben mit einer verbesserten Version kontrastiert. In Frage steht mithin die Botschaft der Form bzw. ihre Darstellungsleistung. Burwick zufolge ist der Roman einer im ganzen Werk feststellbaren poetischen Grundidee Arnims verpflichtet. Diese bewegt sich im Rahmen der »romantische[n] Triade von Einheit und harmonischem Ganzen […], Fragmentation dieser Einheit […] und d[er] Vision einer auf einer höheren Ebene wiedergewonnenen Einheit« und stellt ein Analogon zu seiner naturtheoretischen Konzeption der »Fermentation«23 dar. Allerdings kann die Behauptung, dass der Roman mit Arnims wissenschaftlichen Erkenntnissen übereinstimme,24 Unstim20 21 22

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Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968, S. 144. Ebd., S. 145. Gewiss ist Gideon Stiening beizupflichten, dass die Behauptung einer Idealform des Briefromans das poetische Gestaltungspotential der Gattungsvarianten verkennt (vgl. Stiening: Epistolare Subjektivität, S. 29); vor dem Hintergrund der literarischen Entwicklung ist es allerdings verführerisch, eine dem phänomenalen Erleben am nächsten stehende Darstellungsweise als die avancierteste anzusetzen. Burwick: »Sein Leben ist groß«, S. 61. Eine Auffassung, der Specht durchaus kritisch gegenübersteht: »Die postulierte Einheit von Poesie und Wissenschaft findet in seinem literarischen Œuvre also gerade keine substanzielle Umsetzung.« Benjamin Specht: Fiktionen von der Einheit des Wissens. Achim von Arnims Meteorologie-Projekt und Hollin’s Liebeleben (1802) im Kontext der frühromantischen ›Enzyklopädistik‹. In: KulturPoetik 9 (2009), H. 1, S. 23–44, hier S. 38.

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migkeiten seiner poetischen Form nicht befriedigend ausräumen. Burwicks prozessphilosophische Erklärung lagert den Roman zudem in den universalpoetischen Rahmen ein. Das scheint auf den ersten Blick nicht abwegig, finden sich doch über den wissenschaftlichen Stützapparat hinaus auch Allusionen an den Wilhelm Meister sowie Spurenelemente von Fichte und der Französischen Revolution darin. Dunker und Lindeman kommen in ihrer Auslotung des Frühromantik-Arguments sogar zur Ansicht, dass im Hollin und in Mistris Lee das autonome Subjekt verabschiedet werde, zumal sich in Arnims Schreibweise die »Erfahrung der geschichtlichen Wirklichkeit als Diskontinuum« niederschlage, »der sich die Werke nicht verschließen können, ohne an Authentizität einzubüßen.«25 Bedenkt man allerdings die Hochschätzung des souveränen Subjekts in der Gestalt von Benedikt von Saussure, der als Gegenbild zum schwärmerischen Hollin etabliert wird, mag man dem nicht so einfach zustimmen. Überhaupt laufen Versuche, die Arnimsche Poetik mit der frühromantischen engzuführen, Gefahr, vom Autor selbst entkräftet zu werden, finden sich doch in der Gräfin Dolores einige Passagen, die (mit auktorialer Dignität) deutlich Distanz zum frühromantischen Kunst- und Lebensprinzip ausdrücken.26 Der entscheidende Unterschied ist aber gewiss der, dass die universalpoetische Idee das ironisch-reflexiv entstehende Kunstwerk gleichsam als Fraktal, d. h. selbstähnliche Variation der autopoetischen kosmischen Dynamik versteht und seine mögliche Funktion diesem universellen Prozess überantwortet, während Arnim die Wirkfunktion seiner Werke nicht aus der Hand geben möchte. Seine Distanz zum ›verwildert-spekulativen‹ Gestus der Universalpoetik heißt natürlich nicht, dass Arnim den zeitgenössischen »Diskurscluster«27 ignoriert, im Gegenteil: Hollin zeugt, wie gesagt, von zahlreichen Intertexten poetischer und philosophischer Art, die allerdings vor allem eines illustrieren: die Relevanz der wissenschaftlichen Erkenntnis auch für eine poetische Selbstdeutung des Menschen.

4. Philosophie der Liebe Der sich aufdrängenden Ahnung, dass es sich wie bei Brentanos Godwi um einen ›verwilderten Roman‹ handeln könnte, tritt der Autor insofern entgegen, als er sein »poetisches Gemächte« als »Roman und zwar mit Tendenz« apostro-

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Axel Dunker, Annett Lindemann: Achim von Arnim und die Auflösung des KünstlerSubjekts. Alchimistische und ästhetische Zeichensysteme in der Erzählung »Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber«. In: ZfdPh 112 (1993), S. 65–78, hier S. 77. Vgl. Christof Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achims von Arnim. Mit einem Anhang unbekannter Texte aus Arnims Nachlaß. St. Ingbert 1990. (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 23). Begriff von Walther Ch. Zimmerli: Einleitung. In: »Fessellos durch die Systeme«, S. 7–18, hier S. 11.

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phiert.28 Arnim fährt beachtliche formexperimentelle und namhafte intertextuelle Geschütze auf, um verschiedene Arten des Wirkens der Liebe im Getriebe der Welt zu fokussieren. Und zwar, am Rande bemerkt, unter einem sehr männerbestimmt-solitären Blickwinkel. In der Reisenovelle Die Ehenschmiede lässt der Erzähler in narrativ affirmierender Weise den Erfinder Rennwagen bekennen: »Über die Mechanik der Liebe bin ich noch gar nicht im Reinen weil sich ein Element, die weiblichen Gefühle in so wunderlichen krummen Linien darstellt, dass ich seine Ordnung nicht zu finden weiß.«29 Diese Position kennzeichnet fast durchgehend die Liebesschilderungen Arnims, so auch den HollinRoman, es handelt sich zumeist um eine Liebe ohne Beziehung, d. h. ohne ein Gegenüber, das nicht vorwiegend eine Extension des Mannes ist.30 Der Bezug, den Hollin anfänglich zur Liebe hat, wird zweifellos am treffendsten durch die Charakterisierung erfasst, die der Held in der Wiedergabe seines Schicksals seitens des Grafen im Dolores-Roman erfährt: »Hollin hatte einen jugendlichen Hochmut gegen die Weiber, aus Mangel an Umgang mit ihnen hielt er sie kaum für Menschen […]; was er von Liebe wußte war nur im Allgemeinen empfunden, nie bei einer einzelnen entdeckt.«31 Als Leonardo ihm seine Schwester Marie vorstellen will, versteckt er sich aus Schüchternheit oder, in seiner rationalisierenden Diktion: er flieht die »Unnatur moderner Weiblichkeit« (25), über die er sich theoretisch unterrichtet wähnt. Durch das Liebeserlebnis mit Marie schwindet, wie Odoardo ihm konzediert, seine »Verachtung« (50), um nach der räumlichen Trennung von Marie im Umgang mit anderen Frauen als eine Komponente eines ›gespaltenen Eros‹ wiederzukehren (vgl. 51, 54, 58).32 Der Roman liest sich in manchen Passagen wie ein Anwendungsfall des zeitgenössischen Wissens über die Liebe in ihrer irdischen und ›kosmogonen‹ Dimension. Es geht dem Autor vor der späteren, an den Werther angelehnten Darstellung der Erfahrungsevidenz der Liebe zunächst merklich darum, diese intelligibel zu machen und ihren Stellenwert in der natürlichen und kosmischen Ordnung zu veranschaulichen. Pointiert gesagt haben wir eine Übertragung der 28

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Achim von Arnim an August Winkelmann, 24.11.1801. Zit. nach: Briefe aus dem Brentanokreis. Mitgeteilt von Ernst Beutler. In: Jahrbuch des freien Deutschen Hochstifts (1934/35), S. 367–455, hier S. 377. Achim von Arnim: Die Ehenschmiede. Novelle aus den Denkwürdigkeiten eines Naturforschers. In: A. v. A.: Werke in sechs Bänden. Bd. 4: Sämtliche Erzählungen 1818–1830. Hg. v. Renate Moering. Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 83), S. 892. Diese Form der Zurückweisung der Instanz der Frau hat Hans Ulrich Reck auch dazu veranlasst, Arnim als Mitbegründer des Mythos der Junggesellenmaschine anzusehen. Vgl. »Virtual Reality ist doch faktisch die Eve future par excellence«. Oswald Wiener im Gespräch mit Hans Ulrich Reck. In: Junggesellenmaschinen. Erw. Neuausg. Hg. v. Hans Ulrich Reck u. Harald Szeemann. Wien, New York 1999, S. 327–339, hier S. 327. Arnim: Gräfin Dolores, S. 200. In seiner überhöhten Erscheinung, also jenseits seiner irdisch-sinnlichen Ausrichtung, spaltet sich der Eros im Hollin, am Rande bemerkt, in eine todesverfallene und eine transzendierende Komponente.

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deduktiven Wissenschaftskonzeption des Autors in die Dichtung vor uns: Erst die Theorie, dann die Liebe. Zur Illustration gelangen besonders Aspekte von Odoardos Eingangsthese: »Unser Zeitalter ist gleich arm an Liebe wie in der Liebe« (12), wobei im Grunde deren doppelte Erscheinungsform zur Sprache gelangt: die freie, unbedingte, naturkonforme und die gesellschaftlich domestizierte.33 Hierbei sind im Sinne des Ganzheitsgedanken gelingendes Lieben und gelingendes Leben zusammengedacht: die Liebe ordnet das Leben; fehlt diese, gerät es in Unordnung. Nach der Vereinigung mit Marie beginnt Hollin »unverdrossen« sein »Schicksal zu bauen«, »alle Phantasie muß jetzt zum Leben werden […]. Die leeren Wünsche, das Herumirren des Gefühls, die Lebensschwärmerei hört auf.« (49) Die Frage, die der Roman stets mit thematisiert, ist folglich die, warum Hollin nach vielversprechenden Ansätzen im Lieben und im Leben scheitert, und diese Frage ist untrennbar mit dem Ordnungsgedanken verbunden, dessen epistemologische Dimension immer präsent ist. Denn letztlich geht es darum, dass ein Ganzes erfahrbar wird, worin nicht nur Mann und Frau sowie Mensch und Natur vereinigt sind, sondern auch die ausdifferenzierten Disziplinen Poesie, Wissenschaft, Philosophie und Religion zu einer Erkenntniseinheit werden. Es geht um die »Bildung eines vollständigen Systems«, das Arnim zufolge in der Wissenschaft »vielleicht immer nur eine Annäherung seyn« wird, »während die Dichtkunst ein in sich vollständigeres organisches System [giebt]«.34 Der Fluchtpunkt seiner Dichtung ist die Synthese beider Denkarten, die der Einheit, d. h. der »Ordo« des Objektbereichs entspricht, den er in einem Brief spekulativ bekundet: »Ich fühle jetzt recht […], daß eine gewaltige Dichtung durch die ganze Natur weht, bald als Geschichte, bald als Naturereignis hervortritt, die der Dichter nur in einzelnen schwachen Wiederklängen aufzufassen braucht.«35 »Jedes Wesen«, so instruiert Hollin seinen Freund Odoardo, »hat eine sympathetische Richtung, eine freischwebende Erscheinung in der Außenwelt […], und die Liebe ist ihre eigentliche Erscheinung.« (43) Im ersten Romandrittel,

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Die »freie«, entgrenzende Liebe, die »unendliche Begierde […] die auf Erden keinen Frieden findet«, ist auch eine wesentliche Größe in Brentanos Godwi. Verkörpert wird sie dort von Kordelia: »Wer sein Haupt im Himmel trägt, dem verwelket das Herz in der drückenden, niederen Sphäre«. Clemens Brentano: Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria. In: C. B.: Werke. Bd. 2. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. Friedhelm Kemp. 3. durchges. Aufl. München 1980, S. 331. Zu diesem Liebesbegriff vgl. auch Bernd Reifenberg: Die »schöne Ordnung« in Clemens Brentanos Godwi und Ponce de Leon. Göttingen 1990 (Palaestra 291), S. 137f. Achim von Arnim: Nr.5 GSA 03/209,8. Verhältnis der chemischen Ausbildung zur poetischen. Zit. nach: Stein/Gerten: Unveröffentlichte Texte, S. 486. Vgl. auch ebd., S. 485: »Daß der Chemiker die Natur anders ansieht als der Dichter […] bedarf keiner Erinnerung. Jenem erstirbt das Einzelne weil er es vom Ganzen getrennt und das Ganze weil er es vereinzelt hat, diesem lebt es stets in abwechselnder Gestalt, Chemie wird daher durch Poesie da wo sie es ganz ist behindert sowie sie diese wiederum beschränkt.« Achim von Arnim: Brief an Gräfin Schlitz, Ende Juli 1808. In: Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. I, S. 35.

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das überwiegend episodisch vom bohemischen Studentenleben Hollins handelt und in einer fragmentierten Erzählweise36 präsentiert wird, die sprunghaft diverse Themen anspricht, finden sich neben wissenschaftlichen und reflexiven Splittern auch eine theoretische Nobilitierung der Liebe. Sie wird als der »belebende[] Trieb« der »bildende[n] Natur« begriffen, in der, wohl der ConatusIdee Spinozas folgend, »jedes Wesen nach seinem Gesetze« (15) ringt und in der kein Wesen untergeht, sondern seinem Bildungstrieb folgend metamorphisch »in erhöhter Organisation [ersteht]« (31). In der menschlichen Welt ermöglicht sie nichts weniger als deren Grundzusammenhalt: »ist nicht die Liebe frei und ist es nicht die eigentlichste Sympathie, das innerste Band der Menschen, alles liebevoll zu umfassen?« (16) Zwischen der Liebe als allegorischem Code für die umfassende Einheit des Wirklichen und deren menschenweltlichen Komponenten liegt die vermittelnde Sphäre der physikalischen Kraft: Als Maria auf dem Brocken von Hollin magnetisiert37 wird, spricht sie wie eine Verklärte über körperliche Entgrenzung und die All-Verbundenheit des menschlichen Wesens (vgl. 37). Optische und elektrische Phänomene potenzieren diese psychophysische Sensation, denn das »innige Durchdringen des elektrischen Funkens von einem Arm zu andern« bewirkt eine »lebende[] Empfindung, die mit heiliger Wollust von außen nach innen und mit erneuerter Kraft von innen nach außen […] alles Leben […] in den Genuß weniger Minuten zusammendrängt« (37). »Das ist der eigentliche Magnetismus, dieses ist […] das Zentral-Phänomen«, erklärt der magnetisierende Protagonist und schließt sich damit der Ansicht von Johann Wilhelm Ritter an, der den Galvanismus als »Centralphänomen« erkennt, »in dem die Naturtätigkeit ihr allgemeines Schema enthüllt.«38 In diesen Passagen tritt unverkennbar ein leitendes literarisches Anliegen Arnims hervor: Arnim sucht nach einer poetischer Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Liebe (»Was ist Liebe?«) und zugleich auch auf die Frage, wie es sich anfühlt zu lieben (»Wie ist Liebe?«). Im weltanschaulichen Dialog zwischen dem schwärmerischen Müßiggänger Hollin und dem aufklärerischen Skeptiker Odoardo ist die Liebe wohl auch im 36 37

38

Vgl. Michael Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose: Die Ordnung der Motive in Achim von Arnims Erzählwerk. Bern [u. a.] 1996, S. 472. Hatte Arnim noch im Jahr 1800 von dem selbst untersuchten »tierischen Magnetismus in der wahren, nicht in der Mesmerischen Bedeutung« gesprochen, scheint er Hollin die Mesmerische Methode des Magnetisierens zur Intensivierung der Anziehung praktizieren zu lassen. Vgl. dazu auch: L. A. von Arnim: Ideen zu einer Theorie des Magneten. In: Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Bd. 6: Schriften. Hg. v. Roswitha Burwick, Jürgen Knaack u. Hermann F. Weiss. Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 72), S. 51. Klaus Stein: »Die Natur, welche sich in Mischungen gefällt«. Philosophie der Chemie: Arnim, Schelling, Ritter. In: »Fessellos durch die Systeme«, S. 143–202, hier S. 194. Vgl. auch: »Der Magnetismus ist gleichsam das Tor aus der Welt in die unendliche Natur. Schon, daß der Magnet eine bestimmte Richtung hat, deutet es an.« Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur [1810]. Hanau a. M. 1984, S. 170, Fragment 368 (1799).

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271

lebensweltlichen Sinn ein bedeutsames Thema. Ausgangspunkt für den Disput ist – natürlich – ein Text, nämlich Rousseaus Nouvelle Heloise. Hollin ortet darin eine »Gedehntheit, die keine Spannung ist« (übrigens eine wohl treffende Charakterisierung auch von Arnims Dolores-Roman!), vor allem aber »verschrobene[] Ideen aller über Liebe und Ehe«, besonders ein »muthwillige[s] Spiel mit dem Allerheiligsten.« (23) Hollin erweist sich hier ganz als Verfechter der von Luhmann als solcher beschriebenen romantischen Steigerung der Liebe als Passion hin zur »Einheit des Freiseins-im-Anderen.«39 Eine Ehe ohne Liebe ist ihm eine »unerlöschliche Schändung«, eine »Unnatur unserer Zeit« und »geregelte Jämmerlichkeit« (23). In der Liebes- resp. Eheauffassung deckt sich Hollin auch völlig mit jener in Friedrich Schlegels Lucinde: Dass ihm »keine andere wahre Ehe als der Bund der Liebe denkbar sei« und »die Liebe alles bewilligen müsse, was sie mehr als Freundschaft geben kann« (23), kommt der »echten Ehe«40 gleich, die Schlegels Protagonist Julius in einem Brief beschreibt bzw. praktisch lebt. Allerdings ist die Integration von amour und plaisir bei Arnim deutlich weniger gelungen als bei Schlegel: die Einheit der Facetten der Liebe wirkt bei Arnim eher behauptet, während sie in der Lucinde als erlebte plausibilisiert wird. Gemeinsam ist beiden der Anwurf gegen die Philisterehe, ähnlich der Ansicht des Dichters Maria in Brentanos Godwi, der die Kluft zwischen bürgerlicher Ehe und passionierter Liebe wie folgt pointiert: »Wir werden eine Liebe haben, wenn wir keine Ehe mehr kennen.«41

5. Liebesglück und sozialer Sündenfall Durch die Begegnung mit Maria erlangt Hollins Liebesvorstellung eine Richtung, die vorerst auch einen zentrierenden Effekt hat, idem sie Hollins Gefühlswirrnis beendet (vgl. 49). Diese neue Stimmungslage findet einen formsemantischen Ausdruck darin, dass die Erzählung von der Harzreise, der Brockenbesteigung und der Vereinigung am locus amoenus der Roßtrappe narrativ kohärenter und syntaktisch geglätteter ist. Die Mimesis der Erfahrung von Selbstund Seinsganzheit stiftet einen formalen Zusammenhang, der sich konsequenterweise nach der Distanzierung von Maria wieder verliert. Es sind vor allem die Briefe vom 18. bis 21. April, die erkennbar dem Werther-Vorbild verpflichtet sind, also eine vorübergehende Abkehr vom dramatischen Briefroman

39 40 41

Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982, S. 178. Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman. Mit Radierungen v. M[artin] E. Philipp u. einem Nachwort v. Wolfgang Paulsen. Frankfurt a. M. 1985 (it 817), S. 109. Brentano: Godwi, S. 294. Vgl. dazu auch die Aussage Arnims zur Realität der Liebesverhältnisse: »Gott macht die Liebe, und der Teufel die Heirathen.« Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. I, S. 270.

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französischen Typs darstellen,42 und in denen das Berichtende, Schwadronierende der früheren Briefe von unmittelbaren Gefühlsschilderungen abgelöst wird. In der Erlebnisdimension wird Liebe für Hollin zur weltöffnenden Kraft, zum Medium der Selbsttranszendierung. In der Steigerung des Liebesempfindens weist dessen Telos weit über das Objekt hinaus: die Liebe erfährt auf dem Brocken eine metaphysische Beglaubigung, als in einer Nachbildung der Wertherschen Klopstock-Szene Maria in weißem Gewand aus dem Haus kommt, die Sonne durchbricht und sie im Morgenlicht stehen: Ich vermochte nicht Worte zu denken, zu reden, sie blickte mich liebevoll an, berührte meine Stirn mit ihrer Hand, ein sanftes Feuer verbreitete sich über mich, des neuen schöneren Lebens. Mein Herz klopfte freudig, meine Adern schwollen, ich erhob mich begeistert, da erhob sich vor unserm trunkenen Blicke der äußerste Schein der Himmelsröte, bald eilten alle herbei. Einige sangen im Scherz ein Morgenlied, Maria stimmte ernsthaft ein, bald 43 horchten ihr alle zu […] sie sang aus Haydn’s Schöpfung. (40)

In diesem synästhetisch generierten ekstatischen Moment einer personalen Entgrenzung wird Hollin »der Vereinigung alles Lebens« (38) inne. Das Symbol der Memnonsäule44 (vgl. 60) und die zahlreichen Lichtmetaphern – »Es wurde heller umher, der Fels schien sich aufzubewegen« (40) – beglaubigen die privilegierte ideelle Erkenntnis in dieser offenbarenden Naturschau.45 Eine theoretische Äußerung des Autors lässt deutlich werden, dass hiermit an eine

42

Zur Unterscheidung von epischem (englischem) und dramatischem (französischem) Modell des Briefromans vgl. Wolfgang Matzat: Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac. Tübingen 1990 (Romanica Monacensia 35), S. 52f. 43 Sie singt wohl das Lied III/1, Nr. 29: »Aus Rosenwolken bricht, / Geweckt durch süßen Klang, / Der Morgen jung und schön. // Vom himmlischen Gewölbe / Strömt reine Harmonie / Zur Erde hinab. // Seht das beglückte Paar, / Wie Hand in Hand es geht! / Aus ihren Blicken strahlt / Des heißen Danks Gefühl.« Joseph Haydn: Die Schöpfung. Die Jahreszeiten. Textausgabe. Hg. u. eingel. v. Georg Feder. Stuttgart 2007 (RUB 18509), S. 34. Die Stelle scheint auch einen biographischen Nachträglichkeitseffekt bewirkt zu haben, denn 1802 berichtet Arnim an Brentano aus Wien: »Paradiesische Tage lebte ich […] auf dem Kahlenberge, da tönte alles vom Gesange der Mädchen, auf der Orgel der Klosterkirche Haydn’s Schöpfung.« Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I, S. 9. 44 Vgl. dazu auch: Achim von Arnim, Verhältnis der chemischen Ausbildung zur poetischen, S. 486: »Die poetische Ansicht der Natur findet in dem ersten Strahle der Sonne der in Memnons kalter Brust Harmonien entzündet ihren Ursprung«. 45  Manches in dieser Passage ähnelt so sehr einigen Aussagen in Schillers 1786 erschienen Philosophischen Briefen, bes. im Abschnitt »Theosophie des Julius«, dass Arnims – hier nicht belegbare – Kenntnis dieses vornehmlich argumentierenden Briefroman-Fragments vermutet werden muss: »Die Höhe ist erstiegen, der Nebel ist gefallen, wie in einer blühenden Landschaft stehe ich mitten im Unermeßlichen. Ein reineres Sonnenlicht hat alle meine Begriffe geläutert. Liebe also – das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung, der allmächtige Magnet in der Geisterwelt […] ist nur der Widerschein dieser einzigen Urkraft, eine Anziehung des Vortrefflichen, gegründet auf einem augenblicklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen.« Friedrich Schiller: Philosophische Briefe. In: F. S.: Sämtliche Werke. Fünfter Band. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1993, S. 336–358, hier S. 348.

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epistemologisch höchste Dimension herangeführt wird: »Es ist mit dem Lichte uns gleichsam etwas Höheres gegeben und wir können uns nicht enthalten es als das Erste anzusehen, von dem […] alle Deduktion ausgeht.«46 Das physisch wahrnehmbare Licht erscheint hier plotinisch47 als Abglanz des höchsten Lichts: ijȫȢ İț ijȦIJȩȢ. Maria wird in diesem Kontext Ulfert Ricklefs zufolge zum »Medium der Idealität: Muse, Sophia [und] Lichtgestalt«.48 Die Erlebnisqualität dieses paradiesischen Zustands, der Höhepunkt von Hollins Seelenstreben, will dieser auf Dauer stellen, und das ist ohne Maria nicht möglich: »Beim Himmel mit eben dem Sinne, an Mariens Seite, durch sie ganz glücklich, oder nimmer!« (42) Oder nimmer. Diese Bemerkung ist proleptisch zu verstehen, denn der Sündenfall aus der All-Natur ins Gesellschaftliche ist unausweichlich, soll Liebe ins Leben geholt werden. In Hollins Verständnis ist die All-Liebe eng mit Naturerleben und dessen Extension ins kosmische Empfinden verbunden. In der Natur als Resonanzraum seines Inneren hört er auch erstmals Mariens »süße[] Stimme« (26) und gerät in einen sirenenartigen Bann. Und in der Naturidylle ereignet sich schließlich der Koitus, der als unio mystica erlebt wird: »alle Wunder der Natur umfingen uns, alles Heilige, die Schranken des Lebens öffneten sich, unser heiliger Bund wurde geschlossen.« (47) Obwohl bei der Hinwanderung zur Roßtrappe schon einige bedrohliche Zeichen auftauchen wie die »jähe Granitwand«, das »Toben« (47) des Wassers, bleibt der Natureinklang in der Vereinigungsszene erhalten, deren Darstellung das Erlebte mit einem expliziten Zitat zusammenfasst und es durch diese Einschreibung in eine universelle Kosmo-Psycho-Erotologie theoretisch beglaubigt: »Alles in Eins und Eins in Allem. Spinoza«. (47) Doch die bukolische Stimmung und das Gefühl, mit Allem »in ewiger Kette« (49), dem »heilige[n] Band der Allnatur« (83f.) verbunden zu sein,49 zerbricht jäh, als Hollin beschließt, um Maria heiraten zu können, »nach der Hauptstadt« zu gehen und »für [s]eine Beförderung zu sorgen.« (51)

46

Achim von Arnim: Nr.8 GSA 03/213,7. Aphorismen über das Licht. Zit. nach: Stein/Gerten: Unveröffentlichte Texte, S. 489. 47  Zum Einfluss Plotins auf die deutsche Romantik vgl. Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Übers. v. Dieter Turck. Frankfurt a. M. 1993 (stw 1104), S. 357f. 48 Ulfert Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik. Das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit des »Kronenwächter«. Tübingen 1990 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 56), S. 19. Darin ähnelt sie, am Rande bemerkt, stark der Annonciata (= Kordelia) in Brentanos Godwi, die das Prinzip der »freien Liebe« darstellt, »die unendliche Begierde, die auf Erden keine Hülfe, keinen Frieden findet.« Brentano: Godwi, S. 331. 49 Der Bezug auf die Aurea catena Homeri ist offensichtlich. Vgl. N. N.: Annulus Platonis (Aurea Catena Homeri) oder physikalisch-chymische Erklärung der Natur nach ihrer Entstehung, Erhaltung und Zerstörung. Franckfurt 1721. Vgl. auch Hollins Rede von der »höchsten Sprosse der Stufenleiter aller Wesen« (15).

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In Hollins an Rousseau angelehntem Gesellschaftsverständnis ist der Sozialraum dem Naturraum diametral entgegengesetzt.50 Sein »Liebes-Pantheismus«51 findet in der »schwüle[n] Stadtluft« (31) keine Resonanz; ohne sein Medium Maria kann er dem »frei scheinenden Zwang« (53), der »kalte[n] seelenlosen Welt der höheren Stände«, der »Welt des Sprechens ohne Denkkraft« (52) sowie der »völligen Sittenlosigkeit des Stadtlebens« (59) auf Dauer zu wenig entgegensetzen. Der Übergang zwischen den beiden Existenzformen erfolgt in einem tranceartigen Individuationserlebnis in einer Waldhütte, einem erlesenen locus melancolicus, während der stürmischen Walpurgisnacht. Jedoch kommt es dabei, Urs Büttner zufolge, nur zur Ausbildung einer »antisoziale[n] Individualität«, die auf der Basis einer trügerischen Identifikation mit dem Ideal-Ich »ohne sozial vermittelnde Muster« aus sich selbst entwickelt wird.52 Der urbane Raum, in dem das Leben zur Rolle wird, das bürgerliche Leben, in dem der Schwärmer sein Höchstes nivelliert empfindet, verändert auch die Gestalt der Liebe: Außerhalb der Mensch-Natur-Einheit ist sie uneigentlich, strategischer sowohl in der weiblichen Anbahnung als auch in Hollins vorgeblicher Abwehr. Vom liebeserfahrenen Lenardo dergestalt unterrichtet, dass »die Weiber keinen Treusinn«, wohl aber einen »Leichtsinn« (24) kennen, entgegnet Hollin Odoardos gleichsam mephistophelisch-pragmatischer Sicht auf die Liebesdinge – »Wirst du nicht bald mehr Mädchen sehen, wird nicht jedem neuen Eindrucke der ältere weichen?« (50) – mit einem zwiespältigen53 Treuebeharren: »Ich nenne nicht Untreue, wo der Geist sich fleckenlos bewahrt, durch ihn wird jede Begierde edel oder niedrig, die einzige wahre Treue fordert, sein eigentliches Wesen unverändert der Geliebten zu bewahren; wer unschuldig sein Gemüt bewahrt, geht schuldlos aus der Buhlerin Armen.« (51)54 – Hollin sucht Marie

50

51 52

53

54

Zur Signifikanz solcher Raumdichotomien vgl. Jurij M. Lotmann: Die Struktur des künstlerischen Textes. Hg. u. mit einem Nachwort vers. v. Rainer Grübel. Frankfurt a. M. 1973 (es 582), S. 340f. Specht: Fiktionen von der Einheit des Wissens, S. 39. Urs Büttner: Arnims Kritik an Rousseaus Rollenkonzept in Hollin’s Liebeleben als Anfänge einer »sozial«-bewussten Denkweise. In: Neue Zeitung für Einsiedler 6/7 (2008), S. 18. Zwiespältig auch deshalb, weil das Motiv der belohnten Treue über Distanz im Hollin eine bedeutende Rolle spielt und bei der Begegnung auf dem Brocken Maria und Hollin sich enthusiastisch über Tiecks Roman Die schöne Magelone verständigen, der eine Glorifizierung der Treue ist und der in einer gesungenen Sentenz endet: »Treue Liebe dauert lange, / Überlebet manche Stund, / Und kein Zweifel macht sie bange, / Immer bleibt ihr Mut gesund.« Ludwig Tieck: Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence. In: Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden. Bd. II: Die Märchen aus dem Phantasus. Dramen. Hg. v. Marianne Thalmann. München 1978, S. 113–161, hier S. 161. Eine in dieser Hinsicht eindeutigere Parallelstelle findet sich in Arnims Melück Maria Blainville, wo der ehebrecherische Graf meint, »die ganze Welt sei von zweierlei Liebe besessen; unbeschadet der höheren, glaubte er sich der Araberin in dem niederen Sinne ergeben zu können«. Achim von Arnim: Melück Maria Blainville, die Hausprophetin aus Arabien. In: A. v. A.: Werke in sechs Bänden. Bd. 3: Sämtliche Erzählungen 1802–1817. Hg.

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»in jeder Frau […], finde[t] sie nirgends und in allen Ähnlichkeit mit ihr« (51), so etwa in der magnetisch reagierenden Gräfin Irene, die er »im Morgenkleide« (54) antrifft und deren »Berührung, ihr Arm, die Hand zu brennen scheint« (52), in der Schauspielerin Hermine, die sich vor ihm »ohne falsche Scham ihrer durchnäßten Kleider« (58) entledigt, und in Bettine, »die viel Ähnlichkeit mit Marien« (61) hat. Die Allusion des für den Briefroman von Richardson über de Laclos bis Brentano (Godwis Vater) geläufigen Motivs der galanten Liebe hat hier die Funktion, der Ontologie der All-Liebe das Liebeleben des aus dem Paradies Gefallenen (vgl. 61) vermittelnd zu kontrastieren. »Liebe zurückstoßen«, so Hollin, »ist die einzige Sünde gegen den heiligen Geist, die durch keine Reue abgebüßt werden kann.« (55) Wenn sich der Verführer hier einer religiösen Diktion bedient, verfolgt er damit keineswegs eine, wie sonst üblich, blasphemische Absicht; vielmehr scheint er auch diese Liebesform, wohl deren »höhere« Komponente, als Aspekt der universellen Liebe retten zu wollen.55 Die nicht ins Leben holbare autonome Liebe erfährt Hollin nur im ich-syntonen dyadischen Kurzschluss; das Einbrechen eines Dritten, des Sozialen, bedeutet ihr Ende. Entsprechend ist Hollins Liebe von vornherein todessehnsüchtig: Einem Leben in zerrissener Liebe zieht er den Tod vor; durch ihn erhält sie letztlich ihre Beglaubigung: »Soll durch den Tod die Liebe lohnen, wird Liebe in dem Tode wohnen« (84), lautet Hollins letzte programmatische Aufzeichnung. Die sehr konstruiert wirkende tödliche Eifersuchtsintrige, die auch aufgrund des Motivs der absoluten Liebesidee und des Falls aus der großen Kette der empfindenden Wesen Schillers Kabale und Liebe vergleichbar, wenn nicht gar geschuldet ist, scheint lediglich eine umweghafte Motivierung der Dynamik hin zum Selbstmord zu sein. Hollin möchte in Verbindung mit Maria die kosmische mit der bürgerlich-lebensweltlichen Ordnung, d. h. rechtes Lieben und rechtes Leben zur Kongruenz bringen: Die Irritationen des sozialen Rollenspiels aber stellen alles in Frage, der Riss in der Kette reißt alles mit: »Das Leben war mir längst verhaßt« (88), denn: »Alles gelingt in der Liebe« (49) und außerhalb der Liebe folglich nichts. Ihr Verlust mündet in völlige Verkennung, ins Sich-Verlieren in das »Gaukelspiel niederer Natur« (48) und in den spektakulären Suizid auf der Ersatzwelt des Theaters. Um diesen möglichst drastisch auszugestalten, betreibt Arnim einigen intermedialen Aufwand: Der Schiller-Intertext gibt die Handlungsdynamik und die Theatermaschinerie vor; optische und akustische Phänomene werden mimetisch möglichst präzise dargestellt, um auf der Bewusstseinsbühne des Lesers große Effekte zu bewirken – gemäß der Intention,

55

v. Renate Moering. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 55), S. 745–777, hier S. 755. Vgl. dazu die Auffassung Arnims: Der »Sünder trägt in sich ein verlornes Paradies und wie im Physischen, so im Moralischen giebt es keine Leere.« Zit. nach: Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. III, S. 263.

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»ein Trauerspiel mit Briefen« zu verfassen. Für Brentano übertrifft Arnims Darstellungseffekt sogar denjenigen Schillers: »Du hast im Hollin einen Mortimer gedichtet, in dem du einen liebenden sich in Mortimers kaltem Leichnam ermorden läst, so hast du Schillern besiegt.«56 Diese eindringliche Vergegenwärtigung von affektiven Prozessen macht es wohl aus, dass Hollins Scheitern entgegen der auktorialen Absicht in subversiver Weise ins Recht gesetzt wird, denn das Leben Hollins erfährt eine poetische Deutung von der Innenseite des Erlebens her und bleibt daher paradoxerweise als gelungeneres im Gedächtnis als jenes von de Saussure. Denn dieses ist, pointiert gefasst, »ein exemplarisch diszipliniertes und unermüdlich zuversichtliches Leben.«57

6. Hollin und Benedikt von Saussure Hollins Lebensgeschichte ist gewiss kein Bildungsroman, auch wenn Burwick dies suggerieren mag: Mit Hollin zeichne Arnim, »das Bild eines nach Freiheit und Wissen strebenden Menschen, der in dem Kampf der inneren und äußeren Kräfte unterliegt.«58 Das klingt sehr nach einer Art scheiterndem Wilhelm Meister, dessen Schicksal aber nicht in einer epischen Distanz eingesargt, sondern im Sinn einer anteilnehmenden Erkenntnis vergegenwärtigt werden sollte. In einem Brief an Brentano liest sich diese Darstellungsüberlegung wie folgt: Es ist eine goldne Stelle im Wilhelm Meister, sie sagt ungefähr, jeder, der seine voll Kraft anstrengt nach einem hohen Ziele erregt unsere Teilnahme, mißglückt er, so ist unsere Teilnahme fort […]. Ein besiegter Held giebt kein hohes Heldengedicht, denn Gott war 59 nicht mit ihm, auch wenn ihn ein blosser Zufall besiegt hat.

Gewiss wird Hollin vom Zufall besiegt, von der zu schnell ablaufenden Zeit, die keine Möglichkeit zur Aufklärung der Intrige mehr bietet. Der Zufall aber wirkt deutlich konstruiert. Besiegt wird Hollin letztlich von der Moral des Autors, wie ein Brief an Bettine zeigt: Er habe, so Arnim, aus großer Achtung für die bürgerliche Einrichtung der Ehe in der Bibel und im Landrecht darüber nachgelesen und dabei »die wunderlichsten Definitionen« gefunden. »Hätte ich das damals gewußt, wer weiß, ob ich meinen Hollin umkommen lassen, weil er gegen die bürgerliche Ordnung gesündigt.«60 Dass Hollin sich über bürgerliche

56 57 58 59 60

Clemens Brentano an Arnim, Weihnachten 1802. In: Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe I, S. 79. Hildegard Baumgart: Bettine Brentano und Achim von Arnim. Lehrjahre eine Liebe. Berlin 2001, S. 92. Burwick: »Sein Leben ist groß«, S. 70. Achim von Arnim: Brief vom 18.11.1802. In: Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe I, S. 72. Achim von Arnim: Brief vom 21.8. 1809. In: Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hg. v. Reinhold Steig u. Herman Grimm: Bd. II: Achim von Arnim und Jacob und Bettina

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und religiöse Verhältnisse hinausgesetzt habe, wird in der Gräfin Dolores dreimal bestätigt (vgl. 190, 208, 219). Eine Art Bildungsgeschichte hingegen ist de Saussures Lebensdarstellung, wohl die knappste der deutschen Literatur, die hier explizit als »Beispiel« (90) geführt wird. Das Leben dieses Forschers »ist groß, weil es ein Ganzes war« (90) bzw. »ein harmonisches Ganzes und doch der Keim unendlicher Entwickelung« (99). Ähnlich wie bei Hollin wirft sich das »bürgerliche Leben […] kalt und unfreundlich zwischen« ihn und seine Geliebte, auf die er zwei Jahre warten muss, bis er sie ehelichen kann und die Bestimmung des Lebens klar vor ihm liegt. Die Zwischenzeit vertreibt er sich mit dem Studium der Logik; der »unbefriedigten Sehnsucht« kontrastiert er vorteilhaft die »beschränkteste[] Befriedigung einer Formphilosophie« (93). Die endlich möglich gewordene Ehe bewirkt, dass »die Sehnsucht erlischt« und »die Bestimmung seines Lebens klar vor ihm liegt.« (94) Sein Leben glückt – das jedoch wird nur behauptet und literarisch nicht gestaltet; es glückt, weil seine Liebe in die soziale Ordnung übergeführt wird, allerdings ist dann konsequenterweise von Liebe nicht mehr die Rede.61

Brentano. Bearb. v. Reinhold Steig. Mit zwei Porträts und einem Musikblatte. Stuttgart 1913, S. 322. 61  Über Sinn und Funktion des Saussure-Abschnitts ist viel gerätselt worden. Eines der plausibelsten Argumente für deren Motivierung scheint mir letztlich ein biographisches zu sein: »Armin benennt im Hollin zum erstenmal die Grundunentschiedenheit seines Lebens. Einerseits begehrt er gegen Philisterei und Autoritäten auf und steht für Freiheit, Gefühl und Selbstbestimmung. Andererseits braucht und verlangt er Einordnung, Einsicht, Disziplin und bürgerliche Tradition.« (Baumgart, Bettine Brentano, S. 92.

