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German Pages 422 [423] Year 2020
Nina Scheibel Ambivalentes Erzählen – Ambivalenz erzählen
Narratologia
Contributions to Narrative Theory Edited by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier, Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik, José Ángel García Landa, Inke Gunia, Peter Hühn, Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin, Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel, Sabine Schlickers
Band 67
Nina Scheibel
Ambivalentes Erzählen – Ambivalenz erzählen
Studien zur Poetik des frühneuhochdeutschen Prosaromans
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort Zugleich Dissertation an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, D61
ISBN 978-3-11-067172-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067258-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067270-1 ISSN 1612-8427 Library of Congress Control Number: 2020930921 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: 3W+P GmbH, Rimpar Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Dank Die vorliegende Studie ist die gekürzte und geringfügig überarbeitete Fassung meiner im September 2017 von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf angenommenen Dissertationsschrift. Mein besonderer Dank gilt allen voran meiner Doktormutter und Betreuerin, Prof. Dr. Ricarda Bauschke-Hartung, die diese Arbeit mit großem Interesse, beständiger Diskussionsbereitschaft und unermüdlichem Engagement begleitet hat. Dabei hat sie mir nicht nur stets den Freiraum gelassen, eigene wissenschaftliche Interessen und Schwerpunkte zu entwickeln, sondern mir auch immer ermöglicht und mich dazu motiviert, diesen nachzugehen und sie zu vertiefen. Ohne ihren Zuspruch, ihr Vertrauen und ihre fachliche Unterstützung wäre diese Arbeit nicht fertiggestellt worden. Sehr herzlich danken möchte ich außerdem Prof. Dr. Silvia Reuvekamp, die nicht nur das Zweitgutachten übernommen, sondern mich von Beginn an bei allen kleinen wie großen Hürden, denen man sich beim Verfassen einer solchen Arbeit ausgesetzt sieht, unterstützt und begleitet hat. Die anregenden Gespräche und ihre konstruktiven Ratschläge haben mich stets motiviert, neue Perspektiven zu entwickeln und über die Gegenstände hinaus zu denken. Den Herausgebern der Reihe danke ich für die freundliche Aufnahme der Studie, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des De Gruyter Verlags für die gute Zusammenarbeit. Insbesondere danke ich auch dem Förderungsfond Wissenschaft der VG Wort für die Übernahme der Druckkosten. Ohne die Unterstützung, die Geduld und den Zuspruch meiner Familie und meiner Freunde wäre diese Arbeit weder fertiggestellt noch veröffentlicht worden. Mein besonderer Dank gilt Katrin auf der Lake, Dr. Veronika Hassel und Lisa Scheibel für ihre intensiven Lektüren, das wiederholte Korrekturlesen und die vielen anregenden Diskussionen. Düsseldorf, im Februar 2020
Inhalt
Einleitung
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9 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen Kontingenz erzählen. Textbefunde im Fortunatus 9 Ambivalentes Erzählen und Ambivalenz erzählen – Überlegungen 24 zur narrativen Praxis und analytischen Konzeptualisierung Ambivalenz im frühneuhochdeutschen Prosaroman – 43 Forschungsstand und Zielsetzung Historische Narratologie – theoretische Positionsbestimmung 62
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79 Zur narrativen Inszenierung von Ambivalenz Ambivalenz und Kohärenz in der gelehrten 81 Reflexionstradition Narrative Verfahren der Ambivalenzerzeugung im 90 Fortunatus Innenweltdarstellung 96 115 Stimme und evaluative Struktur Handlungsmotivierung 130 148 Thüring von Ringoltingen: Melusine Konkurrierende Erklärungsmuster und Pluralität lenkender Instanzen. Zur narrativen Inszenierung von Indifferenz in der Motivierung, Evaluation und Deutung erzählten Geschehens 156 159 Der Jagdunfall Klosterbrand und Tabubrüche 180 Melusine – Ambivalenz als poetisches Programm 218 221 Die narrative Konstruktion der Melusine-Figur 249 Die poetologische Dimension der Melusine-Figur Heinrich Steinhöwel: Apollonius 269 Der topische Kontingenzraum als Ort göttlicher Providenz? Gott, Fortuna und das Meer 283 Apollonius und Tarsia – Ambivalente Figuren, oder: Identität als Performance 315 Zur Komplexität der Figuren(gestaltung) 320
VIII
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Inhalt
Zur narrativen Konstruktion von Identität 335 Die kunst, vom vngefell zu erzählen – poetologische Spiegelungen 351 Ambivalentes Erzählen im frühneuhochdeutschen Prosaroman: Schlussbetrachtung und Ausblick 358
Literaturverzeichnis
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Personen- und Werkverzeichnis
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1 Einleitung Widerspruch, Ambiguität, Polyvalenz, Hybridität, Ambivalenz – diese hier nur exemplarisch genannten Kategorien zielen allesamt auf eine Erfassung, Beschreibung und Analyse von solchen literarischen Phänomenen, in denen sich eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“¹ manifestiert. Ihre terminologische wie konzeptionelle Diversität zeugt von einem ausgeprägten interdisziplinären Interesse an der Thematik, das sich erst in jüngerer Zeit auch in der mediävistischen Forschung beobachten lässt. Während nämlich vermeintliche Inkohärenzen und Inkonsistenzen im Zuge sowohl der breit geführten Alteritätsdebatte als auch einer verstärkten Hinwendung zu narratologischen Fragestellungen schon früh in den Fokus der germanistischen Mediävistik geraten sind,² wurde das literarische Potential von Zwei- oder Mehrdeutigkeiten, von (scheinbaren?) Gegensätzen und Widersprüchen, von Ambiguität und Doppelsinn bisher primär für Einzeltexte erkannt;³ als umfassendere Konzepte, als poetische Prinzipien auch vormodernen Erzählens sind solche Phänomene erst jüngst und nur vereinzelt in den Blick genommen worden. Eine mögliche Ursache dafür mag dabei unter anderem die anhaltende Wirksamkeit jenes ästhetischen Forschungsparadigmas sein, das „Polyvalenz, Mehrdeutigkeit und ‚Offenheit‘“⁴, aber auch Widersprüche und Gegensätze⁵ zu Epochenspezifika der Moderne oder Postmoderne erklärt. Eine Revision dieser Einschätzung intendiert der 2016 erschienene, interdisziplinär ausgerichtete Band Ambiguität im Mittelalter, der sich dezidiert „bewusst intendierten und/oder inszenierten“⁶ Formen von Ambiguität in der vormodernen Literatur widmet und diskutiert, „inwiefern Ambiguität als generelles Signum für die vormoderne Literatur fruchtbar gemacht werden kann.“⁷ Im Gegensatz zu anderen mediävistischen Arbeiten gehen die Herausgeber von einer positiv lizensierten und aus einer effektvollen Inszenierung von Konträrem resultierenden Ambiguität auch in vormoderner Literatur und ihr inhärenten, je
Auge und Witthöft 2016, 2. Diese Formel ist hier ohne Rücksicht auf ihre geschichtsphilosophischen Implikationen im Sinne der Herausgeber des Bandes als Bezeichnung für literarische Phänomene gebraucht, die scheinbar Unvereinbares gleichzeitig ausstellen. Vgl. zur Alteritätsdebatte und zu narratologischen Arbeiten zu Phänomenen der Inkohärenz in der germanistischen Mediävistik die Ausführungen in Kap. 2.2. Vgl. Lienert 2017, 75. Auge und Witthöft 2016, 1. Vgl. Lienert 2017, 69 f. Auge und Witthöft 2016, 2. Auge und Witthöft 2016, 4. https://doi.org/10.1515/9783110672589-001
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eigenen Sinnpotentialen aus.⁸ An möglichen Relationen zwischen Bedeutungskonstitution und spezifischen Formen von Unvereinbarkeit setzt auch das von Elisabeth Lienert initiierte Bremer Explorationsprojekt Widerspruch als Erzählprinzip an: Ausgehend von der Feststellung einer Omnipräsenz von Widersprüchen in der mittelalterlichen Erzählliteratur⁹ möchte es die Erscheinungsformen, Verfahren und Funktionen „von Phänomenen der Unvereinbarkeit, des Widerspruchs und Einspruchs auf und zwischen Erzählebenen“¹⁰ untersuchen und den „Widerspruch als Denk- und Erzählform“¹¹ auch für die Vormoderne etablieren. Beide Ansätze bzw. Forschungsvorhaben fokussieren trotz einer je anderen terminologischen Bestimmung der zu untersuchenden Phänomene, die gleichwohl auf sehr ähnliche Arrangements zu zielen scheinen,¹² die literarischen Potentiale solcher narrativer Inszenierungen und unterstellen ihre produktionsseitige Intentionalität. Diese Einschätzung ermöglicht nicht nur einen gänzlich anderen Blick auf ambige bzw. heterogene Textphänomene und die sie generierenden Verfahrensweisen, sondern eröffnet grundsätzlicher auch eine neue Perspektive auf die Konstitutionsbedingungen und Erzählstrategien vormodernen Erzählens. Die diesen aktuellen Positionen zugrundeliegende Beurteilung von Widerspruch, Ambiguität oder Heterogenität in vormoderner Literatur kennzeichnet auch das vorliegende Untersuchungsvorhaben, das derartige narrative Konstellationen mit dem Begriff der Ambivalenz fasst und als spezifisches Erzählprinzip versteht. Im Fokus steht die narrative Inszenierung ambivalenter Textarrangements im frühneuhochdeutschen Prosaroman¹³, dem zwar stets eine besondere
Vgl. Auge und Witthöft 2016, 5, 7. Vgl. Lienert 2017, 70. Lienert 2017, 79. Lienert 2017, 80. Während Auge und Witthöft 2016, 4 ff., Brüche, Spannungen, Gegensätze und Widersprüche in Erzählstrukturen, Handlungskonstellationen und Figurenkonzeptionen in den Blick nehmen, setzt auch die Untersuchung von Lienert 2017, 71, an dem „Gegeneinander unvereinbarer […] Informationen und Wissensbestände“, an „Unvereinbarkeiten“ und „Inkonsistenzen“ in Figurendarstellung und Handlungsstrukturen an. Seit Jan-Dirk Müllers Forschungsbericht zu Volksbüchern und Prosaromanen ist die Frage, welche Erzählungen zu einer Gattung ‚frühneuhochdeutscher Prosaroman‘ zu zählen seien und welchen Kriterien eine solche Klassifizierung zu folgen hätte, immer wieder diskutiert worden. Nach wie vor scheint Müllers 1985, 1, Definition, es handele sich beim Prosaroman um „größere Prosaerzählungen oder Erzählzyklen überwiegend unterhaltenden Charakters, die im 15. und 16. Jahrhundert entstehen – vielfach als Bearbeitungen älterer Texte –, dann im Druck verbreitet werden und in immer einfacheren Ausgaben die Lektüre zunehmend breiterer Bevölkerungsschichten bis ins 19. Jahrhundert hinein bilden“, die Grundlage auch weiterer Auseinandersetzungen zu bilden (vgl. etwa die ausführlichen Diskussionen dieser Position bei Schnyder 2010a). Zuletzt hat Bertelsmeier-Kierst 2014, 162, unter anderem in Auseinandersetzung mit Müllers
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Studie weitere Kriterien vorgeschlagen, die als „Minimalkonsens“ für eine Bestimmung der zu einer Gattung ‚frühneuhochdeutscher Prosaroman‘ gehörenden Erzählungen gelten sollten: Neben Kennzeichen wie „größere[r] Umfang[]“ und „Prosa“ (163) werden etwa auch die Verschiedenheit der Erzählungen, die Historisierung von Fiktionalem oder aber die Vermittlung von Wissen und unterhaltenden Aspekten als Merkmale aufgenommen. Solche Bestimmungsversuche zeigen bereits an, dass eine Gattung ‚frühneuhochdeutscher Prosaroman‘ gerade durch ihre relative Offenheit und Unschärfe sowie die Diversität ihrer Konstituenten ausgezeichnet zu sein scheint. Bertelsmeier-Kierst 2014, 163, hat diesem Aspekt mit dem Kriterium „hybride Gattungsform, die verschiedene Stofftraditionen und Erzählformen in sich aufnimmt“ Rechnung getragen, bemerkt hat dies freilich bereits Müller 1985, 63: „Gattungskonstitutiv ist als erstes, was scheinbar einem konsistenten Gattungsbegriff am hartnäckigsten entgegensteht, die unterschiedliche überlieferungsgeschichtliche Provenienz“. Jüngst hat Terrahe 2015, 280, die Hybridität der Erzählungen zum Anlass genommen, eine terminologische Differenzierung vorzunehmen: Sie plädiert für die Bezeichnung ‚histori‘, da dies „dem Mischcharakter der Texte Rechnung“ trage und kein festes Gattungsverständnis impliziere, wie es bei dem Begriff ‚Roman‘ der Fall sei. Dieser sei nämlich letztlich Ergebnis einer Applizierung einer aus der neueren Literatur stammenden Kategorie und könne in „der germanistischen Forschung im ungünstigsten Fall dazu führen, dass diese Werke ausschließlich unter literaturwissenschaftlichen Aspekten interpretiert werden“ (278); dies werde aber weder den Erzählungen gerecht, noch könne es ihre vielfältigen Gebrauchsfunktionen, ihr Wirkungsspektrum und ihre Funktionalität fassen. Ihre Feststellung, man verkenne „ihre Konzeption und Gebrauchsfunktion eklatant – man könnte sagen, dass wir sie ihrem Entstehungskontext entreißen – wenn wir sie aus germanistischer Perspektive als ‚Romane‘ oder reine Erzähltexte (also als didaktische, lehrreiche und unterhaltsame Literatur) begreifen“ (278), erscheint dabei nicht nur aufgrund des hier verfolgten Frageinteresses, das nicht auf eine Rekonstruktion der Gebrauchs- und Rezeptionszusammenhänge zielt, problematisch, sondern scheint darüber hinaus auch nicht Ursache der von ihr problematisierten Begrifflichkeit zu sein. Die Hybridität der Erzählungen ist meines Erachtens auch mit dem Begriff ‚frühneuhochdeutscher Prosaroman‘ erfasst, dessen zentrales Merkmal sie ist. Dabei wird mit Müller 1985, 13 f., davon ausgegangen, „daß sich die umfangreicheren Prosaerzählungen als ein Corpus beschreiben lassen, das sich durch Darstellungsmuster, (implizites) Gattungsverständnis, Redeabsicht und Adressatenbezug, schließlich durch ein Bündel möglicher Funktionen gegenüber verwandten Textgruppen […] hinreichend abheben läßt, trotz aller inneren Divergenzen und äußeren Abgrenzungsschwierigkeiten im einzelnen. Es besetzt im System literarischer Gattungen damit den Platz, den vorher die höfisch-heroische Versepik einnahm, später der Roman einnehmen wird.“ Unter ‚frühneuhochdeutschem Prosaroman‘ werden somit jene im 15. und 16. Jahrhundert entstandenen volkssprachigen Prosaerzählungen größeren Umfangs verstanden, die sich trotz – oder gerade wegen – ihrer Hybridität als Gattung bezeichnen lassen. ‚Gattung‘ meint somit gerade kein „definitorisches oder klassifikatorisches“ (Müller 1985, 62) Konzept, sondern wird hier als produktions- wie rezeptionsseitig konventionalisiertes, flexibles, prozessuales und integratives Ordnungsmuster literarischer Werke verstanden. Dieses Verständnis basiert dabei zwar auf der Annahme Müllers 185, 63, dass „Gattungen […] nicht Stand, sondern Prozeß [sind]“, unterscheidet sich aber von dessen Annahme einer zielgerichteten Bewegung in der Entwicklung des frühneuhochdeutschen Prosaromans, wie sie durch die These, „Prosaroman erscheint als ‚Zielform‘“
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Affinität zu den genannten Phänomenen – zu Widerspruch, Mehrdeutigkeit und Ambivalenz – attestiert wurde, der aber weniger aufgrund seiner spezifischen narrativen Struktur und Poetik als vielmehr aufgrund seiner besonderen Relationen zu seinen außerliterarischen Kontexten mit diesen Attributen in Verbindung gebracht worden ist. Nach wie vor lässt sich die Tendenz beobachten, widersprüchliche bzw. ambivalente Phänomene als Ausdruck der vielfältigen Veränderungen am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, als Verweise auf die Prozesse des Wandels in Gesellschaft, Politik, Technik und Religion, auf die institutionellen, sozialen und diskursiven Modifikationen und Neuformationen und nicht zuletzt als Auseinandersetzungen mit einer allumfassenden Erfahrung von Kontingenz zu bewerten.¹⁴ Gerade dieser letzte Aspekt hat zum Teil einige problematische Implikationen hinsichtlich des literarhistorischen und literarästhetischen Status der Erzählungen mit sich gebracht. Lebensweltliche Kontingenzerfahrung fungiert nämlich zuweilen als Erklärung für chaotisch und regellos wirkende Erzählwelten, für paradoxe und heterogene Erzählstrukturen und konträre Sinnentwürfe; die Bestimmung von Kontingenz als die Handlung steuernder Mechanismus, als Erzählprinzip, verkennt aber die Relevanz der narrativen Konstruktion, die eine solche Lektüre, den rezeptionsseitigen Eindruck einer kontingenten Erzählwelt, allererst generiert. Sie verkennt darüber hinaus den einer solchen Gestaltung zugrundeliegenden Reflexionsgrad, die Differenziertheit der Narration und die Intentionalität der Inszenierung ambivalenter Textarrangements. Auch diese narrative Dimension solcher Konstellationen ist aber höchst relevant, möchte man sie nicht ausschließlich auf ihre sozialhistorische und kulturelle, sondern auch auf ihre literarische Signifikanz hin befragen. Ihre Funktionalisierung für eine Reflexion einer kontingenten Erfahrungswelt lässt sich zwar durchaus beobachten, aber weder bloß auf eine solche reduzieren, noch als alleinige Prämisse ihrer Inszenierung verstehen. Obwohl die „forcierte quantitative Aktualisierung [von Formen literarischer Ambiguität, Anm. d.Verf.] […] an kulturelle Kontexte gebunden [ist], die Prozesse der Infragestellung, Reflexion und Kritik von scheinbar Eindeutigem befördern“¹⁵, und der frühneuhochdeutsche Prosaroman durchaus in einem solchen, jene Prozesse fördernden und dynamisierenden kulturellen Kontext zu verorten ist, erklärt sich der literarische Gehalt solcher Aktualisierungen nicht ausschließlich aus ihren kulturellen oder
(64), nahegelegt wird (vgl. zu dem Aspekt einer von Müller suggerierten Teleologie auch Schnyder 2010a, 21). Die Positionen, die eine solche Deutung nahelegen, werden ausführlich in Kap. 2.1 und 2.3 diskutiert. Reuvekamp-Felber 2016, 221.
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auch pragmatischen Rahmenbedingungen¹⁶ – dies schon deshalb nicht, weil Formen literarischer Ambivalenz genuines Merkmal fiktionalen Erzählens sind, eine seiner Grundkonstanten. Aus diesem Grund soll ambivalenten Textarrangements in dieser Arbeit zunächst in ihrer narrativen Faktur, als Textelementen und Erzählbausteinen, begegnet werden. Die Virulenz und Komplexität genannter Phänomene in den frühneuzeitlichen Erzählungen legt nämlich nahe, sie als Elemente eines spezifischen poetischen Programms und als Manifestationen einer besonderen literarischen Ästhetik zu begreifen. Neben der Frage nach der jeweiligen Funktionalisierung ambivalenter Textarrangements gilt es dementsprechend vor allem, die für ihre Konstituierung eingesetzten narrativen Techniken und Erzählstrategien nachzuzeichnen, die konträre Konstellationen generierenden Verfahren zu untersuchen. In der Regel sind jene Arrangements nämlich erst Resultat eines Zusammenspiels von solchen auf verschiedenen Ebenen des Textes wirksamen erzählerischen Verfahren: der Konkurrenz unterschiedlicher Handlungsmotivierungen, der Widersprüche zwischen Erzählerkommentaren und Figurenrede, der Gleichzeitigkeit expliziter und impliziter Wertungen etc. Die vorliegende Untersuchung möchte dabei den Versuch unternehmen, eine erzähltheoretische Kategorie ambivalentes Erzählen für die Beschreibung und Analyse solch interagierender und in dieser Interaktion Ambivalenz konstituierender narrativer Strategien und Erzählverfahren fruchtbar zu machen. Er basiert mithin auf der Annahme, dass ein in der Diskussion um die frühneuhochdeutschen Prosaromane in seiner narrativen Dimension bisher nur wenig beachtetes Phänomen mittels einer solchen interpretatorischen Kategorisierung präzise und zunächst ohne kulturhistorische Implikationen erfasst und beschrieben werden kann und eine Berücksichtigung dieser Kategorie womöglich zu einer Erhellung der Poetik der Romane beitragen könnte. An diesem Vorhaben sind der Aufbau der Arbeit und die Textauswahl orientiert: In einem ersten Kapitel soll in Auseinandersetzung mit einzelnen Forschungspositionen und der daraus abgeleiteten Hypothese der Notwendigkeit einer den narrativen Gehalt berücksichtigenden Interpretationspraxis die analytische Konzeptualisierung der Kategorie Ambivalenz bzw. ambivalentes Erzählen sowie eine Diskussion der diese leitenden methodischen und theoretischen Prämissen erfolgen. Da es für eine Erprobung des interpretatorischen Gewinns einer So etwa Friedrich 2011, 126, der die Relevanz kulturwissenschaftlicher Perspektivierung in der Auseinandersetzung mit der frühneuzeitlichen Erzählliteratur betont und für den frühneuhochdeutschen Prosaroman konstatiert: „Der Prosaroman der Frühen Neuzeit etwa hat weniger als literar- denn als sozialhistorisches Phänomen gewirkt; sein Gehalt erscheint stark von pragmatischen Rahmenbedingungen determiniert.“
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solchen Kategorie wenig ergiebig erscheint, eine möglichst umfassende Zusammenschau verschiedener ambivalenter Textpassagen zu erstellen, sollen im Anschluss Formen und Erscheinungsweisen eines ambivalenten Erzählens in der exemplarischen und vertiefenden Analyse von zwei Erzählungen, der Melusine Thürings von Ringoltingen und des Apollonius Heinrich Steinhöwels, untersucht werden. Dieser Analyse der Interaktion verschiedener narrativer Techniken geht die Untersuchung ihrer einzelnen, jeweils konstituierenden Erzählverfahren anhand einer weiteren Erzählung, des Fortunatus, voraus; ihr folgt ein abschließender, die Ergebnisse der Analyse zusammenfassender und den interpretatorischen Mehrwert des ambivalenten Erzählens anhand des Tristrant-Romans diskutierender Ausblick. Bei den hier untersuchten Romanen handelt es sich ausnahmslos um Erzählungen, in denen Ambivalenz im Rückgriff auf verschiedene narrative Verfahren explizit exponiert wird, die aber in genetischer Hinsicht aus völlig verschiedenen Erzähltraditionen stammen.¹⁷ Soll der interpretatorische Nutzen einer Analysekategorie aber nicht nur für einen Einzeltext, sondern für verschiedene Texte oder gar Textgruppen erprobt werden, erscheint es sinnvoll, dies an unterschiedlichem Material, an solchen sich hinsichtlich ihrer Stoffgeschichte und Erzähltradition unterscheidenden aber einer literarischen Reihe¹⁸ angehörenden Texten vorzunehmen. Auf diese Weise lassen sich meines Erachtens der tatsächliche Mehrwert und das Erklärungspotential einer analytischen Kategorie besonders gut ermitteln. Wenn solche aus unterschiedlichen Erzähltraditionen stammenden Erzählungen dabei eine gemeinsame Überlieferungstradition auf Während der anonyme Fortunatus (Erstdruck 1507) auf keine konkrete Vorlage zurückgreift, ist die Melusine (Erstdruck 1456) eine bearbeitende Übersetzung des französischen Versromans Le Roman de Mélusine ou Histoire de Lusignan Coudrettes. Der ebenfalls anonyme Roman Tristrant und Isalde (Erstdruck 1484) ist die Bearbeitung des mittelhochdeutschen Tristrant Eilharts von Oberg. Heinrich Steinhöwels Apollonius-Roman (Erstdruck 1461), dem die spätantike Historia Apollonii regis Tyri zugrunde liegt, verwendet zwei mittelalterliche Quellen, nämlich die Gesta Romanorum und das Pantheon Gottfrieds von Viterbo. Der Begriff ‚literarische Reihe‘ entspricht dem zuvor skizzierten Verständnis von ‚Gattung‘ als flexiblem Ordnungsmuster und ist dabei der Definition Grubmüllers 2006, 13 f., entnommen, die – gleichwohl im Rahmen seiner Überlegungen zur mittelalterlichen Novellistik formuliert – der hier zugrundeliegenden Annahme entspricht: „Sähen wir Gattungen […] hingegen nicht als klassifikatorische Systeme, sondern konsequent als literarische Reihen, von denen zu verlangen ist, daß die auf einander folgenden Elemente oder Stufen sich – kontinuierlich oder auch diskontinuierlich, sogar über lange Distanzen – aber auf jeden Fall erkennbar und beschreibbar aufeinander beziehen […], dann brauchten wir die Kriterien, die für den Anfang galten, am Ende nicht mehr unbedingt zu erwarten, könnten wir Spielformen, Erweiterungen und Umkehrungen eben als Beispiele für den Normalfall historischer Abläufe nehmen: für die Anverwandlung und Umwertung von Traditionen.“
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weisen, wie es bei der Melusine und dem Apollonius der Fall ist, scheint eine Überprüfung potentieller, über mögliche rezeptionsseitige Interessen hinausgehender Gemeinsamkeiten gerade auch im Hinblick auf ihre literarische Gestalt und narrative Faktur besonders vielversprechend.¹⁹ Es liegt somit nahe, diesen beiden Erzählungen verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen. Trotz der Differenzen zwischen dem Fortunatus, der Melusine, dem Apollonius und dem Tristrant sei zuletzt noch ein weiterer Aspekt erwähnt, der sich im weitesten Sinne als verbindendes Merkmal der auf den ersten Blick so unterschiedlichen Erzählungen bezeichnen ließe: ihr zeitgenössischer Erfolg. Jede dieser Erzählungen ist in zahlreichen Auflagen erschienen und hat eine beachtliche Wirkungsgeschichte vorzuweisen.²⁰ Es liegt nahe, dies als Resultat eines spezifischen zeitgenössischen Lesebedürfnisses zu verstehen, dem die Erzählungen jeweils entsprochen zu haben scheinen. Ob der sich in diesem rezeptionsseitigen Interesse manifestierende literarische Reiz letztlich auch auf die besondere narrative Gestaltung der Prosaromane zurückzuführen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Es könnte in Anlehnung an die Überlegungen Joachim Küppers allerdings in Erwägung gezogen werden, ob nicht die – im Folgenden nachzuweisende – Potenzierung der einem jeden literarischen Text inhärenten semantischen Offenheit ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Erzählungen gewesen sein könnte.²¹
Vgl. zur gemeinsamen Überlieferung von Melusine und Apollonius Terrahe 2013a, 40 ff., 47 ff., 54 ff., 57 ff., 109 ff. Aufgrund der gemeinsamen Überlieferung von Melusine und Apollonius und personellen Verflechtungen sowohl zwischen den Autoren als auch den späteren Handschriftenbzw. Druckbesitzern vermutet Terrahe 2013a, 42– 48, ein zeitgenössisches genealogisches Rezeptionsinteresse, das beiden Erzählungen entgegengebracht worden sein könnte: „Auch wenn weder bei der ‚Melusine‘ noch beim ‚Apollonius‘ eine konkrete genealogische Herleitung intendiert gewesen sein mag, konnten doch ‚die wunderbaren Ursprünge einer Adelswelt insgesamt, die bis in die eigene Gegenwart fortdauert‘, eine Faszination ausüben, aus der heraus sich ein Rezeptionsinteresse an derartigen Erzählstoffen durchaus gespeist haben könnte.“ (47) Neben solchen potentiellen rezeptionsseitigen Lektürebedürfnissen und politisch-genealogischen Funktionalisierungen kann die gemeinsame Überlieferung natürlich auch auf anderen möglichen Zusammenhängen, selbst narrativer Natur, beruhen. Vgl. zum Erfolg der einzelnen Romane und ihren Druckauflagen jeweils Bertelsmeier-Kierst 2014, 149 f. (Melusine), 152 (Tristrant und Isalde), 155 (Apollonius), 156 f. (Fortunatus). Für Küpper 2001 liegt die Spezifik des literarischen Diskurses, die Besonderheit von Literatur, in ihrem hybriden diskursiven Charakter begründet, der es ihr ermögliche, an anderen nichtliterarischen Diskursen zu partizipieren, einzelne ihrer Elemente zu inkorporieren und zu inszenieren. Ohne den disziplinären Beschränkungen anderer Diskurse zu unterliegen, sei die literarische Rede der Ort, wo die konstitutiven Elemente der anderen Diskurse in Kontakt zueinander träten, verhandelt und synthetisiert würden. Ermöglicht werde dies durch die spezifische Modalität von Literatur, ihre „figurale[] Narrativität“ (195). Figuralität und Narrativität seien dabei
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funktional aufeinander bezogen: „Jene Mitteilung eines Allgemeinen im Gewande eines Einzelnen, die figurative Dimension als Rekonkretisierung von (allgemeinen) Konzepten, […] läßt sich nur herstellen im Rahmen von Narration.“ (196) In der Ermöglichung jener Hybridisierung disziplinärer Diskurse produzierten Figuralität und Narrativität dabei „jene Merkmale literarischer Rede […], die man gemeinhin als Allusivität, Ambivalenz bzw. Ambiguität, spielerische bis hin zu dekonstruktiven Strukturen qualifiziert, Momente, die man in negativer Würdigung als ‚Verschwommenheit‘, ‚Vagheit‘, in positiver Würdigung als ‚Verdichtung‘, ‚Prägnanz‘ oder ‚Komplexität‘ bezeichnet.“ (196 f.) Der besondere narrative Modus generiere in der Erzeugung solcher Momente mithin einen „semantischen Raum“ (197), der trotz seiner Begrenzung eine Vielzahl potentieller Bedeutungen eröffne, einen Raum des rezeptionsseitigen „Sich-ergehen-Könnens“ (197), einen solchen der „semiotische[n] Elastizität“ (197). Diese gestatte dem Rezipienten, zwei ansonsten nur schwer zu vereinbarende Aspekte zu integrieren, nämlich „den Gestus der abstrahierenden Reflexion und den ‚unscharfen‘, ambiguen […] Modus unseres konkreten Lebens“ (197), „das Ästhetische und die Probleme unseres anderweitigen Lebens und Denkens“ (198) also. Bejaht man die von Küpper im Rahmen seiner Diskussion über das Wesen des Ästhetischen aufgeworfene Frage – nämlich, ob es gerade die „Duplizität von Begrenztheit und (relativer) Freiheit in der Konstitution der Bedeutungen [wäre], was den Kern des Lustvollen ausmacht, das wir bei der Lektüre literarischer Texte empfinden“ (201) – und bewertet man die Offenheit für Heterogenes als Merkmal der Modalität auch vormoderner literarischer Texte (vgl. ReuvekampFelber 2016, 219), auf die sich Küpper dezidiert nicht bezieht (vgl. Küpper 2001, 190, Anm. 11), scheint die den Erzählungen eigene spezifische narrative Aktualisierung und vor allem Potenzierung jenes, einen jeden literarischen Text seit der Antike auszeichnenden Potentials (vgl. Reuvekamp-Felber 2016, 219) eine Relation von narrativer Struktur und rezeptionsseitigem Erfolg durchaus nahezulegen.
2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen Anhand eines aus dem Fortunatus-Roman stammenden Textbeispiels¹ soll im Folgenden die These einer narrativen Exposition von Ambivalenz hergeleitet und in ihrer Relevanz für die Erfassung solcher Textarrangements skizziert werden, die in der Forschung zu den frühneuhochdeutschen Prosaromanen primär als Ausdruck der grundlegenden Veränderungen zu Beginn der Frühen Neuzeit gelesen werden. Die Notwendigkeit einer vorausgehenden Beschreibung und Analyse der jeweiligen narrativen Faktur soll dabei exemplarisch an solchen Szenen des Fortunatus herausgestellt werden, die zwar als Reflexion einer kontingenten Lebenswelt verstanden werden können, in denen aber Kontingenz nicht etwa die Handlung steuert, sondern mittels der narrativen Konstruktion allererst generiert wird. Diese Beobachtung leitet über zu der Konzeptualisierung der für die Identifizierung und analytische Beschreibung spezifischer Textarrangements gewählten Analysekategorie der Ambivalenz bzw. des ambivalenten Erzählens, in deren Rahmen neben einer Diskussion der methodischen Prämissen des Konzepts außerdem eine Auseinandersetzung mit den für diese Fragestellung virulenten theoretischen Ansätzen erfolgt. Nach einem Blick auf den gegenwärtigen Stand der Prosaromanforschung, der primär auf die in diesem Kontext relevanten Ansätze fokussiert, wird das eigene methodische Vorgehen skizziert sowie in der gegenwärtigen Theoriediskussion zur historischen Narratologie verortet.
2.1 Kontingenz erzählen. Textbefunde im Fortunatus Im Anschluss an die Geschichte des gleichnamigen Titelhelden erzählt der Fortunatus in der zweiten Romanhälfte von den Abenteuern Andalosias und seiner Werbung um die Tochter des englischen Königs, Agripina, der es gelingt, dem in Liebe Entbrannten zunächst sein Geldsäckel zu stehlen und in der Folge das Wunschhütlein zu entführen. Die Episode um Verlust und Wiedergewinn der Zaubergegenstände beginnt mit Andalosias Offenbarung seines Geheimnisses, er verrät Agripina die Ursache seines immerwährenden Reichtums (vgl. 522,25 – 522,32), und schildert in der Folge, wie diese mithilfe eines Schlaftrunks das Säckel (vgl. 523,31– 524,12) und später unwissentlich das Wunschhütlein entwenden
Fortunatus, in: Müller 1990. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe im Fließtext mit Seitenzahlund Zeilenangabe in Klammern zitiert. https://doi.org/10.1515/9783110672589-002
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kann (vgl. 534,4– 534,16), sowie seine zunächst misslingenden Versuche, beide Gegenstände zurückzugewinnen. In der Verkleidung eines Kramers kann er ihr schließlich jene Äpfel verkaufen, deren magische Wirkung er zuvor im wilden wald (533,7) am eigenen Leib erfahren hatte (vgl. 535,23 – 536,5) und die auch bei Agripina sofortige Wirkung zeigen – nach ihrem Verzehr wachsen nämlich auch ihr Hörner. Als Erklärung des ihr Zugestoßenen artikuliert sie Folgendes: Jch haltt es sey ayn plag von gott / oder aber es kommet mir von den pflen von damasco (540,7– 540,9). Im Versuch Agripinas, diese plötzliche körperliche Verunstaltung als göttliche Strafe oder aber als Folge des Verzehrs der soeben auf dem Markt erworbenen, eigentlich Schönheit und scharpfe vernunft (539,21– 539,22) verheißenden Äpfel zu erklären, werden zwei Deutungsmuster des Geschehens aktiviert, die aus Figurensicht beide durchaus plausibel erscheinen: Agripina weiß bereits um die magische Beschaffenheit bestimmter Gegenstände, wie etwa um die Kraft des Säckels, auch wurde sie bereits mit unerklärlichen Situationen, wie etwa jenem plötzlichen Ortswechsel zwischen wildem Wald und königlicher Schlafkammer, konfrontiert, von denen sie ganntz bld vnnd muͤd worden (534,19) ist. Die Vermutung, die Äpfel des vngetrew kramer (540,9) könnten Ursache ihrer Entstellung sein, liegt also durchaus im Rahmen der für die Figur subjektiv verfügbaren, auf Erfahrungswerten basierenden Erklärungsmuster. Während der Rezipient an dieser Stelle bereits über die Wirkung der Äpfel und die Existenz eines entsprechenden Gegenmittels informiert ist, erscheint auf Figurenebene auch die von Agripina vorab artikulierte Annahme einer göttlichen Strafe durchaus evident, sofern diese Deutung als Reaktion auf ein sich jedweder säkularen oder rationalen Deutung widersetzendes Geschehen und damit als solche auf ihre spezifische Lage verstanden werden kann. In der erzählten Welt wird Gott von den Figuren stets dann angerufen, wenn sie mit aussichtslosen Situationen oder exzeptionellen Ereignissen konfrontiert sind; auch scheint sich gerade in solchen Fällen göttliche Beteiligung als Erklärungsmodell anzubieten, in denen sich Figuren einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt fühlen. Auch Agripina greift vermehrt auf dieses Deutungsmuster zurück und hofft auf göttlichen Beistand.²
Agripinas Wahrnehmung der eigenen Situation als existentiell bedrohlich zeigt sich etwa darin, dass sie aufgrund der körperlichen Verunstaltung mit dem Gedanken des Suizids spielt (vgl. 540,23 – 540,26) und sich fortan als ain krancke die gern genesen waͤr (546,3) gebärdet. Auch in anderen Situationen, etwa wenn sie ratlos (vgl. 534,9 – 534,12) und verängstigt (vgl. 553,17– 553,21) ist oder aber sich verzweifelt der Ausweglosigkeit ihrer Lage bewusst wird (vgl. 556,12– 556,18), hofft sie auf göttlichen Beistand. Eine solche Anrufung Gottes in Extremsituationen findet sich aber nicht nur bei Agripina, sondern sowohl bei Fortunatus (so etwa bei der Hinrichtung des Hauses Roberti [vgl. 421,23 – 421,26], in der Höhle des heiligen Patricius [vgl. 446,22– 446,23] oder
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Neben dieser situationsspezifischen Erklärung könnte man die von der Figur artikulierte Annahme einer göttlichen Strafe zunächst auch als implizite Reflexion jenes, vielen mittelalterlichen, meist exemplarischen Erzählungen inhärenten Tun-Ergehen-Zusammenhangs³ verstehen, der an anderen Stellen der Erzählung, wie etwa im Pro- und Epilog⁴ oder in einzelnen Erklärungen der Figuren⁵, aufgerufen wird und damit als impliziter normativer Horizont der erzählten Welt verstanden werden kann, auch wenn dieses Erklärungsmodell im Hinblick auf das Figurenbewusstsein nicht als steuernder Bewertungsrahmen zu fungieren scheint. Agripina zieht nämlich in der späteren Beurteilung ihres eigenen Schicksals individuelles Fehlverhalten nicht in Erwägung und versteht ihre körperlichen Missbildungen somit gerade nicht als Resultat ihres falschen Verhaltens gegenüber dem hier explizit als urteilende Instanz auftretenden Andalosia; auch ihre Selbstreflexion ist auf eine Selbstschelte reduziert, in deren Rahmen sie nur
nachdem Lüpoldus den Wirt erschlagen hat [vgl. 459,6 – 459,12]) als auch bei Andalosia (wie beispielweise nach Verlust von Säckel und Hut in der Wildnis [vgl. 534,35 – 535,1; 536,3 – 536,5]). Die Anrufung Gottes in scheinbar aussichtlosen Situationen wurde auch in der Forschung mehrfach konstatiert, vgl. bspw. Müller 1985, 79; Müller 1995, 225 f.; Braun 2001, 82; Friedrich 2011, 149. Vgl. zu diesem Zusammenhang Hübner 2003, 69; vgl. im Anschluss auch Dimpel 2011, 80 f. Hübner 2003, 69, fasst den aus der Religionsgeschichte stammenden Tun-Ergehen-Zusammenhang prägnant zusammen: „Die Welt ist im Lot, wenn gute Taten belohnt und böse bestraft werden; es liegt deshalb nahe, Erfolg als Indiz für Bonität und Mißerfolg als Indiz für moralische Defizite zu verstehen.“ Vgl. zur Relevanz dieses Denkmodells für Verfahren der Sympathiesteuerung und dessen Status im zeitgenössischen kulturellen Wissen auch Dimpel 2011, 80 f. Auch wenn der exemplarische Erzählanspruch, wie er in Pro- und Epilog artikuliert wird, in der Forschung vielfach problematisiert wurde bzw. auch hinsichtlich des Verhältnisses zum Gesamttext noch diskutiert werden muss, wird hier auf einen ersten Blick ein tugendethischer Anspruch bzw. eine strikte Korrelation von Normverstoß und Misserfolg formuliert. Während dies im Prolog zunächst nur anhand einer aus Fortunatusʼ Wahl und dem Ende der Familie – [w]as Fortunatus vnnd nach ym die gedachten seine zwen sün / mit den zwayen klainaten […] auch not vnd arbait byß in iren tod erliten habenn (387,14– 387,17) – abgeleiteten Handlungsaufforderung, nämlich in der Maxime Vnnd in alweg vernunfft vnd weißhait für all schaͤtz diser welt / zu begeren vnd zu erwoͤlen ist (387,18 – 387,19), expliziert wird, bindet der Epilog den Misserfolg und das Ende der Familie ausführlicher an die falsche Wahl des Protagonisten (vgl. 579,25 – 580,10). Indem der englische König, Agripinas Vater, den Arzt ungesehen als Andalosia identifiziert, das Verhalten von Königin und Agripina als falschlichen (550,11) Betrug klassifiziert und im Anschluss mit göttlicher und schicksalhafter Determination des Geschehens argumentiert, wird jener Zusammenhang von Erfolg/Normerfüllung und Misserfolg/Normverstoß aufgerufen (vgl. 550,9 – 550,29). Dass seine Erklärung die eigentlichen Ursachen des Besitzverhältnisses verfehlt, schmälert nicht die Relevanz des artikulierten Grundverständnisses, auch wenn dieses, wie zu zeigen sein wird, in seiner Relevanz für die Gesamterzählung noch diskutiert werden muss. Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 3.2 und 3.3.
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über den Verlust beider einst besessener Zaubergegenstände räsoniert.⁶ Nichtsdestoweniger scheint in dieser Figureninterpretation ein Zusammenhang zwischen individueller Schuldhaftigkeit und göttlicher Bestrafung hergestellt, auch wenn dieser nicht weiter konkretisiert ist. In der ursächlichen Deutung der ihr gewachsenen Hörner scheint Agripina somit eine grundsätzliche providentielle Lenkung des ihr Zugestoßenen durchaus in Betracht zu ziehen. Zugleich liegt für sie eine Verursachung durch die Äpfel im Rahmen des Plausiblen. In der späteren Unterredung der Figur mit dem als Arzt verkleideten Andalosia lässt sich eine ähnliche Beobachtung machen. Indem dieser Agripina wissen lässt, gnaͤdige fraw gehabt üch wol / mit der hilff gots vnd meiner kunst / sol ewer sach bald gGt werden (545,2– 545,3), artikuliert auch er zwei mögliche Ursachen eines Geschehens, nämlich eine religiöser und eine säkularer Natur – wenn auch unter gänzlich anderen Prämissen: Dank der treffenden Antizipation von Agripinas Verhalten – Andalosia schien schließlich gewusst zu haben, dass Agripina die überteuerten, vermeintlich Schönheit und Verstand versprechenden Äpfel kaufen würde⁷ – kann er die Ereignisse natürlich bewusst herbeiführen und
Zwar artikuliert Agripina gegenüber Andalosia das eigene Fehlverhalten (O tugentreicher strenger ritter Andolosia ich bekenn das ich vneerberlich groß vnd schwaͤr wider eüch gethon hab / bitt üch ir woͤllen ansehen die bloͤdigkait / vnwissenhaitt vnd leüchtmuͤtikait so dann von natur mer in dem geschoͤpfft der weiber ist [552,26 – 552,30]), dieses Eingeständnis der eigenen Schuld ist aber nur ein vermeintliches, sofern eine Innensicht über ihre tatsächliche Beurteilung der Situation informiert: Darbey Agripina wol mercken kund / das ym das huͤttlin auß der massen lieb was / vnnd durch krafft des huͤttlins sy allso zway mal weg gefuͤret was worden / grißgramet in ir selbs vnd gedacht ir / nun hastu die baide klainat in deinem gewaltt gehebt vnd hast sy nit künden behaltten (553,26 – 553,30). Sie stellt hier also keinen expliziten Zusammenhang zwischen ihrer Missbildung und dem eigenen Fehlverhalten her, das allerdings von Andalosia zum Anlass genommen wird, sich zur richtenden Instanz zu erheben und dieses zu sanktionieren: der schad / schand vnnd laster / so mir von eüch zugestannden ist / ist noch so gross in meinem hertzen / das ich eüch vngeloͤtzt nit kan lassen (553,4– 553,7). In dieser Äußerung wie auch in der Verkündung ihres Urteils (kurtz ab / du mGst die hoͤrner haben weil du lebst [554,3]) werden an dieser Stelle also individuelles Handeln und dessen Konsequenzen in Relation zu einem Normensystem gesetzt, auch wenn die sanktionierende Instanz eine Figur der erzählten Welt, nämlich Andalosia selbst, ist. Die Erklärung der körperlichen Verunstaltung als Resultat eigenen Fehlverhaltens wird von dieser Figur auch im Gespräch mit der Zofe Agripinas artikuliert (es kommet von dem so ain mensch ainem andern menschen ain grosse vntrew thGtt / vnnd sich groͤßlichen der boßhaitt erfrewet / die selben freüd nit offenlichen getar volbringen [543,7– 543,10]); der Tun-Ergehen-Zusammenhang wird somit gewissermaßen auf Figurenebene zu einem Erklärungsmuster funktionalisiert und damit als Bewertungshorizont präsent gehalten. Zwar informiert der Text zunächst nicht über Andalosias Intention, die Äpfel für eine Überlistung Agripinas einzusetzen, nichtsdestoweniger scheint er ihr Verhalten antizipiert zu haben: Auf die Erklärung, die Äpfel geben ainem menschen schoͤne vnd darzu scharpfe vernunft (539,21– 539,22), kauft sie zwei Äpfel und isst im Anschluss auch tatsächlich sogleich beide (vgl. 539,26).
2.1 Kontingenz erzählen. Textbefunde im Fortunatus
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weiß dementsprechend genau, dass es zunächst nur die von ihm gepflückten Äpfel sind, die die Hörner verschwinden lassen können. Die gleichzeitige Nennung von got und kunst dient auch – ungeachtet des Wissensvorsprungs der Figur und des an ihrer Seite situierten Rezipienten – nicht der ursächlichen Deutung eines Geschehens, sondern der Erklärung eines erst noch folgenden Ereignisses. Da sowohl Andalosia als auch der Rezipient wissen, dass es hier weder Gott noch Kunst, sondern erst einmal die Äpfel sind, die den von Andalosia intendierten Wiedergewinn der Zaubergegenstände gelingen lassen, erscheint die Nennung möglicher Wegbereiter der angeblich anvisierten Heilung Agripinas völlig irrelevant. In dieser grundsätzlichen Entbehrlichkeit reflektiert sie aber gerade die Prominenz solcher Erklärungsversuche auf Figurenebene, die trotz der Annahme providentieller Lenkung immer auch säkulare Faktoren miteinbeziehen.⁸ Andalosias Rede fungiert somit als implizite Pointierung der in der erzählten Welt präsenten figuralen Deutungsmuster von Welterleben. Während providentielle Lenkung in der Deutung der Figuren folglich nur als eine von zwei möglichen Ursachen sowohl geschehener als auch künftiger Ereignisse angenommen und in ihrem Einfluss auf den Lauf der Dinge somit offenbar als marginal eingeschätzt wird, wird die Relevanz göttlichen Wirkens für das Geschehen in der erzählten Welt in dieser Episode allerdings nicht gänzlich negiert. Zwar erscheint ein zumindest prinzipiell göttliche Macht verheißendes Phänomen auf die Wirkung von Äpfeln reduziert, so dass zunächst der Eindruck einer Marginalisierung Gottes entstehen könnte. Allerdings wird die Existenz und magische Kraft der Wunderäpfel explizit auf Gott zurückgeführt und dieser somit als Letztinstanz bestätigt.⁹ Die skizzierten Deutungen des Geschehens auf Figurenebene wurden aufgrund der beschriebenen Gleichzeitigkeit säkularer und religiöser Erklärungsmodelle und der in ihnen beobachteten Marginalisierung Gottes als Auseinandersetzung mit jenem, den Übergang von Mittelalter zu Früher Neuzeit prägenden Funktionswandel und damit als Verweis auf einen Bedeutungsverlust des religiösen Diskurses verstanden. So beobachtet etwa Müller in jenen Szenen und solchen, in denen göttliche Macht auf Bereiche elementarer menschlicher Erfahrung eingeschränkt wird, Ansätze einer funktionalen Ausdifferenzierung, wie
Vgl. dazu etwa auch den Ratschlag von Agripinas Zofe, man solle nicht nur Gott mit Opfern gnädig stimmen, sondern sich überdies auf die Suche nach guten Ärzten machen (vgl. 540,29 – 541,6). Auch hier handelt es sich um ein erst noch eintretendes Ereignis. Zwar wird dies nur auf Figurenebene, aber hier von einem Eremiten formuliert: der schoͤpffer / der himel vnd erd beschaffen hatt / vnd alles so darinnen ist / hat auch dise baͤm erschaffen vnd geschoͤpfft vnnd yn die natur also gegeben / das sy solliche frücht bringenn (537,1– 537,5).
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
sie Niklas Luhmann für die Genese moderner Gesellschaften beschrieben hat.¹⁰ Diese These bestimmt auch Brauns Lektüre des Fortunatus, obgleich er jene Ausdifferenzierungsprozesse nicht nur für den Teilbereich der Religion nachzuweisen sucht, sondern auch andere Bereiche, wie etwa Politik, Recht und Wirtschaft, in den Blick nimmt und darüber hinaus die Folgen einer solchen Ausdifferenzierung „für die Identität der Betroffenen“¹¹ nachzeichnen möchte.¹² Neben Braun und Müller hat auch Friedrich solche Stellen als Reflex epistemischer Veränderungen bewertet: „Zwar wird Gott von Seiten der Figuren immer wieder als maßgebliche Instanz angerufen, doch wirken real schon andere Kräfte. […] Für die Frage nach der Episteme bedeutet dies, dass die religiöse Wissensordnung durch andere Ordnungen unterwandert wird“¹³. In diesen Auseinandersetzungen mit dem Fortunatus dominiert folglich die Annahme einer Literarisierung diskursiver Wandelerscheinungen.¹⁴
Vgl. Müller 1995, 226. Mit dem Entwurf einer sich auflösenden ständischen Gesellschaft fange der Fortunatus Tendenzen der Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme ein, die sich insbesondere auch in der Verselbstständigung des Funktionsbereichs Religion zeigten: „Gott wird auf ein Teilsystem eingeschränkt, in dem er seine Macht behält und von den Menschen anerkannt wird. Jenseits dieses Bereichs gelten in Wahrheit andere Instanzen“. Braun 2001, 36. Vgl. Braun 2001, 34 ff., 52 ff. Mehr als andere Romane der Zeit fange der Fortunatus „die heterogenen Tendenzen seiner Epoche ein“ (52), verarbeite den Zerfall der ständisch organisierten Gesellschaft und diskutiere zugleich anhand der die Moral verabschiedenden Instanz des Geldes die Prämissen einer gesellschaftlichen Ausdifferenzierung. Mit Blick auf den gesamten Roman konstatiert auch Braun jenen, bereits von Müller thematisierten Relevanzverlust des Religiösen, „den Verlust metaphysischer Geborgenheit“ (82). Szenen wie die bereits skizzierten, in denen Figuren Gott als nur eine von zwei möglichen Geschehensursachen nennen, zeigten nach Braun den – auch realhistorisch – abgesunkenen Stellenwert der Religion (vgl. 84).Vgl. zur historischen Ausdifferenzierung der verschiedenen Teilbereiche Braun 2001, 104 ff. Auch die frühere Forschung zum Fortunatus hat verschiedentlich solche Ausdifferenzierungsprozesse beschrieben: So haben beispielsweise Kremer und Wegmann 1985, 161, ebenfalls in Anlehnung an Luhmanns gesellschaftliche Differenzierungstypen die Leitdifferenz von Geld und Ehre nachzuweisen versucht, die die alte, dem traditionellen moralisch-theologischen System verpflichtete Differenz von Weisheit und Reichtum ablöse und als Orientierungsangebot in einer historischen Übergangssituation diene. So versuche der Roman am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit „angemessene Verhaltensmöglichkeiten zu entwerfen, tragfähige Orientierungsmuster zu erarbeiten, die der frühkapitalistischen Phase der frühen Neuzeit taktisch angemessen erscheinen.“ Vgl. zur Kritik an der These einer funktionalen Ausdifferenzierung Kellner 2005, 314, Anm. 22. Friedrich 2011, 141. An einer solchen Pluralisierung schicksalsmächtiger Instanzen werde laut Friedrich 2011, 140, darüber hinaus auch der zeitgenössische Rationalisierungsprozess vorgeführt. Vgl. die Problematisierung dieser Position bei Kellner 2005, 314: „Der ‚Fortunatus‘-Roman setzt die juristischen und theologischen Probleme […] nicht einfach in Literatur um […].Vorgeführt
2.1 Kontingenz erzählen. Textbefunde im Fortunatus
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Neben solchen Interpretationen einzelner Szenen des erzählten Geschehens als Hinweise auf funktionale Ausdifferenzierungsprozesse ist in der FortunatusForschung generell ein besonderer Fokus auf die Verflechtungen zwischen Erzählung und außerliterarischem Kontext gelegt worden. Während in der frühen Forschung bis zu den 1970er Jahren vor allem Fragen nach Motivik, möglichen Quellen und Erzählstrukturen im Vordergrund standen,¹⁵ wurde der Roman in der Folge trotz unterschiedlicher methodischer Prämissen und differenten Fragestellungen häufig als Symptom für die vielfältigen Veränderungen am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit bewertet und ihm vielfach eine besondere epistemologische Relevanz attestiert.¹⁶ Neben Untersuchungen, die den Roman als Reflex gesamtgesellschaftlicher, insbesondere ökonomischer und infolgedessen soziokultureller, Veränderungsprozesse aufgrund des neuen Geld-Mediums gedeutet haben,¹⁷ wurden etwa auch formale wie funktionale Veränderungen in genealogischen Konstruktionen, die am Übergang zur Frühen Neuzeit besonders virulent seien, in den Blick genommen¹⁸ sowie Überlegungen zur Relation von
wird hier nicht die Auflösung der altständischen, genealogisch fundierten Ordnung durch funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft, vorgeführt wird nicht die Ablösung adliger durch bürgerliche Herrschaft und gezeigt wird nicht die Verabschiedung der christlichen Werteordnung durch kaufmännisches Kalkül. […] In all diesen Dichotomien, die in der Forschung immer wieder aufgemacht worden sind, geht der Roman nicht auf.“ Vgl. Roth 2007, 207. Vgl. Dohm 1989, 76 f.; Müller 1990, 992; Müller 2010, 113, 118; Friedrich 2011, 136, 140; Braun 2001, 100 f. Vgl. Bachorski 1983. Bachorski bewertet die Erzählung letztlich als Zeugnis frühkapitalistischer Strömungen, sofern sie die mit einer langsam einsetzenden arbeitsteiligen Produktion auf Basis von Privateigentum einhergehende Vereinsamung des Individuums in einem kapitalistischen System beschreibe und von der Unfähigkeit des Individuums berichte, Sozialbeziehungen und seine Arbeits- und Lebensbedingungen aktiv selbst zu gestalten. Aufgrund dessen schreibt er der Erzählung deutlich antizipatorische Tendenzen zu. Vgl. auch insg. Kremer und Wegmann 1985. Auch in Arbeiten anderer theoretischer Provenienz werden Ansätze dieser Lesart greifbar, etwa bei Buschinger 2010, 77 ff. Hasebrink 2004, 435, argumentiert gegen die These, Geld und Reichtum fungierten „als Symptome neuer ökonomischer Verhältnisse“, und versteht sie vielmehr „als Chiffren einer Formation, in der die Bedeutung von Zeichen und die Konstruktion von Praxis selbst neu verhandelt werden“. Vgl. Kellner 2005, 315, die den Zusammenhang von Genealogie, Macht und ihrer Legitimation untersucht und dabei den Fokus auf Spannungen zwischen Geld und Genealogie bei der „Fundierung von Macht und Ansehen“ legt. Die Prosaromane eigneten sich für eine Untersuchung des Genealogischen vor allem deshalb, weil sie in einer Umbruchszeit, dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, entstehen. Hier besitze das Genealogische zwar enorme Geltung, werde aber gleichzeitig auch zum Gegenstand von Kritik. Überdies weise es häufig Brüche und Widersprüche auf und veranlasse zum Entwurf von Gegenmodellen, wie sie in der Analyse des Romans zeigen
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
Didaxe und Fiktionalität angestellt, die ebenfalls auf der Annahme grundlegender struktureller und epochenspezifischer Veränderungen beruhten.¹⁹ Neben dieser hohen Bedeutung als Reflexionsmedium ist der Erzählung außerdem eine besondere Bedeutsamkeit für die Geschichte der Gattung Roman attestiert worden.²⁰ Erst in jüngerer Zeit hat man der erzählerischen Struktur des Romans – zunächst ungeachtet potentieller sozialgeschichtlicher Implikationen – vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. So wurden beispielsweise neben Techniken der Figurendarstellung²¹ auch die verschiedenen Intertexte, auf die der Fortunatus referiert, und die damit aufgerufenen Implikationen sowie deren Semantisierung
möchte, in dem alte kontinuitätsstiftende Ordnungen des Hauses durch neue, keine Kontinuität mehr garantierende Formen der Ökonomie ersetzt würden; vgl. auch Stange 2010. Vgl. bspw. Dohm 1989, 1, der die explizit formulierten didaktischen Intentionen verschiedener Werke in ihrem Verhältnis zu einem durch die Narration realisierten Fiktionspotential untersucht, das gerade im Kontext des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit im „Bereich epischer Formen und Gattungen durch eine Vielfalt struktureller Umbrüche gekennzeichnet“ sei. Vor der Folie der zeitgenössisch konstatierten Umbruchssituation bewertet er Widersprüche zwischen explizit didaktischen Inhalten und davon abweichenden Handlungskonstellationen sowohl als literarische Autonomisierungstendenzen (vgl. 9) als auch als Ausdruck eines „zumeist verbal verdeckten Konkurrenzverhältnis nebeneinander bestehender Weltauffassungen“ (8). In seiner Lektüre wird denn auch die Fortunatus-Figur zum Signum der epochenspezifischen Vielzahl konkurrierender Handlungsmuster und Sinnorientierungen (vgl. 94), so dass die spezifische Konstruktion der Figur „vor dem Hintergrund der in das Erzählwerk eingegangenen Rahmenbedingungen der im Wandel begriffenen spätmittelalterlichen Ordnungs- und Wertstrukturen“ (95) und damit als zukunftsweisend verstanden werden sollte. Derart beurteilt auch Steinmetz 2004, 221 f., den Fortunatus-Roman, geht aber einen Schritt weiter, indem er ihn als ersten genuin fiktionalen Text beurteilt. Er leitet dies aus einem neuen didaktischen Konzept ab, das nicht auf die Vermittlung einer Lehre ziele, sondern vielmehr versuche, die Zufälligkeit des Geschehens darzustellen, und auf diese Weise Welterfahrung auch im Lektüreakt allererst generiere, so dass der Leser selbst eine Lehre aus dem Text ziehen müsse. So werde „Literatur, wohl zum ersten Mal in deutscher Sprache, ein eigenständiges Medium der Welterfahrung, ein Medium, das Erfahrung nicht einfach nur abbildet und zur Verfügung gestellt [sic], sondern je eigene Erfahrung generiert“. Vgl. Steinmetz 2004, 222 ff.; vgl. Braun 2001, 101. Vgl. Reuvekamp 2014, die mithilfe eines narratologischen Analyseinstrumentariums an Wirkungsweisen von Textarrangements auf Rezipienten ansetzt und zum einen – produktionsseitig – narrative Strategien bei der Darstellung von Figuren und zum anderen – rezeptionsseitig – die damit verbundenen Wirkungsweisen untersucht. Sie kann zeigen, „dass das Erzählen im Fortunatus bei weitem nicht allein darauf ausgerichtet ist, das handlungslogisch relevante oder notwendige Wissen über die Figuren an den Rezipienten zu vermitteln, sondern literarische Verfahren der sukzessiven Informationsvergabe weit darüber hinaus zielgerichtet eingesetzt werden, um kognitive Effekte zu initiieren. Ganz offensichtlich sind die Figuren im Fortunatus keine ausschließlich funktional determinierten Handlungsträger, sondern sie sind auch auf Wirkungen hin konzipiert, die elementare Prozesse der Sinnbildung mitbegründen und steuern.“ (126 f.)
2.1 Kontingenz erzählen. Textbefunde im Fortunatus
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untersucht.²² In einer Vielzahl von Untersuchungen wurde der Fortunatus dabei als Reflexionsmedium einer kontingenten Wirklichkeit beurteilt. Oben skizzierte Äußerungen von Figuren wurden nicht nur als Hinweis auf eine metaphysische Verunsicherung in Folge des Verlustes traditioneller Ordnungen gedeutet, sondern damit auch als Spiegel einer textexternen, diskursiven Auseinandersetzung mit Kontingenz bewertet, deren Erfahrung in der Frühen Neuzeit besonders virulent wurde.²³ Neben Müller, der die Kreisbewegung der Fortuna als Verlaufsmuster der Erzählung identifiziert, dieses aber letztlich als nur scheinbares entlarvt und vielmehr Regellosigkeit und „schiere Kontingenz“²⁴ als die Handlung steuernde Mechanismen bestimmt,²⁵ hat insbesondere Friedrich Kontingenz als zentrales, die Erzählung strukturierendes Element stark gemacht: „Der […] Fortunatus ist ein Text mit ausgemachter Kontingenzthematik.“²⁶ Diese manifestiere sich nicht nur in der besonders ausgeprägten Referenz auf den Fortuna-Diskurs, wie sie sich in Fortuna-Symbolik und der Thematisierung der ihr assoziierten Elemente zeige,²⁷ sondern vor allem auch in der Erzählstruktur, die sich einer exemplarischen Auslegung versage und damit ihrerseits wieder auf andere zeitgenössische Phänomene, wie etwa auf die Auflösung traditioneller Ordnungssysteme, verweise.²⁸ Vgl. Schausten 2006, 209, die untersucht, „auf welche Weise der Prosaroman an die Intertexte mittelalterlicher Romanliteratur anknüpft, genauer: wie der Roman die Identität seines Haupthelden Fortunatus (sowie die seiner Söhne) in Auseinandersetzung mit dem für die älteren Texte konstitutiven Schema etabliert, das Brautwerbungsmuster und genealogisches Paradigma miteinander verknüpft.“ Die im höfischen Roman konstitutive Werbung um eine Dame, die die Funktion des ‚Anderen‘ für die heldische Identität übernehme, werde im Roman durch die Begegnung des Helden mit Fortuna ersetzt. Die damit einhergehende Umcodierung des Paradigmas und dessen Folgen für die Etablierung eines neuen Heldentyps stehen deshalb im Fokus. Vgl. exemplarisch Müller 1985, 96; Friedrich 2011, 127 f.; Schausten 2006, 209; Kaminski 2014. Auch die anderen hier untersuchten Prosaromane sind immer wieder mit dem Phänomen der Kontingenz in Verbindung gebracht worden; die einschlägigen Positionen werden in den jeweiligen Kapiteln diskutiert. Müller 1995, 222. Vgl. Müller 1995, 218 f., 221 f.; Vergleichbares schon bei Müller 1985, 96. Friedrich 2011, 136. Friedrich untersucht in seiner kulturwissenschaftlichen Studie Literatur, und hier insbesondere den Fortunatus, in ihrer Funktion als Reflexionsraum verschiedener diskursiver Formationen, die sich – neben anderen zeitgenössischen Phänomenen – mit Kontingenz oder ihren Versinnbildlichungen auseinandersetzen. So fungiere als Ausdruck jener lebensweltlichen Kontingenzerfahrung in der Erzählung auch das Geld, das Fortunatus an zentraler Stelle aus einer Reihe von Glücksgütern wählt und sich somit für den „wohl wirkungsmächtigsten Kontingenzfaktor seiner Zeit“ (Friedrich 2011, 138) entscheide. Vgl. Friedrich 2011, 137 ff.: „Die Erosion des Moral- und Sozialsystems spiegelt sich im Aufbrechen der exemplarischen Erzählform selbst, durch das zugleich eine traditionelle mittel-
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
Im Rahmen dieser Überlegungen zur literarischen Auseinandersetzung mit einer kontingenten Wirklichkeit wurden in der Erzählung vermehrt Brüche, Widersprüche und Inkohärenzen nachgewiesen sowie die These aufgestellt, dass sich der Text einer einsinnigen Deutung widersetze:²⁹ „Weder dem Weltbild noch der Erzählform liegt eine homogene Absicht, ein gerichteter Sinn zugrunde.“³⁰ Dabei würden solche Brüche und Widersprüche gerade dort greifbar, wo sich – wie etwa in den Figurenreden Agripinas und Andalosias – eine Konkurrenz oder auch Pluralisierung verantwortlicher Instanzen abzeichne, die auf einen Geltungsverlust des Providentiellen sowie eine realhistorische metaphysische Verunsicherung und damit wiederum auf die Erfahrung einer kontingenten Lebenswelt verweise.³¹ Trotz der diesen Ansätzen impliziten Annahme einer sich auf die Textgestaltung auswirkenden außerliterarischen Verunsicherung haben sowohl Müller als auch Friedrich in dieser Konstatierung einer primär außertextuellen, epistemischen Ursache für die figurale Geschehensdeutung auf die Divergenz von Figurenstandpunkten und tatsächlich erzählter Motivierung des Geschehens hingewiesen. So werde etwa die dem Geschehen von den Figuren trotz der genannten Pluralisierung ursächlicher Instanzen in der Regel noch unterstellte providentielle Motivierung über den Erzählverlauf vielfach konterkariert.³² Dieser zeige nämlich die Abkehr von einem final orientierten Erzählen zugunsten einer kau-
alterliche Denkform in Frage gestellt wird.“ (139) Diese Verbindung zwischen Erzählstruktur und Auflösung traditioneller Ordnungssysteme zieht Friedrich auch an anderer Stelle: „Wie die soziale Ordnung nicht mehr fest metaphysisch oder moralisch fundiert ist, so gehen auch der Erzählzusammenhang insgesamt und die einzelnen Binnenerzählungen nicht mehr im Exemplarischen auf. […] Der Text erhält seinen Sinn nicht mehr über eine ihn steuernde Idee.“ (149) Trotz dieser andauernden, sich bis in erzählstrukturelle Momente auswirkenden Thematisierung von Kontingenz würden aber gleichzeitig Strategien der Orientierung geboten, wie sie sich insbesondere in Erfahrung und Rat manifestierten (vgl. 144 f., 150; vgl. zur Bedeutung von Erfahrungswissen und dessen lebensweltlicher Relevanz in der Frühen Neuzeit insgesamt: Friedrich 2012). Vgl. Müller 1985, 86; Müller 2010, 119; Müller 1995, 221; Braun 2001, 100; Mühlherr 1993, 116. Friedrich 2011, 149. Vgl. Friedrich 2011, 134 f., 140 f., 149; Müller 1995, 223. So werde etwa die Annahme der Zofe Agripinas, Gott habe ihr den als Arzt verkleideten Andalosia über den Weg geschickt, über die zuvor angestellte ausführliche Beschreibung seiner Verwandlung in ihrer mangelnden Erklärungskraft offensichtlich gemacht. Auf diese Weise werde nicht nur „[d]ie religiöse Motivierung des Geschehens, wie sie vor allem aus Sicht der Figuren geboten wird, […] in ihrer Ambivalenz durchsichtig gemacht“ (Friedrich 2011, 141), sondern darüber hinaus „ergeben sich immer wieder Brüche zwischen dem, was der Erzähler seinen Figuren als Bewußtsein zuschreibt, und den Gesetzen der Welt, von der er erzählt.“ (Müller 1995, 226)
2.1 Kontingenz erzählen. Textbefunde im Fortunatus
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salen Herleitung der Ereignisse.³³ Auch diese zunächst narrativen Befunde wurden dabei allerdings vor der Folie ihres diskursiven Referenzcharakters interpretiert, nämlich als Ausdruck jenes Bedeutungsverlustes der religiösen Wissensordnung, die über das Erzählverfahren zwar angezeigt, von den Figuren aber noch nicht wahrgenommen werde.³⁴ Trotz der Hinwendung zur Ebene der erzählerischen Vermittlung wurden solche Sequenzen des Romans folglich nicht in ihrer narrativen Faktur und als Resultat bewusster Formung wahrgenommen. Diese skizzierten, für einen Großteil der Forschungstradition exemplarischen Deutungen betrachten den frühneuhochdeutschen Prosaroman, und insbesondere den Fortunatus, somit als primär sozialgeschichtliches Phänomen, dessen kulturelle Signifikanz sich vor allem im Verhältnis zu seiner außerliterarischen Wirklichkeit konstituiere.³⁵ Sie suggerieren dabei ein Verhältnis zwischen literarischem Text und außerliterarischem Kontext, das dem literarhistorischen und literarästhetischen Status der Texte wenig gerecht zu werden scheint, sofern die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs von lebensweltlicher Kontingenzerfahrung und Erzählstruktur nahelegt, dass sich Erfahrungswirklichkeit gewissermaßen unkontrolliert in dieser niederschlägt. Zudem impliziert die These einer grundsätzlichen lebensweltlichen Verunsicherung eine produktionsseitige Irritation oder Überforderung, die sich in der Unmöglichkeit manifestiert, narrative Kohärenz herzustellen und sinnstiftend zu erzählen.³⁶ In dieser Perspektive dokumentieren erzählerische Inkohärenzen, Widersprüche und Brüche dann folglich das Scheitern einer narrativen oder interpretativen Bewältigung von erlebter Wirklichkeit. Dass es sich bei solchen Textstellen aber nicht um ein Irritationsphänomen, sondern vielmehr um eine höchst differenzierte Form der Reflexion handelt, die
Vgl. Müller 1995, 221 f. Dabei ließen die grundsätzlich offene Erzählwelt, die vielen Glückswechsel, keine das Geschehen gänzlich erfassende Sinndeutung mehr zu. Während eine finale Orientierung nämlich doch noch auf eine providentielle Lenkung des Geschehens hindeutete, zeige sich in der Kausalität des Geschehens „die schiere Kontingenz oder auch, in der Vorstellung der Zeit: eine von keiner Providenz gezähmte, sich nirgends zur necessitas des Fatums erhebende Fortuna, auf die sich die Akteure immer wieder neu einzustellen haben.“ (222) Vgl. Friedrich 2011, 141. Pointiert Friedrich 2011, 125 f. Dies legen etwa die Annahmen über die Überlagerung von kausaler und finaler Motivierung nahe: Wenn man die sich einer exemplarischen Deutung widersetzende Erzählstruktur des Fortunatus als „schiere Kontingenz“ (Müller 1995, 222) bezeichnet, eine nicht mehr existente finale Motivierung als Ausdruck des verlorenen Glaubens an providentielle Lenkung versteht und die stattdessen vorzufindende Kausalmotivierung auf die Erfahrung einer regellosen Welt zurückführt, argumentiert man letztlich auf der Prämisse einer grundsätzlichen lebensweltlichen Verunsicherung, einer nicht zu bewältigenden Realität.
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wiederum das Bewusstsein über und die explizite Auseinandersetzung mit jenen außerliterarischen Kontexten voraussetzt, wird ersichtlich, wenn man jener Deutungspraxis eine dichte Beschreibung der narrativen Techniken vorausschickt. Denn Kontingenz wird mithilfe verschiedener narrativer Strategien überhaupt erst exponiert – sie ist dem Erzählverfahren als solchem nicht etwa bereits inhärent und resultiert gerade nicht aus der Unmöglichkeit, Erfahrungswirklichkeit narrativ zu bewältigen. Wie die obigen Überlegungen zu der Episode um Agripina und Andalosia gezeigt haben, wird die eigentlich kausale Herleitung des Geschehens mit einer relativ deutlichen Zuschreibung von Verantwortung für das Zustandekommen der Situation von Deutungen auf Figurenebene konterkariert, die sowohl mit finaler Gerichtetheit als auch mit einem auf Erfahrungswerten basierenden säkularen Erklärungsmuster argumentieren. Die Kausalität des erzählten Geschehens wird dabei nicht nur durch die Darstellung des Ursache-Folge-Verhältnisses markiert, sondern überdies durch die Positionierung des Rezipienten an der Seite der Andalosia-Figur verstärkt: Die Teilhabe an ihren Wahrnehmungen und Reflexionen sowie der Einblick in ihre subjektiven Motive intendieren dabei die spezifische Rezeption der erzählten Handlung als kluge – und vor allem als beabsichtigte und geplante – Überlistung der Agripina-Figur.³⁷ Dass es nun gerade die das Geschehen verantwortende Figur ist, die das zentrale Erzählverfahren zur Sprache bringt, indem sie die in der erzählten Welt präsenten figuralen sowohl auf providentielle Lenkung als auch auf säkulare Ursachen rekurrierenden Deutungsmuster aufgreift, weist die Szene als raffiniertes Spiel mit narrativen Verfahren aus und pointiert die bewusst reflektierende Gestaltung dieser Erzählsequenz. Die Reflexion des narrativen Verfahrens, das an dieser Stelle in der Präsentation konkurrierender Deutungsmuster auf Figurenebene bei gleichzeitig recht eindeutiger Deduktion des Geschehens besteht, durch eine Figur der erzählten Welt erweist sich somit zum einen als poetischer Kunstgriff, verweist zum
Die Überlistung Agripinas durch Andalosia wird ausführlich hergeleitet: Nach dem Verlust des Hütleins wird sein Verzehr der Äpfel, das daraus resultierende Wachstum der Hörner und die Begegnung mit dem Eremiten erzählt, der ihm jene Äpfel gibt, mit deren Hilfe die Hörner wieder verschwinden (vgl. 535,22– 537,1). Im Anschluss wird zwar nicht unmittelbar über seine Intention informiert, mit den Äpfeln Agripina überlisten zu wollen, ein solches Motiv lässt sich aber durch die über eine Innensicht mitgeteilte Reflexion der Figur (Andalosia gedacht als an seinen großsen schaden / vnd gewan etwann manigen apfel daruon dann die hoͤrner wGchßen / vnd nam auch etlich der oͤppfel die dy hoͤrner wider vertryben [537,18 – 538,3]) und seine Sorge, die Äpfel könnten verderben (vgl. 538,30 – 538,32) erschließen. Der Rezipient ist folglich an der Seite der AndalosiaFigur positioniert, folgt dieser gewissermaßen in der Umsetzung der Überlistung und der Antizipation von Agripinas Verhalten (vgl. 539,8 – 539,22), das sich in der Folge tatsächlich realisiert (vgl. 539,22– 539,29).
2.1 Kontingenz erzählen. Textbefunde im Fortunatus
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anderen aber auch auf die – rein innertextuellen – Ursachen jener Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Deutungen: Indem Andalosia zwei potentielle Gründe für die anstehende Heilung Agripinas nennt, rekurriert er auf die beiden zentralen für die Figuren der erzählten Welt subjektiv verfügbaren Erklärungsmuster des Geschehens, die auch Agripina in den divergierenden Interpretationen des ihr Zugestoßenen artikuliert, und die in der Annahme sowohl transzendenter (gott) als auch immanenter Verursachung (kunst) – wenn auch magischer Natur (pflen) – bestehen. Die Ursache ihrer gleichzeitigen Nennung und der Nicht-Hierarchisierung hinsichtlich ihres Erklärungswertes findet sich dabei in der erzählten Welt selbst, in der für die Figuren beide Deutungsmuster Gültigkeit für die Erklärung von Welterleben beanspruchen und darin auch implizit bestätigt werden. Man kann die Rede Andalosias nun vor allem auch deshalb als Reflexion des Erzählverfahrens verstehen, weil auch sie die prinzipielle Gültigkeit von zwei divergierenden Deutungen vorführt, allerdings nicht für die Figuren, sondern für die Ebene der Erzählung: Denn letztlich ist die körperliche Verunstaltung Agripinas eben nicht nur auf die Wirkung der Äpfel zurückzuführen, sondern vielmehr auch auf Gott als verursachende Instanz, denn die Äpfel werden als Teil seiner Schöpfung apostrophiert. Teil derselben und damit folglich ebenfalls göttlichen Ursprungs sind somit auch jene Genesung versprechenden Äpfel, die schließlich nur aufgrund dieser Herkunft eine Heilung ermöglichen, so dass nicht nur der Verweis Andalosias auf die hilff gots berechtigt erscheint, sondern es in Anbetracht des erforderlichen Wissens um die Kraft der Äpfel und die notwendige Anwendung und Verabreichung dieses Zaubermittels letztlich tatsächlich auch menschlichen Handelns, kunst, bedarf. Die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Geschehensdeutungen auf Figurenebene resultiert also zunächst einmal aus der spezifischen Gestaltung der erzählten Welt, in der die divergierenden Interpretationen auf figuralen Erfahrungswerten basieren und darüber hinaus in ihrer grundsätzlichen Gültigkeit durch die Erzählung implizit bestätigt werden. Uneindeutigkeit entsteht hier hinsichtlich des Aufschlusswerts der beiden angestellten Deutungen für die Erklärung des Geschehens für die Figuren selbst, beide möglichen Interpretationen stehen scheinbar gleichberechtigt nebeneinander. Dies als Ausdruck der Unterwanderung der „religiöse[n] Wissensordnung durch andere Ordnungen“³⁸ zu bewerten, liegt erst einmal insofern nahe, als Gott nicht mehr als „maßgebliche Instanz“³⁹ von den Figuren wahrgenommen zu werden scheint. Bei einer solchen Unterstellung gerät aber außer Acht, dass es sich um die Perspektive einer Figur
Friedrich 2011, 141. Friedrich 2011, 141.
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und damit um die eines „textbasierte[n] mentale[n] Modell[s]“⁴⁰ handelt. Die Voraussetzung einer solchen Konstruktion ist aber – möchte man sie nun als Resultat jenes Funktionswandels interpretieren – gerade die Reflexion eines realhistorischen Rationalisierungsprozesses, die Auseinandersetzung mit dem Geltungsverlust des Providentiellen und einer kontingenten Wirklichkeit. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass beiden auf Figurenebene formulierten Deutungsoptionen grundsätzlich Gültigkeit attestiert wird, Kontingenz als Abwesenheit von Ordnung und Notwendigkeit sich gerade in der prinzipiellen Legitimität verschiedener und sich widersprechender Erklärungsmodelle manifestieren kann. Die Figuren mögen, wie Friedrich annimmt, vielleicht blind für die hier reflektierten Veränderungsprozesse sein;⁴¹ gleichwohl könnten sie die Erfahrung von Kontingenz, die mit jener Unterwanderung der religiösen Wissensordnung einhergeht, im Grunde nicht besser versprachlichen: Die Annahme der potentiellen Eignung verschiedener gültiger Erklärungsmuster und die explizite Artikulation konkurrierender Instanzen der Determination pointieren die Abwesenheit von Ordnung, diskursivieren gerade „das unvollständig Bestimmte“⁴², „das Nichtnotwendige: das, was auch hätte nicht sein können oder auch hätte anders sein können“⁴³. Diese Beispiele reflektieren somit zeitgenössische Wirklichkeit, indem sie Widersprüche auf Erzählebene verhandeln. Das, was in der Forschung als Reflex einer allgemeinen lebensweltlichen Verunsicherung, als Scheitern einer narrativen und interpretativen Bewältigung von Kontingenzerfahrung gedeutet wurde, ist nämlich zunächst einmal Ergebnis einer komplexen erzählerischen Gestaltung: Die Pluralisierung schicksalsmächtiger Instanzen und die Gleichzeitigkeit konkurrierender Deutungsmuster resultieren aus einer Erzählstrategie, die durch den differenzierten Einsatz verschiedener narrativer Verfahren Uneindeutigkeit und somit den Eindruck von Kontingenz allererst generiert. Kontingenz steuert nicht die Handlung,⁴⁴ sondern die Handlung exemplifiziert mittels der narrativen Konstruktion Kontingenz. Voraussetzung ist ihre produktionsseitige Reflexion, das Wissen um ihre Konkretisierung in Handlungen wie Zufällen, in der Existenz unbestimmter Alternativen, im potentiellen auch-anders-sein-können. Ihre The-
Reuvekamp 2014, 113. Vgl. Friedrich 2011, 141: „Für die Frage nach der Episteme bedeutet dies, dass die religiöse Wissensordnung durch andere Ordnungen unterwandert wird […]. Während aber die Figuren blind dafür sind, legt das Erzählverfahren die Ablösung offen.“ Makropoulos 1998a, 23. Graevenitz und Marquard 1998, XI. Vgl. Müller 1995, 222.