Susanne Knaller

Der italienische Briefroman im Kontext von Subjektivitätsund Mimesispoetiken des 18. und 19. Jahrhunderts Ugo Foscolos Le ultime lettere di Jacopo Ortis

1. Einleitung In einem anregenden Aufsatz deutet Jürgen von Stackelberg1 den Briefroman als Absage an die idealistische Ästhetik der Klassik und als Annäherung an die Theorie des modernen Realismus. Als Referenz für diese Einschätzung dient ihm Diderots Éloge de Richardson, ein Loblied auf die realistische und rührende Kraft des Briefromans.2 Auch wenn sich Diderot mit seinem Illusionspostulat gegen einen Regelklassizismus und für eine illusionistische Literatur des »réel« einsetzt, ist es ein Ansatz, der noch weit von einem modernen Realismus entfernt ist. Weiterhin dem Mimesisauftrag der klassizistischen Literatur des 18. Jahrhunderts verpflichtet, gilt es, ein im moralischen wie idealen Sinn Wahres mit illusionistischen Verfahren nachzuahmen.3 Ebenso wie das Illusionspostulat ist der Auftrag zur Rührung und Identifikation der Leserinnen und Leser ein schon im Klassizismus verankertes Ansin1 2

3

Jürgen von Stackelberg: Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit. In: Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 293–306, hier S. 298. »Cet auteur ne fait point couler le sang le long des lambris; il ne vous transporte point dans des contrées éloignées; il ne vous expose point à être dévoré par des sauvages; il ne se renferme point dans des lieux clandestins de débauche; il ne se perd jamais dans les régions de la féerie. Le monde où nous vivons est le lieu de la scène; le fond de son drame est vrai; ses personnages ont toute la réalité possible; ses caractères sont pris du milieu de la société […];« (Denis Diderot: Éloge de Richardson. In: D. D.: Œuvres. Texte établi et annoté par André Billy. Paris 1951 (Bibliothèque de la Pléiade 25), S. 1059–1074, hier S. 1060f.) Angesichts dieser Begeisterung mag man sich der Verwunderung von Stackelberg anschließen, dass Diderot seinerseits keinen Briefroman verfasst hat. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass Richardsons Vorbildhaftigkeit mit dem dramatischen Potential der Briefromane begründet wird und sich dadurch als Exempel für Diderots Poetik des drame eignet. Vgl. dazu Joachim Küpper: Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans von der französischen Spätaufklärung bis zu Robbe-Grillet. Ausgewählte Probleme zum Verhältnis von Poetologie und literarischer Praxis. Stuttgart 1987 (Zeitschrift für französische Sprache und Literatur. Beihefte N. F. 13), S. 13. »O Richardson! j’oserai dire que l’histoire la plus vraie est pleine de mensonges, et que ton roman est plein de vérités. L’histoire peint quelques individus: tu peins l’espèce humaine […]. O peintre de la nature! c’est toi qui ne mens jamais.« (Diderot: Éloge de Richardson, S. 1067f.)

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Susanne Knaller

nen. Neu hingegen ist die Aktualität des Erzählten, die Betonung bürgerlicher Wertmodelle und des alltäglichen Lebens vor abenteuerlichen, heroischen und mythologischen Wirklichkeiten. Diderots Éloge führt vor, dass der Briefroman in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einem Spannungsverhältnis zwischen klassizistischer Idealnatur, gesellschaftlichem Wirklichkeitsbegriff und bürgerlicher Empfindsamkeit verankert ist.4 Ausgehend von dieser Annahme will ich im Folgenden der Frage nach den Möglichkeiten der Briefform im Gefüge der ästhetischen Modelle des 18. Jahrhunderts nachgehen. Vorweg lassen sich folgende Ausgangsthesen skizzieren: Der Brief und in weiterer Folge der Briefroman bieten ein kongeniales Terrain zur literarischen Austragung der Mimesispoetik des 18. Jahrhunderts. Dieser ist die Vorstellung einer dem Text oder dem Kunstwerk vorgängigen idealen Natur inhärent, die es im künstlerischen Akt zu erkennen und zu repräsentieren gilt. Das Verhältnis zwischen Briefroman und Mimesiskonzepten des 18. Jahrhunderts werde ich anhand wirkungsästhetischer und gattungspoetologischer Konzepte und den Begriffen Originalität, Empfindsamkeit und Illusion beschreiben. Zu berücksichtigen ist dabei das diesen Modellen zugrunde liegende moderne Subjektverständnis, wie es sich mit Ende des 17. Jahrhunderts und besonders im 18. Jahrhundert herausbildet. Im Anschluss an die Analyse des späten monologischen Briefromans Le ultime lettere di Jacopo Ortis lässt sich zeigen, warum der Briefroman in der innovativen Romanentwicklung des 19. Jahrhunderts nicht mehr berücksichtigt wird.

2. Originalität, Empfindsamkeit, Illusion Nicht anders als in den nicht-fiktiven Briefwechseln wird im Briefroman das Subjektverständnis des 18. Jahrhunderts reflektiert. Darin wird ein von Naturund Tugendgeboten abhängiges Ich modelliert, das aus selbstbeobachtender Perspektive Gefühls- und Selbstbewusstsein reklamieren kann. Im Gegensatz zu klassizistischen Texten tritt in den Briefromanen eine dialogische bzw. mehrstimmige Konstellation in Kraft, mit der man sich gegen gesellschaftlich starre Rollenvorgaben und emotionale Regulierungen wendet. Dieses Ansinnen lässt sich an Rousseau vorführen: Seine theoretischen und literarischen Projekte stellen einen Gegenentwurf zu institutionalisierten Rollenspielen dar und postulieren ein Individuum mit Gefühlsgewissheit bzw. gefühlsbedingtem Existenzbewusstsein (»sentiment propre de mon existence«),5 das er nicht nur an 4

5

Vgl. Susanne Knaller: Von Zeuxis zu Zenon. Visuelle Realitätskonstruktionen in der Moderne. In: Medialer Realismus. Hg. v. Daniela Gretz. Freiburg i.Br. [u. a.] 2011 (Litterae 145), S. 63–78, hier S. 63–65. Jean-Jacques Rousseau: Émile (1762). In: J. J. R.: Œuvres complètes. Hg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Bd. IV. Paris 1969, S. 570f.

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einen anthropologisch markierten Ort bindet, sondern auch historisch und in intersubjektiven Prozessen situiert.6 Das durch die intersubjektive Bedingtheit ausgelöste Dilemma zwischen Individualität (Selbstgefühl) (»le sentiment de l’existence individuelle«) und Allgemeinheit (»le sentiment de l’existence commune«)7 versucht er mit moralisch begründeten Annahmen zu lösen: Das individuelle Subjekt (»existence physique et indépendante«) erreicht Allgemeinheit (»existence partielle et morale«)8 durch seine moralische Natur. Diese wechselseitige Bedingtheit von Exemplarität und Individualität eigenen Erfahrens durch eine metaphysisch konzipierte Natur ist ein Grundmerkmal der Subjektkonzeptionen des 18. Jahrhunderts. Deshalb ist individuell akzentuierte Selbsterkenntnis einem gesellschaftlichen Gefüge verpflichtet und darin wiederum einer allgemein bestimmten Natur. Erkenntnis basiert in diesem Sinne auf einem kommunikativen Verhältnis von Ich-Reflexion, Fremdbeobachtung und Transzendenz. In den postklassizistischen Poetiken wird dieses reziproke Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem in einen idealistisch bestimmten Naturbegriff über die drei Begriffe Originalität, Empfindsamkeit und Illusion formuliert. Garant für (1) Originalität im Sinne von künstlerischer Eigenheit des Werks ist der individuelle Künstler, der das Ideal der Subjektivität pflegen muss und in seinem Tun noch ganz der Natur verpflichtet ist, die als Legitimierungsreferent erst die Unverwechselbarkeit der Kunst ermöglicht: Die Besonderheit des selbstschöpfenden Künstlers liegt im ästhetischen Zugang zur Natur.9 Herder z. B. schreibt über die Ode: »Sonst aber ist diese Dichtart der Natur am nächsten, die originalste, und der Grund der übrigen.«10 Als Verbindungsstelle zwischen Autor, Kunst und Natur fungiert ein von der Ästhetik reflektierter (2) Erfahrungs- und Empfindungsbegriff, der den naturwissenschaftlich logischen Zugang der kartesianischen Subjektphilosophie ausweitet und das Individuelle zum wahrnehmenden, empirischen Ich öffnet.11 Das Entscheidende am Gefühls- und Selbstverständnis in dieser Phase des 18. Jahrhunderts ist: Gefühl ist nicht mehr nur Sinneswahrnehmung (Fühlen), sondern wird über diese empirische Basis innere Empfindung, die in einem Selbst entsteht, das mit einem unverwechselbaren (selbstbeobachtenden und -reflektierenden) Selbst wie mit einer allgemeinen Natur ausgestattet ist. Die 6 7 8 9 10

11

Vgl. Paul Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau. Tübingen 1997, S. 161–258. Rousseau: Émile, S. 582. Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social (1762). In: J. J. R.: Œuvres complètes. Hg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Bd. III. Paris 1964, S. 279–470, hier S. 381. Edward Young: Conjectures on Original Composition (1759). In: E. Y.: The Complete Works. Hg. v. James Nichols. Bd. 2. London 1854, S. 449ff. Johann Gottfried Herder: Von der Ode. In: J. G. H.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker 1), S. 57–99, hier S. 93. Vgl. Susanne Knaller: Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität. Heidelberg 2007 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 246), S. 39f.

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Literatur kann mit einer wirkungsästhetisch ausgerichteten Empfindsamkeitspoetik für Empfindung wie Reflexion sorgen und auf diese Weise eine tugendbildende sensibilité naturelle begründen.12 Damit enthält das Empfindsamkeitsmodell ein Moment der Selbstkontrolle wie die Möglichkeit zur Didaxe. Der Autor, ein ideales ethisches Subjekt, das die Stimme seiner »inneren Natur« erkennt und ihr folgt,13 agiert mit dem Ziel, die Leserschaft über Unmittelbarkeitseffekte und eine Poetik des natürlichen Zeichens in läuternde Emotionen zu versetzen. Mit Hilfe der Einbildungskraft des Dichters schafft der Text eine gleiche, wenn nicht stärkere Gefühlsregung als die realen Gegenstände selbst: »durch wohlerfundene und lehrreiche Schildereyen« soll die Fantasie des Lesers »angenehm« eingenommen werden und der Dichter »sich seines Gemüthes […] bemächtigen«.14 Seine eigenen Empfindungen werden durch Reflexion von Empfindungen ersetzt: »[...] folglich schildre ich auch der Form nach nicht mehr wahre Empfindungen, sondern ein Perspektiv von ihnen, in dem sie der andre siehet.«15 Besonders die Briefform ermöglicht die geforderte Korrelation von Selbstreflexion und intersubjektiver Relationierung insofern, als es gelingt, in der Interaktion von Briefschreibern, Empfängern und Leserschaft, unterstützt durch gattungstypische Herausgeberfiktionen, eine lektürepragmatische Dimension zu schaffen, die didaktische Implikationen mit sich führt. Briefromane erfüllen auf diese Weise einen Allgemeinheitsanspruch, den sie durch rhetorisch erzielte Gefühls- und Identifikationseffekte wie durch reflexiv erfahrbare Erkenntnisse einlösen. Hier kann an den dritten genannten Begriff (3) Illusion angeschlossen werden, an dem sich die langsame Ablösung der empfindsamen Subjektivitäts- und Kunstmodelle durch romantische Programme zeigen lässt, da die Illusionsästhetik als Mimesisästhetik den Kunst- und Literaturbegriff weiter entscheidend prägt, jedoch im Laufe des 18. Jahrhunderts und mehr noch im 19. Jahrhundert erheblichen Veränderungen unterworfen ist. Eine erste Etappe wäre, dass die Poetik darstellerischer Effekte der Unmittelbarkeit und Natürlichkeit mit moralischen Zielvorgaben in der Frühromantik durch ontologische Überlegungen zum Kunstbegriff abgelöst wird. Kunst soll darin zwischen einem sich nie präsenten, sich aus einem Selbstgefühl äußernden Individuum und einem sich unendlich entziehenden Bestimmungsgrund symbolisch vermitteln. »Das Kunstwerk nur reflektiert mir, was sonst durch nichts reflektiert wird, jenes absolut Identische, was selbst im Ich schon sich getrennt hat; was also der Philosoph schon im ersten Akt des Bewußtseins sich 12 13 14

15

Ebd., S. 40. Zum Briefroman allgemein vgl. das Kapitel »Die Voraussetzungen von Authentizität. Jean-Jacques Rousseau und der Brief im 18. Jahrhundert« (S. 36–62). Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. I: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 92. Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst. Bd. I. Zürich 1740, S. 58. Zit. nach: Brigitte Scheer: Gefühl. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karlheinz Barck [u. a.]. Bd. 2. Stuttgart, Weimar 2001, S. 629–660, hier S. 644. Herder: Von der Ode, S. 68.

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trennen läßt, wird, sonst für jede Anschauung unzugänglich, durch das Wunder der Kunst aus ihren Produkten zurückgestrahlt.«16 Diese in der Aufklärung und Empfindsamkeit weniger relevanten Entmediatisierungs- und Unmittelbarkeitsphantasien setzen einen Autonomisierungsprozess der Kunst in Gang: Romantische Kunst bleibt in der Folge zwar idealerweise mimetisch, indem sie sich am Naturschönen orientiert. Dieses ist aber den Eingriffen der Kunst auszusetzen, die Kunst als Kunst legitimieren. Autonome Kunst entsteht aus einer Differenz zum Nichtkünstlerischen, Gesellschaftlichen, Natürlichen. Erkennbar auch daran, dass der in den Poetiken des 18. Jahrhunderts dominierende Wahrscheinlichkeitsbegriff zunächst von der Einbildungskraft ergänzt wird, um dann vom Begriff des Schönen (Scheins) abgelöst zu werden. Während der Begriff der Einbildungskraft Imaginäres bzw. Fiktives und Wirklichkeitseffekte koppeln soll (siehe Lessings wirkungsästhetische Poetik), wird der Kunstbegriff in der Folge von jeder empirischen Basis zugunsten von Schein und Idealischem abgetrennt.17 Gottsched spricht noch von einer unveränderlichen Natur der Dinge, weshalb es in der Kunst nicht um den »Eigensinn« der Menschen geht,18 Schlegel hingegen merkt später programmatisch an: »Jedes Kunstwerk bringt den Rahm[en] mit auf die Welt, muß die Kunst merken lassen.«19 Die poetische Wahrheit generiert sich selbst, indem sich die Kunst von allem Realen abgrenzt und verselbständigt.20 Mimetische Illusion ist zwar nicht ausgeschlossen: »Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt. Sie besteht gerade aus entgegengesetzten Bestandteilen – aus erhebender Wahrheit und angenehmer Täuschung.«,21 aber die ästhetische Wirklichkeit als ästhetischer Schein manifestiert sich anders als im 18. Jahrhundert nicht mehr als spielerische Täuschung22 mit Moraleffekten. Täuschung meint bei Schiller Unaufrichtigkeit, Betrug; selbständiger Schein hingegen ist wahr in seinem aufrichtigen Bekenntnis zum Schein.23 Wie sich zeigt, wird eine Mimesispoetik der Illusion des natürlichen Zeichens (mit moralischen Zielvorgaben) im Laufe des 18. Jahrhunderts durch den

16 17 18 19 20 21 22 23

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus (1800). Mit einer Einleitung von Walter Schulz. Hamburg 1957, S. 294f. Vgl. Jürgen H. Petersen: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München 2000 (UTB 8191), S. 198f. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. In: J. C. G.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart 1972 (RUB 9361), S. 12–196, hier S. 63. Friedrich Schlegel: Literary Notebooks 1797–1801. Hg. v. Hans Eichner. London 1957, S. 26 (§ 80). Vgl. dazu Petersens Analyse von Goethes Über die Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke (1798) in: Petersen: Mimesis, S. 204ff. Novalis: Werke, Briefe, Dokumente. Hg. v. Ewald Wasmuth. Bd. 2: Fragmente 1 (1798). Heidelberg 1957, S. 374. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995, S. 177f. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In: F. S.: Werke. Nationalausgabe. Bd. 20: Philosophische Schriften I. Hg. v. Benno von Wiese u. Helmut Koopmann. Weimar 1962, S. 309–412, hier S. 398ff.

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bisweilen offen selbstreflexiven ästhetischen Schein abgelöst, in dessen Mittelpunkt immer mehr die Schaffung von Kunst als eigenem Wirklichkeits-, Erkenntnis- und Ideenraum und weniger die Nachahmung einer regulierenden Natur steht. Der Roman in Briefen kann mit dramatisierenden Dialog- und Monologstrukturen, performativen statt streng auktorialisierenden Erzählformen in diesem Entwicklungsprozess von Mimesis- und Illusionspoetik zu Autonomiekunst als Transitfläche und Austragungsort gattungspoetologischer und medialer Diskussionen um den Vorrang mimetischer Autorität wirken. Er ist inserierbar in die Diskussion um den Stellenwert der Künste und anknüpfbar an die Frage nach dem Grad mimetischer Verpflichtung von Kunst und Literatur. Die Briefform im Komplex Briefroman ist an eine Mimesispoetik der Tugendund Vernunftprogramme ebenso anschließbar wie an den Postklassizismus ablösende kunstontologische Programmatiken, in denen sich ein ästhetisches Subjektivitätskonzept herausbildet, das eine Form medialer Selbstreflexion forciert, die die erste Hälfte des 18. Jahrhundert mit ihrer anthropologischen und tugend- und gesellschaftsbezogenen Programmatik kaum zulässt. Ästhetische Subjektivität findet ihren Ort in Kunst, die sprachskeptisch und selbstreflexiv ist und reagiert damit auf die im modernen Subjekt- und Gesellschaftsbegriff angelegten Differenzverhältnisse zwischen Subjekt und Objekt, Kunst und Gesellschaft.24 Der monologische Briefroman Ugo Foscolos wird zum Austragungsort dieser Entwicklung, indem er an die Subjektivitätsfrage ebenso anknüpft wie an die Diskussion um Mimesis und Illusionsverfahren im postklassischen Zeitalter.

3. Ugo Foscolo und Le ultime lettere di Jacopo Ortis Obwohl an die europäische Tradition anknüpfend, ist Ugo Foscolos Briefroman ein zutiefst in der literarischen und gesellschaftspolitischen Situation Italiens verankerter Text. Sein Protagonist zeichnet sich durch die politische Haltung eines Republikaners aus, der angesichts der Fremdherrschaften und politischen Unruhen am Ende des 18. Jahrhunderts das Leben eines Verfolgten und Exilianten führen muss. Den gesamten Text prägt ein explizit zeitgenössischer Hintergrund, aus dem heraus sich die beiden Hauptstränge entwickeln: Der patriotische innere Kampf des Protagonisten und seine Liebe zu Teresa, die er im unfreiwilligen Exil in den Colli Euganei trifft. Wie andere Autoren auch nutzt Foscolo die Möglichkeiten der Briefform: Er arbeitet mit essayistischen Passagen in der Ich-Form des Briefes, inseriert per24

Vgl. dazu auch Karl-Heinz Bohrers Überlegungen zur Entwicklung ästhetischer Subjektivität in den romantischen Briefen und autofiktionalen Genres. Karl-Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München, Wien 1987, S. 9– 24.

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formative Narrationen durch indirektes Erzählen in den Briefen und generiert ein spielerisch zu nennendes Spannungsverhältnis zwischen Unmittelbarkeit und Medialität, Subjektivität und Exemplarität, Authentizität und Fiktionalität. Auch greift er auf einige von der Briefromantradition zur Verfügung gestellte Authentizitätsstrategien zurück: Er konstruiert eine Herausgeberfiktion, formuliert für die Ausgabe von 1816 eine Notizia bibliografica, die er verschiedenen Autoren zuschreibt und an deren Ende ironischerweise auch eine kurze Beschreibung des Autors steht, setzt den Text in einen zeitgenössischen historischen Kontext, markiert die geografischen und gesellschaftlichen Räume als reale, erwähnt zeitgenössische Intellektuelle und Dichter, die teilweise auch in den Briefen auftreten. Mit dem pathetisch-leidenschaftlichen Jacopo schafft er eine Identifikationsfigur, mit dem freundschaftlich-loyalen Herausgeber Lorenzo und seiner dokumentarischen Haltung einen weiteren Authentifikator dieser Leidensgeschichte, die damit der postklassischen Forderung, der Autor möge wahrhaftige, glaubwürdige Figuren schaffen, hinter die er zurücktreten soll, nachzukommen scheint. Diese empfindsamen Illusionseffekte stört Foscolo durch die Tatsache, dass Jacopo Ortis ein intellektuelles, schreibbewusstes Ich ist, das in Haltung und Stil, seinen Werken und biografischen Besonderheiten dem Autor entspricht. Er unterstreicht diese autobiografischen Markierungen mit der Einfügung eigener Übersetzungen und Briefstellen. Dieser deutliche Shift von Identifikationsfiguren zu Autofiktionalisierung im Ästhetischen betont das Hauptanliegen des vorliegenden Briefromans, die Beschreibung und Darstellung der Situation des zeitgenössischen Schriftstellers und Intellektuellen. Dieser Intellektuelle ist politisch wach, hat gesellschaftskritische Aufgaben – Alfieri, Parini sind die Vorbilder – und orientiert sich an den Giganten der italienischen Literatur – Petrarca und Dante. Mit Letzteren lässt sich ein in der italienischen Literatur nachhaltig wirksames Liebesparadigma aktivieren. Als Verbindung zwischen den mittelalterlichen Dichtern des Trecento und Jacopo fungiert u. a. die Metapher der Pilgerfahrt, die an verschiedenen Stellen vorkommt: So bezeichnet Jacopo sein Leben und seine ruhelosen Reisen immer wieder als »pellegrinaggi«, ebenso wie eine Wanderung zu Petrarcas Haus in Arquà. Diese ›Pilgerfahrten‹ führen ihn auch nach Ravenna zum Grab von Dante, der mit einigen Zitaten aus der Divina commedia eine Schlüsselposition einnimmt. Das Motiv der Pilgerfahrt wird von Dante nicht nur in der Commedia eingesetzt, sondert bildet auch ein zentrales Motiv in der Vita nuova, einem Text, den die Ultime lettere (nicht nur aufgrund der Wallfahrt) evozieren. Wie Dante über seinen autobiografischen Ich-Erzähler führt Foscolo mit Jacopo die Sinnfragen des Dichters und Intellektuellen über eine durch Höhen und Tiefen führende Liebesgeschichte vor. Allerdings mit umgekehrten Vorzeichen, und darin liegt auch die kontrastive und idealisierende Funktion des mittelalterlichen Liebesparadigmas: Während Dante von einem allgemeinen Erklärungs- und Glaubensmodell ausgehen kann, das ihn auf der Suche nach einem damit vereinbaren Dichtungskonzept leitet, hat sich für Foscolo auf allen Seiten Sinnverlust und Kontingenz eingestellt: Er kann auf kein außerkünstlerisches, universal gültiges Sinnparadigma zurückgreifen – das

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zeigt sich vor allem im höchst ambivalenten Naturbegriff –, das den individualistischen Zugriff von Literatur und Kunst in dauerhafte und verbindliche Allgemeinheit führen würde. Transzendenz erreicht der Dichter subjektivistisch und über seine Kunst.25 Die »Attraktivität« von Dantes Vita nuova besteht daher in dessen poetologischer Positionierung durch die narrative Ich-Form und im experimentellen Umgang mit verschiedenen Liebesmodellen, über die er die Möglichkeiten von Erkennen, Darstellen und Transzendierung des Bestehenden durchspielt. Auch Foscolo bettet die artifizielle und literarisierte Liebe zur »donna angelica« Teresa in einen theoretischen Rahmen, in dem er den Naturbegriff ebenso diskutiert wie Möglichkeiten der eigenen künstlerischen und ideologischen Verortung. Foscolos Weg bleibt dabei mimetischen Postulaten verpflichtet: Im aufklärerisch-empfindsamen Sinn insofern, als im mehrfach thematisierten Paragone zwischen Bild und Sprache die Mimesisfrage ausschlaggebend ist. Der Vorrang der Literatur wird durch ausführliche Natur- und Figurenbeschreibungen Jacopos auch explizit unter Beweis gestellt; den postklassischen und romantischen Entwicklungen entnimmt Foscolo den individuell-schöpferischen Aspekt der literarischen Naturdarstellung, die keine kopierende, sondern schöpferische und individuelle Nachahmung sein will.26 Betont wird durch diese Haltung Jacopos eine Besonderheitszuschreibung des Dichters als einen (vor allem in den politischen Stellungnahmen und in der Begegnung mit Parini festzustellenden) gesellschaftlich und moralisch legitimierten Märtyrer des Schönen: llusioni! grida il filosofo. – Or non è tutto illusione? tutto! Beati gli antichi che si credeano degni de’ baci delle immortali dive del cielo; che sacrificavano alla Bellezza e alle Grazie; che diffondeano lo splendore della divinità su le imperfezioni dell’uomo, e che trovavano il BELLO ed il VERO accarezzando gli idoli della lor fantasia! Illusioni! ma intanto senza di esse io sentirei la vita che nel dolore, o (che mi spaventa ancor di più) nella rigida e nojosa 27 indolenza [...].

Eine kurze Analyse der Briefe zur Petrarca-Wallfahrt und zur Gattungsfrage soll das bisher Gesagte verdeutlichen. 25 26

27

Vgl. dazu Joachim Küpper: ›Politische Romantik‹: Ugo Foscolos Ultime lettere di Jacopo Ortis. In: Poetica 30 (1998), S. 98–128, hier S. 121. Vgl. dazu Uwe Petry: Vitae Parallelae. Zur Poetik von Foscolos Roman »Ultime Lettere di Jacopo Ortis« und seiner Bezugnahme auf »Die Leiden des jungen Werther«. In: Italienische Studien 20 (1999), S. 108–139, hier S. 117 bzw. S. 119. Ugo Foscolo: Le ultime lettere di Jacopo Ortis. Introduzione di Walter Binni. Milano 1983, S. 81f. »Illusionen! ruft der Philosoph. – Aber ist denn nicht alles Täuschung? Alles! Glücklich die Alten, die da meinten, der Küsse der unsterblichen Göttinnen des Himmels würdig zu sein; die der Schönheit und den Grazien opferten; die den Klang der Gottheit über die Mängel des Menschen bereiteten und das Schöne und Wahre fanden, indem sie die Zauberbilder ihrer Phantasie kosten. Täuschung! Und doch würde ich ohne sie das Leben nur im Schmerz, oder (was mich noch mehr in Schrecken versetzt) in starrer und trüber Unempfindlichkeit fühlen […].« (wie auch im Folgenden veränderte Übersetzung nach Ugo Foscolo: Letzte Briefe des Jacopo Ortis. Aus dem Italienischen übersetzt durch Friedrich Lautsch. Mit einer Einleitung. Leipzig 1829, S. 74.)

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Über den Spaziergang zu Petrarcas Haus berichtet Jacopo in Erinnerung an eine perfekte Natur an diesem Tage. In diese lyrisch beschriebene sublime Naturschönheit fügt sich der bildgleiche Anblick von Teresa so vollkommen, dass »tutte le sue potenze parevano invase dalla sacra beltà della campagna« (17).28 Auf so viel göttliche Einheit folgen Sprachlosigkeit, Schweigen und der Wunsch, die überwältigende Natur malen zu können. Die der Malkunst implizierte Kapazität zur abbildenden Nachahmung wird jedoch sofort in Frage gestellt: »Che giova copiare imperfettamente un inimitabile quadro« (17).29 Seine hilflosen Worte kategorisiert Jacopo als ebenso unzulänglich wie jede HomerÜbersetzung und bezeichnet sie als »languido fraseggiamento« (18) – »schale Phrasen« (13). An dieser Stelle bricht er von Darstellungsproblemen und einem starken Unwetter geplagt die Erzählung ab, um sie am nächsten Tag fortzuführen. Diese setzt wieder ein mit dem abrupten Hinweis auf das unglückliche Leben Teresas, das sie ihm gesteht. Angesichts der keineswegs funktionierenden, sondern völlig zerrütteten Familienverhältnisse und der Selbstdarstellung Teresas als Opfer patriarchalischer Entscheidungen bleibt Jacopo ebenso sprach- und konzeptlos wie beim zuvor geschilderten Anblick der pastoralen Fusion von Natur- und weiblicher Schönheit. Nach einigen Phrasen ob der noch immer herrschenden ständischen Zwänge, bricht er den Brief neuerlich ab. Er nimmt die Erzählung mit einer Schilderung von Petrarcas Haus und dessen ruinösen Zustandes wieder auf, dem er ein Zitat aus einem Tassobrief und die Rezitation einiger Sonette von Petrarca entgegenhält, die schließlich sein Gemüt wieder beruhigen. Am Ende steht die Aufforderung an Lorenzo, den Brief für schlechtere Tage als erbauliche Erinnerung aufzubewahren. In diesen Briefen sind die wesentlichen Themen des Briefromans enthalten, die sich in der Folge auf dramatische Weise steigern werden: Die Resignation Jacopos vor der politischen und gesellschaftlichen Gewalt (der Tyrannen, der Väter) und vor der bürgerlich-rationalen Lebenshaltung (personifiziert in Odoardo); die Hypostasierung des Individualismus, des Gefühls der intellektuellen Öde und des Überdrusses; die Selbstmonumentalisierung durch den Tod als einen Akt der individuellen Freiheit und der schöpferischen Geste. Die Ausdrucksproblematik wird hier wie in der Folge zwischen Mimesisanspruch und Fragmentform angesiedelt. Die mimetische Darstellungsfrage im Lichte der fragmentarischen Form thematisiert Jacopo nochmals anhand seines Laurettaromans, ein gescheitertes wie gelungenes Unterfangen: Die versuchte Nacherzählung von Laurettas Schicksal (eine Freundin Jacopos), das er Teresa exemplarisch als Spiegel vorhalten will, gelingt nicht, wohingegen das Projekt insofern erfolgreich ist, als es selbstfiktionales Romanfragment bleibt, in dem sich Jacopo wiederfindet: »Inoltre in cambio di parlare di Lauretta, ho parlato di me« (63).30 Durch diesen internen selbstfiktionalen Gestus (der wiederum den von Foscolo spiegelt) 28 29 30

»[I]hr ganzes Wesen schien von der heiligen Schönheit der Fluren durchglüht«. (12) »Was nützt es, ein unnachahmliches Gemälde unvollkommen nachzubilden«. (12) »Zudem habe ich, anstatt von Lauretta zu erzählen, nur von mir gesprochen«. (56)

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formuliert der Text eine Absage an den in empfindsamen Briefromanen geforderten Rückzug des Autors zugunsten von Identifikationsfiguren und Didaxe. Auch der in den Wallfahrtsbriefen aufgeworfene Paragone zwischen Bild und Sprache wird an einer entscheidenden Stelle der Geschichte wieder aufgegriffen: Jacopo ist wenige Tage von vollkommenem Glück erfüllt: Teresas Liebe zeigt ihm den Weg zur unkontaminierten Natur, das Leben selbst wird zur Pastorale. Dem kann nicht über piktorale Mimesis Ausdruck verliehen werden, sondern allein über die empfindsame Sprache. Wesentlich ist dabei, sich der Natur zu stellen, damit sie die Seele mit ihrem ganzen Potential trifft. Jacopo beweist das sogleich mit einer gelungenen Naturbeschreibung: Su la cima del monte indorato da’ pacifici raggi del Sole che va mancando, io mi vedo accerchiato da una catena di colli su’ quali ondeggiano le messi, e si scuotono le viti sostenute in ricchi festoni dagli ulivi e dagli olmi: le balze e i gioghi lontani vanno sempre crescendo come se gli uni fossero imposti su gli altri. Di sotto a me le coste del monte sono spaccate in burroni infecondi fra i quali si vedono offuscarsi le ombre della sera, che a poco a poco s’inalzano; il fondo oscuro e orribile sembra la bocca di una voragine. Nella falda del mezzogiorno l’aria è signoreggiata dal bosco che sovrasta e offusca la valle dove pascono al fresco le pecore, e pendono dall’erta le capre sbrancate. Cantano flebilmente gli uccelli come se piangessero il giorno che muore, mugghiano le giovenche, e il vento pare che si compiaccia del susurrar delle fronde. […] Lancia il Sole partendo pochi raggi, come se quelli fossero gli estremi addio che dà alla Natura; e se le nuvole rosseggiano, poi vanno languendo, e pallide finalmente si abbujano: allora la pianura si perde, l’ombre si diffondono su la faccia della terra; ed io, quasi in mezzo all’oceano, da quella parte non trovo che 31 il cielo. (75f.)

Teresa ist in diesen poetischen Transzendenzverfahren gleichzeitig Instrument und Katalysator. Dopo quel bacio io son fatto divino. Le mie idee sono più alte e ridenti, il mio aspetto più gajo, il mio cuore più compassionevole. Mi pare che tutto s’abbellisca a’ miei sguardi […]. Il mio ingegno è tutto bellezza e armonia. Se dovessi scolpire o dipingere la Beltà, io

31

»Auf dem Gipfel des von den sanften Strahlen der untergehenden Sonne vergoldeten Berges, sehe ich mich von einer Hügelkette umgeben, wo Saaten wogen und wo Reben schwanken, die sich üppig um Olivenbäume und Ulmen schlingen. Die fernen Bergeshänge und Gipfel streben wachsend empor, als wären sie übereinander getürmt. Unter mir sind des Berges Abhänge durch furchtbare Schluchten gespalten, wo die Schatten des Abends, die langsam aufsteigen, sich verdunkeln. Die düstre, furchtbare Tiefe scheint die Mündung eines Abgrundes. Am Saum der Südseite wird die Aussicht durch den Wald eingeengt, und er verdunkelt das Tal, wo die Schafe im Kühlen weiden und wo am Abhang die hier und dort zerstreuten Ziegen hängen. Klagend singen die Vöglein, als betrauerten sie den hinsterbenden Tag; die Rinder brüllen und der Wind scheint sich über das Blattgesäusel zu freuen. […] Wenige Strahlen wirft die sinkende Sonne, als sagte sie der Natur das letzte Lebewohl. Und die rot schimmernden Wolken werden bleicher und gehen schließlich im Schatten der Nacht unter; nun verschwindet die Ebene, Schatten verschleiern das Antlitz der Erde, und wie inmitten eines Ozeans finde ich von jener Seite her nur noch den Himmel.« (67f.)

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sdegnando ogni modello terreno la troverei nella mia immaginazione. O Amore! le arti 32 belle sono tue figlie […].(80f.)

Jedoch sind der emotionale und intellektuelle Höhenflug, der schöpferische Impuls nicht von Dauer. Die Beschreibung seiner Glücksgefühle und gelungenen Transzendierungen des Bestehenden (76) in ideale Naturbeschreibung werden flankiert von Invektiven gegen die Menschen und deren Selbstliebe und die darin konspirative Natur (70) und schließlich abgelöst von Resignation vor der Sinnlosigkeit eines selbstgebastelten Lebenssinns und von Todeswünschen (85 und 91). Teresa ist nur als Utopie, als »immagine d’angelo de’ cieli«, als »creatura della […] fantasia« (88) sinnvoll. Mit der Rückkehr Odoardos von einer längeren Reise und der späteren Heirat bricht das Idyll zusammen. Als verheiratete Frau kann Teresa nicht mehr als Transzendent fungieren, wird sie Ausdruck der unausweichlichen Kontingenz und Zerstörung allen Lebens. Io non amerò, quando sarà d’altri, la donna che fu mia – amo immensamente Teresa; ma non la moglie di Odoardo […]. E così nel mio furore e nelle mie superstizioni io mi prostendo su la polvere a scongiurare orrendamente un Dio che non conosco, che altre volte ho candidamente adorato, ch’io non offesi, di cui dubito sempre – e poi tremo, e l’adoro. Dov’io cerco ajuto? non in me, non negli uomini: la Terra io la ho insanguinata, e 33 il Sole è negro. (154)

Es zeigt sich, dass das Innerlichkeitsmodell und das Engagementkonzept Foscolos gegenüber Aufklärung und Empfindsamkeit Veränderungen erfahren hat. Während Rousseaus Briefroman, den Konflikt zwischen Individualismus und gesellschaftlicher Allgemeinheit einer offenen Diskussion unterzieht und u. a. in den einander ablösenden Liebeskonzepten in der Beziehung von Julie und St. Preux vorführt, bleibt Jacopos Liebe zu Teresa stets exklusiv und selbstbezogen. Jacopo ist passiv, handlungsunfähig und auf die Teresa seiner Imaginationen fixiert. Die Konsequenzen ihrer realen Situation will Jacopo nicht reflektieren oder akzeptieren. Anders als die aktive Julie, die angesichts der ihr auferlegten Ehe eine neue Form von Exklusivität ihrer Liebe zu St. Preux finden will, bleibt Teresa danteske »divina fanciulla« und »donna angelica« und nach dem notwendigen Bruch idealerweise Bildnis, symbolisiert im Selbstporträt, das Teresa bei der ersten Begegnung zeichnet und das Jacopo nach einigen Umwe32

33

»Nach jenem Kuss bin ich zum Gott geworden. Meine Vorstellungen sind erhabner und fröhlicher, mein Aussehen heiterer, mein Herz noch mitfühlender. Alles scheint sich vor meinen Augen zu verschönern […]. Mein Geist ist allein Schönheit und Wohlklang. Wenn ich die Schönheit meißeln oder malen müsste, ich würde sie, jedes irdische Vorbild verschmähend, in meiner Phantasie finden. O Liebe, die schönen Künste sind deine Töchter […].« (73) »Die Frau, welche mein war, werde ich nicht mehr lieben, sobald sie einem Anderen angehörte. Ich liebe Theresa unermesslich; aber nicht Odoardos Gattin […]. So werfe ich mich denn in meiner Wut und in meinem Aberglauben in den Staub hin, um einen Gott, den ich nicht kenne, auf furchtbare Weise zu beschwören, einen Gott, den ich sonst von Herzen anbetete, den ich nie beleidigte, an dem ich stets zweifle und den ich dennoch zitternd anbete. Wo soll ich denn Hilfe suchen? Ich finde sie nicht in mir, noch bei den Menschen; die Erde habe ich mit Blut besudelt und die Sonne ist schwarz.« (144f.)

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gen am Ende erhält. Ebenso passiv und handlungsunfähig wie Teresa gegenüber ist Jacopo in seiner Liebe zu Italien. Abgesehen von einigen Texten und Briefen zur Lage der noch lange nicht konstituierten Nation zieht er sich in Menschenund Gesellschaftsverachtung zurück und sieht als einzigen Halt das Wissen von der Besonderheit einiger weniger Auserwählter, die so wie er tadellos den Tugendprinzipien gegenüber den Preis ihrer Freiheit und Unabhängigkeit mit politischem und intellektuellem Exil bezahlen müssen. Abgesehen von dieser Exemplarität im Denken und Handeln kann das Telos einer solchen Existenz nur im Nachruhm für die anderen, in der Weitergabe dieser besonderen Ideale an die Nachwelt sein. In diesem Sinn hat das von Beginn an bestimmende Todesmotiv mehrere Funktionen: Eine positive, da der Tod die Möglichkeit zur aktiven Geschichtsformation über selbst entworfene Erinnerungsformen impliziert, durch die man das Nachleben und die Utopien der anderen mitgestalten kann (das auch die Funktion der intertextuellen Bezüge und die Evozierung der italienischen Granden). Dieses Verständnis von Sein als Potenzialität zur Erinnerung, d. h. die Funktionalisierung des Lebens zum Nachleben und damit zum Exemplum für die Nachwelt, zeugt auch von Foscolos Ablehnung einer rationalistischen Lebensbejahung, die vor allem auf der von der Natur vorgesehenen und damit anthropologisch begründeten »amor della vita« oder »amor proprio« gründet, da ein den Tod verdrängender Lebenswille sich produktiv für den Erhalt der Gesellschaft, der Rollenspiele, des menschlichen Ehrgeizes einsetzen lässt. Konsequente, der Ambivalenz der schaffenden, erhaltenden wie vernichtenden Natur adäquate Auffassung ist dagegen die produktive und exemplarische Akzeptanz des Seins zum Tode, die zwar in die Melancholie des Einsamen führt und in die moderne Leere der Kontingenz (Pascals Staubkorn), aber Freiheit und konstruktives Schaffen ebenso ermöglicht wie Trost durch Verstehen, Exemplarität und intellektuellen Nachlass. Jacopo als individualistischer, zu wahrer Liebe befähigter Intellektueller ist wie Dante, Petrarca und Alfieri prädestiniert, den Anderen Verstehen, Vorbild und Trost entgegenzubringen. Die Macht, Stärke und Idealität dieses individualistischen, melancholischen, intellektuellen Individuums zeigt sich besonders am Ende des Romans. Teresa übergibt Jacopo wenige Stunden vor seinem Selbstmord das lang ersehnte Bild, indem sie es aus ihrem Decollté zieht und um seinen Hals legt. Als man ihn blutüberströmt mit einer Stichwunde in der Brust findet, ist das Bild Teresas in der Mitte unbefleckt und rein, sein Mund blutrot von den Küssen auf das Porträt. Durch den mit den Tränen der beiden geweihten Fetisch wird Teresa wieder und unumstößlich zur »donna angelica«, inszeniert Jacopo seinen Tod als individualistische Verfügung über ihre Jungfräulichkeit, als einen Akt der individualistischen Freiheit, mit dem das reale gesellschaftliche Leben transzendiert wird zugunsten einer selbst entworfenen unione mistica. Mit dem Umstand schießlich, dass es sich bei diesem Briefroman um ein intertextuelles und autofiktionales Spiel handelt, das Foscolo in die monologische Geschichte Jacopos einbaut und damit wieder zu einer vielstimmigen macht, erfüllt der Autor sein Anliegen, über die Funktionen und Möglichkeiten der italienischen Intellektuellen zu handeln. Jacopo ist dabei kein autobiografi-

Ugo Foscolos Le ultime lettere di Jacopo Ortis

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sches Abbild Foscolos. Er ist wie der Text selbst Projektionsfläche und Prisma verschiedener Formen des Handelns und Schreibens, in sich inkonsistent, scheiternd wie erfolgreich. Der Text weist damit selbstreflexive und metaliterarische Komponenten auf, die einen romantischen Impuls mit sich führen, der aber abgeschwächt wird durch das Fehlen von ironischer Distanz und Sprachskepsis zugunsten einer Beschwörung der Repräsentations- und Kompensationskraft von Literatur.34

4. Der Briefroman – ein Weg in die Moderne? Wie Foscolos Text zeigt, klopft der Briefroman – vor allem in seiner monologischen Form – auch an die Türen der Moderne. Jedoch bildet, wie hinlänglich bekannt, der Briefroman in dieser Form kein Modell für weitere Entwicklungen der europäischen Literatur. Der postromantische moderne Roman ab dem dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wird das Individuum stärker einbinden in die moderne Gesellschaft neuer Technologien, konsequenter Industrialisierung und zunehmend urbaner Lebensräume. Er muss sich veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen widmen, neuen politischen Konstellationen und medialen Bedingungen, die Literatur und Kunst herausfordern,35 während der europäische Briefroman noch weitgehend von Auseinandersetzungen mit den Abenteuergeschichten des Barockromans und den Mythologien des Klassizismus bestimmt ist und zudem den Disput mit dem philosophischen Rationalismus und den Naturkonzeptionen der Klassik fortführt. Das interessiert den Realismus des 19. Jahrhunderts und den Roman der Moderne nicht. Für Foscolo gelten noch die typologischen Oppositionen Genie/Verstandesmensch, Kunst/Wissenschaft, Stadt/Pastorale usw. Der realistische Antiheld ist jedoch in alltäglichen, real greifbaren Verhältnissen verankert. Das durch den Naturbegriff gestützte Erkenntnismodell mit dem kommunikativen Verhältnis von Ich-Reflexion, Fremdbeobachtung und Transzendenz wird von einem modernen Realitätsbeg34

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Vgl. dazu die Überlegungen von Eberhard Leube: Die Überschaubarkeit der Welt: Zur Herausbildung eines ›modernen‹ literarischen Selbstverständnisses bei Foscolo und Breme. In: Gestaltung – Umgestaltung. Beiträge zur Geschichte der romanischen Literaturen. Hg. v. Bernhard König u. Jutta Lietz. Tübingen 1990, S. 151–161, der auf die Wichtigkeit von Foscolos Antrittsrede in Pavia (Dell’origine e dell’ufficio della letteratura) in diesem Zusammenhang verweist. Vgl. auch Küpper, Politische Romantik, S. 128: »Es bedarf dann nur der Emanzipation dieser Selbstvergottung von dem letztlich christlich gebundenen Konzept, daß menschliches Leben immer nur unglücklich sein kann, um den Gedanken einer ›Fabrikation der Welt nach eigenem Gutdünken‹ von jenem narzisstischem Pessimismus zu befreien, der ihm hier, im Ortis als einem Text der Frühromantik, noch innewohnt, und ihn in jenes Stadium der Entfesselung zu überführen, das die produktiven und die destruktiven Energien der neueren Moderne freisetzt.” Zu den medialen Herausforderungen der Fotografie für die in Foscolo vorgestellten Naturund Landschaftsbilder vgl. Knaller: Von Zeuxis zu Zenon, S. 69–70.

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riff mit Objektivitätsprämissen abgelöst. Expressive und ästhetische Subjektivität in Ich-Form findet bevorzugt in der Lyrik Ausdruck. Im Roman stellt man sich der Individualitätsfrage innovativ aus der dritten Person im personalen Modus, eine zugleich polyperspektivische wie entmoralisierende Form des Erzählens. Die traditionelle Mimesisfrage schließlich wird vom realistischen Paradigma radikal umgeschrieben. Balzac und mehr noch Flaubert definieren den Roman über seine wirklichkeitsdarstellende Funktion, als Darstellung der Realität im Sinne von adäquater Darstellung, und über seine Relation zu extraliterarischen Realien. Relevant ist dabei eine von Foscolo verworfene Verbindung zwischen Wissenschaft und Literatur, die der aus dem szientistischen Vokabular entliehene Begriff der Objektivität schafft: Ermöglicht durch den beobachtenden Blick auf die Wirklichkeit, formiert sich bei Flaubert ein »empiristisches Wirklichkeitsverständnis der faktographischen Registratur«,36 bei Zola eine wissenschaftstheoretische Poetik heraus.37 Die Literatur schließt sich dabei nicht nur mit den wissenschaftlichen Diskursen kurz, sondern reagiert auch auf die durch das fotografische Bild entstandenen neuen Objekt-Zeichen-Verhältnisse.38 Der italienische Roman wird an diesen europäischen Romanentwicklungen nur vereinzelt und in wenig einflussreicher Form teilnehmen. Foscolo stellt sich zwar einer historisch markierten Realität, diese ist aber stets kontrastiv vor dem Sehnsuchtshintergrund einer metaphysisch konzipierten Natur definiert, die auch das stilnovistische Liebesparadigma kennzeichnet. Mit Letzterem wird ebenso wie mit dem Naturbegriff ein künstlerisch und individualistisch ausgerichtetes Subjekt konstituiert, das über ein ideales Liebesmodell eine perfekte ahistorische Pastorale entwirft, sich aber der in Gesellschaft und Geschichte verankerten Kontingenzen bewusst ist, die es nur durch den freien Akt des Selbstmords und die nachlebenden Briefe transzendieren kann.

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Küpper: Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung, S. 161. Émile Zola: Le roman expérimental. Paris 1913, S. 46. Vgl. Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus. München 1990, S. 105.

NACHGESCHICHTEN: DER WEG DES BRIEFS INS FEUILLETON UND SEIN RÜCKZUG AUS DER FIKTION

Hildegard Kernmayer

Wie der Brief ins Feuilleton kam Gattungspoetologische Überlegungen zu Ludwig Börnes Briefen aus Paris

1. In seiner 1943 erschienenen Schrift Feuilletonkunde schreibt Wilmont Haacke über den Gebrauch der Briefform im Feuilleton: Wenn die Zeitungen seit den Tagen der Romantik und des Jungen Deutschlands ununterbrochen ›Briefe aus Paris‹, ›Briefe aus Wien‹ und ›Briefe aus Berlin‹ drucken, so wollen sie nicht mehr den bloßen Bericht von Tatsachen anbieten, sondern einmalige Federerzeugnisse von Persönlichkeiten, die vom Leben der jeweiligen Stadt eine eigene Ansicht bieten. Heine und Börne haben die Briefform benutzt, um ein höchst subjektives Sammelsurium von Begebnissen und Erlebnissen mit ihren eigenen Gedanken und ihren Gefühlen und Gefühlchen darüber zu vermischen. Es entstand auf diese Weise ein ›blühender Unsinn‹, der jedoch Erfolg hatte, weil er amüsant notiert war. Die schädlichen Spuren ihrer Tätigkeit lassen sich nur langsam aus den Briefen, die jedes Zeitungsfeuilleton noch heute 1 veröffentlicht, verwischen.

Dass Wilmont Haacke nicht nur das Verwischen der literarischen Spuren Heines und Börnes, sondern insgesamt die »Ausmerzung des Judentums aus dem deutschen Feuilleton«2 als die vorrangigen Aufgaben ›deutscher‹ Feuilletonkunde propagiert, sei – wenn auch nicht unmittelbarer Gegenstand der folgenden Ausführungen – immerhin erwähnt, auch dass zu diesem Behufe zuallererst die Geschichte des deutschen Feuilletons »einer gründlichen chemischen Reinigung zu unterziehen«3 sei, um nach der »Herausschälung der Juden aus der Geschichte des deutschen Feuilletons«4 zu zeigen, wie die Ahnenreihe ›deutscher‹ Feuilletonisten sauber geblieben sei »von fremden, zugewanderten Beeinflussern anderen Blutes«.5 Schließlich gehe es nicht an, dass mit dem Genre stets nur die Namen Heines und Börnes assoziiert, diese sozusagen zu »Erfinder[n] des Feuilletonstils«6 und zu seinen »eigentlichen Beherrscher[n]«7

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Wilmont Haacke: Feuilletonkunde. Das Feuilleton als literarische und journalistische Gattung. Bd. 2. Leipzig 1944, S. 479. Wilmont Haacke: Feuilletonkunde. Das Feuilleton als literarische und journalistische Gattung. Bd. 1. Leipzig 1943, S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd.

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ernannt werden. Der Auffassung, wonach das Feuilleton ein Produkt der französischen Publizistik des frühen 19. Jahrhunderts sei, mithin jene »Franzosenkrankheit«,8 die der ›Jude‹ Heinrich Heine in die deutsche Literatur eingeschleppt habe, setzt Haacke denn auch eine ›deutsche‹ Geschichte des Feuilletons entgegen. Deren Anfänge ortet er in der Aufklärungspublizistik des 18. Jahrhunderts, wenn nicht gar in den barocken Predigten Abraham a Sancta Claras.9 Nichtsdestotrotz gelten der Literaturkritik und Literarhistorie bereits im 19. Jahrhundert Heinrich Heine und Ludwig Börne als Begründer des Feuilletons in der deutschsprachigen Publizistik. Ernst Eckstein etwa, der 1876 erste Beiträge zu einer Geschichte des Feuilletons vorlegt, spannt in seiner historischen Bestandsaufnahme einen Bogen von der frühen theaterkritischen Feuilletonistik des Journal des Débats, das als erste Zeitung überhaupt ein eigenes Feuilleton-Ressort einrichtet, über die ›Erfinder‹ des deutschsprachigen Feuilletons, Heinrich Heine und Ludwig Börne,10 die Berliner Feuilletonisten Karl Frenzel oder Paul Lindau, bis hin zu den Wienern Daniel Spitzer, Ludwig Speidel, Eduard Hanslick oder Ferdinand Kürnberger. Auch Karl Emil Franzos, der 1878 die Frage erörtert, was ein Feuilleton sei, nennt Heine und Börne als die ersten deutschsprachigen Feuilletonisten.11 Im Falle Heines sind es die ab 1824 entstehenden Reisebilder, die ihrem Autor den Ruf eintragen, Urheber der Gattung im Deutschen zu sein, im Falle Ludwig Börnes sind es die zwischen 1830 und 1833 entstandenen Briefe aus Paris. Und auch noch die neuere Börne-Forschung erkennt in den Briefen des Autors jene Texte, in denen dieser »die Kunst des Flanierens zum Gestaltungsprinzip entwickelt [habe], zur Schule des Journalismus und des Feuilletons«.12 Börne selbst firmiert als der »brillante Essayist, eigentlich der originäre Schöpfer des deutschen Feuilletons«.13 Die Nennung der Börne’schen Briefe als ›Urtexte‹ moderner deutschsprachiger Feuilletonistik ist allerdings zumindest in Anbetracht ihrer Entstehungsgeschichte bemerkenswert. Denn tatsächlich erfüllen diese weder hinsichtlich

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Ebd. Karl Kraus: Heine und die Folgen. In: K. K.: Werke. Hg. v. Heinrich Fischer. Bd. 8: Untergang der Welt durch schwarze Magie. München 1960, S. 188–213, hier S. 189. Vgl. Haacke: Feuilletonkunde, Bd. 1, S. 253ff. Vgl. Ernst Eckstein: Beiträge zu einer Geschichte des Feuilletons. Bd. 1. Leipzig 1876, S. 69. Vgl. Karl Emil Franzos: Über das Feuilleton. In: Ferdinand Groß: Kleine Münze. Skizzen und Studien. Breslau 1878, S. IXLVI, hier S. XX und XXIII.  Vgl. auch Erika Anders: Ludwig Börne und die Anfänge des modernen Journalismus. Phil. Diss. Heidelberg 1933, S. 31. Willi Jasper: Keinem Vaterland geboren. Ludwig Börne. Eine Biographie. Hamburg 1989, S. 168. Frank Stern: Einleitung. In: Ludwig Börne. Deutscher, Jude, Demokrat. Hg. v. Frank Stern u. Maria Ginlinger. Berlin 2003, S. 10.  Vgl. auch Alfred Estermann: Nachwort. In: Ludwig Börne: Briefe aus Paris. Hg. v. Alfred Estermann. Frankfurt a. M. 1986 (it 924), S. 759–772, hier S. 769.

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ihrer primären Gerichtetheit noch hinsichtlich ihrer medialen Verankerung jene Voraussetzungen, die gemeinhin die Zuordnung kleiner Prosatexte zur Gattung ›Feuilleton‹ begründen. Ursprünglich private Schreiben, werden die Briefe vorerst auch nicht mit der Absicht der späteren Drucklegung verfasst. Und anders als beispielsweise Heines Reisebilder, die in etwa zeitgleich zu ihrer Veröffentlichung in Buchform bei Hoffmann und Campe auch in der Zeitschrift Der Gesellschafter abgedruckt werden, erscheinen Börnes ebenfalls bei Hoffmann und Campe verlegte Briefe aus Paris nicht zuvor in und als Zeitungsfeuilletons. Wenn die Gattungsgeschichtsschreibung Börnes Briefe, wiewohl keine Feuilletons, diese dennoch zu Gründungstexten der Gattung im Deutschen erklärt, mag sie folglich irren. Umgekehrt erscheint gerade angesichts der Persistenz der Behauptung eine generische Verwandtschaft zwischen Brief und Feuilleton immerhin bedenkenswert. Auch lassen Börnes Briefe aus Paris eine stilistische Nähe zu jener literarischen Publizistik, die sich spätestens seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts und jedenfalls bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Presse in immer neuen Varianten präsentiert, deutlich erkennen. Im Folgenden möchte ich also der Frage nachgehen, welche stilistischen und letztlich generischen Merkmale von Börnes Briefen deren Rezeption als ›Urtexte‹ deutschsprachiger Feuilletonistik motivieren. Geführt werden soll der gattungshistorische Nachweis, dass das Genre ›Feuilleton‹ seine Entstehung und Form auch literarischen und publizistischen Brief-Traditionen verdankt, deren erstere zumindest weit ins 18. Jahrhundert, deren letztere bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Demzufolge läge Wilmont Haacke immerhin in seiner Verortung des Feuilletons auch in einer anderen Tradition als der der französischen Publizistik des beginnenden 19. Jahrhunderts richtig. Dessen Erzählung von der ›deutschen Geschichte‹ des Feuilletons mutiert denn auch in seinem Handbuch des Feuilletons,14 der überarbeiteten und vor allem von den antisemitischen Passagen ›gesäuberten‹ Version seiner Feuilletonkunde,15 zur Erzählung der

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Vgl. Wilmont Haacke: Handbuch des Feuilletons. 3 Bde. Emsdetten 1951–1953. Im Vorwort zu dieser Fassung weist Haacke auf die kurz zuvor erfolgte Drucklegung seiner bereits 1937 verfassten, jedoch, nach Meinung Haackes, »aus politischen Gründen« verbotenen Dissertation hin. Vgl. Wilmont Haacke: Julius Rodenberg und die Deutsche Rundschau. Eine Studie zur Publizistik des deutschen Liberalismus 1870–1918. Heidelberg 1950 (Beiträge zur Publizistik 2). Die radikalen nationalsozialistischen Äußerungen seiner 1943 und 1944 erschienenen Feuilletonkunde begründet Haacke mit den strengen Zensurmaßnahmen der nationalsozialistischen Überwachungsstellen, die die Arbeit in anderer Form nicht hätten erscheinen lassen und stilisiert sich somit zum Opfer des Regimes, das er wortreich unterstützt hat.  Zur politischen Entwicklung Wilmont Haackes vgl. auch Ulrich Weinzierl: Typische Wiener Feuilletonisten? Am Beispiel Salten, Blei, Friedell, Polgar und Kuh. In: Literatur und Kritik 20 (1985), S. 73. So lautet etwa der zweite Teil der hier eingangs zitierten Passage in der überarbeiteten Version von 1952: »Es entstand auf diese Weise ein frisches Gebräu von Tatsachen und Einfällen, das Erfolg hatte, weil es amüsant notiert war. Für wie gefährlich feuilletonistische Briefe in politischer Beziehung gehalten werden konnten, das geht aus dem Verbot

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Hildegard Kernmayer

›langen Geschichte‹ des Genus. Das Feuilleton, hier verstanden als Textsorte und als Rubrik, firmiert darin als ›Hybrid‹, der seine spezifische Gestalt in Zusammenführung unterschiedlicher literarischer Textsorten ausbildet. »Alle Gattungen und Formen, aus denen sich das Feuilleton zusammensetzt, gleichgültig darum, ob es der modernen Zeitung oder der populären Zeitschrift dient, sind Entlehnungen«, heißt es bei Haacke im Jahr 1952. »Der Journalismus hat sie unter freiem Zugriff einfach der Literatur entnommen. Roman und Novelle, Fabel und Märchen, Epigramm und Essay, Aphorismus und Anekdote, Brief und Gespräch waren […] entwickelte, klar voneinander unterscheidbare Formen poetischer Ausdrucksweise«,16 lange bevor das Feuilleton sich ihrer ›bemächtigte‹. Auch am Ausgang meines gattungspoetologischen Versuchs steht die These, dass sich das Feuilleton in der literarischen Auseinandersetzung mit bereits vorfindlichen Textsorten als Genre konstituiert. Anders als in Haackes Gattungsgeschichte interessiert das Feuilleton dabei aber weniger als jener Zeitungsteil, der informierende, kritisierende oder kommentierende publizistische Texte ebenso enthalten kann wie den täglichen Fortsetzungsroman. In den Blick genommen wird vielmehr das Feuilleton als ›Kleine Form‹, in der sich, so auch Almut Todorow, im Laufe des 19. Jahrhunderts ältere Formtraditionen zu einer eigenen Gattung »verfeinern« und die sich idealiter »durch Leichtigkeit, elegante Beiläufigkeit, Impressionismus und Sprachraffinement auszeichnet«.17 Die journalistischen Zweckformen mit ihren kommunikativen Funktionen des Aufzeichnens, des Berichtens, des Informierens, des Kommentierens, des Kritisierens oder des Schilderns werden dabei mit »radikale[r], ornamentale[r] Stilgebärde«18 ins Feuilletonistische überführt. Als Feuilletons markieren sie die Schnittstelle zwischen Poesie und Publizistik. Die feuilletonistische Überformung erfahren ganz unterschiedliche publizistische Genera, die Literaturkritik ebenso wie der Reisebericht, aber auch die Wochenchronik, der politische Kommentar und nicht zuletzt der Brief. Als »Grenzphänomen zwischen Zweckform und Ornament«19 nimmt jedoch der Brief nicht nur im Feuilleton, sondern in der Zeitung insgesamt eine Sonderstellung ein. Denn tatsächlich geht die Zeitung selbst aus einer epistolären publizistischen Praxis, nämlich der Verbreitung von Nachrichten über das Me-

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der ›Briefe aus Paris‹ von Ludwig Börne durch den Frankfurter Bundestag hervor.« Wilmont Haacke: Handbuch des Feuilletons. Bd. 2. Emsdetten 1952, S. 150. Ebd., S. 133. Almut Todorow: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung. Tübingen 1996 (Rhetorik-Forschungen 8), S. 12. Günter Oesterle: »Unter dem Strich«. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert. In: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Hg. v. Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr u. Roger Paulin. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 77), S. 229–250, hier S. 236. Ebd., S. 232.

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dium der ›Geschriebenen Zeitung‹, hervor. Seit dem 16. und noch bis ins 18. Jahrhundert nachweisbar, stellen ›Geschriebene Zeitungen‹ nichts anderes als handschriftliche Sammlungen von Neuigkeiten dar, die in Briefform übermittelt, abgeschrieben und weitergegeben werden. Befördert wird die Entwicklung dieser Form der brieflichen Nachrichtenübermittlung zuerst durch die weitreichenden Geschäftsbeziehungen einzelner Handelshäuser. Daneben haben Politik und Diplomatie, aber auch überregional vernetzte Gelehrtenkreise Interesse an der überindividuellen Verbreitung von Nachrichten.20 In den ›Geschriebenen Zeitungen‹ offenbart sich auch die Rolle des Briefs als ursprüngliches publizistisches Genus. Dessen Funktion als Informationsmedium für eine größere Öffentlichkeit schwindet allerdings mit der Ausweitung des Pressewesens und der Übernahme der öffentlichen Nachrichtenverbreitung durch die Zeitung. Der Brief wird dort, »wo er nicht Geschäfts- oder offizielles Schreiben ist[,] zur exklusiven Privatsache«.21 Als publizistische Form besteht er freilich auch innerhalb der modernen Zeitung fort. Korrespondentenberichte behalten, auch als sie längst telegraphisch übermittelt werden, von der journalistischen Zweckform des Briefs noch Orts- und Datumsangabe bei; Korrespondentenfeuilletons und auch Reisefeuilletons erfolgen mitunter in Briefform oder imitieren zumindest den subjektiven Gestus des Privatbriefs; schließlich lässt sich in der Figur des Korrespondenten das Herkommen selbst einer plurimedial organisierten Kultur der Massenkommunikation aus der publizistischen Brieftradition noch erkennen. Darüber hinaus gilt der Brief lange vor der Entstehung des Feuilletons und qua der ihm eigenen Unabgeschlossenheit, seiner nicht an starre Regeln gebundenen Darstellungsweise, seines ›leichten‹ Tons als ideale Form, über politische, künstlerische und gesellschaftliche Themen frei zu reflektieren.22 Briefe sind mithin, wie auch Rainer Baasner feststellt, konstitutiv für die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit.23 Im deutschen Sprachraum knüpft die Verwendung der Briefform entsprechend »an die im europäischen Ausland gepflegte literarische Gattung des Essays an«.24 Ihre formalen Charakteristika, ihr »überschaubarer Umfang, [ihr] lockerer Aufbau, [die] assoziative Gedankenführung, [ihre] dialogische Partnerorientierung, Gesprächsnähe [und] anspruchsvolle Unterhaltsamkeit«,25 scheinen Briefe als Orte der Reflexion zu prädestinieren. 20 21

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Vgl. Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Köln, Weimar, Wien 2008 (UTB 3166), S. 18f. Rainer Baasner: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis. In: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Hg. v. Rainer Baasner. Tübingen 1999, S. 1–36, hier S. 6. Vgl. Herta Schwarz: »Brieftheorie« in der Romantik. In: Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Hg. v. Angelika Ebrecht, Regina Nörtemann u. Herta Schwarz, unter Mitarbeit v. Gudrun Kohn-Waechter. Stuttgart 1990, S. 225–238, hier S. 229f. Baasner: Briefkultur, S. 5. Schwarz: Brieftheorie, S. 226. Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991 (SM 260), S. 171.

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Hugo Friedrich zufolge sei der Essay gar aus dem Brief hervorgegangen, habe doch Montaigne selbst seine Betrachtungen zuerst in Briefform abfassen wollen.26 – Zahlreiche generische Eigenschaften des Essays kennzeichnen auch das Feuilleton, etwa der Gestus der Leichtigkeit, die Imitation des Mündlichen im Schriftlichen, das Moment des Spielerischen und des Assoziativen. Bereits Montaigne bezeichnet diese Art essayistischer Gedankenführung als ein ›Umherschweifen‹27, die großstädtische Konfiguration der ›Flanerie‹ bildet umgekehrt die epistemische und ästhetische Grundlage feuilletonistischer Poetik.28 Schließlich hat das Feuilleton mit dem Essay auch sein augenfälligstes Merkmal, nämlich die subjektive Gestimmtheit, gemein. Die »Spontaneität subjektiver Phantasie«29 eigne dem Essay, und auch das »Wesen des Feuilletons« äußere sich, so Ernst Eckstein, im »Durchschimmern der Subjectivität […]. Der Feuilletonist giebt uns die Dinge, wie sie sich in seiner Persönlichkeit widerspiegeln; er beleuchtet alles mit den Strahlen seiner individuellen Stimmung; er verräth überall die Theilnahme an dem Gegenstande.«30 Die Entstehung ästhetischer Subjektivität verortet die Literaturwissenschaft indes weder in der Essayistik noch in der Feuilletonistik, sondern »in der Selbstreflexion des romantischen Briefs nach 1800«.31 In diesem wird Karlheinz Bohrer zufolge ein »ästhetisch-subjektiver Modus von Selbstdarstellung«32 sichtbar, den die Briefliteratur des 18. Jahrhunderts noch nicht erkennen lasse. Deren Selbstaussage impliziere immer auch eine Emanzipationsansage, folglich die Darstellung eines anderen, und hebe auf die Herstellung von Öffentlichkeit ab. Im Brief der Romantik dagegen vollziehe sich »die Ablösung des ästhetischen Subjekts vom sozialen und philosophischen«.33 Eine parallele, von der Literaturwissenschaft bislang unbeachtete Entwicklung lässt sich auch in der Publizistik der Epoche ausmachen. Denn tatsächlich scheinen Essay und Feuilleton gerade in den in ihnen präsentierten Formen der Subjektivität zu differieren, eine Differenz, die sich nicht zuletzt den unterschiedlichen medialen Zugehörigkeiten der beiden Textsorten dankt. So ist das Verbreitungsmedium des Essays traditionell die Zeitschrift, also ein Periodikum, das sich an eine sozial 26 27

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Vgl. Hugo Friedrich: Montaigne. Bern, München 21967, S. 333f. »Mon stile et mon esprit vont vagabondant de mesmes.« Michel de Montaigne: De la vanité. In: M. d. M.: Les Essais. Hg. v. Fortunat Strowski u. François Gebelin. Hildesheim, New York 1981 (Nachdruck der Ausgaben Bordeaux 1919 und 1920), S. 204–278, hier S. 270. Vgl. Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. V.1: Das Passagen-Werk. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1982, S. 45–59. Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: T. W. A.: Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 41989 (stw 355), S. 9–33, hier S. 11. Eckstein: Beiträge, S. 9f. Karlheinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt a. M. 1989 (edition suhrkamp 1582), S. 8. Ebd., S. 25. Ebd., S. 8.

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vergleichsweise homogene Gruppe von Leserinnen und Lesern richtet und sich – speziell im 18. Jahrhundert – der Vermittlung von Bildung und Wissen, der Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit sowie insgesamt der bürgerlichen Selbstvergewisserung im Prozess der Emanzipation verschrieben hat. Die im Essay präsentierten Formen der Subjektivität stimmen insofern mit dem (teleologischen) Konzept der bürgerlichen Autonomie des 18. Jahrhunderts überein, als in ihnen ein Ich entworfen wird, das, mit Karlheinz Bohrer gesprochen, verallgemeinerbar ist.34 Das Feuilleton dagegen, eine ›Erfindung‹ der tagesaktuellen Presse, besetzt in dieser unzweifelhaft den Raum des Ästhetischen und des Subjektiven. Mit ihm entsteht eine neue Form subjektzentrierter Prosa, die, anders als der Essay und selbst dort, wo sie reflektiert, kritisiert, kommentiert, polemisiert oder auch nur informiert, vor allem unterhalten soll. ›Unter dem Strich‹ betreibt das Feuilleton dabei die Subversion jenes Faktischen, das mitzuteilen oberstes Ziel einer sich sachgebunden wollenden Presse ist. Das Subjekt, dessen Wahrnehmungen der feuilletonistische Text vor allem mitteilt, ist dabei nicht mehr das moralisch-souveräne Allgemeinsubjekt der Aufklärung,35 sondern ein Ich, das unterschiedliche Formen, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen, erprobt und das sich je nach Bedarf etwa als politisches, als kontemplatives, als spielerisches, als konsumtorisches, aber immer als ästhetisches entwirft. Das feuilletonistische Ich ist mithin auch nicht mit dem Feuilletonisten gleichzusetzen, vielmehr ist es, wie Peter Utz feststellt, der »Oberflächenausdruck des Feuilletonisten, der seine Subjektivität zu Markte tragen muß, wie sie das Medium von ihm verlangt«.36 Die Inszenierung von Subjektivität betreibt auch der Brief als ›subjektive‹ Gattung par excellence. Gerade dieses Moment epistolärer Poetik, aber auch seine konstruktiven Merkmale – seine Unsystematik, seine Offenheit und Fragmenthaftigkeit –, die den Brief in die Nähe romantischer Formen rücken, sowie seine Rolle als Reflexionsmedium lassen ihn in der Frühromantik zur geschätzten Kunstform werden.37 Auch Ludwig Börnes Briefe aus Paris, wiewohl vordergründig Privatbriefe, stellen sich in ihrer Reflexivität, aber auch in ihrer Poetizität in diese epistoläre Tradition. Sie schließen an die in Deutschland – spätestens seit Goethes Italienischer Reise und speziell im 19. Jahrhundert – populäre Reisebriefliteratur an und entwickeln diese weiter. Sie beziehen sich nicht zuletzt auf die feuilletonistische Literatur- und Theaterkritik, die ja in der französischen Publizistik entsteht und als ursprüngliche feuilletonistische Textsorte gilt. Dort wo ihre außerliterarische Bezugsgröße die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in Paris und Europa sind, weisen sie auf das Genre 34 35 36

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Vgl. ebd., S. 25. Zur Begrifflichkeit vgl. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2006. Vgl. Peter Utz: »Sichgehenlassen« unter dem Strich. Beobachtungen am Freigehege des Feuilletons. In: Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Hg. v. Kai Kauffmann u. Erhard Schütz. Berlin 2000, S. 142–162, hier S. 158. Vgl. Schwarz: Brieftheorie, S. 229.

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der Wochenchronik voraus, eines der beliebtesten feuilletonistischen Genres des 19. Jahrhunderts. Stofflich unbegrenzt, changieren Börnes Briefe aus Paris zwischen Sachbericht und politischem Manifest, zwischen Kritik und Plauderei, zwischen objektivierter Kenntnisvermittlung und subjektiver Stimmungsvermittlung, zwischen Publizistik und Literatur. Als Kunstform, die den Privatbrief imitiert, dienen die Briefe aus Paris der Kleinen Form des Feuilletons als Formvorlage. Sie sind selbst »ein Stück literarischen Feuilletons«.38

2. Ludwig Börnes einhundertfünfzehn Briefe aus Paris, deren Produktions- und Rezeptionsgeschichte in der am Werk des Autors ansonsten nur wenig interessierten Literaturwissenschaft gut dokumentiert ist, entstehen in einem Zeitraum von etwa zweieinhalb Jahren. Der erste Brief datiert vom 5. September 1830, der letzte vom 19. März 1833. Vorerst private Schreiben, richten sich die der Sammlung zugrundeliegenden Ausgangstexte an Börnes langjährige Freundin und Korrespondentin Jeanette Wohl, die diese liest und beantwortet, sammelt und abschreibt, um sie danach gemeinsam mit dem Autor in monatelanger Redaktionsarbeit für den Druck vorzubereiten.39 In ihrer unredigierten Form dienen Börnes Briefe, die ein Vielfaches der veröffentlichten Sammlung ausmachen, ebenso wie die Antwortbriefe Wohls der Aufrechterhaltung einer persönlichen Beziehung, die häufig über große räumliche Entfernungen hinweg gelebt wird. Die Briefe ermöglichen die Teilhabe am Denken und Tun des jeweils anderen, in ihnen offenbaren sich aber auch Sehnsucht und verhaltene Erotik. Die Bedeutung des Briefwechsels für die beiden Korrespondierenden erhellt aus dessen Frequenz – Börne und Wohl schreiben einander zumindest dreimal wöchentlich, phasenweise sogar täglich –, geht aber auch aus erst aus den Nachlässen publizierten Texten hervor. Als »Briefkrankheit«40 bezeichnet etwa Jeanette Wohl jenen Zustand des bangen Wartens auf Post, die aus dem Schweizerischen Mariahalden, Börnes Aufenthaltsort im Sommer 1832, nur unregelmäßig befördert wird. Und am 17. August klagt sie: »Aber das ist unerhört, daß wir uns wirklich dieses Briefleiden nicht abgewöhnen können! […] Heute nachmittag mußte ich meine Arbeit weg und mich aufs Kanapee legen. In so unruhiger Bewegung war ich, als es gegen die Briefzeit ging, […] weil viel-

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Haacke: Feuilletonkunde, Bd. 2, S. 150. Vgl. Christa Walz: Jeanette Wohl und Ludwig Börne. Dokumentation und Analyse des Briefwechsels. Frankfurt a. M., New York 2001 (Campus Judaica 18), S. 135, S. 138–142. Jeanette Wohl: Brief vom 31. Juli 1832. In: Briefe der Frau Jeanette Strauß-Wohl an Börne. Hg. u. eingel. v. Elisabeth Mentzel. Berlin 1907, S. 352.

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leicht keiner kommen könnte«.41 »Die Unruhe zur Briefzeit kenne ich«, gesteht Börne seinerseits: Ich muss mich auch aufs Sofa legen vor Ungeduld. Das tat ich in Paris immer und so ähnliches. Dort kamen die Briefe um ½12 an. Punkt 11 begann mein Fieber. Oft ging ich dann ins Kaffeehaus, um die Zeit mit Zeitungenlesen zu vertreiben. In Mariahalden, wo die Briefe abends um 9 ankommen, lege ich mich aufs Bett. O die Liebe, was die einen när42 risch macht! Unheilbare Krankheit!

Doch Jeanette Wohl ist nicht nur Adressatin von Börnes privaten Briefen, sondern vor allem auch Anregerin der Briefe aus Paris, die aus der privaten Korrespondenz hervorgehen. In zahlreichen Schreiben sucht sie den Autor zu überzeugen, anstelle der Aufsatzsammlung, die Börne als achten Band seiner Gesammelten Schriften plant, doch eine Anthologie von Briefen, eben die Briefe aus Paris, vorzulegen. Schließlich wisse sie noch von früher, »wie das mit den Aufsätzen« gehe, schreibt sie am 12. November 1830 an den bereits in Paris weilenden Börne. Bis nur der Plan fertig, ist schon soviel Zeit verloren, und manchmal, oder gar oft auch […] die Lust zur Ausführung. Wenn Sie nur wüßten, wie schön Ihre Briefe sind! Jeder einzelne gedruckt, würde das größte Interesse erregen! […] Ist nicht in Briefen eine weit frischere, lebendigere, anziehendere und ansprechendere Darstellung möglich, als in Aufsätzen? Und sind Heines Reisebilder etwas anderes als Briefe! Durchaus nicht! […] (Be)-denken Sie täglich den so reichen Stoff! Der Prozeß der Minister, die Bewegung in den Straßen, die Kammern, das englische Parlament, Theater, Literatur, Kunst, Industrie, Bildergalerien, deutsche Angelegenheiten wie Politik, Literatur, Zeitungen, deren Lächerlichkeit oder 43 Schlechtigkeit!

Die Briefform, deren Wahl sich dem ›kurzen Atem‹ ihres Autors schulden mag, scheint für Börne – wie im Übrigen auch für seine Nachfahren im Feuilleton – aber auch »der Spannung und dem Bedürfnis [einer] Zeit gemäß«44, die die sukzessive Auflösung vor allem ihres sozialen Koordinatensystems erlebt. Nicht in ausschweifenden Erzählungen und Schilderungen soll einer sich im Wandel befindlichen sozialen Realität literarisch beigekommen werden, sondern die Beobachtungen des Zeitgeschehens scheinen gerade in der epistolären Kurzprosa ihre ideale formalästhetische Entsprechung zu finden. »Sagten Sie […] nicht neulich selbst«, so Jeanette Wohl an anderer Stelle zu Börne, »›[i]n dieser ungeheuer bewegten, tatenreichen Zeit kann man keine Bücher schreiben‹, also Briefe, Briefe! […] Sparen Sie die Aufsätze auf nachher!«45

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Jeanette Wohl: Brief vom 17. August 1832. In: ebd., S. 357. Ludwig Börne: Brief an Jeanette Wohl vom 22. August 1832. In: L. B.: Sämtliche Schriften. Neu bearb. u. hg. v. Inge u. Peter Rippmann. Bd. 5: Briefe II. Nachträge. Düsseldorf 1964, S. 309. Jeanette Wohl: Brief an Ludwig Börne vom 12. November 1830. In: Börne: Sämtliche Schriften, Bd. 5, S. 165. Alfred Polgar: Die ›kleine Form‹ (quasi ein Vorwort). In: A. P.: Orchester von oben. Berlin 1926, S. 9–13, hier S. 11. Wohl: Brief an Ludwig Börne vom 12. November 1830, S. 164.