2.1 Kontingenz erzählen. Textbefunde im Fortunatus
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matisierung ist dabei stets Resultat von Reflexion.⁴⁵ Auch bei Friedrich wird der literarische Text, der Fortunatus, zwar explizit als „Reflexionsraum“⁴⁶ bezeichnet, nichtsdestoweniger erscheint hier die besondere Bedeutung und die Spezifik der narrativen Konstruktion, die bewusste erzählerische Inszenierung eines solchen Raumes zu wenig betont.⁴⁷ Kontingenzreflexion manifestiert sich folglich in einer spezifischen Erzählstrategie, ist Ergebnis narrativ erzeugter Uneindeutigkeit, die sich – im Fall der genannten Beispiele – in Widersprüchen zwischen der Begründung bzw. Herleitung erzählten Handelns und Figurenbewusstsein und damit zwischen explizit kausaler, aber von Figuren vermuteter finaler Geschehensmotivation dokumentiert. Eine Beschreibung der Textstellen als kontingent erscheint somit nur dann zulässig, wenn damit das Wirkungspotential des narrativen Arrangements bezeichnet ist. Nichtsdestoweniger scheint dies nicht die mit dieser spezifischen Erzählweise generierte Komplexität, der das Erzählen im Fortunatus neben jener Reflexion zu einem großen Teil geschuldet ist, ausreichend zu erfassen. Zwar lässt sich eine solche in den genannten Textbeispielen stets nachvollziehen, der Reflexionsgrad dieser Auseinandersetzung lässt aber eine darüberhinausgehende
Vgl. Makropoulos 1998a, 23. Vgl. Friedrich 2011, 133. Einen ähnlichen Eindruck gewinnt man bei Müller 1985, 97 f., der auf die besondere Relevanz solcher Aspekte in der Analyse der Prosaromane hinweist, „die sich der Sinnintention zu entziehen scheinen, abgerissene Handlungsfäden, ‚offene‘ Problemkonstellationen, Nebenhandlungen, die über ihre Funktion hinaus zu Ende gebracht werden.“ Zwar definiert er solche „Momente“ nicht als widersprüchlich bzw. inkohärent, auch bewertet er sie nicht explizit als Reaktion auf einen lebensweltlichen außerliterarischen Kontext; anhand der unmittelbar darauf folgenden, auf eben diesen Kontext rekurrierenden Fragen lässt sich aber jener bereits skizzierte Forschungskonsens über den Status der Texte als Reflex auf zeitgenössische Irritationsphänomene erkennen: „Verdanken sie sich der Brüchigkeit und mangelnden Integrationskraft traditioneller Sinnbildungssysteme oder dem Bemühen, eine komplexe Erfahrungswirklichkeit auch dort, wo sie sich vorgegebenen Erzählschemata nicht fügt, zu erfassen? Ist Kontingenz der (nachträgliche) Eindruck einer erzählend oder deutend nicht mehr bewältigten kruden Historie? Ist sie Ausgangspunkt einer neuen Welterfahrung, die nurmehr in lebensbedrohlichen Ausnahmesituationen (Fortunatus) sich traditioneller Sinngarantien erinnert?“ (98). Unabhängig davon, ob sinnoffene erzählerische Momente nun als Konsequenz eines Verlusts allgemeiner sinnstiftender Ordnungen oder aber als solche eines produktionsseitigen Versuchs, die Lebenswelt ohne Rückgriff auf tradierte Erzählmuster narrativ zu bewältigen, verstanden werden, basieren beide möglichen Deutungen auf der Prämisse einer grundsätzlichen lebensweltlichen Verunsicherung. Auch in dieser Perspektive sind jene Momente Resultat der Unmöglichkeit, Lebenswelt interpretativ oder narrativ zu bewältigen, und somit auch der Unfähigkeit, kohärent und sinnstiftend zu erzählen. Auch hier wird Kontingenz folglich als Resultat, als „(nachträglicher) Eindruck“ (98), einer narrativ nicht mehr zu bewältigenden Realitätserfahrung verstanden.
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
Funktionalisierung derartiger Textarrangements vermuten, nämlich eine Komplexitätssteigerung des Erzählens und des Erzählten.
2.2 Ambivalentes Erzählen und Ambivalenz erzählen – Überlegungen zur narrativen Praxis und analytischen Konzeptualisierung Aufgrund der an dem Phänomen der Kontingenz exemplarisch skizzierten Relevanz, die der narrativen Konstruktion in der Inszenierung von Unbestimmtheiten, Mehrdeutigkeiten und Widersprüchen zukommt, sowie der These einer bewussten Reflexion außertextueller Kontexte als Prämisse ihrer Dokumentation in erzählenden Texten erscheint sowohl ein Blick auf die jeweils aufgerufenen Diskurse und Wissensordnungen als auch insbesondere ein solcher auf die eingesetzten narrativen Vermittlungsverfahren erforderlich. Für ihre Identifizierung und Beschreibung soll in diesem Zusammenhang die Kategorie der Ambivalenz für die literaturwissenschaftliche Analyse fruchtbar gemacht werden. Mit dem Begriff der Ambivalenz sollen somit solche Textarrangements erfasst werden, in denen Uneindeutigkeit im Hinblick auf die Bewertung eines Geschehens, in denen Widersprüche in der Zuordnung von Verantwortung und in denen Doppelwertigkeit im Sinne eines Nebeneinanders verschiedener Deutungsmöglichkeiten exponiert werden. Ambivalenz wird dabei als – zumindest potentiell – antagonistische Zwei- oder Mehrdeutigkeit⁴⁸ und somit als „Nebeneinander konträrer Sinnstrukturen“⁴⁹ verstanden.⁵⁰ Die dem Terminus inhärente semantische Offenheit – er kann sowohl Mehrdeutigkeit als auch Doppelwertigkeit und Widersprüchlichkeit bezeichnen und erscheint infolgedessen sowohl über- als auch unterdeterminiert⁵¹ – ist gerade deshalb von Nutzen für die Analyse der genannten Phänomene, weil sie vielfältige Formen narrativ erzeugter Pluriva-
Vgl. Berndt und Kammer 2009, 10 f., sowie Scheffel 2009, 90.Vgl. auch Berneker und Steinfeld 1992, 437. Vgl. zur Bestimmung des Terminus Ambivalenz auch Bauer et al. 2010, 7. Laude 2009, 72. Vgl. zum Begriff der Ambivalenz auch in Abgrenzung zum Terminus Ambiguität Bauer et al. 2010, 7; Berndt und Kammer 2009, 8 ff.; Ziegler 2010, 125 – 129; Bode 1997, 67 f.; Berneker und Steinfeld 1992, 436 f. Eine derartige terminologische Offenheit wurde auch für den Begriff der Ambiguität konstatiert, vgl. Meier 2016, 49 f. Pointiert formuliert dies auch Münkler 2016, 114, die von der „Ambiguität des Ambiguitätsbegriffs“ spricht: „Eines der zentralen Probleme des Ambiguitätsbegriffs und seiner Verwendung ist mithin seine eigene Mehrdeutigkeit. Er ist, was er beschreiben soll.“
2.2 Ambivalentes Erzählen und Ambivalenz erzählen
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lenz⁵² zu fassen vermag.⁵³ Der Begriff der Ambivalenz soll aus diesem Grund dem der Ambiguität vorgezogen werden,⁵⁴ da dieser nicht nur die mit dem Begriff Ambiguität bezeichnete Mehr- bzw. Viel- oder Doppeldeutigkeit meinen kann⁵⁵, sondern auch die potentielle Widersprüchlichkeit und die antagonistische Gleichzeitigkeit unentscheidbarer Bedeutungsalternativen bezeichnet. Er erscheint somit geeigneter, um die skizzierten narrativen Phänomene zu beschreiben.⁵⁶ Aufgrund der semantischen Nähe der Begriffe und der mit ihnen bezeichneten Sachverhalte⁵⁷ können sowohl Ergebnisse der jüngeren Ambiguitätsforschung als auch historische Reflexionen zur Ambiguitätsthematik, deren Wurzeln sich bereits in der antiken Philosophie und Rhetorik finden,⁵⁸
Plurivalenz kann in diesem Kontext als „vielfältige Sinngenerierung in literarischen Texten“ (Bauer et al. 2010, 56) verstanden werden. Vgl. auch Abel et al. 2009, 5, die zu Ambivalenz „im Einzelnen Vagheit (Unbestimmtheit), Ambiguität (Mehrdeutigkeit) und Brüche, aber auch verschiedene, miteinander konkurrierende Erklärungsmuster innerhalb einer Erzählung“ zählen. Auf einen ersten Blick böte sich der Begriff Ambiguität für die Analyse genannter Phänomene schon aufgrund seiner wissenschaftsgeschichtlichen Herkunft (vgl. dazu Berndt und Kammer 2009, 11– 23; vgl. zum Stand der Diskussion in Literaturwissenschaft und Linguistik auch die Ausführungen bei Bauer et al. 2010, 27– 66, sowie zum terminologischen Gebrauch der beiden Begriffe und ihrer Differenzierung Ziegler 2010, 125 – 129) sowie seiner Verwendung im „Bereich der Humanities“ (Bauer et al. 2010, 7) eher an. Vgl. Bauer et al. 2010, 7, 27. Die vielfach mit dem Terminus Ambiguität bezeichneten Formen lexikalischer, semantischer und syntaktischer Doppeldeutigkeit können sich zwar auf die textsemantische, narrative Mehrdeutigkeit auswirken sowie der Terminus Ambiguität auch ganz grundsätzlich zu ihrer Bezeichnung dienen kann, meint der Begriff nach Bode 1997, 67, doch insgesamt „Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit; heute nur noch selten: Zweideutigkeit“ (vgl. auch Berneker und Steinfeld 1992, 436 ff.); nichtsdestoweniger scheint dies die Besonderheit des narrativen Arrangements nicht präzise genug zu erfassen. Die solchermaßen vorgenommene terminologische Differenzierung und die Verwendung des Begriffs Ambivalenz ist aus diesem Grund ausschließlich der Spezifik der zu beschreibenden Phänomene und narrativen Verfahren geschuldet, insofern er die hier skizzierten Sachverhalte prägnanter zu erfassen scheint als der Terminus der Ambiguität, obgleich beide Termini – so die Annahme – grundsätzlich zur Bezeichnung von Vieldeutigkeit genutzt werden können, und dies insbesondere in der literarischen Kommunikation (vgl. Bauer et al. 2010, 7, 27). Ambiguität wird folglich als ein (Teil‐)Phänomen von Ambivalenz verstanden; auch sie bezeichnet eine spezifische Form ästhetischer Vieldeutigkeit (vgl. zum Status von Ambiguität in verschiedenen kommunikativen Kontexten Bauer et al. 2010, 9 f.), konkretisiert sich jedoch nicht in jener erwähnten potentiell antagonistischen Gleichzeitigkeit konkurrierender Bedeutungen. Für die Rhetorik ist Ambiguität nur in jenem Bereich der so genannten Sonderkommunikation „ästhetische Produktivkraft“ (9), unter normalkommunikativen Bedingungen gilt sie als „erlebtes Defizienzphänomen“ (9). Vgl. zu diesem Aspekt auch Münkler 2016, 123. Vgl. Bauer et al. 2010, 7, 27. Vgl. Bauer et al. 2010, 7– 26.
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Aufschluss über jene Phänomene geben, die gemäß der genannten Definition als ambivalent zu bezeichnen wären. Mithilfe dieser Beschreibungskategorie sollen folglich solche Textarrangements erfasst und konzeptualisiert werden, in denen in der Kombination verschiedener Erzählverfahren oben genannte Uneindeutigkeiten,Widersprüche und Doppelwertigkeiten erzeugt werden, die sich wiederum in (1) der Gleichzeitigkeit von kausaler und finaler Motivierung, (2) der Doppelwertigkeit von Figuren, (3) Divergenzen zwischen Erzählerrede und Figurenwahrnehmung, (4) der Konkurrenz unterschiedlicher Wertungen in der Erzählerrede sowie (5) Widersprüchen zwischen Erzählerkommentaren und evaluativer Struktur und damit zwischen expliziter Lehre und impliziten Handlungs- und Bewertungsmaximen konkretisieren können. Als konstitutive Erzählverfahren, die für die Konstruktion dieser als ambivalent klassifizierten Textarrangements kombiniert werden, lassen sich die folgenden, je unterschiedlich eingesetzten narrativen Techniken abstrahieren: (1) eine spezifische Profilierung der erzählenden Instanz, die in der partiellen Zurücknahme oder Auslassung von expliziten Bewertungen und Kommentierungen sowie in der Artikulation divergierender Deutungsmöglichkeiten und evaluativer Urteile realisiert sein kann; (2) ein differenzierter Einsatz von Verfahren der Innenwelt- und Bewusstseinsdarstellung, der in der Restriktion von Innensichten auf einzelne Figuren und in der nur partiellen Ermöglichung von Introspektion bei einer Figur bestehen kann; (3) eine spezielle Inszenierung von kommunikativer Figurenrede, die sich in einer komplexen Dialogstruktur und eines ebensolchen Kommunikationsverhaltens der Figuren sowie in spezifischen Selbstpräsentationen und eines auf Wirkung angelegten verbalen Agierens derselben manifestieren kann; (4) eine nur selektive Informations- und Wissensvergabe, die sich in der zeitlichen Organisation der Erzählung sowie in der oben genannten Erzählerprofilierung und Innensichtrestriktion dokumentieren kann (5) sowie komplexe Prozesse der Rezeptionslenkung und Sympathiesteuerung, die sich im Rückgriff auf die genannten Verfahren in einer spezifischen Darstellung der Figuren und ihres Handelns, der Etablierung eines normativen Horizonts sowie davon abweichenden Bewertungsparadigmen zeigen können. Die produktionsseitig bewusste, je verschieden gestaltete Kombination dieser narrativen Verfahren, die – zumindest teilweise antagonistische – Zwei- oder Mehrdeutigkeit bzw. konträre Sinnstrukturen generiert und damit der Konstruktion oben genannter Textarrangements dient, soll in diesem Kontext als ambi-
2.2 Ambivalentes Erzählen und Ambivalenz erzählen
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valentes Erzählen bestimmt werden;⁵⁹ es intendiert – so die These – neben einer potentiellen Funktionalisierung für eine Reflexion außerliterarischer Kontexte vor allem die Komplexitätssteigerung des Erzählens und des Erzählten.⁶⁰ In den hier analysierten frühneuhochdeutschen Prosaromanen wird diese spezifische Erzählform, das ambivalente Erzählen, in verschiedenen Funktionskontexten und in der Diskussion unterschiedlicher Phänomene eingesetzt, wie etwa (1) in der Reflexion der Erfahrung von Kontingenz, (2) in der Auseinandersetzung mit der Relativität und partiellen Konkurrenz normativer Kategorien und Beurteilungskriterien, (3) für eine komplexe, nicht typisierende Figurengestaltung, (4) für die Diskussion der Konstitutionsbedingungen von Identität, des Umgangs mit Glück und der Relation von Einzelnem und Gesellschaft. Ambivalenz wird in diesem Zusammenhang somit als Phänomen verstanden, das sowohl produktions- als auch rezeptionsseitig wirksam ist, sofern es sowohl den narrativen Prozess im Sinne eines Ambivalenzen generierenden Erzählens als auch das narrative Produkt im Sinne eines strukturellen Merkmals der Narration bezeichnet. Münkler spricht in diesem Zusammenhang von zwei unterschiedlichen Perspektiven […]: einer produktionsästhetischen und einer rezeptionsästhetischen. Die produktionsästhetische Perspektive orientiert sich an der Komplexität des literarischen Prozesses, die rezeptionsästhetische an der Sinngenerierung durch den Leser.⁶¹
Vgl. zu den verschiedenen Arten der Ambiguitätserzeugung Bauer et al. 2010, 31 ff. Der kombinierende Einsatz dieser Verfahren ließe sich somit als bewusste Ambiguisierung beschreiben, so dass – entsprechend des oben erläuterten Verständnisses von Ambiguität als spezifisches Phänomen von Ambivalenz – das Ambiguisieren als Verfahren der Ambivalenzerzeugung und damit des ambivalenten Erzählens bestimmt werden kann. Auch in diesem Zusammenhang erscheint der Terminus der Ambiguität weniger geeignet, da er zum Teil „als nicht-intendiertes und damit der Perspektive einer Fehlerlinguistik bzw. Linguistik des Missverstehens unterworfenes Phänomen angesehen wird“ (Bauer et al. 2010, 23), auch wenn diese Annahme primär in der textlinguistischen Forschung vertreten wird. Die hier mit dem Begriff des ambivalenten Erzählens zu kategorisierenden erzählerischen Operationen könnten somit eher unter Polyvalenz gefasst werden, sofern diese „[p]ositiv lizenziert“ (23) ist und „produktionstheoretisch gesehen […] auf ein intendiertes Ambiguieren zurückgeht“ (24). Damit ergibt sich eine Nähe zur rhetorischen Perspektive, sofern der hier verwendete Terminus auf der Annahme einer strategischen, instrumentellen und funktionalen Generierung von Ambivalenz basiert (vgl. 65). Münkler 2016, 125.
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Trotz der Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Produktions- und Rezeptionsebene sollen in diesem Zusammenhang folglich beide Perspektiven in den Blick geraten. Da die analytische Erfassung des ambivalenten Erzählens sowie – im Resultat – ambivalenter Textarrangements stets auch Interpretationsleistung⁶² ist, wird mit Ambivalenz letztlich eine Kategorie für die literaturwissenschaftliche Analyse genutzt, die zwischen Narratologie und Interpretationstheorie anzusiedeln ist.⁶³ Sie wird demnach nicht ausschließlich als narrative Praktik und Beschreibungsmodell, sondern auch als Rezeptionsphänomen begriffen,⁶⁴ sofern sie Ergebnis einer Interpretation sein kann, die aus den Wechselwirkungen von Text und außerliterarischem Kontext allererst resultiert.⁶⁵
Ambivalenz meint dabei aber nicht das bei einem Rezipienten im Umgang mit Ambiguität womöglich eintretende „psychische[] Resultat“, das laut Bauer et al. 2010, 15 f., mit diesem Terminus bezeichnet wird. Vgl. Bauer et al. 2010, 9 ff.: In der Ambiguitätsforschung, die den jeweiligen kommunikativen Rahmenbedingungen grundsätzlich eine hohe Relevanz attestiert und die Bedeutung von Interaktionsrahmen und kulturellem wie sozialem Wissen für die Analyse von Ambiguität betont, spielt in diesem Zusammenhang der frame-Begriff eine zentrale Rolle. Frames, verstanden als „bestimmte Organisationsformen für das konventionell festgelegte Wissen, das wir von der ‚Welt‘ besitzen“ (10), werden als elementar für das Verständnis einer jeden Kommunikation und somit insbesondere auch für die Erfassung von Ambiguität bewertet. Vgl. außerdem die Ausführungen zum unzuverlässigen Erzählen bei Kindt 2003. Vgl. Bauer et al. 2010, 13 ff.: Die Relevanz des Rezipienten für die Erfassung und Beurteilung von Ambiguität wurde bereits im Rahmen der naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Ambiguitätsphänomenen betont; die hier vorgenommene „Heraushebung des Beobachters als involvierter menschlicher Handlungsinstanz im Gesamtzusammenhang von Ambiguitätsverhältnissen“ (14) wurde in der Folge in den rhetoriktheoretischen Überlegungen zur Ambiguität als Basisannahme akzeptiert. Aufgrund der Bestimmung von Ambivalenz als ein interpretativ zu erfassendes und die narrative Praxis konstituierendes Erzählverfahren ergeben sich Schnittmengen zu jenem Phänomen, das seit Wayne C. Booth als erzählerische Unzuverlässigkeit bzw. unzuverlässiges Erzählen (vgl. Booth 1974) firmiert. Hier wie dort ist mit dem Terminus sowohl das narrative Verfahren als auch die interpretative Kategorisierung des Phänomens bezeichnet; in beiden Fällen handelt es sich um eine Darstellung der erzählten Welt, die es aufgrund mangelnder Eindeutigkeit bzw. Glaubwürdigkeit zu hinterfragen und in der Folge womöglich neu zu perspektivieren gilt (vgl. zur Relevanz des Rezipienten auch Nünning 2013, 23 ff.). Booth 1974, 164, nennt einen Erzähler etwa dann unzuverlässig, wenn dieser nicht „für die Normen des Werkes (d. h. die Normen des impliziten Autors) eintritt oder in Übereinstimmung mit ihnen handelt“. (Vgl. zur erzählerischen Unzuverlässigkeit grundlegend auch Martínez und Scheffel 2005, 95 ff.; Lahn und Meister 2008, 182 ff.; Kindt 2008, 28 – 67; Kindt 2003; für die anglistische Forschung vgl. vor allem die Arbeiten Nünnings sowie zuletzt den von diesem herausgegebenen Sammelband [Nünning 2013]). Das Phänomen der erzählerischen Unzuverlässigkeit ist als Element des discours dabei explizit auf die Rede der erzählenden Instanzen in der dargestellten Welt bezogen, sie kann sowohl in der Rede
2.2 Ambivalentes Erzählen und Ambivalenz erzählen
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Vor allem aufgrund dieser Bestimmung ambivalenten Erzählens sowohl als produktionsseitig-intentionales narratives Konstrukt als auch als interpretativanalytische Kategorie⁶⁶ muss die Historizität des Untersuchungsgegenstandes in den Blick geraten. In Anbetracht eines historischen Untersuchungsobjekts wie dem Vorliegenden müssen Aussagen über produktionsseitige Intentionalität sowie über Möglichkeiten und Grenzen der Interpretierbarkeit eines literarischen Textes natürlich stets hypothetisch bleiben. Die produktions- wie rezeptionsseitigen Erwartungen an die Schlüssigkeit und Kohärenz eines Textes – und dies betrifft die Untersuchung erzählerischer Ambivalenzen natürlich im Kern – sind historischem Wandel unterworfen;⁶⁷ um einer ahistorischen Applizierung moderner Annahmen auf mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Produktions- und Rezeptionsmechanismen zu entgehen und um die Setzung bzw. Erfassung spezifischer Sinnimplikationen zu rekonstruieren, müssten neben einem Blick auf einer erzählenden Figur als auch in der Erzählerrede als solcher begegnen. Gerade im Fall eines unzuverlässigen heterodiegetischen Erzählers wird häufig jene doppelte Kommunikationssituation evoziert, in der „der unzuverlässige Erzähler eine explizite Botschaft [kommuniziert], während der Autor dem Leser implizit, sozusagen an dem Erzähler vorbei, eine andere, den Erzählerbehauptungen widersprechende Botschaft vermittelt.“ (Martínez und Scheffel 2005, 101) Grundsätzlich können dabei mimetische, theoretische und evaluative Unzuverlässigkeit unterschieden werden (vgl. Lahn und Meister 2008, 183). Während theoretische Unzuverlässigkeit den Charakter von Informationen allgemeiner Natur über die erzählte Welt bezeichnet, wie etwa Stellungnahmen oder Kommentare (Martínez und Scheffel 2005, 99 f.; Lahn und Meister 2008, 183), meint mimetische Unzuverlässigkeit die Widersprüchlichkeit konkreter Informationen über die Beschaffenheit der erzählten Welt, über Handlungsabläufe, Geschehen etc. Von evaluativer Unzuverlässigkeit ist dann die Rede, „wenn Einschätzungen und Bewertungen des Erzählers, die sich auf die jeweilige erzählte Welt beziehen – wie Handlungselemente oder Figuren – nicht zu überzeugen vermögen.“ (Lahn und Meister 2008, 183) Vor allem diese letzte Form unzuverlässigen Erzählens scheint in einigen mittelalterlichen und vor allem frühneuzeitlichen Erzählungen zentral, auch wenn die Existenz des Phänomens unzuverlässiges Erzählen in vormodernen Texten noch zur Debatte steht (vgl. hier exemplarisch Plotke 2019). Da Widersprüche hinsichtlich der evaluativen Struktur einer Erzählung nicht zwangsläufig als Phänomen erzählerischer Unzuverlässigkeit identifiziert werden müssen, soll diese daher im Folgenden als nur eine mögliche Form ambivalenten Erzählens verstanden werden, das sich schließlich nicht nur über die verschiedenen Formen der Unzuverlässigkeit konstituieren kann (vgl. zur Bestimmung des unzuverlässigen Erzählens als ein Element von Ambiguität Bauer et al. 2010, 7, 32). Vgl. zur Relevanz des Rezipienten auch die Ausführungen zur erzählerischen Unzuverlässigkeit von Aumüller 2011, 128: Die hier getroffene Aussage über das Phänomen der Unzuverlässigkeit ließe sich letztlich auch auf das der Ambivalenz beziehen: „Unzuverlässigkeit in Erzähltexten ist aus kognitiver Sicht als ein Interpretationsergebnis aufzufassen, das aus einem Abgleich der im Text vorgefundenen Signale mit dem Weltwissen und den Normen resultiert, die vom Leser an den Text herangetragen werden. Ob ein Erzähltext als unzuverlässig eingestuft wird, hängt damit von den sich wechselnden Überzeugungen seiner Leser ab.“ Vgl. Kragl und Schneider 2013, 4.
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potentielle „Formen epistemischer Referentialisierung auf textexterne Texte und Kontexte“⁶⁸ im Grunde die kognitiven Dispositionen von Produzenten und Rezipienten miteinbezogen werden.⁶⁹ Aufgrund der Unmöglichkeit ihrer Rekonstruktion müssen Aussagen zu Produktions- und Rezeptionsverhalten stets hypothetischen Charakter haben;⁷⁰ nichtsdestoweniger wird hier auf Basis einer produktionsseitig-intentionalen Konstruktion und einer interpretativ-analytischen Kategorie argumentiert, wobei diese Annahme auf folgenden Prämissen beruht, die im Einzelnen noch näher auszuführen sein werden: (1) Auf Produktionsseite wird die lateinische Bildungstradition als Horizont vorausgesetzt und somit ein in antiken Wissensbeständen, in lateinischer Dichtungs- und Rhetoriktradition sowie in den artes poetriae geschultes Denken unterstellt.⁷¹ Ein solch vorausgesetztes gelehrtes Wissen manifestiert sich dabei insbesondere auch in dem Bewusstsein über und der Verwendung von spezifischen narrativen Vermittlungsverfahren, wie es sich nicht nur in metanarrativen Einschüben, sondern auch in einem höchst differenzierten Erzählverfahren als solchem dokumentiert. Es wird folglich auf Basis eines hypothetischen Intentionalismus argumentiert – die Texte weisen Formen
Abel et al. 2009, 3. In der jüngeren erzähltheoretischen Forschung haben sich für die Untersuchung der Relation von literarischem Text und außerliterarischer Lebenswelt kontextorientierte Theorien entwickelt, die Texte letztlich als realistische Weltentwürfe nicht selten auch in einer politischen bzw. ideologischen Dimension lesen. Der damit einhergehende Anspruch, „erzählende Texte vornehmlich im Hinblick auf deren ideologiekritisches Potential [zu analysieren]“ (Mahler 2011, 115), wird in der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion außerliterarischer Wissensbestände nicht berücksichtigt. Vgl. Abel et al. 2009, 3 ff.; vgl. auch Becker 2003, 105. Nicht nur in der Ambiguitätsforschung, sondern auch in der modernen Erzählforschung wird die zentrale Funktion des Rezipienten für die Bedeutungskonstitution eines Textes, die ursprünglich vor allem im Rahmen der Rezeptionsästhetik diskutiert wurde, immer wieder betont. Aktuell wird sie vor allem innerhalb empirischer und kognitivistischer Theorien untersucht, die in Anlehnung an die kognitive Psychologie Methoden zur Untersuchung mentaler Prozesse bei der Rezeption entwickelt haben und mithilfe von scripts und frames das Textverstehen und die kognitive Verarbeitung von textuellen Ereignissen und Strukturen auch empirisch überprüfen. Vgl. Aumüller 2011, 125 f.; vgl. auch Fludernik 2006. Dies ist hier primär auf Verfahren literarischer Textproduktion bezogen und klammert theologische und philosophische Diskurse zunächst aus. Vgl. zum zeitgenössischen geistesgeschichtlichen Horizont des Ambivalenz-Phänomens, dem Verhältnis von Ambivalenz und vierfachem Schriftsinn sowie Ambivalenz in der Scholastik Schönberger 2003. Vgl. zur Auseinandersetzung mit Ambivalenz und Ambiguität in der Patristik Meier 2016.
2.2 Ambivalentes Erzählen und Ambivalenz erzählen
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ambivalenten Erzählens auf, ganz unabhängig von dessen Aktualisierung und Erfassung in der jeweiligen Rezeptionssituation.⁷² (2) Bei der Analyse eines historischen Objekts sind Aussagen über die Inferenzbildung zwischen Text und Rezipient, also über das rezeptionsseitige Textverstehen und die kognitive Verarbeitung von erzählten Ereignissen und Strukturen, ebenfalls nur hypothetischer Natur. Die Art und Weise der Inferenzbildung bei mittelalterlichen Texten ist insofern äußerst schwierig nachzuvollziehen, als eine Rekonstruktion des zeitgenössischen individuellen Weltwissens nur sehr begrenzt möglich ist, da es historisch und kulturell höchst variabel ist.⁷³ Es ist somit nicht möglich, „die heteronomen Wirkungsweisen von Textinformationen in Abhängigkeit vom Weltwissen individueller Leser [zu] erfassen, um konkrete Wahrnehmungs-, Verarbeitungsund Verstehensprozesse nachzuzeichnen und modellhaft zu konzeptualisieren.“⁷⁴ Aus diesem Grund stützt sich die Analyse zunächst nur auf den Text „als (in sich geschlossenes und intentionales) sprachliches Artefakt“⁷⁵ und formuliert Thesen über die Wirkungspotentiale narrativer Techniken über das Konzept eines Modellrezipienten⁷⁶, der letztlich als „theoretisches Phantom“⁷⁷ zur Struktur des Textes gehört. Mit Hübner ist hier sodann ein Modellleser gemeint, „der im Geist der Treue diejenigen Schlußfolgerungen zieht, die der Text nahelegt, und sich nicht als hermeneutischer Anarchist benimmt.“⁷⁸ (3) Auf Grundlage dieser Hypothesen lässt sich eine weitere Prämisse der oben genannten Annahme formulieren, die letztlich auf einem intra- und intertextuellen Vergleich basiert: Es besteht keine handlungs- oder strukturlogische Notwendigkeit, die skizzierten Textstellen des Fortunatus so zu erzählen, wie sie erzählt sind. Während die Figurenrede Agripinas in der gleichzeitigen Nennung von Gott und Äpfeln noch die Verzweiflung ob der aussichtslosen
In linguistischen Ansätzen der Ambiguitätsforschung spielt die rezeptionsseitige Wahrnehmung ambiger Phänomene keine Rolle, so dass hier häufig von „potenzieller Ambiguität“ gesprochen wird (vgl. Bauer et al. 2010, 42). In diesem Sinne könnte man hier von potentieller Ambivalenz bzw. intentionaler Ambivalenz sprechen. Vgl. Reuvekamp 2014, 116. Reuvekamp 2014, 116. Reuvekamp 2014, 116. Reuvekamp 2014, 116. Vgl. Hübner 2003, 31, Anm. 87. Vgl. Hübner 2003, 31, Anm. 87. Dieser Modellrezipient besitzt dann auch jene „Ambiguitätskompetenz“, die ein Beobachten und Erkennen von Ambiguitätsphänomenen ermöglicht und „sich als Bestandteil seiner Kode-, Sprach-, Text-, Kommunikations- und allgemeinen Interaktions- und Sozialkompetenz erweist.“ (Bauer et al. 2010, 20)
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
Situation ausdrücken könnte, bedürfte es in diesem Fall nicht jener nachgezeichneten Plausibilisierung der divergierenden Geschehensdeutungen und deren Pointierung in der Rede Andalosias. Es finden also narrative Verfahren Anwendung, die im Hinblick auf die Handlungslogik mehr als fakultativ erscheinen; dies lässt natürlich die Frage nach ihrer Funktion und Relevanz im Gesamtkontext virulent werden. Gleichzeitig kann ein Blick auf andere zeitgenössische Erzählungen zeigen, dass durchaus Analogien hinsichtlich der narrativen Konstruktion und des Einsatzes erzählerischer Mittel zur Generierung von Mehrdeutigkeit bestehen. So sind nicht nur in anderen frühneuhochdeutschen Prosaromanen, sondern auch in der mittelhochdeutschen Epik stets ähnliche Verfahren der Ambivalenzerzeugung zu beobachten, auch wenn sie jeweils verschieden funktionalisiert sein mögen.⁷⁹ Aufgrund dieser erzählerischen Praxis und vor dem Horizont der gelehrten zeitgenössischen Reflexionstradition, insbesondere der antiken Literaturkommentierung und der antik-mittelalterlichen Poetiken und Rhetoriken, wird Ambivalenz als genuines Merkmal auch vormoderner Literatur begriffen, als Grundkonstante des Erzählens:⁸⁰ „[D]as Spiel mit der Mehrdeutigkeit [ist] […] durchaus kein Spezifikum der modernen Erzählliteratur. Das Spiel mit der Ambivalenz […] ist so alt wie das Phänomen des fiktionalen Erzählens selbst.“⁸¹ Gemäß oben genannter Bestimmung und Prämissen als ambivalent zu bezeichnende Textarrangements sind nicht nur im Rahmen jener skizzierten, die Inten-
Die Virulenz ambivalenter oder ambiger Elemente in der höfischen Literatur konstatieren auch Auge und Witthöft 2016, 4 f.: „In zahlreichen literarischen Handlungsmodellen, Szenen und Motiven werden Polaritäten effektvoll inszeniert; Spannungen und unauflösbare Widersprüche verweigern sich den Versuchen einer Synthetisierung oder Harmonisierung erfolgreich (Erzählerkommentare, Rede- und Dialogszenen, Streitgespräche). Zu denken ist an oppositionelle Normkonzepte und konkurrierende Deutungsmuster, die den Figurenhandlungen der erzählten Welt oder reflektierenden Passagen in mittelalterlichen Epen und frühneuzeitlichen Romanen zugrunde liegen.“ Vgl. zur grundsätzlichen Heterogenität auch mittelalterlicher Texte ebenfalls Reuvekamp-Felber 2016, 219 – 224. Vgl. Scheffel 2009, 96 f.; vgl. Abel et al. 2009, 2; vgl. zum Status von Ambivalenz „als eine der Wurzeln von Dichtung“ und „als Indiz ästhetischer Kreativität“ Bauer et al. 2010, 28. Scheffel 2009, 97. Vgl. Bauer et al. 2010, 37: Die Annahme, Ambiguität bzw. Ambivalenz sei genuines Merkmal auch vormoderner erzählender Literatur, wird allerdings nicht einheitlich vertreten. Die Mehrzahl der diesbezüglichen Positionen bewertet ästhetische Vieldeutigkeit vielmehr als Phänomen der modernen bzw. postmodernen Literatur, für die es im Rahmen der modernen Mimesiskonventionen charakteristisch sei, die abgebildete Wirklichkeit als mehrdeutig darzustellen. Prämisse einer solchen Ambiguität seien wiederum „[b]estimmte Weltmodelle und erkenntnistheoretische Entwicklungen“ (37), zugleich könne sie Resultat der Angleichung an andere moderne Künste sein (vgl. zu diesem Aspekt auch 65).
2.2 Ambivalentes Erzählen und Ambivalenz erzählen
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tionalität der narrativen Konstruktion zum Teil vernachlässigenden Deutungen in den Blick geraten, sondern sind als Ausdruck eines spezifisch mittelalterlichen, noch an mythischen Denkformen orientierten Erzählens bereits sehr früh in der Prosaromanforschung diskutiert worden. Zentral ist hier insbesondere Lugowskis These von der verdeckten Wirksamkeit mythischer Denkformen und sein Konzept des mythischen Analogons, mit dem er solche Erzählsegmente zu erklären suchte, die „gemessen an Erklärungsrahmen unserer Alltagswelt und entsprechenden poetologischen Normen, befremdlich, unglaubwürdig und unmotiviert erscheinen“⁸². Das mythische Analogon, die Manifestation einer mythischen Künstlichkeit also, resultiere dabei aus dem Fortbestand mythischen Denkens in den formalen Strukturen der Texte⁸³ und zeige sich vor allem in der Steuerung des Einzelmoments durch die Ganzheit eines Textes⁸⁴ und somit in der Ergebnishaftigkeit des Handlungsfortgangs⁸⁵. Eine derartige Orientierung an Ergebnis und Endgültig-
Martínez 1996b, 14. Vgl. dazu Lugowski 1970 [1932]. Ausgangspunkt der Überlegungen Lugowskis ist die Frage nach der dichterischen Gestaltung der Individualität literarischer Figuren, der er in einer explizit von der Analyse des dichterischen Gehalts abgegrenzten Formanalyse nachgeht. Ausgehend von der These, dass sich „[i]m selbstverständlichen Hinnehmen und Verstehen einer Dichtung […] die Menschen zusammen[finden]“ (8), unterstellt er der griechischen, mythischen Themen verhafteten Tragödie eine gemeinschaftskonstituierende Funktion für das griechische Volk und sieht in diesem spezifischen Verhältnis von Dichtung, mythischem Gehalt und Gemeinschaft des Volkes Analogien zu jenem Verhältnis, das der „nachmittelalterliche[]“ Mensch zur Dichtung entwickelt habe (vgl. 9). Prägend für dieses Verhältnis sei das Hinnehmen der grundsätzlichen Künstlichkeit des dichterischen Werkes, die unreflektierte Akzeptanz seines Gemachtseins, die ebenfalls gemeinschaftskonstituierend wirke und somit mit der Beziehung der Griechen zum mythischen Gehalt der Tragödie vergleichbar sei. Da aber die Künstlichkeit als solche kein Mythos sei, sondern ihrer Funktion gemäß nur mythenanalog, definiert er die künstliche Gemachtheit der erzählten Welt eines literarischen Textes als mythisches Analogon (12). Den Beginn der Zersetzung des mythischen Analogons, den er mit dem „eigentliche[n] Werden des Einzelmenschen“ (204) korreliert, verortet er dann in den Romanen Wickrams. Vgl. insg. zur Auseinandersetzung mit Lugowskis Studie Martínez 1996b sowie aus explizit mediävistischer Sicht Müller 1996. Vgl. Lugowski 1970 [1932], 18 f. Eine differenzierte Auseinandersetzung über den Zusammenhang von Mythos und mythischem Analogon findet sich bei Detering 1996, 67, der trotz der „Differenz von mythischen Modellen und mythosanalogen Textstrukturen“ davon ausgeht, dass sich sowohl im Mythos als auch im mythischen Analogon jeweils die Absicht einer steuernden Instanz manifestiere, wobei er diejenige innerhalb des Analogons als narrative, als ein „textkonstituierende[s] Subjekt“ (66) bestimmt. Somit wäre einem jeden erzählenden Text ein mythisches Analogon inhärent, nicht aber der Mythos als solcher. Die Relation zwischen mythischem Analogon und im Text explizierten oder implizierten Mythos könne dabei gleichwohl variieren (vgl. 68). Vgl. Lugowski 1970 [1932], 56 f. Vgl. Lugowski 1970 [1932], 24 ff.
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
keit,⁸⁶ an dem sogenannten „Ergebnismoment“⁸⁷, werde dabei vor allem über die Motivation von hinten ⁸⁸ realisiert. Während also die genannten jüngeren Arbeiten jene vermeintlich inkohärenten oder widersprüchlichen Elemente erzähllogisch unter anderem als Resultat einer die Finalorientierung überlagernden und sie durchkreuzenden Kausalmotivierung und damit als Verweis auf lebensweltliche Kontingenzerfahrung beurteilen, sähe Lugowski hier womöglich eine die kausallogische Motivation weiterhin dominierende Finalorientierung, die er wiederum als fortwährende Wirksamkeit mythischer Denkformen interpretierte.⁸⁹ Ziel ist auch hier letztlich der Nachweis einer spezifischen epochengeschichtlichen Relevanz: Indem er die Transformationen von mythenanalogen vormodernen Erzählstrukturen oder vielmehr deren Zersetzungen untersucht, die er wiederum mit einer veränderten Weltsicht erklärt, möchte er nicht nur die Entstehung eines neuen Erzähltypus, sondern auch die einer neuen Sicht auf den Menschen und damit ein ebensolches Weltbild, kurz: einen Epochenwandel, nachweisen.⁹⁰ Lugowskis Annahme einer grundsätzlichen Andersartigkeit vormoderner Literatur – schließlich möchte er nach Martínez „gerade das […] begreifen, was uns befremdet“⁹¹ – kann dabei als ein früher Beleg der seinerzeit noch nicht termino-
Vgl. Lugowski 1970 [1932], 26 f. Lugowski 1970 [1932], 57. Vgl. Lugowski 1970 [1932], 73 – 88: Die Motivation von hinten wird dabei als verbindendes Glied all jener Formen (Linearität, Aufzählung, Funktion und Gehabtsein) gesehen, die das Ergebnismoment und somit die Finalität einer Erzählung begünstigen (vgl. 73), und damit als strukturbildend bewertet (vgl. 89). Geschehen sei in einer von hinten motivierten Erzählung nach Lugowski zwar hinsichtlich des Ergebnisses gerechtfertigt, nicht aber vorbereitend begründet (vgl. 83), „nicht das Ergebnis ist durch die Prämissen der Handlung bestimmt, sondern die Einzelzüge der Handlung durch das nur seine Enthüllung fordernde Ergebnis“ (82). Die Motivation von hinten suspendiere somit die kausale Logik des erzählten Geschehens zugunsten des zu erreichenden Erzählziels; Ereignisse würden handlungsfunktional verstanden, d. h. ausschließlich in ihrer Bedeutung für den Handlungsausgang, so dass sie nicht kausallogisch auseinander, sondern bloß aufeinander folgten. Zur Motivation von hinten bei Lugowski vgl. auch Martínez 1996b, 17. In Anlehnung an Cassirers mythischen Kausalbegriff manifestiert sich mythisches Denken für Lugowski 1970 [1932], 27, deshalb in einer Motivation von hinten, weil diesem Denken in der Annahme einer zyklischen Weltkonstruktion die Kategorie der Entwicklung, damit Zeitlichkeit und „temporaler Charakter“ fehlten. Vgl. dazu auch Martínez 1996b, 18 f. Vgl. Müller 1996, 148 ff. Dabei verstehe Lugowski erzählerische Veränderungen als „Auflösung einer Weltsicht“ und nicht „als Ablösung eines narrativen Modells“ (151 f.) durch ein anderes. Lugowski übersehe, dass der Kompositionsaspekt, den er mit dem Wirken des formalen Mythos korreliert, eine jede Form von Kunst präge und er somit letztlich nicht die Zersetzung eines mythischen Analogons beschreibe, sondern die Veränderungen eines Kompositionstypusʼ in einen anderen. Martínez 1996b, 11; vgl. auch Lugowski 1970 [1932], 27.
2.2 Ambivalentes Erzählen und Ambivalenz erzählen
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logisch und konzeptionell gefassten Alteritätsthese gelten.⁹² Hier zeigen sich in ersten Ansätzen die Grundzüge jener Debatte, die zu einem zentralen Gegenstand der mediävistischen Forschungsdiskussion geworden ist.⁹³ In beiden Fällen dominiert die Annahme einer Reziprozität von poetischen Formen und allgemeinen mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Phänomenen sowie die einer teleologischen Entwicklung von Literatur und damit einer Komplexitätssteigerung literarischer Formen, die zwar bei Lugowski noch stärker auf die geschichtsphilosophische Differenzierung von Epos und Roman rekurriert,⁹⁴ die aber letztlich auch die aktuelle Debatte um die ‚Eigenart‘ mittelalterlicher Literatur bestimmt⁹⁵. Trotz terminologischer wie auch zum Teil methodischer Unpräzision und der sehr unterschiedlichen Anwendung und Konzeptualisierung des Begriffs Alterität in
So auch Martínez 1996b, 11, 16, für den Lugowskis Verdienst gerade darin besteht, solche Textarrangements nicht als defizitär, sondern als alteritär zu bestimmen. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Müller 1996, 148. Die Annahme, es handle sich um die „Eigentümlichkeit mittelalterlicher Literatur“, um „Stilphänomene“ und eben nicht um „Fehler der Autoren oder Verderbtheit der Textzeugen“ (Martínez 1996b, 16), ist natürlich mittlerweile überholt. Vgl. auch Kiening 2005a, 156 f., der das bei Lugowski entworfene Alteritätsmodell gerade in der Betonung einer teleologischen Entwicklung problematisiert und „Alterität vor allem unter das Zeichen des Mangels und der Negation“ gestellt sieht. Vgl. zur gegenwärtigen Alteritätsdiskussion exemplarisch Peters 2007, Becker und Mohr 2012 sowie Braun 2013. Vgl. den Forschungsüberblick bei Becker und Mohr 2012, 11 ff. (grundlegende Positionen in der Entwicklung der Alteritätsdiskussion), 29 ff. (speziell in der jüngeren Mediävistik). Vgl. bspw. Lugowski 1970 [1932], 11, 18 f.; vgl. dazu auch Martínez 1996b, 10, sowie Müller 1996, 151. Besonders explizit wird diese Annahme bspw. von Haferland vertreten, der aber gerade bestreitet, teleologisch zu argumentieren: „Wenn es nun aber in Gesellschaft und Literatur eine Entwicklung zu höherer Komplexität […] gibt – und moderne Literatur und Gesellschaft sind unbestreitbar komplexer als Mythos und Stammeskultur –, dann hat dies nichts mit Teleologie zu tun.“ (Haferland und Meyer 2010, 430) Zwar wird dies selten derart explizit artikuliert, dient aber, so der Eindruck, häufig als implizite Prämisse der Argumentation. Auch Braun 2013, 22 f., kritisiert diese häufig implizit unterstellte Teleologie: „Ein nach der Vorgabe ‚Alterität‘ gezeichnetes Mittelalter steht in Gefahr, sich in einem ständigen ‚Noch nicht‘ zu erschöpfen.“ Vgl. insgesamt auch Peters 2007, 71 ff.: In der Alteritätsdebatte wird eine solche teleologische Argumentation häufig mit dem Begriff der ‚Repräsentation‘ assoziiert, der für die Vormoderne gerade keine adäquate Beschreibungskategorie sei, sei diese doch vor allem von Unmittelbarkeit, Präsenz und Gegenwärtigkeit geprägt. Obgleich – auch interdisziplinär – die Annahme einer teleologischen Entwicklung von Kunst problematisiert wurde, habe sie, unter anderem durch die Ausführungen Luhmanns zur Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Systeme, zentralen Einfluss auf die gegenwärtige Diskussion ausgeübt. In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder mit dem vormodernen Status von Literatur bzw. dem noch nicht ausgebildeten ‚System Literatur‘, ihrer Gebrauchsfunktion und einem noch fehlenden „spezifisch literarischen Sprechen[]“ (78), nämlich unter dem Paradigma „Texte vor der Literatur“ (82), argumentiert.
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der mediävistischen Diskussion,⁹⁶ scheint er doch stets „die schwer zu fassende Kehrseite von Modernität, Aktualität, Mimesis oder Repräsentation [zu] markieren“⁹⁷. Während aktuelle Ansätze versuchen, das Konzept Alterität theoretisch und methodologisch neu auszurichten und es als ein ‚Leitkonzept für historisches Interpretieren‘ fruchtbar zu machen,⁹⁸ finden sich gleichwohl Forschungspositionen, die Alterität als Differenzkategorie zu Kontinuität begreifen, sie als Prämisse einer historischen Untersuchung problematisieren und den Blick verstärkt auf historische Konstanten lenken.⁹⁹ Auch wenn Alterität im Sinne jenes Leitkonzepts „neben relationalen Beziehungskonstellationen gleichermaßen eine prinzipielle Unverfügbarkeit [markiert]“¹⁰⁰ und aufgrund dieser „Mehrdimensionalität“¹⁰¹ gerade keine schlichte Differenzkategorie sei¹⁰², wird sie in mediävistischen Arbeiten häufig als eine solche gehandhabt,¹⁰³ deshalb in den genannten Zur Verwendung des Begriffs in der mediävistischen Diskussion vgl. Becker und Mohr 2012, 5, 44; Braun 2013, 8 ff. Vgl. auch die Ausführungen zur terminologischen Unschärfe bei Becker und Mohr 2012, 5 f., 38; Braun 2013, 8, 11, 22, zur Nähe zu den Konzepten ‚Fremdheit‘ und ‚Andersheit‘ Becker und Mohr 2012, 3, 40, sowie die Problematisierung einer Verwendung des Begriffs, die einen oppositionellen Charakter von Alterität suggeriert 38. Becker und Mohr 2012, 6. Vgl. Becker und Mohr 2012, 6 f. So plädieren etwa Becker und Mohr 2012 in der Auseinandersetzung mit den von Kiening geprägten Kategorien „Alterität im Plural“ und „Alterität im Singular“ (Kiening 2005a, 162) für eine präzise Differenzierung von Objekt- und Metaebene bei der Betrachtung eines Untersuchungsgegenstandes, für die systematische Trennung zwischen einem deskriptiv relationalen und einem methodologischen Zugang: „Es ist stets genau anzuzeigen, ob man über den Gegenstand ‚mittelalterliche Literatur‘ und seine alteritären Aspekte spricht, also das, was uns an ihm befremdet, zu beschreiben sucht […], oder ob man Alterität als eine Beobachtungseinstellung, als eine methodologische Kategorie für die Beschreibung seiner Eigenarten oder Interpretation seines Aussagegehaltes nutzt“ (Becker und Mohr 2012, 10). Sie gehen dabei nicht nur von wechselseitigen Relationen zwischen fremden und bekannten Aspekten eines zu beschreibenden Objekts aus – alteritäre Elemente lägen folglich nicht einfach als solche in Reinform vor – , sondern weisen auch darauf hin, dass der Akt der Deskription stets Gefahr laufe, die zu beschreibende Alterität selbst allererst zu erzeugen, so dass auf der Metaebene die potentiellen Verschränkungen von beobachteter und konstruierter Alterität im Beschreibungsakt reflektiert und systematisiert werden müssten (vgl. 10 f.). Einen solchen Zugang, ein solches „Alteritätskonzept, das diese komplexen Interaktionen und Überlagerungen nicht vereinfachen muss, sondern auszustellen vermag, und das den jeweils eingenommenen Beobachterstandpunkt und die Verfahren seiner Modellbildung theoretisch offenlegen kann, dürfte man mit Recht als ein Leitkonzept historischen Interpretierens bezeichnen.“ (11) So etwa Braun 2013, 17. Becker und Mohr 2012, 41. Becker und Mohr 2012, 43. Vgl. Becker und Mohr 2012, 44. Vgl. Braun 2013, 9.
2.2 Ambivalentes Erzählen und Ambivalenz erzählen
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anderen Positionen problematisiert und auf ihren eigentlichen Mehrwert hin befragt. Davon abgesehen, dass sich ein solches ‚Leitkonzept für historisches Interpretieren‘ gerade in methodischer Hinsicht infrage stellen ließe,¹⁰⁴ scheint doch weder jene scheinbar differenziertere Begriffsverwendung¹⁰⁵ noch die eindrückliche Betonung, Alterität nicht als Differenzkategorie zu verstehen, das terminologische und konzeptionelle Grundproblem zu lösen, sofern die Bestimmung der mittelalterlichen Literatur als alteritär immer schon Resultat eines Abgrenzungsmechanismus ist. Die Existenz des als ‚anders‘ klassifizierten Vergleichsobjekts ist der Definition eines Gegenstandes als alteritär als Prämisse bereits inhärent.¹⁰⁶ Selbst dort, wo die Annahme einer fortschreitenden Entwicklung literarischer Formen hin zu mehr Komplexität also nicht explizit geteilt wird, werden in der Betonung der Spezifika des mittelalterlichen Erzählens und der poetischen Praxis, in der Stilisierung scheinbar typischer Darstellungsformen und Erzählverfahren zu „Dokumenten vormoderner Textpraxis“¹⁰⁷ doch immer Entwicklungstendenzen und damit letztlich auch Qualitätsurteile impliziert.¹⁰⁸ Die Betonung der Andersartigkeit mittelalterlicher Literatur¹⁰⁹ impliziert folglich eine Perspektive auf mittelalterliche bzw. vormoderne Texte, die stets
Vgl. die kritischen Fragen bei Braun 2013, 16, 23, sowie die Rezension von Benz 2014. Vgl. die Problematisierung der von Becker und Mohr 2012 vorgeschlagenen terminologischen Differenzierung des Begriffs bei Braun 2013, 22. Vgl. Braun 2013, 25 f.; vgl. zur diachronen Vergleichsperspektive auch Schneider 2013, 157. Peters 2007, 76. Vgl. Braun 2013, 9, 22 f.Vgl. exemplarisch die Auflistung der Besonderheiten mittelalterlichen Erzählens bei Schulz 2012, 1 ff. Differenzierter argumentiert Peters 2007, 60 ff., die die Entwicklung der Alteritätsdebatte und die damit einhergehenden thematischen Forschungsschwerpunkte skizziert, ihren Ausführungen bereits eine kritische Bestandsaufnahme vorausschickt und letztlich die einzelnen Ergebnisse verschiedener Diskussionen auf ihre kulturelle – und besonders vormoderne – Spezifik hin befragt. Insgesamt scheint ihr die „kulturtypologisch orientierte Diskussion um die Spezifik mittelalterlicher Literatur geprägt zu sein von einem nicht immer hinreichend austarierten Wechselspiel zwischen eher kleindimensioniert-punktuellen textanalytischen oder überlieferungsgeschichtlichen Befunden einerseits und übergreifenden kulturellen Kartierungen andererseits.“ (70) Als Ursache für eine solche Betonung der Alterität vormoderner Literatur sind neben kulturellen, literarischen und materialen Gründen auch jene wissenschaftspolitisch und institutionell begründeten Ambitionen der Mittelalter-Philologie zu nennen, sich von den Neuphilologien ob der „Besonderheit ihrer Gegenstände“ abzugrenzen und mit einer „Absonderungsrhetorik“ auf der eigenen disziplinären Identität zu beharren (Peters 2007, 59 f.; vgl. zu diesem Aspekt auch Braun 2013, 11, 17 ff.). Erstaunlich ist dabei, wie Peters 2007, 85, konstatiert, dass in Anbetracht der Abgrenzungsbestrebungen nicht jenes „generellste und vielleicht sogar auch überzeugendste Kriterium“, nämlich die Materialität der handschriftlichen Schriftproduktion, verstärkt in den Blick geraten ist. Vgl. auch die Argumente gegen Alterität als Relevanzargument bei Braun 2013, 18 ff.
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weniger auf Analogien und Kontinuitäten als vielmehr auf Diskontinuitäten und Differenzen zu fokussieren scheint.¹¹⁰ Häufig geht dies mit der Annahme einher, dass sich vormoderne Literatur über ein Erzählen konstituiert, das im Vergleich zu modernen Texten weniger komplex ist, und – dies ist im vorliegenden Fall von besonderer Relevanz – andere Erwartungen an Logik, Stimmigkeit und Kohärenz aufweist.¹¹¹ Dies zeigt sich nicht zuletzt an jener Kategorie – und dies wird noch weiter auszuführen sein und sei hier daher nur kurz angedeutet –, die sowohl bei Lugowski als auch in der aktuellen Debatte als ein zentrales Charakteristikum mittelalterlichen Erzählens begriffen wird – der so genannten Motivation von hinten. Vor allem in jüngeren Arbeiten zu narrativen Logiken mittelalterlichen Erzählens wird neben anderen Aspekten die Idee einer primär final orientierten Motivierung als Spezifikum eines alteritären vormodernen Erzählens häufig postuliert.¹¹² Unter dem Alteritätspa-
Vgl. Braun 2013, 27 f.; Schneider 2013, 157 f. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den zum Teil apologetisch anmutenden Hinweisen auf die anhaltende Relevanz von Kontinuitäten und Konstanten selbst dort, wo realiter Diskontinuitäten und Differenzen als eigentlicher Gegenstand der mediävistischen Beschäftigung fungieren (vgl. Kiening 2005a, 162; Becker und Mohr 2012, 44; Haferland und Meyer 2010, 430). Vgl. auch die beiden konträren Positionen bei Haferland und Meyer 2010, 439 ff., darüber, was nun genau Gegenstand einer Betrachtung sein soll. Während für Haferland explizit die Diskontinuitäten in der Entwicklung der zentrale Untersuchungsgegenstand sind, denn „[s]ie sind es, die Entwicklung ausmachen“ (439), plädiert Meyer für eine Fokussierung der Kontinuitäten (vgl. 442). So unzutreffend es wäre, dies für alle mittelalterlichen Textzeugnisse einfach zu negieren, so problematisch ist es gleichzeitig, das moderne Komplexitätspostulat schlicht zu generalisieren – so wie nicht alle mittelalterlichen Texte nicht komplex sind, so sind nicht alle modernen Texte komplex. Auch Schneider 2013, 157, weist auf diese Problematik hin: „Bei näherem Hinsehen zeigt sich schnell, dass etwa die Kriterien einer kausal und/oder psychologisch stimmigen Verknüpfung der Handlungselemente – zwei Kriterien, die für die Kohärenz ‚modernen‘ Erzählens gerne in Anspruch genommen werden – gerade in moderner Literatur oft enttäuscht werden: Haben wir es hier mit Alteritäten zu tun?“ Die Unterstellung eines Kausalitätsverhältnisses von gesellschaftlicher und literarischer Entwicklung scheint dabei häufig zu Generalisierungen zu führen, wie es sich etwa bei Haferland (Haferland und Meyer 2010, 432) zeigt (vgl. die Problematisierung dieser Annahme durch Meyer, 435). In der Problematisierung solcher Positionen geht es dabei nicht um die Negation jedweder Unterschiede und Differenzen, sondern ausschließlich darum, Generalisierungen und eine verabsolutierende Gleichsetzung von gesellschaftlichen und literarischen Entwicklungen kritisch zu diskutieren. Vgl. hierzu exemplarisch Schulz 2012, insb. Kap. 6 „Wie wird ein Text zu einem kohärenten Text?“; Schulz 2010; Haferland 2014, der sich explizit auf Lugowskis Untersuchung bezieht, die Dominanz dieser Motivationsform in vormoderner Literatur aber unter anderem auf die Tradition des Wiedererzählens in der Mündlichkeit zurückführt. Vgl. zu der These einer primär final orientierten Motivierungsstruktur in mittelalterlicher Literatur auch die Ausführungen in Kap. 2.4 und 3.2.3.
2.2 Ambivalentes Erzählen und Ambivalenz erzählen
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radigma wird im Rahmen dieser Diskussion um narrative Logiken durch die Betonung spezifisch vormoderner Erzählstrukturen und -verfahren somit die Annahme einer fortschreitenden Entwicklung zu höherer Komplexität verfestigt. Neben Fragen zur Geschehensmotivation geraten dabei in einem umfassenderen Sinne auch vormoderne Denk- und Wahrnehmungsstrukturen in ihrer Funktion für die spezifische Logik des mittelalterlichen Erzählens in den Blick,¹¹³ wobei Phänomene, die den „Erwartungen an den inneren Zusammenhang einer Erzählung […] zuwiderlaufen“, die „irritieren“¹¹⁴, nicht selten als genuines Kennzeichen mittelalterlicher Literatur verstanden werden. Dass solche Feststellungen häufig auch ein Kompetenz- oder Qualitätsurteil implizieren, zeigt nicht zuletzt der Vergleich mit der modernen Trivialliteratur: Denn es wird der Literatur des Mittelalters nicht nur „eine Art Logik des Unlogischen, des Nicht-Kausallogischen“¹¹⁵ attestiert, sondern es wird neben der Konstatierung von Brüchen und Widersprüchen in der Handlungslogik auch auf die ‚Unpräzision‘ von Erzählstrategien hingewiesen, die es heute nur noch innerhalb der Populärkultur gäbe.¹¹⁶ Solche Inkohärenzen manifestierten sich zum einen in widersprüchlichen Motivationsstrukturen, die modernen Erwartungen an Plausibilität und Kausalität widersprächen;¹¹⁷ zum anderen zeigten sie sich aber auch in Form von Widersprüchen, „Doppelungen und Übermotivierungen“ sowie in „Ambiguitäten, bei denen an die Stelle präziser linearer Verknüpfung und textsemantischer Eindeutigkeit Mehrdeutigkeit und/oder Unbestimmtheit tritt.“¹¹⁸ Zur Erklärung jener Phänomene müsse man nicht nur von „historisch spezifisch anderen Erzähl- und/ oder Denkformen“¹¹⁹ ausgehen, sondern auch die eigenen Ansprüche an narrative Kohärenz berücksichtigen, die eine semiorale Kultur von der modernen Schriftkultur unterschieden¹²⁰. Beide Forschungsdiskussionen, die über die Alterität der mittelalterlichen Literatur sowie die über spezifische narrative Logiken mittelalterlichen Erzählens, sind nicht nur auf vielfältige Weise miteinander verflochten, sondern zielen letztlich auch ins Zentrum der hier zur Debatte stehenden Textbeobachtungen: Sind die exemplarisch am Fortunatus-Roman skizzierten Textarrangements womöglich nicht bewusst gestaltet, sondern Ausdruck eines alteritären, modernen
Vgl. Kragl und Schneider 2013, 8. Schneider 2013, 155. Kragl und Schneider 2013, 5. Vgl. Kragl und Schneider 2013, 5 f. Vgl. Kragl und Schneider 2013, 6. Kragl und Schneider 2013, 9. Kragl und Schneider 2013, 10. Vgl. Kragl und Schneider 2013, 11.
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
Erwartungen widersprechenden, auf anderen narrativen Logiken beruhenden und damit eines noch nicht derart ausgereiften Erzählens? Die bisherige Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Forschungstendenzen sollte deutlich gemacht haben, dass eine solche Perspektive auf als inkohärent klassifizierte textuelle Phänomene nicht nur eine Reihe von problematischen Implikationen mit sich bringt, sondern darüber hinaus auch stets Gefahr läuft, mit der Fokussierung auf die Andersartigkeit vormoderner Literatur den Blick für Kontinuitäten und Analogien zu versperren.¹²¹ Obgleich die Erwartungen an die Schlüssigkeit und Kohärenz eines Textes historischem Wandel unterworfen sind,¹²² muss „[n]icht jedes Irritationsphänomen […] auch ein Alteritätsphänomen und einem grundsätzlich anderen erzähltheoretischen oder kulturkognitiven System geschuldet sein“¹²³. Aus diesem Grund sollte die Diskussion und die Untersuchung poetischer Strukturen und narrativer Verfahren nicht a priori von jener Dichotomie ModerneMittelalter ausgehen, ist das, was man womöglich als alteritär, befremdlich oder weniger komplex wahrnimmt, doch dies nur ex post.¹²⁴ Eine Annäherung an mittelalterliche oder frühneuzeitliche Erzähltexte auf Basis des Alteritätsparadigmas nimmt darüber hinaus möglicherweise nur das in den Blick, „was neuzeitlichen Kohärenzerwartungen – wie auch immer sie zu bestimmen wären – nicht folgt“¹²⁵, während Analogien oder gar Identitäten unter Umständen nicht näher betrachtet werden. Eine Fokussierung auf erzählerische Kontinuitäten erscheint nun aber nicht nur aus genannten Gründen geboten; sie ist in diesem Zusammenhang auch deshalb erforderlich, weil Ambivalenz als genuines Merkmal auch vormoderner Literatur und damit als Grundkonstante des Erzählens verstanden wird: Ambivalenz und ambivalentes Erzählen werden somit selbst als sich wandelnde
Vgl. Kragl und Schneider 2013, 15; Schneider 2013, 156 ff. Vgl. Kragl und Schneider 2013, 4. Schneider 2013, 158. Vgl. Haferland und Meyer 2010, 440; vgl. Braun 2013, 22 f. Aus diesem Grund erscheint eine Herangehensweise an als inkohärent klassifizierte textuelle Phänomene gerade auch dann problematisch, wenn sie eine Vergleichsperspektive wählt, in der vermeintlich moderne Kohärenzerwartungen zu Kriterien der Beurteilung eines vormodernen Erzählens werden, deren ausnahmslose Erfüllung wohl auch für die moderne Literatur nicht behauptet werden möchte. Darüber hinaus handelt es sich bei Verfahren der Kohärenzerzeugung wie auch bei anderen im Zusammenhang mit dem Alteritätspostulat häufig genannten Erzähltechniken stets um graduelle Phänomene. Vgl. zu diesem Aspekt in Hinblick auf die Darstellung von Figuren und der für die mittelalterliche Literatur häufig postulierten Typenhaftigkeit Reuvekamp 2014, 115. Schneider 2013, 157.
2.2 Ambivalentes Erzählen und Ambivalenz erzählen
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Kontinuitäten definiert.¹²⁶ Die exemplarisch am Fortunatus-Roman skizzierten Textarrangements sind also weder einem alteritären, modernen Erwartungen widersprechenden und auf anderen narrativen Logiken beruhenden Erzählen¹²⁷ geschuldet, noch sind sie Resultat einer narrativ und interpretativ nicht zu bewältigenden lebensweltlichen Verunsicherung oder Irritation. Sie sind Ergebnis eines überaus komplexen Erzählens und damit Manifestationen einer genuinen Literarizität. Genannte Positionen unterscheiden sich folglich hinsichtlich der Beurteilung des literarhistorischen Statusʼ der frühneuhochdeutschen Prosaromane und ihres artifiziellen narrativen Charakters von der hier angestrebten Untersuchung. Sie scheinen zum Teil die Intentionalität und das Reflexionsniveau der narrativen Verfahren, die bewusste Konstruktion konträrer Sinnstrukturen sowie die Komplexität des Erzählens zu verkennen.¹²⁸ Nur unter dieser Prämisse können skizzierte Textarrangements als inkohärent gefasst werden, wobei der Terminus Inkohärenz ähnlich problematische Implikationen aufweist wie der der Alterität, sofern auch hier unmittelbar auf ein Vergleichsobjekt referiert wird. Darüber hinaus scheint der Terminus aufgrund seiner literarästhetischen Implikationen
Vgl. zum Begriff sich wandelnder Kontinuitäten Hübner 2010a. Bemerkenswert erscheint an dieser Stelle, dass letztlich selbst das mythische Analogon eine narrative Konstante darstellt, wenn man es als künstliche Gemachtheit definiert (vgl. dazu Müller 1996, 151, sowie Detering 1996, 65 f.). So pointiert zuletzt Schulz 2012, 3: „Ihre [der Texte] Fremdheit, ihre ‚Alterität‘ […], ist zwar mitunter groß, aber nicht überwältigend. […] Allerdings entzieht sich vieles, was man zunächst problemlos zu verstehen vermeint, bei genauerem Hinsehen dann doch wieder. Man sollte also nicht der Versuchung nachgeben, die alten Texte bedenkenlos den eigenen modernen Vorstellungen einzugemeinden.“ Dies zeigt sich etwa in Äußerungen wie der Friedrichs 2011, 149, in der dem Erzählen nicht nur „eine homogene Absicht, ein gerichteter Sinn“ abgesprochen wird, sondern letztlich auch eine grundsätzliche Sinndimension: „Der Text erhält seinen Sinn nicht mehr über eine ihn steuernde Idee.“ Gewiss könnte man entsprechend jener Positionen – sowohl der sozial- und kulturhistorisch als auch der alteritär argumentierenden – in den Fortunatus-Passagen die Auflösung und Überlagerung einer finalen Geschehensmotivation durch eine kausale Herleitung des Geschehens sehen; beide Positionen – sowohl diejenige, die hierin die Erfahrung von Regellosigkeit und Kontingenz sowie das Scheitern einer narrativen Bewältigung von Lebenswelt manifestiert sieht, als auch jene, die solche Strukturen mit einem grundsätzlich anderen kulturellen System und uns fremden Erzählstrukturen erklärt – negieren dabei implizit den Aspekt bewusster Konstruktion. Indem diese Annahmen nämlich suggerieren, dass der Text eigentlich final motiviert und dies auch intendiert sei, diese Motivationsform aber überlagert, abgelöst oder durchkreuzt werde, und es nur aus diesem Grund zu einer Gleichzeitigkeit oder Widersprüchlichkeit divergierender Motivationsstrukturen komme, implizieren sie zugleich, dass produktionsseitig kein Bewusstsein über den gezielten Einsatz narrativer Verfahren besteht. Im Rahmen solcher Ansätze wird den skizzierten Phänomenen gleichwohl zuweilen epochengeschichtliche Relevanz, zumindest in narrativer Hinsicht, attestiert (vgl. etwa Müller 1996, 148 – 159).
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
und seiner mangelnden Objektivität wenig geeignet, Textarrangements zu fassen, die als produktionsseitig konstruiert und mit narrativen Wirkungspotentialen ausgestattet verstanden werden.¹²⁹ Dabei suggeriert er zeitgenössische Unkenntnis über das Phänomen der Kohärenz und damit über sinnstiftendes Erzählen als solches.¹³⁰ Ambivalenz hingegen, verstanden als „Nebeneinander konträrer Sinnstrukturen“¹³¹ und als Form „vielfältige[r] Sinngenerierung in literarischen Texten“¹³², kann nicht nur die jeweiligen Sinndimensionen narrativer Konstellationen fassen, sondern markiert darüber hinaus auch keinen expliziten Widerspruch zu Kohärenz bzw. kohärentem Erzählen. Da Kohärenz sowohl eine in sich stimmige, logisch und kausal zusammenhängende narrative Struktur eines Textes, also die semantisch, grammatisch und pragmatisch zusammenhängende Verknüpfung von Textelementen, als auch allgemeiner den Sinn eines Textes, „verstanden als seine mehr oder weniger kohärente, interpretativ zu erschließende Gesamtbedeutung“¹³³, bezeichnet, können selbst ambivalente Textarrangements Kohärenz erzeugen.¹³⁴ Ambivalentes Erzählen wird in diesem Zusammenhang somit nicht als ein Verfahren verstanden, das narrativer Sinnbildung zuwiderläuft. Zum einen sind die auf einzelne Szenen beschränkten narrativen Ambivalenzen nicht grundsätzlich inkohärent, sofern sie, wie etwa die oben genannten, zum Teil lediglich verschiedene Deutungsmöglichkeiten erzählten Geschehens exponieren; zum anderen stören sie nicht den kohärenten Bedeutungsaufbau des Textes, gerade auch dann nicht, wenn sie wie die skizzierten
Auch Abel et al. 2009, 5, weisen darauf hin, dass für die Beschreibung solcher Phänomene der Terminus der Ambivalenz besser geeignet sei, weil mit dem Begriff Inkohärenz „lediglich ein Mangel bezeichnet [wäre]“, während der „Begriff Ambivalenz gerade den Aspekt der gleichzeitigen Anwesenheit von entgegengesetzten Tendenzen betont“. Auch Müller und Meister 2009, 31, konstatieren, dass Inkohärenz häufig „als ein Zeichen von logischer, rhetorischer oder ästhetischer Inkompetenz [gilt]; sie zeigt das Unvermögen eines Produzenten an, etwas in überzeugender Weise ‚auf die Reihe‘ zu bringen.“ Darüber hinaus weisen sie darauf hin, dass Kohärenz und Inkohärenz häufig als normative Termini fungierten. Laude 2009, 72. Bauer et al. 2010, 56. Abel et al. 2009, 4. Vgl. Abel et al. 2009, 3 ff.Versteht man unter narrativer Kohärenz also, „dass die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen eines erzählten Geschehens sowohl auf der grammatischen Ebene (der Ebene des syntaktisch-semantischen Zusammenhangs) als auch auf der inhaltlichthematischen Ebene (der Ebene des kognitiven Zusammenhangs) so beschaffen sind, dass die Erzählung im Blick auf die histoire wie auf ihren discours als in sich zusammenhängend, logisch und widerspruchsfrei wahrgenommen werden kann“ (Schneider 2013, 156), so schließen sich Ambivalenz und Kohärenz keineswegs aus. Zwar können einzelne Textpassagen ambivalent sein, dies stört aber nicht zwangsläufig die narrative Kohärenz eines Textes; auch werden trotzdem schlüssige Gesamtbedeutungen generiert (vgl. Abel et al. 2009, 3 ff.).
2.3 Ambivalenz im frühneuhochdeutschen Prosaroman
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handlungsfunktional entbehrlich sind, sondern lassen vielmehr die Frage nach ihrer über eine Handlungsfunktionalität hinausgehenden Bedeutung und Relevanz für die Sinnkonstitution virulent werden. Auch wenn jeweils zu prüfen sein wird, ob und in welchem Maße Ambivalenzen hier einen Beitrag leisten, kann doch grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass ihre Generierung und die damit potentiell einhergehende Etablierung konträrer Sinnpotentiale sinnstiftend sein kann, sowohl in Form „epistemischer Referenzialisierung auf textexterne Texte und Kontexte“¹³⁵ als auch als Reflexion der Bedingungen und Prämissen kohärenten Erzählens und literarischer Sinnstiftung. Die narrative Ausstellung ästhetischer Vieldeutigkeit wäre somit womöglich als „Phänomen einer ‚Sinnkohärenz aus Ambivalenz‘“¹³⁶ beschreibbar. Ambivalenz entsteht demnach nicht aus der für das erzählende Subjekt weder interpretativ noch narrativ zu bewältigenden Erfahrung von Kontingenz oder seiner kulturellen, kognitiven und narrativen Alterität. Trotz der grundsätzlichen Ambivalenz bzw. Ambiguität literarischer Texte seit der Antike¹³⁷ legt ihre Virulenz in den zeitgenössischen Erzähltexten nahe, sie als konstitutiv zu verstehen: Ist Ambivalenz somit poetisches Programm der frühneuhochdeutschen Prosaromane?
2.3 Ambivalenz im frühneuhochdeutschen Prosaroman – Forschungsstand und Zielsetzung Die Virulenz als ambivalent bestimmter Phänomene in der frühneuhochdeutschen Erzählprosa ist unter anderen Prämissen und Perspektiven freilich auch in der Forschung beobachtet worden; sie wurde in der Regel als Symptom für die vielfältigen epochalen Veränderungen am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, für die Heterogenität der Zeit verstanden, wie es auch für die skizzierte FortunatusForschung kennzeichnend ist. Dabei decken sich die dargelegten Befunde über den Fortunatus nicht nur mit einem Großteil der Prosaromanforschung insgesamt, sondern verweisen auch auf die gegenwärtigen Tendenzen der Forschung, sich verstärkt mit Wissensstrukturen und epistemischen Ordnungen des zuvor in der Germanistik vernachlässigten 16. Jahrhunderts als einer Zeit tiefgreifender Umbrüche auseinanderzusetzen.¹³⁸ Von besonderem Interesse sind dabei die unter-
Abel et al. 2009, 3. Abel et al. 2009, 3. Vgl. Scheffel 2009; Reuvekamp-Felber 2016, 219 f. Vgl. Kellner et al. 2011, 1.
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
schiedlichen Verfahren der literarischen Verarbeitung verschiedener Wandlungsprozesse, seien sie sozialer, institutioneller oder epistemischer Natur, die interdiskursiven Vernetzungen zwischen Literatur und außerliterarischen Kontexten, die Darstellungsformen und Inszenierungen von Wissen sowie Spezifika einzelner narrativer Formen unter sich verändernden medialen Bedingungen.¹³⁹ Prämisse dieser Perspektive auf die Texte des 16. Jahrhunderts ist dabei die Annahme, ihren kulturellen und historischen Status über die Rekonstruktion der unterschiedlichen Formationen epistemischer Referenzialisierung und wechselseitiger interdiskursiver Bezugnahmen präziser als andere methodische Zugänge beschreiben zu können.¹⁴⁰ Neben dem Blick auf Besonderheiten in narrativen Verfahren als Reaktion auf jene beschriebenen Prozesse und die diversen Verflechtungen von Literatur und anderen Diskursen liegt besonderer Fokus auf den verschiedenen Formen der Wissensspeicherung, -produktion und -modifikation sowie der „Einbindung der Literatur ins kulturelle Archiv einer Zeit“¹⁴¹. Im Rahmen dieser Untersuchungen werden neben anderen erzählenden Gattungen dann vor allem auch die frühneuhochdeutschen Prosaromane betrachtet, die aufgrund ihrer Selbstbezeichnung als historia und dem damit einhergehenden besonderen Verhältnis zum Wissen ganz unterschiedliche Formen epistemischer Referenz aufwiesen.¹⁴² Auch in diesem Kontext werden als spezifisches Charakteristikum vormoderner Erzählungen dann neben anderen Aspekten ganz allgemein die in Analysen häufig begegnenden „Inkonsistenzen, Widersprüche und Überschüsse“¹⁴³ benannt; sie seien häufig gerade nicht narrativer Natur, auch wenn man sie vielfach als Ausdruck konträrer Erzählmuster stoff- oder motivgeschichtlicher Provenienz zu beschreiben versucht hätte; auch könne man sie nicht „als Symptome ungelöster Spannungen zwischen Altem und Neuem, Mittelalterlichem und Neuzeitlichem“¹⁴⁴ verstehen. Solche Deutungen ignorierten häufig nicht nur die strukturellen und semantischen Implikationen der Texte, sondern auch deren narrative Verfahren.¹⁴⁵
Vgl. Kellner et al. 2011, 1– 7. Vgl. Kellner et al. 2011, 3: Die „historische Signatur frühneuzeitlicher deutscher Erzählliteratur“ sei auf diese Weise besser zu erfassen, „als in vorwiegend diachronen, mehr oder weniger stark teleologisch bestimmten Perspektivierungen einzelner Autoren, Gattungen, Werke und ihrer literaturimmanenten Funktionsmechanismen.“ Kellner et al. 2011, 4. Vgl. Kellner et al. 2011, 10 f. Kellner et al. 2011, 3. Kellner et al. 2011, 3. Vgl. Kellner et al. 2011, 3 f.: Aus welchem Grund das in diesem Rahmen forcierte Erklärungsmuster für konstatierte Brüche und Inkohärenzen, sie nämlich als „Ausdruck des Medienwandels und Medienwechsels“ oder als „Folgen von Pluralisierungstendenzen und -erfahrungen“
2.3 Ambivalenz im frühneuhochdeutschen Prosaroman
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Die in diesem Rahmen entworfenen Forschungsperspektiven basieren dabei allerdings nicht auf grundsätzlich neuen Annahmen; sie rekurrieren letztlich auf Sachverhalte und Hypothesen – wenn auch mit einer stärkeren Fokussierung epistemischer Strukturen –, die die Forschung zum Prosaroman sowohl des 15. als auch des 16. Jahrhunderts bereits seit ihren Anfängen kennzeichnet: Nämlich die Überzeugung einer besonders starken außerliterarischen Verweisfunktion der Prosaromane, ihrer stärkeren Einbindung in die kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Ordnungen der Zeit und der damit einhergehenden Verarbeitung zeitgenössischer Prozesse der Veränderung, des Wandels und des Fortschritts. Kurz: Mehr als andere, sowohl frühere als auch spätere Erzähltexte, wurden die Prosaromane als Antwort auf den historischen Kontext gelesen, in dem sie entstanden sind.¹⁴⁶ Diese Tendenz ist dabei weder nur jenem seit den 60er Jahren verstärkten kulturwissenschaftlichen Interesse auch der mediävistischen Literaturwissenschaft noch ausschließlich ihrer grundsätzlichen Orientierung an kultureller Kontextualisierung geschuldet.¹⁴⁷ Trotz der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung von einer primär gesellschafts- bzw. sozialgeschichtlichen hin zu einer eher kulturanthropologischen Annäherungsweise an mittelalterliche Texte und der damit einhergehenden zunehmenden Differenzierung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Text und Kontext¹⁴⁸ scheint gerade in der Prosaromanforschung jenes gesellschaftshistorische Verständnis – der Text als „Bezugsfeld des gesellschaftlichen Wandels“¹⁴⁹ – fortwährend präsent zu sein,¹⁵⁰ obwohl sich
zu deuten, die narrativen Verfahren, textuellen Strukturen und den semantischen Gehalt der Texte stärker zu berücksichtigen glaubt als andere motiv- oder stoffgeschichtliche Untersuchungen, bleibt vor allem aber deshalb ungeklärt, weil textuelle Inkohärenzen zugleich als Resultat der Anhäufung heterogener und disparater Elemente und der „‚Verwilderung‘ konventioneller Strukturmuster des Erzählens“ bestimmt werden. Reaktion auf solche textuellen, inkohärenten Phänomene seien dann ebenfalls spezifische narrative Verfahren, nämlich erzählerische Strategien, Kontingenz entweder explizit auszustellen oder zu verringern. Deutlich wird dies vor allem in Interpretationen von frühneuhochdeutschen Prosaromanen, die auf älteren Versvorlagen beruhen, wie etwa bei der Bearbeitung höfischer Epen. Vgl. beispielsweise zu dem Roman Tristrant und Isalde Müller 1985, 60, 79, in dem die ursprünglich exemplarische Deutung durch eine dem Leser anheimgestellte kasuistische Bewertung ersetzt werde. Eine solche Kasuistik könne sich dabei „gewissermaßen indirekt aus der Inkonsistenz konkurrierender Normen und Gesellschaftsbilder ergeben“ (79). Vgl. auch Friedrich 2011, 135, der im Roman im Vergleich zur Eilhart’schen Vorlage eine verstärkte Auseinandersetzung mit Kontingenz beobachtet. Vgl. Peters 2000, 7; Ridder et al. 2004, 11 f.; Müller 2000, 461 f. Vgl. die Skizze dieser Entwicklung bei Peters 2000, die diese auch anhand des höfischen Romans und der Lyrik exemplifiziert; vgl. auch Müller 2000, 464 f., sowie Kellner 2001, 268 f. Peters 2000, 26, hier auf Deutungen von Neidharts Oeuvre bezogen.
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
auch hier der „Weg von der Gesellschaftsgeschichte zur Kulturanthropologie“¹⁵¹ durchaus nachzeichnen ließe. Wie bereits erwähnt, zeichnen die skizzierten Ansätze zum Fortunatus dabei relativ genau die Konturen der gesamten Prosaromanforschung nach;¹⁵² diese werden insgesamt als „Symptome eines durchgreifenden literatur- und sozialgeschichtlichen Wandels“¹⁵³ bewertet, wobei textimmanente Beobachtungen nicht selten im Rekurs auf außerliterarische Funktionszusammenhänge erklärt werden und von einer besonders ausgeprägten Relevanz sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Faktoren für die Konstitution der Gattung ausgegangen wird. Womöglich aus diesem Grund wurden die im vorliegenden Zusammenhang als ambivalent bezeichneten Phänomene meist als Ausdruck ihres geistesgeschichtlichen Kontextes verstanden. Ihnen wurde aufgrund ihrer epochengeschichtlichen Signatur und ihres außerliterarischen Verweischarakters zwar immer wieder große Relevanz beigemessen, sie sind aber nie systematisch untersucht worden. So wurden sie weder eingehend in ihrer narrativen Faktur beschrieben, noch sind Überlegungen zu dem genauen Verhältnis zwischen ihrer narrativen Gestaltung und den damit aufgerufenen kulturellen Konstellationen angestellt worden. Als Symptome für die Heterogenität der die Textproduzenten umgebenden Lebenswelt wurden sie zwar vor allem im Rahmen kulturwissenschaftlicher und historisch-anthropologischer Forschungsansätze konstatiert, nicht aber systematisch analysiert. Dieses Desiderat wird mit Blick auf die Forschungsgeschichte verständlich, sofern stets jene erwähnte epochengeschichtliche Relevanz der Erzählungen fokussiert wurde. So ist bereits die frühe Forschung¹⁵⁴ zur frühneuhochdeutschen Erzählprosa unter einem noch sozialgeschichtlich geprägten Forschungsparadigma¹⁵⁵ von
Zuletzt hat Reuvekamp 2014, 130, in der Analyse des Fortunatus auf dieses Phänomen hingewiesen: Obgleich sich nämlich gerade die aktuelle Forschung verstärkt gegen eine gerade in älteren sozialgeschichtlichen Ansätzen präsente Deutung des Romans als ein historische Realität abbildendes Exempel gesellschaftlicher Wandelerscheinungen ausspreche, werden „unter veränderten methodischen Prämissen nach wie vor die engen diskursiven Zusammenhänge zwischen der erzählten Geschichte […] mit den tiefgreifenden ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu Beginn der Frühen Neuzeit betont.“ Vgl. auch Kellner 2005, 314 f. Peters 2000, 35. Prägnant zusammengefasst hat dies Kaminski 2014, 162: „Üblicherweise wird der ‚Fortunatus‘, […] in einem Atemzug genannt mit der ‚Melusine‘ (1456) oder ‚Hug Schapler‘ (1587), der ‚Magelone‘ (1535) oder der ‚Historia von D. Johann Fausten‘ (1587) und in diesem Kontext als epochengeschichtlich symptomatisch gelesen: als Textur eines Umbruchs von tradierten Sinnund Ordnungsmodellen zu Strukturen der Offenheit, des Nebeneinanders, der Kontingenz, die im Rekurs auf zitierte Ordnungsmuster narrativ als solche auch reflektiert werden.“ Müller 2010, 118. Einen Überblick über die Forschung zum Prosaroman bis 1985 gibt Müller 1985.