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Inhaltlich besehen geben die Briefe aus Paris Zeugnis von Börnes brennendem Interesse an den politischen Ereignissen in Europa, über die er sich in den in Pariser Lesekabinetten aufliegenden französischen und auch »stinkenden deutschen Zeitungen«46 informiert, von seiner Erregung über die Aktivitäten der italienischen (174) oder die Niederschlagung der polnischen (353ff.) Unabhängigkeitsbewegung etwa, von seiner tiefen Verachtung vor allem des österreichischen Staates, jener »Geisteswüste« (71) und »seelenlose[n] Dampfmaschine« (151), die den Völkern »die Freiheit« nicht nur »geraubt«, sondern bewirkt habe, dass diese »der Freiheit unwürdig geworden« (174),47 von den postrevolutionären Verhältnissen in Frankreich (652ff.), schließlich von der wieder und wieder geäußerten Hoffnung, die französischen Revolutionen mögen auch auf andere europäische Staaten, insbesondere auf die deutschen, übergreifen. So heißt es beispielsweise in dem vom 18. September 1830 datierten Sechsten Brief: Ich komme aus dem Lesekabinett. Aber nein, nein, der Kopf ist mir ganz verwirrt von allen den Sachen, die ich aus Deutschland gelesen! Unruhen in Hamburg; in Braunschweig das Schloß angezündet und den Fürsten verjagt; Empörung in Dresden! […] Hätte ich mich also doch geirrt, wie mir schon manche vorgeworfen? Wäre Deutschland reifer, als ich gedacht? Hätte ich dem Volke unrecht getan? Hätten sie unter Schlafmützen und Schlafrock heimlich Helm und Harnisch getragen? O, wie gern, wie gern! Scheltet mich wie einen Schulbuben, gebt mir die Rute, stellt mich hinter den Ofen – gern will ich die schlimmste Züchtigung ertragen, wenn ich nur unrecht gehabt. (24f.)

Lustvoll und mit »Schadenfreude« setzt Börne denn auch den revolutionären Umsturz ins Wort, im Zuge dessen ein »elendes«, doch nichtsdestoweniger widersetzliches »Volk« Europa von der Herrschaft jenes »armselige[n] Dutzend[s] Menschen« befreit, »das klüger zu sein glaubt als die ganze Welt, mächtiger als Gott, gefährlicher als der Teufel«, malt sich aus, wie dieses »Zuschanden […] und von uns, die [es] wie Hunde behandelt, in die Waden gebissen und aus Haus und Hof gejagt« wird. (87) An anderer Stelle entlädt sich Börnes antiaristokratischer Furor, sein Hass »gegen die Fürsten, welche die Feinde aller Menschen sind« (644), in Tötungsphantasien, wenn er etwa dazu auffordert, »mit den dummen Aristokraten Mitleiden« zu haben: man müsse ihnen schließlich »nicht eher sagen, daß das Kassationsgericht dort oben ihre Appellation verworfen [habe], bis an dem Tage, wo sie hingerichtet werden«. (643) Weniger ironisch anempfiehlt er im Dreiundsiebzigsten Brief, keine Schonung mehr walten zu lassen, nicht im Handeln, nicht im Reden. Liegt die Freiheit hinter einem Meere von Blut – wir holen sie; liegt sie tief im Kote versenkt, wir holen sie auch. […] Was andere tun für die Tyrannei, warum sollen wir es nicht für die Freiheit tun? Schwert gegen Schwert, List ge46

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Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Neu bearb. u. hg. v. Inge u. Peter Rippmann. Bd. 3: Briefe aus Paris. Düsseldorf 1964, S. 643. In der Folge im Text in Klammern und mit einfachen Seitenzahlen zitiert. »Wie das Herz überhaupt, so hat auch jedes Herz, auch des besten Menschen, einen Fleck, der ist gut österreichisch gesinnt – er ist das böse Prinzip.« (174)

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gen List, Kot gegen Kot, Hundegebell gegen Hundegebell. Heine sagt: auch die Freiheit müsse ihre Jesuiten haben; ich sage das auch. (496f.)

Das durch Zeitungsmeldungen, briefliche Mitteilungen und auch ›Zimmerspekulationen‹ (709) genährte revolutionäre Begehren des Autors wird jedoch von keiner Revolution in Deutschland gestillt. Vielmehr erkennt Börne im Laufe seiner Pariser Jahre, dass die Abschaffung der absolutistisch-monarchischen Systeme nicht nur an deren Resistenz scheitern muss, sondern vor allem am mangelnden Widerstandswillen der Deutschen selbst. Deren Freiheit werde dereinst errungen werden, höhnt Börne am 14. Dezember 1832, indes »nicht von ihnen selbst, [sondern] von anderen Völkern« (643). Die Deutschen dagegen imaginiert er als biegsame Untertanen, die sich noch im Moment ihrer Befreiung aus dem Joch in hingebender Selbstaufopferung vor ihre Unterdrücker stellen: »Ich sehe es schon im Geiste: wenn einst die finstern Gewitterwolken sich werden über den deutschen Palästen zusammenziehen, wenn der Donner zu grollen anfängt, wird das geschmeidige deutsche Volk wie ein Eisendraht hinaufkriechen zu allen Dächern seiner Tyrannen, um die geliebten Herrscher vor dem Blitze zu bewahren und ihn auf sich selbst herabzuziehen.« (643f.) Doch selbst im nachrevolutionären Frankreich, in das Börne wie viele europäische Liberale aufgebrochen ist, das liberal-konservative Experiment der Bürgermonarchie aus der Nähe zu beobachten, ortet er Verletzungen des Grundgesetzes, mithin die Rücknahme der während zweier Revolutionen erkämpften Menschen- und Bürgerrechte. Und am 16. Dezember 1832 bekennt er: »Als ich vor zwei Jahren nach Paris kam, war die Freiheit schon im Untergehen, und ich mußte sogar auf einen hohen Berg der Begeisterung steigen, um noch ihre letzten Strahlen zu erwischen; denn im Tale war es schon dunkel.« (655) Neben scharfen Analysen europäischer Politik präsentiert Börne in seinen Briefen aus Paris aber auch Bilder des europäischen Kultur- und Geisteslebens, etwa wenn er Texte Victor Hugos (638ff.), Chateaubriands (708ff.), PücklerMuskaus (163ff.) und besonders Heinrich Heines (169ff.) rezensiert, wenn er Pariser Theater- (185ff.), Konzert- (157ff.) und Opernereignisse (125ff.) bespricht oder auch von seinem Besuch des Opernballs berichtet (139ff.). Seine Einlassungen über die in Europa grassierende Cholera (329), seine Berichte über das Reisen (6–20), seine Ausführungen über Zoll- und Postverhältnisse (13) dokumentieren europäische Sozialgeschichte zu Beginn der achtzehnhundertdreißiger Jahre. Den Blick auf den Alltag in Paris, der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, geben wiederum detaillierte Beschreibungen von persönlichen Begegnungen vor allem mit anderen Exilanten frei (23), aber auch Berichte über alltägliche Begebnisse, wie die Mühsal der Wohnungssuche (48), das Ausfindigmachen von guten und nicht zu teuren Restaurants (115) oder den Kampf gegen einen rauchenden Kamin. »Es raucht heute wieder in meinem Zimmer«, schreibt Börne »unter Tränen und Seufzern« im Fünfzehnten Brief. Aber das ist nun einmal nicht zu ändern in Paris, es geht in vielen Häusern nicht anders. Man hat hier eine eigene Art Ärzte für kranke Kamine, Rauchkünstler (fumistes) genannt. Es sind aber eben Ärzte. Man weiß oft nicht, ob die Krankheit sie oder ob sie die Krankheit herbeigeführt. Gestern hat ein solcher Künstler an meinem Kamine gearbeitet, und als man

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ihn heute wieder holte, weil es noch stärker rauchte als vorher, sagte er, es läge am Wetter, und er wolle kommen, sobald es nicht mehr rauche, und dann helfen. (72)

Dass Börne seine Briefe aus Paris nicht als ›Feuilletons‹ konzipiert hat, dürfte mehrere Gründe haben. Neben den Produktionsproblemen des Autors, die dieser – schenkt man Jeanette Wohls Briefen Glauben und bedenkt man, dass die Briefe an sie nahezu die Hälfte von Ludwig Börnes gedrucktem Werk ausmachen48 – dauerhaft nur in der privaten Korrespondenz zu überwinden vermag, dürfte sich die Wahl der Form des ›Privatbriefs‹ wohl auch und nicht zuletzt den Zensurbedingungen in Deutschland danken. Denn tatsächlich ist Börne die Form des Feuilletons in ihren unterschiedlichen Ausprägungen nicht fremd, weist sein publizistisches Werk nicht nur Theaterkritiken, sondern auch eine Sammlung von Reisefeuilletons oder Korrespondentenfeuilletons auf – die weniger bekannten Schilderungen aus Paris. Diese verfasst der Autor anlässlich eines ersten längeren Aufenthalts in der französischen Hauptstadt in den Jahren 1822 bis 1824 für Cottas in Stuttgart erscheinendes Morgenblatt für Gebildete Stände. Die ›Aufsätze‹, wie Börne seine Schilderungen aus Paris nennt, in denen er ähnlich wie auch in den Briefen das Pariser Kultur- und Alltagsleben in den Blick nimmt, gelten, wiewohl heute weitgehend unbekannt, »in ihrer Ausgewogenheit und Geschlossenheit« der Börne-Forschung als »Börnes glücklichstes Werk«.49 Auch aus den Briefen aus Paris geht hervor, dass sich Börne während seines Parisaufenthalts in den dreißiger Jahren um sogenannte Korrespondenzen bemüht. »Ich habe mit einigen deutschen Zeitungsredakteuren Verbindungen angeknüpft, um eine Korrespondenz zu übernehmen«, schreibt er im Zehnten Brief, es ist aber nichts zustande gekommen. Die einen und die andern wollten nicht Geld genug hergeben oder können auch nicht mehr bei den armseligen Verhältnissen, in welchen sich die meisten deutschen Blätter befinden. Die Hamburger Zeitung, welche […] mir meine Forderungen vielleicht bewilligt hätte, machte mir die Bedingung, ich müßte mich auf Tatsachen beschränken und dürfe nicht räsonieren. Da ich aber nicht nach Frankreich gereist bin, um ein Stockfisch zu werden, sondern gerade wegen des Gegenteils, brach ich die Unterhaltung ab. (44f.)

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Vgl. Ludwig Geiger: Einleitung des Herausgebers. In: Börnes Werke. Historisch-kritische Ausgabe in zwölf Bänden. Hg. v. Ludwig Geiger. Bd. 9: Briefe an Jeanette Wohl I. Berlin [u. a.] 1913, S. 7–48, hier S. 9.  Vgl. auch Jasper: Keinem Vaterland geboren, S. 7. Inge Rippmann, Peter Rippmann: Lebensdaten. In: Börne: Sämtliche Schriften, Bd. 3, S. 985–1054, hier S. 1013. Vgl. auch Anders: Ludwig Börne, S. 46f.  Einblick in seine feuilletonistischen Anfänge geben auch die 1820 und 1821 ebenfalls für das Morgenblatt für gebildete Stände verfassten sechs Briefe aus Frankfurt. Vgl. Ludwig Börne: Briefe aus Frankfurt 1820–1821. Mit einer Einleitung von Alfred Estermann. Frankfurt a. M. 1986. In den Werkausgaben finden sich aber auch andere reisefeuilletonistische Texte mit Titeln wie Ferienreise eines deutschen Journalisten, Mein Wanderbuch am Rhein oder Die ›Zwecklose Gesellschaft‹ in Breslau. Vgl. Börnes Werke. Historisch-kritische Ausgabe in zwölf Bänden. Hg. v. Ludwig Geiger. Bd. 3: Vermischte Aufsätze, Erzählungen, Reisen II. Hg. v. Rudolf Fürst. Berlin [u. a.] 1912, S. 231–234, 235–236, 260–263.

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Das ›raisonnement‹, hier als Kommentar der politischen Ereignisse zu verstehen, findet seinen Ort vorerst im geschützten Raum der privaten Korrespondenz, in der politische Meinungen unzensiert bleiben. Mit der Veröffentlichung der gesammelten und überarbeiteten Briefe in Buchform – diese erscheinen Anfang Oktober 1831 in einer Auflage von 2000 Exemplaren als Bände 9 und 10 der Gesammelten Schriften – gelingt es denn auch, die Zensur zumindest zeitweilig zu düpieren. Da die Bände den Umfang von zwanzig Druckbogen überschreiten, unterliegen sie nicht der Präventivzensur,50 und die Auflage der ersten beiden Teile der Briefe aus Paris erfährt so rasanten Absatz, dass nachträgliche Zensurmaßnahmen zu spät greifen. Bereits am 21. Oktober ist, wie Inge und Peter Rippmann erhoben haben, praktisch die gesamte Auflage abgesetzt.51 Aber erst im November reagieren die Behörden. Am 5. des Monats wird dem Verleger Julius Campe bei Strafe von 100 Talern der weitere Verkauf der Briefe untersagt, »weil das Buch die gröbsten Schmähungen gegen den Bundestag und die Fürsten und Regierungen des Deutschen Bundes [enthalte] und zum Aufruhr reiz[e]«.52 Dem Beispiel des Hamburger Senats folgend verbietet kurz danach auch Preußen die Briefe. Die Stadt Frankfurt schließlich sucht neben dem Werk vor allem seinen Urheber zu treffen und streicht Börne vorerst die ihm aus seiner ehemaligen Tätigkeit als Polizeiaktuar der Stadt zustehende Pension. Dennoch scheinen die Zensurmaßnahmen die Wirkung der Briefe geradezu zu verstärken. »Es ist eine wahre Lesewut mit Ihrem Buche«,53 meldet Jeanette Wohl am 12. November nach Paris. Und die Lesewut kennt ihresgleichen in einer Rezensionswut: In hunderten von Zeitschriftenspalten besprochen, avanciert Börnes politisch-literarisches Hauptwerk zu einem der spektakulärsten Presseereignisse des Vormärz.54 Der Erfolg der Briefe aus Paris erlaubt eine Fortsetzung des Unternehmens. Die Bände drei und vier erscheinen unter dem Decktitel Mittheilungen aus dem Gebiete der Länder- und Völkerkunde um den Jahreswechsel 1832/1833. Als Verlag firmiert diesmal nicht Hoffmann und Campe auf dem Titelblatt, sondern der vermutlich fingierte Offenbacher Verlag L. Brunet. 1834 erscheinen die beiden letzten Bände der Briefe aus Paris.

3. Als am 10. Dezember 1835 die Frankfurter Bundesversammlung dekretiert, die Schriften des ›Jungen Deutschland‹ in allen Staaten des Deutschen Bundes zu 50 51 52 53 54

Vgl. Wolfgang Labuhn: Literatur und Öffentlichkeit im Vormärz. Das Beispiel Ludwig Börne. Königstein i. Ts. 1980 (Hochschulschriften Literaturwissenschaft 47), S. 235. Vgl. Rippmann, Rippmann: Lebensdaten, S. 1026. Zitiert nach ebd. Wohl: Brief an Ludwig Börne vom 12. November 1830, S. 864. Vgl. Estermann: Nachwort, S. 759. Vgl. auch Labuhn: Literatur und Öffentlichkeit, S. 237–250.

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verbieten und ihre Verbreitung unter Strafe zu stellen, steht der Name Ludwig Börnes nicht auf der Proskriptionsliste. Börne selbst äußert sich jedoch im März 1836 in seiner neu gegründeten Zeitschrift La Balance. Revue allemande et française zum Verbot und sucht nach den wahren Gründen für die Verhängung des literarischen ›Todesurteils‹.55 Die eigentlichen Vergehen der Geächteten seien nicht die im Beschluss der Bundesversammlung angeführten, also die Diffamierung der christlichen Religion, die Herabwürdigung der »bestehenden socialen Verhältnisse« oder die Zerstörung von »Zucht und Sittlichkeit«.56 Ihr ›Verbrechen‹ sei vielmehr eines der Form. Herr Gutzkow und seine ›Stilkomplizen‹ hätten nämlich eine neue Schreibweise entwickelt,57 deren Wirkmächtigkeit die Staatsmacht vor allem fürchte. Diese praktizierten sie in den in großer Zahl neu gegründeten literarischen Zeitschriften (im Wortlaut der Bundesversammlung: »in belletristischen, für alle Classen von Lesern zugänglichen Schriften«),58 als deren Beiträger sie mittlerweile auch die intellektuellen Eliten gewinnen konnten.59 Mit der Überzeugung, dass die Schriften der ›Jungdeutschen‹ nicht »der gefährlichen Ideen […], sondern der popularen Form wegen[,] worin jene Ideen gekleidet waren«,60 verboten wurden, steht Börne nicht allein. Auch Heinrich Heine äußert sie noch 1853, als er rückblickend zum Verbot seiner Schriften meint: »Nein, ich gestehe bescheidentlich, mein Verbrechen war nicht der Gedanke, sondern die Schreibart, der Styl.«61 Angesichts der sogar parlamentarisch festgestellten Wirkmächtigkeit der neuen Schreibweise überrascht es nicht, dass auch die diesbezüglichen innerliterarischen Äußerungen in erster Linie um die wirkungsästhetischen Dimensionen des ›neuen Stils‹ kreisen. Als »Waffe«, die man »schärfen« müsse, erscheint dieser etwa bei Wienbarg.62 Und ähnlich fordert Börne von der neuen Schreib55

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Ludwig Börne: Wally la sceptique (Wally die Zweiflerin). Roman par C. Gutzkow. In: L. Boerne: La Balance, Revue allemande et française. Bd. 1. Hildesheim, New York 1973 (Nachdruck der Ausgabe Paris 1836), S. 93–103, hier S. 103. Das wörtliche Zitat lautet: »Voilà pour quelle raison M. Gutzkow et ses complices en beau style, ont été punis de la mort littéraire«. Verbot der Schriften des ›Jungen Deutschland‹. Protokoll der 31. Sitzung der Bundesversammlung, 1835. Zitiert nach: URL: http://www.heinrich-heine-denkmal.de/dokumente/ beschluss.shtml [Stand: 25.5.2010]. Vgl. Börne: Wally la sceptique, S. 101. »Les auteurs mis en interdit ont de l’esprit, et surtout ils ont un beau style: voilà tout leur crime«, heißt es im Text wörtlich. Verbot der Schriften des ›Jungen Deutschland‹. Vgl. Börne: Wally la sceptique, S. 103. – Vgl. dazu vor allem Helmut Koopmann: Doppeldeutiges. Zum literarischen Stil Ludwig Börnes. In: Ludwig Börne 1786–1837. Hg. v. der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. Bearb. v. Alfred Estermann. Frankfurt a. M. 1986, S. 175–187. Heinrich Heine: [Stil-Anathema. Nicht veröffentlichtes Bruchstück zum Aufsatz Die Götter im Exil]. In: H. H.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 9. Hamburg 1987 (Düsseldorfer Ausgabe), S. 294. Ebd. Ludolf Wienbarg: Ästhetische Feldzüge. Hg. v. Walter Dietze. Berlin, Weimar 1964, S. 113.

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weise, diese müsse die Herzen »rühren, die unbeweglichen durchbohren« (160), schließlich – so der Autor bereits 1826 in seinen Bemerkungen über Sprache und Stil – komme jetzt alles darauf an, dass »der gemeine Mann nicht errate, was wir wollen, sondern fühle, was wir gewollt«.63 Emotionales Wirkungspotential wird dabei vor allem der Prosa zugeschrieben. Diese vermöge anders als die gebundene Sprache und qua ihrer Nähe zur Alltagssprache unmittelbar auf die Lesenden einzuwirken, sei sie doch, wie etwa Wienbarg 1834 in seinen dem ›Jungen Deutschland‹ gewidmeten Aesthetischen Feldzügen feststellt, »unsere gewöhnliche Sprache und gleichsam unser tägliches Brot«, sprächen doch »unsere Landstände in Prosa« und könnten wir doch »unsere Person und Rechte nachdrücklicher in Prosa verteidigen«.64 Unmittelbar vermag freilich nur eine Schreibweise zu wirken, die sich von der behäbigen Rhetorik herkömmlicher Prosa absetzt, denn letztlich gelte es – so Börne in den Briefen aus Paris –, die Tyrannei zu »verfolgen, ihr nicht mit schweren Gründen nach[zu]hinken« (160). Beweglichkeit und Leichtigkeit sowie die Nähe zur gesprochenen Sprache charakterisieren denn auch jenen ›modernen‹ Prosastil, der sich seit den zwanziger Jahren in der literarischen Publizistik Bahn bricht und als dessen ›Begründer‹ im Deutschen Heinrich Heine und Ludwig Börne gelten. Noch stärker als die Prosa Heines orientiert sich die des Publizisten Börne dabei an den Gestaltungsprinzipien der modernen Zeitschrift, von deren Möglichkeiten, politisch Einfluss zu nehmen, er überzeugt ist. Verständlichkeit, Kürze und vor allem Pointiertheit sind mithin die Stilmerkmale von Börnes Prosa, die deren Nähe zum Journalismus indizieren. Auch sind in den Texten die ursprünglichen (häufig Objektivität suggerierenden) Textfunktionen der publizistischen Genera, also das Informieren, das Berichten, das Aufzeichnen, das Schildern, aber auch das Kommentieren und das Kritisieren, deutlich erkennbar. Daneben speist sich die Börne’sche Poetik – zumal die der Briefe aus Paris – aber auch aus einer Poetik des Epistolären. Diese drückt sich vor allem in der Nachahmung des ursprünglich mündlichen Genres der Konversation im Schriftlichen aus, also in der Adresse des Gesagten an eine Gesprächspartnerin, in der häufig assoziativen Gedankenführung, in der subjektiven Gestimmtheit und im Plauderton der Texte. Wie dem Privatbrief oder auch dem geschäftlichen Schreiben sind Börnes Briefen zudem jeweils Datumsangaben vorangestellt. Allerdings entbehren die Texte sowohl die einleitende direkte Anrede der Briefpartnerin wie auch die namentliche Zeichnung, eine formale Eigenheit, die sie wiederum mit dem Genus des Korrespondentenfeuilletons gemein haben, aus dem sie gleichermaßen hervorgehen. Nicht zuletzt offenbart sich in Börnes Briefen ein Stilbedürfnis, aus dem die Literarisierung der in publizistischer Wirkungsabsicht ge-

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Ludwig Börne: Bemerkungen über Sprache und Stil. In: L. B.: Sämtliche Schriften. Neu hg. und bearb. von Inge und Peter Rippmann. Bd. 1. Düsseldorf 1964, S. 589–597, hier S. 595. Wienbarg: Ästhetische Feldzüge, S. 109.

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schriebenen Texte resultiert. Die Literarisierung der Publizistik, aber auch die Politisierung der Literatur scheinen sich dabei als Funktionen eines erweiterten Konzepts des Poetischen herauszustellen,65 in dem die »publizistische Intention« einen »eigenwertigen, mit […] ästhetischen Kategorien erfassbaren Ausdrucks- und Darstellungswillen[]« motiviert.66 Dieser materialisiert sich wiederum in der Verschränkung poetologischer Elemente unterschiedlicher generischer und medialer Provenienz. Das Ineinandergreifen von publizistischer Wirkungsabsicht und literarischem Stilwillen erhellt deutlich aus der Analyse des zweiten Teils von Börnes Sechstem Brief, der sich auch als poetologischer Schlüsseltext der Briefe aus Paris lesen lässt. In seiner vergleichsweise komplexen formalen Struktur verschränkt dieser Text nicht nur mehrere zeitliche Ebenen, er konstituiert sich auch im Wechsel unterschiedlicher subjektiver Modi des Wirklichkeitsbezugs als poetischer. Beobachtung, Analyse, Kommentar, Erinnerung, Imagination, Tagtraum oder Reflexion67 werden dabei jeweils einem Ich zugeordnet, das sich als politischer Kommentator, als Chronist historischer Ereignisse, als ironischer Beobachter von Alltagsgeschehen, als traumwandlerischer Pariser Spaziergänger, als sich erinnernder alternder Autor mitteilt. – Der Brief entsteht während der ersten drei Morgenstunden des 19. September 1830, eine Zeitspanne, die der Briefschreiber im Text gleichsam als ›Erzählzeit‹ ausweist, wenn er diesen mit dem Satz, »Mitternacht ist vorüber« (25), einsetzen lässt und ihn mit einer Zeitangabe – »[e]s ist drei Uhr« (31) – beendet. Letztere ergänzt der Schreibende noch um die Schilderung einer Gruppe von Spielern in einem Roulettezimmer vis-à-vis, auf deren repetitives und ›rasendes‹ Tun sein Blick während der knappen drei Stunden, in denen sein Brief entstand, regelmäßig fiel. Der Prozess des Schreibens wurde offenbar von einer parallel verlaufenden Handlung, der des Spielens, begleitet. Erst am Ende des Textes eingeführt, ist diese nicht nur erzähltechnisch, sondern vor allem poetologisch relevant, dupliziert sie doch ein stilistisches Moment des Textes selbst, der sich auch über das Spiel – das Sprachspiel, das Gedankenspiel, das Spiel mit Aussagemasken und mit Perspektiven – als literarischer konstituiert. Darüber hinaus eröffnet sich mit der Einführung der Spielhandlung ein zweiter gegenwärtiger Handlungsraum im Text, der vom Schreibenden zwar einsehbar, jedoch, weil durch ein vergittertes Fenster von ihm und von der Straße getrennt, nicht betretbar ist. Der Raum entsteht, wie alle anderen Räume und die sie bevölkernden Figuren, nur im Bezug auf das beobachtende und reflektierende Ich. »Ich hoffe, es ist keiner 65

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Den Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik ortet Wolfgang Preisendanz in der Prosa Heinrich Heines. Dieser charakterisiert allerdings die ›moderne‹ feuilletonistische Schreibweise insgesamt. Vgl. Wolfgang Preisendanz: Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik. In: W. P.: Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. München 1973 (UTB 206), S. 21–68, hier S. 25. Ebd., S. 29. Einzelne dieser Beschreibungsmodi konstatiert Preisendanz in der Heine’schen Prosa. Vgl. ebd., S. 31.

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darunter, der im Juli mitgefochten« (31), meint der Briefschreiber über die »Rasenden im Roulettezimmer gegenüber« (31), die »Unglücklichen« (31), die »wilde[n] Tiere« (31), und setzt deren spielerisches Handeln in Bezug zu den revolutionären Ereignissen der jüngeren Vergangenheit, deretwegen er selbst nach Paris gereist ist und die im Gegensatz zu jener Realität des Spiels stehen, die sich ihm augenblicklich präsentiert. Dass die Spieler »noch in dicken Kreisen um den Tisch« (31)68 stehen, als der Schreibende seinen Brief beendet und sich mit einem »Gute Nacht« (31) aus dem Text verabschiedet, lässt ein Fortdauern der (nunmehr autonomen) Parallelhandlung erahnen. Der Brief selbst, der – wie alle anderen Briefe aus Paris – mit dem häufig spielerisch inszenierten Ästhetischen einen immer ›ernst gemeinten‹ politischen Subtext transportiert, evoziert denn auch als letztes Bild das der Julirevolution.69 Mit ihm lenkt der Schreibende die Aufmerksamkeit wieder auf das Movens seiner Reise nach und das Thema seiner Briefe aus Paris. Der Siebente Brief wird folgerichtig und quasi an den Sechsten Brief anknüpfend gleich zu Beginn die Erregung des Schriftstellers angesichts der politischen Umwälzungen im postrevolutionären Frankreich thematisieren (vgl. 31). Im Mittelpunkt von Börnes Sechstem Brief steht die Erzählung der Ereignisse des vorangegangenen Tages. Diese geht vom unmittelbar zuvor Erlebten, dem »vor wenigen Minuten« (25) erfolgten Verzehr von Gefrorenem, aus und bewegt sich in rückwärtsgewandter Chronologie durch den vergangenen Tag. Der Besuch einer Abendgesellschaft und ein tagsüber unternommener Spaziergang durch den Jardin des Tuileries sind dabei zwar die äußeren Anlässe für die Narration, allerdings nicht deren alleinige Gegenstände. Der Erzählerbericht findet sich vielmehr von Betrachtungen, Reminiszenzen, Reflexionen, Phantasien des Briefschreibers überlagert. In Erinnerungsbildern etwa wird zwanzig Jahre Zurückliegendes beschworen (30), in historischen Rückwendungen werden Ereignisse des Jahres 843 in den Blick genommen (26), Vorausdeutungen weisen nicht nur auf die nähere Zukunft des Roulettespiels, sondern auch auf das Jahr 1843 voraus, in dem die anlässlich der Abendgesellschaft entworfene politische Utopie, der zufolge sich Deutschland und Frankreich »zu einem großen fränkischen Reiche« (26) vereinigen würden, Wirklichkeit geworden sein soll. Der Brief verweigert damit letztlich die lineare Chronologie des Erzählens und somit auch die Entfaltung eines geschlossenen Sachzusammenhangs. Zur Sprache kommt vielmehr eine Vielzahl von Fakten, Phänomenen, Ereignissen, Bewusstseinsdaten, die weitgehend durch Assoziation miteinander verbunden sind.70 So entwickelt etwa der Briefschreiber seine Phantasie der nationalen 68 69

70

Hervorhebung von mir. Die Passage lautet wörtlich: »Es ist drei Uhr, und die Rasenden im Roulettezimmer gegenüber stehen noch in dicken Kreisen um den Tisch. Das Fenster nach der Straße ist durch ein Drahtgitter verwahrt. Die Unglücklichen dahinter sehen wie wilde Tiere aus. Ich hoffe, es ist keiner darunter, der im Juli mitgefochten. Gute Nacht.« (31) Vgl. Preisendanz: Funktionsübergang, S. 30.

312

Hildegard Kernmayer

Vereinigung, die im Ausruf kulminiert, »[w]ie herrlich wäre es, wenn beide Länder in allem so verschmolzen wären, als es beide Völker heute abend bei *** waren« (26), ausgehend von der Schilderung jener Abendgesellschaft, der er gemeinsam mit anderen deutschen und französischen Gästen beigewohnt hat und von der es heißt: »Es war da ein Gemisch von Deutschen und Franzosen, wie es mir behagt.« (25) An den wertenden Erzählerbericht anknüpfend, in dem der Korrespondierende sein Behagen und damit sich selbst thematisiert, entfaltet sich folgerichtig die nationale Verschmelzungsphantasie rhetorisch nicht in einem sich kausal-logisch und objektiv wollenden argumentativen Verfahren, sondern vielmehr über assoziative Verknüpfungen, die eindeutig dem wahrnehmenden, reflektierenden und im konkreten Fall ironisch ›gestimmten‹ Subjekt zuzuordnen sind. Dieses nähert sich seinem Gegenstand in sprunghaften Denk- und Sprachakten, die sich in metonymischen Verschiebungen und kühnen Vergleichen vollziehen. Vom »Gemisch« etwa gerät der Schreiber nicht auf ›Gesellschaft‹ als den im vorliegenden Kontext naheliegenden Träger des Attributs ›gemischt‹, sondern auf einen ferner liegenden, nämlich ›Salat‹, wenn er spekuliert: »Es war da ein Gemisch von Deutschen und Franzosen […]. Da wird doch ein gehöriger Salat daraus.« (25) Dessen Ingredienzien wiederum oder, grammatikalisch gewendet, Attribute  nämlich Essig und Öl  sind Relata im daran anschließenden Vergleich zwischen Franzosen, die dem Text zufolge »allein […] Öl« (25), und Deutschen, die »allein Essig« (25) seien. Letztere jedoch seien »für sich gar nicht zu gebrauchen« (25f.), außer – und hier sieht der Briefschreiber von der Verwendung von Essig als Würzmittel ab und nimmt dessen medizinische Funktion als Bestandteil von Essigwickeln in den Blick  »in Krankheiten« (26). Die unterschiedliche Dosierung von Essig und Öl bei der Zubereitung von Salat wiederum fungiert als tertium comparationis in der Gegenüberstellung deutscher und französischer Kultur. Die »höchst wichtige und einflußreiche Beobachtung« (26) nämlich, wonach man »in Frankreich dreimal soviel Öl und nur ein Dritteil soviel Essig zum Salate verwende[] wie in Deutschland« (26), dient dem Schreiber als empirischer Befund, von dem er – darin induktive wissenschaftliche Verfahren persiflierend – seine scheinbar allgemein gültige Aussage über kulturelle Eigenheiten der deutschen und französischen Sozialsysteme ableitet.71 Denn diese Verschiedenheit gehe »durch die Geschichte, Politik, Religion, Geselligkeit, Kunst, Wissenschaft, den Handel und das Fabrikwesen beider Völker« (26), sei jedoch bisher von den »berühmtesten deutschen Historiker[n], die sich doch immerfort rühm[t]en, aus der Quelle zu schöpfen, leichtsinnig übersehen« (26) worden.72 71 72

Das Verfahren erinnert an das in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik praktizierte. Das vollständige Zitat lautet: »Es war da ein Gemisch von Deutschen und Franzosen, wie es mir behagt. Da wird doch ein gehöriger Salat daraus. Die Franzosen allein sind Öl, die Deutschen allein Essig und sind für sich gar nicht zu gebrauchen, außer in Krankheiten. Bei dieser Gelegenheit will ich Ihnen die höchst wichtige und einflußreiche Beobachtung mitteilen, daß man in Frankreich dreimal soviel Öl und nur ein Dritteil soviel Essig zum Salate verwendet wie in Deutschland. Diese Verschiedenheit geht durch die Geschichte,

Ludwig Börnes Briefe aus Paris

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Dem Assoziationsstil, in dem alles Wahrgenommene, Imaginierte, Erinnerte, Empfundene oder Gedachte Anlass gibt, auf anderes  mitunter semantisch Benachbartes, mitunter Entgegengesetztes oder Abgelegenes  zu geraten, dankt sich fraglos die Belachbarkeit des Erzählten. Die Multiplikation der semantischen Felder und die Achronizität des Erzählens, die mit dem Vagabundieren des Denkens zwangsläufig einhergehen, lassen aber auch jene innertextuelle Bewegung und damit jene Beweglichkeit entstehen, die Börne den modernen publizistischen Texten abverlangt. Dass das Assoziative produktionsästhetische Voraussetzung und gleichzeitig formalästhetisches Merkmal seiner epistolären Feuilletonistik ist, erkennt der Briefschreiber selbst. Anlässlich seines Spazierganges durch den Garten der Tuilerien, bei dem Beobachtungen und Reflexionen, Projektionen in die Zukunft und Reminiszenzen an die Vergangenheit einander ablösen, erinnert er sich an einen zwanzig Jahre zuvor getätigten Spaziergang durch den Wiener Augarten. »Es war ein schöner Tag wie heute, nur ein schönerer, denn es war am ersten Mai. Ich war im Augarten, welcher schöner ist als die Tuilerien. Die Volksmenge dort war groß und festlich ausgebreitet wie die hier.« (30) Wie im September 1830 scheint sich der Spaziergänger auch zwanzig Jahre zuvor im Gehen dem Strom seiner Gedanken hingegeben zu haben, denn, so der Briefschreiber, »[m]eine Phantasie lief umher wie ein junger Pudel« (30). Dieser erscheint dem alternden Autor rückblickend als »noch gar nicht dressiert« (30), sein gedankliches und motorisches Umherschweifen als zweckfrei und als spielerisch, hatte er doch »noch nie etwas dem ›Morgenblatte‹ oder sonst einem Zeitblatte apportiert. [Meine Phantasie] diente nur sich selbst, und was sie holte, holte sie nur, es als Spielzeug zu gebrauchen, und ließ es wieder fallen.« (30)  Das leichte, bewegliche und ephemere Genus des Feuilletons scheint sich mithin einem strengen publizistischen ›Dressurakt‹ zu verdanken. Denn anders als das selbstzweckhafte Spiel der Phantasie des jugendlichen Wiener Spaziergängers erfolgen die Beobachtungen, Imaginationen, Reflexionen und Erinnerungen des Flaneurs durch die Pariser Stadtlandschaften im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit in einem publizistisch-literarischen Produktionszusammenhang. Vor diesem Hintergrund erweist sich auch deren Anordnung im Text nicht mehr als zufällige oder als eine dem freiem Spiel der Assoziationen entsprungene. Die Technik der assoziativen Verknüpfung entpuppt sich vielmehr als poetisches Mittel zur Herstellung jener Effekte der Leichtigkeit, der Beweglichkeit, der Flüchtigkeit, der subjektiven Gestimmtheit, die typisch für die feuilletonistisch-epistoläre Prosa Börnes sind. Mit der Imitation des freien Spiels der Assoziation im Literari-

Politik, Religion, Geselligkeit, Kunst, Wissenschaft, den Handel und das Fabrikwesen beider Völker, welches vor mir die berühmtesten deutschen Historiker, die sich doch immerfort rühmen, aus der Quelle zu schöpfen, leichtsinnig übersehen haben. Sie sollen sich aber den Kopf darüber nicht zerbrechen. Es ist gerade nicht nötig, daß Sie alles verstehen, was ich sage, ich selbst verstehe es nicht immer.« (25f.)

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Hildegard Kernmayer

schen scheint aber auch eine Gattungserwartung befriedigt, die sich an die literarisch-publizistische Prosa der frühen Moderne insgesamt knüpft. Das Spielerisch-Assoziative ist in Börnes Sechstem Brief auch an die Figur eines Spaziergängers gebunden, dessen Wahrnehmungen des großstädtischen Raums der Text wiedergibt. Börne dürfte damit als einer der ersten deutschsprachigen Schriftsteller die großstädtische Konfiguration der Flanerie, die wie die Konfigurationen der Passagen, des Warenhauses und des Omnibusses die moderne Großstadt (sprich: Paris) seit 1830 prägen,73 seiner Poetik des Feuilletonistisch-Epistolären zugrunde legen. Das Flanieren, also jener genuin großstädtische Typus des Mobilen, wird auch Börnes Briefschreiber zu einer wesentlichen Möglichkeit der Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der modernen Großstadt. Die Flanerie zeitigt dabei vorerst neue Formen des Wahrnehmens, die im vorliegenden Fall allerdings weniger durch Rhythmus und Tempo der Bewegung durch den großstädtischen Raum bedingt und strukturiert werden,74 als sie sich einem spezifischen Erleben von ›Masse‹ danken. So vermag etwa der Briefschreiber die »unzählbare Menschenmenge« (27), die ihm bei seinem Spaziergang durch den Jardin des Tuileries begegnet, nicht mehr als eine Ansammlung von Individuen, sondern nur noch als grob zu differenzierende Masse wahrzunehmen. »Kinder, Mädchen, Jünglinge, Greise, Frauen« (27) begegnen ihm als »die Kindheit, die Jugend, das Alter, das weibliche Geschlecht« (27). Die Großstadt Paris, nur noch vergleichbar mit London, erscheint ihm als »ein Warenlager von Menschen« (27). »Nichts ist allein, geschieden« (27), beschreibt der Briefschreiber seine Wahrnehmung der entindividualisierten Masse. Diese kennt ihresgleichen in der Farbwahrnehmung des Flaneurs. Denn auch »die mannigfaltigen Farben der Kleider erscheinen, aus der Ferne betrachtet« (27), nicht mehr klar voneinander getrennt, »die Farbengeschlechter treten [vielmehr] zusammen« (27), und der Spaziergänger »sieht weiß, blau, grün, rot, gelb, in langen breiten Streifen« (27). Mit der flächigen Anordnung der Farben und dem damit einhergehenden Verzicht auf eine Dreidimensionalität suggerierende Perspektive, aber auch mit der Auflösung gegenstands- und personenbezeichnender Konturen, die die Übersetzung der Farbwahrnehmung ins literarische Bild zeitigen, nimmt der Briefschreiber Farb-Form-Setzungen vor, wie sie in der Malerei erst gegen Ende des Jahrhunderts entwickelt werden, und antizipiert mithin ästhetische Entwicklungen der Moderne. Insgesamt besehen steht Börnes Spaziergänger am Anfang jener Reihe der Flaneure, die im immensen ergehbaren Raum der Großstadt ihrer Lust am Schauen und Erleben, am Einfangen des ›Augen-Blicks‹ frönen und die ihre Wahrnehmungen formal-ästhetisch transformiert im literarisch-publizistischen

73 74

Vgl. Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München, Wien 1993, S. 209. Vgl. dazu Dietmar Voss: Die Rückseite der Flanerie. Versuch über ein Schlüsselphänomen der Moderne. In: Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Hg. v. Klaus R. Scherpe. Reinbek b. H. 1988 (re 471), S. 37–60.

Ludwig Börnes Briefe aus Paris

315

Raum ›unter dem Strich‹ spazieren führen werden. Wenn Börne seinen Flaneur seine Beobachtungen indes nicht im Feuilleton, sondern im Medium des Briefs mitteilen lässt, so stellt er seine vergleichsweise frühen Großstadttexte, wiewohl Gründungstexte der deutschsprachigen Feuilletonistik, auch noch in eine andere publizistische Tradition. Tatsächlich verweist die Überführung privater Briefe in öffentliche Schreiben auf eine publizistische Praxis, die bis zu den Gelehrtenbriefen der ›respublica litteraria‹ des 17. Jahrhunderts zurückreicht und die ihre Fortsetzung in der Aufklärungspublizistik des 18. Jahrhunderts findet. Schließlich sind Börnes Briefe dort, wo sie sich als politische Manifeste verstehen auch ›epistolae‹, gerichtet an alle ›homines bonae voluntatis‹.75 Darüber hinaus setzt Börne auch eine literarische Brieftradition in der Zeitung fort, die von Blaise Pascals Lettres écrites à un Provincial über die Briefe an einen deutschen Kleinstädter von Theodor Mundt zu Paul Lindaus Harmlosen Briefen Eines Deutschen Kleinstädters reicht. Er tut dies zu einem Zeitpunkt, als der Brief selbst seine Hochzeit bereits hinter sich hat.

75

Vgl. Estermann: Nachwort, S. 767.

Christian Neuhuber

»Siehe die Briefe.« Büchners Lenz und der Verzicht auf die Brieffiktion

Kein deutschsprachiger Erzähltext des 19. Jahrhunderts wurde und wird häufiger an den ›Beginn der Moderne‹ gesetzt als Georg Büchners Lenz. Eine Einschätzung, die Büchners Erzählung auf eine Stufe mit Goethes Werther und Kafkas Prozess stellt, denen ähnliche Initialrollen zugewiesen werden. Nun mag man über die Sinnhaftigkeit eines derart dehnbaren Epochenbegriffs geteilter Meinung sein; unbestritten ist, dass mit dem Epitheton ›modern‹ jene innovativen Darstellungsformen angesprochen sind, die die Möglichkeiten literarischer Wirklichkeitsrepräsentation erheblich erweiterten. Und das tat Büchners Lenz zweifellos. Schon Karl Gutzkow, der erste Herausgeber der Erzählung, hatte 1839 mit aufrichtiger Begeisterung zwei wesentliche Punkte benannt, die Büchners Literarisierung der Waldersbach-Episode aus dem Mainstream der zeitgenössischen Erzählprosa hervorhoben: »Welche Naturschilderungen; welche Seelenmalerei!«1 Tatsächlich ist die Parallelisierung von Außen- und Innenweltdarstellung die wohl auffälligste Eigenheit des Texts. Das Bild, das sich der Leser von der seelischen Verfassung des Sturm-und-Drang-Dichters macht, ist von der sprachlichen Vergegenwärtigung des subjektiven Raumerlebnisses bestimmt.2 Doch wie kam es zu dieser erstaunlichen Korrelation von Ich-Gefühl und Raumdarstellung mit all den damit verbundenen Sensualisierungsverfahren, wie kam es zu dieser Unmittelbarkeit der nosographischen Darstellung, wie zu den irritierenden Einblicken in eine kranke Seele, die die literarische Pathographie so erschütternd miterlebbar machen? Der fragmentarische Charakter der Erzählung, die Textmaterial aus verschiedenen Arbeitsphasen vereint, erlaubt uns einen aufschlussreichen Einblick in die Werkgenese.3 Büchner erfand – so 1 2

3

Georg Büchner: Lenz. (Beschluß.) In: Telegraph für Deutschland. [Redigiert von Karl Gutzkow]. Nr. 14 (Januar 1839), S. 108–111, hier S. 110. Die intermedialen und bildästhetischen Konsequenzen erläutere ich ausführlich in: Christian Neuhuber: Lenz-Bilder. Bildlichkeit in Büchners Erzählung und ihre Rezeption in der bildenden Kunst. Wien, Köln, Weimar 2009 (Literatur und Leben N. F. 77). Die Entwurfhaftigkeit der Erzählung ist – sieht man von Ausnahmen wie Werner Weilands eigenwilliger Vollendungsthese (Büchners Spiel mit Goethemustern. Zeitstücke zwischen der Kunstperiode und Brecht. Würzburg 2001, S. 90–142) ab – communis opinio. Wilhelm Schulz, der sich als einziger jener, die Büchners Manuskripte tatsächlich sahen, schriftlich dazu äußerste, spricht von einer »Sammlung der Notizen zu seinem Novellenfragmente und dessen Ausarbeitung« (W. S.: Nachgelassene Schriften von G. Büchner. In: Deutsche

318

Christian Neuhuber

die These – seine spezielle Erzählweise in der kritischen Auseinandersetzung mit mehreren Textsorten, von denen er sich mehr oder weniger intensiv inspirieren ließ: dem chronikalischen Bericht, der essayistischen Programmschrift, der psychiatrischen Studie, der literarischen Wahnsinnsdarstellung. Mehr als allen anderen Vorlagen verdankt der Lenz allerdings dem Briefroman – und doch belegt gerade Büchners Erzählung, dass das ›moderne‹ narrative Schreiben auf die Bindung des Erzählens an die Brieffiktion nicht mehr angewiesen ist. Die innovativen sprachlichen Darstellungsstrategien, die der ›Roman in Briefen‹ im 18. Jahrhundert entwickelte, werden von Büchner zu einer Form der Bewusstseinsdarstellung ausgearbeitet, die auf die Brieffiktion verzichten kann – und muss.

1. Vom Ich-Bericht zum Er-Leben Als Büchner, mittelloser Student in Straßburg und politischer Flüchtling, sich im Frühjahr 1835 mit einer Erzählung »einige wiederkehrende Einkünfte«4 verschaffen wollte, betrat er auch für ihn unbekanntes Terrain, war es doch der erste narrative Text des bis dahin lediglich als Pamphletist und Dramatiker in Erscheinung getretenen Autors. So musste er für sich nicht nur die Frage klären, wie er Erzählenswertes finden und sich dazu verhalten sollte, sondern auch wie es dargestellt werden konnte. Die Stoffsuche selbst wird ihm nicht allzu schwer

4

Monatsschrift für Politik, Kunst, Wissenschaft und Leben 2 (1851), Bd. 1, H. 2, S. 210– 233, hier S. 223). Das erinnert an den Überlieferungszustand des Woyzeck, an dem sich denn auch die genetischen Rekonstruktionsversuche der Marburger Historisch-kritischen Ausgabe orientieren. Im Folgenden schließe ich mich zwar grundsätzlich Burghard Dedners Differenzierung in mehrere im Text fassbare Entwurfsstufen an, gehe allerdings von einem deutlich komplexeren Schreibprozess aus, als er sich in der Handschriftenrekonstruktion der Marburger Ausgabe widerspiegelt. Den materialen Überlieferungszustand nachzubilden (und die ›wiederhergestellten‹ Handschriften prominent am Beginn der Edition zu positionieren), halte ich für unglücklich, da Simplifizierungen unvermeidlich sind. Zur Diskussion der textgenetischen Hypothesen Dedners vgl. u. a. Burghard Dedner: Büchners Lenz: Rekonstruktion der Textgenese. In: Georg Büchner Jahrbuch 8 (1990–94) [1995], S. 3–68; Herbert Wender: Zur Genese des Lenz-Fragments. Eine Kritik an Burghard Dedners Rekonstruktionsversuch. In: Georg Büchner Jahrbuch 9 (1995–99) [2000], S. 350–377; Burghard Dedner: Zur Genese des Lenz-Fragments. Aus Anlaß von Herbert Wenders Kritik. In: Ebd., S. 371–377; Herbert Wender: Gegründete Vermutungen? Eine Erwiderung auf Burghard Dedners Erwiderung. In: Ebd., S. 378–381; Werner Weiland: Kritik der neuen Textanordnung von Büchners Lenz. Eine konstruktive Entgegnung mit Werther-Parallelen. In: Goethe im Vormärz. Hg. v. Detlev Kopp u. Hans-Martin Kruckis. Bielefeld 2004, S. 203–243; Burghard Dedner: Zur Entwurfhaftigkeit von Büchners ›Lenz‹. Eine Replik. In: Vormärz und Exil. Vormärz im Exil. Hg. v. Norbert Otto Eke u. Fritz Wahrenburg. Bielefeld 2005, S. 445–467. Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hg. v. Henri Poschmann unter Mitarbeit v. Rosemarie Poschmann. Bd. 2: Schriften. Briefe, Dokumente. Frankfurt a. M. 1999 (Bibliothek deutscher Klassiker 169), S. 394.

Büchners Lenz und der Verzicht auf die Brieffiktion

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gefallen sein, zählten doch mit den Stoebers die maßgeblichen Lenz- und Oberlinforscher der Zeit zu seinem Freundeskreis. Die Waldersbach-Episode des unglücklichen Geniezeitpoeten mit ihrem Straßburg-Bezug, die pikanten Goetheana zur Sesenheim-Affäre, das Thema der geistigen Umnachtung eines Künstlers, all das schien äußerst geeignet für das literarische Unterhaltungsblatt, in dem Gutzkow eine Veröffentlichung in Aussicht stellte. Doch wie ließ sich die Geschichte literarisch angemessen darstellen? Büchner begann, wie er es gewohnt war, mit Quellenstudium und -bearbeitung. Seine wichtigste Vorlage hatte er in einer Abschrift August Stoebers erhalten: den Rechtfertigungsbericht Johann Friedrich Oberlins, in dem der Steintaler Reformpfarrer den Aufenthalt des psychisch kranken Jakob Michael Reinhold Lenz rekapitulierte. Zwischen 20. Januar und 8. Februar 1778 hatte der livländische Dichter bei ihm im abgeschiedenen Vogesental Linderung seines Leidens gesucht. Wirklich schienen ihm der Aufenthalt und die Einbindung in die seelsorgerliche Praxis zunächst wohl zu tun, doch verschlechterte sich sein Zustand während einer Reise seines Gastgebers dramatisch. Da sich Oberlins Familie von Lenz’ unberechenbarem Verhalten und selbstzerstörerischen Anfällen zunehmend bedroht sah, ließ ihn der Pastor schließlich zurück nach Straßburg bringen. Der Bericht des ehrwürdigen Gottesmannes, dessen reformerisches Wirken durch zahlreiche Hommagen und Biographien in bester Erinnerung gehalten wurde, war als Einstieg ideal. Er bürgte für die Glaubwürdigkeit der Ereignisse und gab die Handlungsstruktur vor; mit seiner Hilfe konnten der reale Lenz im O-Ton wiedergegeben, die Krankheitssymptomatik exakt erfasst und die Auswirkungen geschildert werden. Büchner nahm sich, was er brauchen konnte. Der Umfang der heute erhaltenen Passagen dieser ersten Auseinandersetzung lässt zwar keine sicheren Rückschlüsse darauf zu, ob er nur ausgewählte Stellen bearbeitete oder sich den gesamten Bericht vornahm. Die überlieferten Umarbeitungen jedenfalls sind vergleichsweise simpel und erforderten weniger kreativen Aufwand als handwerkliches Geschick: Der Ich-Erzähler wurde mit entsprechendem Wechsel der Pronomen und Namensnennung durch ein neutrales Erzählen in Er-Form ersetzt, die Innensicht bei Oberlin konsequenterweise eliminiert und die notwendigen syntaktischen und grammatikalischen Änderungen durchgeführt;5 auch das Zeitgerüst schien Büchner offenbar zu rigide. Gestaltend griff er – sieht man von kleineren stilistischen Änderungen ab – nur ein, um das gegebene Krankheitsbild dort ein wenig zu profilieren, wo Oberlins Bericht schweigt: Den folgenden Morgen, Samstag den 7., kam er mit vergnügter Miene auf mein Zimmer. Ich hoffte wir würden bald am Ende unsrer gegenseitigen Qual sein; aber leider der Erfolg zeigte was anders. Nachdem wir verschiedenes gesprochen hatten, sagte er mir mit ausnehmender Freundlichkeit: »Liebster Herr Pfarrer, das Frauenzimmer von dem ich Ihnen

5

Vgl. Georg Büchner: Lenz. Marburger Ausgabe. Bd. 5. Hg. v. Burghard Dedner u. Hubert Gersch unter Mitarbeit v. Eva-Maria Vering und Werner Weiland. Darmstadt 2001, S. 147. In Folge mit Angabe von Seitenzahl und Zeilennummer im Text zitiert.

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Christian Neuhuber

sagte, ist gestorben, ja gestorben – o, der Engel!« – Woher wissen Sie das? – »Hieroglyphen – Hieroglyphen!« – und dann gen Himmel geschaut und wieder: »Ja – gestorben – Hieroglyphen!« – Er schrieb einige Briefe, gab mir sie sodann zu , mit Bitte, ich 6 möchte noch selbst einige Zeilen darunter setzen. Den folgenden Morgen kam er mit vergnügter Miene auf Oberlins Zimmer. Nachdem sie Verschiedenes gesprochen hatten, sagte er mit ausnehmender Freundlichkeit: Liebster Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen sagte, ist gestorben, ja gestorben, der Engel. Woher wissen Sie das? – Hieroglyphen, Hieroglyphen – und dann zum Himmel geschaut und wieder: ja gestorben – Hieroglyphen. Es war dann nichts weiter aus ihm zu bringen. Er setzte sich und schrieb einige Briefe, gab sie sodann Oberlin mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu setzen. Siehe die Briefe. (46/5–13)

Nicht nur aufgrund des abschließenden Arbeitsvermerks, von dem noch zu reden sein wird, kann man davon ausgehen, dass Büchner diese Übertragung nur als Vorstufe für eine weitere Ausarbeitung sah. Immerhin hatte sein Freund August Stoeber Ausschnitte der Vorlage bereits 1831 in seinem Aufsatz Der Dichter Lenz veröffentlicht und es war zu erwarten, dass bald der gesamte Text in den Druck gehen würde. Vor allem aber dürfte Büchner rasch klar geworden sein, dass sein Verfahren die Vergegenwärtigung von subjektiver Erfahrung zum Problem werden ließ. Allein der Rückgriff auf den chronikalischen Bericht garantierte ja noch nicht die Authentizität des Vorgefallenen. Denn selbstredend ist auch Oberlins Darstellung keine unparteiische Rekapitulation der Ereignisse im Sinne eines objektiven Krankenberichts, sondern ist dem ideologischen Korsett, dem psychiatrischen Wissensstand sowie der Schreibintention seines Verfassers verpflichtet. Lenz’ Leiden wird zwar mit Mitgefühl geschildert und die Frustration des Seelsorgers über sein Unvermögen, dem verzweifelten Dichter zu helfen, ist nicht zu überhören. Eigentliches Ziel seiner Ausführungen aber war es, die Notwendigkeit und Legitimität seines Vorgehens herauszuarbeiten, um Kritik vor allem an der Dauer seiner therapeutischen Bemühungen, an der Einbindung eines moralisch bedenklichen und psychisch instabilen Studienabbrechers in die Seelsorge und an der mangelnden Beaufsichtigung zu entkräften.7 Mit seiner ›Melancholie‹-Diagnose lag Oberlin nicht falsch; doch versuchte er offenbar zu zeigen, dass die Krankheit sich erst im Verlauf des 6

7

Johann Friedrich Oberlin: Herr L...... In: Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe mit Quellenanhang und Nachwort. Hg. v. Hubert Gersch. Durchges. und erw. Ausgabe. Stuttgart 1998, S. 43. Ich folge hier der Sichtweise, die u. a. von Burghard Dedner (Der autobiographische und biographische Text als literarische Quelle. Oberlins Bericht ›Herr L......‹ und Büchners ›Lenz‹. In: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. Internationale Fachtagung Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik. Hg. v. Jochen Golz. Tübingen 1995, S. 218–227, hier S. 221) und Georg Reuchlein (»... als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm«. Zur Geschichtlichkeit von Georg Büchners Modernität: eine Archäologie der Darstellung seelischen Leidens im Lenz. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 28 (1996), S. 59–111, hier S. 62–72) vertreten wird. Gegen diese »explizite Intentionalitätsbehauptung« wendet sich u. a. Herbert Wender (Was geschah Anfang Februar 1778 im Steintal? Kolportage, Legende, Dichtung und Wahnsinn. In: Lenz-Jahrbuch 6 (1996), S. 100–126, hier S. 119).

Büchners Lenz und der Verzicht auf die Brieffiktion

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Aufenthalts, genauer: während und nach seiner Reise in ihren erschreckenden Ausmaßen manifestierte. Durchaus konform mit dem Selbstverschuldungs- und Versündigungsansatz der zeitgenössischen Seelenheilkunde zeigt sich die Beurteilung der Psychose seines Gasts: im Sinne der christlichen Morallehre sieht sie der Pastor als Resultat sozialer Unangepasstheit und sittlicher Verfehlungen der Vergangenheit.8 Büchner, dem es weder um eine Bewertung der Haltung Oberlins noch um eine Begründung des oftmals seltsam anmutenden, vielfach erschreckenden Verhaltens von Lenz zu tun ist, entledigt sich dieser in räsonierenden Zwischenbemerkungen lancierten Aussagetendenz durch den Wechsel des Erzählers. Allerdings – und das macht seine veränderte Erzählweise in narratologischer Hinsicht zum Problem – verzichtet er darauf, eine vergleichbar perspektivierende Subjektivität einzuführen. So muss die selektive Überführung einer in der Ich-Form vermittelten und interpretierten Erfahrung zu einer handlungsfernen Erzählerrede zum drastischen Verlust an Unmittelbarkeit führen. Übrig bleibt eine recht kunstlose Rekapitulation der Ereignisse in Außensicht, die den Leser in der Auflistung der widersinnigen Handlungen des Protagonisten weitgehend orientierungslos über das Ausmaß der persönlichen Katastrophe lässt. Über das Bewusstsein der Charaktere, über ihre Motive, ihre Empfindungen, Vermutungen und Absichten bekommt er so gut wie keine Informationen mehr. Auf diese Weise verliert der von Büchner geschaffene Text in diesem Bereich stark an Narrativität, die Grundbedingung einer rezeptiven Aktualisierung des Ereigniskonstrukts ist: Er büßt also an Fähigkeit ein, durch ›frames‹ lebensweltliche Erfahrungswerte zu suggerieren, die der Leser mit seinen Wirklichkeitsmodellen in Einklang bringen kann.9 Lenz’ Verhalten scheint nur noch bizarr, die Erzählung droht in unfreiwillige Komik abzudriften. Diese Schwächen seines ersten Entwurfs hatte Büchner offensichtlich klar erkannt, denn in einer späteren Arbeitsphase implementierte er mit dem Kunstgespräch, das keinerlei Entsprechung in Oberlins Bericht hat, ein poetologisches Programm, das genau diese ›Natürlichkeit‹ zur Richtschnur jedweder künstlerischen Betätigung machte.10 Nicht an einem nach ästhetischen Normierungen 8

9 10

Zur Darstellung der Krankheitssymptomatik vgl. u. a. Harald Schmidt: Melancholie und Landschaft. Die psychotische und ästhetische Struktur der Naturschilderungen in Georg Büchners Lenz. Opladen 1994; Harald Schmidt: Schizophrenie oder Melancholie? Zur problematischen Differentialdiagnostik in Georg Büchners Lenz. In: ZfdPh 117 (1998), S. 516–542; Carolin Seling-Dietz: Büchners Lenz als Rekonstruktion eines Falls ›religiöser Melancholie‹. In: Georg Büchner Jahrbuch 9 (1995–99) [2000], S. 188–236. Narrativität hier im Sinne etwa der ›natural‹ narratology Monika Fluderniks, vgl. M. F.: Towards a ›Natural‹ Narratology. London, New York 1996. Genaue Analysen in Jürgen Schwann: Georg Büchners implizite Ästhetik. Rekonstruktion und Situierung im ästhetischen Diskurs. Tübingen 1997 sowie Neuhuber: Lenz-Bilder, S. 33–77. Wessen ästhetische Position hier eigentlich ausgesprochen wird, Lenz’, Büchners oder ein Amalgam beider, ist in der Forschung hinreichend diskutiert worden und muss hier nicht weiter ausgeführt werden (vgl. ebd., S. 44). Völlig in die falsche Richtung weisen allerdings Ansätze, die im Kunstgespräch lediglich belangloses »Geschwätz« (Wei-

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Christian Neuhuber

ausgerichteten, konstruierten Ideal müsse sich der Künstler für sein Wirklichkeitsmodell orientieren, sondern an der Naturwahrnehmung selbst. Diese ist – so argumentiert Lenz – nicht bloß Ausgangspunkt des Kunstakts, sondern vielmehr bereits unerlässlicher Teil jeder künstlerischen Auseinandersetzung. Schon im Augenblick der sinnlichen Erfahrung kann, wie das Beispiel der Alltagssituation zweier Mädchen in der Natur zeigen soll, das Beobachtete zu einem Kunstwerk werden; einem Kunstwerk, aus dem das künstlerische Subjekt nicht mehr wegzudenken ist, da es diesem als Bedingung seiner Entstehung eingeschrieben ist. Voraussetzung dafür ist die emotionale Beteiligung, das ›Mitfühlen‹, um das Eigentliche zu erfassen und in weiterer Folge im Rezipienten eine ähnliche Wirkung zu erzeugen: Man muß die Menschheit lieben, um in das eigenthümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich seyn, erst dann kann man sie verstehen; das unbedeutendste Gesicht macht einen tiefern Eindruck als die bloße Empfindung des Schönen, und man kann die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu kopiren, wo einem kein Leben, kein Puls entgegen schwillt und pocht. (38/4–10)

Durch die emotionale Codierung der literarischen Wirklichkeitsrepräsentationen, ihre Aufladung mit Gefühlsinhalten, soll die Phantasie des Rezipienten angeregt werden. Denn weniger als an die Wahrnehmungsimpulse selbst erinnert sich das menschliche Gehirn an die damit verbundenen Gefühle.11 Dementsprechend muss der Kunstschaffende versuchen, in seinen Werken selbst durchlebtes (Mit-)Gefühl zu vermitteln. Je intensiver ihm dies gelingt, desto geringer wird die Distanz von Kunst- und Realitätswahrnehmung und desto stärker wird die Wirkung auf den Rezipienten. Für Büchner selbst bedeuteten diese Grundsatzgedanken, dass er sich – wollte er solch ein lebenswahres, Gefühle evozierendes Wirklichkeitsbild ›nachschaffen‹ und sein Publikum fühlen machen – zwei Herausforderungen stellen musste: der ›eindringlichen‹ Auseinandersetzung mit der ›hässlichen‹ Krankheit des historischen Lenz und der Suche nach einer adäquaten Vermittlungsinstanz, die die distanzaufhebende Darstellung von Subjektivität erlaubt.

11

land: Büchners Spiel mit Goethemustern, S. 135) des Protagonisten sehen. Dass auch Autorenkollegen Büchners durchaus mit diesen ästhetischen Vorstellungen übereinstimmen, belegt unter anderem ein bislang in der Forschung noch nicht erfasstes frühes Rezeptionsdokument: Im Vorwort zu seiner Tragödie Thomas Morus beruft sich Friedrich W. Ebeling – gegen die Literaturvorstellungen der Grenzboten-Redakteure, und hier vor allem Julian Schmidts – auf die Prämissen des Kunstgesprächs: »Ich halte mit Georg Büchner auf die Dichter, die die Dinge zeigen wie sie sind, wie sie sein könnten; denn es ist lächerlich, den Herrgott überbieten zu wollen. Ich halte auf solche, die leibhaftiges Fleisch und Blut geben, wenn auch noch so häßlich, daß die polirten Mittelschlagseelen dabei in Ohnmacht fallen und zimperliche Jungfrauen erröthen. Ich verlange mit ›Lenz‹ in Allem ›Möglichkeit des Daseins und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist‹« (Friedrich W. Ebeling: Vorwort: Zur Kritik der deutschen Kritik. In: F. W. E.: Thomas Morus. Historische Tragödie in fünf Akten. Berlin 1851, S. III-XXVI, hier S. XXIII). Vgl. Neuhuber: Lenz-Bilder, S. 61–70.

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2. Nosographische Ausdifferenzierung Ersteres wird der Sohn eines psychiatrischen Gutachters und Beinahe-Mediziner rasch in Angriff genommen haben. Welche maßgeblichen Schriften des zeitgenössischen Melancholiediskurses er für die Rekonstruktion des Krankheitsfalls zu Rate zog, ist noch nicht gänzlich geklärt. Anregungen holte er sich vor allem bei den französischen Pionieren der fortschrittlichen somatischen Position, Philippe Pinel und dessen Schüler Jean Etienne Dominique Esquirol, deren antimetaphysischer Empirismus die psychiatrischen Debatten in Deutschland prägte. Auch ähnlich ausgerichtete Arbeiten Friedrich Birds oder Johann Baptist Friedreichs werden Büchner wohl bekannt gewesen sein, ebenso Gegenpositionen, wie sie etwa von Johann Christian August Heinroth vertreten wurden, der die psychische Erkrankung mit dem Verstoß gegen religiös geprägte Moralkategorien in Verbindung brachte.12 Das breite Spektrum der verwendeten Fachliteratur macht deutlich, dass Büchner verschiedene Positionen kritisch abwog und für seine Darstellungszwecke funktionalisierte. Auf der Handlungsebene stimmt die Krankheitsbeurteilung und Behandlungsstrategie Oberlins mit dem konservativen psychiatrischen Ansatz überein, der auf einem kausalen Nexus von Erkrankung und moralischer Depravation beharrte. Seine Gastfreundschaft ist in diesem Sinn als Form des wenig später populär gewordenen ›moral management‹ zu verstehen, also als Behandlungsweise durch die familiäre Integration des Patienten fernab seines gewohnten Umfelds, verbunden mit Beschäftigungs- und Bewegungstherapie.13 In der Beurteilung des Falls selbst folgt Büchner allerdings der liberalen somatisch-orientierten Lehrmeinung, die Angstvorstellungen auf physische Störungen zurückführt und moralistische Begründungsversuche der Patienten als Kompensationsstrategien wertet. Dies wird dort offensichtlich, wo Büchners Charakterisierung der psychischen Krankheit über das von Oberlin und anderen Vermittelte hinausgeht bzw. historisch belegte Symptome in der narrativen Gestaltung des Protagonisten unerwähnt bleiben. So ist die vielfach gerühmte »Rekonstruktion des authentischen Krankheitsverlaufs«14 zwar tatsächlich eine krankheitsbildadäquate ästhetisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem historisch dokumentierten psychischen Leiden. Vorrangig aber ist sie – bei aller differenzierten Glaubwürdigkeit

12

13 14

Zu Büchners Beschäftigung mit der zeitgenössischen Psychopathologie vgl. Schmidt: Schizophrenie oder Melancholie; Schmidt: Melancholie und Landschaft; Seling-Dietz: Büchners Lenz als Rekonstruktion eines Falls ›religiöser Melancholie‹; Reuchlein: ... als jage der Wahnsinn; Thomas Anz: Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart 1989; Benedikt Descourvières: Der Wahnsinn als Kraftfeld. Eine symptomatische Lektüre zu Georg Büchners Erzählung Lenz. In: Weimarer Beiträge 52 (2006), H. 2, S. 103–226. Vgl. Seling-Dietz: Büchners Lenz als Rekonstruktion eines Falls ›religiöser Melancholie‹, S. 195. Ebd., S. 189.

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– als künstlerisches Konstrukt eines Leidens zu verstehen. Sie zeigt, wie konsequent Büchner – mit neuem Wissensstand – Oberlins Bericht und Stoebers Aufsatz nun gegen den Strich las. Oberlins zuweilen als Krankenbericht missverstandener15 Text deutet das Leiden als logische Folge »der Prinzipien die so manche heutige Modebücher einflößen, […] des Ungehorsams gegen seinen Vater, seiner herumschweifenden Lebensart, seiner unzweckmäßigen Beschäftigungen, seines häufigen Umgangs mit Frauenzimmern«.16 Stoeber fokussiert vor allem auf den letztgenannten Punkt und eröffnet dem goetheaffinen Publikum Lenz’ unglückliche Liebe zu Friederike Brion, deren pathogene Auswirkungen bei Oberlin nur angedeutet sind. Lenz’ psychische Krise wird somit als ›erotische Melancholie‹ identifiziert, die üblicherweise Ausgang nimmt von einem traumatisierenden Liebes- und Verlusterlebnis. Büchner dagegen arbeitet nun auf Basis einer avancierten psychiatrischen Diagnostik den zweiphasigen Verlauf einer ›religiösen Melancholie‹ heraus, für deren Therapie nach Meinung der Somatisten der Ausschluss des Religiösen oberste Priorität beanspruchte. Die gutgemeinte pietistische Behandlungsstrategie Oberlins mit moralischen Vorhaltungen und einer religiös-spirituellen Rechtfertigung der Leiderfahrung musste also unter diesem Gesichtspunkt fatal enden. Dementsprechend akzentuiert Büchner jene Momente, in denen die religiöse Indoktrinierung das ›moral management‹ unterläuft und so Lenz’ psychischen Zustand entscheidend beeinflusst. Das Friederike-Motiv dagegen, ursprünglich auch ein wichtiger Schreibanlass für ihn selbst, rückt in den Hintergrund.17 Und noch etwas bewirkt Büchners Neuakzentuierung des Krankheitsbilds: seine nosographische Darstellung liefert keine Begründungsmuster mehr; die spekulativ erschlossenen Ursachen für das Leiden, wie wir sie bei Oberlin und Stoeber vorfinden, sind hier ohne Relevanz. Anliegen des Autors ist vielmehr, die Krankheit aus sich heraus zu erklären. Und das impliziert nicht nur, die somatopsychologischen Nuancen der Symptomatik »in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel« (37/27–28) wiederzugeben. Es erfordert auch, Einblick in Lenz’ Innenleben zu ermöglichen, um über seine pathologische Wahrnehmung, aus dem Blickwinkel eines psychisch Kranken die ›verrückte‹ Welt erfahrbar zu machen. Doch wie war dieses Vorhaben erzähltechnisch in den Griff zu bekommen? Dass Büchner sich an eine passende Darstellungsweise herantastete, belegt die (in der Forschung als ›psychiatrische Skizze‹ eingeführte) nosographische Studie zu Lenz’ Zustand in den letzten Tagen seines Aufenthalts. Dieser wohl als selbstständiger Abriss verfasste und später von Minna Jaeglé oder Gutzkow integrierte Abschnitt (46/14–48/7) versucht die neu gewonnenen psychiatri-

15 16 17

Vgl. Sabine Kubik: Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners. Stuttgart 1991, S. 119ff. Oberlin: Herr L......, S. 46f. Dass es aber nicht gänzlich fallengelassen wird, sondern einen weiteren Aspekt des Leidens darstellt, streicht Wender (Zur Genese des Lenz-Fragments, S. 366–379) heraus.

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schen Erkenntnisse zu einem konsistenten Krankheitsbild zu bündeln. Orientiert an den Symptombeschreibungen der Fachliteratur, wird Lenz’ Leiden mit seinen Angstzuständen, Zwangshandlungen, Identitätsstörungen und fixen Ideen nicht mehr diachron-faktual, sondern summarisch-kausal geschildert. Nur mehr wenige Gestaltungselemente werden aus Oberlins Bericht übernommen, manche daraus diagnostisch umgedeutet; sah etwa Oberlin Lenz’ Selbstverletzungen als suizidal bedingt, werden sie nun als »Versuch, sich zu sich selbst zu bringen durch physischen Schmerz« (48/1–2) gedeutet. Die Sprache löst sich vom nüchternen Dokumentarstil der Vorlage, wird emotionaler, expressiver, poetischer. Noch interessanter aber ist, dass Büchner nun das Erzählte enger an die Wahrnehmung des kranken Dichters zu binden versucht. Nur mit Innensicht lassen sich – wie hier in den Anfangszeilen der Skizze – die Hintergründe der quälenden ›Zufälle‹ ins Bild setzen: Sein Zustand war indessen immer trostloser geworden, alles was er an Ruhe aus der Nähe Oberlins und aus der Stille des Thals geschöpft hatte, war weg; die Welt, die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuern Riß, er hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung, eine schreckliche Leere und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen. Er hatte N i c h t s. Was er that, that er mit Bewußtsein und doch zwang ihn ein innerlicher Instinkt. Wenn er allein war, war es ihm so entsetzlich einsam, daß er beständig laut mit sich redete, rief, und dann erschrak er wieder und es war ihm, als hätte eine fremde Stimme mit ihm gesprochen. Im Gespräch stockte er oft, eine unbeschreibliche Angst befiel ihn, er hatte das Ende seines Satzes verloren; dann meinte er, er müße das zuletzt gesprochene Wort behalten und immer sprechen, nur mit großer Anstrengung unterdrückte er diese Gelüste. Es bekümmerte die guten Leute tief, wenn er manchmal in ruhigen Augenblicken bei ihnen saß und unbefangen sprach und er dann stockte und eine unaussprechliche Angst sich in seinen Zügen malte, er die Personen, die ihm zunächst saßen krampfhaft am Arm faßte und erst nach und nach wieder zu sich kam. (46/14–30)

Unbestritten finden sich in dieser Studie einprägsame Bilder, Szenen und Formulierungen, die zum Besten der Erzählung gehören, und es ist durchaus denkbar, dass der Autor einzelne Teile davon weitgehend unverändert in seine Letztfassung übernommen hätte. Gleichwohl spricht einiges dafür, dass Büchner selbst mit dieser Darstellungsweise noch nicht zufrieden war. Denn zum einen bestimmt diese Passagen eine spürbare Distanz zur erzählten Welt durch die ›Übersicht‹ eines analysierenden Sprechers, der Lenz’ Verhalten psychopathologisch erläutert (»Eigentlich nicht er selbst that es, sondern ein mächtiger Erhaltungstrieb, es war als sey er doppelt und der eine Theil suchte den andern zu retten«, 47/11–13) und auch Gefühle anderer Figuren beurteilen kann (»Oberlin empfand unendliches Mitleid«, 47/29), sodass eine klare Differenzierung zwischen subjektiver Erlebniswelt und objektivem Geschehen gewahrt bleibt. Büchner aber ist – nimmt man das poetologische Programm des Kunstgesprächs ernst – auf der Suche nach einer unmittelbareren Erzählweise, die eine empathische Teilhabe am Erleben des Protagonisten möglich macht. Der Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt alleine ist zu wenig, solange die ständige Präsenz eines kritisch deutenden Erzählers spürbar bleibt. Darüber hinaus würde man von dieser privilegierten ›auktorialen‹ Position wohl auch einen ätiologischen Befund erwarten, den Büchner eben nicht geben will. Will man psychisches

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Leiden mitfühlbar machen, bedarf es einer internen Fokalisierung, also der Perspektivierung aus dem Bewusstsein der zentralen Figur heraus, die damit von einem Fokalisierungsobjekt zu einer Fokalisierungsinstanz wird.18 Sie ist Voraussetzung für eine stärkere, gleichsam unmittelbare Bindung an den individuell limitierten Wahrnehmungshorizont des erlebenden Subjekts, die im Leser das Gefühl eines diegetischen Miterlebens am erzählten Geschehen erzeugen kann. Zum anderen unterbindet die iterative Zustandsbeschreibung die narrative Entwicklung durch die Aufgabe wesentlicher qualitativer, inhaltlicher und syntaktischer Narreme.19 Soll die Progression eines Krankheitsverlaufs miterlebbar werden,20 müssen dessen konkrete Manifestationen als narrative Elemente auf einer nachvollziehbaren Zeit-Raum-Achse kausal und letztendlich auch teleologisch zu einem kohärenten Krankheitsbild verknüpft werden. Die psychiatrische Skizze in ihrer ungeordneten Zusammenstellung von Fallbeispielen, Beschreibungen, Erläuterungen und Redewiedergaben erweckt jedoch mehr den Eindruck einer Materialsammlung für eine weitere Ausgestaltung (wie denn auch tatsächlich verschiedene Elemente sich im ersten, wohl jüngsten Teil der Erzählung wiederfinden). Im Vordergrund steht nicht die Geschichte, sondern die klinische Erfassung der Krankheit, deren Kern nun im ›horror vacui‹ und in den Selbstverlustängsten gesehen wird und den davon evozierten verzweifelten Versuchen, wieder zu sich selbst zu kommen.21 Die Beschreibung und Erläuterung paradigmatischer Situationen und Verhaltensweisen scheint wichtiger als der Verlauf. Das häufige »und dann« ist dementsprechend weniger narrativ denn resultativ zu verstehen als Folge einer bestimmten Ausgangsituation (wenn … dann); wo Oberlin chronologisch berichtet, werden nun Krankheitsdetails in einen unbestimmteren Zeitrahmen eingestellt (»indessen«, »manchmal«) und analytisch differenzierend gegenübergestellt. Es blieb die Frage: Wie lässt sich Narrativität im nosographischen Erzählen erhöhen und zugleich der Einblick in das Bewusstsein des Protagonisten vertiefen?

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Vgl. Mieke Bal: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Toronto 1985; Manfred Jahn: Windows of focalization: Deconstructing and reconstructing a narratological concept. In: Style 30 (1996), H. 2, S. 241–267; Silke Lahn, Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse unter Mitarbeit von Mathias Aumüller [u. a.]. Stuttgart, Weimar 2008. Zur Terminologie und Systematisierung vgl. Werner Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, Bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hg. v. Vera Nünning u. Ansgar Nünning. Trier 2002 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5), S. 23–104, hier S. 44ff. Hier im Sinne der ›experientiality‹ Fluderniks, vgl. Towards a ›Natural‹ Narratology. Vgl. Reuchlein: ... als jage der Wahnsinn, S. 100.