2.3 Ambivalenz im frühneuhochdeutschen Prosaroman
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einer im Vergleich zur mittelalterlichen Versepik stärkeren Einflussnahme außerliterarischer und soziokultureller Faktoren auf die inhaltlich-thematische Ausrichtung sowie sprachliche und textstrukturelle Organisation der Romane ausgegangen und hat versucht, die vielfältigen Verflechtungen und Bezugnahmen zu sozialen, medialen, epistemischen und religiösen Ordnungen einer als Übergangsepoche verstandenen Zeit nachzuweisen.¹⁵⁶ Mit der stärkeren Fokus-
Vgl. zum Forschungsparadigma Sozialgeschichte der Literatur Huber und Lauer 2000; Müller 2000; Peters 2000. Die frühe Forschung diskutierte zunächst insbesondere Fragen der Gattungszugehörigkeit, den Status der Texte als Volksbücher und damit einhergehend die Notwendigkeit eines einheitlich verbindlichen Textcorpusʼ (vgl. zur frühen Gattungsdiskussion, zur Genese des Volksbuch-Begriffs sowie zur Entwicklung der Bezeichnung Prosaroman in der frühen Forschung Müller 1985, 1– 15). Dabei wurde das Verhältnis zur mittelhochdeutschen Epik sowohl allgemein als auch im Hinblick auf spezifische Vorlagen in den Blick genommen, es wurden im Kontext der Untersuchung des Übergangs von Vers zu Prosa (vgl. den Überblick bei Müller 1985, 15 – 25; vgl. auch Schnell 1981) sowie von Autorenprofilen und Publikumszusammensetzung (vgl. Müller 1985, 25 – 34) anhand der Dichotomie Mittelalter – Neuzeit nicht nur Periodisierungsversuche angestrebt, sondern überdies auch Trivialisierungstendenzen festgestellt (vgl. bspw. Roloff 1970; Melzer 1972; gegen die Idee einer Trivialisierung unter anderem Noll-Wiemann 1970, die in Figurengestaltung und Komplexität des erzählten Geschehens im Fortunatus bereits romanhafte Züge sah; vgl. den Überblick bei Müller 1985, 50 – 61). Zwar wurden im Anschluss schon früh auch Fragen nach der spezifischen erzählerischen Gestaltung (vgl. bspw. Noll-Wiemann 1970; Thomas 1971) und nach einzelnen, in den Erzählungen zentralen Motiven und ihrer narrativen Darstellung (vgl. bspw. Radmehr 1980) gestellt, im Fokus standen aber vor allem sozialgeschichtliche Prozesse: So galt beispielsweise der oppositionelle Status des Volksbuchs im Sinne eines nicht mehr den kulturellen Eliten vorbehaltenen, sondern auf literarische Interessen einer bis dahin ausgegrenzten sozialen Schicht reagierenden Mediums als zentrales, die Gattung konstituierendes Kriterium (vgl. Müller 1985, 7 f.). In dieser sozialgeschichtlichen und letztlich gesellschaftspolitischen Perspektive wurden die Prosaerzählungen zum „Medium einer beginnenden sozialen Umwälzung“, zum Ausdruck bürgerlicher Tendenzen sowie des „Wandel[s] der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung und [der] Auflösung des alten Bildungsmonopols“ (8). In diesem Kontext wurde auch die Distanzierung vom Vers und der Übergang zur Prosa als solches Symptom sozialgeschichtlicher Veränderungen gedeutet und dabei sowohl als Resultat von Verbürgerlichung oder Rationalisierung begriffen, als auch als kultureller Zerfall einer poetisch höherwertigen mittelalterlichen Kultur und Kunstform verstanden (vgl. bspw. Roloff 1970, 14). Gerade die Idee eines kulturellen Rückschritts wurde lange Zeit durch publikumssoziologische Annahmen verstärkt, die zwar die (angenommene) Ausbreitung der Erzählprosa in Unter- und Mittelschichten zunächst als Ergebnis einer literarischen Trivialisierung verstanden, zugleich aber davon ausgingen, dass in späteren Druckausgaben und -auflagen jene Trivialisierung durch eine verstärkte Expansion in einem nur noch an Unterhaltung interessierten, ästhetisch wenig geschulten Massenpublikum vorangetrieben worden sei (vgl. Müller 1985, 41 ff., 50 ff.). Auch entgegen dieser Trivialisierungsthese wurden Aussagen über die spezifische stilistische Beschaffenheit der Prosaerzählungen gleichwohl häufig auf der Basis textexterner Prämissen getroffen; als ursächlich für die die Prosaerzählungen kennzeichnende, aber von stilistischen Besonderheiten der mittelhochdeut-
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
sierung auf kulturwissenschaftliche und historisch-anthropologische Themen und Fragestellungen hat sich diese Tendenz in der Folge fortgesetzt; gerade die Schwellenzeit zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit galt diesbezüglich als ergiebiges Untersuchungsfeld, in dem die Beziehungen literarischer Texte zu ihren gesellschaftlichen Kontexten höchst aufschlussreich und von besonderer Relevanz seien.¹⁵⁷ In diesem Kontext ist die Studie Müllers zu Volksbüchern und Prosaromanen des 15. und 16. Jahrhunderts zu erwähnen, an der sich jene, als Abgrenzung zu sozialgeschichtlichen Ansätzen vollziehende, kulturwissenschaftliche Wende¹⁵⁸ nachvollziehen lässt und die jene in der frühen Forschung relevanten Themen aufgegriffen und vielfach revidiert hat.¹⁵⁹ Auch wurde auf die
schen Epik zu differenzierende rhetorische und stilistische Gestalt wurden Faktoren wie veränderte Kommunikationsbedingungen, generalisierte Gebrauchssituationen sowie die damit einhergehende Notwendigkeit einer Verständigungssicherung angesehen, die wiederum aus dem Wandel des kommunikativen und literarischen Systems und hier insbesondere aus dem Medienwandel bzw. Buchdruck resultierten. Viele Aspekte, die vorher als Trivialisierungstendenzen bewertet wurden, konnten somit als Ergebnis veränderter literarischer Kommunikationsbedingungen bestimmt werden. Diese Annahmen wirkten der gerade in der Volksbuchforschung häufig vertretenen These, die Prosaromane seien letztlich abgesunkenes Kulturgut, entgegen. Zeitgenössisch virulente Phänomene und Wandelerscheinungen, wie etwa die Reformation, der Medienwandel, Veränderungen in Wissensordnungen und Gesellschaft, wurden somit auf beiden Seiten zu Argumenten für je spezifische ästhetische, erzählerische und strukturelle Konfigurationen der Prosaromane. Vgl. Kellner 2007, 221. Vgl. zur Schwellenzeit als Untersuchungsfeld auch für anthropologische Themen Linden 2015, 151; Stegbauer et al. 2014, 19 f. Vgl. zur kulturwissenschaftlichen Wende exemplarisch Müller 2000, 464 ff. So hat Müller 1985, 84, 87, 92, 98 f., 102 f., etwa in Auseinandersetzung mit der frühen Forschung die Reduktion der Erzählungen auf Symptome gesellschaftlicher Veränderungen und Wandelerscheinungen gerade auch im Rahmen politisch-ideologischer Positionen problematisiert und die engen wechselseitigen Verflechtungen von textstrukturellen Phänomenen, narrativen Verfahren und der die Texte umgebenden Kultur betont. In der Skizzierung zukünftiger Aufgaben einer sozial- und funktionsgeschichtlichen Analyse der Prosaromane betont er etwa die Notwendigkeit, den Prosaroman „als historisches Erkenntnismedium sui generis zu betrachten“, sowie die „besondere[] Verarbeitung historischer Realität im Medium literarischer Verfahren“ (102). Dabei fungiere Kontingenz als „Ausgangspunkt einer neuen Welterfahrung“ (98), als Horizont, vor dem auch neue sinnstiftende Ordnungen entworfen würden. Wenn auch nicht derart ausgeprägt wie im Fortunatus manifestiere sich jene allumfassende Kontingenzerfahrung auch in anderen Prosaromanen dabei insbesondere in der Figur Fortunas: „Fortuna ist die zur Notwendigkeit mythisierte Erfahrung radikaler Kontingenz. Die Ordnung, die sie angibt, ist also keine wirkliche Ordnung, unter dem Namen des ‚Glücks‘ kann die ‚Offenheit‘ des Geschehens gefaßt werden: vom Trojabuch bis zu Wickram.“ (96) Fortuna – als Figur, erzählerisches Gestaltungsprinzip oder impliziter Handlungsverlauf – fungiere somit gerade in der Gattung Prosaroman als narrative Entfaltung einer historisch-kulturellen Problemkonstellation (vgl. zur Terminologie Müller 2007a, 34 ff.).
2.3 Ambivalenz im frühneuhochdeutschen Prosaroman
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besondere Relevanz solcher Aspekte in der Analyse der Prosaromane hingewiesen, die bereits in der erwähnten Forschung zum Fortunatus besonders herausgehoben wurden: „Momente, die sich der Sinnintention zu entziehen scheinen, abgerissene Handlungsfäden, ‚offene‘ Problemkonstellationen, Nebenhandlungen, die über ihre Funktion hinaus zu Ende gebracht werden.“¹⁶⁰ Die Affinität der Prosaromane zu solch ambivalenten Textelementen wurde also stets erkannt und besonders pointiert; eine eingehende Untersuchung dieser Phänomene, die über eine Konstatierung und zeitgenössische Kontextualisierung hinausginge, wurde aber auch in der Folge nicht unternommen. Obgleich weiterhin die engen Verzahnungen zwischen Literatur und Gesellschaftsgeschichte im Fokus der Betrachtung standen¹⁶¹ – zu nennen sind hier etwa Untersuchungen zu Prozessen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung¹⁶² oder im weitesten Sinne medienge Müller 1985, 97 f. Die zeitnah an Müller 1985 erschienene Darstellung von von Ertzdorff 1989, 2, möchte hingegen explizit keinen neuen geistes- und sozialgeschichtlichen Horizont entwerfen, da nicht nur das 15. und 16., sondern eben auch die vorangehenden und nachfolgenden Jahrhunderte „Zeiten des Umbruchs und des Übergangs“ waren. Neben einer thematischen und motivgeschichtlichen Interpretation intendiert sie einen Überblick über die zeitgenössische Erzählliteratur und fragt vor allem auch nach Traditionszusammenhängen im europäischen Kontext. Neben Münkler 2011 und Münkler 2016 hat sich auch Braun 2001 in Anlehnung an Luhmann mit dem Wandel spezifischer Semantiken in den frühneuhochdeutschen Prosaromanen auseinandergesetzt. Seine Studie basiert auf der These einer engen Verquickung von Literatur- und Gesellschaftsgeschichte und auf der Prämisse, dass „sich die Geschichte der Literatur […] nur im Rekurs auf außerliterarische Faktoren [erfassen lässt]“ (3). Sie untersucht auf Basis verschiedener diskursanalytischer Theorien und in Bezug auf die Luhmannʼsche Systemtheorie den Wandel der Semantiken Ehe, Liebe und Freundschaft in den frühneuhochdeutschen Prosaromanen. Die Relevanz gesellschaftlicher Entwicklungen für das Verständnis dieser Erzählungen leitet er dabei aus Luhmanns Überlegungen zur Epochenbildung ab (vgl. 5) und möchte die „knapp hundertjährige Zeitspanne vom ausgehenden 15. bis ins zweite Drittel des 16. Jahrhunderts“ als „distinkte Epoche“ verstanden wissen, deren Dynamiken und Veränderungsprozesse insbesondere in den Prosaromanen reflektiert würden, „befindet sich der Roman doch seit dem späten Mittelalter im experimentierfreudigen Zustand erzählerischer ‚Verwilderung‘.“ (6) Die von ihm fokussierten Semantiken reagierten dabei als spezifische Formen der Vergesellschaftung auf die Erosion zuvor gültiger sozialer Systeme (vgl. 7) und seien somit Reaktion auf den zeitgenössisch terminologisch noch nicht fassbaren gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozess − und zwar in Form eines „kulturellen Bewältigungsversuch[s]“ (346). Dass gerade der Prosaroman sich als probates Medium der Verarbeitung und Bewältigung etablieren konnte, liegt nach Braun in dessen poetologischer Inkonsistenz begründet, die durch die Integration verschiedener Gattungen und Erzählstoffe nicht nur zu einer erhöhten erzählerischen Komplexität, sondern auch zu dem Entwurf neuer Formen der Vergesellschaftung geführt habe (vgl. 346). Für solche Ausdifferenzierungsprozesse stelle der Buchdruck die wohl wichtigste Voraussetzung dar (vgl. 119, vgl. zur Bedeutung des Medienwandels in kulturwissenschaftlicher Forschungsperspektive und seiner, z.T. überschätzten, epochengeschichtlichen Relevanz Müller 2014, 61– 64).
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
schichtliche Ansätze¹⁶³ –, sind gerade jene Stellen, die stets als Resultat der die Erzählungen umgebenden Lebenswelt verstanden worden sind, weder in ihrer narrativen Konzeption noch in ihrer tatsächlichen kulturellen Relevanz weiter in den Blick geraten. Selbst in einer umfangreichen Bilanzierung des Forschungsfeldes zum frühneuhochdeutschen Prosaroman, wie sie Schnyder 2010 in dem Band Eulenspiegel trifft Melusine vorgelegt hat, ist dies der Fall. Die im Rahmen von Müllers Studien einst aufgeworfenen Fragestellungen, Forschungsperspektiven und Deutungsansätze wurden hier erneut aufgegriffen und vor der Folie auch neuerer Forschungsarbeiten zum frühneuhochdeutschen Prosaroman diskutiert und neu perspektiviert. Zwar wurde in diesem Rahmen die Vielfalt der auch auf den Prosaroman angewandten mediävistischen Forschungsparadigmen postuliert, gleichzeitig aber auch auf das nachhaltige Interesse an kulturwissenschaftlichen Fragestellungen hingewiesen.¹⁶⁴ Dies kennzeichnet letztlich auch die im Band versammelten Beiträge, die zwar verschiedene methodische Zugänge gewählt und sich somit insgesamt auf eine breitere theoretische Basis gestützt, sich aber letztlich auf die von Müller aufgeworfenen Forschungsfragen konzentriert haben. Neben einer detaillierten Diskussion der einzelnen bei Müller untersuchten Aspekte und ihrer zum Teil kritischen Reflexion wurden dabei auch forschungsgeschichtliche Entwicklungslinien nachgezeichnet. Während die Beiträge des Bandes insgesamt ein breites methodisches Panorama entworfen, sich Intentionen und Adressaten der Prosaromane,¹⁶⁵ dem Verhältnis zu ihren Vorla-
Mit einem publikumssoziologischen Schwerpunkt etwa Ader 2010a sowie Ader 2010b, die die verschiedenen frühneuhochdeutschen Bearbeitungen des Tristrant-Romans analysiert, Unterschiede in den verschiedenen Druckversionen dabei als Reflex veränderter Publikumsinteressen deutet und deshalb Abweichungen zwischen einzelnen Versionen „als Indikatoren für Veränderungen im Leseverhalten des potentiellen Publikums“ (Ader 2010b, 8 f; vgl. auch Ader 2010a, 439) verstanden wissen will. Darüber hinaus gilt ihr Interesse der Funktion von Text und Bild in einer sich neu entwickelnden Rezipientenschicht (Ader 2010b, 9). Einzelne textimmanente Beobachtungen werden dabei als Verweis auf einen Umbruch im Rezeptionsverhalten bewertet. Vgl. Schnyder 2010a, 12 f.: „Kein Paradigma, das in der Mediävistik seit 1985 aufgekommen ist, hatte nicht auch Relevanz […] für den frühneuzeitlichen Prosaroman: New Philology, Variantenlust und -last, die Suche nach dem – verschwundenen? – Autor, jene nach dem Zusammenhang von Text und Bild, die – je nach Sichtweise – cis- oder transhermeneutischen Explorationen zur Materialität von Literatur, die Debatten zur Geschlechterdarstellung, die Medienproblematik und nicht zuletzt das aktuell weiterhin andauernde und vieles subsumierende Interesse an kulturgeschichtlichen Forschungen.“ Vgl. Hahn 2010, der in der Untersuchung von Vorreden, Widmungen und Erzählerkommentaren im Ritter vom Turn, Pontus und Sidonia und der Magelone und den dort apostrophierten Rezipienten auf die Zusammensetzung des zeitgenössischen Publikums und mögliche Intentionen der Romane rückschließt.
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gen¹⁶⁶ oder Gattungsfragen¹⁶⁷ gewidmet, das Verhältnis von Text und Bild¹⁶⁸ betrachtet, sich den Erzählungen aus buch- bzw. druckgeschichtlicher¹⁶⁹ sowie kunsthistorischer¹⁷⁰ Perspektive genähert haben, wurden neben sprachwissenschaftlichen Analysen¹⁷¹ auch explizit Fragen nach erzählerischen Motiven¹⁷² und nach der narrativen Gestaltung gestellt¹⁷³. In zahlreichen Untersuchungen sind dabei ähnliche Beobachtungen gemacht worden wie in der bereits skizzierten Fortunatus-Forschung.¹⁷⁴ Auch in der jüngeren Forschung zum Prosaroman zeichnet sich somit die Dominanz kulturwissenschaftlicher Forschungsansätze
Vgl. Buschinger 2010, die das Verhältnis zur Vorlage insbesondere am Prosa-Tristrant untersucht, daneben aber auch allgemeine Überlegungen zu Prosa-Vorläufern und ihren Einflüssen auf die frühneuhochdeutschen Romane anstellt. Neben der Feststellung von strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Tristrant, Fortunatus und Magelone versucht sie, die allen drei Romanen eingeschriebene primär didaktische Intention mit Aussagen über die Zusammensetzung des Publikums zu korrelieren. Vgl. auch Mühlethaler 2010, der insbesondere das Verhältnis von Vers und Prosa im Vergleich zur französischen Erzähltradition in den Blick nimmt. Vgl. Kipf 2010, der in der Bestimmung des Verhältnisses von Prosa- und Schwankroman für die Annahme einer jeweils eigenständigen Gattung plädiert, dabei durchaus die Existenz von Schnittmengen zwischen beiden nachweisen kann und sie einer übergeordneten Gattung ‚frühneuzeitlicher Roman‘ untergeordnet wissen will; vgl. Philipowski 2010. Vgl. Haubrichs 2010. Vgl. Künast 2010, sowie Rautenberger 2010; vgl. zu den Differenzen in einzelnen Druckfassungen des Prosa-Tristrant Ader 2010a. Vgl. Domanski 2010. Vgl. Simmler 2010, 142, der anhand der Etablierung von für die Gattung Prosaroman konstitutiven Erzählprinzipien die Makrostrukturen sowie die syntaktischen Besonderheiten in den verschiedenen Fassungen der Melusine-Tradition untersucht und dabei insbesondere an der Abschiedsszene zeigen kann, dass vielfältige Kongruenzen zwischen den „syntaktischen Strukturen und der Handlungsstruktur und der Personenkonstellation […] existieren.“ Vgl. auch Behr und Habermann 2010. Vgl. Rohr 2010; vgl. Dellsperger 2010. Vgl. Drittenbass 2010; vgl. Kellermann 2010. Gleichzeitig exemplifiziert der Band die Differenzen, die zwischen einzelnen Erzählungen hinsichtlich Breite und Intensität der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bestehen: Einzelne Romane sind deutlich stärker in den Blick geraten als andere, sind häufiger in vergleichenden Analysen betrachtet worden oder haben zum Teil auch aufgrund ihrer Überlieferungsgeschichte mehr Aufmerksamkeit erfahren. Auch im Hinblick auf methodischen Pluralismus sind zum Teil erhebliche Differenzen zwischen einzelnen Erzählungen zu verzeichnen. Vgl. zum Stand der Überlieferung und den zugänglichen Ausgaben der Erzählungen, zum Umfang der auf sie bezogenen Forschungsliteratur sowie zur Vielfalt methodischer Zugänge exemplarisch die Auswahlbibliographie bei Schnyder 2010b. Insgesamt sind neben dem Fortunatus vor allem die Melusine, die Romane Jörg Wickrams und die Historia von D. Johann Fausten verstärkt in den Blick der Forschung geraten, während vor allem die auf antiken Wurzeln oder auf mittelalterlichen Erzählstoffen basierenden Romane verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit erhalten haben.
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
ab.¹⁷⁵ Die Relevanz einer solchen kulturwissenschaftlich interessierten Literaturwissenschaft hat jüngst noch Müller betont, so konstatiert er: Die Frage nach den kulturellen Kontexten literarischer Texte gehört zu den altehrwürdigsten des Faches. Ihre Dringlichkeit ist unübersehbar, denn auch die Besonderheit der literarischen Zeichenproduktion und -geltung ist abhängig von einer kulturellen Praxis, Institutionen und Formen literarischer Kommunikation, gesellschaftlichen Ordnungen, historischen Mentalitäten, Habitus, Traditionen usw., auf die sie sich beziehen und an denen sie sich abarbeiten.¹⁷⁶
Eine solche, als notwendig erachtete kulturgeschichtliche Kontextualisierung – zwar nicht nur, aber vor allem – der Prosaromane schlägt sich dann natürlich in jenen erwähnten Thesen nieder, die ambivalente Textarrangements, wie etwa die Pluralisierung schicksalsmächtiger Instanzen, als Reaktion auf die Wandelerscheinungen der Zeit – auf funktionale Ausdifferenzierung, den Relevanzverlust des Religiösen und die Marginalisierung Gottes, eine kontingente Lebenswelt und metaphysische Verunsicherung – verstehen; die Virulenz dieser Phänomene bestätigt wiederum die Annahme der besonderen Relevanz außerliterarischer Faktoren für das zeitgenössische Erzählen. Es ist bisher allerdings bei diesem Verweis auf den zeitgenössischen Kontext geblieben, das Erzählen als solches, die narrative Konstruktion sowie der Reflexionsgrad dieser Sequenzen wurden nicht eingehend untersucht. Dies lässt sich größtenteils auch für stärker historischanthropologisch orientierte Arbeiten¹⁷⁷ feststellen. Diese haben sich etwa auf genealogische Konstruktionen und damit einhergehend auf die Inszenierung von Vor allem für vormoderne Texte gilt eine kulturgeschichtliche Kontextualisierung als notwendig; vgl. Ridder et al. 2004, 12: „Die Kontextualisierung mittelalterlicher Werke gilt zu Recht als eine unabdingbare Notwendigkeit für das Verständnis ihrer Textsemantik.“ Vgl. auch Peters 2000, 40. Müller 2007a, 8; vgl. zu dieser Betonung von Text und Kontext auch Müller 2007b, VII. Vgl. zur Entwicklung von einer zunächst primär philologisch arbeitenden, über die Erforschung der sozialgeschichtlichen Einbettung und Funktion von Literatur ihren Gegenstandsbereich erweiternden hin zu einer sich als kulturwissenschaftlich verstehenden Disziplin, die von einer verstärkten Hinwendung auch zu historisch-anthropologischen Themen begleitet wurde, Peters 1992, die diese Entwicklung als Prozess von „einer mehr oder weniger konkreten sozialgeschichtlichen Entzifferung der literarischen Texte auf die Rekonstruktion der ihnen zugrundeliegenden und sie implizit bestimmenden epochenspezifischen […] affektiven Dispositionen der Menschen gegenüber Grundsituationen und -problemen des Lebens“ (64) beschreibt. Laut Peters kreise die historisch-anthropologische Forschung dabei um die einst von der sozialgeschichtlichen Literaturwissenschaft aufgeworfene, aber letztlich nicht beantwortete zentrale Frage nach der Funktion von Literatur (vgl. 86). Vgl. zur Entwicklung des anthropologischen Forschungsparadigmas Müller 2000, 464 f.; Kellner 2004a, 75; Kiening 1996; Peters 2000; Linden 2015.
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Ursprüngen, auf Fragen der Herrschaftslegitimation und die Stilisierung von Erzählungen als Geschlechtermythologien konzentriert;¹⁷⁸ auch sind Fragen nach gender-Konstruktionen und Geschlechterrollen,¹⁷⁹ nach den Inszenierungen von Körperlichkeit, Sexualität und Emotionen¹⁸⁰ sowie nach Voraussetzungen und Formen der Identitätskonstitution¹⁸¹ verstärkt in den Blick geraten.¹⁸² Gerade in jüngeren Arbeiten wurde dabei erneut auf die den vor allem kulturwissen-
Auf die sich vor allem auf Thürings Melusine und den Fortunatus-Roman beziehenden Untersuchungen sei an dieser Stelle nur exemplarisch verwiesen, eine eingehende Auseinandersetzung mit der Forschung wird im Rahmen der jeweiligen Textanalysen stattfinden: Vgl. Müller 1977; Peters 1999; Kellner 2001; Kellner 2004b, 397– 471; Kellner 2005. Aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive Le Goff 1987. Vgl. Steinkämper 2007; Ziep 2006; Mertens 1992. Aus feministischer Perspektive: Bennewitz 1988; Bennewitz 1994; Lundt 1991. Zum Fortunatus vgl. den Bezug auf Methoden der jüngeren gender-Forschung bei Schausten 2006, 198 – 236; vgl. Classen 1994; Knischewski 2002. Vgl. Gerok-Reiter 2008, 273 – 298. Vgl. Schausten 2006, 152– 197. Die Beurteilungen über Status und Umfang des in literarischen Texten greifbaren anthropologischen Wissens divergieren dabei z.T. erheblich; auch werden die Relationen zwischen lateinisch-gelehrten Diskursen und volkssprachiger Erzählliteratur je anders bestimmt (vgl. Reuvekamp 2014, 130). Positionen, die eine Beeinflussung der volkssprachigen Literatur durch die lateinisch-gelehrte Klerikerkultur ganz grundsätzlich als gering einschätzen, bezweifeln dementsprechend eine solche gerade auch bei gelehrten Diskursen, die sich wie beispielsweise Philosophie oder Medizin mit anthropologischen Sachverhalten auseinandersetzen, und argumentieren nicht selten mit einer „eigenständigen, von der Klerikerkultur weitgehend unabhängigen und unbeeinflussten feudalen Anthropologie“ (130). Vgl. zu dieser Einschätzung etwa die entsprechenden Positionen bei Schulz 2012, 23 ff., der eine Beeinflussung der volkssprachigen höfischen Literatur durch gelehrte anthropologische Wissensbestände unter anderem aufgrund der meist nicht genau rekonstruierbaren Bildung der Autoren negiert und für die Aufschlüsselung der Texte für eine Orientierung am zeitgenössischen Allgemeinwissen plädiert, denn „[o]ft sind die Beziehungen zwischen den gelehrten Wissensbeständen und der höfischen Literatur gar nicht besonders eng. […] Ohnehin ist der Grad der Vernetzung zwischen gelehrtem Wissen und volkssprachiger Literatur äußerst schwierig und nur im Einzelfall zu bestimmen.“ (24) Vgl. für eine ähnliche Einschätzung Kellner 2001, 273, nach der „mit einem Hiat zwischen jenen Formationen des Wissens zu rechnen [sei], welche in den gelehrten lateinischen Diskursen sedimentiert sind, und dem anderen Wissen, das in den Volkssprachen kursiert.“ Im Gegensatz dazu werden gerade im Hinblick auf anthropologische Fragestellungen der Rückgriff auf und die Integration von gelehrten Wissensbeständen durch volkssprachige Autoren stark gemacht. Linden 2015, 152 f., hat etwa darauf hingewiesen, dass sich in der volkssprachigen Literatur nicht nur ein überaus starkes Interesse der Autoren an anthropologischen Fragestellungen zeige (vgl. auch Peters 1992, 86), sondern der Mensch auch in der lateinischen Gelehrtenkultur der Zeit zunehmend in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses gerate und zum Gegenstand umfangreicher anthropologischer Reflexionen werde; über zahlreiche Abhandlungen verschiedener Gelehrter zur Anthropologie etabliere sich eine regelrechte Wissenschaft vom Menschen, die im Rahmen des universitären Unterrichts vermittelt und ausgebaut werde (vgl. Linden 2015, 153).
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schaftlich orientierten Ansätzen inhärente Gefahr einer Marginalisierung des literarischen Textes und seiner je eigenen Ästhetik und Poetik hingewiesen.¹⁸³ Erst mit diesem Verweis auf ein je neu zu bestimmendes und gerade nicht rein kausales (Ableitungs‐)Verhältnis von Text und Kontext¹⁸⁴ scheint ansatzweise eine intensivere Auseinandersetzung mit den narrativen Strukturen und den je spezifischen Semantiken der Texte einherzugehen.¹⁸⁵ Dies zeigt etwa die Arbeit Schaustens: In ihrer Relektüre spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Romane, die durch die Annahme einer erkenntnistheoretischen Krise anthropologischer Wissenschaft angeleitet ist und methodisch auf die aus dieser Krise resultierenden Konzepte der Ethnographie und Genderforschung zurückgreift, kann sie in der Untersuchung der Konstruktionsbedingungen von ‚Eigenem‘ und
So etwa prägnant Schausten 2006, 208, die in ihrer Analyse des Fortunatus solche Lektüren problematisiert, die ein zu enges Verhältnis zwischen Text und Kontext nahelegen, wie es vor allem jene sozialgeschichtlichen Ansätze intendierten, die „seine Poetik, seine spezifische Literarizität meistens unberücksichtigt [lassen]“. Auf diese Gefahr wurde auch zuvor in der Forschung hingewiesen, so etwa auf die im Kontext von – im weitesten Sinne – kulturwissenschaftlichen Fragestellungen erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Marginalisierung des literarischen Textes, seiner Reduktion auf einen Spiegel außerliterarischer Wirklichkeit oder aber die im Gegensatz dazu stehende übermäßige Betonung literarischer Konstruktionen sozialhistorischer Wirklichkeit (vgl. Peters 1992, 86; Kellner 2004a, 77 f.). Vgl. Kellner 2005, 313. In einem anderen Zusammenhang weist auch Schnell 2008, 98, auf den oft nur vagen Zusammenhang von Text und Kontext hin. Er betont nicht nur die Vielzahl und damit einhergehende potentielle Unüberschaubarkeit der für einen Text relevanten Kontexte, sondern auch die Gefahr, in der Analyse des Verhältnisses von Text und Kontext letzteren allererst „selbst mit[zu]konstruieren“. Zwar betont etwa Kellner 2001 in ihrer Arbeit zu den spezifischen Konstruktionen genealogischer Strukturen in der Melusine nicht nur die Notwendigkeit einer exakten Relationsbestimmung von Text und Kontext sowie die je neu zu bestimmende Einbindung von „Literatur ins kulturelle Archiv einer Zeit“ (270), sondern möchte im Rahmen ihres diskursanalytischen Vorgehens auch der dieser Methode stets immanenten Möglichkeit einer Marginalisierung des literarischen Textes aufgrund des „Verzicht[s] auf eine Hierarchisierung der Textfelder“ (271) mit einer vorausgehenden literaturwissenschaftlichen Analyse des Einzeltextes begegnen, um erst in einem zweiten Schritt den Text „in seinen diskursiven Verbindungen zu perspektivieren“ (272). Dennoch bleibt ihre Analyse hinter dem von ihr formulierten Anspruch, „das Eigene der Literatur […], ihre spezifische Codierungsform“ (272) herauszustellen, zurück. Ähnliches lässt sich für ihre Analyse des Verhältnisses von Genealogie und Geld in seiner Funktion für die Begründung und Legitimierung von Herrschaft und Ansehen im Fortunatus beobachten: Zwar problematisiert Kellner 2005, 312, jene Tendenz der Forschung, gerade diesen Roman „im Sinne einer Widerspiegelungstheorie als Ausdruck soziokultureller Verhältnisse in der Frühen Neuzeit [zu] lesen“, und weist darauf hin, dass das im Roman erzählte Geschehen gerade nicht kausal aus den sozialhistorischen Kontexten abgeleitet werden könne, aber auch hier erfüllt die Untersuchung die von ihr formulierte Absicht, der spezifischen Poetik des Textes, seiner je eigenen Ästhetik, Rechnung zu tragen, nicht völlig.
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‚Anderem‘ in jenen Romanen trotz ihrer explizit „kultursemiotischen und damit auch kulturwissenschaftlichen Fundierung […] vor allem auch die spezifische Literarizität des ausgewählten Textmaterials“¹⁸⁶ herausstellen.¹⁸⁷ Erst in der jüngeren Forschung scheint sich somit in Ansätzen die Tendenz abzuzeichnen, die spezifische narrative Gestalt verstärkt in den Blick zu nehmen, auch wenn dabei, wie sich bei Schausten zeigt, häufig eine Verknüpfung von kulturwissenschaftlichen und erzähltheoretischen Methoden und keine narratologische Analyse im engeren Sinne angestrebt wird. Auch in solch erzähltheoretisch orientierten Ansätzen wurden die hier als ambivalent definierten Sequenzen allerdings nicht systematisch untersucht. Zwar finden sich einzelne Untersuchungen, die in der Analyse der narrativen Strukturen auf deren partielle Relevanz für die Konstitution ambiger Textarrangements hinweisen. Diese fokussieren dabei aber stets nur einzelne Erzählverfahren und Elemente einer Erzählung, wie etwa eine ambivalente Figur, und begreifen die narrative Gestaltung als solche nicht als Ergebnis einer spezifischen Erzähltechnik.¹⁸⁸ Dieses bisherige Desinteresse an einer übergreifenden Thematisierung des Ambigen oder Ambivalenten entspricht dem ge-
Schausten 2006, 7 f. Der diskursive Ausschluss des ‚Eigenen‘ von einem ‚Anderen‘ wird hier in Anlehnung an Foucault als Praxis der Identitätsstiftung und -stabilisierung verstanden. Obgleich es sich bei dem ‚Anderen‘ um eine erst diskursiv hergestellte Kategorie handle, deren Konstruktion Resultat einer diese Ordnung erst generierenden und immer erneuernden Praxis der Identitätsstiftung sei, erfolge Identitätskonstitution über einen Differenzierungsmodus, der in Form eines kontradiktorischen Gegensatzes das ‚Andere‘ nicht positiv bestimme, sondern es als Ausschluss all dessen definiere, was nicht Bestandteil des ‚Eigenen‘ sei: „Das A nämlich verdankt seine Existenz dem ausgeschlossenen Teil, der eben alles umfasst, was ihm nicht eigen ist.“ (Schausten 2006, 7) Aufgrund der Relevanz, die Differenzierungsverfahren für die Konstitution von Identität insbesondere in moderner Theoriebildung attestiert wird, geht Schausten jenem Differenzdenken und seiner Bedeutung für Identitätskonzeptionen in den verschiedenen Prosaromanen nach. Dabei greift sie auf Konzepte aus der modernen Theoriebildung zurück, die die literaturwissenschaftliche Analyse neu perspektivieren sollen, sofern diese „zur Erhellung der Frage dienlich sein sollen, auf welche Art und Weise die historischen literarischen Texte zu einer symbolischen Ordnung des ‚Eigenen‘ und ‚Anderen‘ beitragen.“ (7) Prämisse dabei ist die Annahme der „textuellen Verfasstheit von Kultur“ (8), Literatur wird somit als nur ein Medium unter vielen sinngenerierenden verstanden, von Interesse sind daher insbesondere die „diskursiven Interdependenzen, welche die in Rede stehenden Texte mit anderen sinnproduzierenden ‚Texten‘ in Bezug auf eine mentale Ordnung der Identität unterhalten“ (8). Vor diesem methodischen Hintergrund ist ihr Anliegen aber nichtsdestoweniger, die „spezifisch literarischen Bedingungen von Sinnstiftung zu beachten.“ (8) Eine solche einzelne Aspekte berücksichtigende Auseinandersetzung mit narrativen Verfahren und ambivalenten Elementen lässt sich bei den hier untersuchten Erzählungen nur für die Melusine beobachten. Eine Auseinandersetzung mit den relevanten Arbeiten findet sich deshalb in Kap. 4.1. und 4.2.
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genwärtigen Stand der Forschung, die sich erst in jüngerer Zeit mit Phänomenen und Erscheinungsweisen desselben in der mittelalterlichen Literatur – und hier nicht explizit in den frühneuhochdeutschen Prosaromanen – auseinandergesetzt hat. Obgleich nämlich Phänomene der Ambivalenz oder Ambiguität seit einigen Jahren zentraler Gegenstand der interdisziplinären wissenschaftlichen Auseinandersetzung sind,¹⁸⁹ sind sie in Untersuchungen zur vormodernen Literatur und Kultur erst jüngst in den Blick geraten. Gerade in der mediävistischen Forschung stößt die Beschäftigung mit der Ambiguitätsthematik und mit Formen positiv lizensierter Mehrdeutigkeit aber verstärkt auf Interesse und gewinnt zunehmend an Aktualität.¹⁹⁰ Im Kontext dieses virulenten Forschungsinteresses an Ambiguitäten und Ambivalenzen in der vormodernen Literatur erscheinen zwei Aspekte besonders bemerkenswert: Zum einen verwundert das Desinteresse an narratologischen Beschreibungen und Analysen des Ambigen bzw. Ambivalenten insofern, als ein solcher methodischer Zugang zumindest in einem ersten Schritt zentrale Erkenntnisse nicht nur hinsichtlich der narrativen Gestaltung, sondern damit auch der Produktionsbedingungen und Funktionsweisen ambiger oder ambivalenter Phänomene in Narrationen liefern könnte. Gerade in historisch-vergleichender Perspektive könnte eine Untersuchung ihrer narrativen Strukturen bzw. der sie generierenden Erzählverfahren außerdem die These einer Kontinuität des Ambigen oder Ambivalenten stützen und es damit eben nicht nur als Phänomen der Moderne ausweisen, sondern dessen Produktivkraft auch im Mittelalter nachweisen. Zum anderen erstaunt es, dass die frühneuhochdeutschen Prosaromane in diesem Kontext nur vereinzelt in den Blick geraten sind, obgleich diesen stets
Vgl. Meier 2016, 49. Vgl. den Band Ambiguität im Mittelalter 2016 und hier vor allem Auge und Witthöft 2016; vgl. außerdem Berndt und Kammer 2009 sowie Lienert 2017. Ambiguität wurde entsprechend jenes ästhetischen Forschungsparadigmas in vormodernen, mittelalterlichen Kontexten zunächst als Defizienz oder zu vermeidendes stilistisches Merkmal begriffen, wie es sich etwa auch in den Auseinandersetzungen mit dem Alteritätsparadigma und den spezifischen narrativen Logiken vormodernen Erzählens manifestiert (vgl. Auge und Witthöft 2016, 1; Meier 2016, 50). Vor dem Hintergrund jüngerer kulturhistorischer und literaturwissenschaftlicher Paradigmen werden Formen und Funktionen ästhetischer Mehrdeutigkeit nun aber auch in der mittelalterlichen bzw. vormodernen Literatur verstärkt untersucht, um „die bewusst intendierten und/oder inszenierten Akte von Zweideutigkeit, Gegensatz und (scheinbarem) Widerspruch in ihren jeweiligen kulturellen und literarischen Kontexten zu untersuchen und die vermeintliche ‚Ambiguitätsferne‘ der mittelalterlichen Kultur und Literatur auf den Prüfstand zu stellen.“ (Auge und Witthöft 2016, 2) Die Herausgeber des Bandes Ambiguität im Mittelalter (Auge und Witthöft 2016) beurteilen Ambiguität folglich ebenfalls „nicht als Mangel, nicht als Unzulänglichkeit […], sondern vielmehr als eine bewusst intendierte Spannung in der Gestaltung von Konträrem in der Literatur“ (7).
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eine besondere Affinität zu Uneindeutigkeit, Offenheit und Mehrdeutigkeit attestiert wurde.¹⁹¹ An beiden Aspekten setzen nun allerdings die Arbeiten Münklers an, die sich den narrativen Ambiguitäten in den Faustbüchern des 16. bis 18. Jahrhunderts widmen; sie erscheinen für die skizzierten Tendenzen der Forschung auf vielfältige Weise charakteristisch: Münkler untersucht primär solche Ambiguitäten, die „[s]owohl durch den narrativen discours bzw. die Differenzen zwischen discours und histoire als auch durch die mit der Zentralfigur verknüpften Semantiken […] hervorgebracht werden.“¹⁹² Basis ihrer Überlegungen ist die These einer grundsätzlichen Gleichgewichtung und daraus potentiell resultierenden Konkurrenz von Erzähler- und Figurenstimmen hinsichtlich der Perspektivierung und Bewertung des erzählten Geschehens sowie die einer Unfähigkeit des Erzählers, die die Erzählung konstituierenden Semantiken zu kontrollieren.¹⁹³ Die schon hier anklingende Annahme eines vom Erzähler unabhängigen narrativen Diskurses bestimmt denn auch die Analyse der Historia von D. Johann Fausten, der sie insgesamt eine „[u]nbeabsichtigte Ambiguität“¹⁹⁴ unterstellt.¹⁹⁵ Neben dieser Beurteilung erscheint auch ihr Postulat einer „Ambiguitätsintoleranz“¹⁹⁶ des Verfas-
So untersucht etwa Quast 2016 mit dem Fortunatus einen Prosaroman, setzt mit seinen Überlegungen aber gerade nicht an jenen als ambivalent charakterisierten Stellen an, sondern möchte den „Ambiguitäten des Wildheitsdiskurses“ (204) nachgehen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der in einem Gemälde Dürers beobachtete Konnex von Ökonomie und Wildheit, der auch im Fortunatus-Roman eine zentrale Rolle spiele, hier aber im Gegensatz zu Dürers Porträt des Oswolt Krell nicht ausschließlich positiv konnotiert sei. Im Fortunatus lasse sich vielmehr eine „Ambiguität des Wilden“ (217) beobachten, sofern Wildheit sowohl für gesellschaftlichen Niedergang stehe, wie etwa bei Theodorus, als auch die Prämisse für sozialen Aufstieg sei, wie Quast über die Analyse des der Beschenkung durch die Glücksjungfrau vorausgehenden Aufenthalts von Fortunatus im wilden Wald nachzeichnet. Im Andalosia-Teil zeige sich dann die enge Verbindung von Gelderwerb und Wildnis, die metonymisch miteinander verbunden seien. Dieses „Zugleich“ des Wilden – es stehe „für den Erwerb von Reichtum und damit gesellschaftlicher Selbstbehauptung, zugleich aber auch für den Niedergang und gesellschaftlichen Abstieg“ (217) – sei dabei auch für die Anthropologie des Romans überaus prägend (vgl. 205). Münkler 2016, 130. Vgl. Münkler 2016, 130 f. Vgl. Münkler 2016, 131. Vgl. Münkler 2016, 131 ff.: Die sich auf verschiedene Arten als Exempel ausgebende Erzählung werde auf vielfältige Weise ambiguisiert, etwa im Hinblick auf den exemplarischen Erzählanspruch, den Protagonisten, die zu dessen Konstruktion eingesetzten Semantiken und die evaluative Struktur der Erzählung. Vgl. Münkler 2016, 155 f.: „So ambiguitätsintolerant der Verfasser auch sein mochte […], so ist es ihm doch nicht gelungen, die Lektüre auf die gleiche Ambiguitätsintoleranz festzulegen. Der
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sers bemerkenswert – die Gründe für diese Schlussfolgerung oder für die Annahme einer Kontraintentionalität der als narrationsspezifisch bewerteten narrativen Ambiguitäten werden nicht plausibilisiert.¹⁹⁷ Problematisch an dieser Einschätzung von narrativer Ambiguität im Faustbuch und allgemeiner – so suggerieren es zumindest ihre abschließenden Bemerkungen – auch in vormoderner Literatur ist Folgendes: Zwar bestimmt sie Ambiguität als „grundsätzliche[n] Aspekt des Narrativen“¹⁹⁸ und räumt ihr als narrationsspezifisches Merkmal somit auch Relevanz in der vormodernen Literatur ein. Indem sie aber zwischen programmatischer und unvermeidlicher Ambiguität differenziert und diese jeweils mit modernem und vormodernem Erzählen korreliert, gelingt es ihr weder, Ambiguität als intendierte Inszenierung von Konträrem zu konturieren, noch die von ihr eigens problematisierte Bewertung von programmatischer Ambiguität als ‚Epochensignatur‘ zu widerlegen, im Gegenteil: Ihre Argumentation bekräftigt vielmehr die von ihr negierte Annahme, „Ambiguität sei eine Errungenschaft der Moderne“¹⁹⁹ – zumindest hinsichtlich einer solchen programmatischer Natur.²⁰⁰ Obwohl ihre Kritik an der Einschätzung des Ambigen als Epochenmerkmal der Moderne grundsätzlich nachvollziehbar ist, widerspricht ihr diesbezügliches Argument – jene „Einschätzung […] nutzt lediglich als Epochensignatur, was ein grundsätzlicher Aspekt des Narrativen ist“²⁰¹ – somit nicht nur ihren eigenen Ergebnissen, sondern es ist an anderer Stelle darüber hinaus gerade eine Epochensignatur des Ambigen, die sie herausstellen möchte: In ihrer vorangehenden umfangreichen Studie zu narrativen Ambiguitäten in den Faust-
kontraintentionale Effekt seiner Bemühungen zeigt vielmehr, dass narrative Ambiguität […] letztlich nicht beherrschbar ist und offenbar zu den Grundcharakteristika des Erzählens gehört.“ Vgl. Münkler 2016, 156: Darüber hinaus scheint sie narrative Ambiguität zuweilen mit narrativer Komplexität gleichzusetzen: Dass narrative Ambiguität als Charakteristikum nur für die Moderne gelte, erscheine nach Münkler nämlich „deshalb nicht plausibel, weil narrative Komplexität auch für die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit nicht ausgeschlossen werden kann.“ Auch wenn narrative Ambiguität zu erhöhter Komplexität führt, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass narrative Komplexität stets Resultat einer narrativen Ambiguisierung ist. Münkler 2016, 156. Vgl. Münkler 2016, 156, sowie zur epochalen Relevanz 113. So spricht sie sich gegen ein Verständnis von programmatischer Ambiguität, die sie als intentionale Komplexitätssteigerung und Vervielfältigung von Deutungsangeboten definiert, als Epochensignatur der Moderne aus, da auch nicht programmatische Ambiguität „als Kennzeichen epistemischer Transformationen beschrieben werden“ (Münkler 2016, 113) könne. Damit bleibt die grundlegende Differenz zwischen Moderne und Vormoderne (programmatisch vs. unbeabsichtigt) aber gerade bestehen und wird sogar implizit bestätigt, sofern sie in ihrer Analyse nachweist, dass vormodernes Erzählen im Unterschied zu modernem nicht programmatisch ambig sei. Münkler 2016, 156.
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büchern²⁰² korreliert Münkler nämlich die literarische Auseinandersetzung mit den für die Erzählung zentralen Semantiken sowie auch die spezifische Ausgestaltung der Identität, Individualität und Subjektivität der Figur explizit mit der Ausdifferenzierung des sozialen Systems und dem Wandel von einer stratifikatorischen zu einer funktional differenzierten Gesellschaft.²⁰³ Auf diese Weise wird narrative Ambiguität letztlich zum Resultat epochengeschichtlich virulenter Phänomene – und damit eben doch zu einem Epochenspezifikum. Fragen nach den Konstitutionsbedingungen menschlicher Identität werden aber nicht nur in der Frühen Neuzeit narrativ diskutiert, wie ihre Thesen suggerieren,²⁰⁴ und es braucht freilich nicht notwendigerweise den Übergang von der Inklusions- zur Exklusionsindividualität, damit Texte gesellschaftliche Prozesse und Entwicklungen antizipieren, die realiter noch nicht geschehen sind, wie es einige ihrer
Münkler 2011. Während sie den textuellen Konstruktionsbedingungen der Figur, ihrer Identität, Individualität und Subjektivität mithilfe eines an Genette orientierten narratologischen Modells nachgeht, stützt sie sich in der Definition dieser drei Aspekte primär auf die Thesen Luhmanns über die Ausdifferenzierung sozialer Systeme. Ihre Bestimmungen dieser Leitaspekte sowie der sie konstituierenden Semantiken legen dabei nahe, ihre narrative Thematisierung als ein spezifisches und zeitlich zu lokalisierendes Phänomen zu verstehen, sofern sie nur aufgrund der mit jenen Ausdifferenzierungsprozessen assoziierten Komplexitätssteigerung des sozialen und gesellschaftlichen Systems überhaupt zum literarischen Gegenstand zu werden scheinen. So fasst sie etwa Identität als „die Beschreibung und Beobachtung von Individualität“ (Münkler 2011, 24), die wiederum als Partizipation oder Nichtpartizipation an gesellschaftlichen Systemen zwar auf allen Stufen gesellschaftlicher Evolution zu finden, grundsätzlich aber „ein Aspekt der Ausdifferenzierung sozialer Systeme“ (26) sei. Auch Subjektivität als Form der Selbstthematisierung und -bewertung sei „nichts anderes als eine Semantik zur Beschreibung von Individualität in funktional differenzierten Systemen, in denen Individualität sich nicht mehr durch Referenz auf ein bestimmtes soziales System bestimmen kann. Insofern ist Subjektivität eine Folge von sozialer Differenzierung, die Individualität qua Interpenetration von sozialem und psychischem System steigert.“ (31) Die Thematisierung von Individualität verändere sich dabei erst am Übergang von der Inklusions- zur Exklusionsindividualität (vgl. 29), und die literarische Reflexion von Subjektivität finde erst nach dem Verlust eines festen sozialen Bezugssystems statt (vgl. 31 f.). Dies verdeutlichen letztlich selbst die von ihr angestellten Definitionen der die Analyse leitenden Begriffe: Wenn sie im Hinblick auf narrative Verfahren unter Identität das versteht, „was einer Figur in einem narrativen Text an identifizierenden Markierungen durch die Stimme des Erzählers, was in […] Aussagen anderer Figuren aufscheint und in den Selbstbeschreibungen der Figur gegenüber Dritten implizit oder explizit geäußert wird“ (Münkler 2011, 35), oder Individualität als die Art bestimmt, „in der die Figur mit anderen in Beziehung gesetzt wird, welche sozialen und kommunikativen Beziehungen also zum Tragen kommen“ (35), implizieren diese Bestimmungen doch eigentlich, dass jene Phänomene keine Entdeckung der Frühen Neuzeit sind, sondern letztlich eine jede Narration kennzeichnen.
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Formulierungen nahelegen²⁰⁵. Dass sie zu jener Zeit verstärkt thematisiert wurden, an ihnen zeitgenössisch virulente Problemkonstellationen verhandelt und Handlungsalternativen erprobt wurden, soll nicht bestritten werden. Allein den Stellenwert, den Münkler diesen Phänomenen als Epochenmarker sowohl in literarischer als auch in sozial-gesellschaftlicher Hinsicht attestiert, gilt es zu problematisieren. Das eingangs konstatierte Forschungsdesiderat in der Beschäftigung mit Ambivalenz und Ambiguität in der vormodernen Literatur, nämlich im Hinblick sowohl auf narratologische Analysen als auch auf Untersuchungen der frühneuhochdeutschen Prosaromane, wird durch die Studien Münklers natürlich relativiert.²⁰⁶ Im Unterschied zu der hier angestrebten Untersuchung beurteilt sie den Status von Ambiguität auf Produktionsseite dabei als vorreflexiven und deutet ihre Virulenz als Konsequenz einer gesellschaftlichen Umbruchssituation und der damit erst einhergehenden narrativen Erörterung identitätstheoretischer Aspekte und zeitgenössisch zentraler Semantiken. Damit entspricht auch ihre Arbeit, wenn auch mit expliziter Fokussierung des Ambivalenten und Ambigen, den bereits erwähnten Tendenzen der Prosaromanforschung, die Relevanz außerliterarischer, meist gesellschafts- oder sozialgeschichtlicher Wandelerscheinungen für die narrative Faktur der Erzählungen zu betonen. Der Blick auf die Forschung zum frühneuhochdeutschen Prosaroman konnte also Folgendes zeigen: Nicht nur erzähltheoretisch orientierte Arbeiten, sondern auch Auseinandersetzungen mit ambivalenten Phänomenen, mit Ambiguität oder Vieldeutigkeit, finden sich erst in jüngerer Zeit und bloß vereinzelt. Eine explizite und systematische Verbindung beider Aspekte, eine Untersuchung von Ambivalenz und Erzählen im hier angestrebten Sinne, wurde für die Prosaromane bisher nicht vorgenommen. Arbeiten, in denen eine solch explizite Untersuchung von narrativer Ambiguität im Hinblick auf die Gesamterzählung beabsichtigt wurde, unterscheiden sich insofern von der hier angestrebten, als sie die – hier als Prämisse der Argumentation fungierende – Intentionalität und den Reflexions-
Vgl. Münkler 2011, 29 f.: „Gerade in den Übergangsphasen von der Inklusions- zur Exklusionsindividualität kann es vorkommen, dass die Semantiken die Komplexität funktionaler Differenzierung überholen, so dass auf der Ebene der Semantiken bereits Probleme verhandelt werden, die auf der Ebene der gesellschaftlichen Evolution noch nicht vollständig ausgeprägt sind.“ Ihr methodisches Vorgehen basiert, und dieser Aspekt wird im Weiteren noch Gegenstand ausführlicher Betrachtung sein, auf der Adaptation eines narratologischen Modells der modernen Erzähltheorie. Dessen Anwendung auf einen vormodernen Text wird dabei nicht eigens diskutiert, eine Historisierung des Analyseinstrumentariums etwa im Sinne einer terminologischen Differenzierung, die die funktionalen und historischen Implikationen der an historisch spezifische Erzählsituationen gebundenen Analysebegriffe reflektierte, findet demnach nicht statt.
2.3 Ambivalenz im frühneuhochdeutschen Prosaroman
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grad der narrativen Konstruktion gerade nicht wahrgenommen, sondern sich in verallgemeinernden Postulaten über die epochengeschichtliche Signatur und die Verarbeitung zeitgenössischer Transformationsprozesse erschöpft und damit letztlich die erwähnte Konstante der Prosaromanforschung weitergeführt und festgeschrieben haben. Den hier zur Diskussion stehenden Stellen soll im Unterschied zu den genannten Arbeiten somit in einem ersten Schritt mit einer narratologischen Analyse, einer präzisen Beschreibung ihrer erzählerischen Konstruktion, begegnet werden. Die Analyse und Deutung der poetischen Praxis ambivalenten Erzählens im frühneuhochdeutschen Prosaroman wird dabei nur vereinzelt auch die ihr impliziten Reflexionen kultureller Kontexte in den Blick nehmen, um auf diese Weise womöglich Aufschluss über Relationen und potentielle Analogien zwischen spezifischer narrativer Gestaltung und jeweils reflektiertem Kontext zu erhalten.²⁰⁷ Es wird also um die Erfassung, Beschreibung und Interpretation solcher narrativer Konstellationen gehen, die als genuines Kennzeichen erzählender Literatur verstanden werden, die aber in den zeitgenössischen Erzähltexten besonders virulent werden. Methodisch wird dabei keine grundsätzliche „Historisierung und Kontextualisierung der narrativen Praxis im Gesamtkomplex Kultur“²⁰⁸ angestrebt, wie es jüngere Arbeiten zur kulturgeschichtlichen Narratologie intendieren²⁰⁹ und wie es die postulierte zeitgenössische Virulenz genannter Phänomene zunächst nahelegt. Vielmehr basiert die methodische Herangehensweise dieser Arbeit auf der Annahme, dass im Rahmen einer narratologischen Analyse der grundsätzlichen historischen und kulturellen Variabilität narrativer Formen und der ihnen assoziierten Funktionen zwar Rechnung getragen werden muss, sie aber nichtsdestoweniger als historische Kontinuitäten beschreibbar sind, deren jeweilige Sinnzuweisungen prinzipiell wandelbar sind. Wie die leitende Annahme, es handle sich bei erzählter Ambivalenz und ambivalentem Erzählen um eine literaturgeschichtliche Konstante,
Dabei wird aber nicht – um eine Wendung von Bachorski 1993, 80, aufzugreifen – „die Analyse des ‚Weltbildwandels‘ und der Rolle der erzählenden Literatur darin“ angestrebt, sondern vielmehr eine Analyse der erzählenden Literatur und der Rolle des Weltbildwandels darin fokussiert. Erll und Roggendorf 2002, 75. Vgl. die Darstellung bei Erll und Roggendorff 2002, 85 ff. Die hier skizzierten Ansätze berücksichtigten entsprechend der Verfasserinnen „sowohl die vielfältigen kontextuellen Bezüge als auch die historische Wandelbarkeit narrativer Formen und deren jeweilige gesellschaftliche Funktionen […]. Sie zeigen paradigmatisch, auf welche Weise die Verwobenheit von Kultur und Literatur in der literaturwissenschaftlichen Praxis konzeptualisierbar ist und wie die Analyse narrativer Formen mit kulturhistorischen Fragestellungen verbunden werden kann.“ (85)
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
impliziert, wird also auch im Hinblick auf die zu dessen Konstruktion eingesetzten narrativen Verfahren von sich wandelnden Kontinuitäten ausgegangen.
2.4 Historische Narratologie – theoretische Positionsbestimmung In der jüngeren Auseinandersetzung mit dem Konzept einer ‚Historischen Narratologie‘, ihren Gegenstandsbereichen und ihrer Anwendbarkeit auf vormoderne Erzählungen wurde vermehrt auf die diesem Begriff inhärente terminologische Problematik verwiesen. So suggeriert der Terminus eigentlich, dass es sich bei dem damit Bezeichneten um ein Begriffssystem mit einer universalen, verschiedene historische Konfigurationen erfassenden Reichweite handelt, während sein tatsächlicher Gebrauch hingegen zeigt, dass er – in Abgrenzung zu einer als modern verstandenen Narratologie eines Genette – vielmehr für die Bezeichnung eines Kategoriensystems verwendet wird, das auf vormoderne Texte angewendet wird.²¹⁰ Der Diskussion dieser terminologischen Problematik liegt dabei die Annahme zugrunde, dass sowohl narrative Praktiken als auch die ihnen zugewiesenen Funktionen und Sinnpotentiale, die die Narratologie zu beschreiben und systematisieren beansprucht, Elemente ihrer jeweiligen Episteme und damit grundsätzlich kulturell und historisch spezifisch sind. Nicht nur narrative Phänomene, sondern auch die sie erfassenden narratologischen Kategorien sind demnach stets Produkte der sie konstituierenden Wissensordnungen. Eine ihrem Anspruch nach universale Erzähltheorie muss somit stets a-historisch bleiben,²¹¹
Vgl. Hübner 2015, 11 f. Bleumer 2015, 214, fasst die terminologische Problematik des Konzepts ‚Historische Narratologie‘ folgendermaßen: „Wenn sie historisch-induktiv vorgeht, ist sie im klassischen Sinne keine Narratologie, wenn sie dagegen auf ihrem theoretischen System- und Universalitätsanspruch beharrt, ist sie nicht historisch.“ Vgl. zur begrifflichen Schwierigkeit zuletzt von Contzen 2018, 26, die mit dem Terminus ‚historische Narratologie‘ „eine Theorie vom Erzählen innerhalb eines bestimmten historischen – mittelalterlichen – Kontexts“ bezeichnet. Hübner 2015, 12 f., weist in diesem Kontext auf die bisherige Konzeptualisierung einer sich als historisch verstehenden Narratologie hin, der es in der Regel um eine Ausweitung der Genette’schen, an modernen realistischen Erzählungen entwickelten Kategoriensystematik auf davon nicht erfasste Texte gegangen sei, so dass vormodernes poetisches Erzählen z.T. mit anderen nicht realistischen Erzählformen in den Blick geraten sei. Problematisch erscheint, dass im Rahmen solcher Auseinandersetzungen die grundsätzliche Historizität der narratologischen Kategorien nicht reflektiert wurde. So erhebt das in den ‚klassischen‘ erzähltheoretischen Ansätzen entwickelte narratologische Instrumentarium nicht selten universalen Anspruch, sofern es die Analyse eines jeden Erzähltextes ermöglichen soll (vgl. zu diesem Aspekt Hübner 2015, 14, sowie Bleumer 2015, 213).
2.4 Historische Narratologie – theoretische Positionsbestimmung
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sofern sie die Historizität sowohl der narrativen Formen als auch die des diese erfassenden narratologischen Kategoriensystems übergeht. So sind etwa die Kategorien und Begriffe der für moderne, realistische Erzählungen entwickelten discours-Narratologie stets Elemente einer Episteme, die ein subjektphilosophisches Wirklichkeitskonzept voraussetzt, deren narrative Phänomene wiederum allererst durch dieses konstituiert werden.²¹² Auch die histoire-Narratologie, obgleich diese nicht anhand moderner realistischer Erzählungen entwickelt wurde, rekurriert stets auf eine spezifische Wissensordnung, sofern die hier verhandelten Kategorien nur im Rückgriff auf ihre jeweiligen historischen Konzepte sinntragend sind.²¹³ Deshalb gibt es keine nicht-historische Narratologie, sondern nur narratologische Phänomenologien mit ihren Gegenständen historisch mehr oder weniger adäquaten Kategorien, und jede ihren Gegenständen adäquate narratologische Phänomenologie ist eine historische.²¹⁴
Vgl. Hübner 2015, 11, 13 f. Vgl. Hübner 2015, 13 ff. Hübner 2015, 16. Aufgrund dieser – im Weiteren noch näher zu skizzierenden – Konzeptualisierung einer historischen Narratologie werden im Folgenden auch zentrale Arbeiten der klassischen narratologischen Theoriebildung nicht eigens berücksichtigt oder diskutiert, auch wenn ihre heuristischen Potentiale durchaus für die Analyse der vorliegenden Erzählungen genutzt werden. Auch wenn es – wie zu zeigen sein wird – durchaus Schnittmengen zwischen älteren narrativen Praktiken und modernen Kategorien gibt, eignen sich diese im vorliegenden Fall nur vereinzelt, um die zur Debatte stehenden Phänomene zu erfassen; aus diesem Grund finden sich primär terminologische Rückgriffe und nur punktuelle Verweise auf entsprechende Arbeiten der modernen Erzählforschung, eine ausführliche Diskussion auch der Theorien der klassischen Vertreter findet sich demnach nicht. Dass solche punktuell-heuristischen Zugänge durchaus Erkenntnisgewinn versprechen und nicht zwangsläufig einer ausführlichen Darstellung der jeweiligen Theoriekonzepte bedürfen, zeigen einzelne mediävistische Arbeiten, wie etwa die Untersuchung von Brüggen und Holznagel 2011, die im Rückgriff auf die Überlegungen Genettes zur Fokalisierung eine erneute Analyse der verschiedenen Wahrnehmungsinstanzen des Nibelungenliedes intendieren und sich dabei vor allem terminologisch an diesem orientieren, ohne allerdings eine übergreifende Rekonstruktion seines Ansatzes zu leisten; dass eine solche gerade nicht zwangsläufig notwendig ist, zeigt u. a. auch die Arbeit von Plotke 2017, die ihrer Studie zu Erzählinstanzen in mittelalterlichen Texten unter Berücksichtigung der zeitgenössischen medialen Rahmenbedingungen eine ausführliche Diskussion der einschlägigen narratologischen Theorien vorausschickt, auch dezidiert nach der „Relevanz und Gültigkeit“ (21) moderner Terminologien und ihrer Anwendbarkeit auf vormoderne Texte fragt, einen Großteil der hier skizzierten Konzepte, Überlegungen und Modelle für ihre Analyse verschiedener Erzähltexte des 12. und 13. Jahrhunderts aber gerade nicht fruchtbar machen kann; zwar finden sich auch hier immer wieder – durchaus nachvollziehbare – terminologische Rückgriffe auf einzelne theoretische Modelle, über eine Heuristik geht der Zugriff aber trotz der umfangreichen theoretischen Erörterungen nicht hinaus. Dementsprechend konstatiert Plotke 2017, 251, abschließend: „Vielfältige
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
Solche historisch je spezifischen, ihrem Anspruch nach nicht zwangsläufig narratologisch ausgerichteten Phänomenologien ähneln sich allerdings durchaus in ihrer methodischen Verfahrensweise, die in der Regel darin besteht, aus der einer Erzählung unterstellten kulturellen Funktion erzählerische Verfahren abzuleiten, mit denen kommunikative Wirkungen verbunden sind: Häufig zeigt sich nämlich eine „charakteristische Konstellation von axiomatischer Funktionsunterstellung, daraus abgeleiteter Lehre über die zu erzielenden Wirkungen und daraus resultierendem Interesse an der Identifikation des Formenrepertoires, das diese Wirkungen herbeiführt“²¹⁵. Eine solche Korrelation von Erzählformen und Funktionen kennzeichnete etwa die im Mittelalter breit rezipierte, aus der Rhetorik stammende narratio-Lehre, auch wenn diese nicht als narratologisches Kategoriensystem im engeren Sinne zu verstehen ist, und ist letztlich auch Charakteristikum der modernen Narratologie,²¹⁶ wobei ältere Reflexionstradition und
Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass strukturalistische Begrifflichkeiten zwar zu heuristischen Zwecken hilfreich sein können, sie aber oft an Grenzen der Anwendbarkeit stoßen, da sie die tatsächlich vorliegenden Phänomene doch nicht einzuholen vermögen. Auch wenn die betreffenden Systematiken in der Einzelfallanalyse häufig präzisiert werden müssen, scheint es trotzdem sinnvoll, spezifische kategorielle Parameter zur Hand zu haben, um die vielfältigen narrativen Erscheinungsformen überhaupt beschreiben zu können.“ Hübner 2010a, 122. Zwar sind Erzählformen und ihre jeweiligen kommunikativen Zwecke stets historisch und kulturell variable Phänomene, die maßgeblich von der Funktion abhängen, die Erzählungen zu einer Zeit zugeschrieben werden, nichtsdestoweniger folgen die sie erfassenden Phänomenologien meist jenem genannten Modell. Hübner exemplifiziert diesen Zusammenhang anhand der bei Platon und Aristoteles diskutierten Verwendung von Erzähler- bzw. Figurenrede, deren Einsatz je unterschiedlich, nämlich in Abhängigkeit von der jeweils intendierten Wirkung, bewertet wird (vgl. 120 ff.). Bei Platon wird aus der Funktion von Dichtung (Modelllernen [Platon, Politeia, 377b–377c]) die Bestimmung ihres Inhalts (Darstellung des Guten [Platon, Politeia, 377b–378e]) abgeleitet, der mithilfe spezifischer Erzählformen (Figurenrede [Platon, Politeia, 392c–394c]) und den damit assoziierten Funktionen (Nachahmung des Guten [Platon, Politeia, 395c–397c]) realisiert werden sollte. Auch Aristoteles präferiert Figuren- statt Erzählerrede, aber aufgrund einer anderen Funktionsunterstellung, sofern Dichtung in der Nachahmung der Wirklichkeit der Erregung von Affekten und damit der Reinigung von eben diesen diene (Aristoteles, Poetik, 6,1449b; 24,1460a). Vgl. Hübner 2010a, 123: In der antiken Rhetorik wurden Erzählformen Funktionen vor dem Hintergrund kommunikativer Wirkungskalküle zugeordnet; aus diesen Korrelationen, die stets „interessengeleitet waren“, insofern nur das expliziert wurde, was kommunikativ erfolgreich schien, entstanden Regeln, die in der „historischen Reflexionstradition“ formuliert wurden. Eine solche, wenn auch antike rhetorische Reflexionstradition verfährt indes nicht anders als die moderne narratologische Phänomenologie: Auch diese stellt gerade kein ahistorisches universelles Beschreibungsinstrumentarium für Erzählungen jedweder Art bereit, sondern „ihre Kategorien und insbesondere auch deren systematische Zusammenhänge zielen darüber hinaus wie die der alten Rhetorik auf Form-Funktions-Korrelationen. Auch die Narratologie lenkt das Inter-
2.4 Historische Narratologie – theoretische Positionsbestimmung
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die moderne narratologische Phänomenologie im Hinblick auf ihre Funktionskonzepte natürlich voneinander zu differenzieren sind²¹⁷. Diese Ähnlichkeit in der systematischen Korrelation von Erzählformen und Funktionen verweist unter anderem darauf, dass antike Poetik und Rhetorik die „wissensgeschichtlichen Vorgänger[] der modernen narratologischen Kategoriensysteme“²¹⁸ sind, auch wenn sie keine Theorien des Erzählens darstellten. Die moderne Narratologie ist weder aus der antiken Rhetorik und Poetik hervorgegangen, noch gab es in Antike und Mittelalter eine Theorie über das Erzählen,²¹⁹ so dass es folglich keinen „in Kontinuitätsbegriffen denkbaren historischen Weg von der älteren zur jüngeren Phänomenologie des Erzählens“²²⁰ gibt. Im Gegensatz zur modernen Narratologie reflektierten Poetik und Rhetorik das Erzählen nämlich nicht als eine spezifische Vermittlungsweise mit der Funktion der Darstellung von subjektiver Wirklichkeit, sondern als Mittel für die Darstellung von Handlung und exemplarischer Er-
esse selektiv auf bestimmte Erzählformen und identifiziert sie, weil sie ihnen zugleich Funktionen in der narrativen Praxis zuschreibt […]. Wie jede Phänomenologie ist die narratologische historisch, weil sie das Wahrnehmbare nach kulturspezifischen Kriterien klassifiziert. Vergleichsweise leicht lässt sich deshalb vorführen, dass die Kategorien und ihre Systematik keine ‚Universalien‘ darstellen. Sie verdanken ihren Ursprung dem Bezug auf narrative Praktiken, die die Geschichte des europäischen und amerikanischen poetischen Erzählens, vor allem im Roman, seit dem 18. Jahrhundert prägten.“ (132) Während die Rhetorik die Funktionen spezifischer Erzähl- oder auch Beschreibungsverfahren, die dem Ziel des richtigen Argumentierens dienten, vor dem Hintergrund ihres kommunikativen Wirkungspotentials reflektierte, klassifiziert die moderne Narratologie, die – obgleich erst Ende des 19. Jahrhunderts entstanden – auf einem der philosophischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts entstammenden Funktionskonzept basiert, Erzählformen als Darstellungsmittel, deren Funktion in der Vermittlung und Repräsentation von Wahrnehmung besteht (vgl. Hübner 2010a, 133). Aufgrund dieser ästhetischen Herkunft werden hier vor allem solche erzählerischen Kategorien reflektiert, die der genannten Funktion Rechnung tragen und aus diesem Grund nicht schon innerhalb der rhetorischen Reflexion existierten, wie etwa Erzählverfahren bzw. -kategorien, die eine perspektivierende Funktion einnehmen, wie beispielsweise Fokalisierung und ‚point of view‘-Modelle: „Alle diese Kategorien identifizieren Erzählformen anhand der Funktion, den Rezipienten eine bestimmte Wahrnehmung oder Imagination der erzählten Welt zu vermitteln.“ (133 f.) Hübner 2015, 17. Vgl. Hübner 2003, 80 ff. Hübner 2010a, 134. Nach Knape 2003, 98, komme der narratio-Lehre aber dennoch eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung der modernen Narratologie zu: „Die klassisch-rhetorische Narratio-Theorie hat einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der systematischen Narratologie geleistet“, sowie: „Zusammen mit den griechisch-römischen Ansätzen der poetischen Narratologie bildet die rhetorische Narratio-Lehre bis in die frühe Neuzeit die normative Grundlage der Theorie und Praxis des fiktionalen wie des nicht-fiktionalen Erzählens.“ (105)
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
kenntnis.²²¹ Während antike Poetik und strukturalistische histoire-Narratologie sich neben diesen funktionalen Differenzen vor allem in ihrem Handlungsbegriff unterscheiden,²²² ähneln sich hingegen Rhetorik, und hier insbesondere die narratio-Lehre, und moderne discours-Narratologie trotz ihrer Verankerung in einer jeweils anderen Episteme sowohl in ihrem Gegenstandsbereich als auch hinsichtlich der in ihnen systematisierten Erzählformen. Die narratio-Lehre fokussiert aufgrund ihrer funktionalen Position in der Gerichtsrede solche Verfahren, die der parteiischen, aber glaubwürdigen und wahrscheinlichen Urteilslenkung dienten; ihr Interesse an einer solchen „urteilslenkende[n] Handlungsdarstellung ähnelt in mancher Hinsicht dem Interesse der modernen discours-Narratologie an narrativen Vermittlungsverfahren.“²²³ Zugleich lassen sich Ähnlichkeiten zwischen den in der narratio-Lehre und in der modernen discours-Narratologie verhandelten narrativen Formen erkennen, deren Präsenz in der mittelalterlichen Erzählpraxis, die Hübner vor allem anhand der Nutzung des Formenrepertoires des ursprünglich der Rhetorik entstammenden evidentiaKonzepts nachgewiesen hat,²²⁴ nahelegt, im Hinblick auf narrative Vermitt-
Hübner 2015, 17 f. Vgl. Hübner 2015, 18 ff.: In Aristotelesʼ Poetik wird Dichtung als Praktik der Handlungsdarstellung definiert. Dabei wird insbesondere der Erkenntniswert erfundenen Handelns postuliert, so dass für die Handlungsdarstellung weniger theoretisches Wissen und damit allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten als vielmehr topisches Wahrscheinlichkeitswissen fruchtbar gemacht werden solle, welches auf der Annahme generalisierbarer Kausalzusammenhänge beruhe, die eine Analogiebildung zwischen der dargestellten Handlung und anderen ähnlichen Handlungssituationen ermöglichten (vgl. 19 f.). Die Darstellung von Handlung wäre somit „als Diskursivierung topischen Handlungswissens“ (21) zu beurteilen, die stets einen exemplarischen Erkenntniswert vermittelte. Auch die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählpraktiken wiesen, wenn sie eine solche exemplarische Erkenntnis intendierten, laut Hübner „sowohl dem Handeln als auch seiner Darstellung einen Sinn als Aktualisierung topischen Wahrscheinlichkeitswissens zu.“ (24 f.) Die in vormodernen Erzählungen stets situationsbezogene Handlungsdarstellung sei für die Rezipienten aber nur insofern verstehbar und sinnhaft, als sie sich auf ihr kulturelles Handlungswissen bezog (vgl. 25 f.). Die Relevanz kulturellen Handlungswissens für das Verständnis von Handlungsdarstellung – nicht nur in vormodernem Erzählen – stellt für Hübner einen kategorialen Unterschied zur strukturalistischen histoire-Narratologie dar, sofern diese „keine kategoriale Systemstelle für sinnkonstitutives kulturelles – und damit historisches – Handlungswissen vorsieht“ (26). Darüber hinaus sei ihr Handlungsbegriff nicht auf Handeln als solches bezogen, sondern fokussiere über Konzepte wie ‚Funktionen‘, ‚Aktanten‘ und ‚Rollen‘ (in mediävistischer Anwendung über Erzählschemata) ein von der jeweiligen Situation und dem dort relevanten Handlungswissen unabhängige Sinnzuschreibungen (vgl. 26 f.). Hübner 2015, 33. Bis ins 12. Jahrhundert dominierte in lateinischen und volkssprachigen Texten das in der narratio-Lehre formulierte historia-Konzept, sofern diesem in der Abbildung faktisch wahren Geschehens ein höherer Erkenntniswert als fabula und argumentum beigemessen wurde (vgl.
2.4 Historische Narratologie – theoretische Positionsbestimmung
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lungsformen und Praktiken „in Kategorien sich wandelnder Kontinuitäten zu denken.“²²⁵ Prämisse dieser These ist die Annahme, dass die Erzählformen konstituierenden historischen Sinnzuweisungen prinzipiell wandelbar sind, während die narrativen Formen als solche relativ beständig bleiben, dass also narrative Vermittlungsformen, die durch eine bestimmte kulturelle Sinnzuweisung einmal etabliert sind, eine größere historische Beharrungskraft haben können als die sie ursprünglich konstituierenden Sinnzuweisungen und sich durch Umcodierungen mit neuen Sinnzuweisungen verbinden lassen.²²⁶
Hübner 2011, 198 f.; vgl. zum Status der historia im Mittelalter Knape 1984, 47– 92; Knape 1996, 1407; Chinca 1993, 15 ff., 20; vgl. zur Trias historia, fabula und argumentum Cicero, De Inventione, I,19,27 ff.; Rhetorica ad Herennium, I,8,13; Hübner 2011, 198; Knape 2003, 101, sowie Knapp 1997, 22 ff., 39, 101 ff.). Es rekurrierte auf die in der narratio-Lehre formulierten Strategien zur Beglaubigung und zeichnete sich vor allem durch ein Desinteresse an narrativen Vermittlungsverfahren aus, die über die Ebene der histoire hinausgingen (vgl. Hübner 2011, 199). In der Folge zeigte sich in der Entwicklung des höfischen Erzählens eine verstärkte Nutzung solcher narrativer Verfahren, die in der antiken Rhetorik zur Beglaubigung und Erhöhung der Wahrscheinlichkeit vor allem im Zusammenhang mit dem in der narratio-Lehre vermittelten evidentia-Konzept eingesetzt wurden. Vor allem die Dichter der höfischen Romane nutzen narrative Techniken, die dem Formenbestand des evidentia-Konzepts entstammten (vgl. Hübner 2011, 201; vgl. zur Abwendung vom historiographischen Erzählen und der skizzierten Entwicklung auch Chinca 1993, 29 ff., sowie Christ 1977, 17).Viele der im höfischen Roman genutzten erzählerischen Techniken wurden dabei in den artes poetriae nicht eigens behandelt, sondern sind auf die Rezeption der antiken Rhetoriktradition zurückzuführen (vgl. Hübner 2011, 200; Christ 1977, 42; vgl. zum Zusammenhang zwischen der Hinwendung zu narrativen Vermittlungsverfahren und der Entstehung der artes poetriae auch Hübner 2011, 199 f.). Auch die erwähnten Ähnlichkeiten zwischen Dichtung und antiker lateinischer Historiographie erklären sich dabei zu einem großen Teil aus dem lateinsprachigen Bildungssystem und der Rezeption antiker Quellen (vgl. Chinca 1993, 20 ff., der neben dem Einfluss der Rhetorikschulen außerdem von einer rezeptionsseitigen „Nachfrage“ nach historiographischer Literatur ausgeht). Hübner 2010a, 135. Hübner 2015, 33. Die Annahme einer Beständigkeit von Erzählformen scheint jüngst auch Müller 2017, 9 ff., zu vertreten, der die Kontinuität des „epischen Erzählens“ und damit eines auf Mündlichkeit basierenden Erzähltypusʼ von seinen Anfängen in der oral-geprägten Laienkultur des frühen Mittelalters über seine Transformationen im Übergang zu einem primär schriftbasierten Erzählen hin zu dessen Rolle in der Gattungsentwicklung der spätmittelalterlichen Heldenepik nachzeichnen möchte. Müller geht dabei davon aus, dass episches Erzählen „der wesentlich auf Schriftlichkeit basierenden Literatur, wie sie Gegenstand der modernen Literaturwissenschaften ist, vorausgeht, neben ihr fortbesteht und in sie hineinwirkt. Es ist ein Erzähltypus, der besonders am Anfang von Literaturgeschichte auftritt, später aber keineswegs verschwindet.“ (9) Es handelt sich somit bei Müller letztlich um den Versuch, einen spezifischen, aus der Mündlichkeit stammenden Erzähltypus als epochenüberdauernd und universal darzustellen, daher auch der Einstieg mit zwei Texten „aus denkbar weit voneinander entfernten Literaturen […], eine[m] uralten […] und eine[m] aus dem 20. Jahrhundert“ (9).
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
Aufgrund dieser Annahme erscheint es für die Erfassung und Interpretation von narrativen Verfahren in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählpraxis sinnvoll, sowohl die heuristischen Potentiale der älteren Reflexionstradition als auch die der modernen Erzählphänomenologien zu nutzen, ohne allerdings die jeweiligen Funktionsbestimmungen zu übernehmen bzw. zu projizieren.²²⁷ Hübner hat anhand möglicher Korrelationen von Erzählformen und den ihnen in der narrativen Praxis zugewiesenen Funktionen in mittelalterlichem Erzählen den Nutzen eines solchen Vorgehens verdeutlicht, sofern der Rückgriff sowohl auf die rhetorische Reflexionstradition als auch die moderne Phänomenologie eine adäquate Beschreibung einzelner Textarrangements erst ermöglicht; so konstatiert er neben Fällen, in denen eine narrative Form der ihr in der rhetorischen Reflexionstradition zugewiesenen Funktion entspricht, auch solche Konstellationen, die Erzählformen aufweisen, die in der historischen Reflexionstradition nicht formuliert wurden, sondern systematisch und terminologisch erst mit der Etablierung modernen Erzählens erfasst worden sind.²²⁸ In einem letzten möglichen Fall – die Erzählform entspricht zwar den in der rhetorischen Lehre systematisierten Verfahren, ihr funktionaler Sinn geht allerdings über diese hinaus und ist nicht mithilfe der modernen discours-Narratologie zu ermitteln²²⁹ – ist „der Ausdifferenzierung oder Veränderung des historischen Sinnpotentials durch interpretatorische Arbeit auf die Spur zu kommen.“²³⁰ Eine solche Konstellation scheint dabei die Annahme einer prinzipiellen Kontinuität narrativer Formen bei jeweiliger Neufunktionalisierung ganz besonders zu stützen;²³¹ zugleich exemplifiziert sie, dass narrative Techniken auch in der Vormoderne jenseits ihrer ex Vgl. Hübner 2010a, 139; Hübner 2015, 33. Vgl. Hübner 2010a, 136 ff.: Während er eine der rhetorischen Form-Funktions-Korrelation entsprechende Konstellation im Straßburger Alexander, nämlich an dem Brief Alexanders an seine Mutter, nachweisen kann, wertet er Chrétiens Verwendung solcher Formen, die heute als style indirect libre klassifiziert werden, als Phänomen, das sich nicht im Rückgriff auf die ältere Reflexionstradition, sondern nur über die heuristischen Potentiale der modernen Narratologie erfassen und beschreiben lässt. Vgl. Hübner 2010a, 136 f.: Die Veränderung des einer Erzählform einst zugeschriebenen Sinnpotentials zeigt sich für ihn im höfischen Roman, der evidentia-Formen einsetzt, ohne die ursprüngliche Funktion der Beglaubigung beizubehalten. Gleichzeitig dienen die eingesetzten Formen aber auch nicht einem Mimesisprinzip, das Zweck der Darstellung von Innenwelten in der modernen Narratologie ist. Hübner 2015, 33 f. Vgl. Hübner 2015, 34: „Die historischen Prozesse der Kontinuitätsbildungen und Neufunktionalisierungen sind der Grund dafür, dass man Formenrepertoires, die in der modernen Narratologie ‚interne Fokalisierung‘ heißen, schon in höfischen Romanen und Pikaroromanen finden kann; die Veränderungen der Sinnzuweisungen sind dafür verantwortlich, dass es sich dabei um unterschiedliche symbolische Formen handelt.“
2.4 Historische Narratologie – theoretische Positionsbestimmung
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pliziten Formulierung und phänomenologischen Erfassung genutzt wurden und sie zum Teil durchaus über die in den Schulen vermittelten Textverarbeitungsverfahren hinausreichten.²³² Während die Ansichten, welche Kategorien und Analyseinstrumentarien für eine Erfassung und Interpretation mittelalterlicher bzw. frühneuzeitlicher Erzählungen zu nutzen sind, in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion weit auseinandergehen und die skizzierte, primär von Hübner forcierte Methode nur vereinzelt auf Resonanz stößt, ist auch mit dem letztgenannten Hinweis auf das zeitgenössische Bildungssystem ein Aspekt benannt, der höchst kontroverse Standpunkte hervorgebracht hat. Letztlich unterscheiden sich die Positionen in der aktuellen Forschung zur ‚historischen‘ oder ‚mediävistischen‘ Narratologie nämlich in genau diesen beiden Punkten: Zum einen also in der Beurteilung der Bedeutung der lateinischen Bildungstradition für die mittelalterliche Dichtungspraxis, zum anderen in der Frage, welches Kategoriensystem für eine Analyse vormoderner Texte angewendet werden kann. Dieser letzte Aspekt kristallisiert sich dabei häufig in der Diskussion über die Anwendbarkeit des Instrumentariums moderner discours- und strukturalistischer histoire-Narratologie auf mittelalterliches bzw. frühneuzeitliches Erzählen und geht dabei nicht selten – je nach Position – mit der Affirmation oder Negation einer Epochen- bzw. Alteritätsschwelle einher.²³³ Positionen, die eine Applikation moderner narratologischer Analysekategorien auf mittelalterliche Texte befürworten oder zumindest für einen differenzierten Umgang mit diesen plädieren, argumentieren nicht selten mit der Kontinuität erzählerischer Phänomene, die auch jenseits ihrer terminologischen Explikation und Diskursivierung den zu untersuchenden Texten inhärent seien und somit von einem vorreflexiven produktionsseitigen Bewusstsein für diese Phänomene zeugten.²³⁴ Während in diesem Zusammenhang zum einen eine
Vgl. Hübner 2010a, 139; vgl. Hübner 2003, 81 f. Vgl. hier exemplarisch die gegensätzlichen Positionen von Haferland und Meyer 2010; vgl. insgesamt den verschiedene Ansätze vereinenden Band: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven von 2010. Vgl. Hübner 2003, 75, 82: „Es gibt eine Art von praktischem Begriff, der darin besteht, daß man weiß, was man tut, ohne daß man über eine explizite Theorie verfügte.“ Vgl. auch Miedema 2010, 36 f. Vgl. aus Perspektive der modernen narratologischen Theoriebildung die Untersuchung von Schmid 2017, der sich der Ereignishaftigkeit mentaler Vorgänge in Texten vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert widmet, sich Wolframs Parzival und Gottfrieds Tristan ansieht und dabei ebenfalls von einem vorreflexiven Bewusstsein für das Phänomen der Bewusstseinsdarstellung ausgeht (vgl. 1– 5, 115), auch wenn hinsichtlich einzelner Aspekte (etwa der Ereignishaftigkeit) markante Unterschiede zu modernen Erzählungen bestehen (vgl. 104– 105 [zum Parzival], 126 – 129 [zum Tristan]).
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2 Problemstellung und methodische Vorüberlegungen
Kontinuität auch in terminologischer Hinsicht angestrebt wird, wie es beispielsweise Meyer exemplarisch für den Begriff der Perspektive fordert²³⁵ oder wie es in einzelnen narratologischen Analysen ohnehin praktiziert wird²³⁶, wird zum anderen aufgrund der bereits erwähnten Historizität des Kategoriensystems auch eine begriffliche Differenzierung und Abstrahierung angestrebt²³⁷. Im Rahmen solcher, im Hinblick auf den Grad der Historisierung divergierenden Positionen, die von einer prinzipiellen Anwendbarkeit narratologischer Kategorien und Termini auf mittelalterliche Literatur ausgehen, wird die lateinische Rhetoriklehre zum Teil als theoretischer Horizont aufgerufen, dem es sich zu vergewissern gelte,²³⁸ auch wird ihr mit der Fokussierung auf Kontinuitäten implizit Bedeutung verliehen,²³⁹ eine ausführliche Untersuchung ihres Einflusses auch auf die mittelalterliche Dichtung wurde aber nur vereinzelt realisiert. Während sich die skizzierten Ansätze primär auf Phänomene der discoursEbene beziehen, hat sich demgegenüber eine Forschungsrichtung etabliert, die in der Betonung der Alterität vormoderner Literatur vor allem die histoire-Ebene mittelalterlicher Erzählungen zu ihrem Gegenstand erklärt hat,²⁴⁰ die Bedeutung
Vgl. Haferland und Meyer 2010, 444. Vgl. Hübner 2003, 9. Vgl. bspw. Miedema 2010, die zwar ihren Ausführungen zur Dialoganalyse Bedingungen voranstellt, unter denen eine Anwendung des analytischen Instrumentariums überhaupt erst möglich sei (vgl. 36), dabei auch einen kurzen Blick auf Vorläufer dialogischer Rede in antiker Rhetorik und Poetik wirft (vgl. 39, 45), in ihrer Interpretation aber konsequent eine der modernen Narratologie entstammende Beschreibungssprache wählt. In seinen Untersuchungen zu Fokalisierungstechniken im höfischen Roman spricht sich Hübner 2003 in Anbetracht der erwähnten funktionalen und historischen Implikationen moderner Analysebegriffe für die Verwendung von weniger komplexen Termini aus, die nicht an spezifische historische (Erzähl‐)Situationen gebunden seien (vgl. 10) und somit die narrative Technik als solche und nicht die modernen Begriffen inhärenten Implikationen erfassten (vgl. 75; zur Differenzierung der Analysekategorien vgl. u. a. auch 82, 398, 406). Da sich auch die weniger komplexen Termini eigneten, um historisch verschiedene Erzählarrangements zu beschreiben, müsse die „Kontinuität der narratologischen Begrifflichkeit prinzipiell“ (75) nicht aufgehoben werden. Eine solch übergreifende Nutzung narratologischer Kategorien und Terminologien könne dabei nicht nur einer verbesserten Verständigung dienen, sondern habe überdies auch Erkenntniswert: „Nur auf ihrer Grundlage lassen sich Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen höfischen und modernen Erzähltechniken erfassen, und nur auf ihrer Grundlage läßt sich eine Geschichte der Erzähltechnik denken.“ (407) Vgl. Bleumer 2010, 236; vgl. Miedema 2010, 45, Anm. 39. Vgl. Haferland und Meyer 2010, 431, 436, 443 f. Schulz 2012, 165, zufolge sei das Interesse an der Handlung „pragmatisch begründet.“ Selbst „schillernde Inszenierungen“ auf discours-Ebene dienten letztlich „dem Zweck, die Handlung selbst gegenüber konkurrierenden Geschichten und anderen Fassungen derselben Geschichte deutlicher hervortreten zu lassen (sie verfolgen also gerade nicht das Ziel, das Erzählte hinter dem Akt des Erzählens zum Verschwinden zu bringen, eine Tendenz, die in der abendländischen Li-
2.4 Historische Narratologie – theoretische Positionsbestimmung
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der gelehrten lateinischen Bildungstradition für die deutschsprachige Dichtung als äußerst gering einschätzt und die Anwendung moderner Analysekategorien grundsätzlich problematisiert. Die einzelnen Argumentationsaspekte einer solchen Position stehen dabei in einem engen wechselseitigen Verhältnis; der Untersuchungsgegenstand ist gewissermaßen Prämisse des methodischen Vorgehens: Eine strukturalistische histoire-Narratologie, und das haben insbesondere die Arbeiten Schulzʼ und Haferlands gezeigt, wird weder den narrativen Verfahren der Rhetorik Relevanz für das mittelalterliche Erzählen beimessen,²⁴¹ noch wird sie die moderne Erzähltheorie in ihrer Komplexität für eine Analyse desselben als geeignet erachten. Natürlich weiß man dabei um die Existenz sowohl lateinischer als auch volkssprachiger theoretischer Reflexionen;²⁴² in ihrer Abhängigkeit von der antiken Rhetorik,²⁴³ ihrer zum Teil sehr „technischen Ausrichtung“²⁴⁴ und ihrer primär praxisorientierten Vermittlung rhetorischer Techniken²⁴⁵ werden sie in ihrem potentiellen Erkenntniswert für eine Analyse von histoire-Phänomenen allerdings marginalisiert. Da es im Mittelalter keine „explizite Poetik der narrativen Sujetfügung“²⁴⁶ gegeben hat und dem gelehrten zeitgenössischen Wissen grundsätzlich kaum Relevanz zugeschrieben wird,²⁴⁷ scheint sich ein Blick auf die primär lateinische Bildungstradition folglich zu erübrigen. teratur […] greifbar wird […].).“ Dieser letztgenannte Aspekt, der in einer solchen Generalisierung ohnehin noch zu diskutieren wäre, ist als Begründung für eine Vernachlässigung erzählerischer Verfahren nur bedingt haltbar, zumal Schulz an anderer Stelle eine Differenzierung von Erzähltechniken und den ihnen zugeschriebenen Funktionen fordert (vgl. Schulz 2007, 339), die ohne einen Blick auf discours-Phänomene nur schwerlich umzusetzen ist. Ein solcher bedeutet überdies eben nicht, „die Ebene der histoire mit interpretatorischer Mißachtung zu belegen.“ (Schulz 2012, 166) Schon bei Aristoteles findet sich die Unterscheidung zwischen der Gestaltung des Inhalts und derjenigen des Ausdrucks, wenn er seine Poetik maßgeblich Handlungsaufbau und Figurenkonstruktion widmet und die sprachliche Gestaltung und Gedankenführung als Bestandteil der Rhetorik definiert (vgl. Aristoteles, Poetik, 18 – 19,1456a). Vgl. außerdem Hübner 2010a, 121: „Die moderne narratologische Differenzierung zwischen histoire und discours ist ein spätes Kind dieses Gedankens, der zu den Binsenweisheiten antiker, mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Rhetorik gehört.“ Mit Fokussierung auf die histoire-Ebene scheint sich ein Rückgriff auf die antike Rhetoriktheorie aus diesem Grund zu erübrigen. Vgl. Schulz 2011, 186. Zur Abhängigkeit der mittelalterlichen artes poeticae von der antiken lateinischen Rhetorik vgl. Worstbrock 1985; vgl. auch Haug 1992, 8 ff. Hübner 2003, 80. Vgl. Brandt und Loleit 2003, 1317 f.; Knape 2008, 61: „Sie sind vom ganzen Ansatz her Produktionstheorien, stehen also gänzlich im Dienst von Textgenerierungs- oder Konstruktionsvorgängen.“ Vgl. auch Knape 2006, 4; Christ 1977, 35. Schulz 2011, 186. Vgl. Schulz 2012, 23 ff.
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Eine solche Fokussierung auf histoire-Phänomene ist dabei häufig der Grund, auch die Anwendung moderner narratologischer Kategorien zu problematisieren:²⁴⁸ Insbesondere Schulz marginalisiert den Erkenntniswert der modernen Narratologie und lehnt eine Anwendung ihrer Analyseinstrumente insofern ab, als sie sich in ihrer Komplexität nicht für die Untersuchung mittelalterlicher Texte eigneten, da sie primär den Vermittlungsverfahren, discours-Phänomenen also, nicht aber den in vormodernen Texten wichtigen Fragen nach Handlungsstrukturen und -motivationen nachgingen.²⁴⁹ Im Fokus seines narratologischen Interesses stehen daher spezifische Formen der Handlungsverknüpfung, vor allem Erzählschemata und metonymisches Erzählen, denen er eine Schlüsselfunktion für das Verständnis mittelalterlichen Erzählens zuweist.²⁵⁰ Neben Schulz hat sich
Daneben werden auch grundsätzliche Vorbehalte gegenüber einer Anwendung moderner analytischer Begriffe auf mittelalterliche Texte vorgebracht, die in der Regel mit der Annahme einer spezifischen Modernitätsschwelle begründet werden (vgl. hierzu exemplarisch Haferland in: Haferland und Meyer 2010). Andere Ansätze betonen, dass viele der mit modernen Begrifflichkeiten gefassten Phänomene im Mittelalter schlicht nicht existieren, wie es beispielsweise Glauch 2010 an der Untersuchung von mittelalterlichen Ich-Erzählungen exemplifiziert oder Haferland 2007 an der Unterscheidung Autor/Erzähler veranschaulicht. Vgl. Schulz 2012, 1; zur marginalen Bedeutung der lateinischen Bildungstradition vgl. 23 ff.; zur präferierten Fokussierung auf die histoire-Ebene vgl. 1 ff., 164 ff. Vgl. insgesamt auch Schulz 2011, sowie Schulz 2010, 339, Anm. 2: Schulz konstatiert hier nicht nur die geringe Relevanz der modernen Narratologie für die Untersuchung der für die mittelalterliche Literatur zentralen Sujetfügung, sondern kritisiert außerdem die Ignoranz der sich auf eben diese beziehenden jüngeren Ansätze gegenüber dem bereits bestehenden erzähltheoretischen Instrumentarium, die seines Erachtens dem Anspruch folgten, „das Rad neu zu erfinden.“ Erzählschemata, die als textübergreifende überindividuelle Handlungsmuster aus der mündlichen Erzähltradition stammten, aber in der produktionsseitigen Schriftlichkeit fortwirkten, spielten nicht nur für die Interpretation – sowohl aufgrund ihrer „rekurrenten Strukturprinzipien“ (Schulz 2012, 185) als auch wegen möglichen Variationen, Überlagerungen und Abweichungen (vgl. 186) – eine große Rolle, sondern gäben überdies Auskunft über die sie hervorbringende Kultur: „Verbreitete Erzählmuster sind gewissermaßen die ‚Narrative‘ einer Kultur, in denen diese sich ausdrückt und mit denen sie – nicht diskursiv, sondern in erzählenden Bildern, in ‚präsentativer Symbolifikation‘ – Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen unternimmt. […] Als Teil des kollektiven Imaginären sind solche Narrative gewissermaßen Formationen des Wissens darüber, wie die Welt unter bestimmten Voraussetzungen auszusehen hätte.“ (185 f.) Das kollektive Imaginäre, dessen Konzeptualisierung unter anderem auf den Arbeiten Müllers basiert, definiert Schulz als „Vorstellungswelt“, „die gewissermaßen zwischen den literarischen Texten und der material gegebenen Realität liegt“; es handle sich folglich um „Vorannahmen, die einerseits die Wahrnehmung von Welt strukturieren, die andererseits aber auch das Reden über die Welt und den Menschen formen.“ (19) Diese schon bei Müller formulierte Annahme eines vorreflexiven und vorbewussten Imaginären (vgl. Müller 2007a, 6 – 45), eines ausschließlich aus dem Erzählen selbst generierbaren und von anderen diskursivierten Wissensformationen unabhängigen Wissens, das das Spezifische einer Kultur einfange, strukturiere
2.4 Historische Narratologie – theoretische Positionsbestimmung
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insbesondere auch Haferland mit diesen beiden Verfahren auseinandergesetzt.²⁵¹ Beide betonen dabei ihre Relevanz für die Sinnkonstitution von Erzählungen, sofern sie nicht nur der kulturellen Selbstreflexion dienten, sondern auch Ausdruck gesellschaftlich relevanter Wissensformationen seien.²⁵²
und auf dieses zurückwirke, geht mit der methodischen Entscheidung einher, die Ebene des discours größtenteils auszublenden. Während dies bei Schulz in der Fokussierung auf Erzählschemata und mit der Begründung vollzogen wird, das kollektive Imaginäre der Feudalgesellschaft manifestiere sich in eben jenen Schemata (vgl. Schulz 2012, 21, 185 f.), grenzt sich Müller in der Untersuchung von Erzählkernen (vgl. die Definition Müller 2007a, 22) zwar von gängigen erzählschemabasierten Ansätzen ab (vgl. 29 ff.), beobachtet jene imaginären Dispositionen aber völlig abgekoppelt von ihrer je eigenen narrativen Umsetzung. Zum einen liegt dies in seiner Intention begründet, „literarische Texte als Antwort auf den historischen Kontext, in dem sie entstehen, zu lesen.“ (9) Zum anderen gilt sein Interesse insbesondere den über jene Erzählkerne verhandelten Problemkonstellationen, die – zwar häufig aber nicht ausschließlich – literarische Manifestationen „kulturspezifische[r] Interessen und Impulse“ (9) seien. Diese Problemkonstellationen seien, wie die außerliterarische Umwelt insgesamt, immer schon jenen aus verschiedenen Erzählkernen generierten narrativen Konfigurationen inhärent. Dabei geht es ihm um „die laikale Oberschicht der mhd. Sprachgemeinschaft um 1200, insoweit sie im Hof das normative Zentrum sieht. Nur was dort imaginiert oder fingiert werden konnte […], läßt sich als imaginärer Fundus einer historischen Kultur einigermaßen trennscharf beschreiben.“ (44) Die lateinsprachige gelehrte Bildungstradition, historiographische Textgattungen sowie klerikales Wissen spielen für Müller dabei dezidiert keine Rolle. Die angestrebte Rekonstruktion des kollektiven Imaginären, desjenigen folglich, was die deutschsprachige Feudalkultur in ihren Grundzügen – vorbewusst – prägt, charakterisiert und von anderen Kulturen abhebt, über literarische Texte ungeachtet ihrer erzählerischen Verfahren und ohne Blick auf die gelehrten zeitgenössischen Diskurse muss dabei allerdings als problematisch erscheinen. Dabei sind insbesondere Haferlands Untersuchungen zu einem ‚metonymischen Erzählen‘ zu nennen, da ihnen sowohl jene Position eines primär final orientierten Erzählens als auch die Annahme einer besonderen Relevanz außerliterarischer Faktoren für die textuelle Sinnkonstitution eingeschrieben sind (vgl. Haferland 2005; Haferland und Schulz 2010). Die Annahme „einer metonymischen Anlage des Erzählens“ (Haferland 2005, 338) resultiert in der These einer Dominanz final orientierter Erzählhandlungen (vgl. 341 ff.), die wiederum in Anlehnung an Lugowski vor allem für mittelalterliches bzw. vormodernes Erzählen charakteristisch seien (vgl. Haferland und Schulz 2010, 11, 20 ff., 41; vgl. auch Schulz 2007, 344). Als Ausdruck eines „metonymisch verfassten Denkens“ (Haferland und Schulz 2010, 12) fungieren literarische Texte auch hier gewissermaßen als Spiegel der außerliterarischen Wirklichkeit. Dabei verfolge metonymisches Erzählen, das auf realen Zusammenhängen verschiedener Art basiere und sich primär aber nicht ausschließlich in der mittelalterlichen Literatur finde, das Ziel „einer ‚präsentativen Symbolifikation‘ […]: eines nicht diskursiven, sondern narrativen Vor-Augen-Stellens von Sachverhalten in erzählerischen ‚Verkörperungen‘“ (Schulz 2012, 335 f.).Vgl. auch Müller 2007a, 9, Anm. 7, der in Anlehnung an Haferlands Überlegungen zur Metonymie in ganz ähnlicher Weise „die Beziehungen zwischen alltagsweltlichen Problemkonstellationen und literarisch entfalteten Erzählkernen […] untersuchen“ möchte. Vgl. Schulz 2012, 185 f., 334 f.
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Die Bedeutung, die insbesondere Schulz diesen beiden handlungsstrukturierenden Erzählverfahren zuschreibt, erklärt sich mithin aus seinem narratologischen Interesse an der histoire-Ebene mittelalterlicher Erzählungen. Beide Konzepte können jedoch selbst bei Fokussierung dieser Ebene in ihrem Erkenntniswert und ihrer Relevanz für die Sinnkonstitution problematisiert werden. Indem Erzählschemata ein hoher interpretatorischer Nutzen sowohl für die Erfassung als auch für die Deutung der zentralen sinntragenden Textelemente zugeschrieben wird, da zum einen Ereignisse anhand ihres Schemabezugs als wichtiger oder unwichtiger klassifiziert würden²⁵³ und zum anderen selbst Abweichungen, Umbesetzungen und Variationen schemabasierten Erzählens sinntragend seien²⁵⁴, wird ihnen eine „inhärente Semantik“²⁵⁵ unterstellt, die ihre rezeptionsseitige Rekonstruierbarkeit aus dem zeitgenössischen kulturellen Wissen voraussetzt.²⁵⁶ Auch die These einer Dominanz thematischer bzw. metonymischer Kohärenz in vormodernen Erzählungen müsste im Hinblick auf ihren Untersuchungsgegenstand spezifiziert werden, sofern zwischen der erzählten Handlung und dem erzählten Figurenhandeln zu differenzieren ist.²⁵⁷
Vgl. Schulz 2012, 175 f. Vgl. Schulz 2012, 186 f. Hübner 2013b, 447. Vgl. Hübner 2013b, 446 f. Nur wenn man die solchen Erzählschemata unterstellte Semantik als rekonstruierbar voraussetzt, konnten Rezipienten die sinntragenden Abweichungen von einem Schema deuten, die nicht schemabasierten Textelemente als unwichtiger beurteilen und somit das Sinnganze erfassen. Hübner 2013b, 447, exemplifiziert dies anhand der Brunnenâventiure im Iwein: Nach Schulz 2012, 277 ff., ließen sich die „Irritationen“, die die Initialâventiure auslöse, durch die Annahme verschiedener Sinnbildungsmuster, folglich durch die Schema-Inferenz von Artusroman und Feenmärchen, erklären. Der Rezipient müsste somit nicht nur in der Lage sein, dies zu erkennen, sondern außerdem wissen, dass Elemente, die nicht Teil dieser beiden Schemata sind, wie etwa der Vorwurf des Rechtsbruchs durch Askalon oder die Überredung Laudines durch Lunete, als weniger wichtig einzuschätzen sind (vgl. zu diesem Aspekt auch Hübner 2015, 27). Verstehe man Erzählschemata aber hingegen nicht als „symbolische Formen“, sondern als „bloße Verlaufsmuster […], deren Positionen erst in den Texten durch sinnhaltige Konzepte besetzt wurden“ (Hübner 2013b, 447), wären in der zeitgenössischen Rezeption ebenfalls Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Erzählungen ähnlichen Handlungstyps in den Blick geraten, ohne dabei nicht schemarelevante Textelemente zu verkennen. Diese These leitet Schulz zum einen über die Auffassung, Kausalität sei ein Sonderfall der Metonymie und daher jener unterzuordnen (vgl. Schulz 2012, 333), zum anderen über die Definition von kompositorischer Motivation als Zusammenspiel von kausaler und finaler Motivierung (vgl. 328) her. „Die Konzeption kompositorischer als ‚Zusammenstimmen‘ von kausaler und finaler Motivierung ermöglicht es, explizite Kausalmotivierung als sekundäre kompositorische Motivierung finalmotivierter Sujetfügung zu erklären und ihre Relevanz dadurch herabzustufen.“ (Hübner 2013b, 447) Darüber hinaus müsse grundsätzlich „zwischen der Kohärenz ‚der erzählten Handlung‘ und den Begründungen ‚erzählten Handelns‘“ (448) unterschieden werden. Im Ge-
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Die divergierenden Einschätzungen über die Relevanz von Erzählschemata und metonymischem Erzählen für die Sinnkonstitution eines Textes liegen nach Hübner im narratologischen Gegenstand begründet, seien also Folge einer „narratologischen Grundsatzentscheidung“, nach der entweder die Handlung als solche oder aber erzähltes Figurenhandeln „den eigentlich explikationsbedürftigen Kerngegenstand der histoire-Narratologie“ bildet.²⁵⁸ Seine Kritik an Schulzʼ zentralen Konzepten zur Erschließung der Spezifika mittelalterlichen Erzählens gilt somit ihren
gensatz zur Kohärenz der erzählten Handlung werde erzähltem Handeln nämlich stets Kausalität unterstellt: „Auch magische, mythische und religiöse Begründungen operieren kausal; nur die Rationalitätsstandards der jeweiligen Episteme differieren.“ (Hübner 2013b, 449; vgl. auch Knapp 2013, 190, der mythischen und religiösen Begründungen ebenfalls eine stets kausale Logik unterstellt). In der erzählten Welt wird somit auch innerhalb einer finalen Motivierung erzähltes Handeln letztlich kausal begründet, wobei die jeweiligen kausalen Begründungszusammenhänge natürlich historisch bedingt sind; auch in vormodernem Erzählen könnte ohne jene Kausalitätsunterstellungen Handeln nicht begründet und somit letztlich nicht verstanden werden (vgl. Hübner 2013b, 449; vgl. insg. auch Knapp 2013). Vgl. zu den verschiedenen Motivierungsformen und der Relevanz von Kausalitätsunterstellungen auch die Ausführungen in Kap. 3.2.3. Hübner 2013b, 448. Vgl. zur Differenz zwischen Handlung und erzähltem Figurenhandeln auch Hübner 2015, 26 ff. Während die strukturalistische histoire-Narratologie das – für das Verständnis erzählten situationsbezogenen Handelns notwendige – kulturelle Handlungswissen nicht miteinbezieht und ihren Handlungsbegriff in Abstraktion von diesem Handlungswissen etabliert hat, bedürfe es gerade einer Theorie eines solchen Wissens, die die für den Sinn erzählten Handelns konstitutiven „Situationsdetails und Akteureigenschaften“ (26 f.) erfasse: „Die Analyse sowohl poetischen als auch historiographischen Erzählens hätte dann die Aufgabe, aus den dargestellten Handlungssituationen dasjenige kulturelle Deutungs- und Regularitätenwissen zu rekonstruieren, das diese für Textverfasser und Adressaten zu plausibilisieren vermochte.“ (Hübner 2015, 27 f.) Nur so wäre es also möglich, die „Relationen zwischen erzähltem Handeln und kulturellem Handlungswissen, also zwischen historischen Erzählpraktiken und historischen Wissensordnungen herzustellen.“ (Hübner 2012, 191) Mit der Fokussierung auf den kulturellen Sinn erzählten Handelns würde folglich nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Textelementen differenziert, da jedes erzählte Handeln unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu einem Erzählschema von gleicher Relevanz sei (vgl. Hübner 2013b, 448). Ein solches theoretisches Instrumentarium finde sich nach Hübner in modernen Theorien sozialen Handelns, in der praxeologischen Soziologie nämlich, in denen Handlungswissen als implizites, vorreflexives, situationsspezifisches und damit nicht axiomatisierbares Wissen verstanden wird, das Handeln als solches allererst nachvollzieh- und verstehbar mache (vgl. Hübner 2015, 25). Dies entspreche letztlich der Konzeption der antiken Poetik, in der die Topik als Thesaurus situationsspezifischen Handlungs- und Wirklichkeitswissens konstitutiv für die Praxis und ihre erzählerische Darstellung ist (vgl. Hübner 2015, 25; vgl. zur Bedeutung der Topik für praktisches Handeln und Handlungsdarstellung auch 17– 22). Vgl. zur Konzeptualisierung einer praxeologischen Narratologie in Anlehnung an soziologische Handlungstheorien und ihre Anwendung auf mittelalterliches bzw. frühneuzeitliches Erzählen: Hübner 2010b; Hübner 2012; Hübner 2013a sowie Hübner 2014.
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problematischen Relevanzunterstellungen: Indem sie erzähltes Figurenhandeln, das seine Bedeutung nicht durch einen Schemabezug erhält, und seine kausalen Begründungen marginalisiert, verengen sie die konzeptionellen und interpretatorischen Optionen historischer Narratologie.²⁵⁹
Eine historische Narratologie, dies zeigt der exemplarische Blick auf die gegenwärtige mediävistische Diskussion, gibt es in der aktuellen Theoriebildung folglich nicht.²⁶⁰ Eine solche kann vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten Überlegungen zur Historizität von narrativen Formen und der sie erfassenden Phänomenologien letztlich nur in der Bereitstellung eines Analyseinstrumentarium bestehen, das der kulturellen und historischen Variabilität von Erzählpraktiken und ihren jeweiligen Funktionszuschreibungen gerecht wird. Andernfalls müsste von historischen Narratologien gesprochen werden.²⁶¹ Ein Kategoriensystem, das einzelne Erzählformen zunächst unabhängig von ihren jeweiligen historischen Sinnzuweisungen klassifiziert, müsste demnach mit möglichst abstrakten und analytischen Begriffen arbeiten, die weder die diesen narrativen Praktiken in der antiken Reflexionstradition zugeordneten Wirkungskalküle noch die ihnen in der modernen Narratologie zugewiesenen Subjektivierungsfunktionen auf mittelalterliches bzw. frühneuzeitliches Erzählen projiziert.²⁶²
Hübner 2013b, 450. Von Contzen 2018, 23, weist allerdings auf die Dichte und „Expertise“ der narratologischen und erzähltheoretischen Auseinandersetzungen in der germanistischen Mediävistik hin, die im Vergleich zum anglo-amerikanischen Diskurs „eine recht lange, lebendige und nicht zuletzt innovative Tradition der Erzählforschung bzw. narratologisch orientierter Arbeiten vorweisen [kann].“ (19) Von Contzen 2018, 24 f., differenziert indes zwischen einer diachronen und einer historischen Narratologie: Eine diachrone Narratologie lege den Fokus auf relativ stabil bleibende erzählerische Formen, während eine historische Narratologie „den Schwerpunkt auf die historisch, kulturell, soziologisch usw. spezifischen Bedingungen eines bestimmten Zeitraums [setzt], innerhalb dessen das Erzählen in seinen individuellen Ausprägungen betrachtet wird.“ (25) Laut von Contzen sei eine diachrone Narratologie dabei eher histoire-, eine historische eher discoursorientiert (vgl. 26), wobei letztere stets eher auf Alteritäten, erstere auf Kontinuitäten fokussiere (vgl. 28). Hübner hat dies ausführlich anhand der Techniken der Innenweltdarstellung im höfischen Roman gezeigt: Die in formaler Hinsicht dem in der rhetorischen narratio-Lehre formulierten evidentia-Konzept ähnelnden Verfahren der Innenwelt- und Bewusstseinsdarstellung können zwar der diesem Verfahren assoziierten Funktion der Veranschaulichung und der Erzeugung von Augenschein dienen, gehen aber in einigen Fällen darüber hinaus. Zugleich sind sie nicht als Formen personalen Erzählens zu beschreiben, das als Mimesiskonvention etabliert wurde und damit als Funktionsbegriff aufzufassen ist (vgl. Hübner 2004, 133: Personales Erzählen „bezeichnet den ganzheitlichen Effekt eines Arrangements verschiedener narrativer Techniken oder
2.4 Historische Narratologie – theoretische Positionsbestimmung
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Eine solche abstrakte, verschiedene historische Konstellationen erfassende Begriffssystematik soll im Folgenden die Grundlage der narratologischen Beschreibung solcher Erzählformen sein, die im frühneuhochdeutschen Prosaroman zur Generierung von Ambivalenz eingesetzt werden.²⁶³ Die folgenden
Strukturmuster.“). Der von Hübner genutzte Terminus der Fokalisierung hingegen referiert nicht auf eine spezifische historische Wissensordnung, erfasst dabei nur „bestimmte Aspekte komplexerer Phänomene“ und ermöglicht so ein „breites historisches Anwendungsspektrum“ (Hübner 2003, 10; vgl. auch 74 f.; vgl. zum Nutzen der Kategorie „Fokalisierung“ für die Analyse mittelalterlicher Texte auch Hübner 2010a, 137 f.). Zugleich trägt er der prinzipiellen Kontinuität der Erzählform Rechnung (vgl. Hübner 2010a, 134: „Augenscheinlichkeit evozierendes Erzählen im Sinn der evidentia und fokalisiertes Erzählen beispielsweise haben als narrative Praktiken durchaus erhebliche Ähnlichkeiten. […] Die Konzeptionalisierungen in den jeweiligen Reflexionstraditionen sind gleichwohl markant unterschiedlich gedacht, auch wenn sie teilweise ähnlich klingen mögen.“). Nach Hübner 2011, 199, und Hübner 2008, 359, sei eine Hinwendung zu discours-spezifischen Vermittlungsverfahren auf den höfischen Roman beschränkt geblieben; die Prosaromane, „ihre[] historischen Nachfolger“ (Hübner 2011, 199), rekurrierten auf „einfachere“ historiographische Erzählverfahren und seien somit nicht von jenem Interesse an der narrativen Gestaltung der discours-Ebene gekennzeichnet. Die postulierte Rückkehr zur Historiographie liegt aufgrund der häufig auftretenden Selbstbezeichnung als historia natürlich nahe; Knape 1984, 242 f., hat gezeigt, dass die Verwendung des Terminus im Anschluss an die lateinische historia-Tradition Ausdruck eines neuen literarischen Anspruches war und so den historischen Wert der Texte verdeutlichen sollte. Ob allerdings der mit dem Terminus implizierte Anspruch auf Wahrheit, die wiederum nicht nur faktischer, sondern auch darstellerischer und vor allem auch exemplarischer (religiöser, philosophischer, moralischer) Natur sein konnte (vgl. 356 ff.) und dabei an ihrem Wahrscheinlichkeitsgrad gemessen wurde (vgl. 247 ff.), zugleich eine weniger elaborierte narrative Gestaltung bedeutete, muss zumindest infrage gestellt werden: Nicht nur haben sich auch Dichter höfischer Romane dieses Terminus im Rahmen ihrer Quellenberufungen bedient, um den Wahrheitswert ihrer Vorlage zu steigern; eine differenzierte, ja selektive Verwendung der Bezeichnung war also prinzipiell möglich und sollte daher als gestalterisches Mittel auch für die späteren Textproduzenten in Betracht gezogen werden. Darüber hinaus wurde insbesondere bei den frühen Drucken der Terminus historia von den Verfassern nur selten als Werktitel gewählt, sondern den Texten häufig von Druckern oder Verlegern beigefügt, die auf diese Weise zum einen die Vereinheitlichung der Bezeichnungskonventionen anstrebten und zum anderen auf die neuen Rezeptionsbedingungen reagierten (vgl. 253 ff.). Zunächst sollte also zwischen terminologischen, auf spezifische Implikationen des Wahrheitsbegriffes zielenden und darstellerischen, die narrative Gestaltung betreffenden Rekurrenzen auf die lateinische historia-Tradition differenziert werden, da ein – womöglich nur einzelne Elemente historiographischen Erzählens betreffender – Rückgriff nicht zwangsläufig ein Desinteresse an discours-spezifischen Vermittlungsverfahren bedeuten muss. Auch Hübner 2008, 359, stellt schließlich für einige Prosaromane einem historiographischen Erzählstil widersprechende Tendenzen fest: „Neben dem historischen Berichtsstil, der die Prosa in Verbindung mit der Chronik-Fiktion als Signal für historischen Wahrheitsanspruch funktionalisiert, zeigen sich hier auch Erbgüter des höfischen Versromans; eine teilweise komplexe Syntax widerstrebt dem historiographischem Ideal ebenso wie komplizierte Erzähl-
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Überlegungen basieren demnach auf der Annahme der grundsätzlichen Historizität von narrativen Praktiken und ihren jeweiligen Funktionszuweisungen, gehen aber nichtsdestoweniger von jener Kontinuität der Erzählformen aus, ohne ihre jeweiligen historischen Sinnzuschreibungen im Einzelnen zu rekonstruieren. Prämisse der Analyse der für ein ambivalentes Erzählen eingesetzten narrativen Verfahren ist somit die Annahme eines „historischen Weg[s], wenn auch eine[s] verschlungenen“²⁶⁴ von in der narratio-Lehre reflektierten zu den in der discoursNarratologie systematisierten Erzählformen. Von Relevanz sind dabei aber weniger die ihnen jeweils inhärenten Sinnzuweisungen als vielmehr ihre Kombination zu komplexen narrativen Arrangements, deren Funktion wiederum – so die These – in der Ambiguisierung und damit der Komplexitätssteigerung des Erzählten und des Erzählens besteht. Ambivalentes Erzählen als Resultat eines verschiedene Erzählformen kombinierenden Verfahrens wäre demnach zwar letztlich ein Funktionsbegriff, kann aber insofern ebenfalls als sich wandelnde Kontinuität begriffen werden, als es nicht auf eine historisch-spezifische Konstellation bezogen ist.
verfahren.“ Ein von solchen narrativen Gestaltungsprinzipien, wie sie Hübner für den höfischen Roman beschrieben hat, losgelöstes Erzählen, das primär an der Ausgestaltung der histoire interessiert ist, erscheint zumindest insofern fragwürdig, als zeitgenössische sowohl latein- als auch volkssprachige Rhetoriken im Anschluss an die antike Tradition Verfahren der erzählerischen Vermittlung explizit reflektierten, sie somit als prinzipiell verfügbarer Wissenshorizont vorausgesetzt werden können (vgl. Knape 2006, 22; Knape 2015, 210 ff.). Eine Abwendung von spezifischen narrativen Vermittlungsverfahren erscheint folglich bereits aufgrund des zeitgenössischen theoretischen Reflexionsstandes schwer vorstellbar. Hübner 2010a, 135.
3 Zur narrativen Inszenierung von Ambivalenz Wie die vorangegangenen Überlegungen zur historischen Narratologie nahelegen, basieren auch die folgenden Betrachtungen auf der Annahme, dass die poetische und vor allem rhetorische Tradition für das zeitgenössische Erzählen eine überaus prominente Rolle gespielt hat. Die antike lateinische Bildungstradition sowie auch gelehrte zeitgenössische Diskurse werden somit als Horizont vorausgesetzt; sie prägen nicht nur das mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Bildungssystem, sondern beeinflussen auf diese Weise auch das rhetorische Wissen und die dichterische Praxis der Zeit in erheblichem Maße. Diese zentrale Rolle der lateinischen Bildungstradition wurde bereits vielfach nachgewiesen; auch wurde die Relevanz antiker Quellen für den mittelalterlichen Rhetorikunterricht und hier insbesondere der Status von Ciceros De inventione und der Rhetorica ad Herennium als Kompendien formaler „Textproduktions- und Textbearbeitungsregeln“¹ und damit die Bedeutung der rhetorischen narratio-Lehre für die gelehrte Unterrichtspraxis hervorgehoben.² Dieser Umstand wie auch die
Hübner 2010a, 141. Die Rolle der antiken Rhetoriktradition für das mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Bildungssystem sowie für das rhetorische Wissen und die dichterische Praxis wurden mehrfach betont, vgl. dazu exemplarisch Hübner 2010; Hübner 2011; Hübner 2015; Hübner 2018; Copeland und Sluiter 2009; Schneider 2013; Knape 2001a; von Moos 1997; Haug 1992,7 ff. Für einen Überblick über die verschiedenen frühen Positionen zu Rolle und Einfluss der lateinischen Rhetorik auf volkssprachiges Erzählen vgl. auch Chinca 1993, 3 ff. Fried 1997,VIIff., macht allerdings darauf aufmerksam, dass die antike lateinische Bildungstradition nicht in ihrer ursprünglichen Breite eine Rolle gespielt habe. Neben eher allgemeinen, primär pädagogischem Anspruch verpflichteten Lehrbüchern (Copeland und Sluiter 2009, 1 f.) waren im Rahmen der gelehrten Unterrichtspraxis vor allem Ciceros De Inventione und die Rhetorica ad Herennium grundlegend (vgl. Hübner 2010a, 141 f.; Schneider 2013, 160; Brandt und Loleit 2003, 1317; Knape 2008, 56; Knape 2015, 66: Die Rhetorica ad Herennium „trat […] im Westen – nicht zuletzt wegen ihrer Kürze, System-Vollständigkeit und Übersichtlichkeit – in Mittelalter und früher Neuzeit unter dem Namen rhetorica nova einen unvergleichlichen Siegeszug als Lehrbuch der lateinischen Rhetorik an.“). Dabei spielte insbesondere die hier systematisierte narratio-Lehre eine zentrale Rolle; aus ihr wurden nicht nur Schulübungen abstrahiert, sondern sie beeinflusste auch die zeitgenössische Erzählpraxis in erheblichem Maße (vgl. Knape 2003, 98, 105; Hübner 2010a, 122 f.; Hübner 2011, 198; Hübner 2018, 87 ff.; Christ 1977, 25; vgl. zu den aus der narratio-Lehre stammenden Schulübungen und der Progymnasmata-Tradition Cizek 1994, 277– 318). Insgesamt wurde antikes rhetorisches Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit natürlich „zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Intensität gepflegt“ (Knape 2008, 56), auch wurde dessen epistemologische Relevanz je anders bewertet, nichtsdestoweniger wurde die antike rhetorische Tradition vor allem im Rahmen des Bildungssystems stets rezipiert, wie zeitgenössische Schultexte und Bibliothekskataloge zeigen (vgl. Knape 2008, 57 f.; Knape 2001a, 1378), und übte infolgedessen Einfluss https://doi.org/10.1515/9783110672589-003
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3 Zur narrativen Inszenierung von Ambivalenz
Beurteilung narrationsspezifischer Ambivalenzen gerade nicht als Alteritätsphänomen machen einen Blick auf die zeitgenössischen gelehrten Reflexionen über kohärentes und ambivalentes Erzählen notwendig. Diese nur vereinzelt auftretenden Reflexionen in der gelehrten lateinischen Dichtungstheorie, die zum einen in der Auseinandersetzung mit den ordines narrandi und dem Konzept der verisimilitudo die Bedingungen eines in sich schlüssigen und kohärenten Erzählens verhandeln, zum anderen in der Beschäftigung mit den Phänomenen ambiguitas und obscuritas die Verfahren und Techniken eines verdunkelnden und ambigen Erzählens diskutieren, verweisen trotz ihrer Seltenheit nämlich darauf, dass auch zeitgenössisch von einer bewussten Konstruktion ambivalenter Textarrangements ausgegangen und Ambivalenz als intendierte Inszenierung von Konträrem verstanden werden sollte. Im Anschluss an eine kurze Übersicht über die dort greifbaren zentralen Konzepte sollen die für jene komplexen Arrangements eingesetzten narrativen Verfahren anhand von Beispielen aus dem Fortunatus zunächst einzeln skizziert werden, wobei vor allem solche Konstellationen im Fokus stehen, die für eine Ambiguisierung – auch im Hinblick auf die noch ausführlich zu analysierenden Erzählungen – von besonderer Relevanz zu sein scheinen. Neben Formen autokommunikativer (Innenwelt- und Bewusstseinsdarstellung) und kommunikativer Figurenrede und den Kategorien Stimme und evaluative Struktur sollen hier vor allem die Verfahren der Handlungsmotivierung in den Blick geraten.³ Da diese zu untersuchenden narrativen Verfahren in for-
auf nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche aus, auch wenn nach Hübner 2008, 349, zwischen der antiken und mittelalterlichen rhetorischen Praxis differenziert werden müsse: „Kaum die Rede sein kann von einer mittelalterlichen deutschsprachigen rhetorischen Praxis als einer auf Persuasion zielenden, institutionalisierten öffentlichen Kommunikation im Sinn der antiken genera causarum.“ Vgl. zur Relevanz der antiken Tradition für die zeitgenössischen Dichtungs- und Rhetoriktheorien, wie etwa für die Ausbildung der mittelalterlichen Poetiken, in Abhängigkeit von und im Rekurs auf die antike Rhetoriktradition Brandt und Loleit 2003, 1317 f.; Schneider 2013, 183; zu Galfreds Poetria Nova auch Knape 2006, 4. Vgl. zur Entwicklung jener im Anschluss entstehenden Spezialrhetoriken (ars dictandi, ars arengandi, ars praedicandi), in denen „eine produktive, ganz spezifische Aneignung, Fortschreibung, ja auch Überschreitung von Teilen der antiken Theorie statt[fand]“ (Knape 2008, 59) Knape 2008, 59 ff.; Knape 2001a, 1380 f. Vgl. zu den einzelnen artes auch Bezner 2008, 330 ff. (Predigt), 334 (öffentliche Reden), 337 f. (Textrhetoriken), 340 ff. (Briefrhetoriken) sowie von Moos 1997, 134 f. Vgl. zu den ebenfalls auf die antike Tradition rekurrierenden lateinischen Rhetorikschriften des 15. Jahrhunderts Knape 2006, 5 ff.; vgl. zu den deutschsprachigen Rhetorikschriften des 15. Jahrhunderts, in denen nur partiell Bezug auf die lateinische Tradition genommen wurde – wie etwa in der Figurenlehre Nikolaus von Wyles oder Riederers Spiegel der waren Rhetoric –, Knape 2001, 185, sowie Knape 2006, 19 ff. Die Handlungsmotivierung spielt in den zu untersuchenden Erzählungen eine zentrale Rolle, ihr wird dementsprechend in den einzelnen Analysen das Hauptaugenmerk gelten. Dies ist ihrer Relevanz für die Inszenierung ambivalenter Textarrangements geschuldet; nicht nur wird anhand
3.1 Ambivalenz und Kohärenz in der gelehrten Reflexionstradition
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maler Hinsicht größtenteils aus dem rhetorischen evidentia-Konzept hervorgegangen sind, geht ihrer Analyse im Fortunatus eine knappe Darstellung der für dieses Konzept relevanten Elemente vorweg, wie sie im Rahmen der narratioLehre bei Cicero und in der Rhetorica ad Herennium systematisiert wurden.
3.1 Ambivalenz und Kohärenz in der gelehrten Reflexionstradition Die in der Forschung vielfach vertretene Annahme, es handle sich bei mehrdeutigen oder ambigen Textarrangements um Phänomene eines alteritären, auf spezifischen narrativen Logiken beruhenden und modernen Vorstellungen von Kausalität und Plausibilität widersprechenden Erzählens, suggeriert zunächst, sie als Resultat einer produktionsseitigen Unmöglichkeit zu verstehen, narrative Kohärenz zu erzeugen. In den Reflexionen über erzähllogisches und kohärentes Erzählen, die sich fast ausschließlich – und auch hier nur äußerst selten – in der gelehrten lateinischen Literaturtheorie finden, zeigt sich allerdings ein Kohärenzbewusstsein, das sich in der Orientierung an Stimmigkeit, Kausalität und Wahrscheinlichkeit kaum von einem modernen unterscheidet.⁴ Neben der hier angestrebten Analyse der narrativen Genese von Ambivalenz ist also vor allem aufgrund jener Alteritätsthese ein Blick auf ihren Status in der zeitgenössischen Dichtungstheorie und -praxis erforderlich. Dabei zeigt sich, dass vor allem im Bereich der antiken Literaturkommentierung und in antik-mittelalterlichen Poetiken zunächst in der Auseinandersetzung mit den ordines narrandi durchaus Möglichkeiten und Grenzen eines in sich schlüssigen und somit kohärenten Erzählens thematisiert wurden.⁵ Neben Ciceros De inventione und der Rhetorica ad
ihrer spezifischen Gestaltung die wichtige – und sämtliche Erzählungen durchziehende – Frage nach den für ein Geschehen ursächlich verantwortlichen Mächten diskutiert, auch werden die genannten anderen narrativen Techniken für genau diese besondere Gestaltung eingesetzt. Zudem ist die genannte und noch einzeln zu skizzierende Spezifik der Handlungsmotivierung in den Erzählungen von besonderer Bedeutung für die Figurengestaltung und die selbstbezügliche Thematisierung des eigenen Erzählens. Schneider 2013, 186. Ganz grundsätzlich scheint über das Verhältnis von lateinischer Dichtungstheorie und volkssprachiger Dichtungspraxis sowie über die (Ko‐)Existenz von schriftlichkeits- und mündlichkeitsbasierter Literatur in der Forschungsdiskussion kein Konsens zu bestehen. Die Dominanz der lateinischen Poetologie im Mittelalter, wie sie etwa Brandt und Loleit 2003, 1315, betonen, macht einen Blick auf die entsprechenden Reflexionen aber unerlässlich. Dabei intendieren die folgenden Ausführungen keine Rekonstruktion individueller Bildungsstandards oder Literaturtheoriekenntnisse einzelner Dichter, sondern dienen der Darstellung dessen, was aufgrund ex-
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Herennium bezogen sich die zeitgenössischen Ausführungen über die Ordnung des Erzählens vor allem auf Horazʼ Ars Poetica. ⁶ Auch wenn diese Ausführungen zu narrativer Kohärenz in den Poetiken des 12. und 13. Jahrhunderts spärlich sind, lassen sich aus vereinzelten Aussagen Vorstellungen einer kohärenten Narratio herausarbeiten. Infolge einer verschiedentlich formulierten Aufwertung des ordo artificialis, wie sie sich etwa in Horaz-Kommentaren oder bei Galfred von Vinsauf findet,⁷ wurden vor allem in Lucan-Kommentaren Aspekte narrativer Logik und kohärenten Erzählens diskutiert: So betonen Arnulf von Orléans und Anselm von Laon in der Auseinandersetzung mit Lucan etwa stets die Notwendigkeit von gliedernden Strukturprinzipien, heben Entsprechungen zwischen einzelnen, selbst scheinbar unbedeutenden Episoden hervor, stellen vermeintliche Irrelevanzen als sinntragend dar und betonen die sinnvollen Übergänge zwischen einzelnen von Lucans Werken.⁸ In solchen Ausführungen wird greifbar, welche Kriterien ein dichterischer Text bestenfalls zu erfüllen hatte:
pliziter Formulierung über kohärentes Erzählen potentiell gewusst werden konnte.Vgl. dazu auch Schneider 2013, 159. Auf die Ars Poetica wurde unter anderem die Unterscheidung von ordo naturalis und ordo artificialis zurückgeführt, obgleich diese Unterscheidung bereits in Ciceros De Inventione und in der Rhetorica ad Herennium angelegt war (vgl. Schneider 2013, 160; Knapp 2000, 767). Die Zuordnung der ordines narrandi zu verschiedenen Autorentypen und Darstellungsweisen – der ordo naturalis für historische und philosophische, der ordo artificialis für poetische Darstellungen – führte zu einer signifikanten Aufwertung des ordo artificialis, wie sie sich etwa in der Glose in Poetriam Horatii oder Scholia Vindobonensia findet; da der Dichtung in der Darstellung des nicht Faktischen im Gegensatz zur Historiographie zunächst kein eigener Wahrheitswert zukam, war eine Ordnung des Erzählten entsprechend des ordo naturalis nicht verbindlich (vgl. Schneider 2013, 164; Ernst 2000, 187 f.; Knapp 2000, 767; vgl. zum Wahrheitsbegriff in der mittelalterlichen Poetik auch Knapp 2005, 9 f.). Neben den Horaz-Kommentaren finden sich Auseinandersetzungen mit den ordines narrandi auch bei Bernhard von Utrecht, Hugo von St. Victor sowie Konrad von Hirsau (vgl. Schneider 2013, 160 ff.; Ernst 2000, 185 ff.; vgl. zu Bernhard von Utrecht auch Klopsch 1980, 55 ff., zu Konrad von Hirsau 62 ff.). Auch Galfred von Vinsauf sprach sich in seiner Poetria Nova „dezidiert für die künstlerische Höherwertigkeit der artistischen Erzählordnung aus“ (Ernst 2000, 187) und beschrieb infolgedessen nicht nur typische Kompositionsformen einer artifiziellen Darstellungsweise, sondern formulierte überdies Regeln für ihren Aufbau. Vgl. die Diskussion der ordines narrandi bei Galfred, Poetria Nova, V. 87– 202, zur Befürwortung des ordo artificialis V. 99 – 103. Vgl. Schneider 2013, 166 f.; vgl. zu den Strukturprinzipien Arnulf I,8; I,45; I,63; zu Entsprechungen und Parallelen zwischen einzelnen Episoden II,289 sowie auch die Einleitung von Marti 1958, XXXIX: „Arnulf points out the main lines of development, divides the books into parts and notes the digressions […]. He also calls attention to the numerous cases of parallelism within the narrative and shows how often one passage corresponds to another elsewhere in the poem“. Vgl. zur Begründung vermeintlich irrelevanter Passagen Arnulf II,223; IV,661 sowie Marti 1958, XI: „Lucan often appears to us to have introduced irrelevant episodes, loosely related to the rest of the
3.1 Ambivalenz und Kohärenz in der gelehrten Reflexionstradition
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Ein narrativer Text muss ausgewiesen sein durch interne Strukturiertheit; durch funktionale Plausibilität, das heißt, die einzelnen Elemente der Erzählung oder des erzählten Geschehens müssen sich in Bezug auf andere als begründet und sinntragend erweisen; durch Verknüpftheit: sie hat mit der funktionalen Plausibilität zu tun, bezieht sich aber nicht nur auf inhaltlich-thematische Verknüpfungen, sondern auch auf rein formale […]; durch Wahrscheinlichkeit.⁹
Gerade dieser letzte Aspekt, die Forderung nach der Wahrscheinlichkeit einer Darstellung, wurde – insbesondere bei Anselm – zu der Bedingung dichterischen Erzählens.¹⁰ Im Hinblick auf erzähllogische Kohärenz ist damit das Konzept der verisimilitudo von zentraler Bedeutung¹¹; es wurde in den lateinischen poetologischen Reflexionen des 12. und 13. Jahrhunderts sowie in den artes poeticae immer wieder aufgegriffen und diskutiert.¹² Trotz dieser Relevanz, die der verisimilitudo hier attestiert wird, sei noch auf einen Aspekt hingewiesen, der gerade im Hinblick auf ambivalentes Erzählen bedeutsam erscheint: Für Anselm und Arnulf zeichnete sich Dichtung nämlich darüber hinaus dadurch aus, dass sie für ein Ereignis stets mehrere mögliche Erklärungen und Ursachen benennt, ohne eine davon zu verifizieren oder zu falsifizieren; ganz grundsätzlich sei es eine „Eigenheit der Dichter, ihren Werken nicht nur eine einzige, sondern verschiedene Erklärungsansätze, Denkweisen oder Meinungen zu inserieren.“¹³ Diese Offenheit von Dichtung im Sinne einer Vielzahl möglicher Erklärungshypothesen erklärte sich im Gegensatz zu historiographischem Darstellen aus ihrer Entbindung von der Wahrheitspflicht, so dass „[a]n die Stelle einsinniger Verifikation oder Falsifikation […] das Aufzeigen von Möglichkeiten treten [kann]“¹⁴. Schon hier wird somit implizit über die einer poetischen Darstellung inhärente Ambiguität und ihre strukturelle Mehrdeutigkeit reflektiert. In den zeitgenössischen Poetiken spielt das Konzept der verisimilitudo ebenfalls eine wichtige Rolle, so etwa bei Matthäus von Vendôme und Galfred von
poem and poetically unjustifiable. With tireless industry Arnulf undertakes to clear him of such criticism and to vindicate him from the charge of careless construction“. Vgl. zu den Übergängen zwischen einzelnen Werken Anselm IV,1. Schneider 2013, 167 f. Vgl. Schneider 2013, 167; vgl. Anselm I,213; IV,810; zum Wahrscheinlichkeitskriterium bei Lucan auch IV,11; VI,570 sowie Arnulf I,67. Vgl. Schneider 2013, 168: „Und zweifellos ist es dasjenige Konzept, das für ein mittelalterliches, theoretisch reflektiertes Verständnis von logisch stimmigem, kohärentem Erzählen am bedeutsamsten geworden ist.“ Vgl. Schneider 2013, 168. Schneider 2013, 165; vgl. dazu Arnulf I,412 und Anselm VI,608. Schneider 2013, 165. Diese Uneindeutigkeit blieb allerdings auf spezifische Wahrheitsaussagen beschränkt und wurde nicht auf alle Ebenen poetischer Darstellung bezogen.
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Vinsauf. Während Matthäus für eine an objektiver Wahrscheinlichkeit orientierte Darstellung plädiert, die zugleich die Forderungen nach narrativer Plausibilität zu erfüllen hat,¹⁵ erhebt auch Galfred objektive Wahrscheinlichkeit zum Maßstab und formuliert dabei letztlich ein „Kohärenzideal, das […] nicht auf ‚Kontiguität‘, sondern auf ‚Kontinuität‘, das heißt auf eine bruchlose, lineare ‚Auseinanderfolge‘ der Erzählelemente abstellt.“¹⁶ Mit diesem Verweis auf die auch kontextuelle Plausibilität narrativer Elemente wird hier wie auch bei Matthäus nicht nur die ontologische – die Natur bzw. eine naturgemäße Ordnung und somit die außerliterarische Wirklichkeit ist Garant für die Wahrscheinlichkeit der Dichtung –, sondern auch die narratologische Dimension des Wahrscheinlichkeitsbegriffs greifbar. Dass eine solche narratologische Wahrscheinlichkeit im Sinne von struktureller Plausibilität zum Teil selbst bei dezidiert unwahren und unwahrscheinlichen Erzählungen – den fabulae ¹⁷ – angestrebt wurde, zeigt eine Äuße Vgl. Schneider 2013, 169 ff.: Nur eine Orientierung an der natürlichen ordnungsgemäßen Abfolge menschlicher Handlungen, der ordinaria successio (vgl. Matthäus, Ars versificatoria, 4,13), in der Darstellung des Stoffes garantiere die Aufrechterhaltung des narrationis contextus (4,13); dieses Postulat einer Imitation der natürlichen Abfolge in der Verknüpfung der Handlungselemente zur Wahrung des narrationis contextus, den Schneider 2013, 170, als Terminus für „narrative Kohärenz“ versteht, steht in engem Zusammenhang mit einem Erzählen gemäß der Natur und damit mit dem schon bei Cicero und in der Rhetorica ad Herennium reflektierten Wahrscheinlichkeitsgebot. Während hier allerdings zwischen subjektiver und objektiver Wahrscheinlichkeit differenziert wird – ein Geschehen ist dann wahrscheinlich (similis), wenn es entweder der Natur der Handelnden oder der allgemeinen Sitte und Meinung entspricht (vgl. Cicero, De Inventione, I,21; Rhetorica ad Herennium, I,9,16) –, gilt für Matthäus objektive Wahrscheinlichkeit stets als Maßstab des Erzählten, auch wenn dies im Hinblick auf die Rezeption insofern konkretisiert wird, als das wie der Darstellung im Vordergrund steht: Es geht also primär darum, objektiv Wahrscheinliches so zu erzählen, dass für den Rezipienten der Anschein des Wahrscheinlichen und Wahren entsteht. Gewährleistet wird dies über eine kohärente Handlungsdarstellung, über jenen contextus narrationis, der Ergebnis einer linearen Verknüpfung der einzelnen Elemente einer Handlung ist. Bei Matthäus sind ontologische und narratologische Dimension des verisimileKonzepts – objektive Wahrscheinlichkeit und narrative Plausibilität – folglich miteinander verknüpft: „Das Prinzip linearer Progression, das Matthäusʼ Vorstellung von narrativer Kohärenz zugrunde liegt, orientiert sich dabei an Kausalitätskriterien, die von einem objektiven Weltwissen instruiert sind, einem Wissen von der ordinaria successio in den menschlichen Dingen […]. Der Begriff des verisimile wird zwar vom Rezipienten her formuliert, seine Kriterien sind aber die einer objektiven Wahrscheinlichkeit oder Naturgemäßheit“ (Schneider 2013, 172). Schneider 2013, 173. Vgl. Galfred, Poetria Nova, V. 258 – 263: Die Darstellung solle sich an objektiver Wahrscheinlichkeit orientieren, indem sie einzelne Elemente auf subtile Weise miteinander verknüpfe, nämlich so, als ob sie auseinander folgten und sich nicht bloß berührten. Auf diese Weise solle der Eindruck erweckt werden, die Verbindung der Elemente sei von natürlicher – manus naturae (V. 262) – und nicht von künstlicher – manus artis (V. 261) – Hand entstanden. Diese Form der Verknüpfung bedürfe dabei einer höheren Kunstfertigkeit (vgl. V. 262– 263). Vgl. Cicero, De Inventione, I,19,27; vgl. Rhetorica ad Herennium, I,8,13.
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rung Johannesʼ von Garlandia im Rahmen seiner Fabeldefinition, in der auf ein Erzählen angespielt wird, „das zwar ‚widernatürliche‘, unwahrscheinliche Elemente enthält […], das bei der erzähllogischen Kontextualisierung dieser unwahrscheinlichen oder unwahren Elemente [aber] bestimmte Plausibilitätserwartungen der Rezipienten einhält.“¹⁸ Plausibilität und Wahrscheinlichkeit – das verdeutlichen die hier kurz skizzierten Äußerungen aus den Poetiken und Kommentaren des 11. bis 13. Jahrhunderts – wurden folglich zu zentralen Kriterien dichterischen Darstellens und Erzählens. Maßstab war dabei stets das objektiv Mögliche; im Rahmen dieser an der Ordnung der Natur orientierten Wahrscheinlichkeit wurde zwar eine für den Rezipienten möglichst überzeugende Form der Darstellung fokussiert, in ihrer stets auch subjektiven und psychologischen Dimension wurde sie allerdings nicht reflektiert.¹⁹ Wahrscheinlichkeit – und damit die in ihr konkretisierten Forderungen nach logischer Stringenz der Handlung, nach schlüssiger Abfolge und nach kausaler Verbindung einzelner narrativer Elemente – galt somit in je unterschiedlicher Akzentuierung als zentrales Gestaltungskriterium dichterischen Erzählens. Ein solches Konzept erzählerischer Kohärenz ist im Hinblick auf Stimmigkeit, Kausalität und Wahrscheinlichkeit kaum von einem modernen zu
Schneider 2013, 177. Vgl. Johannes, Parisiana Poetria, 5,317– 5,320: Johannes bezieht sich in seiner Fabeldefinition sowohl auf Horaz als auch auf die Rhetorica ad Herennium und folgert daraus, dass man bei fabulösen Erzählungen – wolle man den Eindruck des Fehlerhaften vermeiden – glaubwürdig bzw. wahrscheinlich lügen müsse. Trotz seiner Definition von fabula im Sinne der Rhetorica, sie enthalte weder wahre noch wahrscheinliche Ereignisse (vgl. Rhetorica ad Herennium, I,8,13; vgl. Johannes, Parisiana Poetria, 5,317), müsse für seine Bestimmung einer glaubwürdigen Lüge laut Schneider 2013, 177, wohl trotzdem der Bezug auf Ciceros Definition von Glaubwürdigkeit (vgl. Cicero, De Inventione, I,21,29) angenommen werden. Dessen Kriterien – „kausale Plausibilität im Sinne einer klar hervortretenden Handlungsmotivation, raumzeitliche Stimmigkeit, Orientierung an allgemein geteilten Haltungen, Zuschreibungen oder Erwartungen (etwa bezüglich der handelnden Charaktere oder des Geschehensverlaufs)“ (Schneider 2013, 177) – besaßen somit auch bei eigentlich unwahren Erzählungen Relevanz. Vgl. Schneider 2013, 178. In die Reflexion geriet dieser Konnex von Wahrscheinlichkeit und subjektiver Wahrnehmung erst im Zuge der arabischen Aristoteles-Rezeption, die sich seit dem 12. Jahrhundert mit der Rezeption von Horaz verband. Über die Diskussion des Zusammenhangs von Schönheit, Wahrheit und subjektivem ästhetischen Gefallen kam es in der Folge zu einer Neubewertung der verisimilitudo, die sich nun nicht mehr zwangsläufig an einer objektiven, naturgemäßen Wirklichkeit, sondern an psychologischen Dispositionen der Rezipienten orientierte: Der Dichtung, deren Wahrscheinlichkeit zuvor über die Imitation von Wirklichkeit erzeugt werden sollte, wurde nun eine imaginative, auf das Vorstellungsvermögen der Rezipienten einwirkende Fähigkeit unterstellt, über die Glauben in das Erzählte erzeugt wurde (vgl. zu dieser Entwicklung die Ausführungen 178 ff.).
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differenzieren.²⁰ Auch wenn sich derartige poetologische Reflexionen über eine kohärente Narratio nur sehr vereinzelt finden und ihre Relevanz für die volkssprachige Praxis nicht sicher zu bestimmen ist, impliziert das Wissen über kohärenzstiftende erzählerische Verfahren auch das Bewusstsein über solche Strategien, die der Verrätselung oder der Inszenierung von Mehrdeutigkeit dienen, die letztlich schon in den Lucan-Kommentaren als zentrales gestalterisches Element poetischer Praxis reflektiert werden. Vor allem der zeitgenössische Reflexionsgrad hinsichtlich eines kohärenten Erzählens widerspricht somit jener Alteritätsthese. Dass Formen literarischer Ambivalenz vielmehr „[a]ls Potentiale […] seit Anbeginn fiktionalen Erzählens in der Antike bereit[liegen]“²¹, zeigt sich dabei nicht zuletzt in expliziten Reflexionen über solche Phänomene, die der Eindeutigkeit eines Sachverhaltes zuwiderlaufen und die deshalb in der Rhetorik, insbesondere in der Auseinandersetzung mit obscuritas und ambiguitas, zunächst als zu vermeidende Defizite diskutiert wurden.²² Zwar handelt es sich dabei nicht um identische Phänomene, nichtsdestoweniger widersprechen beide dem Ideal der perspicuitas ²³ und werden somit – etwa bei Cicero, in der Rhetorica ad Herennium und bei Quintilian – zunächst als stilistische Mängel und als der strategischen Kommunikation nicht zuträglich reflektiert. In den rhetorischen Auseinandersetzungen mit ambiguitas werden daher primär Entstehungsbedingungen sowie Verfahren ihrer Vermeidung bzw. eines angemessenen Umgangs mit dieser diskutiert.²⁴ Als intendiertes, kommu-
Schneider 2013, 186. Reuvekamp-Felber 2016, 220. Dies erklärt sich natürlich aus der pragmatischen Funktion der hier erörterten Kommunikation, sofern sie in der Regel die Entscheidung einer Kontroverse bzw. eines Streitfalls intendiert und damit auf Persuasion zielt. Ausführlich diskutieren Bauer et al. 2010, 8 – 11, den Zusammenhang von Ambiguität und rhetorischer Kommunikationssituation, wie etwa, dass Ambiguität zu einer der ursächlichen Bedingungen rhetorischen Handelns gehört. Vgl. Berneker und Steinfeld 1992, 437; Lausberg 2008, 514, §1070. Im Gegensatz zu obscuritas verdunkelt ambiguitas nicht, sondern gibt stets – wenn auch potentiell unentscheidbare – Bedeutungsalternativen an (vgl. Bode 1997, 68); laut Quintilian könne obscuritas etwa dadurch verhindert werden, ambiguitas zu vermeiden (Quintilian, Institutio oratoria, VIII,2,16). Sowohl ambiguitas als auch obscuritas sind als „Mangel an Klarheit“ (Walde 2003, 358) darüber hinaus ein letztlich jede Rezeption von sprachlichen Äußerungen kennzeichnendes Phänomen, da sprachliche Zeichen stets interpretationsbedürftig sind (vgl. 358), sowie „Grundlage jeder Hermeneutik, insofern alle Deutung unterstellt, daß der ihr zugrunde liegende Text auch als uneigentlich zu verstehen sei.“ (Berneker und Steinfeld 1992, 437) Die negative Einschätzung konkretisiert sich insbesondere in der Forderung nach Klarheit oder Durchsichtigkeit der Rede, wie sie in der Rhetorica ad Herennium (vgl. Rhetorica ad Herennium, I,9,15), bei Cicero (vgl. Cicero, De Inventione, I,20,29; Cicero, De Oratore, III,13,49) und Quintilian (vgl. Quintilian, Institutio oratoria, IV,2,31;VIII,2,22) formuliert wird, wobei diese gerade
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nikativ gezielt eingesetztes Verfahren wird ein bewusstes Ambiguisieren hingegen schon hier partiell in seinen positiven Effekten und seiner strategischen Dimension hervorgehoben.²⁵ Während diese Einschätzungen aufgrund ihrer rhetorischen Herkunft gewissermaßen eine Sonderstellung einnehmen, wurden der Dichtung allerdings stets größere Spielräume im Umgang mit Mehrdeutigkeit eingeräumt. Eine solch ambivalente Beurteilung kennzeichnet auch die Reflexionen über Formen und Erscheinungsweisen von obscuritas, deren Bewertung sich ebenfalls „zwischen den Polen von pragmatisch bedingter Ablehnung und begrenzter Akzeptanz in bestimmten Kontexten (Religion, Philosophie, Literatur) bewegt.“²⁶ Die Rhetorik fasste diese zwar ebenfalls überwiegend als der perspicuitas widersprechendes und daher kritikwürdiges Phänomen auf, erkannte aber zugleich die Vorteile einer bewusst eingesetzten obscuritas. ²⁷ Auch hier wurden in der Vermeidung ambiger Wörter und Ausdrucksweisen erreicht werden könne (vgl. Cicero, De Oratore, III,13,49; Quintilian, Institutio oratoria,VIII,2,16). Daneben erfährt Doppelsinnigkeit bzw. Zweideutigkeit auch explizite Kritik (vgl. Rhetorica ad Herennium, II,11,16). Neben den Hinweisen zur produktionsseitigen Vermeidung von Ambiguität werden vor allem auch Verfahrensweisen für den Umgang mit einer solchen in der rhetorischen Kommunikation (vgl. Rhetorica ad Herennium, II,11,16; Cicero, De Inventione, II,40,116 – 41,121) sowie ihre möglichen Ursachen erörtert (vgl. Cicero, De Inventione, II,40,116 – 41,121; Cicero, De Oratore, I,31,140; Quintilian, Institutio oratoria, VII,9,1– 15; VIII,2,12– 24). Quintilian widmet der Amphibolie dabei ein eigenes Kapitel (Quintilian, Institutio oratoria, VII,9,1– 15). Vgl. zu dieser Einschätzung einer unbeabsichtigten ambiguitas als Defizit eines Textes/einer Rede auch Berneker und Steinfeld 1992, 438 f. So bei Quintilian, der dies im Zusammenhang seiner Reflexionen zur Tyrannenkritik diskutiert (vgl. Quintilian, Institutio oratoria, IX,2,68). Eine Befürwortung von Ambiguisierungsstrategien findet sich bei ihm aber nur im Hinblick auf Sonderkommunikation, während er unter normalkommunikativen Bedingungen grundsätzlich von ihrem Einsatz abrät (vgl. IX,2,68). Vgl. hierzu auch Bauer et al. 2010, 24 f. Walde 2003, 366. Zwar gestand schon Aristoteles, der insgesamt für Klarheit und Deutlichkeit der Ausdrucksweise plädierte, der Dichtung im Gegensatz zur Prosa die Abweichung vom Gewöhnlichen und damit einen erhabenen und fremden Stil zu (vgl. Aristoteles, Poetik, 22,1458a; vgl. Aristoteles, Rhetorik, 3,2,1404b; vgl. auch Fuhrmann 1966, 60; Walde 2003, 360), auch in der römischen Rhetorik, etwa bei Cicero und in der Rhetorica ad Herennium, wurden Erscheinungsformen der obscuritas insbesondere im Rahmen der Ausführungen zur narratio-Lehre thematisiert, erst mit Quintilian fand aber eine weitergehende Reflexion dieses Phänomens und seiner verschiedenen Spielarten statt (vgl.Walde 2003, 360 ff.; vgl. zu Quintilian, 363 ff.). Insgesamt wird das Phänomen der obscuritas in der griechisch-römischen Antike in verschiedenen Diskursen und mit je unterschiedlicher Bewertung diskutiert, in der Rhetorik kann man von einer „negativen bis ambivalent-positiven Einschätzung“ (vgl. 359) ausgehen. So etwa „das Paradoxon des verhüllten, aber gerade in der Verhüllung um so deutlicheren Sprechens“ (Walde 2003, 366), die durch verrätselte Aussagen erhöhte Aufmerksamkeit des Publikums (vgl. 363) oder ihre wichtige Rolle im Denk- und Sprachbildungsprozess (vgl. 367; vgl. zu diesen Aspekten auch Lausberg 2008, 513, §1069). Grad und Akzeptanz der obscuritas waren dabei aber stets vom sozialen Kontext und der literarischen Gattung abhängig; Reflexionen, die die
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der Dichtung stets „größere Obskuritätslizenzen“²⁸ zugestanden, so etwa bei Quintilian, der beispielsweise die mit einer zu starken Kürze einhergehende Dunkelheit für die narratio kritisiert, ihren Stellenwert in der Dichtung aber positiv hervorhebt,²⁹ oder aber die perspicuitas als Haupttugend des Ausdrucks betont, ihre Notwendigkeit aber nur durch die Kommunikationssituation begründet und dabei den rezeptionsseitigen Effekt von obscuritas lobend hervorhebt.³⁰ In diesem Kontext einer positiven Bewertung von Dunkelheit ist vor allem auch Quintilians Auseinandersetzung mit Formen intendierter Ambiguität zu nennen, die sich in seinen Ausführungen zum Lachen, dem Witz und den Übergängen zum Rätsel findet.³¹ Hier betont er nicht nur die Intentionalität und den Konstruktionscharakter uneindeutiger Rede,³² sondern relativiert auch die grundsätzliche Verurteilung von Ambiguität vor allem aufgrund ihrer partiellen Vortrefflichkeit.³³ Während sich die Reflexionen zur obscuritas in der antiken Rhetorik in verschiedenen Kontexten finden, lässt sich das Ausmaß ihrer mittelalterlichen Rezeption – in terminologischer wie konzeptioneller Hinsicht – nur schwer nachvollziehen.³⁴ Häufig wurden die hier erörterten Techniken und Stilistika ohne
negative Einschätzung der obscuritas relativieren, finden sich allerdings sehr selten, grundsätzlich galt Klarheit als oberster Maßstab (vgl. Walde 2003, 361). Walde 2003, 366. Vgl. Quintilian, Institutio oratoria, IV,2,44– 45. Vgl. Quintilian, Institutio oratoria, VIII,2,21– 24; zu der Differenzierung von Rede und Dichtung, der größere Freiräume im Umgang mit obscuritas zugestanden werden, auch VIII,3,73; VIII,6,18; VI,44,53. Vgl. Quintilian, Institutio oratoria, VI,3,47– 53. Vgl. Quintilian, Institutio oratoria, VI,3,47– 51. Vgl. Quintilian, Institutio oratoria, VI,3,48 – 49. Vgl. zu diesem Aspekt auch Walde 2003, 365. Pfeiffer 2009, 20 ff., weist darauf hin, dass sich aus den Reflexionen Quintilians zwar keine „vorbehaltslose[] Zustimmung“ zu der Verwendung dunkler Sprache in der Dichtung ablesen ließe, dieser sich aber bewusst gewesen sein müsse, „dass die Realität der Poesie die Dunkelheit immer schon als legitimes Stilmittel für sich reklamiert hat.“ Laut Pfeiffer ließe sich aus den Institutiones dabei ex negativo herauslesen, dass Dunkelheit und die aus ihrem Einsatz resultierende „Kluft zwischen spiritus und littera, sens und matière, rede und meine […] zumindest eines der Konstituenten für den ästhetischen Charakter von Texten [wäre]“ (21). Die Einheit der von der Rhetorik umfassten Aspekte – wie etwa juristisch-argumentative sowie stilistische und ästhetische – löst sich in Mittelalter und Früher Neuzeit auf, sie verselbstständigen sich zu eigenen Bereichen, in denen zwar die ursprünglich mit dem Begriff bezeichneten Inhalte in zum Teil modifizierter Form reflektiert, diese aber häufig nicht mehr explizit mit dem Terminus verbunden werden (vgl. Brandt et al. 2003, 368 f.). Darüber hinaus scheint der Begriff nicht mehr eindeutig als rhetorischer verstanden worden zu sein, sodass häufig unklar bleibt, in welchem Maße mittelalterliche Autoren bewusst an die antike Tradition anschlossen (vgl. 369).
3.1 Ambivalenz und Kohärenz in der gelehrten Reflexionstradition
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expliziten Bezug oder eindeutige Kontextualisierung thematisiert,³⁵ nichtsdestoweniger bediente man sich ihrer zum Teil als Bildungsbeweis, etwa im Anschluss an die positive Bewertung der obscuritas in der Bibelexegese.³⁶ Insgesamt gab es aber, auch ohne exakte Verbindungslinien rekonstruieren oder eine explizite Anknüpfung der eingesetzten Techniken an die antike Tradition nachweisen zu können, immer wieder verschiedene Phasen und Epochen, in denen verstärkt solche Tendenzen auftraten, die mit obscuritas assoziiert werden können.³⁷ Obwohl also die Rezeption antiker Ansichten über obscuritas im Mittelalter wenig systematisch verlief und sich einzelne Rezeptionslinien nur schwer miteinander verknüpfen bzw. an eine gemeinsame Tradition anschließen lassen, muss jene Tendenz zur Verdunklung als ubiquitäres Phänomen begriffen werden: Da jedoch die Tatsache, daß ein Text aufgrund seiner Wortwahl, seiner Syntax, seiner Bildlichkeit usw. ‚unklar‘ sein und daß diese ‚Unklarheit‘ als ‚Dunkelheit‘ von Autoren bewußt eingesetzt werden kann, ubiquitär und überzeitlich ist, hat sich das Phänomen als solches, gespeist aus einheimischen Traditionen […] oder auch mehr oder weniger autochthon […] entfalten können.³⁸
Zwar wurde literarischen Texten erst im Rahmen der Rezeptionsästhetik in der Auseinandersetzung mit Ambiguität „per se eine obscuritas (‚Unbestimmtheit‘)
Allerdings könne man von einer schwerpunktmäßigen Rezeption „im Bereich des Wortmaterials“ (369) ausgehen. Walde 2003, 370, betont, dass es in den mittelalterlichen Poetiken nicht selten Auseinandersetzungen mit einzelnen Phänomenen gegeben habe, ohne dies aber in Bezug auf obscuritas bzw. perspicuitas zu kontextualisieren bzw. zu konkretisieren, so etwa bei Johannes von Garlandia oder bei Galfred von Vinsauf, der allerdings terminologisch expliziert, wenn er empfiehlt, dunkle Worte zu vermeiden (vgl. Galfred, Poetria Nova, V. 1081 f.). Zur Rolle der obscuritas in der Bibelexegese vgl. Berneker und Steinfeld 1992, 439. Im Anschluss an die positive Bewertung der obscuritas in eben dieser und der daraus folgenden Wertschätzung der Allegorie auch in der weltlichen Dichtung konnte die Benutzung verdunkelnder Worte zu einem „Nachweis von Gelehrsamkeit“ (Brandt et al. 2003, 369 f.) werden. Dass sich diese grundsätzlich in einer obskuren, verdunkelnden Ausdrucksweise überhaupt dokumentieren, obscuritas verstärkt als virtus wahrgenommen werden konnte, lag im „Fortfall antiker Öffentlichkeitskonzepte“ begründet, mit dem die „Fixierung auf ‚Allgemeinverständlichkeit‘ aufgelöst [wurde]“ (370). Vgl. zur Rolle der Ambiguität in der Bibelexegese auch insg. Meier 2016, zur Konfrontation mit Ambiguität durch die literarische Rezeption der antiken Dichtung 72 ff., zur Ambiguitätstoleranz gelehrter Dichter 74 ff. So etwa in der provenzalischen Troubadour-Dichtung im Rahmen des troba clus oder im deutschen Blümen, dessen Techniken obscuritas hervorrufen konnten und die man „als eine Verstandesleistung apostrophiert[e]“ (Brandt et al. 2003, 369 ff.). Brandt et al. 2003, 369.