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3. Subjektivierung und doppelter Blick Büchners Versuch, Lenz selbst als erlebendes Ich entschiedener hervortreten zu lassen, zeigt sich bereits im (de facto monologisierenden) Kunstgespräch durch die Verlagerung zum dramatischen Modus.22 Anregung zu dieser verstärkten Verwendung der Figurenrede, die Unmittelbarkeit erzeugt, bekam er möglicherweise von der exaltierten Ich-Form der Lenz’schen Theoriearbeiten, etwa den Anmerkungen übers Theater oder auch der Rezension des Neuen Menoza. Im privaten Rahmen sprechend und thematisch »auf seinem Gebiete« (37/9) kann Lenz »sich ganz vergessen« (38/40) und seine literarästhetischen Ideen und Meinungen überzeugend vermitteln. Über die Auswirkungen eines psychischen Leidens freilich lässt sich als Betroffener weitaus schwerer sprechen. Im Woyzeck nützt Büchner die dramatische Konvention des Monologs zur Figurencharakterisierung, indem er das Selbstgespräch pathologisiert und zum aufschlussreichen Detail einer präzis entfalteten Krankheitssymptomatik macht, das sich sogar zum schizoiden Dialog in einer imaginierten Welt weiten kann. Im realen Gespräch mit seinen Mitmenschen dagegen verliert Woyzeck im Verlauf der Handlung immer mehr die Fähigkeit, sich in seinen Nöten verständlich zu machen. Was in ihm vorgeht, können wir uns allenfalls über sein Handeln und seine physische Präsenz, seine Körpersprache erschließen. Auch im Lenz scheint Büchner an mehreren Stellen seines ersten Entwurfs – nachträglich23 – versucht zu haben, über szenische Einschübe und Figurenrede Einblick in den Seelenzustand seines Protagonisten zu gewähren, auch wenn er dafür die originale Zeitstruktur aufbrechen musste. So konnte er zwar den Symptomkatalog einer melancholischen Erkrankung um wichtige Elemente wie Lethargie, Raumwahrnehmungsstörungen und Halluzinationen ergänzen; nicht alles aber ließ sich in ein Gespräch mit Oberlin verpacken. Um unmittelbare Erlebniswirklichkeit narrativ wirkungsvoll darzustellen, bediente man sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts des Briefromans, der ein ähnlich individualisierendes dialogisches Moment aufweist, nur dass es in ein episches Gesamtkonzept eingebunden ist. Das Problem eines Distanz schaffenden fiktiven Erzählers wird hier umgangen, indem man einen fiktiven Herausgeber installiert, der Einzelbriefe ediert, deren besonderer Reiz in der scheinbar ›außerliterarischen‹ und in dieser Form nicht beabsichtigten Preisgabe subjektiver Erfahrung liegt. Von kundiger Hand arrangiert und zumeist auch 22

23

Eingeleitet und unterbrochen von wenigen Inquit-Formeln, schwankt die Redewiedergabe zunächst zwischen direkter Figurenrede und indirekter, zuweilen sogar unvermittelt mitten im Satz wechselnd. Endgültig verschwindet der in der indirekten Rede fassbare Erzähler schließlich in jenen Teilen, für die sich keine Vorlagen mehr in Lenz’ theoretischen Äußerungen finden lassen, also dort, wo genuine Büchner-Ästhetik vorzuherrschen scheint. Im Gegensatz zu Dedner (vgl. MBA 5, 148f.) sehe ich die Abschnitte 6/18–7/3 sowie 8/18–23 und 27–35 durchaus als spätere Textteile, die wohl in einer großzügigen Marginalspalte (vgl. etwa Teile der Woyzeck-Quarthandschriften) eingetragen und mit Überarbeitungen im Kontext verankert wurden.

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kommentiert, präsentieren die Briefe die Geschichte eines zugleich erzählenden und erlebenden Ich, an dessen subjektiver Weltsicht der Leser als – in der Fiktion – nicht intendierter Adressat teilhaben kann. Stand in der Nachfolge von Montesquieus Lettres persanes zunächst vor allem der kritische Blick des reisenden Fremden auf das problematische Gesellschaftliche im Mittelpunkt der deutschen Briefromane,24 wurden die literarischen Möglichkeiten der Gattung bald in den Dienst einer sich herausbildenden Erlebnis- und Bewusstseinskultur gestellt.25 Der Brief als narratives Element war nun Mitteilung von Reisen in die unbekannten Gefilde des eigenen Denkens und Fühlens, war Möglichkeit, jemanden (und damit auch sich selbst) Auskunft zu geben, wie man sich zu sich selbst und zu anderen verhält. Die Ich-Form und der festgelegte Kommunikationsrahmen suggerieren dabei die Authentizität der intimen Bekenntnisse, nach denen der Handlungszusammenhang ausgerichtet ist. Ob auch Büchner an die (Re-)Etablierung eines autodiegetischen Ich-Erzählers gedacht hat, der – unbeabsichtigt – seine eigene Geschichte erzählt, wissen wir nicht. Eine naheliegende Lösung so mancher erzähltechnischen Schwierigkeit wäre es wohl gewesen, auch wenn die Gattung Briefroman ihre große Zeit schon hinter sich hatte. Dass er zumindest vorhatte, Briefe des historischen Lenz in seine Ausgestaltung einzubeziehen, belegt die bereits oben zitierte Arbeitsnotiz »Siehe die Briefe« am Ende jener umgeschriebenen Oberlin-Passage, in denen der psychisch kranke Dichter das einzige Mal als Schreibender gezeigt wird. Dachte Büchner daran, passende Originaltexte in seinen Erzähl24

25

Zu nennen wären hier u. a. David Faßmanns Der, auf Ordre und kosten seines Käysers, reisende Chineser (1721ff.), Johann Andreas Kaysers Menoza, ein asiatischer Prinz (1755–1757), die Staats=Veränderungen von Tretucheschei und andern Epauroischen Staaten, durch einen reisenden Persianer Izouf in einigen Briefen an seinen Bruder Machmud (1761), die Asiatischen Briefe, im deutschen Kleide (1763), Wilhelm Ludwig Wekhrlins Caraibische Briefe (um 1775) und seine Denkwürdigkeiten von Wien (1777), Joseph Richters Reise von Wien nach Paris (1781) und seine dialektalen Briefe eines Eipeldauers an seinen Herrn Vetter in Kakran (1785ff.; vgl. dazu auch Valentin Neiners Vienne demasquée von 1705), Johann Kaspar Riesbecks Briefe eines reisenden Franzosen (1783/84), Johann Pezzls Marokkanische Briefe (1784) und dagegen Hamids Meynungen über die Marokkanischen Briefe (1785), Johann Wilhelm Tolbergs und Franz Heinrich Bispinks Briefe eines Hottentotten über die gesittete Welt (1787), Wilhelm Friedrich von Meyerns Abdul Erzerum’s neue persische Briefe (1787), die Briefe eines reisenden Punditen über Sclaverei, Möncherei und Tyrannei der Europäer an seinen Freund in U-Pang (1787) sowie die Türkischen Briefe ueber politische und religiöse Angelegenheiten der christlichen Regentenhöfe und Nationen (1790). Vgl. Winfried Weißhaupt: Europa sieht sich mit fremden Blick. Werke nach dem Schema der »Lettres persanes« in der europäischen, insbesondere der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1979; Robert Charlier: Der Jargon des Fremdlings. Fiktive Sprechweisen als Mittel der Gesellschaftskritik im 18. Jahrhundert. In: Was heißt hier »fremd«? Studien zu Sprache und Fremdheit. Hg. v. Dirk Naguschewski u. Jürgen Trabant. Berlin 1997, S. 163–80; Robert Charlier: Montesquieus ›Lettres persanes‹ in Deutschland. Zur europäischen Erfolgsgeschichte eines literarischen Musters. In: Montesquieu: Franzose – Europäer – Weltbürger. Hg. v. Effi Böhlke u. Etienne François. Berlin 2005, S. 131–153. Vgl. den Beitrag von Robert Vellusig in diesem Band.

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text zu montieren, so etwa, wie er in Danton’s Tod historische Reden eingearbeitet hatte? Oder wollte er diese zumindest, in Ermangelung konkreter Vorlagen, auf Basis anderer Schriften Lenz’ glaubwürdig fingieren, wie er das auch beim Kunstgespräch tat? Nicht nur reale Briefe kommen dabei als Quellenmaterial in Frage. Zweifellos kannte Büchner auch das Briefroman-Fragment Der Waldbruder, das Lenz 1776 in der Abgeschiedenheit von Berka schrieb, um über die Beschreibung der existenziellen Nöte seines fiktionalen alter ego Herz mit sich selbst ins Reine zu kommen. Auf die stilistische Verwandtschaft des Lenz zu dieser Ich-Prosa, deren komplexe Struktur vorausweist auf avanciertere Briefromankonzeptionen wie Tiecks William Lovell, wurde in der Forschung wiederholt hingewiesen. Zu Recht sieht etwa Inge Diersen Ähnlichkeiten dort, wo »die Hauptfiguren ihr Inneres offenbaren: in der Fähigkeit zu großen Aufschwüngen, insbesondere in Verbindung mit intensivem Naturerleben, und dem Absturz in Verzweiflung«26. Denn in diesen besonders emotionalen Briefstellen intensiviert sich der Eindruck unmittelbarer Subjektivität mit der annähernden Aufhebung des Unterschieds zwischen schreibendem und erlebendem Ich. Viel deutlicher noch aber als zu diesem – wie es im Untertitel heißt – Pendant zu Werthers Leiden ist die enge Beziehung des Lenz zu Goethes Erstlingsroman selbst. Dass Büchner diesen prototypischen monoperspektivischen Briefroman als Konzeptions- und Formulierungshilfe heranzieht, ist kein Zufall. Ähnlich wie Oberlin verstand auch Goethe das Schicksal seines einstigen Freunds und Mitstreiters als selbstverschuldet. In seinem bekannten – grosso modo recht despektierlichen27 – Lenz-Portrait in Dichtung und Wahrheit, das für Jahrzehnte das Bild des Dichters prägen sollte, warf er ihm vor, er habe sich nicht vom selbstquälerischen »Abarbeiten in der Selbstbeobachtung«28 lösen können, eine »Zeitgesinnung, welche durch die Schilderung Werther’s abgeschlossen sein sollte«.29 In der erfolgreichen Ästhetisierung eines psychischen Problems sah Goethe offensichtlich den Schlüssel zu dessen Überwindung – ein, wie Gerhard Friedrich zu Recht moniert, typisches »Raisonnement der ›Kunstperiode‹ mit seiner Unterordnung des lebendigen Phänomens gegenüber seiner künstlerischen Reproduktion, die als höhere Wirklichkeit galt«.30 Büchner dagegen interessierte nicht das dubiose Zeitphänomen der »Selbstquälerey« 26 27

28 29 30

Inge Diersen: Büchners Lenz im Kontext der Entwicklung von Erzählprosa im 19. Jahrhundert. In: Georg Büchner Jahrbuch 7 (1988/89) [1991], S. 91–125, hier S. 121. Lenz’ Hang »zur Intrigue an sich, ohne daß er eigentliche Zwecke, verständige, selbstische, erreichbare Zwecke dabei gehabt hätte«, machten ihn – bei allem tiefgründenden Talent – zu einem »Schelm in der Einbildung«, der sich »grenzenlos im Einzelnen verfloß« etc. (Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 16: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Peter Sprengel. München, Wien 1985, S. 633 und 635.) Ebd., S. 632. Ebd., S. 633. Gerhard Friedrich: Lenzens und Werthers Leiden. Zur Demontage eines ästhetischen Modells. In: Georg Büchner Jahrbuch 10 (2000–04) [2005], S. 133–171, hier S. 134.

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im Allgemeinen, sondern das individuelle Schicksal eines psychisch kranken Künstlers in einer kritischen Lebensphase, die er als psychopathologische Fallstudie nachvollziehbar machen wollte.31 Ein zusätzlicher Anreiz scheint ihm dabei gewesen zu sein, dass Goethe selbst sich außerstande sah, die charakterlichen »Eigenheiten« seines ehemaligen Mitstreiters »darstellend zu überliefern«, auch wenn er die vage Hoffnung äußerte, dass es in Zukunft einmal möglich sei, nach seinen »Prämissen [...] seinen Lebensgang, bis zu der Zeit da er sich in Wahnsinn verlor, auf irgend eine Weise anschaulich zu machen«.32 Büchner stellte sich dieser Aufgabe, wenn auch nicht unbedingt nach Goethes Vorstellungen. Dass er Goethe als Autor bewunderte, daran ließ Büchner nie einen Zweifel (nicht zuletzt erweist er ihm auch im Kunstgespräch seine Reverenz).33 Seine besondere Wertschätzung besaß der Werther, der zu »seinem vertrautesten geistigen Umgang«34 gehörte und wohl am besten seiner (Lenz in den Mund gelegten) Forderung entsprach, »daß Was geschaffen sey, Leben habe« (37/18–19) und den Rezipienten zum Fühlen verführe. Nicht umsonst gilt der Roman auch heute noch als Musterbeispiel für die literarische Erfassung eines Krankheitsverlaufs über die sich verändernden Naturerfahrungen des Protagonisten. Der vielfach bewunderten emotionalen Authentizität, die schon der historische Lenz in seiner Werther-Rezension hervorhebt,35 hatte Büchners empathische Darstellungsästhetik einiges zu verdanken. 31

32 33

34

35

Das Sujet wäre für eine Bearbeitung in Briefform geradezu prädestiniert gewesen. Goethe hat den ästhetischen Reiz des Briefromans darin gesehen, dass er Personen in krisenhaften Momenten ihres Lebens darstellt. »Wie bedeutend das Leben eines Menschen sei, kann ein jeder nur an ihm selbst empfinden, und zwar in dem Augenblick, wenn er auf sich selbst zurückgewiesen das Vergangene zu betrachten und das Künftige zu ahnen genötigt ist. Alle spätere Versuche, solche Zustände darzustellen, bringen jedoch jenes Gefühl nicht wieder zurück. Deshalb sind Briefe so viel wert, weil sie das Unmittelbare des Daseins aufbewahren, und der Roman in Briefen war eine glückliche Erfindung.« Johann Wolfgang Goethe: »Aristeia der Mutter« (Paralipomenon 157). In: Goethe, Münchner Ausgabe, Bd. 16, S. 870–877, hier S. 870. Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 632. Vgl. »Übrigens begegne es [Leben in der Kunst] uns nur selten: In Shakespeare finden wir es, und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Göthe manchmal entgegen« (MBA 5, 37/20–22). Erinnerung des Darmstädter Schulfreunds Georg Zimmermann, zitiert nach Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Biographie. Vom Autor überarbeitete Ausgabe. Berlin 1997, S. 334f. Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz: Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers. In: J. M. R. L.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische Schriften. Frankfurt a. M., Leipzig 1992, S. 673–690. In dieser euphorischen Besprechung (die Büchner nicht gekannt haben konnte) wertet Lenz als ein besonderes Verdienst des Romans, »daß er uns mit Leidenschaften und Empfindungen bekannt macht, die jeder in sich dunkel fühlt, die er aber nicht mit Namen zu nennen weiß« (S. 682). Ziel des Werther sei nicht die Nachahmung, sondern eine intellektuelle und emotionale Auseinandersetzung mit diesen allgemeinen Dispositionen.

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Wie sehr der Erzählbeginn des Lenz von den korrelativen Außen- und Innenweltbeschreibungen in Werthers Briefen inspiriert ist, wurde in der Forschung wiederholt gezeigt und muss hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden.36 Im Zentrum der Untersuchungen steht dabei zumeist eine mehrstufige Konditionalkonstruktion, die unübersehbar eine Paraphrase der ähnlich gebauten Entgrenzungserfahrung in Werthers Brief vom 10. Mai darstellt: Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannichfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten; dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! – Mein Freund – Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit 37 dieser Erscheinungen. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Thäler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heran brausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so daß ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Thäler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriß, und dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Roth hinaufklomm, und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen und alle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten, riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe that; oder er stand still und legte das Haupt in’s Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Fluth unter ihm zog. Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen, er wußte von nichts mehr. (31/17–40)

36

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Vgl. u. a. Neuhuber: Lenz-Bilder, S. 81–98; Friedrich: Lenzens und Goethes Werther, S. 146–150; Schmidt: Melancholie und Landschaft, S. 233–305; Michael Will: ›Autopsie‹ und ›reproduktive Phantasie‹. Quellenstudien zu Georg Büchners Erzählung Lenz. Stuttgart 2000, S. 346–351. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. In: J. W. G: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 2.2: Erstes Weimarer Jahrzehnt. 1775–1786. 2. Hg. v. Hannelore Schlaffer [u. a.]. München, Wien 1987, S. 349–465, hier S. 351f.

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Neben strukturellen und stilistischen Parallelen ist es vor allem die Spiegelung psychischer Zustände in Naturbildern, die die rezeptive Abhängigkeit des Lenz von Werther belegt. Doch geht Büchner in seiner Darstellung trotz aller Ähnlichkeiten weit über Goethes Vorbild hinaus. Denn dieser hatte die Entgrenzungserfahrungen Werthers in den Naturbildern noch klar geschieden in eine genussvoll-ästhetische (10. Mai) und eine bereits psychotische Züge aufweisende Wahrnehmung der Landschaft (18. August, 12. Dezember).38 Büchner dagegen bietet diese beiden Arten der Rekonstruktion eines Zusammenhangs von Subjekt und Natur in komprimierter Gleichzeitigkeit. Wie Werther erfährt auch Lenz die überwältigende Macht der Natur, allerdings nicht als locus amoenus, der zur Identifikation mit dem Erhabenen einlädt. Seine angespannte Empfindsamkeit reagiert auf die abrupten meteorologischen Veränderungen eines heraufziehenden Wintersturms mit aggressionsgeladenen visuellen und akustischen Vorstellungsbildern, dem apokalyptisch anmutenden Phantasma einer Wilden Jagd. Und doch sind diese Einbildungen des ersten Satzteils keine zusammenhanglosen psychopathologischen Halluzinationen, basieren sie doch auf äußeren Eindrücken, die der Leser vermittelt bekommt. Im zweiten Teil der beinahe berstenden Satzperiode dagegen fehlt den Entgrenzungs- und Verschmelzungsphantasien der rationale Gegenpol. Die verzerrten Raum-ZeitDimensionen der Naturerfahrung rücken in die Nähe pathologischer Orientierungsdefizite, die umso irritierender wirken, als im jähen Umschlag des Anschlusssatzes dem lethargischen Subjekt der Realitätsverlust schon Momente später nicht mehr bewusst ist. Ermöglicht wird diese kombinierte Wiedergabe sowohl ästhetisch-erhabener als auch dysphorischer Landschaftserlebnisse, die den Handlungsraum zugleich zum ›Seelenraum‹ des Protagonisten werden lassen, durch eine veränderte Stellung des Erzählers. Entfaltet sich im Werther interne Fokalisierung homodiegetisch über das erzählende Schreiber-Ich, wird im Lenz ›Mitsicht‹ über einen heterodiegetischen Erzähler erreicht, der an bestimmten Bruchlinien des Texts zwischen subjektivem Erleben und erzählerischer Verortung auch ›Übersicht‹ erlaubt (die sich besonders an den Satzanfängen manifestiert). Durch diese ›doppelte‹ Perspektivierung, d. h. die radikale Innensichtdarstellung eines konkreten Wahrnehmungszentrums bei Wahrung eines konventionellen ›objektivierenden‹ Moments, kann (nicht nur) in den naturdeskriptiven Passagen zugleich auf die Subjektivität des Erfahrenden und auf das Objekthafte des Erfahrungsraums verwiesen werden. Es ist dies eine erzähltechnische Eigenheit der letzten Entwurfsstufe, die Büchner konsequent für die Rekonstruktion der seelischen Verfassung seines Protagonisten nützt, in wesentlich differenzierterer Form, als dies Goethe möglich war, der doch die Anregung dazu gab.

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Zur Differenzierung ästhetischer Landschaftswahrnehmung und dysphorisch psychotischer Raumerlebnisse in den Naturschilderungen in Büchners Lenz vgl. das dritte Kapitel der Studie Schmidts: Melancholie und Landschaft, S. 95–161.

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Wie Herz im Waldbruder ist Büchners Lenz also in gewisser Weise ein ›anderer Werther‹. Das führt uns zurück zur Frage: Warum entschied sich Büchner – im Gegensatz zum historischen Lenz – gegen die Brieffiktion als erzählerisches Mittel und wählte anstelle der Ich- die Er-Form? Oder anders gefragt: Warum verzichtete er auf die Unmittelbarkeit einer ›sich selbst erzählenden Geschichte‹ aus erster Hand? Allein stand er damit nicht. In den Jahrzehnten davor hatte sich die literarische Darstellung von problematischer Innerlichkeit maßgeblich weiterentwickelt. Wie Georg Reuchlein gezeigt hat, änderte sich in der Romantik die Strategie psychologischen Erzählens insofern, als psychisch abweichendes Verhalten dem Publikum nicht mehr kritisch-distanziert präsentiert werden sollte.39 Ziel war nun, den Leser mithilfe aller narrativen Mittel hineinzuziehen in den Strudel der Geschehnisse, ihn für den Protagonisten einzunehmen, ihn die Krankheit in ihrer differenzierten Symptomatik miterleben zu lassen. Die Brieffiktion konnte das offenbar nicht mehr leisten. E. T. A. Hoffmann lässt sein berühmtes ›Nachtstück‹ Der Sandmann mit drei Briefen beginnen, um daran anschließend den Erzähler kleinlaut gestehen zu lassen, dass er keinen praktikablen, effektvollen Beginn für seine wundersame »Geschichte des jungen Nathanael« gefunden habe, die er »bedeutend – originell, ergreifend, anzufangen«40 gedachte. Nicht nur die Herausgeberfiktion wird dadurch ironisiert, die Gattung Briefroman selbst wird massiv entwertet: Briefe voranzustellen resultiert aus dem Entschluss »gar nicht anzufangen«; nur den »Umriß des Gebilds« könnten sie vermitteln, in den der Erzähler nun »immer mehr und mehr Farbe hineinzutragen«41 sich bemühen werde. In weiterer Folge nimmt sich der Erzähler wieder zurück; die Geschichte des im Wahnsinn zugrunde gehenden Studenten wird weitgehend aus dessen Sicht vermittelt, doch bleibt eine Erzählinstanz ständig spürbar. Auch Lenz’ Waldersbacher Leidensgeschichte war in toto nicht mehr in Briefen erzählbar, dafür war der Krankheitsprogress in einer beinah klinischen Differenziertheit zu exakt (re-)konstruiert. Im pathologischen Verlauf des Aufenthalts mit den anfänglichen Selbstverlustängsten, der Zuspitzung der Krankheit zur ›religiösen Melancholie‹ und der Verschlechterung des Zustands bis hin zur katatonischen Erstarrung gab es immer seltener Momente, in denen Lenz tatsächlich imstande gewesen wäre, sein Innerstes zu Papier zu bringen. Tatsächlich war auch dem historischen Oberlin zumindest einer der beiden wirren Briefe, die Lenz am Tag vor seiner Abschiebung verfasst hatte, ganz »unver-

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Vgl. Georg Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur. Zur Entwicklung der Wahnsinnsthematik in der deutschen Literatur des späten 18. und 19. Jahrhunderts. München 1986. E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann. In: E. T. A. H.: Sämtliche Werke. Bd. 3: Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke 1816–1820. Hg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarb. v. Gerhard Allroggen. Frankfurt a. M. 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker 7), S. 11–49, hier S. 26. Ebd., S. 27.

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ständlich«42. Und selbst in den Phasen der Konsolidierung wären Briefe wenig wahrscheinlich, in denen es Lenz gelänge, seinen Zustand selbst so nüchtern zu schildern, dass der von Büchner vorgesehene Krankheitsverlauf mit der notwendigen Präzision hätte erfasst werden können. Büchner wäre auf jeden Fall gezwungen gewesen, einen Erzähler einzuführen. Auch der zweite Teil des Werther kommt ja nicht mehr ohne ihn aus. Dabei ist es keinesfalls erwiesen, dass für die Darstellung von Subjektivität die Ich-Form geeigneter ist als das Er-Erzählen.43 Büchners revolutionäre Erzählweise in Lenz zeigt, dass die Er-Form in der Darstellung innerer Vorgänge, individuellen Erlebens sogar unmittelbarer, suggestiver sein kann: wenn sich nämlich diese Subjektivität selbst zum Problem wird. Dazu aber darf die Erzählinstanz nicht so bestimmt hervortreten und das Erzählte als Erzählung erkennbar machen, wie dies etwa der Narrator im schauerliterarischen Sandmann tut – auch wenn sein explizites Erfülltsein von der Geschichte durchaus den Forderungen des Kunstgesprächs entspricht. Der dort vorgetragene Grundsatz, »die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu kopiren« bedingt aber, dass die narrative Distanz möglichst verringert werden muss; denn nicht vom Erzählen selbst soll die Rede sein, sondern vom Protagonisten. Dessen erschütternde Innenwelt lässt sich mit seiner unaufdringlichen Erzählinstanz noch glaubwürdiger wiedergeben; denn anders als der Ich-Erzähler verfolgt dieser Er-Erzähler keine Absichten. Auch wenn also der Briefroman als Genre zur Gestaltung der Geschichte für Büchner nicht mehr in Frage kam, lassen sich einige seiner Konstituenten doch auch in (den jüngsten Teilen des) Lenz noch ausmachen. Hier wie dort ist der imaginative Nachvollzug eines fremden und befremdlichen Erlebens Voraussetzung für das Verständnis. Doch ›authentische‹ Unmittelbarkeit zur Vermittlung von Innerlichkeit wird nun durch die Subjektivierung des Blicks durch interne Fokalisierung erreicht, die den Leser in zentralen Momenten der Erzählung in den Apperzeptionsmodus eines psychisch Kranken zwingt. Wie beim Briefroman wird man zu Beginn unmittelbar in das (innere) Geschehen geworfen und muss sich über die miterlebende Identifikation mit dem Protagonisten hinaus den nur fragmentarisch wiedergegebenen Kontext selbst rekonstruieren.44 Doch lässt die Er-Form mehr Möglichkeiten, die erzählte Welt auszugestalten. Und auch die der Brieffiktion eigene Segmentierung des Erzählten mit mehr oder weniger auffälligen Lücken im Erlebnisbericht scheint im Lenz noch anzuklingen: Hier finden sich Erzählphasen zu je zwei bis vier Tagen, deren Ereignisse genauer geschildert werden; dazwischen liegt – oft abweichend von der tatsächlichen Chronologie – jeweils eine zumeist nicht näher bestimmte mehrtägige

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Oberlin: Herr L......, S. 43. Vgl. dazu Jürgen H. Petersen: Die Erzählformen. Er, Ich, Du und andere Varianten. Berlin 2010, S. 215–223. Vgl. Wilhelm Vosskamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: DVjs 45 (1971), S. 80–116, hier S. 107ff.

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Zeitspanne, deren allgemeiner Inhalt durativ oder iterativ stark gerafft präsentiert wird.45

4. Die unverstandene Abwesenheit des Erzählers Radikale Neuerung führen oft zu Missverständnissen. Auch Büchners Nachvollzug einer psychotischen Welterfahrung durch perspektivische Identifikation blieb lange unverstanden, noch länger ungenutzt. Doch bis heute haben die einprägsamen Bilder des Irrationalen nichts von ihrer Faszination verloren. Schon in der Frührezeption verleitete diese ungewohnt unmittelbare Erzählweise dazu, ein besonderes Naheverhältnis zwischen Autor und Erzähltem zu vermuten. So distanzlos vollziehen manche Passagen des Texts die pathologische Wahrnehmung nach, dass man hinter der Leidensdarstellung autobiographische Bekenntnisse vermutete. Am pointiertesten formulierte Ludwig Büchner in der Einleitung zur ersten Gesamtausgabe seines Bruders diese Nähe: »In Lenzen’s Leben und Sein fühlte er verwandte Seelenzustände, und das Fragment ist halb und halb des Dichters eigenes Porträt«.46 Zweifellos lassen sich hinreichend Parallelen zwischen den beiden Heimatflüchtlingen finden, die beide in Straßburg ihre glücklichste Zeit verbrachten und dort auch die entscheidenden Anregungen erfuhren. Ein besonderes Sensorium für soziale Missstände und Ungerechtigkeiten war ihnen ebenso gemein wie die Parteinahme für Parias mit Entfremdungs- und Instrumentalisierungserfahrungen und diese Weltsicht floss in ihre ästhetischen Vorstellungen ein, mit denen sie literarische Konventionen zertrümmerten. Und natürlich wurde auch autobiographisches Material im Lenz verarbeitet; wie bei Goethe verdankt sich auch hier die Individualisierung des Gefühls zum Teil der kreativen Verarbeitung eigener Erfahrungen und psychischer Krisen. Doch ist Lenz’ Leidensgeschichte nicht die Büchners. Dass dies überhaupt zum Thema werden konnte, liegt am Unverständnis für das Verschwinden des Erzählers in so heiklen Bereichen wie der Darstellung einer psychischen Krankheit. Durchaus noch gewisse Reize konnte Hermann Marggraff dieser Darstellungsweise abgewinnen, auch wenn er ihr 1843 »so etwas Halbwahnsinniges« attestiert, »daß es dem Leser fast erscheint, als lese er hier nicht die Novelle eines Zweiten über einen Wahnsinnigen, sondern habe es mit diesem selbst zu thun, sei wol gar von ihm angesteckt, als sei Büchner Lenz und Lenz Büchner

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Auf diese Erzählphasen weist auch Weiland hin; methodologisch problematisch allerdings ist sein Versuch, aus der »Kontinuität der Phasenbildung« (Büchners Spiel mit Goethemustern, S. 114) auf die Abgeschlossenheit der Erzählung zu schließen. [Ludwig Büchner]: Georg Büchner. In: Nachgelassene Schriften von Georg Büchner. Frankfurt a. M. 1850, S. 1–50, hier S. 47.

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und er, der Leser selbst, Beide zugleich.«47 In der Brieffiktion wäre eine Trennung der Ebenen von Autor, Erzähler, Figur und Leser bei aller Unmittelbarkeit der Präsentation kein Problem. Büchners Leistung, subjektives Erleben einer anderen Person als Erzählen in der dritten Person zu gestalten, führte dagegen zu größeren Irritationen beim zeitgenössischen Rezipienten. Das wirkungsmächtigste Beispiel für eine Identifizierung des Autors mit seinem kranken Protagonisten ist der Verriss des bedeutendsten Theoretikers des ›idealen‹ Realismus, Julian Schmidt. In seiner Rezension der Nachgelassenen Schriften zitiert er 1851 die ersten Sätze der Erzählung, um dann zu konstatieren: Ich halte den Versuch, den Wahnsinn darzustellen, wenn er etwas mehr sein soll, als das deutlich erkannte Resultat eines tragischen Schicksals, oder als eine vorübergehende Staffage, um die augenblickliche Stimmung auszudrücken, für den Einfall einer krankhaften Natur. Die Darstellung des Wahnsinns ist eine unkünstlerische Aufgabe, denn der Wahnsinn, als die Negativität des Geistes, folgt keinem geistigen Gesetz; die Willkür hat einen unermeßlichen Spielraum, und die hervorzurufenden Stimmungen contrastiren so gewalt48 sam mit einander, daß ein lebendiger Eindruck nicht möglich ist.

Das Gegenteil freilich scheint der Fall zu sein, sonst wäre die Entrüstung des einflussreichen Literaturkritikers nur schwer nachvollziehbar. »Am schlimmsten« sei es, so fährt er fort, »wenn sich der Dichter so in die zerrissene Seele seines Gegenstandes versetzt, daß sich ihm selber die Welt im Fiebertraum dreht.«49 Die Pathologisierung des Autors, dessen Talent er gönnerhaft anerkennt, ist nicht zuletzt auf Büchners Angriffe gegen den Idealismus zurückzuführen. Denn in Schmidts Überzeugung kann sich der Dichter »mit dem Empirischen, dem Unvollkommenen nicht begnügen. […] [E]r muß idealisiren, er mag wollen oder nicht, und wenn er nicht nach der göttlichen Seite hin idealisirt, so idealisirt er nach der teuflischen, wie die ganze neue Romantik.« Dieses Idealisieren setzt freilich einen selbstbewusst gestaltenden Erzähler voraus, keinen, der ständig selbst aus der erzählten Welt zu verschwinden droht. Zwei Jahre später wird Schmidt diese Gedanken in seine mehrfach wiederaufgelegte Literaturgeschichte aufnehmen und Büchner zum Typus einer kranken Epoche stilisieren, die im Sturm und Drang begonnen hatte und 1848 ihr Ende nahm: »Lenz ist ihm nicht blos Gegenstand, sondern ein Spiegelbild der eignen Stimmung, welche zugleich die der Zeit war.«50 Offensichtlich verkannte Schmidt Büchners besondere Erzählstrategie, die es darauf anlegt, das Erzählen nicht mehr zum Thema zu machen.

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Hermann Marggraff: Karl Gutzkow. In: Blätter für literarische Unterhaltung, 20. Oktober 1843 (Nr. 293), S. 1173. Zur Aufnahme des Lenz vgl. auch Burghard Dedner: Zur Frührezeption Georg Büchners. In: Georg Büchner. Neue Perspektiven zur internationalen Rezeption. Hg. v. Dieter Sevin. Berlin 2007, S. 19–37. Julian Schmidt: Georg Büchner. In: Grenzboten 10 (1851), 1. Sem., 1. Bd., S. 121–128, hier S. 122. Ebd. Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2. Leipzig 1853, S. 215.

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Der besonderen Qualität des Werks gerechter wird eine der frühesten Reaktionen aus der Feder des Jungdeutschen Alexander Jung, der es – wie auch den Werther – unter die ›rücksichtslosen‹ Schriften einreiht: »Sie klopfen bei dem Leser stark an, sie fragen ihn, ob er ein inneres Leben hat oder nicht, ob er die Bildungsmomente, ob er die Tiefen, die Abgründe kennt, welche der Geist durchschreiten muß, wenn es sich darum handelt, Gott und die Welt in ihrem Wesen zu erfassen«.51 Lenz, »jene wie durch Fixation der Lichtstrahlen gewordene Novelle«, führt dem Leser »Natur und Geist in ihrer detaillirtesten Wahrheit und Zerrüttung vor das Auge«.52 Dass es eine zumutbare Wahrheit ist, daran musste man sich offenbar ebenso erst gewöhnen wie an die Erzählweise. Hatte der fingierte Herausgeber im Briefroman die Instanz des souveränen Erzählers verdrängt, um unmittelbareren Einblick in subjektives Erleben zu ermöglichen, so hatte sich nun mit der ›absichtslosen‹, distanzaufhebenden ErForm auch diese Vermittlungsfiktion für die Bewusstseinsdarstellung erledigt.

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Alexander Jung: Göthe als Enthusiast. In: A. J.: Charaktere, Charakteristiken und vermischte Schriften. Bd. 1. Königsberg: Samter 1848, S. 87–103, hier S. 89f. Der Aufsatz muss, nach der chronologischen Ordnung der Sammlung und durch den Verweis auf den Lenz-Druck im Hamburger Telegraphen, im Jahr 1839 entstanden sein; der Ort der Erstveröffentlichung konnte bislang noch nicht eruiert werden. Ebd.

BIBLIOGRAPHIEN UND PERSONENREGISTER

Stephan Kurz / Stella Lange

Der europäische Briefroman Eine Auswahlbibliographie von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Die vorliegende Bibliographie erfasst die Tradition des deutschen und englischen (Kurz) sowie des französischen, italienischen und spanischen (Lange) Briefromans. Fiktive Briefsammlungen ohne ausgeprägte Plotstruktur und Romane, die zwar zu einem großen Teil aus Briefen bestehen, in denen eine Geschichte aber nicht als eine Folge von Briefen erzählt wird, wurden – soweit sich dies eruieren ließ – nicht aufgenommen. Das gilt für so prominente Texte wie Marivaux’ Vie de Marianne und Clelands Fanny Hill, für Gellerts Leben der Schwedischen Gräfin von G***, aber auch für die ›Briefbücher‹ Bettine von Arnims (Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, Die Günderode u. a.). Der Nachweis von Übersetzungen wurde auf die jeweils erste Übersetzung ins Deutsche beschränkt. Die Verfasserinnen und Verfasser anonym erschienener Texte wurden, soweit bekannt, nachgewiesen, Initialen stillschweigend aufgelöst. Für den englischsprachigen Raum und für den Briefroman der Romania grundlegend sind die ausführlichen, aber auch undifferenzierten Bibliographien von: Thomas O. Beebee: Epistolary Fiction in Europe. 1500–1850. Cambridge 1999, S. 231–258. Yves Giraud, Anne-Marie Clin-Lalande: Nouvelle bibliographie du roman épistolaire en France des origines à 1842. 2e éd. entièrement révue et augmentée. Fribourg 1995 (Seges N. F. 14). François Jost: Essai bibliographique du roman épistolaire. In: F. J.: Essais de littérature comparée. Europeana II. Première série. Fribourg / Urbana (Illinois) 1968, S. 380–402. Angus Martin, Vivienne G. Mylne, Richard Frautschi: Bibliographie du genre romanesque français 1751í1800. London / Paris 1977. Ana Rueda: Cartas sin lacrar. La novela epistolar y la España Ilustrada 1789– 1840. Madrid, Frankfurt a. M. 2001, S. 9–26.

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1135 Abaelardus, Petrus: Historia calamitatum. [Erstveröffentlichung 1616.] 1491 San Pedro, Diego de: Tratado de los amores de Arnalte y Lucenda. Burgos 1491. 1492 San Pedro, Diego de: Cárcel de amor. [o. O.] 1492. 1495 Flores, Juan de: Breve tratado de Grimalte y Gradissa. [o. O.] 1495. 1548 Segura, Juan de: Processo de cartas de amores que entre dos amantes pasaron. [o. O.] 1548. 1563 Pasqualigo, Alvisio: Lettere amorose di due nobilissimi intelletti. Venedig 1563. 1684 Behn, Aphra: Love-Letters Between a Nobleman and His Sister. London 1684– 1687. 1653 Loredano, Giovanni: Novelle amorose. Venedig 1653. 1665 Bussy-Rabutin, Roger de: Histoire amoureuse des Gaules. Liège 1665. 1667 Léon Marchante, Manuel de: La Picaresca. Cartas de correspondencia que tuvo con una monja el Maestro Léon. Paris 1916. 1669 Boursault, Edme: Lettres de respect, d’obligation et d’amour de monsieur Boursault (Lettres de Babet). Paris 1669. Guilleragues, Gabriel Joseph de Lavergne, comte de: Lettres portugaises traduites en français. Paris 1669. 1674 Villedieu, Marie Desjardins de: Le Portefeuille. In: Œuvres meslées de Madame de Villedieu. Rouen 1674. 1684 Marana, Giovanni Paolo: L’Esploratore turco e le di lui relazioni segrete alla Porta ottomana scoperte in Parigi nel Regno de Luiggi il Grande. Paris 1684. Marana, Jean-Paul: L’Espion du Grand-Seigneur et ses relations secrètes envoyées au divan de Constantinople. Paris 1684.