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3 Zur narrativen Inszenierung von Ambivalenz
zugesprochen“³⁹, nichtsdestoweniger kann man auch jenseits expliziter terminologischer und methodischer Reflexion davon ausgehen, dass sich auch in der erzählenden mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Literatur das „absichtliche[] Spielen[] mit der ambiguitas“, das „ingeniöse Spiel mit vordergründigem und hintergründigem Sinn“⁴⁰ findet. Diesen Gedanken reflektieren letztlich bereits Anselm und Arnulf, wenn sie die Inszenierung von Mehrdeutigkeit und die Pluralität von Erklärungsansätzen und Ursachen als Spezifikum der Dichtung bestimmen – und eben nicht eindeutige Verifikation oder Falsifikation. Aus diesem Grund lassen sich Abweichungen von jenem Konzept kohärenten Erzählens in Form von Unbestimmtheit, Mehrdeutigkeit oder Verdunklung gerade nicht nur mit der Alterität vormoderner Literatur erklären; die Inszenierung von Ambiguität ist in ihrer narrativen Komplexität vielmehr stets Ausdruck einer spezifischen Poetik.⁴¹
3.2 Narrative Verfahren der Ambivalenzerzeugung im Fortunatus Die skizzierten zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit ambiguitas und obscuritas verweisen trotz ihrer Problematisierung für die rhetorische Kommunikation auf die grundsätzlich größeren Spielräume der Dichtung in diesem Bereich. Dort scheint sie vor allem auch aufgrund ihrer Virulenz – auch wenn nicht notwendigerweise befürwortet so doch – legitimiert. Aufgrund des funktionalen Orts dieser Reflexionen werden hier nur am Rande solche Formen explizit thematisch, die für die Generierung von Ambiguität bzw. obscuritas in der Literatur
Berneker und Steinfeld 1992, 442. Lausberg 2008, 514, §1070. Lausberg bezieht sich hier auf Quintilian, Institutio oratoria, VIII,2,20. So auch Schneider 2013, 186. Vgl. hier Pfeiffer 2009, 18, der ausgehend von der Bibelexegese und der hermeneutischen Auslegungspraxis mittelalterlicher Autoren vorschlägt, „die Fülle von Auslegungen als Hinweis auf einen ‚prekären‘ Status von Text zu betrachten – einen Status, in dem eben nicht der immer schon von vorneherein feststehende Sinn unterstellt werden darf, sondern im Gegenteil die andauernde Arbeit an seiner Auslegung als die dann keineswegs mehr feste Grundlage des Verständnisses angesehen werden müsste.“ Unter dieser Prämisse ließen die hermeneutischen Verfahren also Rückschlüsse auf die Produktion mittelalterlicher Text zu, ließen sich „durchaus zu einem poetischen Prinzip umkehren, zu einer Produktionsästhetik dunkler Texte“ (36).
3.2 Narrative Verfahren der Ambivalenzerzeugung im Fortunatus
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eine Rolle gespielt haben.⁴² Zwar werden dieser größere Lizenzen im Umgang mit Mehrdeutigkeiten und Dunkelheit zugestanden, als explizit literarische Phänomene werden sie allerdings nicht reflektiert. Nichtsdestoweniger ließen sich die hier erörterten Erscheinungsformen von ambiguitas und obscuritas prinzipiell auch in der Dichtung nachweisen. Mit Blick auf mittelalterliches bzw. frühneuzeitliches Erzählen scheint dies wenig ergiebig; auch wenn die in der rhetorischen Reflexionstradition thematisierten Formen als Ausweis für das zeitgenössische Bewusstsein und den Grad der gelehrten Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen von höchster Relevanz sind, sind sie für eine Analyse ambivalenter Textarrangements im frühneuhochdeutschen Prosaroman nur partiell und bedingt aussagekräftig, sofern sie die narrativen Potentiale einer solch konstruierten Ambivalenz häufig nicht in Gänze zu erfassen vermögen. Zudem lassen sich die jeweils eingesetzten und spezifisch kombinierten Verfahren in formaler Hinsicht als Techniken identifizieren, die bereits im Rahmen der narratio-Lehre⁴³ und des
Bei Quintilian finden sich zwar immer wieder vereinzelte Hinweise auf diese Phänomene in der Dichtung, diese dienen aber weniger der Beschreibung der dort eingesetzten Verfahren als vielmehr ihrer Konstatierung. In der antiken Rhetorik wird die narratio-Lehre nicht als eigenständige Textgattung, sondern als ein Element der verschiedenen Redeteile, nämlich als zweites Segment vor der argumentatio, behandelt; sie erzählt somit ein Geschehen, das die Basis der darauffolgenden beweisenden Argumentation bildet (vgl. Knape 2003, 98). Mit ihrem genuin erzählenden Charakter unterscheidet sich die narratio folglich makrostrukturell von Beschreibung oder Argumentation (98; vgl. auch Lausberg 2008, 164, §289). Aus diesem Grund finden sich im Rahmen der narratio-Lehre auch immer wieder Auseinandersetzungen mit solchen Fragestellungen, die später als narratologische Kategorien diskutiert und analytisch systematisiert werden (vgl. Knape 2003, 98). So werden beispielweise schon hier verschiedene Aspekte der Kommunikationsebenen reflektiert, die später in der modernen Erzähltheorie den drei Ebenen discours, histoire und narration zugerechnet werden (vgl. 98); auch findet sich hier die Differenzierung von Erzähler- und Figurenrede (vgl. 99) sowie die bis heute letztlich jede narratologische Analyse im Kern beeinflussende „Unterscheidung zwischen der Tiefen- und der Oberflächenstruktur handlungsdarstellender Texte“ (Hübner 2010a, 121), die sich in der Differenzierung von histoire und discours niederschlägt. Ihr frühester Beleg findet sich bei Aristoteles, der die sprachliche Form und die Gedankenführung als Teil der Rhetorik, den Handlungsaufbau und die Figurenkonstruktion als Teil der Poetik bestimmt. Auch wenn zeitgenössische Autoren nicht zwischen discours und histoire differenzierten, hätten sie laut Hübner höchstwahrscheinlich „etliche erzählerische Praktiken, die die moderne Narratologie auf der discours-Ebene ansiedelt, mit der von rhetorischen Verfahrensweisen beherrschten tractatio materiae in Verbindung gebracht, die dem Selbstverständnis der Dichter nach einen beträchtlichen Teil ihrer Arbeit ausgemacht haben dürfte. Die Verfahrensweisen der erzählerischen Vermittlung und die der Stoffbearbeitung sind weder extensional noch konzeptionell dasselbe; dass es eine Schnittmenge gibt, ist jedoch kein bloßer Zufall.“ (121)
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in ihr formulierten evidentia-Konzepts reflektiert wurden.⁴⁴ Die im Folgenden zu analysierenden narrativen Verfahren – Innenwelt- und Bewusstseinsdarstellung, kommunikative Figurenrede, Handlungsmotivierung – werden als Erzählformen nämlich bereits hier diskutiert,⁴⁵ wenn auch unter dem funktionalen Aspekt der
Kürze, Klarheit und Glaubwürdigkeit (vgl. Cicero, De Inventione, I,20,28) oder – in der Rhetorica – Kürze, Deutlichkeit und Wahrscheinlichkeit (vgl. Rhetorica ad Herennium, I,9,14) sind die Eigenschaften, die der Darstellung eines Sachverhalts, der narratio, hier im Rahmen der Gerichtsrede, eignen sollen. Für eine solche Darlegung des Sachverhalts spielte das evidentiaKonzept eine besondere Rolle, in dem Augenschein evozierende Erzählverfahren beschrieben und systematisiert wurden (vgl. zur evidentia-Lehre insg. Kemmann 1996). Evidentia bezeichnet folglich solche Verfahren, mit deren Hilfe der Zuhörer gleichsam zum Augenzeugen eines vergangenen Geschehens wird (vgl. Lausberg 2008, 179, §319; 185, §334; 399 – 407, §810 – 819) und die vor allem dort notwendig werden, wo objektiv ein Mangel an Evidenz besteht. Evidentia meint somit sowohl spezifische rhetorische Verfahren als auch das angestrebte Ergebnis, wobei allerdings eine jede rhetorische Argumentation überflüssig wäre, wenn ein Sachverhalt o.Ä. bereits evident wäre (vgl. Kemmann 1996, 39). Der Terminus evidentia benennt dabei keine spezielle Figur, sondern fungiert als Bezeichnung für verschiedene Verfahren, die der Erzeugung von Augenscheinlichkeit dienen. In der Rhetorica ad Herennium und bei Cicero wird sie im Rahmen der Erörterungen zur Glaubwürdigkeit und Klarheit reflektiert, deren Intensivierung sie dienen soll (vgl. Lausberg 2008, 401, §810). So konnte man den Ausführungen zur Gestaltung der narratio etwa recht genaue Hinweise entnehmen, wie die genannten drei zentralen Eigenschaften jeweils zu erreichen seien. So beruhe eine gelungene Figurendarstellung etwa darauf, die mit der jeweiligen Handlung einhergehenden Gemütsbewegungen der Personen zu vergegenwärtigen, die nicht nur über die Darstellung der Ereignisse, sondern auch der Gespräche (direkte Rede) und Gesinnungen (Innenweltdarstellung) der Personen vergegenwärtigt werden sollten (vgl. Cicero, De Inventione, I,19,27; Rhetorica ad Herennium, I,8,13). Figurenrede und Bewusstseinsdarstellung dienten dabei unter anderem der Erzeugung von Wahrscheinlichkeit. Neben der Relevanz, die der Redewiedergabe und Innenweltdarstellung in diesen Erörterungen beigemessen wird, liegt in der rhetorischen narratio-Lehre auch besonderes Augenmerk auf der Repräsentation von Handlungsmotiven, die generell als Mittel zur Evokation von Wahrscheinlichkeit galt. So werden bereits im Rahmen der Diskussion der zentralen Eigenschaften einer narratio narrative Praktiken der Geschehensmotivation erörtert, wobei Kausalität hier zu einem wichtigen Kriterium erzählerischer Glaubwürdigkeit wird. Eine Erzählung sei nämlich dann wahrscheinlich, wenn die „Ursachen der Taten sichtbar hervortreten“ (Cicero, De Inventione, I,21,29) und Motive für Taten (vgl. Rhetorica ad Herennium, I,9,16) genannt würden. Schon hier wird also eine plausible Motivierung des erzählten Geschehens angestrebt, die über eine grundsätzliche rezeptionsseitige Kausalitätsunterstellung hinaus, von der unter anderem in den Ausführungen zur Kürze gehandelt wird (vgl. Cicero, De Inventione, I,20,28), die Glaubwürdigkeit des erzählten Handelns erhöhen soll. Verstärkt wird diese zudem über die Orientierung des Erzählens an objektiver Wahrscheinlichkeit und den Erwartungen der Rezipienten (vgl. Cicero, De Inventione, I,9,21; Rhetorica ad Herennium, I,9,16). Dabei spielten insbesondere Formen der psychologischen Begründung eine Rolle, die die erzählten Handlungen aus den Charakterzügen der Figuren herleiteten und somit an die Lebenserfahrung des Publikums appellierten. Auch im Rahmen der evidentia-Lehre wird dabei auf die plausibilisierende Funktion
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glaubwürdigen und parteiischen Vermittlung eines Sachverhaltes und damit in Fokussierung auf „Verfahrensweisen urteilslenkender Textstrukturierung“⁴⁶. Während auch die Kategorie der Stimme letztlich formale Vorläufer in der rhetorischen Reflexionstradition aufweist, haben die evaluative Struktur sowie die für deren Etablierung häufig zentralen Erzählerkommentare keinen Ort in Rhetorik oder Poetik⁴⁷ und müssen – die Terminologie zeigt es an – im Rückgriff auf die moderne Narratologie konzeptualisiert werden. Der Rekurs auf die narratio-Lehre in diesem Zusammenhang liegt in ihrer Bedeutung für die zeitgenössische Erzählpraxis begründet: Die antiken Rhetoriklehrbücher waren Grundlage des zeitgenössischen Unterrichts, „wobei der ursprüngliche Bezug auf die narratio in der Gerichtsrede durch die Generalisierung auf tatsächlich praktizierte Arten von Erzählungen ersetzt wurde.“⁴⁸ Sie anschaulichen Erzählens hingewiesen: Augenschein werde durch eine detailreiche Schilderung erzeugt, die Folgen, Begleitumstände und vorher sowie später Geschehenes berücksichtige (vgl. Rhetorica ad Herennium, IV,54,68); zentral seien hierfür eine differenzierende Darstellung der Charakterzüge und Gemütsbewegungen, die wiederum über kommunikative und autokommunikative Rede realisiert werden solle (vgl. Rhetorica ad Herennium, IV,54,68, vgl. auch die Ausführungen zu den als sermocinationes bezeichneten Formen der Figurenrede im Rahmen der Figurenlehre IV,52,65). Die anvisierte Glaubwürdigkeit sowie die zu ihrer Generierung diskutierten Verfahren sind dabei stets dem funktionalen Ort der narratio in der Gerichtsrede geschuldet, sofern diese parteiisch und glaubhaft sein musste. Zentral sowohl für die narratio-Lehre als solche als auch für das auf die Glaubhaftmachung eines erzählten Geschehens zielende evidentiaKonzept war folglich eine der Charakterisierung dienende detaillierte Schilderung der emotionalen Verfasstheit der Figuren über die Darstellung ihrer Handlungsmotive und Beweggründe mithilfe kommunikativer wie autokommunikativer Rede. Im Hinblick auf die Erzählverfahren lassen sich somit durchaus Ähnlichkeiten zu solchen Kategorien beobachten, die in der modernen Theoriebildung als Fokalisierung, als dialogische oder monologische Figurenrede oder Geschehensmotivierung untersucht werden. Hübner 2015, 29. Vgl. Hübner 2003, 81 f.; zu Erzählerkommentaren auch Hübner 2015, 45 ff. Hübner 2015, 29; vgl. auch Hübner 2010a, 122, sowie Hübner 2018, 88, 97. Zugleich waren jene in der rhetorischen Tradition reflektierten erzählerischen Verfahren elementarer Bestandteil des mittelalterlichen Grammatikunterrichts, wo sie zum Gegenstand von Stil- und Kompositionsübungen, sogenannten Progymnasmata, wurden (vgl. zu Geschichte und Entwicklung der Progymnasmata von der Antike bis in die Neuzeit Cizek 1994, 227 ff.). Dabei ist eine exakte Rekonstruktion der progymnasmatischen Lehre und ihrer Relevanz für den mittelalterlichen Schulbetrieb zwar nicht möglich, aber „die Praxis der literarischen Aufsatzübung [scheint] mehr oder weniger in den gleichen Bahnen wie in der spätantiken Schule gelaufen zu sein.“ (Cizek 1994, 248 f.) Gegenstand des mittelalterlichen Unterrichts waren folglich Übungen, die sowohl in „stofflich-formale[n] Aspekte[n]“ als auch in „gedanklich-affektische[r]“ Ausgestaltung schulen sollten (253). Jene narrativen Verfahren, die der evidentia und somit der Glaubhaftmachung eines erzählten Geschehens dienten, waren dementsprechend Gegenstand von spezifischen Aufsatzübungen, den Progymnasmata Narratio und Ethopoiia (vgl. 263 ff., 277 ff.). Zu den im mittelal-
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muss letztlich als „normative Grundlage der Theorie und Praxis des fiktionalen wie des nichtfiktionalen Erzählens“⁴⁹ bis in die Frühe Neuzeit bewertet werden.⁵⁰ Dies wird an dieser Stelle aus dem folgenden Grund noch einmal eigens hervorgehoben: Jeder Zugang zu narrativen Praktiken jenseits der lateinischen Bildungstradition führt […] über Hervorbringungen von Schriftkundigen mit Zugang zur lateinischen Bildungstradition. […] Was immer an mittelalterlichen und frühneuzeitlichen narrativen Praktiken, auch an solchen jenseits der Gelehrtenkultur, heute noch verstehbar ist, könnte dies nur aufgrund von Prozessen gelehrter Traditionsbildung sein, die seit der Antike etablierte narrative Praktiken so auf Dauer stellten oder umcodierten, dass die dadurch hergestellten Kontinuitäten heutigen Beobachtern Identifikationen und Deutungen ermöglichen.⁵¹
Vor dieser Prämisse sind also letztlich auch die Verfahren ambivalenten Erzählens zu untersuchen, auch wenn es weder darum gehen wird, die Entwicklung einzelner Erzählformen nachzuzeichnen, noch deren jeweilige Sinnzuweisungen zu rekonstruieren. Die narrativen Formen interessieren hier ausschließlich als Elemente des ambivalenten narrativen Arrangements, für dessen Erfassung es keiner detaillierten entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion der sie konstituierenden Erzählformen bedarf. Der erneute Hinweis auf die Relevanz jenes vorausgesetzten Horizontes resultiert somit nicht aus dem Bestreben, ambivalente Textarrangements im Rückgriff auf die Rhetorik zu erklären, wie es etwa Christ für Gottfrieds Tristan unternommen hat und von einem Zusammenhang zwischen rhetorisch geprägtem Erzählen bzw. dem auf Glaubwürdigkeit zielenden Einsatz rhetorischer Mittel und den für den Tristan vielfach postulierten Spannungen,
terlichen Unterricht geläufigen Übungen zählte also sowohl die Formulierung von direkten Figurenreden als auch die von inneren Monologen; beide Formen der Rede dienten in der Darstellung von Handlungsmotiven und Gemütsbewegungen dabei der Charakterisierung von Figuren und der Darstellung ihrer Eigenschaften (vgl. Hübner 2010a, 124 f.). Die solchermaßen geprägte schulliterarische Praxis beeinflusste ihrerseits dann die literarische Produktion gelehrter Dichter in erheblichem Maße, auch wenn sich diese gewiss auch Verfahren bedienten, die nicht Gegenstand des Unterrichts waren (vgl. Hübner 2010a, 139). Knape 2003, 105. Die narratio-Lehre kann dabei aber nicht als Erzähltheorie sui generis verstanden werden, auch wenn Knape 2015, 68, in den Ausführungen der Rhetorica ad Herennium zur narratio „eine Art elementarer Erzähltheorie entworfen“ sieht. Obgleich sie Elemente einer solchen enthalten mag, wies die antike Rhetorik insgesamt ein vergleichbar geringes Interesse am Erzählen auf (vgl. Hübner 2003, 80 ff.; Hübner 2010a, 133). Hübner 2015, 35. Vgl. zum gelehrten Bildungshorizont auch Hübner 2018, 97.
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Brüchen und Widersprüchen ausgeht.⁵² Im Gegensatz zu dessen Ansatz soll es hier folglich nicht um den Nachweis expliziter rhetorischer Rekurrenzen, nicht um die Identifikation spezieller rhetorischer Figuren gehen. Es wird somit gerade kein Zusammenhang zwischen Ambivalenz und Rhetorik postuliert: Textarrangements sind nicht aufgrund der rhetorischen Herkunft der in ihnen realisierten narrativen Techniken und ihrer ursprünglichen Sinnzuweisungen ambivalent; sie sind ambivalent, weil verschiedene narrative Techniken, die formale Vorläufer in der Rhetorik aufweisen, spezifisch kombiniert werden. Die Erwähnung des zeitgenössischen Bildungshorizontes ist vielmehr Konsequenz seiner zentralen Rolle für die zeitgenössische Erzählpraxis sowie der partiellen Möglichkeit, Ambivalenzen und Widersprüche als Resultat der Gleichzeitigkeit konkurrierender Wissensordnungen zu verstehen, wie sie zwischen stofflich bedingter histoire- und rhetorisch geprägter discours-Ebene entstehen können.⁵³ Neben solchen poten Christ 1977: Von den für den Tristan vielfach postulierten Spannungen, Brüchen und Widersprüchen ausgehend ist das Ziel seiner Untersuchung die Darstellung eines „historischen und kausalen Zusammenhangs zwischen der Rhetorik und jener ‚Strukturlosigkeit‘ des ‚Tristan‘“ (341), die letztlich das Ergebnis einer rhetorisch geprägten, rezeptions- und wirkungsorientierten Stoffbearbeitung und somit „Folge eines partikularistischen Erzählprogresses“ (190) sei. Neben der grundsätzlich hohen Bedeutung und Verfügbarkeit der Rhetorik im Mittelalter zeigte sich ihr Einfluss auf das höfische Erzählen somit insbesondere in dessen wirkungspoetischen Aspekten, die er über die Beschreibung der mittelalterlichen Literatur als eine auf Rezeptionserwartungen und Persuasion ausgerichtete Dichtung nachweist und deren strukturelle Grundlagen er in der ebenfalls auf Persuasion zielenden Rhetorik verortet (vgl. 23 ff., 44; laut Hübner 2008, 349, fänden sich persuasive Strategien hingegen nur punktuell im höfischen Roman, nämlich „in dezidiert artifiziellen Situationen“). Vor allem im Kontext der verschiedentlich nachgewiesenen inkohärenten und widersprüchlichen Textelemente des Tristan zeige sich dabei Gottfrieds auf spezifische Wirkungen zielender Einsatz rhetorischer Mittel (vgl. etwa zu den Widersprüchen im zwîvel unde arcwan-Diskurs 55 ff.; zu den Inkohärenzen der Bettgespräche 69 ff.). Dieser diene neben der Faszination, Sympathiesteuerung und affektischen Unterhaltung der Zuhörer auch der Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Erzählten. Dabei seien es gerade mimetische Verfahren der Glaubhaftmachung, wie etwa direkte und indirekte Figurenrede, descriptiones oder evidentia-Formen (vgl. 276 ff.), die den fiktiven Stoff der matière de Bretagne bewahrheiten sollten (vgl. 291 ff., 327 f.). Gerade diese partiellen, auf rhetorischen Wurzeln basierenden und einzelne Wirkungen beabsichtigenden Beglaubigungstendenzen seien aber in ihrer „Priorität […] vor realistischer Stimmigkeit“ (93) die Ursache für jene Widersprüche und Irritationen, da sie den inhaltlichen und strukturellen Vorgaben des Stoffes zum Teil entgegenwirkten (vgl. 92 ff.). Neben der skizzierten Bedeutung der Rhetorik für die mittelalterliche Unterrichtspraxis und somit für die Textproduktion der gelehrten Autoren dürften nach Hübner 2010a, 141 f., auch die anthropologischen Implikationen der antiken und im Mittelalter tradierten Lehrbestände nicht unterschätzt werden. Als historische Wissensordnung vermittele die Rhetorik und hier insbesondere die narratio-Lehre nämlich nicht nur technische Instruktionen zur Plausibilisierung von Erzählungen. Indem sie lehrte, wie logische Wahrscheinlichkeit über spezifische erzählerische Verfahren hergestellt werden konnte, „implizierte [sie] stets zugleich, dass Plausibilität durch den
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tiellen Gründen ambivalenter Phänomene scheint aber vor allem die Kombination einzelner Erzählverfahren, ihre zum Teil widersprüchlich anmutende Gleichzeitigkeit (kausale / finale Motivierung), ihr nur selektiver Einsatz (Bewusstseinsdarstellung) sowie ihre partielle Konkurrenz (Erzählerkommentare / implizite evaluative Struktur) Ursache jener Ambivalenz zu sein, deren einzelne konstitutive Erzählverfahren es im Folgenden anhand des Fortunatus-Romans zu exemplifizieren gilt.⁵⁴
3.2.1 Innenweltdarstellung Die folgenden Beispiele aus dem Fortunatus führen in die möglichen Besonderheiten der Innenweltdarstellung im frühneuhochdeutschen Prosaroman ein, wobei gerade solche Arrangements in den Blick geraten, die für eine Konstruktion
Bezug auf bestimmte topische Vorstellungen vom menschlichen Handeln in der Welt hergestellt wird.“ (142) Indem die Rhetorik der Darstellung von Handlungsursachen und -motiven eine die Erzählung plausibilisierende Funktion zuschrieb, setzte sie die Abhängigkeit menschlicher Handlungen von individuellen Dispositionen und somit ihre grundsätzliche Kausalität voraus (vgl. 142). Somit war „die narratio-Lehre […] keine rein formale Topik, weil ihr Funktionieren vom Bezug auf Topoi abhing, die Bestandteil einer den Ursprüngen der Rhetorik entstammenden anthropologischen Episteme waren.“ (142) Ein solcher Bezug der Textbearbeitungstechniken auf anthropologische Ordnungen, auf Wissen über menschliches Handeln in der Welt, habe wiederum Folgen für die Gestaltung des mithilfe jener Techniken geformten discours: „Eine zu erzählende Geschichte mag zum Beispiel infolge einer entsprechenden Stofftradition noch so massiv durch Finalmotivierung konstituiert sein – einen gelehrten Dichter, der die rhetorischen narratio-Techniken erlernt hatte, wird gleichwohl die habituell mehr oder weniger stark verfestigte Neigung geleitet haben, das Handeln seiner Figuren durch Affekte und Kalküle, Gründe und Intentionen kausal zu motivieren. Wer dies tat, führte als Implikation seiner Bearbeitungstechniken womöglich Reflexe einer Anthropologie in das Strukturgefüge seiner Erzählung ein, die weder einfach aus der auf der histoire-Ebene codierten hervorging noch bruchlos mit ihr übereinstimmte.“ (142 f.) Insbesondere bei auf mündlichen Erzähltraditionen basierenden Stoffen könne die rhetorisch geprägte bearbeitende Verschriftlichung folglich insofern Widersprüche zwischen histoire- und discours-Ebene bewirken, als beide Ebenen durchaus verschiedene Wissensordnungen und Sinnangebote transportieren könnten bzw. der durch die Stofftradition bedingte Sinn einer Geschichte durch die eigene Sinnangebote tragende rhetorische Bearbeitung des discours grundsätzlich konterkariert werden könne (vgl. 143 f.). Inkohärenzen könnten somit potentiell aus den eigenständigen und der histoire zum Teil widersprechenden „Bedeutungsangebote[n]“ (145) resultieren, die durch die anthropologischen Implikationen der discours-spezifischen Bearbeitungsverfahren generiert werden. In den folgenden Überlegungen wird auf die sehr umfangreiche Fortunatus-Forschung nur dann Bezug genommen, wenn sie für eine Erhellung der jeweils untersuchten narrativen Verfahren relevant ist.
3.2 Narrative Verfahren der Ambivalenzerzeugung im Fortunatus
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ambivalenter Textarrangements besonders virulent erscheinen. Hübner hat in seiner Studie zur Erzählform im höfischen Roman ausführlich Fokalisierungstechniken und ihre jeweiligen Funktionen für die Sinnkonstitution untersucht; detailliert hat er hier die mit den Konzepten ‚Perspektive‘, ‚Point of View‘ und ‚Fokalisierung‘ zusammenhängenden narratologischen Modelle, ihre historische Genese sowie die mediävistischen Auseinandersetzungen mit diesen Phänomenen skizziert und ihre für die Anwendung auf den höfischen Roman notwendige terminologische Operationalisierung vorgenommen.⁵⁵ Während Hübner unter Fokalisierung sowohl bestimmte Formen der Bewusstseinsdarstellung in Erzähler- und Figurenrede als auch den Einsatz verschiedener Filtertechniken (Zeit-, Raum- und Innensichtfilter) fasst,⁵⁶ werden – die terminologische Differenzierung zeigt es an – in diesem Zusammenhang primär die verschiedenen Formen der Innenwelt- und Bewusstseinsdarstellung untersucht. Es geht also um solche Passagen, in denen die mentale Innenwelt einer Figur, ihre Wahrnehmungen, Gedanken und Emotionen, transparent gemacht werden.⁵⁷ Sie kann sowohl in Erzähler- als auch in Figurenrede präsentiert sein: Während es sich etwa bei der Psychonarration um die Darstellung von Figurenbewusstsein – sowohl von verbalisierten Gedanken als auch von nicht verbalisierten Wahrnehmungen und
Vgl. zur Diskussion der verschiedenen narratologischen Modelle ‚Perspektive‘, ‚Point of View‘ und ‚Fokalisierung‘ Hübner 2003, 10 – 45, zu einzelnen Fokalisierungstechniken und der Entwicklung des Analyseinstrumentariums 46 – 76, zu Ansätzen in der Mediävistik 77– 104. Im Hinblick auf die Forschung zu den einzelnen narratologischen Konzepten ‚Perspektive‘, ‚Point of View‘ und ‚Fokalisierung‘ sowie den früheren mediävistischen Arbeiten zu diesen Phänomenen sei an dieser Stelle auf diese äußerst detaillierten Forschungsskizzen und -diskussionen Hübners verwiesen. Da sich die folgenden Überlegungen an Hübners Modell orientieren, für welches wiederum die Arbeiten Genettes – wenn auch in modifizierter Form – die Grundlage bilden, wird hier nicht eigens auf dessen für die Narratologie zentralen und maßgebenden Ansatz eingegangen, den er im dritten Band seiner Figures entwirft (vgl. Genette 1972, 67– 273; dt.: Genette 1994, 9 – 176). Vgl. zur narratologischen Diskussion dieser Kategorien für die moderne Literatur: Schmid 2005, 113 – 149; Schmid 2017, 11– 62; Schmid 2018; Zeman 2018. Vgl. Hübner 2003, 63: „‚Fokalisierung‘ bezeichnet den Effekt komplexer erzähltechnischer Arrangements. Er beruht auf der Gestaltung des Verhältnisses zwischen der Erzählerstimme und der Repräsentation von Figurenbewußtsein einerseits, auf der Regelung der narrativen Information in Relation zum Horizont der Figuren andererseits (also auf dem Verhältnis zwischen discours und histoire). Fokalisierung kommt zustande durch konsonante, synthetische Innenweltdarstellung und durch die Einhaltung von Raum-, Zeit- und Innensichtfiltern. Es gibt deshalb nicht nur fokalisiertes oder unfokalisiertes, sondern mehr oder weniger fokalisiertes Erzählen.“ Vgl. die Kritik an Hübners Fokalisierungsbegriff bei Schmid 2017, 107 f. Vgl. zur Bestimmung von ‚Innenwelt‘ bzw. ‚Bewusstsein‘ auch Hübner 2003, 46: „Innenweltdarstellung ist – per definitionem – nur, was im ‚richtigen Leben‘ allein der Introspektion zugänglich wäre.“
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Gefühlen – in Erzählerrede handelt, kann dieses auch in Figurenrede und hier in Form von autokommunikativen, gedachten oder gesprochenen, meist durch Inquitformeln markierten Soliloquien wiedergegeben werden.⁵⁸ Da die jeweiligen Filtertechniken in den einzelnen Erzählungen keinen derart starken Fokalisierungseffekt tragen, werden sie in der Analyse nicht eigens beleuchtet.⁵⁹ Allein der von Hübner beschriebene Innensichtfilter spielt eine zentrale Rolle in den einzelnen Erzählungen. Da mit diesem aber die Zugänglichkeit von Figuren für Introspektion bzw. die potentielle Restriktion von Innenweltdarstellungen bezeichnet ist – es geht also „um die Frage […], welche Figuren für Innensicht offenstehen und welche nicht“⁶⁰ –, erscheint es vertretbar, dieses Verfahren als spezifische Technik der Innenweltdarstellung zu verstehen und nicht eigens auf den Filter-Begriff zurückzugreifen. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang aber nicht nur die Frage, welche Figuren für eine Bewusstseinsdarstellung prinzipiell zugänglich sind, sondern welche Relevanz der Restriktion von Innensichten bei Figuren zukommt, deren Innenwelten ansonsten transparent sind. Sofern sich die Innensichtselektionen in nicht unerheblichem Maße auf die Figurencharakterisierung, die Sympathiesteuerung sowie auf die Strukturen
Vgl. zu Psychonarration und Soliloquien Hübner 2003, 47 ff. Der Übergang zwischen beiden Formen der Bewusstseinsrepräsentation kann dabei fließend sein, so etwa bei dem Einsatz eines in indirekter Rede wiedergegebenen Soliloquiums (vgl. 49). Zur Relation von Figurenbewusstsein und Erzählerwertungen vgl. weiter unten, Kap. 3.2.2. Vgl. zu den Filtertechniken Hübner 2003, 56 – 63. Der Einsatz des Zeitfilters bedeutet nach Hübner, „daß die Erzählung ihre Informationspolitik jeweils am aktuellen kognitiven Horizont der Figur orientieren muß, dem Rezipienten also keine kognitiven Privilegien über die Filterfigur einräumen kann. Der Zeitfilter ist in dieser Hinsicht nichts anderes als ein Wissensfilter.“ (57) Sowohl in der Melusine als auch im Apollonius ist kein ausgeprägter Zeitfilter eingesetzt: Während der Erzähler in der Melusine über eine Vielzahl zukunftsgewisser Prolepsen das folgende, über das Bewusstsein der über eine Innensicht zugänglich gemachten Figuren hinausgehende Geschehen präsent hält, wird auch im Apollonius über eine Vervielfältigung der Erzählstränge das prinzipiell parallel ablaufende Geschehen für den Rezipienten zugänglich gemacht, so dass dieser in beiden Fällen über Informationen verfügt, die über den kognitiven Horizont der Protagonisten hinausgehen. Abweichungen von diesem Verfahren, wie etwa die partielle Beschränkung auf den Wissensstand einer Figur im Hinblick auf eine andere werden in den Analysen gesondert betrachtet. Unter Raumfilter wird hingegen die räumliche Orientierung der Erzählung an einer Figur verstanden; auch hier ist zentral, welche Figuren als räumliches Zentrum infrage kommen. Von besonderer Aussagekraft sind dabei die Beschränkungen einer solchen Zentrierung wie auch die vorgenommenen Wechsel zwischen verschiedenen figuralen Zentren (vgl. 58). Zwar wechseln sowohl in der Melusine als auch im Apollonius die räumlichen Zentren, diese Wechsel scheinen allerdings keinen spezifischen funktionalen Effekt zu tragen. Hübner 2003, 61.
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der Wissens- und Informationspolitik auswirken,⁶¹ scheint gerade die partielle Restriktion ansonsten zugänglicher Figuren von besonderer Aussagekraft zu sein. Eine Erzählung kann somit durchaus die Innenwelten verschiedener Figuren präsentieren und dabei zugleich solche Textpassagen aufweisen, in denen es keine Bewusstseinsdarstellung gibt – entweder weil Figuren grundsätzlich oder aber teilweise einer Innensichtrestriktion unterliegen. Gerade dieser letzte Fall ist dabei fast immer funktionaler Natur.⁶² Bei einer solchen Konstruktion wie auch im Rahmen einer gänzlichen Verweigerung von Introspektion, die in den hier vorliegenden Romanen ebenfalls eine überaus zentrale Rolle spielt, kann es dazu kommen, dass die Erzählung dem Protagonisten folgt, diesen aber nicht transparent macht, sondern […] Innensichten (oder auch Dialoge) anderer Figuren [präsentiert], die den Protagonisten zum Gegenstand haben. Das hat den Effekt, daß nicht erzählt wird, wie der Held die Welt erlebt, sondern wie die Welt den Helden erlebt. Die narrative Konstellation erweckt den Eindruck, daß der Protagonist immer nur ‚von außen gesehen‘ wird; im Unterschied zu unfokalisiertem Erzählen repräsentiert sie diesen ‚Blick von außen‘ im discours. ⁶³
Eine solche Konstellation zeigt sich prägnant im Fortunatus: Reuvekamp hat darauf hingewiesen, dass der Protagonist in weiten Teilen der Erzählung ausschließlich aus der Perspektive anderer Figuren beschrieben wird, während seine eigenen Wahrnehmungen und Emotionen ausgespart bleiben.⁶⁴ Eine solche Beschränkung auf die Außenperspektive zeigt sich dabei etwa in den Passagen über Fortunatusʼ Zeit am Hofe des Grafen von Flandern, den dort gegen ihn gesponnenen Intrigen sowie auch bei der Schilderung seiner Hochzeit.⁶⁵ Aufgrund dieser Vgl. zur Relevanz der Innensichtselektion für Figurencharakterisierung und Sympathiesteuerung auch Hübner 2003, 61. Vgl. Hübner 2003, 62: „Fast immer funktional ist der Effekt, den Genette Paralipse nennt. Dabei handelt es sich um ein Informationsdefizit, das nicht durch den herrschenden Filter begründet ist und in Relation zu ihm als Abweichung erscheint. Dies ist etwa der Fall, wenn man über die Motivationen einer Figur, deren Innenwelt sonst zugänglich war, plötzlich nicht mehr informiert wird. Der Effekt ist umso einschneidender, je mehr die Figur als Informationsfilter funktionalisiert ist.“ Hübner 2003, 63. Vgl. Reuvekamp 2014, 120. Vgl. Reuvekamp 2014, 120. So wird Fortunatus nicht nur über längere Sequenzen fälschlicherweise bloß als der walsche bezeichnet (vgl. 393,29 – 394,1; 396,9 – 396,10; 397,2– 397,5; 398,2– 398,3; vgl. Reuvekamp 2014, 120), sondern er wird hier auch primär aus der Perspektive der anderen Figuren beschrieben, die ihm, wie etwa der Graf, Eigenschaften erst zuschreiben: er sagt yn wie er zu ym kommen waͤr auf der widerfart von Jerusalem / vnd sagt yn wie er so ain gGter jaͤger waͤre die vogel in dem lufft vnd die thyer in den waͤlden waͤr kaines sicher vor ym tzu dem das er sunst wol dienen kund (394,26 – 394,30). Auch in den Intrigenepisoden wird primär Ruperts
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Innenweltrestriktionen wird an diesen Stellen über Fortunatusʼ Wahrnehmungen und Emotionen nicht informiert, vielmehr erscheint „[d]as Bild des Protagonisten […] wie in einem Kaleidoskop zersplittert in die Wahrnehmungen unterschiedlichster Figuren“⁶⁶. Laut Reuvekamp sei dies – neben weiteren Besonderheiten in der Figurendarstellung, wie etwa einer unzureichenden Motivierung von Fortunatusʼ Handeln und dem Fehlen von charakterisierenden und situationsunspezifischen Merkmalen – eine Strategie des Textes, die rezeptionsseitige Bildung von Personenvorstellungen über eine eingeschränkte Informationsvergabe gezielt zu unterlaufen.⁶⁷ Hier übt die Restriktion der Innensichtdarstellung somit Einfluss auf die Figurencharakterisierung und Sympathiesteuerung aus, sofern eine affektive Auseinandersetzung mit der Figur – ganz im Gegensatz zu Andalosia – systematisch erschwert wird:⁶⁸ Vorgehen geschildert; wie Fortunatus dessen Annäherungsversuche und vermeintliche Freundschaftsbekundungen wahrnimmt, wird nicht erzählt (vgl. 397,16 – 398,7). Ähnlich verhält es sich bei der Darstellung von Fortunatusʼ Aufenthalt in London, wo er – in schlechte Gesellschaft geraten – all sein Geld für Frauen ausgibt: So wird über lange Passagen berichtet, wie die Jünglinge in freüden [lebten] (406,4), bis sy nit vil bar gelt mer hetten (406,7– 406,8), und wie Fortunatus ob seines falschen Verhaltens als Narr bezichtigt wird (vgl. 407,18 – 407,23) – wie er diese Situationen erlebt, bleibt dabei für längere Zeit ausgespart. Reuvekamp 2014, 120. Eine solche Beschränkung der Innensichtdarstellung bei gleichzeitiger Vervielfältigung der Außenperspektiven zeigt sich etwa markant bei der Schilderung der Reaktionen auf Fortunatusʼ Heiratsabsichten. Auf engem Raum werden hier vier divergierende Wahrnehmungen und Beurteilungen der Figur aufgeführt: So widerspricht der zunächst wiedergegebenen allgemeinen Meinung (vnnd gedacht ym ain yeder / wer waißt got gibt meiner tochter das glück als bald als ainer annderen / wann manigklich sach das da groß gGt vorhanden was vnd het ain yeder sein tochter geren dahin gebracht [466,15 – 467,1]) die Position des Grafen, der auf Anraten des Königs seine Töchter zur Wahl stellen soll: er hat weder land noch leüt / hatt er dann vil bar gelt gehebt oder noch / so secht ir wol er hat vil gelts verpauen das kainen nutz tregt / so mag er daz ander auch onwerden vnd zu armGt kommen / wie sein vater zu armGt kommen ist (467,9 – 467,13). Davon hebt sich nun die Beurteilung des Königs über Fortunatus ab, die bemerkenswerterweise auf zusätzliche andere Meinungen über ihn referiert: ich hab vernommen von leüten die es gesehen haben / das er souil kostlicher klainat hat man kauffet ain graffschafft darumb / […]. halt yn darfür / wißte er nit sein sachen tzu ainem gGtten end zubringen Er hette nit so ainen kostlichen palast gebawen / noch ayn so kostliche kirchen lassen machen […] fortunatus mir wol gefeltt vnd saͤhe lieber er hett ain edlen gemahel / dann ain peürin (467,15 – 467,27). Im Anschluss an diese positive Bewertung wird dann eine weitere Perspektive auf Fortunatus erwähnt, die sich von dieser markant unterscheidet: Der Gräfin erscheint Fortunatus nicht edel (468,15) genug. Vgl. Reuvekamp 2014, 120 f. Die strategische Verhinderung einer affektiven Annäherung an Fortunatus zeigt sich vor allem dort, wo positive Figureneigenschaften bzw. solche, die einen Sympathieeffekt tragen könnten, in die Perspektive anderer Figuren ausgelagert sind, diese folglich rückblickend Merkmale der Figur thematisch machen, die in der Darstellung der Figur durch den Erzähler ausgespart bleiben. Eine solche positive Bewertung, die nur aufgrund ihres Status als Figurenrede ein nur schwaches
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Beide Romanteile folgen also einer je eigenen Technik der Figurendarstellung, wobei die Unterschiede in der Darstellungsweise entschieden zur Sinnbildung des Textes beitragen. Fortunatus ist gerade deswegen so erfolgreich, weil er sich gegenüber seiner Umgebung weitestgehend isoliert. Wie den anderen Figuren der Handlung, wird es auch dem Rezipienten beinahe unmöglich gemacht, verlässliche und relevante Informationen über ihn zu gewinnen.⁶⁹
Die divergierenden Darstellungstechniken korrespondieren also mit der erzählinternen Figurenwahrnehmung, wobei es insbesondere die verschiedenen Verfahren der Bewusstseinsdarstellung und damit der Informationsvergabe sind, die diese Differenzen in der Figurenkonstruktion auch rezeptionsseitig erfahrbar machen. Denn während Fortunatusʼ Bewusstsein nur vereinzelt transparent wird, gerät Andalosias mentale Innenwelt weitaus häufiger und ausführlicher in den Blick.⁷⁰ Hier werden in größerem Umfang Bewusstseinsdarstellungen inseriert, die über seine Wahrnehmungen, Emotionen und Reflexionen informieren⁷¹ und
Sympathiesteuerungsverfahren darstellt, findet sich im Anschluss an Fortunatusʼ Flucht vom Hof des Grafen von Flandern und wird unter anderem von dessen Frau geäußert: Sein gemahel vnd die andern all sagten sy wißten nit das ym kain laid beschehen waͤre / weder mitt worten noch mit wercken / wann am abend als er von yn gangen waͤr / do waͤr er froͤlichen gewesen vnd hett yn von seim land gesagt / wie die frawen da geklaidet giengen / vnd von andern sitten / vnd gewonhaiten vnd sagt das mit so boͤßem teütsch / daz wir das lachen nit kunden verheben. vnd do er vns lachen sach / fieng er och an zG lachen / vnd mit lachendem mund ist er von vns geschaiden (403,6 – 403,14). Reuvekamp 2014, 124. Vgl. auch Reuvekamp 2014, 123. So wird etwa direkt über Andalosias ganz eigene Rezeption der Reisetagebücher seines Vaters und den daraus folgenden Wunsch berichtet, ebenfalls durch die Welt ziehen zu wollen (vgl. 507,30 – 508,3). Nach der Trennung der Zaubergegenstände – auch Andalosias diesbezügliche Freude (vgl. 509,3 – 509,5) wird eigens erwähnt – folgt die Erzählung Andalosia; in diesen Sequenzen ist die Innenwelt der Figur nahezu stets präsent. Im Unterschied zu Fortunatus wird dabei auch über Andalosias Wahrnehmung solcher Situationen unterrichtet, in denen andere Figuren Listen gegen ihn ersinnen, wie etwa in der Episode, in der ihm statt der eigentlich angebeteten Dame deren Nachbarin untergeschoben wird. Hier werden nicht nur seine Emotionen in der Realisierung seiner Überlistung (vgl. 513,3 – 513,7), sondern auch sein aus dieser Erfahrung abgeleiteter Vorsatz, sich künftig vor Frauen zu hüten (vgl. 513,10 – 513,12), sowie seine Erleichterung, den Frauen das Geheimnis des Säckels nicht offenbart zu haben (vgl. 513,28 – 513,30), transparent gemacht. In ganz ähnlicher Weise werden auch seine Reaktionen und Wahrnehmungen in den Auseinandersetzungen mit dem englischen König geschildert (vgl. etwa die Erkenntnis, dass er deshalb kein Holz für sein Festmahl kaufen kann, weil es sich dabei um ein Verbot des Königs handeln muss sowie die daraus abgeleitete Handlung 517,8 – 517,12; vgl. auch die Reaktion auf den Diebstahl des Säckels 527,12– 527,25). Ebenfalls im Gegensatz zur Darstellung seines Vaters wird auch seine Liebesaffektion ausführlich beschrieben: Während man weder über Fortunatusʼ Gründe, aus den drei Schwestern Cassandra zu wählen, noch über seine diesbe-
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die eine affektive Annäherung des Rezipienten an die Figur ermöglichen und begünstigen; besonders stark treten solche Innensichten in den Episoden um den Verlust und Wiedergewinn der Zaubergegenstände in Erscheinung. So findet sich hier etwa ein sehr umfangreiches Soliloquium, in dem der als Arzt verkleidete Andalosia sehr genau über sein künftiges Vorgehen und seinen Umgang mit der vermeintlich kranken Agripina sinniert: Als er nun bey ir sass / gedacht er ym was mag sy mir zu lon woͤllen geben / ob sy mir schon zway oder dreü tausent Cronen gibt / daz doch ainem yeden doctor in der artzney ain großser lon waͤre. noch dannochtt so ist es gar vntzalbaͤrlichen tzu schaͤtzenn / gegen dem so sy von mir hatt / vnd Ee das ich die hoͤrner gar vertreib / so will ich mit ir reden vnd ir sagen mein mainung. will sy es nit thon / so sy dann mainet ich werd ir die hoͤrner gar vertreiben / will ich ir ain confect machen das sy ir wider so lang werden wie vor / vnd denn in flandern faren / vnnd ir enbietten woͤlle sy der hoͤrner abkommen / das sy tzu mir komm vnnd mitt ir bring das ich ir anmGt. Als bald sy erwachet will ich sprechen / gnaͤdige fraw ir sehend wol wie sich ewer sach vast beßsert Nun ist es erst am boͤsten vnd künstlichesten / die hoͤrner auß der hyrenschalen zutreiben / da sondere grosse vnd kostliche stuck zu gebraucht werden muͤssen die auch vil gelts kosten / vnd ob ir darab ainen vnwillen welten enpfahen / so muͤßt ich die sach lassen steen als sy steet / vnd als ich ain doctor in der ertzney bin vnd ir villeicht vermaint mich mit ainem klainen gelt außzurichten / des will ich ain wissen haben. Wissen das ich auch byn doctor in der Nigromancia / das ist in der schwartzen kunst / vnnd hon den boͤsen gaist besworen daz er mir radt was ich für meinen lon vodren soͤll / der sagt / ir habenn zway klainat / das ist ain sekel vnd ain huͤtlin / der aines soͤll ich begern / versicht er sich ir geben mir das huͤtlin vnd solt mir dartzu geben alle iar / das ich ainem herren geleich leben müg (547,11– 548,6).
Besonders auffällig erscheint nicht nur der Umfang dieser Innenweltdarstellung, sondern vor allem auch ihre narrative Gestaltung, denn Andalosia nutzt in der gedanklichen Reflexion seines künftigen Vorgehens Formen direkter Rede und antizipiert seine an Agripina gerichteten Worte und Argumente; als Bestandteil seiner gezielt geplanten Überlistung führt diese Bewusstseinsdarstellung zu einer affektiven Annäherung an die Figur und kann aus diesem Grund – neben ande-
züglichen Emotionen informiert wird – Gegenstand der hier inserierten Innensicht ist nämlich bloß Fortunatusʼ Freude über den Ausgang der Beratschlagung mit Lüpoldus ([d]es was fortunatus fro / das Lüpoldo geuiel daz jm gefallen hett [473,15 – 473,18]) –, wird Andalosias Gefühlswelt in der ersten Begegnung mit Agripina breit entfaltet: vnd als sy andalosia ansache / gedacht er wenn sy ain engel vnnd von got daherr auf erd gesandt waͤr / so waͤr sy nit hübscher zu formieren / vnd ward entzündt mit ainer inbrünstigen lieb / jm ward sein hertz mit ainer sollichen wollustigkait vmbfangen / das er weder essen noch trincken mocht. […] vnd vermaint / ir gemuͤt solt gen ym ston als das sein gegen ir / da noch verr hyn was (516,19 – 516,31).
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ren – als positives Sympathiesteuerungsverfahren gewertet werden.⁷² Dass diese Bewusstseinsdarstellung gerade keine handlungsstrukturelle Funktion übernimmt, sondern vielmehr einer solchen weitreichenden Charakterisierung der Figur und einer auf Sympathie zielenden Rezeptionslenkung dient, wird dabei durch den Erzähler selbst nahegelegt, der eigens darauf hinweist, dass Andalosia das ausführlich mental artikulierte Vorhaben gerade nicht in die Tat umsetzt: Als nun ym der doctor fürgenommen het / mit agripina zGreden / wie er zwifach doctor waͤr / das lyeß er fallen / do er daz huͤtlin het (548,27– 548,29). Obwohl die unterschiedlichen Techniken der Figurendarstellung zu einer im Gegensatz zu Fortunatus stärkeren affektiven Auseinandersetzung mit der Andalosia-Figur führen, kennzeichnet die erwähnte Beschränkung auf die Außenperspektive in der Beschreibung von Fortunatus nicht die gesamte Erzählung. Gerade im Hinblick auf die oben erwähnte Relevanz und den funktionalen Status von partiellen Innensichtrestriktionen erscheint es nämlich von besonderer Bedeutung zu sein, dass Fortunatus trotz jener Passagen, in denen er ausschließlich zum Gegenstand der Wahrnehmungen anderer Figuren wird, prinzipiell für Innensichten zugänglich ist. Die Erzählung gewährt nämlich trotzdem punktuelle Einblicke in die Innenwelt des Protagonisten. Auch wenn die im Rahmen solcher Bewusstseinsdarstellungen erzählten Gedanken und Reflexionen der Figur ihre jeweiligen Handlungen zum Teil nicht ausreichend und nachvollziehbar motivieren,⁷³ plausibilisiert die Erzählung anhand dieser Innensichten doch nichtsdestoweniger ihr Verhalten.⁷⁴ Aufgrund dieser grundsätzlichen Zugänglichkeit der
Vgl. zu dieser Innensicht und ihrer Relevanz für die Konstruktion der Andalosia-Figur Reuvekamp 2014, 123 f. Neben der Ermöglichung solch umfangreicher Innensichten bewirkten nach Reuvekamp auch die wörtlichen Reden der Figur, die von „deutlich höherer Expressivität“ (123) seien, eine „affektive Auseinandersetzung mit dem Helden“ (124). Vgl. Reuvekamp 2014, 119. Zwar verlässt Fortunatus seine Heimat „völlig unvermittelt“, auch geht es in der Schilderung seines Auszugs nicht um die „Umbruchssituation, in der sich der Protagonist befindet“ (Reuvekamp 2014, 119), trotzdem werden aber seine Absichten sowie deren intendierte Realisierung transparent gemacht: vnd gedacht was er anfahen wolt / damit das er nit mer kaͤm für seinen vatter / das er kain beschwaͤrnuß ab ym naͤm (391,16 – 391,18), was er im Anschluss bei Betrachtung der Galeere des Grafen von Flandern folgendermaßen in die Tat umzusetzen gedenkt: Das sach nun der betruͤbt fortunatus vnd gedacht / o moͤcht ich ain knecht werden des herren / mitt ym farenn so verr das ich nit mer gen Cipern moͤht kommen / gedacht frag jn ob er nit ains knechts bedürff (392,9 – 392,12). Prinzipiell wird also mittels Bewusstseinsdarstellung über die Motive der Figur informiert – auch, wenn bloß erwähnt wird, dass er genau jene Pferde haben möchte, die sich zuvor ein Graf ausgesucht hatte, weil sy [jm] geuielen alle wol (433,8 – 433,9). Zum Gegenstand solcher Introspektionen werden neben Absichten und deren Begründungen auch Emotionen und Gefühlsregungen: So etwa markant bei der Schilderung seiner Flucht vom Hof des Grafen (Fortunato was kain schlaffen in seim synn / vnd gedaucht ain stund ains tags lang / wann er besorget /
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mentalen Innenwelt sind also solche Stellen besonders aussagekräftig, in denen die Innensichtrestriktion auf einen kurzen Moment der Handlung beschränkt ist und sich im Kontext von inserierten Bewusstseinsdarstellungen findet. Ein solches narratives Arrangement lässt sich etwa in der Begabungsszene beobachten: Werden vor dem Auftreten der Jungfrau des Glücks Fortunatusʼ Reflexionen und Motive genannt⁷⁵, so wird in der direkt anschließenden Begegnung mit ihr über eine Inquitformel zwar Bewusstseinsdarstellung suggeriert, ihr Inhalt wird aber gerade nicht konkretisiert: Allso bedachte er sich nit lang vnd sprach / so beger ich reichtumb (430,15 – 430,16). Zwar wird in direkter Rede die Begründung für diese Entscheidung angeschlossen (das ich alweg gelts gnGg hab [430,17]), eine vor-
wurd der graff jnnen das er hynweg wolt / er wurd yn lassen vahen / vnd wartet mit angst vnd mitt not byß daßs der tag her brach [402,2– 402,6]; hett er noch alzeit sorg man eylte ym nach […] wann er forcht das cipren so ser / das er nit getrawt sicher zu sein herdißhalb dem moͤre vnd als er nun in Engeland kam vnnd vermaint nun sicher zu sein / fyenge er an wider gGts mGts zu werden [405,6 – 405,11]) oder jener des Mordprozesses im Rahmen der Andrean-Episode (Do gedacht er / O got waͤr ich bey meinem frommen herren vnd graffen beliben vnnd hett mich lassen capponen / so waͤre ich in die angst vnd nott nit kommen [421,23 – 421,26]). Vgl. auch die Wiedergabe von Fortunatusʼ Sorgen und Ängsten im wilden Wald (427,7– 427,13; 428,15; 428,30), seiner Freude nach Erhalt des Säckels (432,6 – 432,7), seines Schreckens bei der Gefangennahme durch den Waldgrafen (434,24) sowie seine Erleichterung nach der Freilassung (436,15). Zudem finden sich Reflexionen über das weitere Vorgehen: Während seines Aufenthalts in London überlegt er in der Realisation seines finanziellen Ruins etwa, wie er weiterhin verfahren solle, wobei diese Reflexion unmittelbar in Handlung umgesetzt wird: ALs fortunatus allain was on gelt gedacht er ym hett ich zwo oder drey Cronen / so wolt ich in franckreich / etwann fund ich ainen herren / vnd gieng also wider zu sinem bGlen / bat sy / das sy jm zwG oder drey Cronen lich (408,6 – 408,9). Vgl. zu solchen, auf das weitere Vorgehen bezogenen Überlegungen und daraus resultierenden Handlungen auch 408,19 – 408,24; 428,6 – 428,10; 428,30 – 429,1; 434,24– 434,26; 464,21– 464,23; 478,4– 478,6. Darüber hinaus finden sich auch solche Bewusstseinsdarstellungen, in denen er aus dem bereits Erlebten Konsequenzen für sein weiteres Verhalten zieht, er also sein eigenes Handeln reflektiert: vnd gedacht / nun hab vnd vermag ich wol souil an parem gelt / als ir alle die hie sind vnd tarf es nit prauchen nach meim willen. ich kenn wol / sy haben land vnd leüt / was sy gebieten das muͤssen ir vnderthon volbringen. Huͤb ich ettwas an / moͤcht nit yederman gefallen / so hett ich niemmand der mir beystand thette. Darumb sprach er zG jm selb / mir zimmet nit hye den iunckherren zu machen noch grosse kostlichait zutreiben / jm lag an wie ym der waldgraff gethon / vnd yn vmb vnschuld gepeiniget het (437,1– 437,10). Auch wird der Rezipient etwa über Fortunatusʼ Motiv, Lüpoldus als Diener zu gewinnen (vgl. 440,3 – 440,5) oder aber dem Sultan das Wunschhütlein zu entwenden (vgl. 497,5 – 497,6), unterrichtet, bevor er diesen Absichten eine Handlung folgen lässt. So klettert er auf einen Baum, weil er gedacht […] wie ym nit lang zu sitzen / auch nit nütz waͤr zu fliehen / wann die wilden thyer yn bald über eylten / vnd gedacht jm besser waͤr auf ainen baum zu steigen (428,6 – 428,9), und steigt von diesem hinab, weil er forcht er entschlief vnd viele sich ab dem baum lam oder gar tzu tod (428,30 – 428,31).
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ausgehende motivierende Introspektion ist aber gerade nicht inseriert.⁷⁶ In Anbetracht der Relevanz dieser Szene für den Fortgang der Handlung sowie für eine Gesamtdeutung der Erzählung – schließlich wird diese Wahl vom Erzähler durchaus problematisiert⁷⁷ – liegt es nahe, dieser Innensichtrestriktion eine funktionale Dimension zu unterstellen. Im Anschluss an die Unterweisungen der Jungfrau des Glücks wird Fortunatusʼ Bewusstsein nämlich unmittelbar wieder zugänglich (vgl. 431,19 – 431,20; 432,3 – 432,4); zudem wird diese Entscheidungssituation zum Gegenstand anderer Innensichten, in denen Fortunatus seine Wahl – nämlich meist bei drohender Gefahr – selbst als Fehler beurteilt. Die auf diese vermeintlich falsche Wahl rekurrierenden Innensichten repräsentieren dabei stets nur seine Reue und exemplifizieren auch im Nachhinein nicht die Motive seines Entschlusses, etwa im Sinne einer nachträglichen Legitimation seines Handelns.⁷⁸ Es bleibt somit offen, aus welchen Gründen Fortunatus sich für Die Bemerkung des Erzählers [a]llso bedachte er sich nit lang (430,15 – 430,16) stellt den Akt des Nachdenkens explizit heraus, ohne aber seinen jeweiligen Inhalt zu konkretisieren. Dies muss dabei vor allem deshalb als Strategie verstanden werden, weil die daran anschließende Äußerung von Fortunatus so beger ich reichtumb (430,16) syntaktisch als Folge der nicht mitgeteilten Überlegungen markiert wird. Im Pro- und Epilog der Erzählung wird auf den ersten Blick ein Zusammenhang zwischen der Entscheidung für Reichtum und dem Niedergang der Familie hergestellt, wobei das Epimythion einen Konnex von falscher Wahl und finalem Misserfolg suggeriert, sofern es Fortunatusʼ Entscheidung mit dem Ende der Familie korreliert. Diese vorausgehenden und nachfolgenden Bewertungen, auf deren Status im Folgenden noch eingegangen wird, weisen die Entscheidungsszene damit als zentral für das Gesamtverständnis der Erzählung aus. Es stellt sich daher die Frage, warum der Erzähler die Gründe für diese Entscheidung nicht über eine Konkretisierung des Bewusstseinsinhaltes plausibilisiert. Schon recht unmittelbar im Anschluss an seine Begabung bereut Fortunatus seine Wahl, erklärt aber nicht, aus welchen Gründen er sie getroffen hat (vgl. 435,19 – 436,3); auch nach dem Totschlag des diebischen Wirts problematisiert Fortunatus rückwirkend seine Wahl, während seine ursprünglichen diesbezüglichen Motive erneut ausgespart bleiben (vgl. 460,23 – 460,26). Im Zusammenhang mit dieser von der Figur artikulierten Reue gerät auch Fortunatusʼ, in Form eines Soliloquiums präsentierte Klage über den Tod Cassandras in den Blick: als er allso allain was fieng er an vnd sprach wider sich selb / o fortunate / was ist dir nun nütz das du gelts genGg hast / vnd dem soldan sein allerbestes klainat vor haltest Alle reich durchzogen bist / vnd yetzo nit waist tzu welicher stund der tod kommpt vnnd dich auch hyn nympt / als er meinen allerliebsten gemahel genommen hatt / des sy sich noch nit versehen hett. O du grymer tod / wie kanst du so hert vnd so streng seyn daz du dir nicht last aberbitten / vnd weder gab noch muͤt an dir hilffett. Die iungen noch die alten / die reichen noch die armen / die wolgestalten noch vngestalten nit sicher mügen vor dir sein / weder auff den hohen schlossen oder bergen / noch in den tuͤffen toͤlern / vnnd lag allso zubetrachten die gewißhait des tods / vnd die vngewißhayt sines kommens (504,26 – 505,5). In der Konfrontation mit der existentiellen Bedrohung durch den Tod realisiert Fortunatus zwar die diesbezügliche Nutzlosigkeit des Geldes, im Gegensatz zu anderen Handlungssituationen problematisiert oder bereut er seine Wahl an dieser Stelle aber gerade nicht. Seine ursprüngliche Entscheidung, die er mit-
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Reichtum und gegen Weisheit entschieden hat. Auf diese Weise wird eine zentrale Stelle des Romans insofern ambiguisiert, als die Vorenthaltung seiner Motive zu einer Relativierung bzw. Abschwächung der im Pro- und Epilog angestellten Problematisierung der Entscheidung gegen Weisheit führt: Ob Fortunatus sich tatsächlich gegen Weisheit entschieden hat, weil er ym dotzumal in seinr iugent / vmb freüd vnnd wollust willen / der weltt reichtumb vnd guͤt am maysten liebet vnd geuiele (579,31– 580,3) und dabei seinem frechen torechten gemuͤt (580,9 – 580,10) gefolgt ist, wird nämlich nicht konkretisiert. Die Restriktion der Innenweltdarstellung dient an dieser Stelle also der Verrätselung und Veruneindeutigung einer zentralen, sowohl für die Handlungsstruktur als auch für ein Gesamtverständnis der Erzählung relevanten Szene.⁷⁹ Die unterschiedlichen Techniken der Innenweltdarstellung und die damit einhergehenden Differenzen in der Informationsvergabe dienen im Fortunatus somit sowohl der Charakterisierung der Figuren als auch der Verrätselung und Ambiguisierung handlungsrelevanter Szenen.⁸⁰ Eine solche Ambiguisierung kann allerdings nicht nur aus genannten Restriktionen der Innenweltdarstellung resultieren, sondern grundsätzlich auch durch die Präsentation von Bewusstseinsinhalten erfolgen; in der Regel werden die häufig Geschehensdeutungen enthaltenden Innenweltdarstellungen dabei mit anderen narrativen Verfahren kombiniert, wie etwa einer stärker profilierten Erzählstimme oder kommunikativer Figurenrede. So können die über Introspektion vermittelten figuralen Interpretationen über einen Erzählerkommentar⁸¹ oder über abweichende Deutungen von anderen Figuren konterkariert werden; auch kann eine Figur zwei potentielle Erklärungen für ein Ereignis formulieren, wobei die Bewusstseinsdarstellungen dabei häufig von Sequenzen in direkter Rede begleitet werden.⁸²
unter explizit als Fehler beurteilt, wird nicht einmal thematisch, sondern er scheint vielmehr die Sinnlosigkeit seines Reichtums bloß nüchtern zu konstatieren. Eine Reflexion, ob und wie sich jene existentielle Bedrohung im Falle einer Entscheidung für Weisheit dargestellt hätte, stellt er im Unterschied zu anderen bedrohlichen Situationen nicht an. Vgl. zu der Relativierung des scheinbar eindeutigen Konnexes von falscher Wahl und tragischem Ende auch die Ausführungen weiter unten Kap. 3.2.2 sowie Kap. 3.2.3. An dieser Stelle wird demnach, wie oben erwähnt, eine Technik der Innenweltdarstellung – ihre Restriktion – für eine spezifische Form der Handlungsmotivierung, nämlich ihre Veruneindeutigung, eingesetzt. So etwa bei der erwähnten Annahme der Zofe Agripinas, die das Erscheinen des als Arzt verkleideten Andalosia als göttliche Fügung interpretiert, obwohl dessen Verkleidung zuvor ausführlich beschrieben wird (vgl. 541,28 – 542,11). Vgl. zu diesem Aspekt die oben skizzierten Deutungen von Agripina und Andalosia über Wachstum und Heilung der Hörner.
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Im Hinblick auf die ursächliche Erklärung für ein situationsspezifisches Verhaltens- oder Deutungsmuster erweisen sich dabei solche Innenweltdarstellungen als zentral, die subjektive Erinnerungen zum Gegenstand haben, welche sich wiederum je nach Situationskontext als äußerst selektiv und fragmentarisch erweisen. So wird etwa Fortunatusʼ Erinnerung an den Mordprozess und die Hinrichtung des Hauses Roberti als Begründung für seine Angst vor einer drohenden tödlichen Strafe ob des erschlagenen Wirts angeführt: Mehr als die anderen ist Fortunatus verängstigt, wann der selb wißt wie es ym vor gangen was zu Lunden / do der edelman in ainem hauß ermort ward / dabey er nit gewesen was / kain schuld daran hett / vnd ym gantz vnwissent was (459,18 – 459,21). Im Gegensatz zu diesen erinnerten Geschehnissen ist er bei dem Totschlag des Wirts allerdings anwesend und gerade nicht unwissend;⁸³ die Erinnerung scheint aufgrund dieser individuellen Mitwisserschaft gewissermaßen die Angst vor Bestrafung zu potenzieren und führt zu einer spezifischen Wahrnehmung und Deutung des sich ereignenden Geschehens. Neben den erwähnten Limitierungen von Innenweltdarstellung ist also vor allem auch die spezifische inhaltliche Dimension, der Gegenstand des jeweils repräsentierten Bewusstseins, äußerst relevant; dies gilt sowohl für die Konstruktion ambivalenter Textarrangements insgesamt als auch für die Figurencharakterisierung. Dabei spielen nicht nur subjektive Erinnerungen, sondern auch Überlegungen über das eigene Handeln und dessen mögliche Konsequenzen sowie Reflexionen über die eigene Außenwahrnehmung eine Rolle. Auch wenn solche Bewusstseinsdarstellungen bei Fortunatus nur vereinzelt auftreten, lassen sich an ihnen spezifische Merkmale und Eigenschaften der Figur ablesen; sie sind in ihrer Relevanz für ihre Profilierung und eine Bewertung des erzählten Handelns somit nicht zu unterschätzen und müssen – vor allem auch im Hinblick auf die weiteren hier zu untersuchenden Erzählungen – als wesentliche Technik einer nicht typisierenden, auf Komplexität zielenden Figurengestaltung identifiziert werden. Einer derartigen Komplexitätssteigerung dienen beispielsweise solche Bewusstseinsdarstellungen, die die Figur in für sie extremen Situationen transparent machen, wie etwa in den Passagen um den Diebstahl des Säckels oder Lüpoldusʼ Totschlag des Wirts.⁸⁴ Von besonderer Relevanz sind darüber hinaus
Vgl. zur Betonung von Fortunatusʼ Abwesenheit und Unwissenheit bei den Ereignissen um Andreans Mord 416,6 – 416,14 und 421,69. Hier wird Fortunatusʼ Bewusstsein relativ ausführlich präsentiert: Nachdem er feststellt, dass auch sein Säckel abgeschnitten wurde, werden der dadurch verursachte Schrecken und die auch körperlichen Auswirkungen sehr deutlich inszeniert: mügen ir wol gelauben das er ser erschrack ja er erschrack so ser das er nider sanck vnd ym geswand / vnd lag glich sam er tod waͤr […]. Nun
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solche Reflexionen, in denen Figuren ihre künftigen Handlungen und deren potentiellen Erfolg oder Misserfolg abwägen, wie beispielweise in der Überlegung Fortunatusʼ, die er im Anschluss an Lüpoldusʼ Ermordung des Wirts anstellt: Hätte er einen guten Freund, könnte er diesem bei einer Gefangennahme sein Säckel anvertrauen, so dass jener sie in der Folge auslösen und befreien könnte; unmittelbar im Anschluss – vnnd als er ym das gedacht het / Gedacht er jm wider (460,9 – 460,10) – verwirft er diese Überlegung, deren Status als bloß optionale Handlung – schließlich hat er keinen solchen Freund – durch den Konjunktiv angezeigt ist, da er weiß, dass ein jeder das Säckel für sich behalten wollte. Auch hier antizipiert Fortunatus das sich potentiell ereignende Geschehen, wobei die Verwendung des Indikativs auf die größere Wahrscheinlichkeit einer Realisierung des Vorgestellten hinweist: wem ich den seckel gib dem wirt er so lieb das er yn mir nitt wider gibt / vnnd wirt dem richter grosse schanckung thGn / das er eyle vnnd vns radprech / vnd das / das groß mordt nit vngerochen bleyb / vnd sagen / schand vnd laster waͤr es wenn man sagte daz die gest den wirdt ermort heten vnd die nit solten geradprecht werden (460,10 – 460,15).
Konsequenz dieser Antizipationen ist dann die Einsicht – vnnd fand also in ym selb (460,15 – 460,16) –, dass es nicht ratsam wäre, das Säckel von sich zu geben (vgl. 460,1– 460,17). An solchen Überlegungen zeigt sich ein Merkmal der Figur, das sich als strategisches Handlungskalkül beschreiben ließe, sofern Fortunatus mögliche Begleitumstände zukünftiger Handlungen antizipiert, ihre potentiellen Folgen gezielt abwägt und daraus Konsequenzen für sein gegenwärtiges Handeln zieht. Pointiert wird ein solch taktisches Vorgehen in der Entscheidung, einen Erben zu bekommen. Fortunatusʼ Eigenschaft, zielorientiert zu handeln und seine eigenen Interessen durchzusetzen, wird narrativ über den Wechsel von Psychonarration und Figurenrede inszeniert: Während er Cassandra zu verstehen gibt, dass er so gern erben von ir überkommen wolte (481,12– 481,14), informiert eine Psychonarration über sein tatsächliches Motiv, welches er Cassandra gerade nicht offenbart: wann er wol wißt das die tugent des seckels / sein krafft verlieren wurd / wo er nit eelich leiberben überkaͤme doch sagt er es cassandra nit (481,10 – 481,13). Über
forcht fortunatus so der seckel ab geschniten waͤr / das er die tugent verloren het / vnd torst nit darein greiffen vor den leütten / wann ym layd waͤr geweßen das ain mensch die tugent des seckels gewißt hett forcht er wurde vmb das leben mit dem seckel kommen (452,3 – 453,10). Auf ganz ähnliche Weise wird auch Fortunatusʼ Klagemonolog nach Lüpoldusʼ Totschlag des Wirts eingeleitet, nämlich mittels einer Gefühlsdarstellung: do das fortunatus hort / mügt ir wol gelauben das er würßer erschraͤck / dann all sein tag ye (459,4– 459,6).
3.2 Narrative Verfahren der Ambivalenzerzeugung im Fortunatus
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die Kombination von Bewusstseinsdarstellung und kommunikativer Figurenrede wird somit das Fortunatusʼ Handeln leitende Kalkül als charakteristisches Merkmal der Figur akzentuiert.⁸⁵ Die Bewusstseinsdarstellung spielt dabei insofern eine zentrale Rolle, als sie über Fortunatusʼ tatsächliche Intention informiert; die Diskrepanz zwischen dieser und der gegenüber Cassandra artikulierten Begründung verweist auf die Möglichkeit der grundsätzlichen Differenz zwischen subjektiver Motivation und gegenüber anderen Figuren geäußerter Handlungsabsicht. Eine solche Differenz kann damit prinzipiell auch für Handlungssituationen angenommen werden, in denen die tatsächlichen Beweggründe nicht via Introspektion zugänglich gemacht werden, und muss damit auch für die oben genannte Entscheidungsszene zumindest in Betracht gezogen werden. In solchen, ein intentionales und taktisches Handeln suggerierenden Bewusstseinsdarstellungen kann darüber hinaus die Neigung von Figuren thematisch werden, ihre jeweilige Außenwahrnehmung gezielt zu steuern. So wird etwa über eine kurze Bewusstseinsdarstellung Fortunatusʼ Erkenntnis seiner positiven Wirkung auf den Grafen von Flandern präsentiert, um die Figur daraus sogleich Handlungen ableiten zu lassen, die diese positive Wahrnehmung verstärken: Darab der graf ain groß wolgefallen het vnd yn lieb gewan. Das marckt fortunatus vnd flysse sich ye lenger ye baß seinem herren zG dienen. Er was alweg der loͤtst von
Eine Pointierung dieser Figureneigenschaft findet sich auch in der narrativen Inszenierung von Fortunatusʼ Diebstahl des Hütleins: Auch hier wird über Bewusstseinsdarstellung (Soliloquium) und direkt anschließender Figurenrede das taktische Verhalten der Figur offenbart, wobei das strategische Kommunikationsverhalten der Figur als Folge ihres Bewusstseinsinhalt erzählt wird: fortunatus gedacht o moͤchte mir das huͤtlin werden / es fuͤget fast wol zu meinem seckel. […] Vnd sprach damit zu dem künig / ich hab darfür / so das huͤtlin so grosse krafft hat / das es auch fast schwaͤr sey / vnd ainen übel trucken soll der es auff hatt. Der künig sprach / es ist nit schwaͤrer dann ain ander hGt / vnd hyeß jn sein pareet abthGn / vnd satzt ym das huͤtlin selbs auff vnd sprach / ist es aber war das es nit schwaͤrer ist dann ain ander hGtt. Er sprach / sicher ich het nit gemainet das es so leüchtt waͤre / noch ir so thoret das ir mir den hGtt hetten auffgesetzt / vnd in dem wünschet er sich in sein gallee zu seinem volck (497,5 – 497,17). Handelt es sich hierbei um die aktive Durchsetzung der eigenen Interessen, wird ein solches Handlungskalkül an anderer Stelle auch als Reaktion auf ihm Widerfahrenes, nämlich auf die Missgunst der anderen Kaufleute, die seine Bevorzugung durch den Sultan mithilfe der Bestechung des Admirals verhindern wollen, erzählt. Hier wird dies allerdings durch eine Kombination aus Psychonarration (erzählte Wahrnehmung) und in Erzählerrede wiedergegebener Handlungsbeschreibung realisiert: Auf die Erkenntnis der Figur – Des ward aber fortunatus innen daz sy yn also haßten / vnd vermainten ym durch solliches das lannd zuerlaiden / das er nit mer solt lust haben dahyn zufaren (487,23 – 487,25) – folgt die ausführliche Beschreibung seiner daraus gezogenen Handlungskonsequenz: Was thet aber fortunatus wenn ym die vier nacion das ist venediger jenueser florentiner vnnd Cathelonier die zusamen gelegt hetten / vnd dem admiraldo zehen ducaten schankten / so schanckt Fortunatus allain dreymal souil (487,25 – 487,29).
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ym / vnnd am morgen der erst bey ym das marckt der herr an ym (393,18 – 393,22). Fortunatusʼ strategisches Handeln, dargestellt über eine Kombination von Psychonarration und in Erzählerrede wiedergegebener Handlungsbeschreibung, fokussiert somit auf die Überzeugung des Grafen von seinen Qualitäten und kann damit als intentionales, seine Außenwahrnehmung steuerndes Agieren verstanden werden. Eine spezifische Rezeption der eigenen Person strebt auch Andalosia in der Werbung um Agripina an. In dem Wissen um seinen nicht angemessenen sozialen Stand reflektiert er die Möglichkeiten, wie er Agripina trotzdem für sich gewinnen könne, und leitet daraus seine Handlungen ab: so ich aber nit so hoch geborn byn / so kan ich dannocht nit lassen ich mGß ir hold sein / vnd vmb ir liebe werben mir geschech recht wie got woͤll / vnd fieng erst an fast zu stechen vnnd andere ritter spil tzu uͤben wann er wol wißt wenn man solichs thet das die künigin vnnd ir tochter zu lGgtten / darumb er gar grossen vleiß thet eer zubeiagen (517,12– 517,18).
Dass derartige taktische Überlegungen und die daraus abgeleiteten Handlungen ein charakteristisches Merkmal auch der Andalosia-Figur sind, zeigen die Episoden über den Verlust und Wiedergewinn der Zaubergegenstände, in denen solche Reflexionen besonders akzentuiert sind. Neben oben genanntem Soliloquium zeigt sich dies etwa in der Überlistung Ampedos,⁸⁶ der Verheimlichung der
Nachdem Agripina das Säckel entwendet hat und Andalosia zu seinem Bruder zurückgekehrt ist, bittet er jenen um die Aushändigung des Hütleins, um mit dessen Hilfe den verlorenen Zaubergegenstand zurückzugewinnen. Ampedo schlägt dieses Ansinnen ab – so du vns vmb das gGtt bracht hast / so woltestu vns auch vmb das huͤtlein bringen / […] so laß ich dich es nit hynweg fuͤren (530,16 – 531,2) –, möchte ihm aber kurtzweil darmitt (531,2) gewähren. Auf diese in direkter Figurenrede wiedergegebene, recht eindeutige Position Ampedos folgt nun eine Innensicht Andalosias, in der diese Verweigerung noch einmal eigens erwähnt und zur Ursache der daraus abgeleiteten, zunächst nur gedanklich antizipierten, später dann tatsächlich realisierten Handlung wird: Vnd als nun Anndolosia verstGnd das ym sein brGder nitt vergunnen wolt das huͤtlin mit ym hynweg zufuͤren / gedacht er / so wil ich on seinen gunst daruon . vnd sagt zu Ampedo seinem brGder / nun mein getrewer lieber brGder / so ich übel gethon hab / will ich fürbaß leben in deinem willen. vnd schicket also die knecht in den forst das sy solten ain geiaͤg anrichten / so wolt er zu ynen kommen / vnd sy nun hinweg waren / sprach Andalosia / lieber brGder leich mir vnnser huͤtlin ich will in den forst / der brGder was willig vnd bracht ym das huͤtlin / so bald er das het / lyeß er den forst vnd die iaͤger ir ding schaffen vnd kam mitt dem huͤtlin gen janua (531,3 – 531,14). Aus der Erkenntnis folgt also eine Absicht, die in der Folge in Handlung umgesetzt wird; die Kombination von über die Intentionen der Figur informierender Bewusstseinsdarstellung und direkter Figurenrede dient auch hier der Pointierung von Andalosias Bestreben, die eigenen Interessen durchzusetzen.
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tatsächlichen Geschehnisse gegenüber seinem Bruder⁸⁷ oder in der Beschenkung der Zofen Agripinas⁸⁸. Zielen solche Bewusstseinsdarstellungen und das aus ihnen abgeleitete Figurenhandeln im Kontext der Schwankhandlung insgesamt auf einen positiven Rezeptionseffekt, können die sich in ihnen manifestierenden – aber auch viele weitere Handlungen der Andalosia-Figur kennzeichnenden – Verhaltensweisen, nämlich strategisches Handlungskalkül sowie das Bestreben, die eigenen Interessen durchzusetzen,⁸⁹ grundsätzlich auch für eine Problematisierung figuraler Eigenschaften und Handlungsweisen funktionalisiert sein. In einem solchen Fall können die derart thematisierten Figurenmerkmale in Konkurrenz zu impliziten normativen Paradigmen treten, sie können mit positiven Eigenschaften anderer Figuren oder derselben Figur kontrastiert werden und somit ein in moralischer Hinsicht ambivalentes Bild ergeben. Eine solche Funktionalisierung von jeweils strategisches Handlungskalkül präsentierenden Bewusstseinsdarstellungen für eine Problematisierung von Figurenmerkmalen wird im Fortunatus-Roman zwar nicht für eine Charakterisierung der Protagonisten eingesetzt, sie dient aber zuweilen der Konturierung von Nebenfiguren.⁹⁰ Wird
Die anhand einer Bewusstseinsdarstellung repräsentierte Überlegung Andalosias, in der er sich für eine Verheimlichung der tatsächlichen Geschehnisse gegenüber Ampedo entscheidet, zeigt die Neigung der Figur, das eigene Handeln strategisch zu reflektieren: Do andalosia die wort hort was er gar fro / vnnd gedacht ym / hette er [Ampedo] den seckel tzu seinen handen genommen so waͤre doch nit lang an gestannden / ich muͤßt yn wider darumb gebeeten haben. Allso hab ich yn sunst. Andalosia torst seinem brGder nitt sagen wie er so kostlichen klainat kaufft hett vnd die noch nit bezalt vnd das er vmb seckel / huͤtlein vnnd klainat alles ains mals kommen was / vnnd nicht meer hett / vnnd dartzu in ainer wildtnuß / da weder zu essen noch tzu trincken was / vnnd wie er yn tzu ym wünschet tzu erwürgen / vnd auch mich selber hon woͤllen erhangen Gedachtte ym / das will ich ym nicht sagenn / er moͤcht tzu tod erschreckenn / oder aber in ain großse kranckhait fallen (557,29 – 558,8). So beschenkt Andalosia die zwei Zofen Agripinas nur, weil er um ihre Beziehung zu Agripina weiß: Als aber agripina für was / nam er bald zwen schoͤn ring vnd schanckt die den zwayen alten kamermaisterin / die er wol wißet staͤts bey Agripina wonen / vnnd ires radtes pflag (531,30 – 531,33). Nach Reuvekamp 2014, 121 ff., werden solche Figureneigenschaften bereits bei Andalosias Geburt als ihn auszeichnende Merkmale anhand seiner Charakterisierung durch den Erzähler als frech fest etabliert, wobei dieses Adjektiv „ihn und seinen Handlungsteil wie ein Epigramm überschreibt“ (121): „Tatsächlich entsprechen eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, die Andalosia im zweiten Romanteil an den Tag legt, den oben beschriebenen Verwendungsweisen von frech.Willen und Potenz, die eigenen Bedürfnisse gegen Beschränkungen und Regulierungen von außen durchzusetzen, kennzeichnen beinahe die gesamte Andalosia-Handlung. […] Egal in welchen Handlungsraum oder in welche gesellschaftliche Konstellation Andalosia im Weiteren eintritt, zielt sein Agieren allein darauf, die Machtverhältnisse zu seinen Gunsten zu verschieben und die Regeln des sozialen Raumes zu bestimmen.“ (122) So etwa der Andreans: Bereits zu Beginn der Episode wird Einblick in seine Überlegungen gewährt, die er infolge seines finanziellen Ruins und seines öffentlichen Reputationsverlustes
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eine solche figurale Ambiguisierung hingegen für eine Darstellung des Protagonisten genutzt, ist der Effekt – Komplexität und Vielschichtigkeit – umso stärker ausgeprägt. Blickt man nun zusammenfassend auf die Besonderheiten der Innenweltund Bewusstseinsdarstellung im Fortunatus, lässt sich folgendes festhalten: Trotz einer prinzipiellen Zugänglichkeit der Figuren für Introspektion zeigen sich in der Erzählung immer wieder Sequenzen, in denen die mentale Innenwelt, und hier insbesondere die von Fortunatus, nicht oder nur eingeschränkt transparent wird. Werden Bewusstseinsdarstellungen allerdings inseriert, dienen sie sowohl bei Andalosia als auch bei Fortunatus zunächst der Motivierung und Plausibilisierung des Figurenhandelns, wobei sich jedoch enorme Differenzen hinsichtlich Quantität und Informationsgehalt beobachten lassen. Die unterschiedlichen Techniken der Innenweltdarstellung und Informationsvergabe wirken sich dabei anstellt und die ihn – vor allem auch im Kontext der einleitenden Erzählerwertungen (vgl. 409,7– 409,22) – als eigennützige und strategisch agierende Figur ausweisen, plant er doch er wolt gen florentz / da funde er etwann ain alte witwen / mit der er sich reyssen woldt (409,23 – 409,24). Vor allem seine folgenden Handlungen, mit denen er die sich ihm jeweils bietenden Situationen geschickt zu seinen Vorteilen auszunutzen weiß, weisen diese erste Introspektion retrospektiv als zentral für die Figurencharakterisierung aus; die auf diese Weise etablierte Negativzeichnung Andreans wird wiederum durch solche Innensichten verstärkt, in denen seine moralische Defizienz ausgestellt wird, so etwa in der Erwähnung seines Schreckens über die eigene Tat, die er aber nur deshalb problematisiert, weil sie nicht zum gewünschten Erfolg, nämlich zum Besitz der Schmuckstücke führt: Andrean erschrack ser das er so ain boͤße sach gethan het / vnnd ym aber die klainat nit worden waren / wann er wolt gleich darmitt daruon sein (414,12– 414,14). Figureneigenschaften wie strategisches oder auf einen eigenen Vorteil bedachtes Handlungskalkül führen im Fall Andreans aufgrund ihrer Konkurrenz zum impliziten Normhorizont der Erzählung – wie er durch die erwähnten einführenden, aber vor allem auch begleitenden Erzählerkommentare (vgl. 415,3 – 415,4; 415,12– 415,13; 416,3) für diesen Kontext etabliert ist – also zu einer negativen Figurenzeichnung. Bei Agripina erweisen sich jene Eigenschaften insbesondere über den Kontrast zur positiven Andalosia-Figur als problematisch; auch hier werden sie für eine spezifische Figurencharakterisierung funktionalisiert: Auch ihr Handeln ist als überaus strategisches zu bezeichnen und auch hier wird dies vor allem über Bewusstseinsdarstellungen sinnfällig gemacht. Besonders pointiert zeigt sich ein solches, auf die eigenen Interessen bedachtes Handlungskalkül in jener Szene, in der sie die Kräfte beider Zaubergegenstände durchschaut, sich selbst für den Verlust derselben tadelt, sich dies aber gerade nicht anmerken lässt: Darbey Agripina wol mercken kund / das ym das huͤttlin auß der massen lieb was / vnnd durch krafft des huͤttlins sy allso zway mal weg gefuͤret was worden / grißgramet in ir selbs vnd gedacht ir / nun hastu die baide klainat in deinem gewaltt gehebt vnd hast sy nit künden behaltten / vnd torst iren zoren Anndolosia nit lassen mercken / dann sy fieng an vnnd bat yn gar früntlich / das er sy der hoͤrner gar ledig machte vnd sy irem vater wider haim fGrte (553,26 – 554,2). Insbesondere im Kontext der langen Redesequenzen Andalosias, in denen er sie für ihre Untreue, ihren Betrug und ihre Erbarmungslosigkeit schilt (vgl. 551,22– 552,24; 553,4– 553,7; 553,12– 553,17), pointiert diese Introspektion die moralische Ambivalenz der Agripina-Figur.
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sowohl auf die erzählinterne als auch rezeptionsseitige Figurenwahrnehmung und Sympathiestruktur aus, so dass sie als zentrales Verfahren der Figurencharakterisierung verstanden werden können. Dies lässt sich mit Blick auf die jeweiligen Bewusstseinsinhalte insofern untermauern, als diese in der Etablierung zentraler Figurenmerkmale – wie etwa strategisches Handlungskalkül oder aber die Fähigkeit zur Reflexion der Außenwahrnehmung – einer stärkeren Konturierung und Profilierung der Figuren dienen. Zugleich können einzelne Bewusstseinsdarstellungen, vor allem in Kombination mit anderen narrativen Verfahren, für die Ambiguisierung einzelner Szenen fruchtbar gemacht werden; dies ist etwa dann der Fall, wenn anhand von Introspektionen divergierende Geschehensdeutungen aufgezeigt werden, die durch explizite Erzählerkommentare oder Sequenzen in direkter Figurenrede konterkariert werden. Aufgrund dieser vielfältigen Funktionen, die den Innenwelt- und Bewusstseinsdarstellungen im Fortunatus zukommen, geraten vor allem die partiellen Einschränkungen in den Blick, die die Erzählung insbesondere für die mentale Innenwelt ihres Protagonisten vornimmt. Solche Restriktionen können sowohl längere Sequenzen, in denen die Darstellung der Figur auf die Außenperspektive beschränkt ist, als auch einzelne Momente im Kontext eines sonst zugänglichen Bewusstseins kennzeichnen. Auch die Limitierung von Innenweltdarstellung bzw. ihr nur selektiver Einsatz dient dabei der Charakterisierung des Protagonisten,⁹¹ und dies im Sinne einer sowohl die erzählte Welt und ihr Personal als auch die Rezeptionsseite betreffenden erschwerten Zugänglichkeit und Annäherung an die Figur. Neben dieser Funktionalisierung für die Figurendarstellung wird die nur selektive Nutzung von Bewusstseinsdarstellung auch für die Verrätselung handlungsrelevanter Szenen dienstbar gemacht, sofern über tatsächliche Motive und Handlungsintentionen nicht informiert wird, obwohl diese an anderen Stellen zum Gegenstand umfangreicher Reflexionen werden. Mit diesen Aspekten sind nun die zentralen Funktionen angesprochen, die den Innenwelt- und Bewusstseinsdarstellungen sowie auch ihren Restriktionen nicht nur im Fortunatus, sondern auch in den hier zu untersuchenden Erzählungen zukommen. In der Melusine dienen die einzelnen Bewusstseinsdarstellungen, insbesondere der Reymund-Figur, etwa häufig der Motivierung und
Mit Hübner 2003, 61, sei darauf hingewiesen, dass solche Innensichtrestriktionen vor allem in Kombination mit anderen narrativen Verfahren einer Charakterisierung der Figuren dienstbar gemacht werden: „Die Filterung via Innensichtselektion ist in das schon im höfischen Roman höchst komplizierte Gefüge der Figurencharakterisierung eingebunden, das außerdem vor allem vom nichtsprachlichen und sprachlichen Handeln der Figuren und von Erzählerwertungen determiniert wird. Wie man immer wieder bemerkt hat, handelt es sich um eines der wichtigsten Instrumente der Sympathiesteuerung.“
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Plausibilisierung ihres Handelns; zugleich präsentieren sie zum Teil sehr umfangreiche Reflexionen über ihr weiteres Vorgehen; auch werden subjektive Deutungen eines Geschehens thematisch, wobei gerade Erinnerungen an vergangene Ereignisse sowie ihre situationsspezifische Neubewertung und Funktionalisierung eine besondere Rolle spielen. Im Apollonius werden Introspektionen insbesondere für eine Charakterisierung des Protagonisten eingesetzt; häufig beinhalten sie Reflexionen der Figur über ihr weiteres Vorgehen und pointieren ihr beständiges Bestreben, künftiges Handeln strategisch zu planen; weitaus stärker als im Fortunatus lassen sich dabei solche Introspektionen beobachten, in denen die eigene Außenwahrnehmung sowie eine diese begünstigende Selbstdarstellung reflektiert werden. Neben solchen Bewusstseinsdarstellungen spielen in beiden Erzählungen vor allem auch die Restriktionen von Innenweltdarstellung eine zentrale Rolle, wobei der jeweilige Grad der Limitierung durchaus variieren kann: Während in der Melusine jene, die Darstellung der Fortunatus-Figur zeitweilig kennzeichnende Beschränkung auf die Außenperspektive zum erzählerischen Programm erhoben wird, findet sich im Apollonius die ebenfalls für Fortunatus eingesetzte nur partielle Restriktion von Innensichten in einzelnen Szenen. In beiden Fällen dienen diese Einschränkungen der Zugänglichkeit der mentalen Innenwelt einer weitreichenden Charakterisierung und zuweilen auch Ambiguisierung der Figuren; zugleich werden sie auch hier eingesetzt, um einzelne Szenen zu ambiguisieren bzw. um Mehrdeutigkeit gezielt auszustellen. Die nur selektive Inserierung von Bewusstseinsdarstellungen bzw. ihre gänzliche Verweigerung spielt somit für die Konstruktion ambivalenter Textarrangements sowie ebensolcher Figuren in den vorliegenden Erzählungen eine zentrale Rolle. Blickt man auf die einzelnen Funktionen sowohl der Innenweltdarstellungen als auch ihrer Restriktionen unabhängig von ihrem jeweiligen narrativen Kontext, können sie durchaus mit dem in der rhetorischen Reflexionstradition formulierten Funktionskonzept, nämlich der „Handlungsplausibilisierung und parteiische[n] Rezeptionslenkung“⁹² identifiziert werden, sofern die Erzählungen zum einen anhand von Innensichten „das Handeln von Figuren als Konsequenz erzählter Wahrnehmungen, Affektionen und Reflexionen ausweisen“⁹³, zum anderen in ihrer partiellen Beschränkung eine spezifische Informationsstruktur und damit Rezeptionssteuerung etablieren. Für die Konstruktion von Ambivalenz spielt aber gerade das narrative Gesamtarrangement, die Kombination verschiedener Erzählverfahren, eine zentrale Rolle, denn die Erzählungen greifen im Kontext jener differenzierten Verfahren der Innenwelt- und Bewusstseinsdar-
Hübner 2011, 201. Hübner 2011, 201.
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stellung auf weitere narrative Techniken zurück, die der eigentlich plausibilisierenden Funktion entgegenwirken. Wie bereits angedeutet, ist in diesem Zusammenhang zum einen die spezielle Inszenierung von kommunikativer Figurenrede, wie sie sich in Dialogstrukturen, einem spezifischen Kommunikationsverhalten oder einem strategischen verbalen Agieren manifestieren kann, zum anderen die Profilierung der erzählenden Instanz von besonderer Bedeutung. Diese soll im Folgenden näher betrachtet werden.
3.2.2 Stimme und evaluative Struktur Fokalisiertes Erzählen im von Hübner beschriebenen Sinne kennzeichnet im Gegensatz zu modernem personalen Erzählen nie die gesamten Erzählungen, sondern ist meist auf bestimmte Episoden oder Sequenzen beschränkt.⁹⁴ Aufgrund der Differenz der diesen Konzepten zugrundeliegenden Mimesiskonventionen unterscheiden sich beide Erzählformen auch hinsichtlich ihrer Relation zur Erzählerstimme. Denn während der auktorialen und kommentierenden Erzählstimme aufgrund moderner Realismuskonventionen im Rahmen einer personalen Erzählsituation kein funktionaler Ort zugestanden wird – dies „beruht jedoch auf einer ästhetischen Norm, nicht unbedingt auf einer narratologischen Notwendigkeit“⁹⁵ –, schließt das Erzählen aus der Perspektive einer Figur in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten die Profilierung einer Erzählstimme, die das Geschehen kommentiert und bewertet, keineswegs aus.⁹⁶ In den Ausführungen zu den Verfahren der Innenwelt- und Bewusstseinsdarstellung wurde die prominente Rolle des Erzählers bereits angedeutet; neben expliziten Kommentaren ist prinzipiell vor allem auch die Relation und Positionierung der Erzählinstanz zu dem wiedergegebenen Figurenbewusstsein relevant: So kann die Stimme in der Präsentation des Bewusstseins etwa präsent oder zurückgenommen sein; auch kann der Grad der jeweils eingenommenen Distanz zum dargestellten Bewusstseinsinhalt variieren, je nachdem, ob sich die erzählende Instanz kritisch oder zustimmend – oder mit Hübner: dissonant oder konsonant –
Vgl. Hübner 2011, 202. Hübner 2004, 132. Vgl. Hübner 2004, 131 ff.; Hübner 2011, 202. Eine Übersicht über die zentralen Arbeiten zur erzählenden Instanz in der Geschichte der narratologischen Theoriebildung und eine Diskussion ihrer Anwendbarkeit auf vormoderne Erzähltexte liefert Plotke 2017, 19 – 62. Vgl. zur aktuellen Beschäftigung mit der erzählenden Instanz/dem Erzähler im Rahmen moderner Erzähltextanalyse: Schmid 2005, 72– 99; Schmid 2011, 38; Igl 2018.
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zu dem präsentierten Standpunkt verhält.⁹⁷ Je nach Typ der Bewusstseinsdarstellung tragen die verschiedenen Ausprägungen dieser Kategorien einen stärkeren oder schwächeren Fokalisierungseffekt.⁹⁸ Im vorliegenden Kontext sind dabei nur solche Konstellationen von Interesse, in denen die Erzählstimme in der Darstellung des Figurenbewusstseins präsent ist und die somit einen weniger starken Fokalisierungseffekt tragen. Hierbei können explizite Bewertungen der präsentierten Bewusstseinsinhalte oder aber von diesen abweichende Deutungen und Interpretationen des Geschehens formuliert werden. Solche ausdrücklichen, meist dissonanten oder zumindest relativierenden Positionierungen der erzählenden Instanz finden sich im Fortunatus etwa dort, wo der Erzähler eine allgemeine Meinung oder die Annahme eines nicht weiter spezifizierten Kollektivs als unzutreffend markiert.⁹⁹ Daneben spielt aber auch die Inszenierung des Erzählers als solche eine Rolle: Nicht nur tritt er als die Erzählung vermittelnde und lenkende Instanz auf,¹⁰⁰ sondern es finden sich immer wieder Sequenzen – und dies
Vgl. zum Verhältnis von Erzählstimme und Bewusstseinsdarstellung Hübner 2003, 53 ff. Während Hübner mit den Begriffen ‚Dissonanz‘ und ‚Konsonanz‘ den Grad der Distanzierung der Erzählstimme von den jeweils präsentierten Bewusstseinsinhalten bezeichnet, fasst er die Präsenz der Stimme in der Wiedergabe von ebensolchen, wie sie sich etwa in der Verwendung von verba sentiendi manifestiert, als ‚analytische‘, die Zurücknahme derselben als ‚synthetische‘ Bewusstseinsdarstellung. Vgl. Hübner 2003, 53 ff. So entlarvt der Erzähler etwa den Glauben der Freunde, Theodorus habe mit der Heirat seinen ursprünglichen Lebensstil aufgegeben, als trügerischen: Darab seyne freünd / vnnd auch der braut freünd großs wolgefallen entpfyengend / vermaineten sy hetten ain gGt werck vollbracht / das sy Theodorum (der so wild was) mitt ainem weib allso zam hetten gemachet. Doch was ynen vnkund / was die natur an ir hat / das / das nicht wol zu wenden ist (388,29 – 389,4). In ganz ähnlicher Weise wird auch die allgemeine Annahme der Diener, Fortunatus sei ain walch (394,1), über einen erläuternden Erzählerkommentar korrigiert: vermainten all vmb daßs er welsch künd / er waͤre ain walch wie doch er auß zipern / vnd rechter geburd ain wolgeborner kriech was (393,30 – 394,2). Prägnant zeigt sich eine solche Konstellation, in der sich also die präsente Erzählstimme vom erzählten Figurenbewusstsein distanziert, auch in den Sequenzen um den Diebstahl des Säckels: Auf die Darstellung von Lüpoldusʼ Gefühlen bzw. der der Knechte – lüpoldus vnd die knecht erschracken vnd was yn layd vmb iren herren (452,6 – 452,7) – weist der Erzähler eigens auf den Wissensmangel der Figuren hin: sy wißten aber nit den grossen verlust so ir herr geton het (452,7– 452,8). Dies wird in der späteren Kommentierung von Lüpoldusʼ Unwissenheit noch pointiert, sofern ihr Objekt, das, was nicht gewusst wird, expliziert und zwischen zwei erzählte Wahrnehmungen gesetzt ist: Lüpoldus verstGnd die wort nit / wißet nit wie er die wal gehabt het vnder disen stucken allen / vnd fraget nit verrer / maint er wißt nit was er sagte also in der onmacht (453,27– 453,30). Der über eine Psychonarration vermittelte Wissensmangel wird folglich durch einen inserierten Erzählbericht konkretisiert. Vgl. etwa die Überleitung von den Ereignissen am Hofe des Grafen von Flandern zu Fortunatusʼ Erlebnissen (NVn lassenn wir den graffen mit seinen dienern / den da gantz vnwissend was /
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nicht nur im unmittelbaren Kontext der inserierten Introspektionen –, in denen der Erzähler explizit wertend und kommentierend hervortritt. So problematisiert und kritisiert er etwa die Handlungen und Verhaltensweisen einzelner Figuren, so etwa ausdrücklich bei Rupert¹⁰¹, Andrean¹⁰², dem Waldgrafen¹⁰³ oder aber Agripina, deren Umgang mit dem Wunschhütlein ihn zu folgender Äußerung veranlasst: Mügt wol gelauben / het sy die kraft des huͤtlins gewißt / sy het es an ainen andern nagel gehenckt (548,15 – 548,16). Besonders pointiert tritt eine solch kritische Kommentierung in den Episoden um Graf Theodorus und den Grafen von Lymosi hervor: Während der Erzähler beide Figuren bereits in ihrer Einführung deutlich als negativ kennzeichnet (vgl. 568,18 – 568,19), bewertet er vor allem ihre Begegnung und anschließende Kameradschaft anhand einer Sentenz explizit: Als man gemainklich spricht. Gleich vnd gleich gesellet sich gern / also beschach da auch Es fand ain schalck den andern (568,21– 568,23). In der Folge tritt der Erzähler
wie rGpert mit lugen vmbgangen was / vnd vernemen wie es fortunato fürbas gangen ist [405,2– 405,4]), jene im Anschluss an die Schilderung der Geschehnisse in Florenz, die allerdings an die Ereignisse in London anknüpft (NVn habend ir vor gehoͤret wie Fortunatus von Lunden kam / vnd in was not vnd angst er gewesen was. Nun hoͤrent wie es jm weiter gieng [426,24– 426,26]), oder aber den Hinweis auf den eigenen Erzähl- bzw. Schreibprozess bei der Schilderung der in Konstantinopel stattfindenden Feierlichkeiten und Fortunatusʼ Einkehr beim diebischen Wirt: vnd giengen alle tag vnd lGgten dem fest vnnd der grossen kostlichait zu / so dann da volbracht ward / daruon lang zu schreiben waͤr / doch so will ich fürbas schreiben wie es Fortunato gangen ist (450,14– 450,17; vgl. dazu auch 477,16 – 477,20; 514,3 – 514,6). Selbst wenn der Erzähler auf die eigene Unwissenheit oder Wissensbeschränkung hinweist, tritt er nichtsdestoweniger als vermittelnde Instanz in den Vordergrund, so etwa bei der Anmerkung über die Heimreise der zwei Jünglinge aus London: Sy sassen auff die Galee vnnd fGren wider haym on kauffmanschatz. vnd wie sy von iren vaͤtern enpfangen wurden daßs waiß ich nit / doch versich ich mich / sy wurden nit wol enpfangen / wann sy nit ain gGte rechnung haym brachten (408,1– 408,5). Nachdem Rupert mit seiner Lüge über die Pläne des Grafen Fortunatusʼ zur Flucht bewegt hat und sich in der Verabschiedung als trauernder Freund inszeniert – vnnd nam also vrlob von jm vnnd stalt sich gar klaͤglich / als ob er trauren wolt / Sprechend. die genad gottes vnd das rain hertz Marie der raynen magt / vnd der segen aller gotes hailigen / die woͤllen dich gelaiten / vnd in allen deinen geschaͤfften mit dir sein vnd dich vor allem hertzlaid behuͤtten (401,22– 401,27) –, verurteilt der Erzähler dieses Verhalten nachdrücklich: O was gGtter wort giengen da auß ainem falschen hertzen. O judas wie hast du souil erben hinder dir gelassen (401,28 – 402,1). Vgl. die Einführung der Figur durch den Erzähler (409,7– 409,19) sowie dessen Kritik, wie sie sich insbesondere über die Benennung als schalck (415,3; 415,13; 416,3) konkretisiert. Diese Bezeichnung findet sich auch in der Charakterisierung des diebischen Wirts, wird aber hier insofern relativiert, als trotzdem dessen Fähigkeit zu Mitleid und Barmherzigkeit erwähnt wird (vgl. 452,28 – 452,29). Mit dem Verweis auf die Unrechtmäßigkeit des Vorgangs kritisiert der Erzähler die Aneignung der Pferde durch den Grafen (vnd nam also die roß vnd gelt dem fortunato vnredlichenn ab / als man ir noch vil findet / die den leüten das ir nemen wider alle recht [436,20 – 436,22]).
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immer wieder hervor, um die Handlungen der beiden Figuren in Hinsicht auf das von ihnen eigentlich Intendierte als kontraproduktiv aufzuzeigen. So verdeutlicht er, dass die Annahme von Theodorus, er habe mit der Ermordung Andalosias nun rG (576,4) erlangt (vgl. die Psychonarration 576,6), seinen Absichten gerade nicht zuträglich ist: Ach got er wißt aber nit / das er es als übel geton hette (576,6 – 576,7). Während hier erneut die Unwissenheit einer Figur über die sich zu ihrem via Introspektion präsentierten Standpunkt dissonant verhaltende Erzählstimme markiert wird, wird dieser Wissensmangel in der Folge zum Gegenstand einer ausführlicheren Reflexion des Erzählers, in der er eine, der Realisierung ihrer Absichten förderlichere Handlungsalternative entwirft: wißten baid nit das der seckel die tugent vnd krafft verloren hett / so sy baid Ampedo vnnd Andolosia gestorben waren / das auch die tugentt des seckels auß was. Hetten sy es gewißt / so heten sy Andolosia in grossen eeren gehalten vnd ym guͤtlichen gethon / darmit er lang gelebt het / oder zu dem wenigesten ain truhen oder zwG / mit gold gefült / daran sy ir leben lang ain reiche zerung gehabt hetten (576,24– 576,31).
Nach der Hinrichtung der beiden Grafen spricht der Erzähler dann abschließend ein eindeutiges Urteil: das was ir rechter lon / sy hetten es wol verdienet an dem frommen andolosia (578,15 – 578,16). Neben einer solch offensiven Kritik korrigiert der Erzähler zum Teil auch die Ausführungen der Figuren bloß, indem er weitere Ursachen für ein Geschehen ergänzt: So kommentiert er den von Fortunatus artikulierten Dank gegenüber dem Sultan für die Geleitbriefe, ohne die er die rayß nit […] vollenden noch volbringen [mügen] (494,1– 494,2), folgendermaßen: Doch so mGß ich aynes dartzG sagen / fortunatus seckel was fast gGtt bey den briefen (494,2– 494,4). Im Kontext von derartigen subtilen korrigierenden Einschüben sind auch solche Äußerungen zu nennen, die auf vergleichbare Weise das Handeln der Figuren bewerten und dies zum Teil durchaus in moralischer, wenn auch zum Teil ironischer Hinsicht. So heißt es etwa über die Reaktion von Lüpoldusʼ Familie auf dessen erneute Abreise und die vorangehende Beschenkung durch Fortunatus: Mügt ir wol glauben daz weib vnd kind fast erfrewet wurden / vnd liessen jn dester lieber weg reitten (443,1– 443,3); eine ähnliche, die Orientierung an materiellen Werten pointiert ausstellende Bewertung findet sich auch in der Beschreibung von Cassandras Mutter, deren Kummer über Fortunatusʼ Wahl der jüngsten Tochter durch Bezahlung geheilt werden kann (vgl. 474,18 – 474,21). Dass es sich dabei um eine subtile Problematisierung einer solchen Neigung zur finanziellen Bereicherung handelt, zeigt sich nicht zuletzt im Vergleich mit Fortunatus, dessen Wertschätzung der von ihm auf seinen Reisen gesammelten Schmuckstücke den Erzähler dazu veranlasst, den ideellen Wert derselben für den Protagonisten eigens hervorzuheben: die het er nit lieb von des wegen des sy wert waren / sonnder das er sy selb alle mit
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seiner aignen person verdienet vnd gehollet het / Die er auch alle mit jm haym bracht vnnd sy für ainen eerschatz behielt (464,5 – 464,8). Im Hinblick auf solche evaluativen Erzählerkommentare lässt sich zum Teil auch die Tendenz beobachten, bei der Thematisierung problematischer Figurenmerkmale moralisierende Urteile oder Kommentare in die Rede von Figuren auszulagern. In einem solchen Fall können Figuren beispielsweise ein Verhaltensideal formulieren, das im Kontrast zu dem Handeln des Protagonisten steht, wobei diese Differenz durch den Erzähler eigens hervorgehoben wird. Darüber hinaus lässt der Status der ein normatives Urteil artikulierenden Figur zuweilen aufmerken, denn dieser steht teilweise im Gegensatz zu dem von ihr Gesagten. Diese Konstruktion zeigt sich etwa in der Schilderung von Fortunatusʼ Zeit in London: Der Erzähler berichtet hier ausführlich, wie es zum finanziellen Ruin von Fortunatus und seinen Gesellen kommt, und schreibt die Verantwortung für das Zustandekommen dieser desolaten Lage gerade nicht nur jener vnnutze[n] rott von bGben (405,30) zu: Diese, aber auch Fortunatus und seine Kameraden, lebten also in freüden / vnd wenn ainer ain schoͤnen bGllen über kam / so wolt der annder noch ain hübschere habenn / es kostete was es wolt / das triben sy bey ainem halben iar. Do begund es nachnen das sy nit vil bar gelt mer hetten. doch het ainer mer onworden dann der ander. […] FOrtunatus der hett am minsten / der ward auch am ersten gerecht. Er hat sine klainat vnd als onworden. deßgleichen die andern was sy zu Lunden geloͤßt hetten / was alles verthon mit schoͤnen frawen (406,4– 407,2).
Der Erzähler kritisiert ihr Verhalten hier zwar nicht explizit, impliziert aber durchaus eine diesem inhärente Problematik. Bemerkenswerterweise lässt er nun gerade einen jener bGben ein Verhaltensmuster artikulieren, das Fortunatusʼ Handeln nicht auszeichnet, das aber letztlich den vorangehenden, subtil wertenden Äußerungen des Erzählers entspricht: Der drit sprach zu fortunato. wie bist du ain narr / do du nit meer dann fünffhundert Cronen hettest / dass du sy nit an andere kauffmanschatz gelegt hast / dann dass du sy der torechten frawen angehencket hast / hettest du gemach gethon / sy waͤre bey dir gelegenn vmb ainen stotter (407,18 – 407,23).
Hier wird folglich die zuvor vom Erzähler geäußerte Problematisierung in der Position einer Figur zugespitzt, die gewissermaßen die kommentierende Funktion der Stimme zu übernehmen scheint. Dies hat den Effekt, dass die Schärfe der Kritik am Protagonisten durch die Verlagerung in Figurenrede abgeschwächt, aber trotzdem präsent gehalten wird. In einer ähnlichen Weise wird die Bewertung des Säckelraubs vorgenommen: Die vom Erzähler geäußerte Beurteilung der Situation – O Andolosia / wie was das so ein vngeleicher wechssel (524,11– 524,12) – wird
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vom englischen König gewissermaßen ausgeführt und akzentuiert: andolosia hat villeicht der seckel mer die sollich tugent hond wann wo er ir nit mer hat / so ist er wol ain torecht man / das er yn nit baß versorgt hat / dann das jn ain weibs bild darumb soll bracht haben (526,5 – 526,8). Während in diesen Figurenreden entweder eine spezifische Verhaltensalternative oder aber eine Verhaltenskritik formuliert wird, die auf Fortunatusʼ bzw. Andalosias individuelle Situation bezogen ist, finden sich auch solche Figurenreden, die in der Bewertung der Handlungsweise einer anderen Figur recht ausdrücklich evaluative Standpunkte artikulieren, die in ihrem Allgemeinheitsanspruch solchen Sentenzen und generalisierenden Kommentaren ähneln, die der Erzähler selbst zuweilen äußert¹⁰⁴ und die aus diesem Grund soeben genannter Funktion einer subtilen Diskussion von kritikwürdigen Verhaltensweisen der Figuren zu dienen scheinen. Ein derartiges Arrangement lässt sich etwa in den Dialogen zwischen Andalosia und Ampedo sowie Andalosia und dem Eremiten beobachten. Im Kontext der vorangehenden Problematisierung von Andalosias Verhalten durch Erzähler und englischen König liefern die Äußerungen der beiden Figuren eine – für das ansonsten nicht ausdrücklich kritisierte Verhalten Andalosias – gleichsam zweite Lesart: Während Ampedo seinem Bruder die Bitte um den Erhalt des Hütleins mit der Sentenz, man sagt wer sein gGt verlürt der verleürt auch die sinn (530,14– 530,15), abschlägt, damit in Bezug auf Fortunatusʼ ‚Sinnesverlust‘ eine in der erzählten Welt durchaus Wahrheit beanspruchende Maxime und somit eine zumindest potentielle Deu-
Der Erzähler artikuliert verschiedentlich solche generalisierenden, über den Horizont der erzählten Welt hinausgehenden Kommentare, etwa wenn er auf allgemeine Gewohnheiten referiert: So bei der Hochzeit von Theodorus und Graciana (als gemainklich gewonhait ist / das reich leüt ire reichtumb vnnd herrlichaitten in sonderhait auff solliche tzeit beweisen vnd erscheinen lond [388,23 – 388,26]), der Erläuterung der englischen Tischsitten (Als dann der englischen gewonhait ist das sy bey zway stunden tischen / besonder wenn sy gest haben [412,28 – 412,30]) oder des Zusammenhangs von Weingenuss und Schlafgewonheit (als och gemainglich geschicht das die menschen auff wol trincken starck vnd bald entschlaffen [457,24– 457,26]) sowie auch bei der Äußerung über die Willkommenskultur an herrschaftlichen Höfen (als noch an aller herren hoͤffe beschicht / wer brinngt / wirt bald eingelassen. wer aber haben will / der mGß lang vor der thür ston [486,6 – 486,9]). Zum Teil können solche Äußerungen den Charakter von Sentenzen annehmen und damit einen expliziten Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Beispielhaftigkeit erheben: Dies ist etwa bei jener genannten Kommentierung der Begegnung der beiden Grafen (vgl. 568,21– 568,22) oder aber dem Hinweis auf die Relation von Geld und Liebe (darbey man wol merckt / wenn es an das gGt geet / das alle liebe auß ist [417,12– 417,13]) der Fall. Wenn sich solche generalisierenden, sentenzenhaften Sätze in Figurenrede zeigen, liegt die Vermutung nahe, ihnen eine funktionale Dimension zu unterstellen. Vgl. zur Differenzierung zwischen analytischen bzw. spezifischen und synthetischen bzw. generalisierenden Kommentaren auch Hübner 2003, 65.
3.2 Narrative Verfahren der Ambivalenzerzeugung im Fortunatus
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tung für Andalosias intendierte Wiedererlangungsbestrebungen anzitiert¹⁰⁵, wird mit dem Appell des Eremiten ein Gedanke formuliert, welcher der im Epilog angestellten, abschließenden Gesamtdeutung nahekommt und damit einen auf den ersten Blick plausiblen Bewertungshorizont zu etablieren scheint: ich kan an dir wol mercken / das dein synn vnd gemGt swarlich beladen vnd vmbfangen ist / mit zeitlichen vnd tzergengklichen sachen / schlach sy auß vnnd kere dich zu gott / es ist ain grosser verlurst vmb ainen klainen wollust so er hatt in disem zergengklichen vnnd kurtzen leben (537,13 – 537,17).¹⁰⁶
Der folgende Hinweis des Erzählers auf das diesem Appell entgegengebrachte Desinteresse Andalosias – dise wort giengen Andolosia gantz nichts zu herzten (537,17– 537,18) – weist diesen zwar als völlig unbedeutend für denselben aus, unterstreicht damit aber die Richtigkeit der hier formulierten Beurteilung der Figur: er denkt tatsächlich nur an seinen großsen schaden (537,18 – 537,19). Auch wenn die hier problematisierte Gottesferne und Orientierung an zeitlichen Gütern vom Erzähler in der Folge nicht explizit geteilt und unter veränderten Prämissen
Diese Äußerung Ampedos stellt einen expliziten Bezug zur Szene um den Diebstahl des Säckels durch den diebischen Wirt her: Indem Ampedo die Worte seines Vaters aufgreift – Fortunatus redett gar onmechtigklich vnd sprach / wer das gGt verlürt / der verlürt die vernunfft (453,23 – 453,24) –, wird dem Rezipienten nahegelegt, den hier in Aussicht gestellten Sinnesverlust mit demjenigen von Fortunatus zu assoziieren, den er während jener Äußerung erleidet: er erschrack so ser das er nider sanck / vnd ym geswand / vnd lag glich sam er tod waͤr […], sy labeten vnd riben yn byß das sy jn wider zu der vernunfft brachten. […] Fortunatus legt sich wider nider / wann man sach wol daz er bloͤd was […]. Doch so was der schreck so groß gewesen / das er so bald nitt wider zG seiner farb noch stercke kommen mocht / vnd blib also den tag still ligen (452,4– 453,16). Dieser Horizont wird durch die sprachliche und inhaltliche Referenz präsent gehalten und plausibilisiert den von Ampedo geäußerten Leitsatz sowie die dadurch implizierte Beurteilung von Andalosias Intention, mithilfe des Hütleins das Säckel wiederzuerlangen; auch wenn dessen Wiedergewinn der Zaubergegenstände final gelingt, könnte man die spätere Klage Andalosias in der Wildnis doch in Grundzügen als einen solchen Sinnesverlust verstehen (vgl. 534,26 – 536,5 und hier vor allem die vermehrt artikulierten Todeswünsche). Zwar wird im Epilog kein expliziter Bezug zu Gott hergestellt bzw. eine vermeintliche Gottesferne der Figur problematisiert, auch geht es hier um Fortunatus und dessen Entscheidung für Reichtum und nicht um Andalosia, nichtsdestoweniger findet sich aber auch hier letztlich jene Verurteilung einer rein auf vergängliche und materielle Güter ausgerichteten Existenz: So aber er ym dotzumal in seinr iugent / vmb freüd vnnd wollust willen / der weltt reichtumb vnd gGt am maysten liebet vnd geuiele […] schuͤff er jm selb vnd seinen sünen mye vnd bitterkait der gallen (579,31– 580,5). Während der Appell des Eremiten auf eine Umkehr zu Gott zielt, kritisiert der Epilog rückwirkend letztlich ebenfalls die Orientierung an solchen Werten, die von diesem für Andalosia als relevante festgestellt werden: zeitliche[] vnd tzergengkliche[] sachen (537,14– 537,15) nämlich.
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erst im Epilog wieder aufgenommen wird, zeigt sich hier doch ein Verfahren, das über die Auslagerung evaluativer Kommentare und normativer Urteile in Figurenrede eine potentielle Rezeption der Figur nahelegt. Auf diese Weise wird ein subtiler Beurteilungshorizont konstruiert, der aufgrund des Statusʼ von Figurenim Vergleich zu Erzählerrede¹⁰⁷ nicht die Gesamtwertung der Figur dominiert, sondern die vom Erzähler etablierte Figurencharakterisierung bloß flankiert. In funktionaler Hinsicht scheint dieses narrative Arrangement einer Komplexitätssteigerung und der Erzeugung von figuraler Vielschichtigkeit zu dienen. Zugleich wirkt es sich auf die evaluative Struktur der Erzählung aus, die insofern verkompliziert wird, als der Erzähler die derart artikulierten Standpunkte nicht bewertet oder gar als irrelevant ausweist, auch wenn sie der eigenen Figurenzeichnung entgegensteuern. Dies wiederum bestätigt die Annahme einer intendierten Verlagerung solcher Positionen.¹⁰⁸ Tritt die Erzählinstanz somit in den genannten Szenen in den Hintergrund und präsentiert normative Urteile und generalisierende Kommentare in Figurenreden, finden sich an anderen Stellen hingegen explizite Kommentierungen derselben, die der Erklärung und besseren Nachvollziehbarkeit einzelner Ereignisse dienen, so etwa die plausibilisierende Erklärung, Fortunatus verstecke das Säckel bei der Beschenkung der Dienerschaft des Sultans, wann hett er den seckel sehen lassen so hett man wol mügen mercken das es ein glückseckel gewesen waͤr. wann in der seckel hundert waͤr nit halb souil gelts gegangen / als dann er so bald in kurtzer zeit außgab (495,7– 495,10),
oder aber der Hinweis, Andalosia freue sich deshalb über die Nacht mit jener Edeldame, weil ihn das dafür notwendige Geld nicht kümmere (vgl. 511,26 – 511,27), bzw. der, dass ihn Agripina und ihre Diener aufgrund seiner Verkleidung nicht erkannten (vgl. 531,28 – 531,30). Insgesamt kommentiert der Erzähler dabei das Verhalten Andalosias viel ausführlicher als das seines Vaters.¹⁰⁹ Ähnliche, der Nachvollziehbarkeit dienende Erläuterungen finden sich auch in der Darlegung der Gründe für die kollektive Bestrafung nach Andreans Ermordung des Kaufmanns und ihrer Legitimierung mit dem Verweis auf das kaiserliche Recht Vgl. zur Hierarchie zwischen Erzähler- und Figurenrede, Hübner 2003, 169: „[D]en Wertungen des Erzählers kommt ein höherer Stellenwert zu als denjenigen der Figuren, denjenigen positiv charakterisierter Figuren ein höherer als denjenigen negativ charakterisierter Figuren; alle expliziten Wertungen, einschließlich derjenigen des Erzählers, sind ihrerseits nur in Relation zu den Handlungen oder Einstellungen zu beurteilen, auf die sie sich beziehen.“ Vgl. zum Verhältnis von Erzählerrede und Figurenstandpunkten und seinen Auswirkungen auf die evaluative Struktur Hübner 2003, 67 f. Vgl. Reuvekamp 2014, 123; vgl. 516,31– 517,7; 524,11– 524,12.
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(vgl. 422,20 – 423,2), der Erklärung über die in der Höhle des heiligen Patricius geltenden Beicht- und Ablasskonventionen (vgl. 445,10 – 445,13) oder aber in dem Kommentar hinsichtlich der in der Höhle vorzufindenden Lichtverhältnisse (vgl. 447,3 – 447,5).¹¹⁰ Dienen solche expliziten Erläuterungen der erzählenden Instanz sowohl der Plausibilisierung einzelner Handlungen als auch ihrer eigenen Profilierung, sind hinsichtlich des hier untersuchten ambivalenten Erzählens vor allem solche Ausführungen besonders hervorzuheben, in denen die Interpretationen eines Geschehens aus Figurenperspektive unterlaufen werden, etwa durch die Erklärung der tatsächlichen Ursachen eines Ereignisses oder aber durch zeitliche Vorund Rückgriffe, wodurch es zu einem Bruch zwischen Figurenwahrnehmung und vom Erzähler dargestelltem Geschehen kommt. Dies ist etwa in der erwähnten Szene um Agripinas Zofe und den als Arzt verkleideten Andalosia der Fall: Im Gegensatz zu oben genannten Beispielen, in denen die Erzählstimme in der Darstellung des Figurenbewusstseins präsent ist, sich von diesem aber distanziert, findet hier keine explizite Positionierung des Erzählers im Kontext der Innenweltdarstellung statt, sondern diese wird – noch bevor sie präsentiert wird – durch die Schilderung von Andalosias Verkleidung implizit als Irrtum ausgewiesen: So beschreibt der Erzähler nicht nur ausführlich die Verwandlung Andalosias in einen Arzt – DA het sich Andolosia auch angemachet als ain artzt / mitt ainem hohen rotten byrreet vnd het ainen rotten rock von scharlach an gethon / vnd ain grosse nasen / vnnd etlich farb an gestrichen (541,28 – 542,1) –, sondern weist auch explizit auf die Unmöglichkeit hin, ihn in dieser Verkleidung zu erkennen: das yn niemandt kennen kund / der yn vor wolbekant het (542,1– 542,2). Auf diese Weise wird die folgende Interpretation der Figur, die auf göttliche Lenkung zielt (Die hoffmaysterin gedacht / gott hette ir den doctor tzugewisen [542,10 – 542,11]), indirekt desavouiert.¹¹¹ Für die Inszenierung von Ambivalenz sind dabei aber nicht nur solche Divergenzen zwischen figuralen Wahrnehmungen und Handlungsbeschreibungen des Erzählers, sondern vor allem auch solche Kommentare der Erzählinstanz von besonderer Relevanz, die nicht nur eine, sondern mehrere ursächliche Deutungen für ein Geschehen liefern, wie etwa in der Erklärung des Erzählers, Fortunatus und Lüpoldus hätten [m]it der hylff gots vnd des alten mans (447,10) aus der Höhle des heiligen Patricius gefunden.¹¹² Der Erzähler enthält sich hier einer Hierar Vgl. weiterhin 485,11– 485,18, sowie die ausführliche Diskussion über die verschiedenen Ursachen, warum nicht mehr Menschen jene fernen Länder bereisten bzw. warum die dort Ansässigen nicht die heimischen Länder besuchten (vgl. 491,3 – 491,24). Vgl. zu dieser Szene die Ausführungen in Kap. 3.2.3. Vgl. zu dieser Szene und der hier genannten Vielzahl von Ursachen Kap. 3.2.3.
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chisierung der von ihm aufgerufenen Deutungen. Konträr dazu – also zu einer mehrere Ursachen nennenden und diese nicht evaluierenden Erzählstimme – kann Ambivalenz grundsätzlich auch über die bewusste Zurückhaltung der erzählenden Instanz inszeniert werden. In einem solchen Fall enthält sich der Erzähler folglich einer eindeutigen Positionierung und vermittelt diese auch nicht über die narrative Konstruktion wie in der genannten Szene um Agripinas Zofe. Häufig handelt es sich dabei um solche Stellen, an denen entweder eine Figur mehrere oder aber verschiedene Figuren divergierende Deutungen des erzählten Geschehens anstellen und dabei nicht selten gerade jene Frage nach den verantwortlichen Instanzen verhandeln. Während sich eine solche Rücknahme der kommentierenden Erzählstimme im Fortunatus nicht derart ausgeprägt zeigt,¹¹³ tritt sie in den hier zu untersuchenden Erzählungen vor allem in Passagen auf, in denen konkurrierende Positionen verhandelt und in ihrer Unentschiedenheit ausgestellt werden. Im Resultat führt diese Enthaltung der erzählenden Instanz zu demselben Effekt wie das oben genannte, auch in der Melusine und dem Apollonius eingesetzte Verfahren einer Pluralisierung von Instanzen in Erzählerrede: die Frage, wer das Geschehen ursächlich verantwortet, bleibt offen, die evaluative Struktur verkompliziert sich. Die evaluative Gesamtstruktur der Erzählung gestaltet sich mithin als relativ komplex. Es finden sich nicht nur offensichtliche Differenzen zwischen Figurenstandpunkten und Erzählerposition,¹¹⁴ sondern auch Passagen, in denen der Erzähler Kommentierungen von Figuren nicht bewertet, obgleich diese recht ausdrücklich evaluative Standpunkte und damit einen gewissen Allgemeinheits Neben den oben genannten Deutungen Agripinas und Andalosias, die auf je unterschiedliche Ursachen für das Wachstum der Hörner bzw. ihre Heilung rekurrieren, lassen sich in diesem Kontext etwa solche Figurenäußerungen nennen, die zwar keine ursächliche Deutung des Geschehens anstreben, die aber ebenfalls auf zwei verschiedene Instanzen referieren, ohne dass der Erzähler dies kommentiert: So etwa in Andalosias Klage, nachdem Agripina – gleichwohl unwissentlich – mithilfe des Hütleins aus der Wildnis verschwinden kann, in der er Gott und die Natur für die Diskrepanz zwischen Agripinas Schönheit und ihrem falsch vngetrewe[n] hertz (535,2– 535,3) verantwortlich macht, oder in der Erklärung des englischen Königs, Gott und Glück hätten ihn zum König von England bestimmt (vgl. 550,17– 550,19). Eine Ausstellung divergierender Deutungen unterschiedlicher Figuren, die auf die Erklärung eines Ereignisses zielen, findet sich nicht derart explizit. Diese Differenzierungen von Figurenstandpunkten und Erzählerposition sowie auch die anhand eines wertenden Erzählerkommentars vorgenommene Markierung dieser Standpunkte als unzutreffend bzw. unzureichend lassen die evaluative Struktur auf den ersten Blick verhältnismäßig unkompliziert erscheinen. Es handelt sich dabei aber meist um Szenen, die im Hinblick auf das Gesamtgeschehen und für dessen Evaluation wenig relevant erscheinen – so etwa die Relativierung der kollektiven Meinung oder die Akzentuierung jenes, die Macht des Säckels betreffenden Wissensmangels.
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und Generalisierungsanspruch formulieren. Dies kann sich insofern auf die evaluative Struktur auswirken, als sich auf diese Weise Divergenzen zwischen Erzähler- und Figurenstandpunkt ergeben können, die die eindeutige Bewertung einer Figur oder des erzählten Geschehens erschweren, auch wenn zum Teil der Eindruck entsteht, es handle sich um eine Übernahme bzw. Verlagerung des Erzählerstandpunktes.¹¹⁵ Neben einer solchen Gleichzeitigkeit verschiedener, aufgrund ihres jeweiligen narrativen Statusʼ gleichwohl hierarchisierter Bewertungsmuster kommt es im Fortunatus auch zu expliziten Brüchen zwischen Erzähler- und Figurenstandpunkt: Der Erzähler verzichtet zwar auf einen expliziten Kommentar, weist die Annahme einer Figur aber durch die narrative Konstruktion als irrtümlich aus, obgleich er sich an anderen Stellen des dort artikulierten Erklärungsmusters, in diesem Fall göttlicher Lenkung, bedient. Dies führt insofern zu einer Ambiguisierung der evaluativen Struktur, als die Relevanz des Erklärungsmodells für eine Deutung des erzählten Geschehens generell zur Disposition gestellt wird. Dieser Aspekt wird wiederum durch die in Erzählerrede vorgenommene Pluralisierung von Instanzen noch potenziert, eine verlässliche Aussage über die Verantwortung für das Geschehen scheint nicht mehr möglich. Neben diesen Verfahren spielt für die evaluative Struktur der Erzählung allerdings auch der normative Horizont eine Rolle, wie er in Pro- und Epilog auf einen ersten Blick als solcher exemplarischer Natur formuliert wird, sofern er im Rekurs auf einen Tun-Ergehen-Zusammenhang den Misserfolg und Untergang der Familie auf Fortunatusʼ falsche Wahl zurückführt und damit zunächst eine recht strikte Korrelation von Normverstoß und Misserfolg herzustellen scheint: Während sich dies im Prolog nur in dem knappen Hinweis auf die not vnd arbait byß in iren tod (387,17) sowie dem Appell, dass in alweg vernunfft vnd weißhait für all schaͤtz diser welt / zu begeren vnd zu erwoͤlen ist (387,18 – 387,19), andeutet, konkretisiert erst der Epilog diesen Zusammenhang von falscher Wahl und finalem Unglück genauer: So aber er ym dotzumal in seinr iugent / vmb freüd vnnd wollust willen / der weltt reichtumb vnd guͤt am maysten liebet vnd geuiele […] schuͤff er jm selbs vnd seinen sünen mye vnd bitterkait der gallen (579,31– 580,5).
Dieser scheinbar so eindeutige Konnex, darauf wurde in der Forschung mehrfach hingewiesen, scheint sich aber nicht recht mit der Handlung der Erzählung vermitteln zu lassen, da, wie etwa Reuvekamp betont, „für Fortunatus selbst ja
So bleibt etwa letztlich zu diskutieren, welcher Status der von Ampedo geäußerten Sentenz sowie dem Appell des Eremiten für eine Bewertung der Andalosia-Figur zukommt.
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keinerlei negative Konsequenzen aus seiner Entscheidung resultieren.“¹¹⁶ Auch andere Positionen problematisieren diese vermeintlich explizite Sinngebung in ihrem Verhältnis zur Gesamthandlung und sehen darin entweder eine Negation von Sinnstiftung sowie die Demonstration einer von Kontingenzen dominierten Erzählwelt oder aber die Diskussion verschiedener Verhaltenssemantiken.¹¹⁷ Blickt man vor dem Hintergrund dieser problematischen Relation auf die Inszenierung des Erzählers in Pro- und Epilog und die von diesem etablierte evaluative Struktur, lässt sich der genannte Befund einer nicht recht gelingenden Vermittlung zwischen Handlung und Sinngebung zwar nicht zurückweisen, aber doch relativieren. Zwar wird die Korrelation von finalem Unglück und der Entscheidung für Reichtum aufrechterhalten, die moralische Dimension im Sinne einer generellen Problematisierung dieser Entscheidung wird aber insofern entschärft, als auch die positiven Folgen von Fortunatusʼ Wahl herausgestellt sowie deren allgemeine Nachvollziehbarkeit hervorgehoben werden: So scheint Weisheit zunächst einmal, zumindest hinsichtlich der argumentationslogischen Reihenfolge, deshalb die richtige – und Reichtum folgerichtig die falsche – Wahl zu sein, weil diese ym nyemandt hett mügen enpfieren (579,29). Auch wäre sie nicht etwa nur unter moralischen oder tugendethischen Gesichtspunkten richtig gewesen, sondern vor allem deshalb, weil mit ihr ohnehin tzeitlich gGt / eerliche narung vnd grosse hab (579,30 – 579,31) erlangt worden wäre. Dies wird mit dem abschließenden Verweis auf König Salomon noch einmal besonders deutlich akzentuiert, sofern dieser der reichest künig der erden wordenn ist (580,11– 580,12). Gleichzeitig scheinen die Folgen der falschen Wahl, die wiederum insofern nachvollziehbar erscheint, als vngezweiffelt noch von manigem ain solcher seckel für alle vernuft begert wurd (580,3 – 580,4), nicht etwa nur negativ zu sein, schließlich war ihnen die Zeit auch suͤß vnd lieblich (580,6), was wiederum im Prolog besonders betont und hier als nahezu gleichrangig mit den negativen Folgen dargestellt wird: Was Fortunatus vnnd nach ym die gedachten seine zwen sün / mit den zwayen klainaten wunders gestifft vnd erfaren / wollust vnd freüd / auch not vnd arbait byß in iren tod erliten habenn (387,14– 387,17). Die Betonung auch der positiven Folgen der Wahl für die Figuren wie auch der Hinweis auf die allgemeine Nachvollziehbarkeit derselben lassen die Entscheidung für Reichtum und damit gegen Weisheit zwar nicht als richtig, doch aber als verständlich und nicht völlig verwerflich erscheinen. Zugleich wird der Reichtum paradoxerweise auch bei einer Entscheidung für Weisheit als das eigentlich zu Erlangende und somit als Ziel eines jeden
Reuvekamp 2014, 118. Vgl. die Überblicke über die entsprechenden Positionen bei Reuvekamp 2014, 118; Friedrich 2011, 139.
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Handelns apostrophiert. Erst der finale Misserfolg, das von Andalosia nicht selbst verantwortete Scheitern – das macht die Erzählung durch die Gestaltung der zu seinem Tod führenden Ereignisse sehr deutlich¹¹⁸ –, weist die Wahl retrospektiv als falsche aus. Die skizzierten Äußerungen des Erzählers suggerieren damit eine gewisse moralische Indifferenz, sofern nicht die Richtigkeit einer Entscheidung oder die Normerfüllung Maßstab des Handelns ist, sondern der daraus resultierende Erfolg – aus diesem Grund führt erst der Misserfolg zu einer rückwirkenden Beurteilung der nur in dieser Perspektive falschen Wahl. Eine solche Lesart könnte erklären, warum erst im Epilog der Zusammenhang zwischen einer Entscheidung für Reichtum und dem Niedergang der Familie tatsächlich konkretisiert wird, während sich die Äußerungen des Prologs als bloße Antizipationen des Geschehens bzw. als allgemeine Maximen lesen ließen.¹¹⁹ Auf diese Weise wird Die Negativzeichnung der beiden für Andalosias Tod verantwortlichen Grafen sowie ihre explizite Verurteilung durch den Erzähler verweisen darauf, dass Andalosia sein Ende nicht selbst verantwortet, er nicht sterben muss, weil er sich etwa falsch verhalten hätte, schließlich agiert er am Ende nicht anders als sein Vater. Auch er hat aus den Ereignissen gelernt, beispielsweise im Hinblick auf eine notwendige Wahrung der sozialen Hierarchie (vgl. 567,18 – 567,19). Ursache seiner Gefangennahme ist auch weniger ein zur Schau gestellter Reichtum als vielmehr die Anerkennung bei Hofe; diese erst bewirkt die Eifersucht und den Neid der beiden Grafen (vgl. 568,12– 569,2; 574,22– 574,28), deren ursprüngliches Vorhaben ja auch auf die Ermöglichung eines ebensolchen Ansehens zielt (vgl. 569,9 – 569,13), und ist auch Ursache seiner Tötung und nicht etwa das Säckel, das zum Zeitpunkt seiner Ermordung ja längst in den Besitz der Grafen übergegangen ist (vgl. auch Reuvekamp 2014, 125). Grundsätzlich könnte man die im Prolog genannten negativen Aspekte, not und arbait, vor allem aufgrund ihres Kontextes – Was Fortunatus vnnd nach ym die gedachten seine zwen sün / mit den zwayen klainaten wunders gestifft vnd erfaren / wollust vnd freüd / auch not vnd arbait byß in iren tod erliten habenn (387,14– 387,17) – als Verweise auf jene Sequenzen der Erzählung verstehen, in denen sich die Figuren problematischen oder gefährlichen Situationen ausgesetzt sehen, dies aber nicht etwa als notwendige Konsequenz der Entscheidung für Reichtum, sondern vielmehr aufgrund eines falschen Umgangs mit diesem: Wenn Fortunatus in der Auseinandersetzung mit dem Waldgrafen die angst vnd not (436,3) beklagt, in der sich befindet, ist diese nicht Resultat seiner Wahl, sondern der durch diese Entscheidung zwar ermöglichten, nicht aber determinierten Zurschaustellung seines Reichtums beim Pferdekauf. Auch die durch die Tötung des Wirts durch Lüpoldus ausgelöste not angst (459,16) des Fortunatusʼ ist zwar insofern Ergebnis des Säckelbesitzes, als der dadurch gewährleistete Reichtum die Gier des Wirtes entfacht und diesen erst zum Übergriff veranlasst, sie ist aber nicht notwendige Folge einer falschen Entscheidung. Pointiert wird diese Konfrontation mit angst vnd not in Andalosias Klage nach dem Verlust von Säckel und Hütlein in der Wildnis: Gleich zwei Mal beklagt er seine Situation, die angst vnd not (534,33; 535,5), in die er gekommen sei. Auch hier ist die alleinige Ursache derselben der falsche Umgang mit den Zaubergegenständen, oder besser: Die Offenbarung des Geheimnisses gegenüber Agripina. Nicht die Kraft des Säckels, der Reichtum als solcher, führt zu dieser Situation, sondern ausschließlich Andalosias Verhalten.Wie auch wollust vnd freüd erscheinen not und arbait schlicht als Zustände, die den Figuren zwar nur deshalb zustoßen, weil sie im Besitz des Säckels sind, die aber keine
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das auf einen ersten Blick so eindeutige Ursache-Folge-Verhältnis von falscher Wahl und unglücklichem Ende aufgebrochen und von anderen möglichen Deutungen überlagert; der Tun-Ergehen-Zusammenhang erscheint zwar als normativer Horizont, wenn auch womöglich unter umgekehrtem Vorzeichen.¹²⁰ Liest man Pro- und Epilog somit mit stärkerer Betrachtung der Inszenierung des Erzählers und dessen evaluativer Urteile, geriert sich die Relation zwischen diesen und der erzählten Handlung nicht mehr derart widersprüchlich. Die auf eine allgemeine, menschliche Neigung rekurrierende Plausibilisierung der Entscheidung für Reichtum und die Betonung ihrer auch positiven Folgen könnte erklären, warum diese im Laufe der Erzählung vom Erzähler an keiner Stelle ausdrücklich kritisiert wird, gilt Reichtum doch außerdem als das eigentlich erstrebenswerte Gut. Die retrospektive, erst aus dem abwendbar erscheinenden finalen Misserfolg resultierende Beurteilung der Entscheidung für Reichtum als falsche und die damit einhergehende Neuperspektivierung des Ursache-FolgeVerhältnisses könnte darüber hinaus verständlich machen, warum der Tun-Ergehen-Zusammenhang für weite Teile der Handlung keine Rolle zu spielen
notwendige Konsequenz der Entscheidung für Reichtum sind. Grundsätzlich könnten die Formulierungen des Prologs also als Verweis auf diese Situationen verstanden werden, was auch im Hinblick auf die Terminologie naheläge, findet sich doch insbesondere der Begriff not immer wieder. Folgt man dieser Annahme einer allgemeineren Anwendbarkeit der im Prolog formulierten Äußerungen, ließe sich die Maxime in alweg vernunfft vnd weißhait für all schaͤtz diser welt / zu begeren vnd zu erwoͤlen ist (387,18 – 387,19) auch als solche allgemeiner Natur verstehen, die nicht explizit auf die Wahlsituation zu beziehen ist. Gerade im Kontext des Verweises auf die Unterhaltungsdimension der Lektüre – gar kurtzweilig zu lesen (387,17– 387,18) – könnte sie als allgemeine exemplarische Beigabe im Sinne eines prodesse et delectare interpretiert werden. Ein solch retrospektiver Rückschluss von dem Erfolg bzw. Misserfolg einer Handlung auf deren Status als richtig oder falsch zeigt sich auch auf Figurenebene: So bewertet der englische König den Betrug an Andalosia erst nachträglich als falsch und rekurriert nur aufgrund seines Misserfolgs – immerhin hat dieser Agripina entführt – auf eine Determination des Geschehens, die ein Scheitern des Diebstahls vorherbestimmt habe: Jch kan wol betrachten / das der / der ym sollich gelück verlyhen hatt / er verleich ym auch weißhait / wenn er vmb den seckel kaͤme / das er ym muͤßt wider werden. Das gelück will das er den seckel habe vnnd sunst nyemmant. vnd wenn das gelück woͤlt / so hett ich oder ain anderer auch ainen solchen seckel (550,11– 550,16). Auch hier wird folglich rückwirkend von den negativen Konsequenzen der Handlung auf deren normative Qualität rückgeschlossen; vor dem Verschwinden Agripinas hat nämlich weder die potentielle Vorherbestimmung des Geschehens eine Rolle gespielt, noch hat es moralische Bedenken hinsichtlich des Betrugs gegeben, der schließlich vom König überhaupt erst initiiert wurde (vgl. 520,4– 520,22). Bemerkenswert erscheint auch, dass die Figur in dieser Deutung des Geschehens auf das im Epilog etablierte, ganz spezifische Verhältnis von Weisheit und Reichtum referiert: Auch hier wird Weisheit dem Erhalt bzw. der Sicherung von Reichtum dienstbar gemacht. Auch Müller 1995, 226, weist darauf hin, dass Anlass des Räsonnements „nicht moralische Skrupel, sondern der Mißerfolg [sind]“.
3.2 Narrative Verfahren der Ambivalenzerzeugung im Fortunatus
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scheint, warum Fortunatus als Initiator der Entscheidung keine negativen Konsequenzen trägt, Andalosia aber dort scheitert, wo er genauso handelt wie sein Vater. ¹²¹ Die scheinbar so eindeutige Positionierung und explizite Sinngebung, die sich der Text hier zu verleihen scheint, geriert sich folglich selbst als ambivalent, sofern sie verschiedene Lesarten zulässt, ja geradezu provoziert. Der Erzähler relativiert den von ihm geschaffenen normativen Horizont nicht nur, sondern konkretisiert auch dessen Relevanz für die erzählte Handlung nicht weiter, was sich nicht zuletzt in den fehlenden Bezugnahmen auf diese moralische Rahmung manifestiert. Zwar ließen sich die postulierten Diskrepanzen zwischen expliziter Lehre und erzählter Handlung in der skizzierten Lesart von Pro- und Epilog weitestgehend ausräumen, eine Anleitung zum Gesamtverständnis der Handlung oder des derart akzentuierten, nicht mehr unbedingt auf eine moralische Problematisierung zielenden Verhältnisses der Entscheidung für Reichtum und dem Niedergang der Familie wird indes nicht gegeben. Mit dieser nur vermeintlich expliziten Sinngebung im Fortunatus ist nun aber ein Erzählverfahren skizziert, das sich auch in den im Weiteren zu analysierenden Erzählungen manifestiert: Auch hier erweisen sich die von der erzählenden Instanz artikulierten Deutungen zuweilen als ambivalent. In der Melusine und im Apollonius zeigt sich dies insbesondere in der Etablierung eines providentiellen Horizontes als Verständnisrahmen für das erzählte Geschehen, der aber partiell unterlaufen und von anderen möglichen Deutungen überlagert wird. Während sich der Erzähler in der Melusine dabei durch eine enorme Präsenz auszeichnet – er kommentiert und bewertet das Geschehen und Figurenhandeln ausführlich, expliziert Ursache-Folge-Verhältnisse und weist die Verantwortung für ein Geschehen, häufig über proleptische Kommentare, recht eindeutig zu –, tritt die erzählende Instanz im Apollonius zwar nicht derart offensiv in den Vordergrund, positioniert sich aber zum Teil ebenfalls relativ deutlich in der Bewertung des erzählten Geschehens. In beiden Erzählungen geraten dabei wie im Fortunatus zwangsläufig solche Stellen in den Blick, in denen sich der Erzähler einer eindeutigen auktorialen Wertung und Positionierung enthält und keine Kommentierung der in Figurenreden artikulierten, häufig divergierenden Deutungen vor-
Auch Reuvekamp 2014, 125 f., stellt die Relevanz der in Pro- und Epilog suggerierten Sinngebung für ein Gesamtverständnis der Erzählung infrage und betont die Bedeutung der Figurenkonstellation für eben dieses: „Nicht die Entscheidung für den Reichtum als solche wird problematisiert, sondern die (charakterlichen) Dispositionen diskutiert, die ein Erhalt von Reichtum zur Voraussetzung hat. […] Damit sperrt der Text sich gegen Lektüren, die Vater, Sohn und Enkel als Repräsentationen des gleichen Prinzips betrachten und in ihnen die Fatalität einer an materiellen Gütern ausgerichteten Existenz exemplifiziert sehen.“ (125)
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nimmt. Auch hier lassen sich Sequenzen beobachten, in denen die erzählende Instanz so weit in den Hintergrund rückt, dass die evaluative Funktion der Stimme – sowohl im Hinblick auf eine Beurteilung des erzählten Geschehens als auch hinsichtlich der Bewertung der Figuren – nahezu vollständig auf die Figuren der erzählten Welt überzugehen scheint. Auf diese Weise entsteht in beiden Erzählungen eine recht komplexe evaluative Struktur, in der sich explizite und implizite Wertungen zum Teil nicht bruchlos ineinanderfügen und in der sogar die Wertungen der Erzählinstanz nicht immer beim Wort zu nehmen sind. Da sich diese als ambivalent zu bezeichnende Erzählerhaltung in den Erzählungen vor allem dort zeigt, wo es um die Lenkung des Geschehens, die Frage nach den verantwortlichen Instanzen, kurz: um das Verhältnis von Providenz und Kontingenz geht, soll im Folgenden ein abschließender Blick auf die Spezifika der Geschehens- und Handlungsmotivierung geworfen werden.
3.2.3 Handlungsmotivierung In den Ausführungen zu den Besonderheiten der Innenwelt- und Bewusstseinsdarstellung und der Profilierung der erzählenden Instanz im Fortunatus wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass vor allem solche Textarrangements Ambivalenz generieren, in denen die Gleichzeitigkeit konkurrierender Erklärungsmuster explizit ausgestellt ist. In der Regel zielen solche divergierenden Deutungen dabei auf eine ursächliche Erklärung des Geschehens und lassen somit die Frage nach den für dieses relevanten Instanzen thematisch werden. Mit der Diskussion der für das Geschehen verantwortlichen Mächte ist zugleich die Form der narrativen Motivierung angesprochen, dies aber nicht im Hinblick auf ein produktionsseitiges Wirklichkeitsverhältnis im Sinne Lugowskis oder aber der jüngeren Forschung, sondern nur in Bezug auf die Komposition der erzählten Welt. Es geht folglich nicht darum, eine in der erzählten Welt vorhandene Finalmotivierung als anhaltende Wirksamkeit mythischer Denkformen bzw. als Ausdruck des Glaubens an providentielle Lenkung oder aber Kausalmotivierung als Auflösung des mythischen Analogons bzw. als Reflex einer kontingenten Wirklichkeit zu identifizieren,¹²² sondern darum, den spezifischen narrativen Umgang mit diesen Motivierungsformen auf Ebene der erzählten Welt zu betrachten: Wenn der Erzähler Fortunatusʼ glückende Reise oder Agripinas gelingende Überfahrt in den Dienst Gottes stellt und damit finale Lenkung indiziert (vgl. 464,14– 464,15;
Vgl. zu diesen Deutungen narrativer Motivierungsformen die Ausführungen in Kap. 2.1 und 2.2.
3.2 Narrative Verfahren der Ambivalenzerzeugung im Fortunatus
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565,3 – 565,9), muss nicht nach einem diese Motivierung bedingenden Weltbild des Textproduzenten gefragt werden, sondern danach, welche Rolle diese durch den providentiellen Horizont etablierte Finalität auf Ebene der erzählten Welt und im narrativen Gesamtkontext spielt. Wie dieses Beispiel schon andeutet, wird Finalmotivierung somit nicht als Motivation von hinten im Sinne Lugowskis gefasst, sondern bezeichnet mit Martínez die Existenz einer schicksalsmächtigen lenkenden Instanz in der erzählten Welt. Die Etablierung eines in der erzählten Welt wirksamen providentiellen Rahmens wie auch die Darstellung von kausalen Handlungsfolgen und Zufällen werden dabei als Elemente der Komposition begriffen, die stets intentional, zielgerichtet und damit letztlich von hinten motiviert ist. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um ein Epochenspezifikum, sondern liegt in der Natur literarischen Erzählens begründet: Die Komposition des Geschehens macht dieses zu einem intendierten Ganzen und inszeniert damit die erzählte Welt als Schöpfung, deren Existenz man sich schlechterdings nicht ohne übergeordnete Intention vorstellen kann, selbst wenn in der erzählten Welt keine übernatürlichen, realitätsinkompatiblen Elemente enthalten sind.¹²³
Phänomene, die Lugowski unter der Motivation von hinten gefasst hat, wie etwa die Steuerung des Einzelmoments durch die Ganzheit eines Textes¹²⁴, die Ergebnishaftigkeit des Handlungsfortgangs¹²⁵ oder die Handlungsfunktionalität von Ereignissen, sind letztlich Bestandteile dessen, was hier mit Martínez als kompositorische Motivierung begriffen wird. Der finalen oder kausalen Geschehensmotivation auf Ebene der erzählten Welt korrespondiert somit immer eine kompositorische Motivierung auf Produktionsseite. Während mit kausaler Motivierung Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die aus intentionalem wie auch nichtintentionalem Handeln der Figuren resultieren, aber auch solche Geschehnisse bezeichnet werden, die sich ohne Beteiligung intentionsbegabter Akteure, wie etwa Zufälle, ereignen,¹²⁶ wird mit finaler Motivierung der Einsatz einer das Geschehen lenkenden Instanz in der erzählten Welt, so beispielsweise die Etablierung eines providentiellen Horizonts, gefasst. Als kompositorische Motivierung wird dem-
Martínez 1996a, 29. Vgl. Lugowski 1970 [1932], 56 f. Vgl. Lugowski 1970 [1932], 24 ff. Vgl. zur Definition Martínez 1996a, 22 f.; vgl. zur Beurteilung von Zufällen als kausaler Folge 23, Anm. 12: Zufall oder zufälliges Geschehen werde nämlich nicht deshalb so genannt, weil es nicht kausal motiviert wäre, „sondern weil man sein Zustandekommen nicht aufgrund bekannter regelmäßiger Abläufe voraussagen kann.“
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entsprechend das narrative Gesamtkonzept der Erzählung, werden die narrativen Elemente der Komposition bezeichnet, die auf das (stets) intentionale Ziel hinarbeiten und das Geschehen – explizit oder implizit – immer schon determinieren. Hierzu zählen auch Gattungs- bzw. Stoffvorgaben.¹²⁷ Im Gegensatz zu Lugowskis Definition der Motivation von hinten und den auf diesem Konzept basierenden Adaptionen in der mediävistischen Forschung, in denen diese häufig als finale Motivierung firmiert, wird in diesem Zusammenhang allerdings nicht davon ausgegangen, dass im Rahmen einer solch intentionalen Komposition Kausalität marginalisiert oder gar suspendiert wird. Während in mittelalterlichen Erzählungen nach Lugowski kausale Logik kaum eine Rolle spiele, sofern Ereignisse ausschließlich handlungsfunktional relevant seien und deshalb nicht kausallogisch auseinander, sondern bloß aufeinander folgten,¹²⁸ betonen auch jüngere mediävistische Arbeiten in der Fokussierung auf Erzählschemata und metonymisches Erzählen die Dominanz eines solchen von hinten motivierten Erzählens in mittelalterlichen bzw. vormodernen Texten. Kausalmotivierung wird dabei kaum Relevanz beigemessen,¹²⁹ so dass diese damit letztlich zu einem Phänomen – oder vielleicht sogar zu einer Erfindung – des 18. Jahrhunderts wird.¹³⁰ Dabei wird allerdings verkannt, dass Erzählungen in der Darstellung menschlicher Handlungen stets mit Kausalitätsunterstellungen operieren.¹³¹ Ohne die Unterstellung von Kausalität könnte Handeln nämlich weder
Vgl. zur Differenzierung dieser drei Motivierungsformen insg. Martínez 1996a, 15 – 32. Vgl. Lugowski 1970 [1932], 73 – 88. Vgl. etwa insg. Haferland 2005; Haferland 2014, 71 ff.; Haferland und Schulz 2010, 11, 20 ff., 41; Schulz 2007, 344; Schulz 2010, 344; Schulz 2012, 325 – 331, prägnant 335: „Da älteres Erzählen viel deutlicher und viel spezifischer als modernes an vorgegebene Stoffe, Handlungsschemata und Motive gebunden ist, ist das Geschehen zumeist erheblich stärker final motiviert, das heißt vom Ende her. Einzelne Handlungsereignisse müssen so nicht eigens kausal begründet oder zumindest wahrscheinlich gemacht werden, sondern sie sind bereits durch die narrativen Vorgaben hinreichend begründet. Dementsprechend finden sich im vormodernen Erzählen viel weniger Gründe benannt, warum etwas geschieht; vielmehr sind die meisten Ereignisse nur durch ein einfaches Nacheinander miteinander verbunden. ‚Dann‘ oder ‚danach‘ wäre hier die zumeist passende Konjunktion, nicht aber ‚deshalb‘.“ Vgl. Martínez 1996a, 20. Begründungen von Handeln basieren immer auf der Unterstellung von Kausalität (vgl. Hübner 2013b, 449), auf der Annahme von Ursache-Folge-Zusammenhängen. Dies ist bei erzähltem Handeln nicht anders: Schon Aristotelesʼ Definition von Dichtung als Praktik der Handlungsdarstellung basiert auf der Prämisse generalisierbarer Kausalzusammenhänge, sofern diese nicht auf theoretisches, sondern auf topisches Wahrscheinlichkeitswissen rekurriert. Der Grad der Wahrscheinlichkeit des dargestellten Handelns ist dabei also vom jeweiligen topischen Wissen abhängig, wobei „die Wahrscheinlichkeiten in den auf Regelmäßigkeiten beruhenden kausalen Zusammenhängen zwischen Handlungsgründen und Handlungskonsequenzen [beste-
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begründet noch verstanden werden.¹³² Obgleich man also von einer „biologisch bedingten kognitiven Omnipräsenz von Kausalitätsunterstellungen beim Homo sapiens“¹³³ ausgehen muss, wird Kausalmotivierung aufgrund jener These eines primär final bzw. von hinten motivierten mittelalterlichen Erzählens in ihrer Relevanz für dieses häufig marginalisiert. Neben einer allgemeinen Kausalitätssuggestion in der Darstellung menschlichen Handelns, die sich nicht nur im Fortunatus, sondern auch in der Melusine und dem Apollonius in der grundsätzlichen Unterstellung von kausaler Handlungslogik stets beobachten lässt, spielt in den genannten Erzählungen Kausalmotivierung also selbst dort eine Rolle, wo Finalität exponiert wird: Die Existenz einer vom Erzähler eingesetzten lenkenden Instanz in der erzählten Welt bedeutet nämlich gerade nicht, dass Handeln nicht zugleich auch kausal begründet werden, Ereignisse nicht nur aufeinander – um eine Wendung Lugowskis aufzu-
hen].“ (Hübner 2015, 20) Der Erkenntniswert einer dargestellten Handlung ergibt sich somit aus der Generalisierbarkeit der in ihr wirksamen Kausalzusammenhänge; Handlungsdarstellung zielt somit darauf, „wahrscheinliche Kausalitäten zwischen Handlungen und ihren Folgen erkennbar zu machen.“ (20) Aber nicht nur in der aristotelischen Poetik auch in der rhetorischen narratioLehre wurde Kausalität als zentrales Kriterium der auf Parteilichkeit und Glaubwürdigkeit zielenden Textstrukturierung verstanden. Letztere wurde dabei durch den Rekurs der Erzählung auf das topische Wahrscheinlichkeitswissen der Rezipienten erzeugt; dieses und nicht tatsächliches Geschehen verleiht der Handlungsdarstellung Glaubwürdigkeit, die wiederum – wie in der Poetik – auf der Annahme beruht, dass „Handeln, seine Darstellung und die Erkenntnis seiner Bedeutung durch Regularitäten begründet ist, die als wahrscheinlich gelten.“ (30) Auch die in der narratio-Lehre systematisierten Verfahren plausibilisierender Textstrukturierung basieren also letztlich auf der Annahme, dass Plausibilität und Wahrscheinlichkeit im Rekurs auf topisches Wissen über Handlungsregularitäten und damit in Bezug auf wahrscheinliche Kausalitäten evoziert werden kann (vgl. Hübner 2010a, 142). Diese Orientierung an Wahrscheinlichkeit – und damit auch Kausalität – ist aber gerade auch für mittelalterliches und frühneuzeitliches Erzählen kennzeichnend, das schließlich in der Tradition jener gelehrten Reflexionen steht; auch hier rekurriert die Darstellung menschlichen Handelns stets auf kausale Begründungszusammenhänge. Ein jeder (schul‐)gebildete Dichter wird also geneigt gewesen sein, das Handeln von Figuren über die Darstellung von Ursachen, Motiven und Absichten kausal zu motivieren und damit zu plausibilisieren. Entsprechungen zu dem Zusammenhang von Kausalität und Plausibilität, wie er in der rhetorischen narratio-Lehre formuliert wurde, begegneten laut Hübner 2015, 33, „im historiographischen und poetischen Erzählen auf Schritt und Tritt […]: Eigenschaften, Affektionen und Reflexionen von Akteuren erscheinen als Gründe ihres Handelns, die zusammen mit dem Handeln auch dessen Darstellung plausibilisieren.“ Vgl. Hübner 2013b, 449. Vgl. auch Hübner 2015, 26, Anm. 34, sowie die Überlegungen zum Zusammenhang von Rhetorik, Wahrscheinlichkeit und Kausalmotivierung 28 – 34. Vgl. zur grundsätzlich kausalen Begründungsstruktur auch im Rahmen finaler Motivierung weiter unten. Hübner 2013b, 449.
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greifen –, sondern auch auseinander folgen können.¹³⁴ In der stets kompositorisch motivierten Erzählwelt kann somit finale Lenkung suggeriert werden, ohne aber kausallogische Motivierung gänzlich zu suspendieren. Auch im Fortunatus zeigt sich trotz jener partiellen Etablierung eines providentiellen Horizontes immer wieder die Tendenz, einzelne Ereignisse und Handlungen als Ergebnis kausallogischer Ursache-Folge-Zusammenhänge zu zeigen. So werden etwa jene verschollenen Schmuckstücke nur deshalb gefunden, weil die trauernde Witwe auf Rat der Nachbarin das Bett ihres Mannes verschiebt (vgl. 423,15 – 424,22). Intention dieses Aktes ist aber nicht etwa die Suche nach dem Schmuck, sondern die Hoffnung, auf diese Weise nicht mehr um ihren verstorbenen Mann trauern zu müssen. Es handelt sich somit um einen – gleichwohl kausal hergeleiteten – Zufall, sofern das Zusammentreffen der diesen konstituierenden Ursachen weder vorhersehbar noch intendiert war.¹³⁵ Eine ähnliche Konstellation zeigt sich in der Szene, in der Agripina unbeabsichtigt Wunschhütlein und Säckel entwenden kann. Auch hier intendiert Andalosia etwas gänzlich anderes, als er letztlich bewirkt; das solchermaßen nicht beabsichtigte Ergebnis ist dabei kausale Folge seiner Handlung: So legt er Agripina, die ihn bittet, ihr einen der auf dem Baum neben ihr wachsenden Äpfel zu reichen, nur deshalb das Säckel in den Schoß und setzt ihr nur deshalb das Hütlein auf den Kopf, vmb das es yn nit irret an dem auff steigen (534,8). Diese mit dem Verweis auf einen vereinfachten Aufstieg plausibilisierte Handlung ist die Prämisse für eine Realisierung des folgenden Geschehens; nur ihretwegen führen die von Agripina in der Folge geäußerten Worte, die als Ergebnis ihrer Orientierungslosigkeit erzählt und damit ebenfalls motiviert werden, zum Verlust des Wunschhütleins: Agripina aber vnder dem baum saß vnd nit wißt wo sy was noch wie ir waͤr geschehen. fieng sy an vnnd sprach Ach nun wolte got das ich wider in meiner schlaffkammer waͤr (534,9 – 534,12). Der Verlust der Zaubergegenstände ist somit kausale Folge des nichtintentionalen Handelns der Andalosia-Figur, wobei die einzelnen Handlungsschritte, die zu einer Realisierung des Nichtintendierten führen, wiederum logisch-kausal auseinander folgen. Aber nicht nur der Verlust, auch der Wiedergewinn der Zaubergegenstände wird als Resultat einer solchen kausalen Verkettung einzelner Ereignisse erzählt: Andalosia findet das Hütlein unter dem Bett Agripinas nur deshalb und kann es in der Folge zu ihrer Entführung nutzen, weil er sich – überrascht von Agripinas
Vgl. Hübner 2013b, 449; Knapp 2013, 190. Beide haben darauf hingewiesen, dass auch mythische und religiöse Begründungen letztlich einer kausalen Logik folgen. Vgl. hier die Boethiusʼ Zufallsdefinition erläuternde Ausführung bei Worstbrock 1995, 39, sowie die des Boethius, auf die in der Folge noch ausführlicher Bezug genommen werden wird: Boethius, Consolatio Philosophiae, 230 – 232, V,1,40 – 60.
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Zofe – bückt, um die zuvor ausgezogene und ihm heruntergefallene Verkleidung aufzuheben: Vnd die weil er ym das gedacht also fürtzGnemen / kam die hofmaisterin mitt ainem liecht vnd wolt besehen was die künigin thaͤtte / do schlieff sy noch. Der doctor het sein bareet abgetzogen / das entpfiel ym / vnnd als er sich bucket vnd das bareet auff heben woltt so sicht er vornen vnnder der bettstat das wünschhuͤtlin an der erden ligen / darauff nyemand kayn acht hett / wann niemant die tugent von dem huͤtlin wisset (548,6 – 548,13).
In den genannten Beispielen folgt das Geschehen somit kausalen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. Zugleich operiert der Erzähler mit dem Bezug auf providentielle Lenkung aber zuweilen mit einer finalen Geschehensmotivierung: So werden schließlich Fortunatusʼ glückende Reisen in verschiedene Länder als Ergebnis göttlichen Wirkens erzählt: got gab ym aber glück daz er allenthalb durch kam (464,14– 464,15); auch wird die Geburt Ampedos auf das Eingreifen Gottes zurückgeführt, sofern dieser die Gebete von Fortunatus und Cassandra erhört habe: nu got alle ernstliche gebeet erhoͤrt / erhort er sy auch vnd ward die fraw swanger vnd gebar ainen sun (481,15 – 481,16); und auch Agripinas Fahrt über das Meer nach Zypern glückt, weil sie in dem namen gottes [fGrenn] / vnd der verlich ynen gGt wetter / das es yn gar gelücklichen gieng / […] so kammen sy mitt der hilff gotz vnd allem lieb gen Cipren an das land (565,3 – 565,9). Der Erzähler stellt einzelne Ereignisse also als Folge göttlicher Lenkung, andere als solche kausaler Wirkzusammenhänge dar. Grundsätzlich ist dies kein Widerspruch, denn auch finale Motivierung kann eine kausale Begründung erzählten Handelns sein, deren Subjekt eine übernatürliche Macht, Gott, ist.¹³⁶ In den zuvor genannten Passagen wird hingegen über die Akzentuierung der Zufälligkeit der Ereignisse – es handelt sich schließlich stets um nichtintendierte Folgen – finale Lenkung gerade nicht nahegelegt, sondern ein offener Handlungshorizont suggeriert: Andalosia sieht das Hütlein, weil er sich bückt; er setzt Agripina den Hut auf den Kopf, weil er auf
Vgl. Hübner 2013b, 449: „Was üblicherweise ‚finale Motivierung‘ heißt, ist eine kausale Begründung erzählten Handelns, deren Subjekt eine übernatürliche Macht B in der erzählten Welt ist […] und die dem Muster ‚B verursacht, dass Figur A so handelt, weil x‘ folgt. ‚Finalmotivierung‘ kann ebenso als kausale Begründung erzählten Geschehens nach dem Muster ‚B verursacht, dass Ereignis a eintritt, weil x‘ auftreten“. Auch die kompositorische Motivierung arbeitet mit solchen kausalen Begründungszusammenhängen, sofern diese „eine kausale Begründung erzählten Handelns oder Geschehens [ist], deren Subjekt der Verfasser des Textes ist (‚Verfasser verursacht, dass Figur A so handelt bzw. Ereignis a eintritt, weil x‘), und deshalb nie ein Begründungszusammenhang innerhalb der erzählten Welt.“ Dieses Argumentationsmuster lässt sich auch in der Erzählung nachweisen, sofern sich auch hier zeigt, dass finale Motivierung grundsätzlich „eine kausale Begründung erzählten Handelns“ (449) sein kann: Gott etwa verursacht, dass Agripina heil in Zypern ankommt, weil sie gutes Wetter haben.