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1686 Préchac, Jean de: Le Comte Tékély, nouvelle historique. Lyon 1686. 1689 Ferrand, Anne de Bellinzani: Histoire nouvelle des amours de la jeune Bélise et de Cléante. Avec le Recueil de ses Lettres. Paris 1689. 1719 Marivaux, Pierre Carlet de Chamblain de: Lettres contenant une aventure. In: Mercure (Nov. 1719 – Apr. 1720). 1721 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat de: Lettres persanes. Amsterdam 1721. Toussaint, Rémond de Saint-Mard: Lettres galantes et philosophiques par Mlle de ***. Den Haag 1721. 1731 Saint-Foix, Germain-François Poullain de: Lettres d’une Turque à Paris, écrites à sa sœur au serrail. Amsterdam 1731. 1732 Crébillon, Claude Prosper Jolyot de: Lettres de la Marquise de *** au comte de R***. [o. O.] 1732. 1737 Bridard de la Garde, Philippe: Lettres de Thérèse ***, ou Mémoires D’une jeune Demoiselle de Province pendant son séjour à Paris. Den Haag 1737. 1740 Richardson, Samuel: Pamela: Or, Virtue Rewarded. In a Series of Familiar Letters from a Beautiful Young Damsel, to her Parents: Now first Published In order to cultivate the Principles of Virtue and Religion in the Minds of the Youth of Both Sexes. A Narrative which has its Foundation in Truth and Nature: and at the same time that it agreeably entertains, by a Variety of curious and affecting Incidents, is intirely divested of all those Images, which, in too many Pieces calculated for Amusement only, tend to inflame the Minds they should instruct. London 1740. 1741 Fielding, Henry: An Apology for the Life of Mrs. Shamela Andrews. In which, the many notorious Falshoods and Misrepresentations of a Book called Pamela, Are exposed and refuted; and all the matchless Arts of that young Politician, set in a true and just Light. Together with A full Account of all that passed between her and Parson Arthur Williams; whose Character is represented in a manner something different from that which he bears in Pamela. The whole being exact Copies of authentick Papers delivered to the Editor. Necessary to be had in all Families. By Mr. Conny Keyber. London 1741.

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Haywood, Eliza Fowler: Anti-Pamela: or, Feign’d Innocence detected; In a series of Syrena’s Adventures. A Narrative which has really its Foundation in Truth and Nature; and at the same time that it entertains, by a vast variety of surprizing Incidents, arms against a partial Credulity, by shewing the Mischiefs that frequently arise from a too sudden Admiration. Publish’d as a necessary Caution to all Young Gentlemen. London 1741. 1742 Duclos, Charles Pinot: Les Confessions du Comte de *** écrites par lui-même à un ami. Amsterdam 1742. Godard d’Aucour, Claude: Lettres du Chevalier Danteuil et de mademoiselle de Thélis. [o. O.] 1742. 1743 Richardson, Samuel: Pamela oder die belohnte Tugend. Übers. v. Johann Schuster. Leipzig 1743. [Übers. v. Richardson 1740.] 1747 Fielding, Sarah: Familiar Letters between the Principal Characters in David Simple, and some others. London 1747. Graffigny, Françoise de: Lettres d’une Péruvienne. Peine 1747. 1748 Richardson, Samuel: Clarissa. Or, The History of a Young Lady: Comprehending The most Important Concerns of Private Life. And particularly showing, The Distresses that may attend the Misconduct Both of Parents and Children, In Relation to Marriage. Published by the Editor of Pamela. London 1748. Richardson, Samuel: Die Geschichte der Clarissa, eines vornehmen Frauenzimmers. Übers. v. Johann David Michaelis. Göttingen 1748–1751. [Übers. v. Richardson 1748.] 1750 Coustelier, Antoine-Urbain [d. i. Jeannot M. Georgin]: Lettres de Montmartre. London 1750. Dupré d’Aulnoy, Louis: Avantures singulières du faux chevalier de Warwick, prisonnier d’état au Donjon de *** et de M. L. M. D. aussi prisonnier de chambrée avec ce chevalier. London 1750. Landon, Joseph: Lettres siamoises ou Le Siamois en Europe. Paris 1751. 1751 Richardson, Samuel: Clarissa. Letters and passages restored from the original manuscripts of the history of Clarissa. To which is subjoined, A Collection of such of the Moral and Instructive Sentiments, Cautions, Aphorisms, Reflections and Observations contained in the History, as are presumed to be of general Use and Service. Digested under Proper Heads. Published for the Sake of doing Justice to the Purchasers of the Two First Editions of that Work. London 1751.

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1752 Bastide, Jean-François de: Les ressources de l’amour. Amsterdam 1752. – Lettres d’Amour du chevalier de ***. London 1752. Maubert de Gouvest, Jean-Henri: Lettres iroquoises. Irocopolis [d. i. Lausanne] 1752. 1753 Leprince de Beaumont, Marie: Lettres de Madame du Montier et de la marquise de ***, sa fille, avec les réponses. Genf 1753. [Zuerst in: Lectures sérieuses et amusantes (Feb. 1750 í Nov. 1752).] Lezay-Marnézia, Charlotte Antoinette de Bressey: Lettres de Julie à Ovid. Paris 1753. Mouhy, Charles de Fieux de: Lettres du commandeur de *** à mademoiselle de ***, avec les réponses. Paris 1753. Richardson, Samuel: The History of Sir Charles Grandison. In a Series of Letters Published from the Originals, By the Editor of Pamela and Clarissa. London 1753. 1754 Meray de: Les femmes ou lettres du chevalier de K***** au marquis de ***. Den Haag 1754. Richardson, Samuel: Die Geschichte des Herrn Carl Grandison. Übers. v. Johann David Michaelis. Leipzig 1754–1755. [Übers. v. Richardson 1753.] 1755 [Anonym]: Lettres amoureuses de la dame Lescombat et du sieur Mongeot ou l’histoire de leurs criminels amours. Den Haag, Paris 1755. Bodmer, Johann Jacob: Edward Grandisons Geschichte in Görlitz. Berlin 1755. Richardson, Samuel: Die Geschichte Herrn Carl Grandisons. Leipzig 1755. [Übers. v. Richardson 1753.] 1756 [Anonym]: Nouvelle brochure ou frivolités importants. Amsterdam 1756. 1757 Riccoboni, Marie-Jeanne: Lettres de Mistriss Fanni Butlerd à Milord Charles Alfred de Caitombridge, comte de Plisinte, duc de Raflinght. Ecrites en 1735, trad. de l’anglois en 1756. Paris 1757. 1759 Dusch, Johann Jakob: Briefe an Freunde und Freundinnen über verschiedene kritische, freundschaftliche und andere Materien. Altona 1759. – Moralische Briefe zur Bildung des Herzens. Leipzig 1759. Fielding, Sarah: Freundschaftliche Briefe. Berlin, Leipzig 1759. [Übers. v. Fielding 1747.] Riccoboni, Marie-Jeanne: Lettres de Milady Juliette Catesby à Milady Henriette Campley son amie. Amsterdam, Paris 1759.

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Sterne, Laurence: A Political Romance, Addressed To – –, Esq. of York. To which is subjoined a key. York 1759. 1760 [Anonym]: The life and opinions of Miss Sukey Shandy, of Bow-Street, gentlewoman. In a series of letters to her dear brother Tristram Shandy, gent. London 1760. Musäus, Johann Karl August: Grandison der Zweite oder Geschichte des Herrn von N***. Eisenach 1760. 1761 Rousseau, Jean-Jacques: Lettres de deux amans habitants d’une petite ville au pied des Alpes. Julie ou la Nouvelle Héloïse. Amsterdam 1761. 1762 Marat, Jean-Paul: Lettres polonaises. [Unveröffentlicht.] 1763 [Anonym]: Lettres d’un citoyen de Genève. Köln, Paris 1763. [Anonym]: Lettres trouvées dans les papiers d’un père de famille. Den Haag, Paris 1763. Brooke, Frances: The History of Lady Julia Manderville. London 1763. Contant D’Orville, André-Guillaume: L’enfant trouvé ou mémoires de Menneville. Den Haag 1763. Langhorne, John: The Letters that Passed between Theodosius and Constantia, after she has taken the Veil. Now first published from the Original Manuscripts. London 1763. Thiroux D’Arconville, Marie-Genviève-Charlotte Darlus: L’Amour éprouvé par la mort, ou Lettres modernes de deux amans de vieille roche. Amsterdam, Paris 1763. Thorel de Campigneulles, Charles-Claude Florent de: Le nouvel Abailard ou Lettres d’un singe au docteur Abadolfs, traduits de l’allemand. Paris 1763. 1764 Durosoy, Barnabé Farmian de: Lettres de Cécile à Julie, ou les Combats de la Nature. Amsterdam 1764. Élie de Beaumont, Anne-Louise: Lettres du Marquis de Roselle par madame E.D.B.. London, Paris 1764. Langhorne, John: Briefe des Theodosius und der Constantia. Übers. v. Johann Jakob Dusch. Berlin, Stettin und Leipzig 1764. [Übers. v. Langhorne 1763.] 1765 Desfontaines, François Georges Fouques: Lettres de Sophie et du chevalier de *** pour servir de supplément aux lettres du marquis de Roselle. London, Paris 1765.

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1766 Delacroix, Jacques Vincent: Mémoires du chevalier de Gonthieu. Amsterdam, Paris 1766. 1767 Arnaud, François-Thomas-Marie de Baculard d’: Clary ou le retour à la vertu récompensé, histoire anglaise par M. d’Arnaud. Paris 1767. Benoist, Françoise-Albine: La Vertu persecutée, ou Lettres du colonel Talbert, par madame **, Auteur d’Elisabeth. Dresden 1767. Delacroix, Jacques-Vincent: Lettres d’Affi à Zurac, publiées par M. de Lacroix. Amsterdam 1767. Leprince de Beaumont, Jeanne-Marie: La Nouvelle Clarice, histoire véritable. Lyon 1767. Riccoboni, Marie-Jeanne: Lettres d’Adélaïde de Dammartin, comtesse de Sancerre, à M. le comte de Nancé son ami. Paris 1767. Rétif de la Bretonne, Nicolas Edme: La famille vertueuse, lettres traduits de l’anglais, par monsieur de La Bretonne. Paris 1767. 1768 Benoist, Françoise-Albine: Celiane: ou les amans séduits par leur vertus. Paris 1768. Crébillon, Claude Prosper Jolyot de: Lettres de la duchesse de *** au duc***. London 1768. 1769 Brooke, Frances: The History of Emily Montague. London 1769. Cooper, Maria Susanna: The exemplary mother: or, letters between Mrs. Villars and her family. Published by a lady, from the originals in her possession. London 1769. Rétif de La Bretonne, Nicolas Edme: Lettres de lord Austin de N*** à lord Humfrey de Dorset, son ami. Frankfurt, Paris 1769. Voltaire, François Marie Arouet de: Les Lettres d’Amabed, traduits par l’abbé Tamponet. Berlin 1769. 1770 Framéry, Nicolas-Etienne: Mémoires de M. le marquis de Saint-Forlaix, recueillis dans les lettres de sa famille. [o. O.] 1770. Hermes, Johann Timotheus: Sophiens Reise von Memel nach Sachsen. Leipzig 1770–1772. Rétif de la Bretonne, Nicolas Edme: Briefe des Lord Austin von N. an den Lord Humfrey von Dorset seinen Freund. Breslau 1770. [Übers. v. Rétif de la Bretonne 1769.] Sheridan, Frances Chamberlaine: Conclusion of the Memoirs of Miss Sidney Bidulph, As prepared for the Press By the Late Editor of the Former Part. London 1770.

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1771 Crébillon, Claude Prosper Jolyot de: Lettres athéniennes extraites du portefeuille d’Alcibiade. London, Paris 1771. Dorat, Claude Joseph: Les Sacrifices de l’Amour, ou Lettres de la vicomtesse de Senanges, et du chevalier de Versenay. Amsterdam, Paris 1771. Hull, Thomas: The History of Sir William Harrington. Written some year since, and revised and corrected by the late Mr. Richardson, now first published. London 1771. Hull, Thomas: Geschichte des Sir William Harrington […]. Leipzig 1771. [Übers. v. Hull 1771.] La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Leipzig 1771. Sagar, Maria Anna: Die verwechselten Töchter, eine wahrhafte Geschichte in Briefen entworfen von einem Frauenzimmer. Prag 1771. Smollett, Tobias George: The Expedition of Humphry Clinker. By the Author of Roderick Random. London 1771. 1772 [Anonym]: Briefe vermischten Inhalts. Frankfurt a. M., Leipzig 1772. [Anonym]: Gentleman. The trial: or, the history of Charles Horton, Esq. by a gentleman. Dublin 1772. Cadalso, José: Cartas marruecas. [Erstveröffentlichung in: Correo de Madrid (Feb. – Jul. 1798).] Dorat, Claude Joseph: Les Malheurs de l’Inconstance, ou Lettres de la marquise de Syrcé, et du comte de Mirbelle. Amsterdam, Paris 1772. Rétif de La Bretonne, Nicolas Edme: Adèle de Comm**, ou Lettres d’une fille à son père. Frankreich 1772. Riccoboni, Marie-Jeanne: Lettres d’Elisabeth-Sophie de Vallière à Louise-Hortense de Canteleu son amie. Paris 1772. Vauvert, de: Lettre de Julie d’Etange à son amant à l’instant où elle va épouser Wolmar. In: Correspondance littéraire (Jan. 1772). 1773 [Anonym]: Woodbury; or, the Memoirs of William Marchmont, Esq., and Miss Walbrook, in Letters. London 1773. Riccoboni, Marie-Jeanne: Lettres de la princesse Zelmaïde au prince Alamir. Neuchâtel 1793. 1774 Gérard, Philippe Louis: Le Comte de Valmont, ou les égarements de la raison. Lettres recueillies et publiées par M. ***. Paris 1774. Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werthers. Leipzig 1774. Léonard, Nicolas Germain: La Nouvelle Clémentine, ou Lettres de Henriette de Berville. Den Haag, Paris 1774. Sagar, Maria Anna: Karolinens Tagebuch, ohne ausserordentliche Handlungen oder gerade so viel als gar keine. Prag 1774.

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Sattler, Johann Paul: Friederike oder die Husarenbeute. Eine deutsche Geschichte. Nürnberg 1774. 1775 [Anonym]: The correspondents, an original novel; in a series of letters. London 1775. Beuvius, Adam: Louise van H*** oder der Triumph der Unschuld. Eine rührende Geschichte. Von dem Verfasser des Eigensinn des Glücks. Berlin, Leipzig 1775. Jacobi, Friedrich Heinrich: Eduard Allwills Papiere. In: Iris (1775), Bd. 4, 3. Stück, S. 193–236. [Erweiterte Fassung in: Der Teutsche Merkur (1776), 2. Vierteljahr, S. 14–75, 3. Vierteljahr, S. 57–71, 4. Vierteljahr, S. 229–262; erste Buchausgabe in: F. H. J.: Vermischte Schriften. 1. Teil. Breslau 1781.] Nicolai, Friedrich: Freuden des jungen Werthers. Berlin 1775. 1776 Bérenger, Jean-Pierre: Le Naif, ou Lettres de Théodore et d’Annette. Genf 1776. Beuvius, Adam: Die Macht der Verführung oder der gebesserte Lasterhafte. Berlin, Leipzig 1776. Imbert, Barthélemy: Les Egaremens de l’amour, ou Lettres de Fanéli et de Milfort. Amsterdam, Paris 1776. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden. [Erstveröffentlichung in: Die Horen 3 (1797), 4. Stück, S. 85–102 und 5. Stück, S. 1–30.] Rétif de La Bretonne, Nicolas Edme: Le paysan perverti ou les dangers de la ville, histoire récente mise au jour d’après les véritables lettres des personages. Den Haag 1776. 1777 Hase, Friedrich Traugott: Auszug aus Eduard Blondheims geheimen Tagebuche. Ein Beytrag zur Geschichte vom Genie und Charakter. Leipzig 1777. Mackenzie, Henry: Julia de Roubigné, A Tale in a Series of Letters. Published by The Author of The Man of Feeling, and The Man of The World. In Two Volumes. London, Edinburgh 1777. Miller, Johann Martin: Beytrag zur Geschichte der Zärtlichkeit. Aus den Briefen zweyer Liebenden von dem Verfasser des Siegwarts. Frankfurt a. M., Leipzig 1777. Nougaret, Pierre Jean Baptiste: La Paysanne pervertie, ou les Mœurs des grandes villes. Mémoires de Jeannette R***, recueillis de ses lettres & personnes qui ont eu part aux principaux évènemens de sa vie, mis au jour par Monsieur Nougaret. London, Paris 1777. Rétif de La Bretonne, Nicolas Edme: Le Quadragénaire, ou L’Âge de renoncer aux passions. Genf, Paris 1777. Riccoboni, Marie-Jeanne: Lettres de Mylord Rivers à Sir Charles Cardigan. Paris 1777.

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1778 Abel, Jacob Friedrich: Beitrag zur Geschichte der Liebe aus einer Sammlung von Briefen. Zwey Theile. Leipzig 1778. Beauharnais, Fanny de: Lettres de Stéphanie, ou l’héroïsme du sentiment. Roman historique. En trois parties. Paris 1778. Burney, Fanny: Evelina, or, a Young Lady’s Entrance into the World. London 1778. Kayser, Albrecht Christoph: Adolfs gesammelte Briefe. Leipzig 1778. Kirsten, Johann Adam Gotthard: Lottchens Reisen ins Zuchthaus. Leipzig 1778. Miller, Johann Martin: Geschichte Karls von Burgheim und Emiliens von Rosenau. Frankfurt a. M., Leipzig 1778. Rétif de La Bretonne, Nicolas Edme: Le Nouvel Abeilard, ou Lettres de deux amans qui ne se sont jamais vus. Neuchâtel, Paris 1778. Seybold, David Christoph: Reizenstein. Die Geschichte eines deutschen Offiziers. Leipzig 1778–1779. 1779 Albrecht, Johann Friedrich Ernst: Waller und Natalie. Eine Geschichte. In Briefen. Reval, Leipzig 1779–1780. [Anonym]: Woodbury, oder Nachrichten und Briefe von Wilhelm Marchmont. Leipzig 1779. [Übers. v. Anonym 1773.] Lebrun, Antoine-Louis: Lettres de Calliope à Dorante avant qu’elle fût mariée, suivies des lettres de Dorante à Calliope après le mariage de cette dernière. Paris 1779. Beuvius, Adam: Henriette oder der Husarenraub. In Briefen bey Gelegenheit des gegenwärtigen Kriegs. Berlin, Leipzig 1779. Burney, Frances: Evelina, oder eines jungen Frauenzimmers Eintritt in die Welt. Leipzig 1779. [Übers. v. Burney 1778.] Timme, Christian Friedrich: Faramonds Familiengeschichte in Briefen. Erfurt 1779–1781. 1780 [Anonym]: Briefe von Yorick an Elisen, wie sie zwischen ihnen konnten geschrieben werden. Leipzig 1780. Braun, Johann Adam: Das Grab der Freude oder Jardison und Juliane. Eine englische Geschichte. Frankfurt a. M., Leipzig 1780. Croft, Herbert: Love and Madness. A story too True in a Series of Letters Between Parties, whose Names would perhaps be mentioned, were they less known, or less lamented. London 1780. Diderot, Denis: La Religieuse. In: Correspondance littéraire (1780–1782). [Romanveröffentlichung 1796.] Dusch, Johann Jakob: Geschichte Karl Ferdiners. Karlsruhe 1780. Friedel, Johann: Eleonore, kein Roman, eine wahre Geschichte in Briefen. Berlin, Leipzig 1780. Jenny [d. i. Eleonore Sophie Auguste Thon]: Julie von Hirtenthal. Eine Geschichte in Briefen. Eisenach 1780–1783.

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Mallarme, Charlotte Bournon de: Lettres de Milady Lindsey ou l’Epouse pacifique. London, Paris 1780. – Mémoires de Clarence Welldone, ou le Pouvoir de la vertu. Histoire angloise. London, Paris 1780. Nougaret, Pierre Jena-Baptiste: Les Méprises ou les illusions du plaisir. Lettres du comte d’Orabel pour servir à l’histoire de sa vie. Paris, Berlin 1780. Rétif de La Bretonne, Nicolas Edme: La Malédiction paternelle. Lettres sincères et véritables de N**** à ses parents, ses amis et ses maîtresses; Avec les réponses. Recueillies et publiées par Timothée Joly, son exécuteur testamentaire. Paris, Leipzig 1780. Thilo, Friedrich Theophil: Emilie Sommer, eine Geschichte in Briefen. Leipzig 1780. 1781 Beccari, Madame: Les Dangers de la calomnie, ou Mémoires de Fanny Spingler, histoire angloise. Neuchâtel 1781. Jean Paul [d. i. Johann Paul Friedrich Richter]: Abelard und Heloise. [Unveröffentlicht.] Knigge, Adolph Friedrich Ludwig Freiherr von: Der Roman meines Lebens in Briefen herausgegeben. Riga 1781–1783. La Roche, Sophie von: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Altenburg 1780–1781. Musäus, Johann Karl August: Der deutsche Grandison, auch eine Familiengeschichte. Eisenach 1781. 1782 Eberhard, Johann August: Amyntor. Eine Geschichte in Briefen. Herausgegeben von Johann August Eberhard. Berlin, Stettin 1782. Laclos, Pierre Choderlos de: Les Liaisons dangereuses, ou Lettres recueillies dans uns société et publiées pour l’instruction de quelques autres. Amsterdam, Paris 1782. Moser, Friedrich Carl Freiherr von: Necker in Briefen an Herrn Iselin in Basel. [o. O.] 1782. Unzer, Johann Christoph: Geschichte der Brüder des grünen Bundes. Erster Band: Lambergs Geschichte. Berlin 1782. 1783 [Anonym]: Eine baadische Bekanntschaft. [o. O.] 1783. Beuvius, Adam: Rheinhold und Sophie. Eine Geschichte in Originalbriefen vom Verfasser der Henriette oder des Husarenraubes. Berlin, Leipzig 1783. Constant, Samuel: Le Mari sentimental, ou le Mariage comme il y en a quelques-uns. Lettres de M. Bompré à M. de Saint-Thomin à Orbe. Genf 1783. Hempel, Gottlob Ludwig: Hanns kömmt durch seine Dummheit fort. Ein komischer Roman mit tragischer Einfassung. Leipzig 1783. La Roche, Sophie von: Briefe an Lina. In: Pomona (1783–1784).

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Léonard, Nicolas Germain: Lettres de deux amans habitans de Lyon contenant l’histoire tragique de Thérèse et de Faldoni. London, Paris 1783. Salzmann, Christian Gotthilf: Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend. Leipzig, Carlsruhe 1783–1788. 1784 [Anonym]: Briefe einer italienischen Nonne und eines Engländers aus dem Nachlasse des Rousseau aus dem Englischen. Leipzig 1784. [Anonym]: Marokkanische Briefe. Frankfurt a. M., Leipzig 1784. Charrière, Isabelle de: Lettres de Mistriss Henley, publiées par son amie Madame de C*** de Z***. Genf 1784. – Lettres neuchâteloises. Amsterdam 1784. Constant, Samuel: Camille, ou Lettres de deux filles de ce siècle. Traduites de l’anglois, sur les Originaux. London, Paris 1784. Dauphin, M.: La Dernière Heloïse, ou Lettres de Junie Salisbury. Paris 1784. Élie de Beaumont, Anne-Louise: Briefe des Markis von Roselle. Übers. v. Mariane von Deurer. Leipzig 1784. [Übers. v. Élie de Beaumont 1764.] Kirsten, Johann Adam Gotthard: Ferdinandine in Gibraltar bey der Belagerung unter Elliot. Leipzig 1784. Liebeskind, Sophie Dorothea Margarete (Meta): Maria. Eine Geschichte in Briefen. Leipzig 1784. Rétif de La Bretonne, Nicolas Edme: La Paysanne pervertie, ou les dangers de la ville, histoire d’Ursule R**, sœur d’Edmond, le Paysan, mise-au-jour d’après les véritables lettres des Personages. Paris 1784. Timme, Christian Friedrich: Wenzel von Erfurt, eine Robinsonade. Erfurt 1784– 1786. 1785 [Anonym]: Eleanora: from the Sorrows of Werter. A tale. London 1785. Charrière, Isabelle de: Lettres écrites de Lausanne. Genf 1785. Nesselrode, F. G. von: Die Leiden der jungen Fanni. Eine Geschichte unserer Zeiten in Briefen. Augsburg 1785. Nougaret, Pierre Jean-Baptiste: Les Dangers de la Sympathie. Lettres de Henriette de Belval au Baron de Luzi***, et de différentes personnes qui ont eu part aux principaux événements de sa vie. Rédigées et mises au jour par M. Nougaret. London, Paris 1785. Richter, Joseph: Briefe eines Eipeldauers an seinen Herrn Vetter in Kakran über d’ Wienstadt. Wien 1785–1813. 1786 Bérenger, Laurent-Pierre: Les Soirées provençales, ou Lettres de M. Bérenger. Paris 1786. Braun, Johann Adam: Heinrich von Eisenberg und Louise von Trautmannsfeld, oder die maskirte Rache. Eine Heldengeschichte in Briefen. Frankfurt a. M., Leipzig 1787.

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Constant, Samuel: Laure, ou Lettres de quelques personnes de Suisse. Genf, Paris 1786. Dusch, Johann Jakob: Der Verlobte zweyer Bräute. Schaffhausen 1786. [Revision von Dusch 1780.] Fleuriot, Jean-Maire-Jérôme de: Amours, ou Lettres d’Alexis et de Justine. Neuchâtel 1786. James, William: The letters of Charlotte, during her connexion with Werter. London 1786. Maribert de Courtenay [d. i. Nicolas Edme Rétif de La Bretonne]: La Femme infidelle. Neuchâtel, Paris 1786. Montolieu, Isabelle de: Caroline de Lichtfeld, ou Mémoires d’une famille prussienne. Lausanne 1786. 1787 Bellamy, Georgia Anne: Merkwürdiges Leben der Georgia Anna Bellamy, vormahliger Schauspielerin auf der Bühne zu Coventgarden. Von ihr selbst verfasset. Aus dem Englischen übersetzt. Hamburg 1787. Charrière, Isabelle de: Caliste ou lettres écrites de Lausanne. Genf, Paris 1787. Ehrmann, Marianne: Amalie, eine wahre Geschichte in Briefen. Bern 1787. Heinse, Johann Wilhelm: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert. Lemgo 1787. Monnet, Marie: Lettres de Jenny Bleinmore. Paris 1787. Richter, Joseph: Louise und Rosenfeld. Ein Gegenstück zu Werthers Leiden. Wien 1787. Weightman, Mary: The polite reasoner: in letters addressed to a young lady, at a boarding school in Hoddesdon, Hartfordshire. London 1787. 1788 Bage, Robert: Honorie Warren. Frankfurt, Leipzig 1788. Caraccioli, Louis Antoine de: Lettres d’un Indien à Paris à son ami Glazir, sur les Mœurs Françoises, & sur les Bizzarreries du tems. Amsterdam, Paris 1788. Ehrmann, Marianne: Nina’s Briefe an ihren Geliebten. Bern 1788. Gacon-Dufour, Marie: Les Dangers de la coquetterie. Paris 1788. James, William: Lottens Briefe an eine Freundin während ihrer Bekanntschaft mit Werthern. Berlin, Stettin 1788. [Übers. v. James 1786.] Miller, Johann Martin: Beytrag zur Geschichte der Zärtlichkeit. Frankfurt a. M., Leipzig 1788. Naubert, Christiane Benedicte: Geschichte der Gräfin Thekla von Thurn oder Scenen aus dem dreyssigjährigen Kriege. Leipzig 1788. Schatz, Georg: Laura, oder Briefe einiger Frauenzimmer in der französischen Schweiz. Vom Verfasser der Camille. Leipzig 1788–1789. 1789 [Anonym]: Elika, Gräfin von Gleichen. Eine wahre Geschichte aus den Zeiten der Kreuzzüge. Leipzig, Liegnitz 1789.

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Duplessis, Pierre: Histoire du marquis de Séligny et de Madame de Luzai, ou Lettres authentiques et originales trouvées dans un porte-feuille à la mort de M. le Maréchal de ***. London, Paris 1789. Knigge, Adolph Friedrich Ludwig Freiherr von: Geschichte des armen Herrn von Mildenburg. Hannover 1789ff. Naubert, Christiane Benedicte: Elisabeth, Erbin von Toggenburg. Oder Geschichte der Frauen von Sargans in der Schweiz. Leipzig 1789. Nougaret, Pierre Jean-Baptiste: Le Danger des circonstances, ou Lettres du chevalier de Joinville et de Mlle d’Arans, ainsi que de divers qutres personnages intéressants. Brüssel, Paris 1789. Sommery, Fontette: Liebe, Treue und Delicatesse im Streit oder Briefe des Fräuleins von Tourville an die Gräfinn von Lenoncourt. Frankfurt a. M., Leipzig 1789. Timlich, Karl: Priaps Normal-Schule die Folge guter Kinderzucht. Berlin 1789. 1790 [Anonym]: Freundschaftliche Briefe. Ein Pendant zu den vertrauten Briefen eines Geistlichen in Baiern. München 1790. [Anonym]: Herrmann und Julie: mehr als Roman. Leipzig 1790. Lennox, Charlotte: Euphemia. London 1790. Naubert, Christiane: Merkwürdige Begebenheiten der gräflichen Familie von Wallis. Leipzig 1790. 1791 [Anonym]: Hartlyhaus oder Schilderungen des häuslichen und gesellschaftlichen Lebens der Europäer in Ostindien. Leipzig 1791. [Christian Felix Weiße zugeschrieben; in seiner Selbstbiographie ist das Buch als Übersetzung aus dem Engl. gelistet.] Élie de Ferrières, Charles: Saint-Flour et Justine, ou Histoire d’une jeune française du dix-huitième siècle. Paris 1791. Gourbillon, Joseph-Antoine de: Stellino, ou le Nouveau Werther. Rom, Paris 1791. La Roche, Sophie von: Briefe über Mannheim. Mannheim 1791. – Rosalie und Cleberg auf dem Lande. Offenbach 1791. Louvet de Couvray, Jean-Baptiste: Emilie de Varmont, ou Le divorce nécessaire, et les Amours du curé sévin. Paris 1791. Perrin, Pierre: Werthérie. Paris 1791. Schwarz, Sophie: Briefe einer Curländerin. Berlin 1791. 1792 Bouterwek, Friedrich Ludewig: Graf Donamar. Briefe, geschrieben zur Zeit des siebenjährigen Krieges in Deutschland. Frankfurt a. M., Leipzig 1792–1793. Jacobi, Friedrich Heinrich: Eduard Allwills Briefsammlung. Königsberg 1792. 1793 [Anonym]: The errors of sensibility. A novel. London 1793.

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Charrière, Isabelle de: Lettres trouvées dans la neige, à quelque distance du Locle, le dernier jour de la foire de Neuchâtel. Neuchâtel 1793. Sade, Donatien Alphonse François de: Aline et Valcour, ou le Roman philosophique. Paris 1793. 1794 Moritz, Karl Philipp: Die neue Cecilia. Berlin 1794. Souza, Adélaïde de: Adèle de Sénange, ou Lettres de Lord Sydenham. London 1794. 1795 Jünger, Johann Friedrich: Der Melancholische. Eine Geschichte in drey Bänden. Frey nach dem Englischen von J. F. Jünger. Berlin, Leipzig 1795/96. Tieck, Ludwig: Geschichte des Herrn William Lovell. Berlin, Leipzig 1795/96. Élie de Ferrières, Charles: Saint-Flour und Justine oder Geschichte zweyer Liebenden wie es deren wenige gibt. Berlin 1795. [Übers. v. Élie de Ferrières 1791.] Lafontaine, August Heinrich Julius: Klara du Plessis und Klairant. Eine Familiengeschichte französischer Emigrierter. Berlin 1795. Schreyvogel, Joseph: Der Teutsche Lovelace. Proben aus einem Roman in Briefen. In: Der neue Teutsche Merkur. 3. Stück (November 1795), S. 217– 247 und 1. Stück (Januar 1796), S. 1–13. 1796 [Anonym]: Briefe eines Novizen aus der Abtey la Trappe. Zürich 1796. Bouterwek, Friedrich Ludewig: Gustav und seine Brüder. Aus den neuern Papieren des Herausgebers der Geschichte des Grafen Donamar. Halle 1796. Lohmann, Friederike: Clare von Wallburg. Leipzig 1796. Müller von Itzehoe, Johann Gottwerth: Sara Reinert. Berlin 1796. Nougaret, Pierre Jean-Baptiste. Honorine Clarins, historie américaine. Paris 1796. 1797 Hölderlin, Friedrich: Hyperion oder Der Eremit in Griechenland. Tübingen 1797–1799. Meilhan, Gabriel Sénac de: L’émigré. Braunschweig 1797. Olavide y Jáuregui, Pablo de: El Evangelio en triunfo ó Historia de un filósofo desengañado. Valencia 1797. Wallenrodt, Johanna Isabella Eleonore von: Das Leben der Frau von Wallenrodt in Briefen an einen Freund. Ein Beitrag zur Seelenkunde und Weltkenntniss. Leipzig, Rostock 1796–1797. 1798 Dusch, Johann Jakob: Die Pupille. Eine Geschichte in Briefen. Altona 1798– 1799. Ehrmann, Marianne: Antonie von Warnstein. Eine Geschichte aus unserem Zeitalter. [o. O.] 1798.

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Genlis, Stéphanie-Félicité de: Les Petits Émigrés ou Correspondance de Quelques Enfans. Ouvrage fait pour servir à l’éducation de la Jeunesse. Paris, Berlin 1798. Mor de Fuentes, José: El cariño perfecto o Alonso y Serafina. Madrid 1798. Wolzogen, Friederike Sophie Karoline von: Agnes von Lilien. Berlin 1798. 1799 Cottin, Sophie Ristaud: Claire d’Albe. Paris 1799. Gutiérrez, Luis: Cornelia Bororquia o la víctima de la Inquisición. Segunda edición corregida y aumentada. Paris 1800. Jung-Stilling, Johann Heinrich: Die Pilgerreise zu Wasser und zu Lande oder Denkwürdigkeiten der göttlichen Gnadenführung und Fürsehung in dem Leben eines Christen. Nürnberg 1799. Neuenhagen, Wilhelmine: Lauras Briefwechsel. Leipzig 1799. Nicolai, Friedrich: Geheime Correspondenz zwischen dem dicken Manne, Sempronius Gundibert und F. N. Dr. gefunden zwischen Jena und Königsberg. Mit Anmerkungen hg. v. I. Sincero Querlequitsch. Berlin 1799. – Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundinn Julie S**. Berlin, Stettin 1799. Souza, Adélaïde de: Emilie et Alphonse, ou Danger de se livrer à ses premières impressions. Hamburg, Braunschweig, Paris 1799. 1800 Céspedes y Monroy, Atanasio [d. i. Pablo de Olavide y Jáuregui]: La mendiga honrada ó la conversion del amor. In: Lecturas útiles y entretenidas. Lectura Decimoséptima. Tomo VI. Madrid 1800. Wieland, Christoph Martin: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Leipzig 1800–1802. 1801 Brentano, Clemens: Godwi, oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria. Bremen 1801–1802. Foscolo, Ugo: Ultime Lettere di Jacopo Ortis. Mailand 1801. [Endfassung London 1817.] 1802 Arnim, Achim von: Hollin’s Liebeleben. Göttingen 1802. Bürger, Elisa: Vierzigjährige Briefe zweier Frauenzimmer. Mein Taschenbuch. Piana 1802. Cottin, Sophie Ristaud, madame: Amélie de Mansfield. Paris 1802. Fischer, Caroline Auguste: Die Honigmonathe. Von dem Verfasser von Gustavs Erinnerungen. Posen, Leipzig 1802. Giroust de Morency, Suzanne Gireux, dite madame Quinquet: Euphémie, ou les Suites du siège de Lyon. Paris 1802. Lohmann, Friderike: Claudine Lahn: oder Bescheidenheit und Schönheit behält den Preis: Von der Verfasserin der Clara von Wallburg. Leipzig 1802–1803.

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Moreau F. J.: Clara Hurt-Fort, ou la Victime des apparences. Tours, Blois, Paris 1802. Müller, Johannes von: Briefe eines jungen Gelehrten, zum Besten der Schweizerwaisen herausgegeben. Tübingen 1802. Nougaret, Pierre Jean-Baptiste: Les Mœurs du Temps, ou Mémoires de Rosalie Terval en forme de lettres. Metz 1802. – L’Amante coupable sans le savoir, ou les amants criminels et vertueux. Paris 1802. Rétif de La Bretonne, Nicolas Edme: Les Posthumes. Lettres reçues après la mort du mari par sa femme qui le croit à Florence, Par feu Cazotte. Paris 1802. Souza, Adélaïde Marie Emilie Filleul, comtesse de Flahaut, marquise de: Charles et Marie. Paris 1802. Staël, Germaine de: Delphine. Genf 1802. 1803 Froberville, Barthélemy Huet de: Sydner ou les dangers de l’imagination. [o. O.] 1803. Heinse, Wilhelm: Anastasia und das Schachspiel. [o. O.] 1803. Krüdener, Barbara Juliana von Vietinghoff, baronne de: Valérie, ou Lettres de Gustave de Linar à Ernest de G***. Paris 1803. Lesuire, Robert-Martin: La Pamela française, ou lettres d’une jeune paysanne et d’un jeune cidevant contenant leurs aventures. Paris 1803. Mereau, Sophie: Amanda und Eduard. Ein Roman in Briefen. [Frankfurt a. M.] 1803. Nodier, Charles: Le Peintre de Salzbourg, journal des émotions d’un cœur souffrant. Paris 1803. Schmid, Siegfried: Lothar oder Liebe löst den Widerstreit. In: S. S.: Phantasien. Erlangen 1803. Staël, Germaine de: Delphine. Berlin 1803. [Übers. v. Germaine de Staël 1802.] 1804 Krüdener, Barbara Juliane von: Valerie Oder Briefe Gustavs von Linar an Ernst von G… . Leipzig 21804. Schad, Johann Baptist (Hg.): Das Paradies der Liebe. Ein Kloster-Roman. Erfurt 1804. Sénancour, Etienne Pivert de: Oberman. Lettres publiées par M. S***. Paris 1804. Wieland, Christoph Martin: Krates und Hipparchia. Tübingen 1804. Zschokke, Heinrich: Die Prinzessin von Wolfenbüttel. vom Verfasser des Alamentade. Zürich 1804. 1805 Ahlefeld, Charlotte von: Therese. [o. O.] 1805. Falk, Johann Daniel: Leben, wunderbare Reisen und Irrfahrten des Johannes von der Ostsee. Bd. 1. Tübingen 1805.