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den Baum klettern möchte; Agripina kann mit dem Hut verschwinden, weil sie die Worte ausspricht; die Witwe findet die Schmuckstücke, weil sie das Bett verschiebt.¹³⁷ In den genannten Beispielen findet sich also dezidiert keine, auf kausalen Begründungszusammenhängen basierende finale Motivierung, es gibt somit keine die jeweiligen Handlungen verursachende Instanz. Das Finden der Schmuckstücke, der Verlust von Hut und Säckel sowie deren Wiedergewinn werden dabei zwar als klassischer Zufall im Sinne Boethiusʼ inszeniert,¹³⁸ allerdings wird das Geschehen im Rahmen des Erzählerdiskurses ausdrücklich nicht an Gott als verursachende und lenkende Instanz zurückgebunden und der Zufall damit nicht wie bei Boethius als Element göttlicher Providenz begriffen.¹³⁹ Auf diese Weise werden die Ereignisse in ihrer Kontingenz ausgestellt, sofern ihr jeweiliges Eintreten die kontingente Realisierung eines möglichen Ereignisses aus einer Vielzahl anderer potentieller Ereignisse und damit weder notwendig noch vorhersehbar ist – sie hätten sich ebenso gut nicht ereignen können. Auf diese Weise wird die Erzählwelt zumindest passagenweise zu einem Raum, in dem sich unvorhersehbares Geschehen potentiell ereignet und damit zu einem solchen der Kontingenz. Dass sowohl Verlust und Wiedergewinn von Hut und Säckel als auch das Finden der Schmuckstücke solche kontingenten Ereignisse sind, wird in der durch den Erzähler wiedergegebenen Figurenrede jener Witwe sogar ausdrücklich formuliert: vnd sagt ym wie sy die klaynat funden het on alle geferd / vnd wa sy das bet nit het woͤllen verenderen so moͤchten sy noch lang gelegen sein / wann da hette sy nyemand gesGcht (424,25 – 424,28).
Vgl. Hübner 2013b, 449: „Was üblicherweise ‚kausale Motivierung‘ heißt, ist eine kausale Begründung erzählten Handelns, deren Subjekt eine Figur A in der erzählten Welt ist und die dem Muster ‚A handelt so, weil x‘ folgt.“ Von einem solchen kann dann gesprochen werden, wenn eine Handlung aufgrund einer nicht vorhersehbaren Verknüpfung von Umständen zu einer von dem jeweiligen Handlungsakteur nicht beabsichtigten und nicht zu antizipierenden Folge führt und damit etwas völlig anderes bewirkt, als dieser intendierte. Vgl. Worstbrock 1995, 39, sowie die Definition bei Boethius, Consolatio Philosophiae, 231– 232,V,1,40 – 57: Quotiens, ait, aliquid cuiuspiam rei gratia geritur aliudque quibusdam de causis, quam quod intendebatur, obtingit, casus vocatur; ut, si quis colendi agri causa fodiens humum defossi auri pondus inveniat, hoc igitur fortuito quidem creditur accidisse. Verum non de nihilo est, nam proprias causas habet, quarum inprovisus inopinatusque concursus casum videtur operatu. Nam nisi cultor agri humum foderet, nisi eo loci pecuniam suam depositor obruisset, aurum not esset inventum. Hae sunt igitur fortuiti causae compendii, quod ex obviis sibi et confluentibus causis, non ex gerentis intentione provenit. Neque enim vel qui aurum obruit vel qui agrum exercuit, ut ea pecunia repperiretur, intendit; sed uti dixi, quo elle obruit, hunc fodisse convenit atque concurrit. Licet igitur definiere casum in his, quae ob aliquid geruntur, eventum. Boethius, Consolatio Philosophiae, 232, V,1,55 – 60: Licet igitur definiere casum in his, quae ob aliquid geruntur, eventum. Concurrere vero atque confluere causas facit ordo ille inevitabili conexione procedens, qui deprovidentiae fonte descendens cuncta suis locis temporibusque disponit.
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Wenn also in der Folge von der Differenz zwischen kausaler und finaler Motivierung die Rede ist, ist damit weniger das Vorhandensein bzw. Fehlen von kausalen Begründungszusammenhängen gemeint, als vielmehr das Vorhandensein bzw. Fehlen einer das Geschehen verursachenden Instanz bzw. der jeweilige Grad der Determination desselben. Denn ganz offensichtlich spielen im Fortunatus beide Formen der Motivierung eine Rolle, und dies nicht im erwähnten Sinne einer grundsätzlichen Wirksamkeit von Kausalzusammenhängen, sondern im Hinblick auf die Kompositionsebene der Erzählung: Mal ist lenkendes Subjekt des Geschehens eine übernatürliche Instanz, mal ist sie es nicht. Auf genau diesen Aspekt scheint die These von Martínez, auf dessen Untersuchung die terminologische wie konzeptionelle Differenzierung der unterschiedlichen Motivierungsformen unter anderem basiert, zu zielen: Wenn er davon ausgeht, dass eine solche Gleichzeitigkeit von Kausalität und Finalität nicht möglich ist, sofern „[d]er Handlungshorizont […] nicht zugleich offen und geschlossen, die kausale Beeinflußbarkeit der Zukunft nicht zugleich möglich und unmöglich sein [kann]“¹⁴⁰, scheint dies nämlich nicht auf die Begründungen erzählten Handelns und eine grundsätzliche Negation von kausalen Zusammenhängen, sondern auf die Differenzen in der Determination des Geschehens bezogen zu sein.¹⁴¹ Dass diese (nicht nur) im Fortunatus aber konstant zum Gegenstand der narrativen Auseinandersetzung werden, ist Prämisse der folgenden Überlegungen: Es sollen hier und in den folgenden Analysen nämlich gerade solche Stellen in den Blick geraten, in denen dieses Verhältnis von Kausalität und Finalität, von Handlungsoffenheit und Handlungsdetermination, von Kontingenz und Providenz, auf Ebene der erzählten Welt explizit zur Diskussion gestellt und ihre zum Teil paradoxe Gleichzeitigkeit evoziert wird, in denen mithin Friktionen zwischen kontingenter Geschehensfolge und göttlicher Lenkung narrativ inszeniert werden. Die Erzählungen scheinen nämlich die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Motivierungsformen auf Ebene der erzählten Welt unaufhörlich zu prozessieren: Etwa indem der Erzähler jenen providentiellen Horizont etabliert, Geschehen aber ohne Bezug auf diesen kausal herleitet, Kontingenz explizit exponiert oder aber diesen Horizont durch kontrastive Deutungen selbst infrage stellt; oder aber indem der Erzähler die Kausalität des Geschehens ausdrücklich markiert, zugleich aber Figuren göttliche Lenkung unterstellen lässt; oder aber indem der Erzähler Figuren verschiedene, auf unterschiedliche Begründungszusammenhänge referierende Deutungen formulieren lässt – wie individuelle Schuld, das Wirken
Martínez 1996a, 28. Diese These operiert somit unter anderen Prämissen als die von Hübner 2013b angestellten Überlegungen.
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Fortunas, die Macht Gottes –, ohne diese zu kommentieren oder zu hierarchisieren. Martínezʼ These einer Unvereinbarkeit von finaler und kausaler Motivierung ist in ihrem Bezug auf die Determination eines Geschehens sicher grundsätzlich zuzustimmen; die Diskussion dieser Unvereinbarkeit auf Ebene der erzählten Welt scheint aber den Kern ambivalenten Erzählens auszumachen: Die Komposition der Erzählungen scheint gerade auf eine Veruneindeutigung hinsichtlich der Frage nach der tatsächlichen Motivierung des Geschehens zu zielen; diesem Zweck scheint auch der spezifische Einsatz der skizzierten narrativen Verfahren – die besonderen Techniken der Innenwelt- und Bewusstseinsdarstellung und der Erzählerinszenierung – geschuldet. Ergebnis einer solchen narrativen Konstruktion ist dabei weniger eine ‚doppelte Erzählwelt‘, in der die „Handlung zugleich empirisch-kausal und mythisch-final bestimmt ist“¹⁴², wie sie Martínez in verschiedenen Erzählungen nachgezeichnet hat. In den vorliegenden Erzählungen scheint es nämlich nicht um die Ausstellung einer numinosen Offenheit des Geschehens zu gehen, sondern um die explizite Pointierung der Diskussionswürdigkeit dieses Phänomens, um die narrative Inszenierung von Ambivalenz in der Frage nach den lenkenden Instanzen in der erzählten Welt, und dies nicht etwa subtil im Sinne einer impliziten Rezeptionssteuerung oder bloßen Suggestion, wie sie Martínez beschrieben hat,¹⁴³ sondern recht offensiv und ausdrücklich. Eine Konkurrenz zwischen kausaler und finaler Motivierung auf Ebene der erzählten Welt wird etwa in solchen Sequenzen explizit ausgestellt, in denen Figuren finale, göttliche Lenkung annehmen, der Erzähler diese aber über die kausale Konstruktion negiert, obgleich er eine solche Deutung an anderen Stellen durchaus nahelegt.¹⁴⁴ Ein solch expliziter Bruch zwischen Figurenwahrnehmung und Diegese zeigt sich in der erwähnten Szene um die Zofe Agripinas, deren Annahme, Gott habe ihr den als Arzt verkleideten Andalosia über den Weg geschickt (vgl. 542,10 – 542,11), über die zuvor angestellte ausführliche Beschreibung seiner Verwandlung konterkariert wird (vgl. 541,28 – 542,2)¹⁴⁵. Die Diskrepanz Martínez 1996a, 35. In den von Martínez untersuchten Texten werde zunächst eine empirisch-kausale Motivierung des Geschehens vermittelt, aber zugleich der Eindruck erweckt, „die vermeintlich ‚blinde‘ Kontingenz diene insgeheim als Instrument einer verborgenen Absicht – ohne daß der ungewisse Status dieser Suggestionen im Text zugunsten einer eindeutigen, sei es kausalen, sei es finalen Erklärung des Geschehens aufzulösen wäre“ (32). Vgl. dazu Martínez 1996a, 33 f. In denen er also verdeutlicht, dass – um oben genanntes Muster aufzugreifen – x folgt, weil Figur A so handelt, und nicht, dass x folgt, weil Figur A handelt, was von B verursacht wird. Bemerkenswert erscheint, dass der Erzähler dabei auch die Verwandlung Andalosias in jenen Kramer – vnd als er nun gen lunden kam ließ er ym das ain aug verleymen / vnnd satzt auf ain gemachtes hare / dardurch er gar vnbekannt was (539,8 – 539,10) – und damit die Prämisse des sich
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geriert sich dabei folglich zwischen der über eine Innenweltdarstellung mitgeteilten Annahme finaler Gerichtetheit in Form göttlicher Lenkung und der gleichzeitigen Herleitung des Geschehens durch den Erzähler, der auf die Unmöglichkeit der Identifikation Andalosias in dieser Verkleidung ausdrücklich hinweist (vgl. 542,1– 542,2). Der Bruch wird dabei nicht eigens erwähnt, etwa in Form eines relativierenden Erzählerkommentars, sondern über die kausale Konstruktion vermittelt. Indem der Erzähler seinen Standpunkt nicht eigens artikuliert, wird die hierarchische Differenz zwischen Erzähler- und Figurenstandpunkt abgeschwächt und tritt nicht derart markant hervor. Die potentielle Finalität des Geschehens wird dabei nur im Rahmen der Figurenwahrnehmung angenommen, wobei eine solche Unterstellung aus Figurenperspektive insofern motiviert scheint, als es sich um ein für die Figur plausibles Deutungsschema handelt, möchte sie sich doch auch an anderen Stellen des göttlichen Einflusses versichern.¹⁴⁶ Auch könnte es als Reaktion auf die Figurenrede des vermeintlichen Arztes verstanden werden, der unmittelbar zuvor mit der Hilfe Gottes bei der Heilung argumentiert (vgl. 542,7– 542,10). Der für eine Interpretation des erzählten Geschehens als inadäquat ausgewiesene Figurenstandpunkt folgt also logisch aus den Prämissen der erzählten Welt und den Dispositionen der Figur. Eine ähnliche Konstellation zeigt sich auch in Fortunatusʼ Aussteuerung des jungen Mädchens, die durch den Erzähler breit ausgefaltet und explizit als Resultat von Fortunatusʼ Gelöbnis gegenüber der Jungfrau des Glücks eingeführt wird (vgl. 451,1– 451,3). Auch hier interpretieren die Figuren das Geschehen, nämlich das Erscheinen von Fortunatus und die durch ihn ermöglichte Eheschließung, als Wirken Gottes (des waren sy alle von hertzen fro vnd dancketen fortunato vnd lobten got gar treülich vnd sagten / got hat den man von hymel gesant [456,20 – 457,2]), wobei diese Deutung ebenfalls bereits im Vorfeld als irrtümlich ausgewiesen wird. Solche Brüche zwischen der Figurenwahrnehmung und der Handlungsbeschreibung bzw. Herleitung des Geschehens durch den Erzähler sind deshalb von besonderer Relevanz, weil die Figuren auf ein Deutungsmuster referieren, das dieser an anderen Stellen der Erzählung selbst geltend macht, sofern er bei der ursächlichen Erklärung oben genannter Ereignisse auf göttliche Lenkung rekurriert und einzelne Ereignisse zum Resultat derselben erklärt. Die Phänomene, die
in der Folge ereignenden Geschehens, nämlich den glückenden Verkauf der Äpfel, beschreibt, der die spätere Notwendigkeit eines Arztes, sein Erscheinen und damit die Interpretation der Figur erst bedingt. So beruhigt sie die gehörnte Agripina nämlich nicht nur mit dem Hinweis auf die Vielzahl gelehrter Ärzte, die sie von ihrem Leiden heilen können (vgl. 541,3 – 541,6), sondern rät darüber hinaus, sich durch Opfergaben des göttlichen Beistands zu versichern (vgl. 540,29 – 541,2).
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anhand dieser Bezugnahmen auf eine verantwortliche Instanz erklärt werden, zeichnen sich dabei durch eine auffallende Diversität aus: Gott scheint nicht das Schicksal aller, sondern nur einzelner Figuren zu lenken, zugleich scheint sein Wirken aber nicht auf einen spezifischen Bereich begrenzt, sofern er für die glückenden Reisen, sowohl für die von Fortunatus über das Land als auch für die Agripinas über das Meer, aber auch für Existentielles verantwortlich gemacht wird. Dabei wird allerdings nur die Geburt Ampedos, nicht aber die Andalosias vor diesem göttlichen Horizont verortet,¹⁴⁷ und auch der Tod – sei es Lüpoldusʼ, Cassandras oder Fortunatusʼ – wird nicht mehr explizit mit göttlicher Macht in Verbindung gebracht¹⁴⁸. Dementsprechend werden auch nicht alle gelingenden Reisen als providentielle Fügungen erzählt.¹⁴⁹ Die Deutung des Geschehens durch den Erzähler bzw. die Zuschreibung von Verantwortung als solche erweist sich somit als vergleichsweise heterogen; die göttliche Instanz scheint nicht die gesamte erzählte Welt, sondern nur einzelne in ihr geschehende Ereignisse zu determinieren. Vor diesem Hintergrund mögen die Ausweise der genannten Figureninterpretationen als irrtümlich natürlich plausibel erscheinen; da diese aber in keiner Weise handlungsstrukturelle Notwendigkeit besitzen – ihre Entbehrlichkeit zeigt sich in der Szene um Agripinas Zofe nicht zuletzt im narrativen Kontext, denn jene Psychonarration ist in den Dialog zwischen dieser und Andalosia integriert (vgl. 542,2– 542,17, bes. 542,10 – 542,11) –, aber nichtsdestoweniger ein in der Erzählung prominentes Deutungsmuster aufgreifen, scheint diese Konstruk-
Der Hinweis auf Gottes Erhörung ihrer Gebete findet sich nur bei Ampedo, zu Andalosia heißt es bloß: darnach bald ward Cassandra aber swanger vnd brachte mer ainen sun / ward auch mit freüden geteüfft vnd gehaissen Andolosia (481,17– 481,19). Gottes Einfluss auf existentielle Dinge beschränkt sich somit auf die Geburt, und hier ausschließlich auf die Ampedos; der Tod wird jeweils als Folge von Krankheit erzählt, vom Erzähler aber nicht vor einem göttlichen Horizont konturiert: Während Lüpoldusʼ Alter zwar mehrfach – insbesondere in Figurenrede (vgl. 480,4; 480,6; 480,14) – betont wird, stirbt er aufgrund toͤtlicher kranckaitt (481,1), die die Ärzte nicht zu heilen in der Lage sind (vgl. 481,2); so verhält es sich auch bei Cassandra und Fortunatus: Cassandra erkrankt an ainer swaͤren vnd toͤdtlichen krankhait / das ir kain artzt weder kund noch mocht gehelffen / ward kain gGt noch gelt gesparet / sonder sy mGßt sterben / on langes vertziehen (504,14– 504,17); Fortunatus hingegen wird erst infolge seines Kummers über Cassandras Tod krank (vgl. 505,5 – 505,17). Friedrich 2011, 148 f., deutet die Schilderungen des Todes als Verweis auf Kontingenzerfahrung und betont ebenfalls, dass Providenz hier keine Rolle spiele. So erreicht Fortunatus auf der Galeere des Grafen von Flandern Venedig mit allem glück (393,4), während etwa die Reisen durch den Orient keiner lenkenden Instanz zu unterstehen scheinen.
3.2 Narrative Verfahren der Ambivalenzerzeugung im Fortunatus
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tion gerade auf die Pointierung jenes Bruchs zwischen Figurenwahrnehmung und Erzählerrede zu zielen.¹⁵⁰ Neben solchen Divergenzen zwischen einer auf finale Lenkung zielenden Figurenwahrnehmung und der kausalen Herleitung des Geschehens durch den Erzähler sowie der von diesem vorgenommenen nur partiellen Etablierung eines providentiellen Horizontes sind auch solche Kommentare der Erzählinstanz von besonderer Relevanz, die nicht nur eine, sondern mehrere ursächliche Erklärungen für ein Geschehen liefern: Während Gott in oben genannten Szenen nämlich ausdrücklich als lenkende Instanz erscheint, wird die Verantwortung für ein Geschehen an anderen Stellen nicht derart deutlich zugeschrieben, sondern insofern potenziert, als andere verantwortliche Instanzen neben Gott treten, es somit zu einer Pluralisierung derselben kommt. Auf diese Weise wird eine explizite Gleichzeitigkeit potentieller Erklärungsmuster durch die Erzählinstanz selbst generiert. Prägnant zeigt sich dies in jener Erklärung des Erzählers, Fortunatus und Lüpoldus hätten [m]it der hylff gots vnd des alten mans (447,10) aus der Höhle des heiligen Patricius gefunden, wobei jener die Höhle einst mitt schnieren (446,31) abgemessen hatte und von dem Abt eigens für die Suche bestellt wird; die eigentliche Entdeckung der beiden Verirrten wird dabei allerdings ausschließlich durch das Funktionieren des technischen Instruments gewährleistet: vnd allso schlGg der alt man sein instrument an vnd sGcht ain hüli nach der anderen biß daz er sy fand (447,5 – 447,7). Gott, alter Mann und technisches Gerät – hat Gott verursacht, dass die beiden Verirrten gefunden werden, weil das Gerät funktioniert? Oder können sie gefunden werden, weil der Mann die Höhle vor Jahren vermessen hat? Die Zuweisung von Verantwortlichkeit an verschiedene Möchte man eine solche Konstruktion auf ihren Reflexionsgrad hin befragen, ließe sich die Motivierung und Plausibilisierung der von der Figur formulierten Annahme über den Lauf der Welt bei gleichzeitiger Negation eben dieses Erklärungsversuchs für die tatsächliche Deutung des Geschehens anhand einer die vermutete Finalität aushebelnden kausalen Konstruktion womöglich als Hinweis auf eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem zeitgenössisch virulenten Funktionswandel und dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust des religiösen Diskurses verstehen. Sie wäre somit Resultat einer diesen außertextuellen kulturellen Kontext explizit reflektierenden narrativen Gestaltung. Die Figur der Zofe als bewusstes Konstrukt der erzählten Welt diskursivierte dabei aber weniger die Marginalisierung der religiösen Wissensordnung als vielmehr deren anhaltende Relevanz für die Deutung von Welterleben, die anhand der plausibilisierenden Kontextualisierung dieser figuralen Disposition betont, gleichzeitig aber über die Kausalität der erzählten Handlung und die Negation göttlicher Lenkung als unzutreffend gezeigt würde. Der so entstandene Bruch zwischen Figurenbewusstsein und Erzählerstimme könnte dabei durch die Betonung der Ungültigkeit providentieller Ursächlichkeit gerade nicht nur den Geltungsverlust des Religiösen, sondern eben auch die Erfahrung von Kontingenz reflektieren, die sich literarisch wie realgeschichtlich in der Simultaneität potentieller Schicksalsinstanzen manifestiert.
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Instanzen bei scheinbar recht eindeutiger Herleitung des Geschehens, die das verantwortliche Subjekt aber gerade nicht konkretisiert, lässt keine Antwort auf diese Fragen zu. Die erzählende Instanz scheint über die retrospektive Argumentation mit providentieller Beeinflussung gewissermaßen die eigene, darauf gerade nicht referierende kausale Konstruktion zu übergehen.¹⁵¹ Im Hinblick auf die Frage nach der ursächlichen Ermöglichung der Rettung ist diese Konstellation letztlich der Inbegriff von Ambivalenz: Sie erzeugt Uneindeutigkeit in der Bewertung des Geschehens sowie in der Zuordnung von Verantwortung und exponiert damit jene antagonistische Mehrdeutigkeit, die nur als intentionale Pointierung konträrer Sinnstrukturen verstanden werden kann. Mit Blick auf die Gesamtkonzeption der Erzählung ist also festzustellen, dass beide Motivierungsformen auf Ebene der erzählten Welt eingespielt werden. Müllers These einer die gesamte Erzählung dominierenden „schiere[n] Kontingenz […]: eine[r] von keiner Providenz gezähmte[n], sich nirgends zur necessitas des Fatums erhebende[n] Fortuna“¹⁵² müsste folglich eingeschränkt werden: Kontingenz wird zwar exponiert, providentielle Lenkung aber nicht gänzlich negiert. Obgleich die Konkurrenz zwischen Providenz und Kontingenz nicht derart explizit ausgestellt wird, wie es in anderen Erzählungen, etwa im Apollonius, der Fall ist, scheint ihr unbestimmtes Verhältnis Ergebnis einer narrativen Strategie zu sein, die auf Ambiguisierung zielt: So wird der Zufall etwa gerade nicht vor einem göttlichen Rahmen inszeniert, vielmehr wird dessen kontingenter Status pointiert und damit in Konkurrenz zu solchen Ereignissen gestellt, die zum Resultat göttlicher Lenkung erklärt werden, die wiederum nicht zuletzt dadurch präsent gehalten wird, dass Figuren in der Erklärung von Geschehen und zukünftigen Handlungen immer wieder auf diese rekurrieren¹⁵³ – welcher Macht-
Fortunatus allerdings lobt got das er aber auß ainer grossen angst kommen was (447,19), obwohl ihm von seinen Knechten zuvor mitgeteilt wird, dass sie dem alten Mann Bezahlung für die Suche versprochen hatten (vgl. 447,14– 447,16). Die in der Höhle noch verzweifelt geäußerte Bitte an Gott O almechtiger got / nun kum vns zu hilff wann hye hylfft weder gold noch silber (446,22– 446,24), erweist sich nachträglich also als falsch, sind es doch gerade gold und silber, die seine Rettung ermöglichen. Müller 1995, 222. So hoffen die Figuren immer wieder auf göttlichen Beistand (wie etwa Fortunatus beim Verlassen seines Elternhauses [vgl. 391,6 – 391,7], im wilden Wald [vgl. 427,12– 427,13], in der Höhle des heiligen Patricius [vgl. 446,22– 446,23], bei Ermordung des diebischen Wirts [vgl. 459,6 – 459,12; 459,24; 460,17– 460,18] oder aber Andalosia im Rahmen seiner Klage in der Wildnis [vgl. 536,3 – 536,5] bzw. Agripina ebendort [vgl. 553,21– 553,22]), bitten Gott für das Wohlergehen anderer Figuren (so Fortunatus für seine Eltern [vgl. 391,14– 391,15] oder für den Waldgrafen in der Hoffnung, von diesem verschont zu werden [vgl. 436,7– 436,8]; Andalosia wünscht Agripina [vgl. 556,9 – 556,11] sowie diese ihren Eltern Gottes Segen [vgl. 564,14– 564,17]) oder um das Ge-
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bereich wird Gott nun zugestanden? Und welche Instanz verantwortet dann das kontingente Geschehen? Diese Frage bleibt auch mit Blick auf Pro- und Epilog unbeantwortet, obgleich der hier formulierte Tun-Ergehen-Zusammenhang zunächst finale Lenkung suggeriert. Denn selbst wenn der Erzähler diesen entsprechend der oben beschriebenen Verfahren relativiert, wird nicht konkretisiert, welche Rolle der die Wahl erst retrospektiv als falsch ausweisende finale Misserfolg für ein Verständnis des Geschehens spielt. Zudem scheint dieser selbst erst Resultat einer Verkettung – gleichwohl unglücklicher – Zufälle zu sein: Nicht nur hätte Fortunatus bereits ein solches Schicksal wie sein Sohn erleiden können,¹⁵⁴ auch Ampedos tödliche Er-
lingen folgender Handlungen. Vor allem Lüpoldus scheint sein weiteres Vorgehen stets in den Dienst Gottes zu stellen: So möchte er im Anschluss an den ersten Diebstahl des Säckels Fortunatus mit dem Hinweis beruhigen, vnd so wir nit gelt haben woͤllen wir eüch mit der hilff gotes auch wol haim helffen (453,19 – 453,20), und greift auch nach dem Totschlag des Wirts auf dieses Muster zurück: So will ich vns mit der hilff gots mit leib vnd gGt vnd on alle hyndernus von hynnen bringen (460,29 – 460,30). Auch dankt er diesem in der Folge für die Eingebung, die richtige der drei Schwestern als Ehefrau für Fortunatus gewählt zu haben (vgl. 473,16 – 473,18). Die Annahme einer Verantwortlichkeit Gottes für das Geschehen zeigt sich pointiert auch in der Abschiedsszene von Fortunatus und Cassandra (vgl. 482,26 – 484,17). Vor allem in Fortunatusʼ Äußerungen zeichnet sich dabei teilweise die Tendenz ab, neben Gott auch das Geld zu nennen (vgl. 446,22– 446,23; 459,24– 459,25). Dass solche auf göttliche Lenkung zielenden Figurendeutungen ebenfalls einer Diskussion jenes Verhältnisses von Kontingenz und Providenz dienstbar gemacht werden, zeigt sich auch in der Begegnung mit der Jungfrau des Glücks: Fortunatus erwacht, sieht jenes weibs bild (429,9) und macht Gott für diese Fügung verantwortlich: ER hGb an got ynnigklichen zG loben. vvnd sprach / O allmaͤchtiger got ich sag dir lob vnd danck / das ich doch ain mensch hab mügen sehen vor meim tod (429,12– 429,14). Es handelt sich aber weder um einen Menschen, noch eindeutig um eine göttliche Fügung, wird das Verhältnis zwischen dem Erscheinen der Jungfrau des Glücks bzw. ihrer Fähigkeit, Gaben zu verleihen, und Gott gerade nicht konkretisiert. So führt sie ihre Existenz und ihr Wirken auch nicht auf Gott zurück: ich byn die iunckfraw des glücks / vnd durch die einfliessung des himels vnd der sternen / vnd der planeten. So ist mir verlihen sechs tugendt / die ich fürter verleühen mag aine zwG me oder gar / nach den stunden vnd regirung der planeten (430,8 – 430,12). Sie scheint also in der Verleihung der Güter an die Sterne und Planeten gebunden, über ihr Verhältnis zu Gott erfahren wir hingegen nichts (vgl. zu diesem Aspekt auch Müller 1995, 225). Die einleitende Interpretation der Fortunatus-Figur steht also in Kontrast zu dieser Inszenierung der Jungfrau des Glücks. Müller 1995, 220, weist etwa darauf hin, dass das Ende der Familie nicht erst durch Andalosias Tod hätte eintreten müssen, sofern diese immerzu bedroht gewesen sei: So bei Theodorus und seinem finanziellen Ruin, aber eben auch, „wenn der Sohn von der Kastration, dann vom Galgen, schließlich vom Tod in der Wildnis bedroht wird. Das Ende kann jederzeit eintreten, noch bevor die Aufstiegsbewegung eingesetzt hat, und auch danach noch, wenn der Held im Gefängnis des Waldgrafen, in der Höhle des heiligen Patricius oder in Konstantinopel um sein Leben fürchten muß.“ In diesem Sinne ließe sich mit Müller 1995, 221, auch fragen: „Was wäre geschehen, wenn? Wenn z. B. Fortunatus schon der Gerichtsgewalt des Waldgrafen zum Opfer ge-
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3 Zur narrativen Inszenierung von Ambivalenz
krankung infolge seines grossen vnmGtt vnd hertzen layd (571,8) ob des Verschwindens seines Bruders ist als solche nicht vorhersehbar. Dass auch die Ermordung Andalosias ein zutiefst kontingentes Ereignis darstellt, zeigt vor allem die Schilderung des Konflikts zwischen den beiden Grafen über den weiteren Umgang mit ihm.¹⁵⁵ Andalosias Tod ist nicht notwendige Konsequenz einer vermeintlich falschen Wahl seines Vaters, er ist Ausdruck purer Kontingenz. Der finale Misserfolg der Figuren, der die Entscheidung für Reichtum nachträglich als falsche ausweist, ist damit ein kontingentes Ereignis¹⁵⁶ – das Exempel von der falschen Wahl exemplifiziert somit selbst Kontingenz, oder anders: Die finale Motivierung, wie sie über den Zusammenhang von Tun-und-Ergehen anzitiert wird, macht Kontingenz zur Prämisse ihrer Realisierung. Die kompositorische Motivierung scheint im Fortunatus damit gerade auf die Konkurrenz zwischen Providenz und Kontingenz zu zielen, sofern das Verhältnis von kausaler Handlungsfolge und finaler Steuerung anhand der skizzierten narrativen Verfahren fortwährend diskutiert und in seiner Ambivalenz ausgestellt wird. Auch Müller betont, dass die Erzählung dem Rezipienten eine Antwort auf die Frage nach den tatsächlich lenkenden Instanzen schuldig bleibe,¹⁵⁷ und er legt auch nahe, dies als Resultat einer spezifischen Motivierungsstruktur zu verstehen.¹⁵⁸ Gleichwohl gewichtet er das Verhältnis von Providenz und Kontingenz
fallen, in der Höhle des heiligen Patricius verlorengegangen, für den versehentlichen Totschlag des Wirts in Konstantinopel bestraft, von den Schiffen des Sultans gestellt worden wäre?“ Die Erzählung erweckt also immerzu den Eindruck, dass auch Fortunatusʼ Schicksal grundsätzlich eine andere Entwicklung hätte nehmen können. Während Andalosia für Graf Theodorus besser tod dann lebendig [waͤre] (572,31– 572,32), argumentiert der Graf von Lymosi mit der von ihm ausgehenden Gefahrlosigkeit aufgrund seiner Gefangenschaft: er ligt so hert gefangen das er vnns kainen schaden zG gefGgen kan (573,5 – 573,6). Das Geschehen wäre somit potentiell abwendbar gewesen, hätte sich auch anders ereignen können, was durch die Verweigerung des Knechts, Andalosia zu töten oder aber Graf Theodorus auch nur in der Umsetzung dieses Ziels zu unterstützen, pointiert wird: vnnd fGrt den knecht der sein hGt an ain ort / vnd wolt ym fünfftzig bar ducaten geben haben / das er Anndolosia erwürget / daz wolt der huͤtter nit tGn / vnd sprach er ist ain frommer man. vnd ist fast swach / er stirbt bald selber / ich wil die sünd auf mich nit laden / der graff sprach. So gib mir ainen strick / ich will yn selbst erwürgen / vnd wil nit von hynnen / er sey dann vor tod / der knecht wolt das auch nit thGn vnd jm kainen strick bringen / allso nam er sein gürttel die er vmb hett / vnd legt die dem ellenden Andolosia vmb den hals (574,30 – 575,9). Schon Haug 1987, 31 f., hat darauf hingewiesen, dass trotz Fortunatusʼ falscher Wahl das Geschehen prinzipiell offen sei. So auch Müller 1995, 221. Vgl. Müller 1995, 223. Auch Müller 1995, 222 f., Anm. 11, bezieht sich auf die von Martínez klassifizierten Motivationsarten, sieht in der kompositorischen Motivierung aber nicht jene Konkurrenz ausgestellt, sondern eine „Strukturierung des Geschehens […] als Folge spektakulärer Glückswechsel“. Dabei
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anders bzw. wertet die vom Erzähler zuweilen suggerierte finale Lenkung nicht als Element einer auf Ambiguisierung, auf Pointierung jener offenen Frage zielenden Strategie. Für ihn wird die Erzählung von absoluter Kontingenz¹⁵⁹ beherrscht, das derart dominierte Geschehen erlaube keine „totale Sinndeutung“¹⁶⁰. Unter anderem ist dies aber erst Resultat jener Erzählerkommentare, die einerseits göttliche Lenkung oder einen finalen Rahmen nahelegen, die diesen andererseits aber desavouieren. Müller versteht jene Kommentare gerade nicht als „programmatische Aussagen“¹⁶¹, sondern als bloße „Situationskommentare“¹⁶², als „Floskeln“¹⁶³, die nicht nur beliebig, sondern auch manchmal falsch seien: Religiös fundierte Deutungen des Weltlaufs sind keineswegs völlig aufgegeben, aber sie treten nurmehr von Fall zu Fall auf, sind oft floskelhaft, manchmal objektiv falsch, gelegentlich rein ideologisch. […] Die Welt des ‚Fortunatus‘ ist chaotisch.¹⁶⁴
Die erzählte Welt im Fortunatus mag chaotisch sein – ihre ‚Regellosigkeit‘ ist aber letztlich Ergebnis einer Erzählstrategie, die über verschiedene narrative Verfahren die Gleichzeitigkeit von Kausalität und Finalität, von Kontingenz und Providenz, allererst generiert.¹⁶⁵ Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Diversität und Differenziertheit der diese Ambivalenz pointierenden Arrangements.¹⁶⁶ Nicht nur der Fortunatus, auch die Melusine und der Apollonius exponieren solche konträren Sinnstrukturen anhand von Sequenzen, in denen die Verantwortlichkeit für ein Geschehen und damit die Deutung der erzählten Ereignisse zur Diskussion gestellt werden. Während der Apollonius die Konkurrenz von
werde die finale Motivierung, die er mit jenem Exempel von der falschen Wahl gleichsetzt, „von Fall zu Fall in Frage gestellt“, indem eine durch die kleinschrittige Organisation der Erzählung evozierte Regellosigkeit den Raum für kausale Motivierung eröffne. Vgl. Müller 1995, 222. Müller 1995, 221. Müller 1995, 218. Müller 1995, 218. Müller 1995, 223. Müller 1995, 224. Schon Haug 1995, 19, impliziert die Intentionalität dieser narrativen Gestaltung: „So wird der Leser ratlos entlassen, und darauf scheint es dem Autor auch angekommen zu sein“. So nämlich in der Betonung der aus kausallogischen Zusammenhängen resultierenden Handlungsfolge bei gleichzeitiger Etablierung eines providentiellen Horizontes; in der Einschränkung der Wirksamkeit desselben auf einzelne Bereiche und Ereignisse bei gleichzeitiger Suggestion finaler Lenkung durch den Rekurs auf jenen Tun-Ergehen-Zusammenhang sowie auch in dessen Relativierung und Ambigusierung; in der Inszenierung von Brüchen zwischen Figureninterpretation und Herleitung des Geschehens sowie der Pluralisierung von Instanzen in Erzählerrede.
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Providenz und Kontingenz zum Teil deutlich stärker entfaltet als der Fortunatus, indem er einen zunächst etablierten göttlichen Horizont mit solchen Szenen kontrastiert, in denen dieser – etwa über die Inszenierung des Meeres als kontingenten Raum – verschiedentlich infrage gestellt wird, jenen aber zugleich anhand von Brüchen zwischen Figurenwahrnehmung und Herleitung des Geschehens präsent hält, zeichnet sich die Melusine durch eine kausale Handlungsstruktur aus, die letztlich im Kontrast sowohl zur kompositorischen Motivierung der Erzählung als auch zu der vom Erzähler suggerierten finalen Lenkung steht, die sich wiederum – wie im Fortunatus – selbst als ambivalent erweist. Zugleich werden Brüche nicht nur zwischen der narrativen Darstellung des Erzählers und Figureninterpretationen, sondern auch zwischen einzelnen dieser Deutungen thematisch. Die anhand des Fortunatus exemplarisch skizzierten Erzählverfahren generieren als solche, vor allem aber in ihrer spezifischen Kombination und im narrativen Kontext jene Ambivalenz, die als charakteristisches Merkmal auch der frühneuhochdeutschen Prosaromane verstanden wird. Die Komplexität des ambivalenten Erzählens akzentuiert die dieser spezifischen Erzählweise inhärente genuin ästhetische Dimension, der trotz ihrer zeitweisen Funktionalisierung für die Reflexion kultureller Kontexte vor allem deshalb das Hauptaugenmerk gelten sollte, weil die Erzählungen ihren ästhetischen Anspruch, ihren Status als literarisches Artefakt, ihre narrative Konstruktion wie auch ihr rezeptionsseitiges Verständnis in der erzählten Welt selbst reflektieren. So verweisen etwa Fortunatusʼ Reisetagebücher nicht nur auf den (literarischen) Konstruktionsprozess,¹⁶⁷ sondern akzentuieren auch die Bedeutung individueller rezeptionsseitiger Dispositionen für einen Lektüreakt: Während diese den alltzeyt etwas frecher (482,3) Andalosia dazu bewegen, auch solche Abenteuer erleben zu wollen – sie bringen jm ainen solichen lust […] / das er jm ernstlichen fürnam / wie er auch wandlen muͤßt (508,2 – 508,3) –, zieht Ampedo, der ain guͤtig mensch [was] (508,31– 508,32), aus den Erlebnissen seines Vaters gänzlich andere Konsequenzen: wer wandlen woͤl der wandle / es gelust mich gar nichtz / ich moͤchte leycht kommen da mir nit so wol waͤre als mir hye ist / ich will hye zu famagusta beleyben vnnd mein leben in dem schoͤnen ballast verschleissen (508,8 – 508,12).
Fortunatus scheint seine Tagebücher nämlich minutiös aufzuzeichnen: vnd do er allso die laͤnder vnd die künigreich alle durchtzogen ir sitten vnnd gewonhaiten vnd ire gelauben gar eben gesehen vnd gemerckt het. auch selb ain buͤchlin gemacht / darinne er aller künig vnnd hertzogen / graffen / freyen / macht vnd ir vermügen erschriben / vnd auch was gaystlichen fürsten / Bischoff / aͤbbt / prelaten von land vnd leütten / dartzwischen so er getzogen was gesehen hett (463,26 – 464,1; vgl. auch 442,1).
3.2 Narrative Verfahren der Ambivalenzerzeugung im Fortunatus
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Die Unterschiede in den Verstehens- und Deutungsmustern verweisen dabei auf die literarischem Erzählen grundsätzlich inhärente Vieldeutigkeit und legen zumindest nahe, die Möglichkeit divergierender Rezeptionsweisen in der narrativen Konstruktion angelegt zu sehen.¹⁶⁸ Ähnliche selbstbezügliche Diskussionen finden sich auch in der Melusine und im Apollonius. Ihrer spezifischen Erzählweise gelten die folgenden Ausführungen.
Bemerkenswert erscheint, dass Andalosia Ampedo eine ähnliche Rezeptionsweise der Tagebücher unterstellt: lyeber brGder was woͤllen wir anfahen / laß vns wandlen vnd nach eeren stellen als dann vnser herr vatter geton hat / hast du nit gelesen wie er so weitte land durchfaren ist / so lyß es noch (508,4– 508,7). Diese Figurenäußerung basiert also auf der Annahme, dass Ampedo die gleichen Schlüsse aus den Erlebnissen des Vaters zöge und ebenfalls wandlen wolle. Dies pointiert die davon abweichende Lektüre Ampedos ganz besonders und legt nahe, dies nicht nur als Hinweis auf die je individuellen Figurendispositionen, sondern auch auf eine genuine, dem literarischen Text inhärente Vieldeutigkeit zu verstehen.
4 Thüring von Ringoltingen: Melusine Die 1456 entstandene Melusine Thürings von Ringoltingen¹ zählt zu einem der erfolgreichsten frühneuhochdeutschen Prosaromane.² Im Gegensatz zu den spätmittelalterlichen französischen Fassungen lässt sich sein Status als „Leittext[] der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Ära“³ nicht über die Funktion adliger Familiengeschichtsschreibung fassen,⁴ sondern wird je unterschiedlich begründet: So eigne dem Roman etwa nach Mühlherr gerade in der Loslösung von dieser Funktionsbestimmung eine „besondere literarische Qualität“⁵; Haug sieht das Innovative des Romans in der Thematisierung des Neuen als Ausdruck historischer Individualität vor allem auch in poetologischer Hinsicht;⁶ und während es für Müller „die krude Faktizität des Außergewöhnlichen, oft Wunderbaren [ist],
Melusine, in: Müller 1990. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe im Fließtext mit Seitenzahlund Zeilenangabe in Klammern zitiert. Vgl. zu Entstehung, Autor und Überlieferung Müller 1990, 1012– 1031; Müller 1977, 35 – 47. Vgl. zum Erfolg des Prosaromans Drittenbass 2009, 62 ff.; Lafond 2012, 47; Steinkämper 2007, 83. Mühlherr 1993, 1; auch Schausten 2006, 158, setzt sich mit dieser Wertung des Romans auseinander. Sowohl Thürings Vorlage, der französische Versroman Le Roman de Mélusine ou Histoire de Lusignan Coudrettes, der an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert im Auftrag der Herren von Parthenay angefertigt wurde, als auch die vorangehende Prosaversion von Jean d’Arras, die für den Herzog Jean de Berry und dessen Schwester wohl zwischen 1387 und 1394 verfasst wurde, suchen eine explizite genealogisch-historische Anbindung an das Geschlecht der Lusignans. Vgl. zu den französischen Vorlagen und deren genealogischer Anbindung Müller 1977, 47 ff.; Müller 1990, 1025 ff.; Kellner 2001, 280 ff.; Mühlherr 1993, 7, 10 f.; Peters 1999, 210 – 218; von Ertzdorff 1972, 430 – 436. Thürings Roman hingegen intendiert keine explizite Anbindung an ein existierendes Geschlecht, vielmehr gehe, so Müller 1977, 49 f., „[d]iese enge Bindung zwischen literarischem Werk und Adressaten […] im neuen Rezeptionszusammenhang verloren“. Im Unterschied zu den französischen Fassungen verlagert Thürings Roman das Interesse also auf die generelle Thematisierung adligen Herkommens ohne explizit dynastische Anbindung (vgl. dazu Müller 1977, 49 – 56; Müller 1990, 1028 – 1031; Kellner 2001, 283 f.; Schausten 2006, 158; Peters 1999, 218 ff.). Den verschiedenen spätmittelalterlichen Fassungen geht eine breite lateinisch-gelehrte Auseinandersetzung mit dem Motivkomplex, nämlich der Verbindung eines sterblichen Menschen mit einer anderweltlichen Geliebten, voraus, die seit Parzer als ‚Martenehe‘ bezeichnet wird, und der gemeinhin eine eher naturkundlich-theologische Perspektive und damit eine recht eindeutige Funktionalisierung im Rahmen der christlichen Dämonologie unterstellt wird. Vgl. zur lateinischen Tradition Müller 1990, 1022– 1025; Kellner 2001, 276 – 281. Zuletzt hat Silvia Reuvekamp diese in der Forschung einhellig vertretene Annahme einer eindeutigen dämonologischen Kontextualisierung der Martenehenerzählungen in der lateinisch-gelehrten Stofftradition infrage gestellt. Mühlherr 1993, 5. Vgl. Haug 1988, 316 – 322. https://doi.org/10.1515/9783110672589-004
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die fasziniert“⁷, begründet Lafond den Erfolg des Romans mit dem „Konnex von Mythos, Historie und fataler Liebespassion“⁸. Diese nur exemplarischen Einschätzungen über den literarhistorischen Rang des Romans, seinen zeitgenössischen Erfolg und seine weit über das 15. und 16. Jahrhundert hinausgehende Überlieferungsgeschichte und Rezeption verweisen bereits auf die Vielfalt der Perspektiven, unter denen der Roman in der Forschung in den Blick geraten ist: Neben sozialhistorisch orientierten Ansätzen, die jene funktionsgeschichtliche Ablösung als Reflex auf die politischen Interessen und Legitimationsversuche der stadtbürgerlichen Oberschicht Berns gedeutet haben,⁹ sowie eher historisch-anthropologischen Arbeiten, die darin den Versuch gesehen haben, die wunderbare Herkunft adliger Familien generell zu legitimieren,¹⁰ ist der Roman auch aus diskursanalytischer¹¹ und gendertheoretischer¹² Müller 2010, 119. Lafond 2011, 84. Vgl. insbesondere Müller 1977. Gerade die Betonung von harkomen, ere und vszeichnung wurde als Verweis auf die auch realhistorischen Bestrebungen der Berner Twingherren interpretiert, an adliger Lebensform zu partizipieren und die eigene soziale Stellung abzugrenzen und zu festigen. Vgl. auch Roloff 1970, der die Abweichungen von der Vorlage allerdings als Ausdruck einer Verbürgerlichung (vgl. 14; 194) und die stilistische Gestaltung als Resultat einer rationalistischen Weltauffassung (vgl. 168) begreift. Vgl. von Ertzdorff 1972, 437, die ein eher allgemeines Interesse des Adels an genealogischer Anbindung und der Legitimierung über einen mythischen Urahn hervorhebt, auch wenn sie auf die „aristokratische Einstellung“ Thürings und seine Rolle im Twingherrenstreit bereits hinweist. Vgl. auch Peters 1999, 218 ff.: Thürings Fassung sei im Gegensatz zu Coudrettes Roman „eine übergreifende Rekonstruktion des westeuropäischen Dynastenadels“ und werde deshalb „eher als ein auf historischer Authentizität basierendes Kompendium adeliger Lebenswirklichkeit und Standesnormen bezeichnet“ (220). Vgl. etwa Kellner 2001, 274, die die jeweiligen diskursiven Verknüpfungen der verschiedenen Fassungen des Melusinestoffs mit unterschiedlichen Ordnungen des Wissens untersucht und dabei zum einen die naturkundlich-theologische, zum anderen die genealogische Diskurstradition in den Blick nimmt. Neben der Analyse der einzelnen diskursiven Vernetzungen möchte sie vor allem auch jenen „Umcodierungsprozesse[n] zwischen dem gelehrten lateinischen Diskurs und jenem der volkssprachlich späthöfischen Literatur“ (274) nachgehen. Während die lateinischen Fassungen eine eindeutige, nämlich negative Wertung der Melusine-Figuren als dämonisch intendierten, komme es in den volksprachlichen Fassungen zu einer Verwischung der zuvor gezogenen Grenze, zu einer „entdifferenzierenden Vermischung der Menschen- und Dämonenwelt am Ursprung des Geschlechts.“ (293) Zwar werde das Dämonische einer semantischen Umwertung unterzogen – es werde in feudale Normalität überführt, domestiziert und diene als Auszeichnung –, bleibe aber „ambivalent“ (294). Vgl. etwa Steinkämper 2007, die der Geschlechterkonzeption des Romans nachgeht und dabei insbesondere die Geschlechterhierarchie in den Blick nimmt, auf die sowohl die höfischen Leitbilder von ‚Ritter‘ und ‚Dame‘ sowie Thürings stadtbürgerliche Herkunft als auch das Motiv der gestörten Martenehe Einfluss nähmen. Vgl. auch Schnyder 2011, der die sich entsprechenden
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Perspektive beleuchtet worden. Darüber hinaus finden sich sowohl eine Reihe von mediengeschichtlichen Ansätzen, die die Überlieferungstradition und das Verhältnis einzelner Druckausgaben¹³ sowie die Relation von Text und Bild¹⁴ untersuchen, als auch Arbeiten zu einzelnen thematischen Motiven, wie etwa Liebe und Ehe,¹⁵ Zufall und Glück,¹⁶ Wissen und Erkennen¹⁷, sowie auch zu übergreifenden erzählerischen Aspekten, wie etwa dem Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität¹⁸. Dabei hat sich die Forschung zur Melusine zwar schon früh auch mit erzähltechnischen Einzelaspekten auseinandergesetzt, dies aber in der Regel zunächst nicht mit einem explizit erzähltheoretischen Anspruch – etwa im Sinne eines spezifischen methodischen Instrumentariums –, sondern meist im Kontext übergreifender Fragestellungen. So wurde etwa nach Rolle und Funktion der Erzählinstanz,¹⁹ der Erzählstruktur und Handlungsführung,²⁰ den verschiedenen Motivationsformen insbesondere in Auseinandersetzung mit Lugowski²¹ sowie der spezifischen Ausgestaltung und Variation des Erzählschemas ‚gestörte Martenehe‘ und damit auch nach der Darstellung der Hauptfigur²² gefragt. Erst jün-
Textstellen aus Maps De Nugis Curialium und Thürings Melusine auf die Darstellung der Geschlechterbeziehung unter den Stichworten „Begehren“ und „Wissen“ und mit Blick auf Produktions- und Rezeptionsbedingungen analysiert. Den hier nur exemplarisch genannten gendertheoretischen Perspektiven ist eine breite feministisch orientierte Forschungstradition vorausgegangen. Vgl. hierzu etwa: Bennewitz 1988, 294, die die „Spannbreiten weiblicher Aktionsradien […] und zwar im positiven Sinne von gesellschaftlicher Aktivität und Selbständigkeit“ nachzeichnen möchte. Vgl. auch Bennewitz 1994, im Fokus steht hier neben der Beziehung der Mutter und Töchter auch das Identifikationsangebot, das die Melusine-Figur den zeitgenössischen Rezipientinnen biete. Vgl. Künast 2010; Rautenberger 2010. Vgl. etwa Domanski 2010. Vgl. bspw. Mertens 1994, 117– 122, der in Anlehnung an Luhmanns Definition von Liebe die Geschlechterliebe und ihre Semantik auch in einem historisch-gesellschaftlichen Kontext untersucht, sowie Rohr 2010, 369 ff., der in der Analyse den zeitgenössischen Ehediskurs und hier insbesondere Albrecht von Eybs Ehebüchlein in den Blick nimmt. Zur Liebesthematik vgl. auch von Ertzdorff 1983, 61, die im Kontext dieser Thematik eine Individualisierung der Melusine-Figur beobachtet. Vgl. exemplarisch Pafenberg 1995; Haug 1988; Quast 2004; Speth 2012. Vgl. exemplarisch Suerbaum 2011; Schnyder 2006a. Vgl. bspw. Raumann 2010. Vgl. Roloff 1970, 187; von Ertzdorff 1972, 445 f., 452 ff.; Hagby 2008, die der Funktion auktorialer Zeichen für eine Analyse der Erzähltechnik und dabei insbesondere den expliziten Erzählermarkierungen nachgeht. Von Ertzdorff 1972, 446 ff. Vgl. Müller 1985, 92 ff. Vgl. Müller 1990, 1031 ff.
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gere Untersuchungen haben sich dem Roman deutlicher aus einer narratologischen Perspektive genähert, sowohl in Verbindung mit anderen methodischen Ansätzen, wie etwa der Diskursanalyse,²³ der Gendertheorie²⁴ oder ethnographischen Fragestellungen²⁵, als auch im Hinblick auf spezifische erzählerische Konfigurationen, wie etwa Raum- oder Zeit-Konstruktionen,²⁶ Text- und Dialog-
So die Intention von Kellner 2001, 272, die im Gegensatz zur konventionellen Diskursanalyse „traditioneller vom Einzeltext und seiner genauen literaturwissenschaftlichen Beschreibung als syntagmatischem Zusammenhang aus[]gehen“ möchte, diesen Anspruch aber letztlich nur teilweise erfüllt. Ohne explizite Anbindung an die Diskursanalyse aber mit Blick auf dämonologische Wissensordnungen untersucht Drittenbass 2008 die Erzählung. Vgl. zur Lektüre der Melusine als „eine Erzählung von Männlichkeit“ im Rahmen eines genderund erzähltheoretischen Ansatzes Ziep 2006, 236 f., die den Strukturen der „narrativen Ordnung, die in besonderer Weise das Wissen von Männlichkeit und Verwandtschaft akkumuliert“ (236) nachgeht. Prämisse ist „die Annahme eines strukturellen Zusammenhangs zwischen Männlichkeit, Verwandtschaft und Erzählstrukturen“ (237). So Schausten 2006, 152– 157, die ihrer Analyse der Melusine eine Auseinandersetzung mit der ethnographischen Semiotik Clifford Geertzʼ vorausschickt und die hier veranschaulichte Dynamik kultureller Selbstauslegungspraktiken sowie den hier dokumentierten stets relationalen Status von Beobachter und Auslegungsobjekt zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen macht. Vor einem sozialgeschichtlich orientierten Forschungsinteresse Keller 2005, die der Relation zwischen der Chronologie des Romans und der realhistorischen, teleologisch orientierten Selbstthematisierung eines aufsteigenden Bürgertums, zu dem auch Thüring von Ringoltingen zählte, nachgeht. Ohne Bezug auf den sozialhistorischen Kontext mit stärker poetologischer Ausrichtung Kiening 2005b, der ausgehend von einer Diskussion des Verhältnisses von raumzeitlichen Modellen und literarischem Zeitenraum die Entfaltung eines ebensolchen im Rückgriff auf literarisierte genealogische Muster in den Melusine-Romanen in den Blick nimmt. Wichtig erscheinen Kienings Hinweis auf die im Roman erzeugte Paradoxierung und Sinnkomplexierung (vgl. 15, 18, 23 ff.) sowie die hier fassbaren Ansätze zur poetologischen Selbstreflexivität (vgl. 25 ff.). Zur Untersuchung des Raums und dessen narrativer Konstruktion mit besonderer Fokussierung des ‚Herkunftsraums‘ als Träger von Bedeutung und als Beitrag zur Kohärenzstiftung vgl. Rippl 2016: Reymunds Herkunftsraum sei der Wald, in den er nach seiner Adoption über das Jagdgeschehen wieder eintrete und der auch „zum Schauplatz seines Einstiegs in die genealogische Linie“ (207 ff.) werde; auf diesen Herkunftsraum und den dortigen Verwandtenmord werde immer wieder Bezug genommen. Das auf diese Weise entstehende „Geflecht von Verweisen […] schafft eine eigene, an den Herkunftsraum des Protagonisten (Wald, wilde) rückgebundene Struktur, die der Aufsteigergeschichte des Geschlechts bei aller Orientierung nach oben das Scheitern bereits einschreibt und damit eine spezifische Form der Kohärenz ausbildet.“ (212) Kohärenz entstehe hier weniger auf Ebene der histoire, als vielmehr auf discours-Ebene im Sinne eines „durch Sprache und Bezeichnung“ hergestellten „rote[n] Faden[s]“ (213), so dass zwei erzählerische Logiken wirksam würden: Zum einen „ein eminent zeitlich codiertes Modell logischer Verknüpfung der Handlung als Nacheinander“ (213), zum anderen „ein zyklisches Zeitmodell der ‚Wieder-Holung‘“ (213 f.), sofern die Verweise immer auf den Herkunftsraum Reymunds bezogen, als solche aber selbst räumlich organisiert seien und so verschiedene Zeitebenen zusammenführten.
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strukturen mit besonderer Beachtung der Erzählinstanz²⁷ sowie der Bedeutung und Funktion von Objekten²⁸. Neben sprachwissenschaftlich orientierten Untersuchungen²⁹ ist darüber hinaus im Rahmen jener sich explizit als ‚mediävistisch‘ verstehenden Erzähltheorie auch die spezifische Ausgestaltung des Erzählschemas erneut in den Blick geraten.³⁰ Dabei wurden narrative Strategien in der Melusine zwar nicht ausdrücklich in ihrer Funktion für die Generierung ambiger Textoder Figurenarrangements fokussiert, nichtsdestoweniger wurden aber durchaus jene erzählerischen Verfahren in den Blick genommen, die im Rahmen eines ambivalenten Erzählen fruchtbar gemacht werden bzw. dieses konstituieren: So hat sich etwa Schnyder im Rahmen seiner Überlegungen zu „‚Erinnerung und Interpretation‘ in der ‚Melusine‘“ mit der Erzählerfigur und dem Blick ins Innere der Figuren beschäftigt,³¹ Drittenbass hat mit Blick auf Vor- und Rückblenden die zeitliche Organisation der Erzählung untersucht und damit zentrale Aspekte der Figurengestaltung und erzählerischen Vermittlung erhellt,³² und Schausten hat in der Untersuchung der Perspektivenstruktur wesentliche erzählerische Merkmale
Vgl. Drittenbass 2011a, die anknüpfend an die Untersuchungen Roloffs die Textstruktur analysiert und die Strategien der Stoffpräsentation durch den Erzähler sowohl bei Thüring als auch bei Coudrette in den Blick nimmt. Von besonderem Interesse sind dabei Erzählstrang- und Blickwechsel, die spezifische Zeitregie (Pro- und Analepsen), erzählimmanente Dialoge und Paratexte. Drittenbass sucht im Rahmen ihrer Untersuchung dabei explizit Anschluss an diskursanalytische Ansätze und greift auf einen „linguistisch-komparatistischen Ansatz“ (12) zurück. Vgl. zur Rolle des Erzählers mit Blick auf die spezifische Verwendung der Termini materye und hystorie und ihrer Relevanz für das Stoff- und Erzählstrangverständnis ebenfalls Drittenbass 2011b; vgl. zu Gestaltung, Funktion und Relevanz vor allem des ersten Dialogs zwischen Reymund und Melusine Drittenbass 2009. Vgl. aus einer textlinguistisch-strukturalistischen Perspektive, auch mit empirischem Anspruch: Schrodt 2009. Vgl. die Studie von Oehri 2015. Oehri untersucht Bedeutung und Funktion spezifischer Objekte der erzählten Welt für die Erzeugung von Kohärenz. Sie geht dabei davon aus, dass zentrale Objekte „Episoden, Räume und Zeiten auf komplexe Weise [verbinden], indem sie in der Handlungswelt wandern, weitergereicht, gedeutet, benannt oder geliebt werden“ (4), und auf diese Weise, nämlich „durch Kontiguität und Zirkulation“ (12) und damit über ein dichtes Netz syntagmatischer und paradigmatischer Bezüge Kohärenz erzeugten. Vgl. Simmler 2010, 297– 324. So insbesondere bei Schulz 2012, 214– 241, in der Auseinandersetzung mit den ‚gängigsten mittelalterlichen Erzählschemata‘ und hier zur ‚Zur gestörten Martenehe‘. Vgl. Schnyder 2013, 110 ff. (zur Erzählerfigur), 108 ff. (zur Innenweltdarstellung der Reymundfigur). Obgleich das von ihm für diese Aspekte konstatierte Forschungsdesiderat, nämlich eine systematische Darstellung über die im Prosaroman genutzten narrativen Instrumente zur Repräsentation von inneren Vorgängen, im Hinblick auf dieses Textcorpus sicherlich zu bestätigen ist, hat die Arbeit von Hübner 2003 zur Fokalisierung im höfischen Roman doch wichtige diesbezügliche Erkenntnisse geliefert. Vgl. Drittenbass 2011a.
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des Textes identifiziert, die für die Wahrnehmung der Melusine-Figur und für die Deutung des erzählten Geschehens von besonderer Relevanz sind³³. Im Zuge dieser verstärkten Hinwendung zu erzähltheoretischen Fragestellungen und der Analyse narrativer Vermittlungsverfahren ist eine methodische Anbindung an die lateinische Bildungtradition und die Lehren der Rhetorik ausgeblieben. Zwar hat man in der Melusine vereinzelt gelehrte Wissensbestände oder (spät)antike Weltanschauungen nachgewiesen,³⁴ eine Berücksichtigung der für das mittelalterliche Bildungssystem sowie die zeitgenössische Erzählpraxis höchst relevanten rhetorischen Tradition, etwa im Sinne jener Annahme einer Kontinuität narrativer Praktiken, hat sich bisher aber nicht beobachten lassen. Narratologische Analysen haben sich demnach entweder primär auf die histoireStruktur der Erzählung konzentriert oder aber ein auf modernen erzähltheoretischen Konzeptualisierungen basierendes analytisches Instrumentarium angewandt. Die narratologische Analyse der Melusine sollte den zeitgenössischen Bildungshorizont allerdings vor allem deshalb berücksichtigen, weil sich die zur Konstruktion von Ambivalenz eingesetzten narrativen Praktiken doch zuweilen durchaus im Rückgriff auf diesen erklären lassen. Obgleich nun die Perspektiven der Forschung und die an den Text gerichteten Fragestellungen divergieren, wurde die Melusine vermehrt mit dem Begriff der Ambivalenz in Verbindung gebracht, wobei der Spielraum des damit Assoziierten von auf die Figuren bezogenen Wertungen bis zu Formen ihrer Bewältigung reicht.³⁵ Besonders hervorgehoben wurde allerdings häufig die Doppelwertigkeit der Melusine-Figur und die Konkurrenz unterschiedlicher, für die Erklärung des Vgl. Schausten 2006, 160 f. Durch die Inszenierung verschiedener Beobachterperspektiven und -positionen sowohl auf das Geschehen als auch auf die Melusine-Figur lenke der Roman nicht nur die Aufmerksamkeit auf den problematischen Zusammenhang von Wahrnehmung und Erkenntnis, sondern konfrontiere den Rezipienten auf diese Weise außerdem selbst konstant mit wechselnden Perspektiven auf das Geschehen. Dies insbesondere aufgrund von Thürings Referenzen auf Augustinus, Seneca und Boethius. Vgl. etwa Dumiche 2010, 195, die eine Partizipation des Textes an der mythologischen Überlieferung postuliert und dabei vor allem Ovids Metamorphosen als „unterschwelligen Bezugspunkt“ ausmacht; vgl. auch Lafond 2011, 63 ff., die ebenfalls den Bezug zu Ovids Metamorphosen betont, aber auch auf die generellen Vernetzungen mit Antike, klerikaler lateinischer Schriftkultur und humanistischer Bildungstradition aufmerksam macht (vgl. 84). So hat etwa Müller 1990, 1039, schon früh auf die „psychischen Ambivalenzen“ hingewiesen, „die sich in der Sage verdichtet haben“: Nicht die Erzählung als solche, sondern die Geschichten der Figuren und insbesondere die Figur Melusine seien zutiefst ambivalent; einsinnige Deutungen würden durch die Konkurrenz verschiedener Erklärungsmuster unterlaufen und der Kommentar des Erzählers erfasse „nurmehr Teilaspekte eines dunklen Geschehens“ (1037). Vgl. zur Ambivalenz des Geschehens auch Braun 2004, 352, zur Ambivalenz der Figuren Müller 1985, 79 f., sowie Müller 2008, 442.
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Geschehens herangezogener Deutungsmuster: Neben der Bivalenz der Protagonistin, ihrer „widersprüchliche[n] Inszenierung […] in der gleichzeitigen Dämonsierung und Idealisierung“³⁶, ist es also vor allem die häufig mit Kontingenz assoziierte Pluralisierung schicksalsmächtiger Instanzen, auf die besonderes Augenmerk gerichtet wurde. Gerade in jüngeren Arbeiten hat sich dabei die Tendenz abgezeichnet, solche Befunde mit erzähltheoretischen Beobachtungen zu verknüpfen und die narrativen Strukturen und ihre Rolle in der Generierung einzelner, als ambivalent wahrgenommener Phänomene stärker in den Blick zu nehmen, dies allerdings stets nur im Hinblick auf spezifische Elemente einer Erzählung und nicht im Sinne eines übergreifenden Erzählkonzeptes. So konnte etwa Drittenbass in der Untersuchung des ersten Dialogs zwischen Reymund und Melusine, den sie unter anderem im Rückgriff auf linguistische Ansätze der Dialoganalyse analysiert, zeigen, dass sich die der Melusine-Figur attestierte Ambivalenz schon auf der sprachlichen Ebene des Dialogs manifestiert.³⁷ Dimpel, der in der Analyse der Sympathiesteuerungsverfahren den Ursachen der disparaten evaluativen Struktur der Erzählung nachgeht, konnte die Ambivalenz der Figur auf spezifische, in den Text integrierte Techniken der Rezeptionslenkung zurückführen³⁸, während Werner die Ambivalenz nicht nur der Figur, sondern auch die einzelner Motive nachweisen konnte.³⁹
Müller 1990, 1039. Drittenbass 2009, 64. Vgl. Dimpel 2014. So konstatiert Werner 2014, 104 f., nicht nur die Bivalenz der Protagonistin, die Gleichzeitigkeit von Entzauberung und Mythisierung sowie die sich vor allem in Reymunds Aufstieg manifestierende Zwiespältigkeit des Glücks, sondern auch eine spezifische erzählschematische Ambivalenz, sofern im Rahmen des dominanten Schemas ‚Martenehe‘ das Artusromanschema aufgerufen, aber dekonstruiert werde. Der narrativen, figuralen und motivischen Ambivalenz korrespondiere dabei eine solche kommunikativ-pragmatischer Natur, da die Erzählung als solche bei eigentlich historischem Erzählanspruch zwischen Faktizität und Fiktionalität, zwischen Historizität und Phantastik oszilliere (vgl. 105 f.). Prämisse seiner Überlegungen ist somit die Annahme einer die Struktur des Textes bestimmenden „mehrdimensionale[n] ‚Ambivalenz‘, die den Roman nicht ausschließlich in generischer Hinsicht zu einem ‚mixtum compositum‘ macht, sondern auch in motivischer wie narrativer Hinsicht.“ (106) Ein Charakteristikum des Textes sei somit „die ambivalente Verschränkung thematischer Diskurse und narrativer Verfahren.“ (106) Im Fokus seiner Analyse stehen dabei aber weniger diese narrativen Verfahren selbst, als vielmehr die motivischen Ausprägungen von Ambivalenz, denen er im Rückgriff auf ein methodisches Instrumentarium nachgeht, das er als „Engführung von Erzähl- und Intersektionalitätsforschung“ (106) beschreibt, und die er anhand der Kategorien Zeit, Geschlecht und Abweichung sowie deren jeweiligen Relationen in den Blick nimmt. Es scheint Werner bei dieser Verbindung von Intersektionalitäts- und Erzählforschung zunächst vor allem um Heuristiken zu gehen, setzt
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Diese Untersuchungen erhellen nun zwar durchaus einige zentrale Aspekte des Verhältnisses von Narration und Ambivalenz, erfassen aber nicht den programmatischen Charakter des ambivalenten Erzählens in der Melusine. Eine über solche Einzelbeobachtungen hinausgehende detaillierte Beschreibung und Systematisierung der mit Ambivalenz assoziierten Phänomene oder aber eine übergreifende Analyse ihrer jeweiligen narrativen Faktur ist bisher nicht erfolgt. Selbst in Arbeiten also, die einen expliziten Bezug zwischen narrativen Strukturen und einzelnen ambivalenten Elementen herstellen, ist das ambivalente Erzählen als solches nicht in den Blick geraten. Die vorliegende Analyse setzt hier an und geht – im Rückgriff auf die hier nur exemplarisch skizzierten erzähltheoretischen Ansätze – der erzählerischen Konstruktion von Ambivalenz, den narrativen Verfahren des ambivalenten Erzählens nach. Ambivalenz ist dabei – so die These – weder allein auf die Figur oder einzelne thematische Aspekte beschränkt, noch ist sie bloß Resultat der Konkurrenz divergierender Deutungsmuster. In der Reflexion verschiedener Diskurse ist ambivalentes Erzählen nicht nur spezifisches poetisches Profil der Erzählung, sondern als solches selbst sinnstiftend. Während noch für Müller die als Widersprüchlichkeiten bezeichneten Ambivalenzen des Romans in der Ermangelung einer eigenen Poetik begründet liegen,⁴⁰ werden sie hier in Anlehnung an Kienig, der dies auf die durch die Inszenierung eines Zeitenraums entstehenden Paradoxien bezieht, als spezifische Möglichkeit begriffen, „den poetischen Entwurf zu profilieren“⁴¹. Es wird davon ausgegangen, dass Ambivalenzen und Paradoxien – um es in den Worten Kienings auszudrücken – in der Melusine „ihr je eigenes Potential transportieren.“⁴² Im Folgenden sollen daher solche Szenen exemplarisch analysiert werden, in denen sich jenes spezifische narrative Profil verdichtet und Ambivalenz explizit ausgestellt wird, dies jeweils mit Blick auf die (auch) kulturellen Kontexte, die darüber anzitiert, reflektiert und in ihrer Bedeutsamkeit auch für das Erzählverfahren ausgewiesen werden.
er sich doch kritisch mit den jeweiligen Differenzen zwischen beiden Forschungsrichtungen auseinander und konstatiert deren kategoriale Unterschiedenheit (vgl. 107 f.). Neben einer Fokussierung auf motivische Ambivalenz präsupponiert somit vor allem auch der Rückgriff auf diese theoretischen Konzepte der Intersektionalitätsforschung einen histoire-narratologischen Ansatz, die discours-Ebene blendet er größtenteils aus. Müller 1990, 999: „Daß eine solche Poetik für die Erzählliteratur des 16. Jahrhunderts nahezu völlig fehlt, mag Grund sein für die Vorläufigkeit der ästhetischen Lösungen, Grund freilich auch für die Vielfalt der erprobten Erzählmodelle und die Offenheit für theologische, politische, naturkundliche, moralische Diskurse.“ Kiening 2005b, 11. Kiening 2005b, 11.
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4.1 Konkurrierende Erklärungsmuster und Pluralität lenkender Instanzen. Zur narrativen Inszenierung von Indifferenz in der Motivierung, Evaluation und Deutung erzählten Geschehens Die Existenz einer Vielzahl konkurrierender Deutungsmuster für die Erklärung des Geschehens und die Vervielfältigung schicksalsmächtiger Instanzen wurde in der Forschung mehrfach konstatiert. Es komme in der Melusine, so Kiening, „zu einer Pluralisierung von Gesetzgebern, Perspektiven und Deutungen“⁴³; die verschiedenen Erklärungsmuster seien dabei laut Müller weder auf den Kern der Erzählung abgestimmt, noch würden sie entsprechend hierarchisiert, sondern stellten sich gegenseitig infrage.⁴⁴ Die Konkurrenz schicksalsmächtiger Instanzen erzeuge ferner, so Schausten, „Aporien […], die letztlich die Möglichkeit einer eindimensionalen Sinnstiftung des Geschehens verhindern.“⁴⁵ Mühlherr, nach der Ambivalenz in Thürings Roman „zur Grunderfahrung“⁴⁶ werde, begreift diese Gleichzeitigkeit verschiedener Deutungskonzepte als bewusst konstruierte Verrätselung, als „Offenhalten von Sinn“, was wiederum „die Reflexion auf die Bedingungen der Realisierbarkeit von Sinn an[stößt]“⁴⁷. Neben einer solchen poetologischen Dimension wurde jene Vervielfältigung schicksalsmächtiger Instanzen, wie auch in der Fortunatus-Forschung, vor allem als Erfahrung einer kontingenten Wirklichkeit gedeutet oder aber als Verweis auf zeitgenössische Remythisierungstendenzen verstanden. So bewertet etwa Fried-
Kiening 2005b, 13. Vgl. Müller 1990, 998, 1034 ff. Schausten 2006, 160. Mühlherr 1993, 52. Vgl. Mühlherr 1993, 124. Der Roman, der „über Geschichte und menschliches Handeln in der Geschichte reflektiert“ (14), setze ebendiese in „irritierende Unbegründbarkeit“ (5), veranschauliche auf diese Weise die Unbegreiflichkeit göttlicher Sinngebung und mache somit die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis zum dichterischen Prinzip, sofern er „den fraglos gültigen traditionellen Wirklichkeitsbegriff göttlicher Providenz in seiner Relevanz für die Begreifbarkeit des menschlichen Lebens in Frage [stellt]“ (57). Problematisch erscheint die mit Mühlherrs Lektüre einhergehende epochale Differenzierung der beiden von ihr untersuchten Romane Fortunatus und Melusine als ‚modern‘ und ‚mittelalterlich‘, sofern sie es unternimmt, „die ‚Neuheit‘ des ‚Fortunatus‘ gegenüber der ‚Melusine‘ zu bestimmen“ (6), und letztere als „so mittelalterlich und so neu wie de[n] ‚Parzival‘ Wolframs“ (49) bewertet: „In seinem auf Widersprüchlichkeitserfahrung beharrenden komplexen Welt- und Menschenbild ist nun […] die ‚Melusine‘ […] verwandt mit einer ‚klassischen‘ Position des mittelalterlichen Romans“ (57). Der Fortunatus hingegen zeige einen neuen Anspruch der Welterfahrung (vgl. 118), „eine neue ‚Freiheit‘ erzählerischer Weltsetzung“ (118) und sei unter anderem aus diesem Grund „zukunftsträchtig“ (121).
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rich die in der Melusine signifikante Konkurrenz determinierender Instanzen als literarische Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Diskursen über die „Wirkkräfte des Schicksals“⁴⁸, wie sie sich in den Diskursen über Fortuna, Genealogie und Astrologie zeigten, und somit als Ausdruck zunehmender Kontingenzerfahrung.⁴⁹ Als Auseinandersetzung mit einer kontingenten Wirklichkeit – oder vielmehr: als Ausdruck eines neuen Kontingenzbewusstseins liest auch Haug die Melusine. Die vielfach konstatierte Ambivalenz des Romans resultiert für ihn dabei aber weniger aus der Pluralisierung determinierender Instanzen oder einer der Figur grundsätzlich inhärenten Doppelwertigkeit, sondern aus der auch narrativen Thematisierung der Problematik des Glücks.⁵⁰ Auch Müller, Kiening und Speth haben auf diese Vervielfältigung der Instanzen und die damit einhergehende Unbestimmtheit des Geschehens hingewiesen und diese vor dem Horizont des Verhältnisses von Providenz und Kontingenz, dem Wirken Fortunas und der Relevanz auch individueller Verantwortung untersucht.⁵¹ Für Quast zeigt sich
Friedrich 2011, 134. Vgl. Friedrich 2011, 134 ff. Vgl. Haug 1988, 321: Glück verkörpere in Gestalt des Zufälligen und dessen „unkontrollierbare[r] Ambivalenz von Heil und Unheil“ das Neue, Individuelle. Das Neue sei nur in der Überwindung des Alten möglich und somit nur unter Prämisse der Akzeptanz des „Außerkraftsetzen[s] der alten Ordnung als dunkles Element des Glücks“ (Haug 1995, 20) überhaupt realisierbar. Die Melusine spiele diese dem Glück inhärente Problematik – seine Doppelgesichtigkeit in der immerwährenden Verschränkung von Gut und Böse – durch das Aufgreifen und Abwandeln des Erzählschemas der Feenliebesgeschichte auch narrativ durch. Der Rückgriff auf ein fiktives Erzählmuster, das eigentlich dazu diene, „anhand eines gestuften Weges die Überwindung individueller Defizienz vorzuführen“ (Haug 1988, 321), und dessen Konfrontation mit der Historie versinnbildliche auch poetologisch das Neue: „Die individuelle Erfahrung vermittelt sich über das Zitat. Poetologisch steckt das Neue auch hier in der literarischen Kombinatorik; das Individuelle bricht in der Irritation auf, die der Montageakt hervorruft, durch den es zugleich zum Thema gemacht wird.“ (322) Die Melusine sei dabei eines der „Paradebeispiele für die Entdeckung der Problematik, die im Glück steckt“ (Haug 1995, 21). Voraussetzung für ihre Reflexion sei wiederum eine durch die sozialen Veränderungen im späten Mittelalter bedingte Veränderung des Kontingenzbewusstseins: Indem sich der Bereich des Kontingenten erweitere und die objektiv vorgegebene Ordnung mehr und mehr infrage stelle, werde der Zufall zur Chance und das Glück Gegenstand subjektiver Verwirklichung. Die damit einhergehende Ambivalenz des Glücks – „[w]ährend das objektiv Notwendige immer auch das Gute gewesen war, gerät die subjektive Sinnsetzung ins moralische Dilemma, denn mit der Preisgabe der objektiven Ordnung geht auch die eindeutige Opposition von Gut und Böse verloren“ (Haug 2003, 69) – werde dann vor allem in der Melusine, aber auch im Fortunatus greifbar. Vgl. Müller 1990, 1035; Müller 1985, 95 ff.: „Fortuna ist die zur Notwendigkeit mythisierte Erfahrung radikaler Kontingenz. Die Ordnung, die sie angibt, ist also keine wirkliche Ordnung, unter dem Namen des ‚Glücks‘ kann die ‚Offenheit‘ des Geschehens gefaßt werden“. Fortuna zeige
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an dieser Pluralisierung der Schicksalsinstanzen auf Figurenebene vor allem die Unberechenbarkeit Fortunas; die „dämonische Amoralität des Glücks“, die in eine „Dämonisierung der Fortuna“ münde, sei dabei Antwort auf die Entzauberung der Melusine-Figur:⁵² „Fasst man die Entzauberung als Rationalisierung, […] so zeigt sich, dass im Rücken einer solchen Rationalisierung eine neue unberechenbare Macht heraufzieht, eine entfesselte und bedrohliche Fortuna.“⁵³ Diese Remythisierung der Welt bei gleichzeitiger Neutralisierung der anderweltlichen Aspekte versteht Quast in Anlehnung an Max Weber „als Ausdruck eines ambivalenten Rationalisierungsprozesses“⁵⁴. Dieser manifestiere sich, so Müller, darüber hinaus nicht nur in der bloßen Integration mythischer Elemente in eine eigentlich Faktizität beanspruchende Erzählwelt, sondern vielmehr auch in der Gleichzeitigkeit rationalisierender und mythisierender Tendenzen zur Erklärung ein und desselben Geschehens.⁵⁵ Diese einzelnen Positionen zeigen, dass die Konkurrenz verschiedener Erklärungsmuster in der Melusine insbesondere vor dem Hintergrund ihres außerliterarischen Kontextes gelesen wurde. Die narrative Faktur solcher Textarrangements ist kaum zum Gegenstand ausführlicherer Betrachtung geworden, auch wenn häufig auf die Diskrepanz von final motiviertem Erzählschema und kausalen Ereigniszusammenhängen hingewiesen wurde. So hat etwa Müller auf den nicht mehr funktionierenden Automatismus des Erzählschemas aufmerksam gemacht;⁵⁶ auch Mühlherr verweist auf diesen nicht mehr bruchlos wirksamen Mechanismus des Erzählschemas, liest dessen Umbesetzung aber als Reflexion menschlicher Schuld;⁵⁷ schließlich hat auch Schulz auf jene Entautomatisierung und die deshalb veränderten Folgen des Tabubruchs hingewiesen.⁵⁸
sich in der Melusine dann in „dem Verhängnis der Sterne und dem jähen Glückswechsel“. Vgl. Kiening 2005b, 13 ff.; vgl. insgesamt Speth 2012. Quast 2004, 92 f. Quast 2004, 94. Quast 2004, 86. Vgl. zur These eines ambivalenten Rationalisierungsprozesses und seiner Reflexion in der Melusine auch Müller 2008, 437 ff. Vgl. Müller 2008, 439. Vgl. Müller 1990, 1033 ff.: An zentralen Stellen werde der Sagenmechanismus von anderen Deutungen überlagert, der Tabubruch führe nicht unmittelbar zur eigentlich zwangsläufigen Trennung der Partner, er bedeute in der Folge auch eher ein privates Unglück denn den Niedergang der Familie und werde als solcher und nicht wegen des damit aufgedeckten Geheimnisses problematisiert. Nach Mühlherr 1993, 34– 45, bestehe diese in der Projektion des Bösen auf den Anderen und manifestiere sich damit insbesondere in der Figur Reymunds. Vgl. Schulz 2012, 227.