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Naubert, Benedicte: Fontanges, oder das Schicksal der Mutter und der Tochter. Eine Geschichte aus den Zeiten Ludwig des Vierzehnten. Von dem Verfasser des Walther von Montbarry, der Thekla von Thurn, des Hermann von Unna u. a. m. Leipzig 1805. 1806 Cuisin, P.: Le Bâtard de Lovelace et la fille naturelle de la marquise de Merteuil, ou les Mœurs vengées. Nouvelles lettres traduites de l’anglais. Paris 1806. La Roche, Sophie von: Melusinens Sommer-Abende. Hg. v. Christoph Martin Wieland. Halle 1806. Naubert, Benedicte: Die Gräfin von Frondsberg aus dem Hause Löwenstein. Eine vaterländische Geschichte aus den Zeiten des Mittelalters. Von der Verfasserin des Walther von Montbarry, Fontanges, Herrmann von Unna, u. s. w. Leipzig 1806. 1807 Foscolo, Ugo: Die letzten Briefe des Jacopo Ortis. Göttingen 1807. [Übers. v. Foscolo 1801.] Lambert, Auguste: Praxède, par César Auguste. Paris 1807. 1808 Pichler, Caroline: Agathokles. Wien 1808. 1809 Fischer, Caroline Auguste: Der Günstling. Posen, Leipzig 1809. 1810 Lévis, Pierre-Marc-Gaston de: Les Voyages de Kang-hi ou nouvelles lettres chinoises. Paris 1810. Rémusat, Claire de: Charles et Claire; ou la flûte. [o. O.] 1815. 1811 Tamayo y Calvillo, Ramón: La Amalia ó cartas de un amigo a otro residente en Aranjuez. Y La Amalia, ó cartas de un amigo a otro residente en Toledo. Madrid 1811–1812. 1812 Bonaparte, Louis: Marie, ou les Peines de l’amour. [o. O.] 1812. Fischer, Caroline Auguste: Margarethe. Roman. Heidelberg 1812. 1813 [Anonym]: Briefe eines Preußischen Freywilligen an die Seinigen. Breslau 1813. Appenzeller, Johann Conrad: Gertrud von Wart, oder Treue bis in den Tod. Zürich 1813. 1814 Cottin, Sophie Ristaud: Clara von Alben. Wien 1814. [Übers. v. Cottin 1799.]

Der europäische Briefroman. Eine Auswahlbibliographie

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1815 Baldamus, Karl: Oskar und Theone. Lüneburg 1815. Pigault-Lebrun, Charles: Adelaïde de Méran. Paris 1815. 1818 Marqués y Espejo, Antonio: Anastasia, ó la recompensa de la hospitalidad. Anécdota histórica de un casto amor contrariado. Valencia 1818. Sacrati, Orintia Romagnoli: Lettere di Giulia Willet. Rom1818. Shelley, Mary: Frankenstein or The Modern Prometheus. [o. O.] 1818. 1819 Balzac, Honoré de: Sténie, ou les Erreurs philosophiques. Paris 1936. [Unvollendet.] 1820 Kviatovska, Josephine von: Hedwiga und Limburgis oder die Starken Frauen. Ein historischer Roman aus dem 14ten Jahrhundert. Wien 1820. Naubert, Benedicte: Turmalin und Lazerta. Eine Reliquie des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1820. Nodier, Charles: Adèle. Paris 1820. 1822 Cubières, Marie: Marguerite Aimond. [o. O.] 1822. Immermann, Karl: Die Papierfenster eines Eremiten. Hamm 1822. 1823 Jouy, Étienne de: Cécile ou les Passions. Paris 1823. Waiblinger, Friedrich Wilhelm: Phaëthon. Stuttgart 1823. 1824 Salm, Constance de: Vingt-quatre heures d’une femme sensible, ou une grande leçon. Paris 1824. 1827 Cosca Vayo, Esanislao: Voyleano ó la exaltación de las pasiones. Valencia 1827. D. R. S. B.: El secreto revelado en cartas confidenciales, que un constitucional rezagado escribía á sus amigos refugiados en Londres, reconviniéndolos por los graves yerros que han cometido, y dándoles instrucciones seguras para su fiel enmienda. Publícalas un realista para desengaño de los obstinados. Madrid 1827. Dalban, Pierre-Jean-Baptiste: Célestine, ou l’héroïne de roman. Paris 1827. 1828 Sierra, José Andrés: Leonor y Carlos ó sean los dos finos amantes apasionados y virtuosos. Novela moral agradable e interesante a toda clase de personas. Madrid 1833.

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Stephan Kurz / Stella Lange

1830 Huber, Therese: Fragmente eines Briefwechsels. In: T. H.: Erzählungen in sechs Theilen. Hg. v. Victor Aimé Huber. Bd. 1. Leipzig 1830, S. 1–98. 1831 Aguirre, Manuel Benito: La muger sensible, novela original. Madrid 1831. Franz, Agnes: Angela. Essen 1831. Gathy, Franz Serv. August: Briefe aus Paris, geschrieben während der großen Volkswoche im Juli 1830. Von einem deutschen Augenzeugen an seinen Freund in Deutschland. Hamburg 1831. Martínez de Robles, Segunda: Las españolas náufragas ó correspondencia de dos amigas. Madrid 1831. Pichler, Caroline: Henriette von England, Gemahlinn des Herzogs von Orleans. Wien 1831. Pückler-Muskau, Hermann: Briefe eines Verstorbenen: Ein fragmentarisches Tagebuch aus England, Wales, Irland und Frankreich geschrieben in den Jahren 1826 und 1829. Stuttgart 1831. 1832 D. C. M.: Adelaida ó el misterio. Valencia 1832. Gutzkow, Karl Ferdinand: Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg 1832. Rixner, Thaddäus Anselm: Briefe aus und nach Abdera, über des Naturforschers Demokritos angebliche Verrücktheit. Freie Uebersetzung aus dem Griechischen. Sulzbach 1832. 1833 Musset, Alfred de: Le Roman par lettres. [Unvollendet. Erstveröffentlichung: Paris 1896.] 1834 Sand, George: Jacques. Paris 1834. – Lettres d’un voyageur. [o. O.] 1834–1836. Torre López y Ruedas, Narciso: Virtud, constancia, amor, desinterés, aparece en el bello sexo. Madrid 1834. 1835 Cortina y Roperto, Ibo de la: Teresa ó las víctimas de la codicia. Novela sentimental. Barcelona 1835. Gautier, Théophile: Mademoiselle de Maupin. [o. O.] 1835. 1838 Boix, Vicente: El amor en el claustro o Eduardo y Adelaida: Cartas eróticas. Valencia 1838. 1840 Guijarro de Aparisi, Ramona: Emilia y Clara, o Efectos de una buena educación: Novela original. Valencia 1840. Veuillot, Louis: Pierre Saintive. [o. O.] 1840.

Der europäische Briefroman. Eine Auswahlbibliographie

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1842 Balzac, Honoré de: Mémoires de deux jeunes mariées. In: La Presse (Nov. 1841 – Jan. 1842). 1844 Sandeau, Jules: Fernand. [o. O.] 1844. 1846 Mérimée, Prosper: L’abbé Aubin. [o. O.] 1846. Schuselka, Franz: Briefe einer polnischen Dame (1840–1846). Leipzig 1846.

Gideon Stiening / Robert Vellusig

Der europäische Briefroman Eine Auswahlbibliographie der Forschungsliteratur

Die Auswahlbibliographie beschränkt sich weitgehend auf Studien, die gattungsspezifische Fragen thematisieren und in deutscher, englischer oder französischer Sprache erschienen sind. Beiträge zu einzelnen Briefromanen wurden nur in begründeten Ausnahmefällen aufgenommen.

Altman, Janet Gurkin: The »Triple Register«. Introduction to Temporal Complexity in the Letter-Novel. In: L’Esprit Créateur 17 (1977), S. 301– 310. – Epistolarity. Approaches to a Form. Columbus (Ohio) 1982. Andree, Martin: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. Paderborn 2006. Arnds, Peter: Sophie von La Roche’s Geschichte des Fräuleins von Sternheim as an Answer to Samuel Richardson’s Clarissa. In: Lessing Yearbook 29 (1997), S. 87–105. Arndt, Christiane: Antiker und neuzeitlicher Briefroman. Ein gattungstypologischer Vergleich. In: Der griechische Briefroman. Gattungstypologie und Textanalyse. Hg. v. Niklas Holzberg unter Mitarbeit v. Stefan Merkle. Tübingen 1994 (Classica Monacensia 8), S. 53–83. Bayer, Gerd: Deceptive Narratives: On Truth and the Epistolary Voice. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39 (2009), H. 154, S. 173–187. Beebee, Thomas O.: Clarissa on the Continent. Translation and Seduction. University Park (Pennsylvania), London 1990. – Epistolary Fiction in Europe. 1500–1850. Cambridge 1999. – Johann Jakob Dusch and the Genealogy of Epistolary Fiction. In: Journal of English and Germanic Philology 91 (1992), H. 3, S. 360–382. Behrens, Rudolf: Schrift und Stimme. Illusionen der Gegenwart und ihre Zerstörung im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts. In: Sinne und Verstand. Ästhetische Modellierungen der Wahrnehmung um 1800. Hg. v. Caroline Welsh, Christina Dongowski, Susanna Lulé. Würzburg 2001 (Stiftung für Romantikforschung 18), S. 189–206.

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Gideon Stiening / Robert Vellusig

Berchtold, Jacques: »La nouvelle Héloïse« und »Hyperion«. Zwei Briefromane aus dem Jahrhundert der Aufklärung. In: Hölderlin-Jahrbuch 34 (2004/05), S. 46–67. Bischoff, Doerte: Herzensbühne und Schriftkörper. Transformationen des Briefromans in der Moderne am Beispiel von Else Lasker-Schülers ›Mein Herz‹. In: Mutual Exchanges. Sheffield-Münster Colloquium II. Ed. by Dirk Jürgens. Frankfurt a. M. [u. a.] 1999, S. 41–58. Black, Frank Gees: The Epistolary Novel in the Late Eighteenth Century. A Descriptive and Bibliographical Study. Eugene (Oregon) 1940 (Studies in Literature and Philology 2). Borgstedt, Thomas: Frühromantik ohne Protestantismus. Zur Eigenständigkeit von Clemens Brentanos ›Godwi‹-Roman. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2002), S. 185–211. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsform des Weiblichen. Frankfurt a. M. 1979 (es 921), S. 200–220: »Der Briefroman – ein trojanisches Pferd«. Bozza, Maik: Krise auf dem Schreibtheater. Tiecks »William Lovell« und die Grenzen des Briefromans. In: Athenäum 20 (2010), S. 15–42. Bray, Joe: The Epistolary Novel. Representations of Consciousness. London, New York 2003 (Routledge Studies in Eighteenth-Century Literature 1). Buhks, Nora: The Role of the Everyday Letter in the Development of Russian Sentimental Prose of the Late Eighteenth Century. In: The Modern Language Review 80 (1985), H. 4, S. 884–889. Calas, Frédéric: Le roman épistolaire. Paris 1996 (Collection 128. Lettres 147). Dangel, Elsbeth: Lyrische und dramatische Auflösung in den Briefromanen Amanda und Eduard von Sophie Mereau und Die Honigmonathe von Caroline Auguste Fischer. In: Aurora 51 (1991), S. 63–80. Day, Robert Adams: Told in Letters. Epistolary Fiction Before Richardson. Ann Arbor (Michigan) 1966. Di Fazio, Margherita: La lettera e il romanzo. Esempi di comunicazione epistolare nella narrativa. Roma 1996. Dittrich, Andreas: »So dacht’ ich«. Friedrich Hölderlins Briefroman »Hyperion oder der Eremit in Griechenland« als ästhetisch-idealistischer Sonderweg. In: Euphorion 98 (2004), S. 347–383. Duyfhuizen, Bernard: Epistolary Narratives. Of Transmission and Transgression. In: Comparative Literature 37 (1985), H. 1, S. 1–26. Engel, Manfred: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik. Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Abhandlungen 71), S. 194–215. Feil, Doris: Stufen der Seele. Erkenntnistheoretische Darstellung in Goethes »Werther« und Hölderlins »Hyperion«. Oberhausen 2005 (Beiträge zur Kulturwissenschaft 7). Fleischer, Stephanie: Literatur und Lebensgestaltung. Cornelia Goethe als Leserin zeitgenössischer Briefromane. In: Welfengarten 6 (1996), S. 69–82.

Forschungsliteratur

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Fraanje, Maarten G.: The Epistolary Novel in Eighteenth-Century Russia. München 2001 (Vorträge und Abhandlungen zur Slavistik 41). Gauglhofer, Wolfgang: Geschichte und Strukturprobleme des europäischen Briefromans im besonderen Hinblick auf die romanischen Literaturen. Phil. Diss. Innsbruck 1968. Giraud, Yves, Anne-Marie Clin-Lalande: Nouvelle bibliographie du roman épistolaire en France des origines à 1842. 2e éd. entièrement révue et augmentée. Fribourg 1995 (Seges N. F. 14). [1. Aufl. 1977.] Glaser, Hermann: Briefroman. Exempla. In: Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Hg. v. Klaus Beyrer u. Hans-Christian Täubrich. Heidelberg 1996 (Kataloge der Museumsstiftung Post und Telekommunikation 1), S. 207–217. Guenther, Beatrice M.: Letters Exchanged Across Borders. Mme de Staël’s »Delphine« and the Epistolary Novels of Juliane von Krüdener and Sophie Mereau. In: The Comparatist 22 (1998), S. 78–90. Hagen, Kirsten von: Intermediale Liebschaften: Mehrfachadaptionen von Choderlos de Laclos’ Briefroman »Les liaisons dangereuses«. Tübingen 2002 (Siegener Forschungen zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft 15). Heckendorn Cook, Elizabeth: Epistolary Bodies. Gender and Genre in the Eighteenth-Century Republic of Letters. Stanford (California) 1996. Heilmann, Markus: Die Krise der Aufklärung als Krise des Erzählens. Tiecks »William Lovell« und der europäische Briefroman. Stuttgart 1992 (Germanistische Abhandlungen 74). Herman, Jan: Le mensonge romanesque. Paramètres pour l’étude du roman épistolaire en France. Amsterdam / Leuven 1989 (Faux titre 40). Hohendahl, Peter Uwe: Empfindsamkeit und gesellschaftliches Bewußtsein. Zur Soziologie des empfindsamen Romans am Beispiel von La Vie de Marianne, Clarissa, Fräulein von Sternheim und Werther. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), S. 176–207. Hughes, H[elen] S[ard]: English Epistolary Fiction Before »Pamela«. Chicago 1923. Jauß, Hans Robert: Rousseaus ›Nouvelle Héloise‹ und Goethes ›Werther‹ im Horizontwandel zwischen französischer Aufklärung und deutschem Idealismus. In: H. R. J.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1992, S. 585–653. Jensen, Katharine Ann: Writing love. Letters, women, and the novel in France, 1605–1776. Carbondale, Edwardsville (Illinois) 1995 (Ad feminam – women and literature). Jeske, Wolfgang: Der Briefroman. In: Formen der Literatur in Einzeldarstellungen. Hg. v. Otto Knörrich. Stuttgart 1981 (Kröners Taschenausgabe 478), S. 49–57. Jost, François: L’Évolution d’un genre. Le Roman épistolaire dans les lettres occidentales. In: F. J.: Essais de littérature comparée. Europeana II. Première série. Fribourg / Urbana (Illinois) 1968, S. 88–179.

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Gideon Stiening / Robert Vellusig

– Essai bibliographique du roman épistolaire. In: F. J.: Essais de littérature comparée. Europeana II. Première série. Fribourg / Urbana (Illinois) 1968, S. 380–402. – Le roman épistolaire et la technique narrative au XVIIe siècle. In: Comparative Literature. Matter and Method. Ed. with Introductions by A. Owen Aldridge. Urbana (Illinois) 1969, S. 175–205. – The Epistolary Novel. An Unacted Drama. In: Literary Theory and Criticism. Festschrift René Wellek. Hg. v. Joseph P. Strelka. Bd. 1. Bern [u. a.] 1984, S. 335–350. Kany, Charles E[mil]: The Beginnings of the Epistolary Novel in France, Italy, and Spain. Berkeley 1937. Kapaun, Gisela Elisabeth: The Role of the Fictive Readers in the Epistolary Novel of the 18th Century. Phil. Diss. Los Angeles 1985. Kayser, Wolfgang: Die Anfänge des modernen Romans im 18. Jahrhundert und seine heutige Krise. In: DVjs 28 (1954), S. 417–446. Kimpel, Dieter: Entstehung und Formen des Briefromans in Deutschland. Interpretationen zur Geschichte einer epischen Gattung des 18. Jahrhunderts und zur Entstehung des modernen deutschen Romans. Phil. Diss. Wien 1961. Kloocke, Kurt: Formtradition – Roman und Geschichte: dargestellt am Beispiel des Briefromans. In: Arbeitsbuch Romananalyse. Hg. v. Hans-Werner Ludwig. Tübingen 61998 (Literaturwissenschaft im Grundstudium 12), S. 189– 207. Koepke, Wulf: Epistolary Fiction and Its Impact on Readers. Reality and Illusion. In: Aesthetic Illusion. Theoretical and Historical Approaches. Hg. v. Frederic Burwick u. Walter Pape. Berlin, New York 1990, S. 263–274. Kroll, Renate: Der Briefroman als Verdoppelung und Spiegelung des eigenen Selbst. »Lettres« und »Lettres d’une Péruvienne« der Madame de Graffigny. In: Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Hg. v. Michaela Holdenried. Berlin 1995, S. 95–108. Küpper, Joachim: ›Politische Romantik‹. Ugo Foscolos Ultime lettere di Jacopo Ortis. In: Poetica 30 (1998), S. 98–128. [Auch in: J. K.: Zum italienischen Roman des 19. Jahrhunderts. Foscolo. Manzoni. Verga. D’Annunzio. Stuttgart 2002, S. 17–51.] Lehmann, Christine: Das Modell Clarissa. Liebe, Verführung, Sexualität und Tod der Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991 (Metzler Studienausgabe). Leopold, Keith: Ricarda Huch’s Der letzte Sommer. An Example of Epistolary Fiction in the 20th Century. In: K. L.: Selected Writings. Hg. v. Manfred Jurgensen. New York [u. a.] 1985, S. 69–90. Liebrand, Claudia: Briefromane und ihre »Lektüreanweisungen«. Richardsons Clarissa, Goethes Die Leiden des jungen Werthers, Laclos’ Les liaisons dangereuses. In: Arcadia 32 (1997), H. 2, S. 342–364. Mandelkow, Karl Robert: Der Briefroman. Zum Problem der Polyperspektive im Epischen. In: Neophilologus 44 (1960), 200–208.

Forschungsliteratur

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Manger, Klaus: Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland. Frankfurt a. M. 1991 (Das Abendland N. F. 18). – Sibi res non se rebus. Zum Anspruch von Wielands Aristipp. In: Der unzeitgemäße Held in der Weltliteratur. Hg. v. Gerhard R. Kaiser. Heidelberg 1998, S. 85–96. Marx, Anna: Das Begehren der Unschuld. Zum Topos der Verführung im bürgerlichen Trauerspiel und (Brief-)Roman des späten 18. Jahrhunderts. Freiburg i. Br. 1999. – Gefälschte Präsenz. Zur Dissimulation weiblicher und männlicher Wunschproduktionen im Medium des Briefromans (Rousseau, La Roche, Laclos). In: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz. Hg. v. Doerte Bischoff u. Martina Wagner-Egelhaaf. Freiburg i. Br. 2003, S. 365–388. Mattenklott, Gert: Briefroman. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 4: Zwischen Absolutismus und Aufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang 1740–1786. Hg. v. Ralph-Rainer Wuthenow. Reinbek b. H. 1980 (rororo 6253), S. 185–203. – Briefroman. In: Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. v. Walter Killy. Bd. 13: Begriffe, Realien, Methoden. Hg. v. Volker Meid. Gütersloh, München 1992, S. 129–132. Meier, Franz: Die Verschriftlichung des Gefühls im englischen Briefroman des 18. Jahrhunderts: Richardsons Pamela. In: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Renate Stauf, Annette Simonis, Jörg Paulus. Berlin, New York 2008, S. 273–291. Miller, Norbert: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968 (Literatur als Kunst), S. 137–214. Moravetz, Monika: Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Héloise und Laclos’ Liaisons Dangereuses. Tübingen 1990 (Romanica Monacensia 34). Müller, Lothar: Herzblut und Maskenspiel. Über die empfindsame Seele, den Briefroman und das Papier. In: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Hg. v. Gerd Jüttemann, Michael Sonntag, Christoph Wulf. Weinheim 1991, S. 267–290. Neuhaus, Volker: Typen multiperspektivischen Erzählens. Köln, Wien 1971 (Literatur und Leben N. F. 13), S. 32–74. Pabst, Esther Suzanne: Die Erfindung der weiblichen Tugend. Kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007. (Ergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung N. F. 12) Pankow, Edgar: Brieflichkeit. Revolutionen eines Sprachbildes. Jacques-Louis David, Friedrich Hölderlin, Jean Paul, Edgar Allan Poe. München 2002. Peitsch, Helmut: »Wir sind hier nicht auf dem Theater«. A. H. J. Lafontaines politischer Briefroman »Klara du Plessis und Klairant«. In: Der deutsche Roman der Spätaufklärung. Fiktion und Wirklichkeit. Hg. v. Harro Zimmermann. Heidelberg 1990, S. 195–216.

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Gideon Stiening / Robert Vellusig

Perry, Ruth: Women, Letters, and the Novel. New York 1980 (AMS Studies in the Eighteenth Century 4) Petry, Uwe: »... laß das Büchlein deinen Freund sein«. Literatur als Medium im Briefroman bei Goethe, Rousseau und Foscolo. In: »Es gilt am Ende doch nur vorwärts!« 25 Jahre Wetzlarer Goethe-Gesellschaft. Hg. v. Manfred Wenzel. Wetzlar 1999, S. 76–91. Picard, Hans Rudolf: Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts. Heidelberg 1971 (Studia Romanica 23). Richter, Virginia: Gewaltsame Lektüren. Gender-Konstitution und Geschlechterkonflikt in Clarissa, Les Liaisons dangereuses und Les Infortunes de la vertu. München 2000. Rosbottom, Ronald C.: Motifs in Epistolary Fiction: Analysis of a Narrative Sub-genre. In: L’Esprit Créateur 17 (1977), S. 279–301. Rousset, Jean: Une forme littéraire: le roman par lettres. In: J. R.: Forme et signification. Essais sur les structures littéraires de Corneille à Claudel. Paris 1962, S. 65–108. Rueda, Ana: Cartas sin lacrar. La novela epistolar y la España Ilustrada 1789– 1840. Madrid, Frankfurt a. M. 2001. Runge, Anita: Literarische Praxis von Frauen um 1800. Briefroman, Autobiographie, Märchen. Studien zu Caroline Auguste Fischer, Johanna Isabella Eleonore von Wallenrodt und Benedikte Naubert. Hildesheim, New York 1997 (Germanistische Texte und Studien 55). Sauder, Gerhard: Briefroman. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Gem. mit Harald Fricke [u. a.] hg. v. Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, S. 255–257. Scharnowski, Susanne: Emphase und Skepsis. Ludwig Tiecks »William Lovell« und Clemens Brentanos »Godwi« als Briefromane. In: Wirkendes Wort 40 (1990), S. 22–32. – Ein wildes gestaltloses Lied. Clemens Brentanos »Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter«. Würzburg 1996 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 184). Schmidt, Erich: Richardson, Rousseau und Goethe. Ein Beitrag zur Geschichte des Romans im 18. Jahrhundert. Jena 1875. [ND 1924.] Schöne, Albrecht: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hg. v. Herbert Singer u. Benno von Wiese. Köln, Graz 1967, S. 193–229. Schücking, Levin L.: Die Grundlagen des Richardson’schen Romans. I und II. In: GRM 12 (1924), S. 21–42 und 88–110. Singer, Godfrey Frank: The Epistolary Novel. Its Origin, Development, Decline, and Residuary Influence. Philadelphia (Pennsylvania) 1933. [ND New York 1963.] Specht, Benjamin: Fiktionen von der Einheit des Wissens. Achim von Arnims Meteorologie-Projekt und Hollin’s Liebeleben (1802) im Kontext der frühromantischen ›Enzyklopädistik‹. In: KulturPoetik 9 (2009), H. 1, S. 23–44.

Forschungsliteratur

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Stackelberg, Jürgen von: Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 293–309. Stackelberg, Jürgen von: Briefroman. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. v. Dieter Lamping in Zusammenarbeit mit Sandra Poppe. Stuttgart 2009, S. 84–95. Stiening, Gideon: Briefroman und Empfindsamkeit. In: Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. Hg. v. Klaus Garber u. Ute Széll. München 2005, S. 161–190. Stiening, Gideon: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Hölderlins Briefroman »Hyperion oder der Eremit in Griechenland«. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 105). Striedter, Anna Kuntz: Women Writers and the Epistolary Novel. Gender, Genre, and Ideology in Eighteenth Century Fiction. Phil. Diss. San Diego 1994. Takeda, Arata: Die Erfindung des Anderen. Zur Genese des fiktionalen Herausgebers im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2008 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 656). Tarot, Rolf: Drama – Roman – Dramatischer Roman: Bemerkungen zur Darstellung von Unmittelbarkeit und Innerlichkeit in Theorie und Dichtung des 18. Jahrhunderts. In: Momentum dramaticum. Festschrift Eckehard Catholy. Hg. v. Linda Dietrick u. David G. John. Waterloo (Ontario) 1990, S. 241– 269. Ter-Nedden, Gisbert: Die Unlust zu fabulieren und der Geist der Schrift. Medienhistorische Fußnoten zur Krise des Erzählens im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 32/33 (1997/98), S. 191–220. Touaillon, Christine: Briefroman. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hg. v. Paul Merker u. Wolfgang Stammler. Bd. 1. Berlin 1925/26, S. 150–153. Vedder, Ulrike: Geschickte Liebe. Zur Mediengeschichte des Liebesdiskurses im Briefroman »Les Liaisons dangereuses« und in der Gegenwartsliteratur. Köln, Wien 2002. (Literatur – Kultur – Geschlecht G. R. 24). Versini, Laurent: Laclos et la tradition. Essai sur les sources et la technique des »Liaisons dangeureuses«. Paris 1968. Vinken, Barbara: Unentrinnbare Neugierde. Die Weltverfallenheit des Romans: Richardsons Clarissa, Laclos’ Liaisons dangereuses. Freiburg i. Br. 1991 (Litterae 14). Voss, Ernst Theodor: Erzählprobleme des Briefromans, dargestellt an vier Beispielen des 18. Jahrhunderts. Sophie La Roche, »Geschichte des Fräulein von Sternheim«, Joh. Wolfg. Goethe, »Die Leiden des jungen Werther«, Joh. Timoth. Hermes, »Sophiens Reise von Memel nach Sachsen«, Christoph Martin Wieland, »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«. Phil. Diss. Bonn 1960.

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Gideon Stiening / Robert Vellusig

Voßkamp, Wilhelm: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: DVjs 45 (1971), S. 411–425. Warning, Rainer: Schreibendes Imaginieren: Glücksphantasien des Briefromans. Richardson / Rousseau / Laclos. In: Aufklärung. Hg. v. Roland Galle u. Helmut Pfeiffer. München 2007 (Romanistisches Kolloquium 11), S. 375–403. Watson, Nicola J.: Revolution and the Form of the British Novel, 1790–1825. Intercepted Letters, Interrupted Seductions. Oxford 1994. Watt, Ian: The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding. Berkeley (California) 1957. [Dt. unter dem Titel: Der bürgerliche Roman. Aufstieg einer Gattung. Defoe – Richardson – Goethe. Aus dem Engl. v. Kurt Wölfel. Frankfurt a. M. 1975 (stw 78).] Weymar, Ilse: Der deutsche Briefroman. Phil. Diss. Hamburg 1942. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. Paderborn 2008 (Trajekte). Wolpers, Theodor: Samuel Richardson. Clarissa. In: Der englische Roman. Vom Mittelalter bis zur Moderne. Hg. v. Franz K. Stanzel. Bd. 1. Düsseldorf 1969, S. 144–197 und S. 400–406. Writing the Female Voice. Essays on Epistolary Literature. Ed. by Elizabeth C. Goldsmith. Boston 1989. Würzbach, Natascha: Die Struktur des Briefromans und seine Entstehung in England. Phil. Diss. München 1964. Zaczek, Barbara M.: Censored Sentiments. Letters and Censorship in Epistolary Novels and Conduct Material. Newark (Delaware) 1997.

Personenregister

Abraham a Sancta Clara 296 Addison, Thomas 22 Aelius Donatus 118f. Albrecht, Johann Friedrich Ernst 223 Alfieri, Vittorio 285, 290 Anne I. (Großbritannien) 26 Antisthenes 226 Apollonios von Rhodos 114 Aristipp 226, 228 Aristophanes 253 Aristoteles 57, 87, 97, 253 Arnim, Achim von 17, 261–277 Arnold, Gottfried 137 Astell, Mary 26 Augustinus 23, 104, 108f. Austen, Jane 31, 52

Campe, Julius 307 Cavendish, Margaret 26 Chardin, Jean 15, 35, 37, 40–42, 46f. Charron, Pierre 90 Chateaubriand, François-René de 305 Cicero 23, 226, 258 Corneille, Pierre 101 Cotta, Johann Friedrich 306 Cramer, Carl Gottlob 224

Babo, Josef Marius von 223 Balzac, Honoré de 4, 52, 292 Barker, Jane 27 Barthélemy, Jean-Jacques 229 Bauer, Wolfgang 4 Bayle, Pierre 104, 106, 108 Behn, Aphra 29 Behrisch, Ernst Wolfgang 144, 147 Berkeley, George 61, 64 Biester, Johann Erich 229 Bird, Friedrich 323 Bispink, Franz Heinrich 328 Blanckenburg, Friedrich von 13, 101, 151f., 167f., 170, 186, 243 Boccaccio, Giovanni 115 Bodin, Jean 40 Bopp, Franz 170 Börne, Ludwig 18, 295–315 Böttiger, Karl August 227, 247, 254 Bouterwek, Friedrich 191 Brandes, Ernst 254 Breitinger, Johann Jakob 282 Brentano, Clemens 262f., 267, 269, 271–273, 275f. Brion, Friederike 324 Büchner, Georg 18, 133, 317–337 Büchner, Ludwig 335 Burke, Edmund 120 Burney, Frances 31

Ebeling, Friedrich Wilhelm 322 Eckermann, Johann Peter 132 Eckstein, Ernst 296, 300 Engel, Johann Jacob 13, 151, 168 Esquirol, Jean Etienne Dominique 323 Euripides 112, 114, 253

Dante Alighieri 285f., 290 Defoe, Daniel 38 Descartes, René 62, 64 Diderot, Denis 88–90, 101, 146, 174, 279f. Dinter, Gustav Friedrich 92

Farquhar, George 103 Faßmann, David 328 Fénelon, François 195 Ferguson, Adam 6 Fichte, Johann Gottlieb 267 Fielding, Henry 95, 115, 242 Finch, Anne 27 Flaubert, Gustave 292 Foscolo, Ugo 17, 76, 279–292 Franzos, Karl Emil 296 Frenzel, Karl 296 Friedreich, Johann Baptist 323 Friedrich II. (Preußen) 125 Friedrich Wilhelm I. (Preußen) 125 Fries, Jacob Friedrich 242 Galland, Antoine 47 Gaponenko, Marjana 4 Garve, Christian 146 Gatterer, Johann Christoph 221 Gatza, Mathias 4 Gautier, Théophile 52

372 Gellert, Christian Fürchtegott 54, 87–89, 98, 106, 119, 186, 220 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 21 Goethe, Johann Wolfgang 14, 16f., 18, 66, 94, 100, 122, 129–165, 167, 170– 172, 175, 182, 185, 221f., 263, 283, 301, 329–332, 335 Goeze, Johann Melchior 124, 173 Gorgias von Leontinoi 86 Gottsched, Johann Christoph 108, 173f., 283 Grimm, Wilhelm 169f. Guilleragues, Gabriel Joseph de Lavergne 66, 142 Gurlitt, Johann Gottfried 256 Gutenberg, Johannes 91 Gutzkow, Karl 308, 317, 319, 324 Hanslick, Eduard 296 Hastings, Selina 27 Haydn, Joseph 272 Haywoods, Eliza 29f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 57, 60, 65, 168, 170f., 193, 217 Heidegger, Martin 170 Heine, Heinrich 295, 297, 303, 305, 308–310 Heinroth, Johann Christian August 323 Helvétius, Claude Adrien 224 Herder, Caroline 134 Herder, Johann Gottfried 167, 170, 174, 281f. Hermes, Johann Timotheus 220 Hillebrand, Joseph 242 Hippias von Milet 232 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 333 Hölderlin, Friedrich 4, 9, 55, 63f., 76 Homer 138 Horaz 118f., 227, 256, 258 Hufeland, Christoph Wilhelm 248 Hugo, Victor 305 Humboldt, Wilhelm von 149, 169 Hume, David 58–60, 62, 72, 82 Hutcheson, Francis 54 Iffland, August Wilhelm 90f. Jacobi, Friedrich Heinrich 17, 51, 181– 218 Jacobi, Johann Georg 183 Jaeglé, Minna 324 James, Henry 4, 52 Jean Paul 193, 241, 312 Jerusalem, Karl Wilhelm 154, 157

Personenregister Jung, Alexander 337 Kafka, Franz 85, 317 Kant, Immanuel 9, 51, 54, 61, 70, 80f., 136, 198f., 225, 242, 254 Kayser, Johann Andreas 328 Keller, Gottfried 116 Kennicot, Benjamin 31 Kestner, Charlotte 131 Kestner, Johann Christian 135f. Kielmannsegg, Christian Albrecht von 157 Kleist, Heinrich von 170 Klinger, Friedrich Maximilian 225 Klopstock, Friedrich Gottlieb 91, 160, 170, 174, 224, 262, 272 Kotzebue, August Friedrich von 223 Kürnberger, Ferdinand 296 La Roche, Sophie von 32 La Rochefoucauld, François de 90 Laclos, Pierre Choderlos de 4, 69, 81, 275 Lafontaine, August 92, 224 Lambert, Johann Heinrich 174 Lavater, Johann Caspar 145 Lawrence, D. H. 115 Leibniz, Gottfried Wilhelm 50, 57, 62, 111, 257 Lennox, Charlotte 31 Lenz, Jacob Michael Reinhold 165, 319, 321, 324, 327, 329f., 333, 335 Lessing, Gotthold Ephraim 16, 50, 85, 88f., 90f., 95, 100–102, 109–114, 116, 118–122, 124f., 138, 168, 170, 173–176 Lessing, Karl Gotthelf 103 Lichtenberg, Georg Christoph 51 Lindau, Paul 296, 315 Locke, John 55, 57f., 60, 64f., 68, 82 Lowth, Robert 31 Ludwig XIV. (Frankreich) 38, 43 Lukian von Samosata 248 Macaulay, Catherine 54 Macdonald, James 254 Maecenas 256 Makin, Bathsua 26 Manly, Delariviere 29 Mann, Thomas 85–89 Marana, Giovanni Paolo 15, 35, 37f., 42–44, 46f. Marggraff, Hermann 335f. Markoe, Peter 43

373

Personenregister Mayne, Zachary (Pseudo-Mayne) 61 Mayröcker, Friederike 4 Meißner, August Gottlieb 153, 223 Melanchthon, Philipp 62 Mendelssohn, Moses 89, 95, 162f. Menzinger, Stefanie 4 Mereau-Brentano, Sophie 51 Mesmer, Franz Anton 270 Meyern, Friedrich Wilhelm von 328 Michaelis, Johann David 31 Miller, Johann Martin 223 Milton, John 106, 108 Montague, Elizabeth 27 Montaigne, Michel de 27, 90, 195 Montesquieu, Charles de 4, 15, 35–48, 51, 262 Moritz, Karl Philipp 17, 167–178 Müller, Johann Gottwerth 223 Münchhausen, Hieronymus Carl Friedrich von 31 Mundt, Theodor 315 Musäus, Johann Karl August 220, 223 Musset, Alfred de 4, 52 Neiner, Johann Valentin 328 Nicolai, Friedrich 89, 95, 176 Nicole, Pierre 90 Novalis 261, 283 Oberlin, Johann Friedrich 319–312, 324f., 328f., 333 Osborne, Dorothy 25 Ovid 114 Parini, Giuseppe 285 Parry, Edward Abbott 25 Pascal, Blaise 315 Pasqualigo, Alvise 220 Paulus 256 Penn, William 27 Perikles 253 Pétis de la Croix, François 47 Petrarca, Francesco 285–287, 290 Pezzl, Johann 328 Philipps, Katherine 26f. Pindar 138 Pinel, Philippe 323 Platner, Ernst 242 Platon 197, 206, 226, 232, 244, 247, 250, 253–255, 258 Plotin 273 Polgar, Alfred 303 Pope, Alexander 29 Porphyrio 119

Pückler-Muskau, Hermann von 305 Rabener, Gottlieb Wilhelm 54 Ramler, Karl Wilhelm 54, 89 Reinhold, Karl Leonhard 227f., Richardson, Samuel 7, 13–16, 21, 30– 32, 49, 66–72, 82, 85, 87f., 90–92, 94–102, 104–106, 108, 110f., 113– 117, 119–122, 146, 151, 220f., 242, 275, 279 Richter, Joseph 328 Riesbeck, Johann Kaspar 328 Ritter, Johann Wilhelm 270 Rousseau, Jean-Jacques 14f., 31, 49, 54, 66, 68, 70, 76–82, 92, 94f., 156, 190, 213–215, 221, 256, 271, 274, 280– 282, 289 Rowe, Elisabeth Singer 27 Salm, Constance de 142 Salzmann, Christian Gotthilf 223 Saussure, Ferdinand de 169 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 283 Schiller, Friedrich 101, 168, 170, 223, 261, 263f., 272, 275f., 283 Schlegel, August Wilhelm 169 Schlegel, Friedrich 103, 169f., 271, 283 Schlegel-Schelling, Caroline 31 Schmid, Christian Heinrich 89 Schmidt, Arno 226 Schmidt, Julian 322, 336 Schönkopf, Anna Katharina 147 Schulz, Wilhelm 317 Schulze, Ingo 4 Segura, Juan de 220 Senancour, Étienne Pivert de 51 Seneca 88, 114 Seymour, Francis 27 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, Earl of 23f., 244f., 247, 252 Shakespeare, William 171, 174, 190 Smith, Adam 54, 60, 165 Smollett, Tobias 4, 15, 49, 51, 59, 66, 71–76 Sokrates 190, 206f., 228, 230, 232, 251, 253–255, 258 Sophokles 253 Spalding, Johann Joachim 135 Speidel, Ludwig 296 Spieß, Christian Heinrich 153, 223 Spinoza, Baruch de 161, 184, 270, 273 Spitzer, Daniel 296 Starke, Gotthelf Wilhelm Christoph 224 Stein, Charlotte von 131

374 Sterne, Laurence 100 Stoeber, August 319f., 324 Stoeber, Daniel Ehrenfried 320 Stolberg, Auguste zu 139 Suárez, Francisco 62 Sulzer, Johann Georg 173 Swift, Jonathan 115 Tavernier, Jean-Baptiste 38 Taylor, Jeremy 27 Temple, William 25 Terenz 118f. Tetens, Johann Nicolas 81 Thomasius, Christian 24, 242, 253, 255f. Tieck, Ludwig 51, 274, 329 Tillotson, John 106f. Tolberg, Johann Wilhelm 328 Treitschke, Heinrich von 123 Voltaire 95, 103, 122, 124, 224 Vulpius, Christian August 224 Weber, Veit 223 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig 328 Wezel, Johann Karl 61, 242

Personenregister Wieland, Christoph Martin 17, 185, 219–260 Wienbarg, Ludolf 308f. Wilhelmine von Preußen 125 Winckelmann, Johann Joachim 253 Wobeser, Wilhelm Karoline von 224 Wohl, Jeanette 302f., 306f. Wolff, Christian 24, 50, 62, 242 Wondratschek, Wolf 4 Woolf, Virginia 25 Xenophon 229, 244, 250–255 Young, Edward 281 Zedler, Johann Heinrich 24 Zelter, Carl Friedrich 131f. Ziegenhagen, Friedrich Michael 31 Zola, Émile 292 Zschokke, Johann Heinrich Daniel 223