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Die Dekonstruktion des Sinnmusters durch die Verzögerung des Bruchs verstärkt bei Thüring dabei die dem Erzählschema aufgrund des Tabus ohnehin bereits inhärenten Friktionen zwischen finaler Gerichtetheit und kausaler Geschehensmotivation, erzeugt auf diese Weise narrative Dynamiken, poetische Potentiale und damit letztlich Komplexität.⁵⁹ Diese Abwandlung des Sagenschemas kann dabei nicht zuletzt auch jene Brüche und Widersprüche hervorbringen, die in der Untersuchung der Pluralisierung konkurrierender Deutungsmuster häufig postuliert wurden und die durch die Gleichzeitigkeit verschiedener Motivierungsformen – neben Kausalität und Finalität spielen auch narrative Verfahren wie etwa Vergleiche, metaphorische oder metonymische Übertragungen eine Rolle – generiert werden. Während man solche Brüche in der Motivierung des Geschehens neben anderen Aspekten auf das Fehlen einer eigenen Poetik zurückgeführt und als „paradigmatisch für eine Umbruchssituation gedeutet“⁶⁰ hat, sollen sie hier als intendiertes Ergebnis eines ambivalenten Erzählens verstanden werden, das einer grundsätzlichen Bemühung um Kohärenz⁶¹ gerade nicht zuwiderläuft. Neben einer generellen Kausalitätssuggestion, die trotz Sagenschema wirksam ist, scheint nämlich vor allem die kausale Herleitung und damit Plausibilisierung einzelner Deutungen ohne explizite Artikulation des tatsächlich greifenden Ursache-Folge-Verhältnisses eine erzählerische Besonderheit der Melusine zu sein. Nimmt man in der Untersuchung genannter Szenen nun nicht nur die Geschehensmotivation, sondern auch andere eingesetzte narrative Verfahren in den Blick, wie etwa die Inszenierung der erzählenden Instanz, das sowohl verbale als auch nonverbale Agieren der Figuren, handlungsstrukturelle Faktoren und die zeitliche und räumliche Konstruktion der erzählten Welt, so wird jene aus der Gleichzeitigkeit von Erklärungsmustern resultierende Ambivalenz als Ergebnis bewusster Formung erkennbar.
4.1.1 Der Jagdunfall Bei der nächtlichen Jagd, auf die sich Reymund mit seinem Onkel Graf Emmerich und dessen Dienerschaft begeben hat, geschieht jenes Ereignis, das Reymund nicht nur in bittere Klage und in Sorge über die Gefährdung seiner soeben erst
Vgl. Kiening 2005b, 12 f. Müller 1990, 992. Auch Müller 2010, 118. Auf das Interesse an erzählerischer Kohärenz wurde in der Forschung mehrfach hingewiesen, vgl. etwa Müller 1985, 91; Müller 2010, 118. Dabei wurde dies häufig mit dem Gattungsverständnis als ‚historia‘ in Verbindung gebracht (vgl. Müller 2010, 118). Mir scheint dieses Bemühen um Kohärenzstiftung aber über dieses hinauszugehen.
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erworbenen sozialen Reputation stürzen wird, sondern das am Anfang einer vielversprechenden individuellen wie gesellschaftlichen Entwicklung steht: der Verbindung mit Melusine. Reymund, Sohn des Grafen vom Forst, aber von Emmerich ob der Armut seines Vaters als Ziehsohn auserwählt und aufgenommen, kehrt also in jenen Wald zurück, den er als Herkunftsraum erst verlassen hat, der nun aber zur Ereignisregion der Jagd wird⁶²: Bei der Verfolgung eines Wildschweins, das weder von der Jagdgesellschaft noch von der Hundemeute erlegt werden kann, verlieren Reymund und Emmerich ihr Gefolge im Wald und beschließen aufgrund der einbrechenden Nacht zunächst, eine Herberge aufzusuchen, wollen dann zurück nach Poitiers reiten, machen aber letztlich Rast an einem von Hirten zurückgelassenen Feuer. Sich dort am Feuer wärmend hören sie etwas durch das Unterholz brechen, greifen zu ihren Waffen und so kumpt dort her ein groß schwe:n klepffen mit seinen zenen / vnd schmet veintlich (19,21– 19,23). Der Versuch Emmerichs, das Wildschwein mit seinem Speer anzugreifen und zu töten, misslingt, er trifft es nicht und wird von ihm zu Boden geworfen. Re:mund der zucht seines herren spieß vnd wolt das schwe6n treffen / von grossem vngefell so flt er das jm der stich abw6schet / vnd stieß den spieß seinem herren vnd vettern t:eff in seinen le:b Er erzückte wider vnd stach das schwe6n z recht vnd falte es / da mit kert er sich vmb vnd kam z seinem herren vnd vettern / den fand er :ecz so schnell in tods ntten ligen vnd verscheiden (20,3 – 20,10).
Die Verantwortung für dieses Geschehen, für jenes groß[] vngefell, wird in der Erzählung an je verschiedene Instanzen zurückgebunden, sofern die Figuren dessen Zustandekommen durch das Wirken unterschiedlicher Mächte erklären. Die in den jeweiligen Figurenperspektiven artikulierten potentiellen Determinationen stehen damit auf einen ersten Blick unabgestimmt nebeneinander. So scheint eine dem Geschehen vorangehende Sternendeutung Emmerichs den Vorfall zu antizipieren, ohne allerdings dabei Verantwortung explizit zuzuschreiben: so sicht er vnder ander sternen einen steren / […] vnd sprach Ach got wie ist dein wunder so groß vnd so manigualtig / oder wie mag die natur an ir selbs ein sliche gestalt haben / das s: einen man lst werden der von seinem übel tn vnd seiner missetatt sol in grossen vnd zeittlichen eren erhcht werden / wann es doch vnzimlich ist das von übel tn :emant sol auffkommen / gelobet oder geeret werden […] Da sich ich ob auff dise stund :eczund einer seinen herren tttet er wurd gewerlicher herr / vnd wurd mchtiger vnd gelückhafftiger / re:cher vnd gewaltiger denn keiner seiner freünd oder be:sssen ýe ward (18,15 – 19,14).
Vgl. zu dieser Verbindung von Reymunds Herkunfts- und nächtlichem Ereignisraum Rippl 2016, 208 f.
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Ein Stern unter anderen veranlasst Emmerich also zur Anrufung Gottes und der Natur⁶³, die ihn deshalb klagen lassen, weil sie den Aufstieg desjenigen zulassen, Bei Coudrette wird Aymeris Klage an Gott und Fortune adressiert, es heißt an dieser Stelle: Dieu, dist il, qui as fait les anges, / Que tes merveilles sont estranges! / Fortune est moult fort a congnoistre. / Vray Dieu, pourquoy fait elle croiste / Uns homs seulement pour mal faire? Elle est bien de mauvaiz afaire (Coudrette,V. 349 – 354). Thüring lässt im Gegensatz dazu Emmerich neben Gott die natur anklagen. Man kann darin entweder den Versuch sehen, diese „mythische Instanz“ (Müller 1990, 1046) zurückzudrängen, oder dies als Bestreben Thürings verstehen, die göttliche Vorsehung stärker zu akzentuieren (Müller 1990, 1035; Pafenberg 1995, 276; Mühlherr 1993, 28). Damit wird aber an dieser Stelle meines Erachtens gerade keine Eindeutigkeit hergestellt, wie es sowohl Pafenberg 1995 als auch Wetzel 2008 annehmen: Während Pafenberg 1995, 276, die Ersetzung der Fortune als „Betonung der Vorsehung“ und damit als „bewußte Einschränkung der Macht des Schicksals und des Zufalls“ deutet, sieht Wetzel 2008, 374, hier eine Konfrontation mit der „Unergründlichkeit Gottes“. Damit suggerieren beide, dass in Coudrettes Version Aymerie das Geschehen ausschließlich dem Wirken Fortunas unterstelle, während es bei Thüring explizit an Gott als verursachende Instanz zurückgebunden sei (vgl. Pafenberg 1995, 276; vgl. Wetzel 2008, 373 f.). Die Erwähnung Fortunas in Aymeries Rede muss aber in ihrem Kontext gelesen werden: Er spricht Gott schließlich nicht nur direkt an, sondern betont außerdem dessen Schöpfungskraft und die Unerklärlichkeit und Befremdlichkeit seiner Werke. Erst vor dem Hintergrund dieser pointierten Unergründlichkeit Gottes kommt Fortuna ins Spiel, die in diesem Rahmen nicht nur als eines jener Wunder verstanden werden könnte, sondern die insofern der göttlichen Lenkung unterworfen scheint, als die Frage nach den Gründen ihres Tuns an Gott gerichtet ist. Zwar wird Fortuna bei Thüring nicht mehr erwähnt, die Ersetzung durch natur scheint mir aber weniger eindeutig, als es Mühlherr 1993, 28, annimmt: Thüring entschärfe „die in der französischen Fassung akzentuierte moralisch entrüstete Verständnislosigkeit durch den Hinweis auf das Faktum von Wunderbarem in Gottes geschaffener Welt (natur). Insgesamt nimmt er das bei Coudrette fast gestammelte Erstaunen mit dem Verweis auf die Allmacht Gottes zurück“. Allerdings wird das Verhältnis von Gott und Natur durch die Konjunktion oder gerade nicht als eines der Abhängigkeit dargestellt. Auch Schnyder 2013, 109, Anm. 30, beurteilt natur in diesem Zusammenhang als „eine offenbar schwer berechenbare Zwischeninstanz zwischen Gott und den irdischen Vorgängen“. Während somit die göttlichen Wunder als bestehend konstatiert werden – Ach got wie ist dein wunder so groß –, scheint die Beschaffenheit der Natur erst noch ergründet werden zu müssen (wie mag die natur an ir selbs ein sliche gestalt haben). Der folgende Verweis Emmerichs auf groß wunder vnd fremde abenteUr scheint diese Un-Abhängigkeit zu bestätigen: Göttliche Wunder und fremde abenteUr werden hier voneinander differenziert und jeweils einzeln genannt, obwohl gerade das Fremde in der Vorrede als Bestandteil göttlicher Wunder apostrophiert wurde, es gerade als Ausweis des Göttlichen gilt (vgl. 12,2 – 12,18). Mühlherr 1993 überträgt die an dieser Stelle vorgeführte Inszenierung des Fremden und Wunderbaren als besonderen Ausweis der göttlichen Schöpfung auf Emmerichs Sternendeutung und versteht natur deshalb als von Gott geschaffene Welt. Dabei differenziert sie nicht zwischen Erzähler- und Figurenrede. Meines Erachtens wird aber im Vergleich mit der Vorrede des Erzählers gerade die Differenz zwischen beiden Stellen ersichtlich, vor allem mit Blick auf die Doppelform groß wunder vnd fremde abenteUr: das Fremde, das Unerklärliche und erst zu Ergründende erscheint in der Figurenrede eher als Rückverweis auf die ebenfalls unergründliche Natur, die eben nicht explizit als von Gott abhängig gedeutet wird, und die – wie auch ihre fremd[] abenteUr – nicht als Teil seiner groß
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der nur aufgrund eines Totschlags zu Ehre und Ansehen kommt. Somit findet sich bereits in dieser Figurenrede eine Pluralisierung potentiell lenkender Instanzen, sofern der Adressat der Klage nicht eigens konkretisiert wird.⁶⁴ Dabei werden das Wirken Gottes oder das Wesen der Natur nicht wegen jener missetatt, der prophezeiten Tötung als solcher, sondern nur wegen des daraus resultierenden sozialen Aufstiegs infrage gestellt: Die Klage impliziert hier gerade keine Verantwortung im Sinne einer ursächlichen Schuld oder aktiven Lenkung des Geschehens, sondern problematisiert lediglich das Zulassen von scheinbarem Unrecht in Form eines auf Fehlverhalten basierenden Erfolgs.⁶⁵ Dabei fungiert die Sternendeutung nicht als Determination des folgenden Geschehens, sondern sie stellt eine – zeitlich vorgeschaltete – potentielle Interpretation des sich erst noch begebenden Ereignisses dar.⁶⁶ wunder begriffen werden können, sondern eigens genannt werden müssen. Die Konstruktion des Raums, in dem sich Emmerich bei seiner Sternendeutung befindet, mag zu einer solchen Figurenwahrnehmung beitragen: So hat etwa Rippl 2016, 209, auf die Inszenierung des Jagd-Raums als Wildnis hingewiesen, das Wildschwein als Repräsentation der „tödliche[n] Bedrohung durch das Unkontrollierbare“ verstanden und „Anzeichen des locus terribilis (Wildnis, Nacht, Verlorenheit)“ bemerkt. Das beklagte und für Emmerich nicht fassbare Unrecht geschieht dann tatsächlich auch in diesem derart inszenierten Naturraum. Für den Erzähler ist Melusine, dise[] fremde[] figur (12,18), Teil der göttlichen Schöpfung; für die Figuren in der erzählten Welt ist es schreiendes Unrecht in seiner Unbegreiflichkeit offenbar nicht. In diesem Sinne wäre Coudrettes Version in der – zumindest potentiellen – Unterordnung Fortunas unter göttliche Macht ‚eindeutiger‘ als die Thürings. Dies bemerkt auch Quast 2004, 92: „Auffällig ist die Pluralität der Instanzen, die bemüht werden, für den Auf- bzw. Abstieg verantwortlich zu sein. Die Rede des Grafen spricht von den Sternen, von Gott und gleich danach von der Natur an ir selbs, Sterne, Gott und Natur sind nicht in Beziehung gesetzt.“ Auf die Ambivalenz der Szene hat auch Schnyder 2006b, 9, aufmerksam gemacht: „Hier, wo es um die zentrale Frage der Zulassung (oder gar Bewirkung?) des Bösen durch Gott geht, erscheint wunder, einer der thüringschen Leitbegriffe, bereits im Vorwort markant auftretend, in einer sehr zweideutigen Verwendung […]. Aufmerksamkeit verdient, wie die nature als selbsttätig, mithin als Vermittlerin zwischen den unerforschlichen Ratschlüssen Gottes den irdischen Verhältnissen in ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit von Gut und Böse, Glückbegabt und Unheilvoll erscheint.“ Dieses „Hadern mit Gottes unerforschlichem Geschehenlassen von schreiendem Unrecht“, wie Mühlherr 1993, 28, es bezeichnet, ist letztlich auch Kern der Klage bei Coudrette. Vgl. Speth 2012, 345 f.: Die Prophezeiung Emmerichs ist gerade nicht mit göttlicher Determination gleichzusetzen, sie macht den Jagdunfall „nicht schon notwendig oder gar provident“ (345), da die Folge sozialer Aufstieg an die Prämisse geknüpft ist, ob auff dise stund :eczund einer seinen herren tttet. Die Prophezeiung legt somit gerade nicht fest, dass jemand einen Totschlag verübt, sondern nur, dass derjenige, der dies potentiell tut, jenen sozialen Aufstieg erfährt: Die Sternenkonstellation bestimmt nicht vorher, dass jemand seinen Herren töten wird (das bleibt potentielles Ereignis), gemäß der Prophezeiung erfährt aber eine Figur zwangsläufig den in Aussicht gestellten Aufstieg, wenn sie ihren Herren in dieser Stunde zu Tode bringt. Somit ist es
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Eine davon abweichende Deutung des Vorgefallenen findet sich nun in der Perspektive des Betroffenen. Reymund macht zunächst das gelück für das Vorgefallene verantwortlich und artikuliert in seiner Klage die zeitgenössische Vorstellung der antagonistischen Eigenschaften der Fortuna: Ach gelück wie hastu mich so gar mit jamer / mit ellend / herczlaid vnd vngefelle beladen Niemant sol sich an dich lassen / wann du vil laids vnd iamers kanst zfgen dem du es ganst / vnd kanst machen auß dem armen einen re:chen / auß dem re:chen einen armen / dem einen hilffest auff / dem andern nider / einem bist du sß / dem andren bitter Ach gelück was hastu mich jungen armen toren gezigen / wann du hast mich an leib vnd an sel / an eren vnd an gtt verderbt / vnd mich in grosse ntt vnd ellend vnd arbe:t bracht Ach wolt got das ich nun auch sterben solt vnd mit meinem liebsten herren vnd vettern begraben werden (21,2– 21,13).
An dieser Stelle referiert Reymund folglich auf die Vorstellung der Fortuna auf dem Rade, auf jene abstrakte Glücksinstanz, die seit Boethius nicht mehr das Zufällig-Willkürliche, sondern ein Instrument der Providentia verkörpert.⁶⁷ In der Wahrnehmung der Figur scheint sich das Wirken Fortunas aber gerade nicht als sinnhafte Sinnlosigkeit⁶⁸ darzustellen, verzweifelt Reymund doch an ihrer Wankelmütigkeit und Unbeständigkeit und wähnt sich „auf die unterste Stufe des Rades geworfen“⁶⁹. Als providentiell autorisiertes Wirken versteht er es gleich-
dem Zufall überlassen, an wem sie sich erfüllt. Dass es dann in der Folge Reymund ist, der seinen Herren tötet, ist somit nicht Erfüllung der Prophezeiung, sein sozialer Aufstieg aber durchaus. Bemerkenswert erscheint, dass dieser hier nicht als notwendig dargestellte Zusammenhang von Prophezeiung und Tötung des Onkels (ob) in einem anderen Überlieferungskontext, nämlich im Buch der Liebe, vereindeutigt wird: Der einstige Konditional- wird zu einem Objektsatz: hier sieht der Onkel, daß jetzund einer auff diese stund seinen Herren ertdtet / Er wirdt ein gewaltiger Herr (Melusine, in: Roloff 2008, 8). Mit der nun notwendigen Tötung des Onkels wird auch die Begegnung mit Melusine, an die der Aufstieg ja geknüpft ist, notwendig, was der Gesamtintention des Buchs der Liebe wohl eher zu entsprechen scheint. Zur Fortuna-Tradition vgl. Frakes 1988; Haug 1995, 7 f.; Haug 2003; Müller 1995, 218, 223, 237 f. Vgl. zum Symbol des Rades Boethius, Consolatio Philosophiae, 48, II,2,29 – 33: Haec nostra vis est, hunc continuum ludum ludimus: rotam volubili orbe versamus, infima summis, summa infimis mutare gaudemus. Ascende, si placet, sed ea lege, ne, uti cum ludicri mei ratio poscet, descendere iniuriam putes. Vgl. Müller 1995, 218, 223; Haug 1995, 6; Haug 2003, 66. Die von Gott zugelassene Drehung des Rades, die als solche noch regelhaft sei, sei deshalb sinnhaft, weil in boethianischer Vorstellung „[d]ie Unbeständigkeit alles Irdischen […] programmatisch zum göttlichen Heilsplan [gehört].“ (Haug 1995, 6) Somit ist „[i]hr Tun zwar […] nicht an sich sinnvoll, sonst wäre sie nicht das Zufällige, aber es ist doch sinnstiftend in seiner Sinnwidrigkeit.“ (Haug 2003, 66) Wetzel 2008, 374. Quast 2004, 93, kommentiert diese Verzweiflung Reymunds folgendermaßen: „Doch bereits der Aufstieg Reymunds erweist sich für ihn als Abstieg […]. Die Berechenbarkeit der Umdrehung des Rades erweist sich als trügerisch.“
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wohl: Bei Boethius wird Fortuna nur Macht über Materielles, über vergängliche Güter zugestanden⁷⁰, und so verwundert es nicht, dass Reymund sich in seiner Klage insbesondere auf eben solche irdischen Werte bezieht: auf Armut und Reichtum, auf Auf- und Abstieg, auf den Verlust seiner individuellen Reputation.⁷¹ Die Macht über Leben und Tod, über Existentielles, ist in Reymunds Rede aber explizit an Gott delegiert, der hier auch ausdrücklich als Sanktionsinstanz fungiert.⁷² Durch diese Rückbindung elementarer Lebensfragen an die Providenz bei gleichzeitiger Artikulation der Unbegreiflichkeit von Fortunas Wirken bleibt an dieser Stelle offen, ob Reymund nun dem Glück einen von göttlichem Einfluss freien Wirkradius zugesteht und diesem damit die Verantwortung für sein vngefelle zuschreibt oder aber Gott als Letztinstanz und damit als Verursacher des Geschehens versteht.⁷³ Die aufgrund dessen auch in diesem Fall zu konstatie Boethius, Consolatio Philosophiae, 48, II,2,17– 18: Opes, honores ceterque talium mei sunt iuris. Vgl. auch Haug 1995, 6. Den allgemeinen Hinweis auf die Macht Fortunas, potentiell vil laids vnd iamers (21,5) zuzufügen, sowie die Klage über das individuelle Unglück – wie hastu mich so gar mit jamer / mit ellend / herczlaid vnd vngefelle beladen (21,2– 21,4) sowie wann du hast mich an leib vnd an sel / an eren vnd an gtt verderbt / vnd mich in grosse ntt vnd ellend vnd arbe:t bracht (21,9 – 21,11) – lese ich an dieser Stelle primär als Bezug auf irdische, vergängliche Werte und nicht vor einem transzendenten Horizont. Dies zeigt sich insbesondere an Reymunds Verweis auf den Verlust eben dieser irdischen Güter: Es wäre ihm eine große auffenthaltung (21,14), würde er mit seinem Onkel begraben werden, wann ich zeitliches trostes gancz beraubt bin (21,14– 15). So wird nicht nur Reymunds Todeswunsch (vgl. 21,11– 21,13), sondern auch die – hier verfluchte – Stunde seiner Geburt ausdrücklich an Gott gebunden: vnd erbarms got von himel das ich :e geboren ward / vnd verflcht se: die stund in der empfangen ward oder :e an die welt kam / wann ich dise getat gegen gott nymmer kan noch mag gebssen (21,19 – 21,22). Gerade der letzte Aspekt, die Verzweiflung über die Unmöglichkeit der Buße vor Gott, akzentuiert dessen Rolle als zentrale Instanz in der Entscheidung über elementare Fragen. Prinzipiell können beide Annahmen Reymund insofern unterstellt werden, als die zugrundeliegende boethianische Fortuna-Vorstellung das genaue Verhältnis zwischen göttlicher Lenkung und Fortunas Wirken nicht ausdrücklich konkretisiert und ihr damit eine vor allem lebenspraktische Problematik innewohnt, auf die Haug 2003, 66 ff., aufmerksam gemacht hat: Fortuna sei „das Wechselhaft-Irdische als Machtbereich zugewiesen“ (66), sie entlaste „Gott von der Verantwortung für das Sinnwidrige“ (67) und weise den Menschen „über die Erfahrung der Vergänglichkeit auf den Weg zum unvergänglichen Guten“ (66). Als göttliches Instrument agiere sie dabei aber stets im Dienst der Providentia. Diese Gleichzeitigkeit sei nicht nur „unbefriedigend, weil für die Lebenspraxis kaum förderlich“ (68), sondern führe auch zu der Frage nach dem eigentlichen Status dieser Instanz und dem Grad ihrer Autonomie (vgl. Haug 1995, 8). So bliebe unklar, „inwieweit ihr Gott einen eigenständigen Machtbereich zugesteht, ihr also einen gewissen Spielraum gewährt.“ (8) Genau diese Ambivalenz der Fortuna „zwischen einer bloß poetischen Figur für die Vergänglichkeit und einer göttlich lizenzierten, also relativ autonomen Macht“ (8) scheint Reymund hier zu reflektieren. Dies betont auch Schnyder 2013, 109: „Auf der Textoberfläche wird Fortuna direkt als Verantwortliche angeklagt; doch in einem weiteren Kontext
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rende Pluralisierung schicksalsmächtiger Instanzen ist dabei – wie auch in der Sternendeutung Emmerichs – „‚interpretative Strategie‘, um eine Erklärung für das sinnwidrige Geschehen zu finden“⁷⁴. Während also sowohl Emmerich als auch Reymund eine Erklärung für das – im Fall Emmerichs erst noch sich ereignende, im Fall Reymunds tatsächlich widerfahrene – Geschehen suchen und dabei verschiedene Instanzen bemühen, scheint Melusine, auf die Reymund in der Folge trifft, diese bereits gefunden zu haben. Sie erklärt: Re:mond ich weiß dein ntt vnd klag gancz vnd das vngefell. so dir in diser stund an deinem herren vnd vettern widerfaren ist mit dem schwe:n / vnd das du in vnd das schwe:n be:de erttt hast Doch wider allen deinen danck sunder von vngefell […] Lieber Re:mond was dir dein vetter vnd herr gewe:ßsaget hat das mß an dir geschehen vnd volbracht werden mit dem willen vnd der hilff gottes / der alle ding vermag […] Re:mond verzag nicht / dein gelücke vnd slde vnd eren das will sich erheben Wann dir dein herre vnd vetter das vor gesaget hat / vnd nach got so bin ich die durch d:e du dises alles erhollen machst (23,29 – 25,3).
In ihrer Perspektive wird das Geschehen nun folglich zu einem von Reymund nicht intendierten Unglück, dessen Folgen aber insofern göttlich determiniert seien, als sich der prophezeite Aufstieg an ihm erfüllen werde; die sich noch in Emmerichs Sternendeutung manifestierende Unsicherheit über die Verantwortung für den auf einer Tötung basierenden Aufstieg, Gott oder Natur, wird hier in
zeichnet sich ein Räsonnement ab, das auf die Rolle Gottes beim Zustandekommen dieses himmelschreienden Unheils zielt.“ Speth 2012, 347, der dies nur auf die Klage Reymunds und hier ausschließlich auf dessen Annahme einer willkürlichen Glücksinstanz bezieht. Wetzel 2008, 374, kontrastiert Sternendeutung und Klage: „Zwei Modelle stehen sich zunächst unverbunden gegenüber: die Vorsehung Gottes (nach der Interpretation Ammrichs) und der blinde Glücksradmechanismus (gemäß Raymonds Klage).“ Allerdings scheinen beide Figurenreden gerade nicht nur eine Option möglicher Lenkung zu artikulieren, sofern sie Verantwortung nicht explizit zuschreiben. Problematisch bei der Interpretation Wetzels erscheint die Übernahme der Figurenperspektive Reymunds, wenn er davon ausgeht, dass dieser sich zwar im Abstieg glaube, das Rad aber eigentlich im Aufstieg begriffen sei. Damit überträgt er eine subjektive Interpretation der Figur unreflektiert auf die Handlungsstruktur. Reymund selbst stellt im Rahmen dieser ‚Sinnsuche‘ keinen Bezug zu der dem Geschehen vorangegangenen Sternendeutung Emmerichs her, etwa indem er den dort prophezeiten, explizit mit der Tötung eines Herren verbundenen sozialen Aufstieg auf sich bezöge. Dies hätte womöglich zu einer anderen Bewertung des eigenen Schicksals geführt. Schnyder 2013, 102 f., hat darauf hingewiesen, dass Reymund den Jagdunfall von seinem antizipierten späteren Schicksal her perspektiviere: „Sorge für sich drängt die Trauer über den Tod des ihm wohlgesinnten Emmerich fast völlig an den Rand. Dabei beruht die Sorge auf einer doppelten Überlegung: Reymond hat seinen Förderer verloren und er muss damit rechnen, dass man in ihm den Mörder Emmerichs sieht.“
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scheinbare Gewissheit überführt: Die Erfüllung der Prophezeiung sei Wille Gottes. Zwar ließe sich vermuten, dass die göttliche Determiniertheit der Folgen eines Geschehens auch eine providentielle Verursachung der diese Konsequenzen erst ermöglichenden Tat impliziert, expliziert wird dies aber auch an dieser Stelle nicht. Allerdings konkretisiert Melusine ihre Rolle in diesem Ereigniszusammenhang: Neben Gott sei sie es, mit deren Hilfe Reymund den prophezeiten Aufstieg erlangen könne – Melusine als instrumentum Dei? ⁷⁵ Trotz dieser scheinbaren Relativierung des Vorgefallenen durch dessen Integration in den göttlichen Heilsplan und Melusines vehementen Versuchen, den Eindruck christlicher Legitimität zu evozieren,⁷⁶ bleibt auch diese Stelle auffallend undurchsichtig: Zum einen ließe sich fragen, aus welchem Grund Melusine hier eigens auf Reymunds individuelle Verantwortlichkeit – wenn auch in Negation – anspielt (vgl. 24,3 – 24,4): Reymund selbst hat an keiner Stelle in Erwägung gezogen, die Tat selbst verschuldet oder gar intendiert zu haben. Nimmt sie hier Bezug auf die Sternendeutung, in der Aktivität des Aufsteigers suggeriert wird (vgl. 19,3 – 19,4)? Reflektiert sie den von Reymund antizipierten Verdacht der Hofgesellschaft, er habe seinen Onkel mit willen (21,18)⁷⁷ getötet? Oder ist dies bloß Betonung der göttlichen Vorsehung, in deren Rahmen subjektive Schuld ohnehin irrelevant ist? Zum anderen erscheint die von ihr postulierte providentielle Lenkung in einem schiefen Licht: Nicht nur muss, wie oben erwähnt, eine potentiell göttliche Verursachung auch des tödlichen Jagdgeschehens erwogen werden;⁷⁸ darüber hinaus wird auch die Frage virulent, warum die Erfüllung des
Vgl. zur Formulierung Speth 2012, 349. Dieser Eindruck wird nicht nur durch die Berufung auf Gott im Kontext des nachträglich gedeuteten Jagdgeschehens evoziert, sondern manifestiert sich auch in Melusines Versuchen, sich in dieser ersten Begegnung als gläubige Christin zu inszenieren (vgl. hierzu auch Kap. 4.2.1). Reymund äußert folgende Sorge: ich mag auß argkwan n:mer kommen / dann das man mich darfür halten würt ich hab den stich an meinem aller liepsten herren vnd vettern mit willen getan vnd in ermrdet (21,16 – 19). Bei Ziep 2006, 24, Anm. 54, wird Reymunds Antizipation des Verdachts hinsichtlich der Intentionalität der Tat aus dem Kontext genommen und zu einem subjektiven Schuldbekenntnis umgedeutet: „Im Text wird die Tat als (willkürliches) Verbrechen gekennzeichnet, das, auch wenn es verdrängt wird, Raymond eindeutig als Vergehen zugerechnet wird. So erklärt Reymund selbst: Ich hab den stich an mynem allerliebsten herren und vettern mit willen getan vnd in ermort (S. 41, 26 ff.).“ In der Forschung wurde nicht nur der an den Totschlag gekoppelte Aufstieg, sondern auch dieser selbst als Teil der göttlichen Vorsehung verstanden. So betont etwa, Wetzel 2008, 374 f., dass Melusine Reymund „seinen Tötungsakt als Willen Gottes erträglich“ mache und er somit nicht verantwortlich für sein Handeln sei: „Raymond ist für sein unglückliches Handeln also nicht direkt verantwortlich, insofern dieses sich mit der Vorsehung Gottes deckt.“ Auch Pafenberg 1995, 277, beurteilt den Mord als Ergebnis providentieller Lenkung, wodurch eine Schuld Reymunds aufgehoben sei, die „Schuldfrage“ nicht einmal gestellt werden müsse: „Sein Mord, so
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göttlichen Willens an weitere Auflagen gebunden ist: Laut Melusine ist die Erfüllung der Prophezeiung der Wille Gottes; die Prophezeiung wiederum stellt einen Aufstieg in Aussicht, dessen notwendige Bedingung ein Verbrechen, die Ermordung des Herren, zu sein scheint. Warum bedarf es dann Melusine, um die Prophezeiung zu erfüllen? Warum muss Reymund ihrer lere (24,4) folgen, um gttes vnd eren / gelückes vnd slden (24,5) zu erhalten? Und wozu – so fragt auch Speth – bedarf es dann der späteren List mit der Hirschhaut und warum muss Reymund überhaupt ein Tabu, das nach der Elternvorgeschichte allein Melusine, aber nicht Reymund zugeordnet ist, einhalten, um den in Aussicht gestellten Aufstieg zu erfahren? Schließlich hat er mit dem Jagdunfall bereits die Voraussetzung geschaffen […].⁷⁹
Nach Speth ließe sich diese ‚Spannung‘ auflösen, wenn man die Melusine-Figur tatsächlich als Instrumentum Dei verstehe, „das die innerweltliche Erfüllung der Prophetie schafft.“⁸⁰ An ihrer Aussage vnd nach got so bin ich die durch d:e du dises alles erhollen machst (25,2 – 25,3) erkennt Speth ihre über eine göttliche Verweisfunktion hinausgehende Bestimmung als fortuna prospera, die nur über äußere Hilfsmittel (bona externa) und ihre Schönheit verfüge, um die innerweltlichen Voraussetzungen für die Erfüllung der Prophezeiung zu schaffen, wie sie sich in Herrschaft und Familienausbau manifestierten.⁸¹ Damit setzt Speth selbst aber Melusines Figurenperspektive „absolut“⁸²: So deutet er das Jagdgeschehen zwar nicht als göttliche Determination, folgert aber aus Melusines Selbststilisie-
grausam oder böse er auch sei, erfüllt die Weissagung des göttlichen Plans.“ Dies leitet sie, darauf hat auch Speth 2012, 350, hingewiesen, aus Melusines Figurenperspektive ab. Schnyder 2006b, 11, hingegen betont die Diskrepanz von göttlicher Weltordnung, moralischer Verwerflichkeit und irdischem Schicksal, die durch Melusines Anspielung hier entstehe. Speth 2012, 349. Auch Müller 1990, 1035, bemerkt: „Wenn Gott Reymunds Glück lenkt, wozu bedarf es dann der Fee?“ Speth 2012, 349. Speth 2012, 349. Speth 2012, 350, hat in der Auseinandersetzung mit Pafenberg 1995 zu Recht angemerkt, dass diese Melusines Figurenperspektive auf den Jagdunfall insofern „absolut“ setze, als sie daraus die göttliche Determination des Unfalls ableite. So verkenne sie, „[d]ass Zufall jedoch als narrative Strategie eingesetzt wird“ (350). Dieser zeige sich nach Pafenberg nämlich entweder als interpretative Strategie der Figuren oder als eigentlich Providentielles, der Zufall werde im Text „als Vorsehung entlarvt“ (Pafenberg 1995, 279). „Die ‚absolute Kontingenz‘ des Erzählprozesses selbst, insofern alles Geschehen der Freiheit des Autors unterworfen ist, wird von Pafenberg damit als absolute Determination durch einen göttlichen Willen in die Erzählung verlagert.“ (Speth 2012, 350) An dieser Stelle leitet Speth aber aus Melusines Figurenperspektive ihre Bestimmung als göttliches Werkzeug ab, obwohl auch Figurenrede narrativ strategisch konzipiert ist.
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rung als göttliches Instrument auf ihren tatsächlichen Status in der erzählten Welt. Gerade im Kontext der ersten Begegnung, auf deren Ambivalenz sowohl hinsichtlich der strategisch anmutenden christlichen Legitimationsversuche als auch der Dubiosität ihrer Ratschläge vermehrt hingewiesen wurde,⁸³ muss ihre Inszenierung als Instrumentum Dei zumindest infragegestellt werden und liefert gerade keine Antwort auf die oben skizzierten Unbestimmtheiten ihrer Geschehensdeutung. Zwar betont der Erzähler in der Vorrede Melusines Verankerung in der göttlichen Schöpfung, auch wird ihre gar fremde vnd selczame außze:chnung als gottes wunder (12,5 – 12,6) bezeichnet – an keiner Stelle des Romans wird sie in dessen Rede aber als Werkzeug Gottes apostrophiert. Aus diesem Grund muss auch ihre Deutung des Geschehens als Vorsehung Gottes zunächst als das verstanden werden, was es auf narrativer Ebene darstellt: die perspektivisch gebundene Interpretation einer Figur. Sieht man diese Figurenperspektiven auf das tödliche Jagdgeschehen nun noch einmal zusammen, lässt sich Folgendes festhalten: In der Sternendeutung Emmerichs, in der die Reflexion über die ursächliche Verantwortung für das beklagte Unrecht eines unverdienten sozialen Aufstiegs und nicht für die Tötung als solche dominiert⁸⁴, werden mindestens zwei Instanzen explizit als potentiell verursachende in Erwägung gezogen. Obgleich sich diese Prophezeiung als mögliche Antizipation des Jagdunfalls lesen lässt, macht sie diesen nicht schon notwendig. Somit ist nicht nur die Zahl möglicher verantwortlicher Instanzen erhöht, sondern auch das Verhältnis von Sternendeutung und tatsächlichem Totschlag bleibt ambivalent. Wie in der Rede Emmerichs kann auch in Reymunds Klage eine Pluralisierung verantwortlicher Instanzen festgestellt werden, die als interpretative Strategie für das für ihn unerklärliche Geschehen verstanden werden kann, das erst in der Interpretation Melusines scheinbar eindeutig auf eine lenkende Instanz zurückgeführt, explizit mit der Sternendeutung in Verbindung gebracht⁸⁵ und an sie als erfüllendes Instrument der Providenz geknüpft wird. Trotz dieser scheinbaren Eindeutigkeit, in der das Ereignis im Rahmen dieser Deutung aus Figurenperspektive auf göttliche Lenkung zurückgeführt wird, bleibt diese Erklärung ambivalent. Bezieht man neben diesen, im Kontext des Geschehens platzierten nun auch solche Figurenperspektiven mit ein, die im Laufe der
Vgl. Drittenbass 2008, 90; Drittenbass 2009, 73; Mühlherr 1993, 19; Dimpel 2014, 215 f.; Quast 2004, 93; Schnyder 2006b, 11. Dies mag an der prophetischen Zwangsläufigkeit des Aufstiegs liegen, während die Tötung ein potentielles Ereignis bleibt. Vgl. zu dem Verhältnis von Zwangsläufigkeit und Potentialität Speth 2012, 346. Vgl. zu Melusines Verknüpfung von Sternendeutung und Jagdunfall auch Schnyder 2013, 104: „Aus diesem post hoc scheint hier ein propter hoc zu werden.“
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folgenden Handlung Bezug auf den Jagdunfall nehmen, ergibt sich ein noch differenzierteres Bild: Neben Gott, Natur, Sternen und Fortuna wird jetzt auch mit individueller Verantwortung argumentiert. Kurz nachdem Reymund von Goffroys Mord und der Klosterzerstörung erfahren hat, vergegenwärtigt er sich jenes Geschehen und stellt eine Analogie zwischen Brudermord und Jagdunfall her: Do gieng er in ein kamer dar jnn beschloß er sich / vnd klagte do gar ser sein herczenle6de vnd iamer vmb das groß übel / so geffro: hat an dem closter vnd seinem prder vnd auch an allen münchen begangen die do in dem closter waren die verprant er. vnd vieng do an vnd klagete das übel. so er selbs am grafen von Po6tiers seinem vettern begangen hett. wiewol das wider seinen willen was vnd das er darnach ein merfe: vnd gespenst we:b genommen hett vnd zehen sün von ir gewunnen vnd :eczunt den einen so imerlich verloren hett (112,23 – 113,1).
Obwohl Reymund an dieser Stelle die eigene Intentionalität negiert, parallelisiert er die Tat mit der seines Sohnes und stellt einen scheinbar kausalen Ereigniszusammenhang zwischen dem Jagdunfall, der Begegnung mit Melusine, der Geburt der Söhne und der Untat des einen bzw. dem Verderben des anderen Sohnes her.⁸⁶ Schnyder hat darauf hingewiesen, dass diese Erinnerung Reymunds „aus dem Jagdunfall das Initialgeschehen in einer adligen Vita [macht], die ganz unter dem Zeichen von hertaeleit und iomer steht“ ⁸⁷, und damit in Opposition zu dem gerät, was ihm laut Melusine in der Sternendeutung prophezeit wurde, nämlich Aufstieg, Ehre und Reichtum. Dass ihre auf ihn bezogene Auslegung der Prophezeiung und das damit einhergehende Glücksversprechen ihm seinerzeit noch zu trost vnd freUd (24,8) verholfen hatte, scheint er ebenso auszublenden wie die Tatsache, dass er von diesen positiven Aspekten bis zu diesem Zeitpunkt profitiert hatte.⁸⁸ Wie selektiv subjektive Erinnerung dabei verfährt und wie funktionali-
Vgl. auch Schnyder 2013, 105. Bei Coudrette wird an dieser Stelle erneut Dame Fortune angeklagt. Während Reymund also individuelle Schuld annimmt, diese aber sogleich wieder negiert, heißt es bei Coudrette: „Ha, dist il, Fortune dervee! / Tu ne m’as pas esté privee. / Par dessus touz m’as enha:, / Las! pourquoy m’as tu enya:? / Au premier me fus bien contraire, / Quant tu me feis le murdre faire / Du noble conte de Poittiers, / Aimery, le bon chevaliers. / Je le mis mort au cler de lune , / Ce fu par toy, Dame Fortune. / Helas! il estoit tant preudomme / Que per n’avoit jusque a Romme. / Et puis m’as fait a la volee / Prendre celle femme faee, / Celle diffamee serpente. […].“ (V. 3785 – 3799) Auch hier wird folglich ein Zusammenhang zwischen dem Jagdunfall und der Begegnung mit Melusine hergestellt, wobei die Verantwortung allerdings explizit bei Fortune verortet wird, sofern diese Reymund dazu gebracht habe, sowohl seinen Onkel im nächtlichen Wald zu töten, als auch Melusine zur Frau zu nehmen. Schnyder 2013, 106. Schnyder 2013, 99 f., hat in Bezug auf Emil Angehrn ‚Erinnern‘ als eine Tätigkeit beschrieben, die Vergangenes nicht objektiv aufrufe, sondern die immer subjektiv vergegenwärtige. Er hält fest:
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sierbar sie ist, zeigt sich darüber hinaus an der gezielten Ausblendung solcher individueller Handlungen, die jene in der Folge artikulierte Schuldzuweisung an Melusine⁸⁹ relativieren würden.⁹⁰ Reymunds Negation der eigenen Intentionalität muss im Kontext dieser selektiven und letztlich funktionalisierten subjektiven Erinnerung gesehen werden; dies wie auch die von ihm konstruierte Analogie zu Goffroys Brudermord relativieren die Relevanz auch dieser subjektiven Figurendeutung für die Erklärung des Ereignisses und fügen eine weitere Interpretation zu dem bereits verschieden perspektivierten, jeweils unterschiedlich gedeuteten und damit in seiner Unbestimmtheit pointierten Geschehen hinzu.⁹¹
„Das woran ich mich erinnere, habe ich zwar selber erlebt; doch aus dem zeitlichen Abstand werde ich diesem Erlebten deutend einen Sinn geben; dieser Sinn mag sich dabei durchaus gegenüber der Sinnstiftung anlässlich früherer Erinnerungsprozesse unterscheiden: Erinnerung ist revidierbar.“ (100) Genau dieser Prozess scheint sich an dieser Stelle konkret zu zeigen. Im Anschluss an die oben zitierte Klage heißt es: vnd gedacht in seinem gedanck. Es ist gancz ein gespenst vmb diß weib das mag ich wol prfen. wann s: sich in dem pad erzeigete also ein halber mensch vnd ein halber wrm (113,5 – 113,8). Dieser Gedanke stellt die nachträgliche Erklärung für den aufgestellten und an dieser Stelle negativ wahrgenommenen Kausalzusammenhang dar und bedingt die folgende öffentliche Anklage Melusines. Etwa, dass Reymund in letzter Konsequenz Freymund die Erlaubnis gegeben hat, ins Kloster einzutreten, wobei hier erstmals im Roman von einer selbstständigen Entscheidung Reymunds die Rede ist, auch wenn diese letztlich von Melusine ‚angeordnet‘ wird (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 4.1.2). Zudem ist er derjenige, der Goffroy über den Klostereintritt seines Bruders informiert, und dies mit einer bemerkenswerten Aktivität, sofern er den Brief an Goffroy selbst verfasst, was gleich zwei Mal erwähnt wird (vgl. Kap. 4.1.2). Dass Reymunds Einschätzung der persönlichen Beteiligung und der tatsächlich angenommenen Schuld dabei ebenfalls bewusst offen und vage gehalten ist, zeigt der Blick auf seine Beichte beim Papst, deren Inhalt nicht konkretisiert wird, und von der es lediglich heißt: Re:mund der was do zwischen gen Rom kummen vnd hett dem heiligen vater dem Pabst sein peicht mit andacht getan. derselb pabst was genant Leo / vnd der gab Re:munden pß der er sich willigklichen vnderwand z le:sten (153,3 – 153,6). Was Gegenstand seiner Beichte ist, bleibt an dieser Stelle somit offen. Auch Coudrette konkretisiert an dieser Stelle nicht (vgl. Coudrette,V. 5575 – 5577). Aus diesem Grund hat Schnyder 2013, 108, konstatiert: „Man wird somit zu dem Schluss kommen, dass deren Versionen [die Thürings und Coudrettes, Anm. d. Verf.] in diesem Punkt vieldeutigunbestimmt der Interpretation verschiedene Wege offenhalten.“ Da die Beichte jedoch im Kontext des Wiederaufbaus des Kloster und nicht etwa im Rahmen der Herrschaftsübernahme durch Dietrich erzählt wird, könnte man aber die Vermutung anstellen, dass auch die Tötung seines Onkels eine Rolle gespielt haben könnte: Nachdem Reymund seinen Abschied bekannt gegeben hat, begleiten ihn Goffroy und Dietrich zunächst und reiten von dort aus beide zurück nach Lusignan (vgl. 150,12– 151,15). Obwohl die Erzählung erst zu Dietrich überleitet und in der Folge von Goffroy erzählt, wird eine Gleichzeitigkeit der Erzählstränge suggeriert, so dass potentiell zunächst von Goffroy und dann von Dietrich hätte berichtet werden können, hätte man eine andere Kontextualisierung der Beichte angestrebt. So wird aber Reymunds Beichte direkt im Anschluss an Goffroys Wiederaufbau und dessen daran anschließende öffentliche Bewertung
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Sämtliche den Jagdunfall betreffenden Deutungen lassen sich somit auf zweierlei Weise als spezifische Formen eines ambivalenten Erzählens bestimmen: Zum einen sind sie als solche in sich mehrdeutig, sofern sie entweder – wie im Falle der Sternendeutung und Reymunds Klage – Uneindeutigkeit im Hinblick auf die Zuordnung von Verantwortung und damit ein Nebeneinander verschiedener Deutungsmöglichkeiten exponieren, oder aber aufgrund figuraler Dispositionen – Melusines notwendige christliche Inszenierung sowie Reymunds selektiv-funktionales Erinnern – per se zweifelhaft sind. Zum anderen generieren diese in sich ambigen Figureninterpretationen insofern Ambivalenz, als sie alle die Erklärung desselben Geschehens intendieren, aufgrund ihrer prinzipiellen Gleichrangigkeit – schließlich handelt es sich stets um Figurenrede – dabei aber unabgestimmt nebeneinander stehen und um die tatsächliche Deutung des Geschehens konkurrieren.⁹² Über diese Inszenierung divergierender Perspektiven – man könnte erzählt (vgl. 152,6 – 153,2). Die darin getroffene Aussage der Landsleute der wolff ist z einem scheflin worden (153,2) ließe sich damit potentiell auf beide Figuren beziehen, wird doch unmittelbar angeschlossen: Re:mund der was do zwischen gen Rom kummen (153,3 – 153,4). Liest man die Stelle auf diese Weise, könnte man also annehmen, dass auch der Jagdunfall Gegenstand der Beichte ist, womöglich sogar der zentrale, immerhin heißt es in der darauffolgenden Kapitelüberschrift: Wie Re:mund peichtet dem pabst Leo vnd pß entpfieng über sein missetat die er begangen hett (153,15). Die jeweiligen Deutungen der Figuren werden entweder als solche plausibilisiert oder die sie artikulierenden Figuren erscheinen privilegiert, so dass sie als potentielle Erklärungen des erzählten Geschehens gleichberechtigt nebeneinander stehen: So wird Emmerich bereits bei seiner ersten Erwähnung als wolgelerter herr (14,4) bezeichnet, und dies mit explizitem Bezug auf seine Fähigkeiten in der Astronomie und sein damit einhergehendes Mehrwissen (vgl. 14,4– 14,6). Auch im unmittelbaren Kontext der Sternendeutung werden seine diesbezüglichen Kompetenzen und sein prophetisches Zukunftswissen noch einmal eigens betont (vgl. 18,12– 18,15). Emmerich erscheint somit hinsichtlich seines Wissens über zukünftiges Geschehen privilegiert; gleiches gilt für Melusine, die aber über Kenntnisse sowohl vergangener als auch zukünftiger Ereignisse verfügt (vgl. etwa ihr Mehrwissen bei der ersten Begegung [vgl. 23,18; 23,29; 23,29 – 24,4], in der Hochzeitsnacht [vgl. 43,1– 43,6], ihr Wissen um zukünftiges Geschehen in der Vorhersage der Trauer um Emmerich [vgl. 26,20 – 26,23]). Während beide Figuren nur eingeschränktes Wissen über die je eigene Zukunft und ihr je individuelles Schicksal besitzen, ist Reymund an keiner Stelle des Romans über ein solches Mehrwissen gekennzeichnet. Seine Deutung erscheint aber insofern plausibel, als sie der Benennung des Totschlags als vngefell und dessen kausaler Herleitung am nächsten zu kommen scheint. Gleichzeitig erweisen sich die jeweiligen Deutungen gerade für die sie äußernden Figuren als charakteristisch: Reymund, der schon seinen Aufstieg vom verarmten Grafensohn zum Ziehsohn seines Onkels als zufällig wahrgenommen haben muss, sofern Emmerich seine Gründe für die Wahl nicht eigens konkretisiert hat (die Wahl Reymunds wird zwar mit Emmerichs Wohlgefallen erklärt, dieses aber wird nur in Form von Bewusstseinsdarstellung wiedergegeben, so dass man davon ausgehen kann, dass Reymund die Gründe für seine Aufnahme gerade nicht kennt [vgl. 15,14– 15,15; 16,6]), muss hier, gerade auch in Anbetracht seiner eigenen Intentionen und Motivationen und der verwandtschaftlichen Liebe zu
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dies hier als spezifische Form von Multiperspektivität bezeichnen – die in ihrer Relevanz für die Erklärung des Geschehens gerade nicht hierarchisiert werden, erzeugt die Erzählung eine z.T. antagonistische Mehrdeutigkeit und ambiguisiert auf diese Weise eine für die gesamte Handlung zentrale Passage. Dies konkretisiert sich mit Blick auf die narrative Inszenierung der Szene als solcher, sofern sich eine Erzählstrategie rekonstruieren lässt, die über Widersprüche zwischen der Begründung erzählten Handelns und Figurenbewusstsein, zwischen explizit kausaler, aber von Figuren vermuteter finaler Geschehensmotivation, zwischen expliziten Erzählerkommentaren und impliziter Rezeptionssteuerung Uneindeutigkeit narrativ erzeugt. Blickt man nämlich auf die erzählten Umstände, die dem eigentlichen Unfall vorausgehen, zeigt sich zum einen sehr deutlich, dass die Jagd eine Gewohnheit des Grafen und er ein erfahrener Jäger ist, zum anderen, dass Emmerich die Verantwortung für die Trennung von seinem Gefolge und seiner Dienerschaft selbst trägt: Eines mals do graff Emrich nach seiner gewonheit auff einem geigte was (17,4– 17,5), eilt dieser der das Wildschwein verfolgenden Hundemeute nach, ohne sich seines Gefolges zu vergewissern, das er dann auch verliert, und dies, wie der Erzähler kommentiert, auff seinen schaden vnd vngewin (17,9 – 17,10). Die Erzählung betont dabei die Aktivität des Grafen und die positive Intention seiner Dienerschaft, ihn gerade nicht aus den Augen zu verlieren: vnd hetten in all sein diener verloren das keiner seiner diener nit wiste wo er was (17,15 – 17,16) sowie [v]nd also wie wol graff Emrich mer dann mit zwe:nczig mannen auff das geigte gezogen was / da hetten s: in doch alle verloren (17,17– 17,19). Die Verantwortung dafür, dass sich die Gruppe im nächtlichen Wald verliert, scheint also Emmerich selbst zu tragen. Zwar bedingt dies nicht schon den Totschlag, es ist allerdings die Ursache für ihr nächtliches Umherirren und die Wahl des Weges, auf dem Reymund die eigenen Leute vermutet, der wiederum zu jenem Feuer führt, an dem sie sich niederlassen und an welchem sie von dem Wildschwein überrascht werden. Hatte Reymund zuvor noch daran gezweifelt, das Gefolge wiederfinden zu können, und seinem Onkel, von einem zufälligen Unglück ausgehen. Dass Emmerich hingegen als guter Astronom Gott für ein als Unrecht wahrgenommenes Ereignis in seiner Rede anklagt, wird dann verständlich, wenn man mit Müller 1990, 1045, annimmt, dass Stand und Stellung der Planeten Einfluss auf das irdische Geschehen ausüben, dieses aber nicht determinieren, während gleichzeitig unter anderem die Raumbeschaffenheit dazu führt, auch die Natur in diese Disputation über Unrecht miteinzubeziehen; Melusines auf providentielle Lenkung zielende Interpretation hingegen ist in Anbetracht ihrer anderweltlichen Herkunft, ihres Legitimationsdrucks und der für ihre Erlösung notwendigen Überzeugung Reymunds nachvollziehbar. Auf diese Weise entsprechen die verschiedenen Deutungen den jeweiligen Dispositionen der Figuren, sind somit vor diesem Horizont nachvollziehbar und plausibel und beanspruchen – im Falle Emmerichs und Melusines – darüber hinaus einen besonderen Status hinsichtlich der Relevanz von Wissen.
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stattdessen die Suche nach einer Herberge vorgeschlagen,⁹³ folgen sie auf Reymunds Geheiß trotzdem jenem schnen weg (18,1), nun allerdings doch in der Hoffnung, die eigenen Leute wiederzufinden und womöglich noch in die Stadt eingelassen zu werden (vgl. 18,1– 18,7). Auf diesem Weg entdeckt Emmerich jene Sternenkonstellation am Himmel – die Unterbrechung des Ritts wird folglich von ihm initiiert. Nachdem er sie für Reymund gedeutet hat, ist es dieser, der absteigt, und jenes von den Hirten zurückgelassene Feuer wieder entfacht, trotz der zuvor getroffenen Vereinbarung, schnellstmöglich jenem Weg zu folgen. Reymunds Verhalten wird an dieser Stelle über die Erwähnung der Kälte plausibilisiert (vgl. 19,17).⁹⁴ Auch der Graf steigt nun ab, und dies, wie der Erzähler erneut kommentiert jm z schaden (19,18).⁹⁵ Während sich beide an dem Feuer wärmen, hören sie das Schwein und greifen zu ihren Waffen – Reymund zu Schwert, Emmerich zu Speer. Als das Wildschwein aus dem Unterholz kommt, hört Emmerich explizit nicht auf Reymunds Rat, obgleich er zuvor, nämlich sowohl bei dem Vorschlag, eine Herberge zu suchen, als auch bei der Wahl des Weges noch Reymunds Ratschlag beherzigt und ihn, markiert durch die direkte Rede, in seiner Rolle als Ratgeber bestätigt hatte.⁹⁶ Auf Reymunds wohl panische – er schreit – Aufforderung, O her Dass die Trennung vom Gefolge eine Ausnahmesituation und potentielle Gefahr darstellt, artikuliert Reymund explizit: Do sprach Re:mund z jm Herr wir se:en nun nachtes von allem volck kummen / vnd wir haben die hund des geigtes vnd mengklich verloren vnsers volcks / vnd geprt vns nit wider hindersich z reýtten gegen der nacht / wann wir das geigte noch vnser volck nit finden künnen Aber ich rat das wir ettwo hie z dem nchsten achten wo wir dise nacht herberg mügen haben (17,19 – 17,26). Drittenbass 2011a, 210, konstatiert in diesem Zusammenhang eine deutliche Differenz zwischen Reymunds verbalem Verhalten in der Jagdszene und der darauffolgenden Begegnung mit Melusine. Warum aber bemerkt der Erzähler unmittelbar zuvor Reymunds Reaktion auf die Sternendeutung, nämlich dass er schweigt und nit ein wort [redt] (19,14– 19,15)? Zeigt sich an dieser Stelle womöglich Reymunds Sensibilität hinsichtlich einer für seinen Onkel außerordentlichen Situation, die ihn schweigen, absteigen und ein Feuer machen lässt, anstatt diesen aufzufordern, den Ritt fortzusetzen? Oder weiß er an dieser Stelle schlicht nicht, wie er sich verhalten soll und handelt aus Verlegenheit? Da der Hinweis auf Kälte als Motivation für eine solche Handlung in einer zuvor als Ausnahmesituation gekennzeichneten Lage nicht ausreicht, scheinen beide Möglichkeiten an dieser Stelle plausibel. Auch Drittenbass 2011a, 212 f., bemerkt diesen Kontrast zwischen anfänglicher verbaler Dominanz und plötzlichem Schweigen Reymunds: „[D]as Publikum […] [erfährt] nichts über das Innenleben des Helden. Sein Schweigen bleibt unergründlich.“ Vgl. zu dieser Prolepse auch Drittenbass 2011a, 79. Auf Reymunds Vorschlag Aber ich rat das wir ettwo hie z dem nchsten achten wo wir dise nacht herberg mügen haben (17,24– 17,25), erwidert Emmerich: Du redest recht vnd rattest wol (17,25 – 17,26), und zeigt mit der wiederholten Befolgung von Reymunds Rat auch im Anschluss, dass er dessen Ratschläge wertzuschätzen weiß: Der Graffe sprach Jch volg geren deinem ratt
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behaltent eUer leben vnd ste:gent schnell auf einen baum (19,24– 19,25), reagiert der Graf, scheinbar in seiner Ehre gekränkt⁹⁷, nicht, er steigt ob der Feigheit einer Flucht nicht auf einen Baum, sondern greift das Wildschwein aktiv an: Der graff zuckte den spieß vnd lieff das schwe:n an vnd gab jm einen stich (19,29 – 20,1), trifft es nicht richtig, so dass dieses den spieß abschlg / vnd auch in auff die erden nider warff (20,2– 20,3). Während der Onkel nun auf dem Boden liegt, ergreift Reymund dessen Speer – warum nutzt er nicht sein Schwert?⁹⁸ – mit der Intention (wolt, 20,4), das Schwein zu treffen; durch vngefell […] flt (20,4– 20,5)⁹⁹ er es und aus diesem vngefell resultiert wiederum, dass er mit dem Speer abrutscht und ihn in den Leib seines Onkels sticht.¹⁰⁰ Das Verfehlen des Schweins ist ein Unglück, ein Missgeschick¹⁰¹, aus dem wiederum die Tötung des Onkels erst zu resultieren scheint. Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass die jeweiligen Angriffe des Onkels und Reymunds syntaktisch einander angeglichen sind: Während Emmerich das Schwein nicht richtig trifft, so dass jm das schwe:n den spieß abschlg (20,2), verfehlt Reymund es, so dass jm der stich abw6schet (20,5). In beiden Fällen misslingt das eigentlich Intendierte, die Folge des Verfehlens ist jeweils verhängnisvoll: Das Schwein kann den Speer abschütteln und den Graf zu Boden werfen, und Reymund sticht die Waffe in den Körper seines Verwandten. Auch wenn Emmerichs missglückter Angriff Reymunds Handlung erst bedingt, entspricht das Ergebnis des Handelns in beiden Fällen nicht dem, was den Figuren als Intention zugeschrieben wurde. Nichtsdestoweniger folgt das Geschehen vom Ausritt zur Jagd bis zum tödlichen Unfall einem kausalen Ereigniszusammenhang: Die einzelnen Episoden (18,7). „Als verbal initiative und dominante Figur steigt Reymond in der Jagdszene bei Thüring in die Funktion des leitenden Beraters seines Herrn auf.“ (Drittenbass 2011a, 212) So ließe sich seine Erwiderung auf Reymunds Aufforderung zumindest verstehen: Slichs ist mir nie fürgehebt noch widerfaren / vnd sol mir auch ob got will nymmer fürgehebt noch verwisen werden das ich durch eines schwe:ns willen so schntlich fliehe (19,26 – 19,28). Schnyder 2006b, 10, zählt diesen Wechsel der Waffen wie auch das Schweigen Reymunds im Anschluss an die Prophezeiung zu den „Zwielichtigkeit[en]“ der Szene. Laut Schnyder 2006b, 10, sei diese Formulierung „nicht eindeutig“, da sie „‚fehlt‘ oder auch ‚fällt‘, ‚strauchelt‘ meinen [mag], je nachdem stellt sich der Hergang des Unglücks etwas anders dar – so oder so bleibt aber das entscheidende Moment des Zufalls, des Nichtgewollten, aber […] Unvermeidlichen.“ Re:mund der zucht seines herren spieß vnd wolt das schwe6n treffen / von grossem vngefell so flt er / das jm der stich abw6schet / vnd stieß den spieß seinem herren vnd vettern t:eff in seinen le:b (20,3 – 20,6). Ursache des Verfehlens ist das vngefell, aus diesem resultiert, die konsekutivische Satzkonstruktion zeigt es an, dass er abrutscht und statt des Schweins seinen Onkel trifft. Nach Schnyder 2006b, 9, lasse sich vngefell hier „als Rechtsterminus lesen, der die ungewollte Tat bezeichnet.“ Dieser Terminus wird im Kontext der Trennung von Graf und Gefolge gerade nicht verwendet und pointiert so die Verantwortlichkeit des Grafen.
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sind nicht schlicht hintereinander geschaltet, sondern folgen auseinander.¹⁰² Diese kausale Konstruktion wird begleitet von Verfahren der Innenweltdarstellung und der direkten Figurenrede und somit plausibilisiert: So erhält man an verschiedenen Stellen über eine Bewusstseinsdarstellung in Erzählerrede Einblick in die Innenwelt der Reymund-Figur und deren Motive: Nicht nur eilt Reymund seinem Onkel nach, vmb das / das er seinen vettern nicht verlr in dem wald (17,11– 17,12), auch ist es ihm vast le:de (19,29), dass sein Onkel nicht seinem Ratschlag folgen möchte, auf einen Baum zu steigen. Darüber hinaus ist es seine ausdrückliche Intention, expliziert über wolt (20,4), das Schwein und nicht seinen Onkel zu treffen. Die anschließende Klage sowie das nahezu bewusstlose Umherreiten werden durch die Darstellung seiner Innenwelt verständlich gemacht: gross[] jamer le:den vnd betrbnuß (21,24) sowie gross[] leid vnd jamer den er an seinem herczen trg (21,27– 21,28) führen zu Gebärden der Klage, lassen ihn seine Umwelt nicht mehr wahrnehmen. Neben diesen Formen der Innenweltdarstellung, die Auskunft über Reymunds Emotionen und Intentionen geben, werden uns diese in dieser Szene auch über direkte Rede näher gebracht, schließlich spricht Reymund zunächst eine explizite Warnung vor einem Ritt durch die Nacht aus, schlägt die Suche nach einer Herberge vor, rät erst im Anschluss und in dem Glauben, der Weg führe in Stadt, diesen einzuschlagen und empfiehlt auch hier ein möglichst zügiges Vorgehen (vgl. 18,4– 18,5). Obwohl das Geschehen also kausal auseinander folgt, wird die Verantwortung für das Zustandekommen der in ihrem Ausgang tödlichen Situation durch spezifische narrative Verfahren bei dem Grafen selbst verortet. Reymund hingegen, der noch unmittelbar im Kontext der Sternendeutung als ein gtiger jüngling (19,9) bezeichnet wird, wird einer Verantwortung für das Geschehen enthoben, was sich vor allem auch an der von Tötung zu Klage überleitenden Erzählerrede zeigt, die Reymunds grenzenlos anmutendes Leid zum Gegenstand hat (vgl. 20,13 – 21,2). Das Geschehen als solches, die Tötung des Onkels, kommentiert der Erzähler hingegen nicht explizit, sondern fokussiert auf die Betroffenheit Sie verlieren ihr Gefolge, finden auf der Suche nach einer Herberge einen Weg, von dem sie annehmen, er führe in die Stadt, unterbrechen diesen wegen der Sternenkonstellation, wärmen sich wegen der Kälte an einem zurückgelassenen Feuer, das das Wildschwein anlockt, dessen Angriff wegen des Abrutschens des Speers misslingt und denjenigen Reymunds bedingt, der das Schwein ebenfalls verfehlt und deshalb den Onkel trifft. Mit Martínez 1996a, 22 f., werden unter kausaler Motivierung bzw. als kausal motiviert somit nicht nur „Handlungsintentionen“ verstanden, sondern „auch nichtintendierte Handlungsfolgen, Handlungsgemengelagen und Geschehnisse ohne Beteiligung intentionsbegabter Agenten, kurz: die Gesamtheit von Ereignissen, die in einem kausalen Zusammenhang stehen“. Dabei ist auch zufälliges Geschehen kausal motiviert, auch wenn „man sein Zustandekommen nicht aufgrund bekannter regelmäßiger Abläufe voraussagen kann.“ (23, Anm. 12)
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Reymunds, der allerdings nicht nur um seinen vettern, sondern auch sein selbs vngeuelle ser klagte (20,11). Die erzählende Instanz also, die das Geschehen an anderen Stellen des Romans ausführlich kommentiert, bewertet und insbesondere durch den Prolog einen providentiellen Horizont zu etablieren scheint¹⁰³, enthält sich in diesem Zusammenhang einer ausdrücklichen Positionierung zum Geschehen, etwa im Sinne einer eindeutigen Zuschreibung von Verantwortung. Neben den genannten positiven Bezugnahmen auf die Reymund-Figur äußert sie sich darüber hinaus in dieser Szene nur in Form kommentierender Prolepsen im Kontext des erzählten Figurenhandelns wertend, wodurch dieses als eigentlich problematisch und verursachend erscheint, sofern eine negative Folge explizit an die Aktivität bzw. individuelle Handlung einer Figur, nämlich Emmerich, gebunden wird. Neben diesen auf eine Figur bezogenen und mit deren Handlung assoziierten negativen Vorausdeutungen könnte auch die Bezeichnung des Geschehens als vngefell als implizite Bewertung des Ereignisses verstanden werden: Gerade in Kombination mit der passivischen Satzkonstruktion das jm z handen gangen was (20,13 – 20,14) könnte vngefell als Referenz auf die auch in Reymunds Klage artikulierte FortunaVorstellung verstanden werden.¹⁰⁴ Da der Erzähler hier aber weder diese noch eine andere Form finaler Gerichtetheit, etwa göttliche Lenkung, expliziert, sondern die Tötung kausal aus dem zuvor Geschehenen herleitet, lässt er die Frage nach der Verantwortung für diesen Vorfall unbeantwortet und enthält sich einer
Die Verortung des Geschehens in einem göttlichen Kontext findet sich vor allem im Prolog, in dem das Wunderbare, insbesondere der Melusine-Figur, als Bestandteil der göttlichen Schöpfung apostrophiert wird (vgl. 12,6 – 12,19). Auch das Augustinus-Exempel (95,4– 95,27), das an zentraler Stelle, nämlich im Kontext der Klosterbrandstiftung und des darauffolgenden Tabubruchs, erwähnt wird, referiert auf einen ersten Blick auf einen göttlichen Horizont und providentielle Lenkung. Neben solchen expliziten Erzählerkommentaren wird vor allem über die Figuren ein göttlicher Bezug präsent gehalten, sofern diese Gott um Beistand bitten, ihm danken oder in dessen Namen – wie etwa Goffroy – agieren. Nach Ziep 2006, 245, Anm. 54, hingegen sei der Terminus ungevell als solcher ambivalent, sofern er „auf ein unvorhersehbares Ereignis [verweist], aber auch auf eine regelwidrige Handlung. […] Im Text wird die Tat als (willkürliches) Verbrechen gekennzeichnet, das, auch wenn es verdrängt wird, Raymond eindeutig als Vergehen zugerechnet wird.“ Eine solch ambivalente Besetzung des Begriffs ist sicher denkbar, mir erscheint aber – wenn hier denn eine Referenz oder Evaluierung intendiert ist – der Bezug auf das mit Fortuna assoziierte Glückskonzept passender. Der Terminus ließe sich nämlich mit dem Wirken Fortunas im boethianischen Sinne in Bezug setzen, sofern dieses auf den „Absturz in die Tiefe“ zielt, der wiederum plötzlich und willkürlich erfolgt: Ascende, si placet, sed ea lege, ne, uti cum ludicri mei ratio poscet, descendere iniuriam putes (Boethius, Consolatio Philosophiae, 48, II,2,32– 33). Gleichzeitig entspräche dies der boethianischen Zufallsdefinition (vgl. 232, V,1,55 – 57), sofern der Jagdunfall als relativer Zufall erscheint und somit grundsätzlich vermeidbar wäre.
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expliziten auktorialen Wertung. Darüber hinaus kommentiert oder gar hierarchisiert er die Deutungsversuche der einzelnen Figuren nicht.¹⁰⁵ Auf diese Weise entsteht eine Pluralisierung von Instanzen allererst; denn eigentlich folgt das Geschehen einer kausalen Ereigniskette, in deren Rahmen die Bedingungen, die den tödlichen Ausgang ermöglichen, bei genauerem Hinsehen der Graf selbst zu verantworten hat. Indem nun Reymund und Melusine in der nachträglichen Auseinandersetzung mit dem Jagdunfall dessen Bezeichnung und die auf eine Passivität Reymunds zielende Formulierung des Erzählers, nämlich vngefelle das jm z handen gangen was (20,13 – 20,14), variierend wiederholen¹⁰⁶, scheinen sie zugleich das hier eingesetzte Erzählerverfahren zu reflektieren, denn die Szene wird letztlich als genau das erzählt: als vngefell, das aber – und das ist die erzählerische Pointe – über jene verschiedenen in sich uneindeutigen Erklärungen ambiguisiert wird. Das eigentlich kausale Geschehen wird somit durch Deutungen auf Figurenebene konterkariert, die finale Lenkung unterstellen, und die sich in ihrer erzählerischen Inszenierung als Element einer narrativen Strategie enthüllen, die der Erzeugung von Ambivalenz dient. Dieses Verfahren kommt dabei sowohl der rhetorischen Forderung nach Plausibilität und Wahrscheinlichkeit nach, wie es jene Ausführungen zu einer stimmigen narratio bei Cicero, in der Rhetorica ad Herennium und den lateinischen Poetiken fordern,¹⁰⁷ als es auch gleichzeitig jene in den Lucan-Kommentaren postulierte „poetische Lizenz“, die „Lizenz zur Unentschiedenheit“¹⁰⁸ reflektiert. So zeigt sich in der Gleichzeitigkeit der Erklärungsansätze auf Figurenebene jenes von Anselm beschriebene Charakteristikum
Dass dieser letzte Aspekt in diesem Kontext von besonderer Relevanz ist, zeigt sich daran, dass der Erzähler an anderer Stelle die konklusive Deutung einer Figur ausdrücklich problematisiert: Als Reymund Melusine öffentlich beschuldigt und ihr Wesen für Goffroys Tat verantwortlich macht (vgl. 114,17– 115,4), kritisiert der Erzähler diesen vorschnellen Rückschluss explizit (vgl. 115,6 – 115,10). Reymund erwähnt gegenüber Melusine das vngefel[] […] so mir gar kürczlich widerfaren ist (23,11– 23,12) und wundert sich im Verlauf des Gesprächs, woher sie von dem vngefell das mir z handen gangen vnd widerfaren ist (24,24– 24,25) wisse. Auch Melusine greift diese Wendung auf: Re:mond ich weiß […] das vngefell. so dir in diser stund an deinem herren vnd vettern widerfaren ist (23,29 – 24,2). Gemäß der Forderung nach verisimilitudo solle die Darlegung des Sachverhaltes Ereignisse so schildern, wie sie wirklich geschehen sind oder wie sie hätten geschehen können (vgl. Cicero, De Inventione, I,19,27; Rhetorica ad Herennium, I,3,4). Dafür sollten die Ursachen der Taten sichtbar (vgl. Cicero, De Inventione, I,21,29) und deren Motive (vgl. Rhetorica ad Herennium, I,9,16) genannt werden. Vgl. zum verisimilitudo-Konzept in den Poetiken, Schneider 2013, 169 – 172 (Matthäus von Vendôme), 173 – 175 (Galfred von Vinsauf), 175 – 177 (Johannes von Garlandia). Vgl. die Termini bei Schneider 2013, 164 f.
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von Dichtung, verschiedene Ansichten und Meinungen aufzuzeigen,¹⁰⁹ während es der von Arnulf beschriebenen dichtungstypischen Enthaltung einer eindeutigen Bewertung nahekommt,¹¹⁰ sofern der Erzähler hier gerade keine Kommentierung oder gar Hierarchisierung der Figurendeutungen vornimmt. Bei Anselm und Arnulf bedeutet dies aber gerade keinen Verzicht auf die logische Verknüpfung von Handlungselementen,¹¹¹ sondern sie betonen immer wieder die Notwendigkeit, dem Erzählten Wahrscheinlichkeit zu verleihen.¹¹² Dieser Forderung nach Plausibilität und Wahrscheinlichkeit kommt die Darstellung Thürings dabei trotz der Inserierung verschiedener Figurenstandpunkte nach, indem sie das Geschehen als kausalen Ereigniszusammenhang präsentiert. Die Darstellung des Geschehens erfüllt also trotzdem jene Forderung nach verisimilitudo, denn sie folgt nicht nur kausalen und damit wahrscheinlichen Zusammenhängen,¹¹³ sondern auch die einzelnen Deutungsversuche erscheinen in sich plausibel, sofern sie sich jeweils als begründet und sinntragend erweisen. Auch hier ist es der gleichzeitige Einsatz der narrativen Verfahren, die spezifische Kombination verschiedener Erzählformen, die Ambivalenz auch dort entstehen lässt, wo eigentlich plausibilisierende Erzählverfahren eingesetzt werden. Denn auch hier werden narrative Formen gemäß ihrer ursprünglichen rhetorischen Funktion, nämlich zur „Handlungsplausibilisierung und parteiische[n] Rezeptionslenkung“¹¹⁴ eingesetzt: So dienen beispielsweise die Innensichten in die Reymundfigur, die Wiedergabe seiner Rede sowie die kausale Herleitung des Geschehens durchaus der Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Erzählens; nur wird diese im Grunde plausible Darstellung, wie gezeigt wurde, von anderen Erzählverfahren konterkariert. Damit ist das erzählte Geschehen als solches kohärent – auch wenn es über die Inserierung verschiedener Erklärungsansätze ambiguisiert wird. Neben dieser poetischen Dimension kann das skizzierte narrative Verfahren auch hier als Reflexion von Kontingenz verstanden werden. Denn dieses spezifische erzählerische Arrangement lässt sich als epistemische Auseinandersetzung
Vgl. Anselm VI,608. Vgl. Arnulf I,412, der in Bezug auf Lucan, der drei mögliche Hypothesen über die Ursache des Gezeitenphänomens artikuliert, konstatiert: Ponit tres opiniones more philosophi sed nullam soluit aut affirmat more poete. Vgl. Schneider 2013, 165. Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 3.1. Den Zusammenhang von Kausalität und Wahrscheinlichkeit betont vor allem Galfred, Poetria Nova, V. 258 – 262, nach dem die einzelnen zusammengehörenden Elemente einer Erzählung so verbunden werden sollten, als ob sie auseinander folgten und sich nicht bloß berührten: hic est / Formula subtilis juncturae, res ubi junctae / Sic coeunt et sic se contingunt, quasi non sint / Contiguae, sed continuae quasi non manus artis / Junxerit immo manus naturae. Hübner 2011, 201.
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mit jenen von Friedrich beschriebenen zeitgenössischen Diskursen „über die Wirkkräfte des Schicksals“ verstehen, sofern hier „[v]erschiedene Instanzen der Determination wie Sterne, Vererbung oder Fortuna […] neben die Providenz [treten]“¹¹⁵. Friedrich hat dies folgendermaßen beschrieben: Die Konkurrenz der Schicksalsinstanzen tritt signifikant in Thürings von Ringoltingen Melusine hervor, in der neben die klassische Providenz die Sterne, das Glück, die Genealogie und die menschliche Willensschwäche treten, der Mensch also in die Spannung rivalisierender Determinationen gestellt wird. […] So wie das Erzählgeschehen zunehmend an externe Systeme wie Moral, Recht und Ökonomie rückgebunden und damit pragmatisiert wird, so vervielfältigen sich auch die nicht greifbaren Instanzen der Determination.¹¹⁶
Diese Gleichzeitigkeit konkurrierender Mächte resultiert für Friedrich dabei aus der diskursiven Verknüpfung der Erzählung mit Bezugsfeldern, in denen Kontingenz virulent wird. Die sich in einer solchen Konkurrenz oder Rivalität schicksalsmächtiger Determinanten manifestierende Kontingenz wird in der Melusine dabei gerade nicht bloß durch die Nennung der verschiedenen Instanzen reflektiert, sondern sie wird gewissermaßen im Erzählverfahren selbst greifbar: Neben der narrativen Strategie des Erzählers, den Jagdunfall als relativen Zufall, als Zusammentreffen jeweils kausal begründeter Ereignisketten, zu inszenieren, exponiert die Erzählung Kontingenz auch durch die Verortung des Geschehens im Wald, einem prototypischen Kontingenzraum, sowie durch den Bezug auf das Wortfeld der Eile.¹¹⁷ Indem das vngefell in seiner relativen Zufälligkeit grundsätzlich vermeidbar ist, stellt es Kontingenz als „Raum offener Möglichkeiten“¹¹⁸, in dem sich der Zufall willkürlich, also ohne erkennbare Notwendigkeit ereignet, pointiert aus. Daneben thematisiert der Text zugleich die verschiedenen Deutungsperspektiven auf dieses kontingent inszenierte Geschehen.¹¹⁹ Dabei handelt es sich nur insofern um eine ‚Verlegenheitsstelle‘, wie sie Reichlin in Anlehnung an Blumenberg beschrieben hat, als das Geschehen für die Figuren „Deutungs- oder Begründungsfragen“¹²⁰ aufwirft: Anders als in Reichlins
Friedrich 2011, 134. Friedrich 2011, 135 f. Vgl. zur Inszenierung eines relativen Zufalls als narrative Strategie Speth 2012, 342, Anm. 10, sowie 345, 351; zum Kontingenzraum Wald 342 f.; zum Motiv der Eile 343. Vgl. zum Wald als typischer Kontingenzraum auch Schnyder M. 2010, 175 f., 179, 182 f. Haug 2003, 64. Vgl. Reichlin 2010, 25, die konstatiert, dass insbesondere „[l]iterarische Texte […] vielfach gerade solche sich überlagernde, inkommensurable Perspektiven auf vordergründig kontingente Ereignisse aus[stellen].“ Reichlin 2010, 25.
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Konzept behauptet ist das Geschehen bei Thüring recht eindeutig motiviert, nichtsdestoweniger werden daran „unterschiedliche Deutungsstrategien von Figuren“¹²¹ verhandelt. Thüring inszeniert somit nicht nur ein genuin kontingentes Geschehen, sondern auch die Deutungskonzepte der damit konfrontierten Figuren reflektieren ihrerseits Kontingenz, sofern sie die Konkurrenz und Rivalität verschiedener Determinaten allererst evozieren. Indem die Figuren verschiedene potentielle Erklärungen für ein Geschehen artikulieren, die zwar jeweils plausibilisiert, nicht aber hierarchisiert werden, zeigt sich nicht nur eine je andere Form der Kontingenzbewältigung¹²², sondern auch – insbesondere bei Emmerich und Reymund – der „Schwund metaphysischer Sicherheit“¹²³, der durch die narrative Inszenierung des Geschehens noch potenziert wird. Anhand der Figurenreden wird dabei außerdem das gerade in der Frühen Neuzeit zur Disposition stehende und durch grundlegende Veränderungen in den verschiedensten Bereichen besonders virulente Spannungsfeld von Providenz, Kontingenz und menschlichem Handeln reflektiert. Dass dieses Spannungsfeld im Roman mehrfach und dies in der Regel mithilfe der beschriebenen erzählerischen Technik anzitiert wird, soll der Blick auf weitere Szenen verdeutlichen.
4.1.2 Klosterbrand und Tabubrüche Reymunds Klage über die Untat Goffroys, in der er den Jagdunfall erinnert, die eigene Schuld für die Tötung seines Onkels aber negiert und einen kausalen Ereigniszusammenhang zwischen diesem, der Begegnung mit Melusine, der Geburt der Söhne und dem Klosterbrand (vgl. 112,24– 113,9) herstellt,¹²⁴ gipfelt in die
Reichlin 2010, 25, bestimmt „Verlegenheitsstellen“ nämlich „als Ereignisse, die (kausal oder transzendent) unter- oder übermotiviert sind und die deshalb Deutungs- oder Begründungsfragen aufwerfen.“ Als solche Formen der Unter- oder Überdetermination fasst sie sowohl „wundersame Koinzidenzen […], die gleich mehrfach (und auf unterschiedlichen Erzählebenen) motiviert oder gedeutet werden“ als auch „Ereignisse, deren kausale oder finale Motivation dezidiert ausgespart wird.“ Prämisse ihrer Definition ist die Annahme, dass literarische Texte „selten ein geschlossenes System von Erst- und Zweitursachen oder lückenlose Ereignisketten [präsentieren].“ Friedrich 2011, 127, hat darauf hingewiesen, dass der Zufall in der Frühen Neuzeit nicht über Kontrollmechanismen, sondern über Adressierung bewältigt werde. Dies scheint sich vor allem in der Klage Emmerichs an Gott und Natur sowie in der Reymunds an das Glück zu zeigen. Allerdings bindet auch Melusine das von ihr explizit als Zufall bezeichnete Geschehen an eine lenkende Instanz. Friedrich 2011, 126. Müller 1990, 1035 f., betont, dass dieser Zusammenhang ausschließlich in Reymunds Perspektive bestehe. Die Verknüpfung der einzelnen Ereignisse – Jagdunfall, Begegnung, Rettung –
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Projektion der ursächlichen Verantwortung auf Melusine: Es ist gancz ein gespenst vmb diß weib das mag ich wol prfen. wann s: sich in dem pad erzeigete also ein halber mensch vnd ein halber wrm. Das doch ein greUsenlich angesicht was (113,5 – 113,9). Dieser Perspektivwechsel Reymunds auf Melusine¹²⁵ löst auf Figurenebene das ein, was der Erzähler vorausgesagt hatte. Indem Reymund von Goffroys Tat auf Melusines Wesen rückschließt und sie öffentlich diffamiert (vgl. 114,16 – 114,17), setzt er das vngefell, das der Erzähler bereits bei Goffroys Geburt prophezeit hat, in Handlung um und realisiert den dort hergestellten Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen:¹²⁶ wann er das Closter von Malliers […] verprant z aschen / vnd darz hundert münich / vnd auch seinen brder darinne verderbte / dar durch sein vatter Re:mund so grymmig vnd also zornig ward das er gen Melusinen seinen gemahel mit worten beschuldet das er vmb sein schn frawen vnd liebsten gemahel kam (50,7– 50,13).
Reymund fungiert somit handlungsstrukturell als Generator des Geschehens; seine Reaktion ist das zentrale Moment in dieser Kausalkette. Seine hier noch explizit herausgestellte bedeutende Rolle in diesem Zusammenhang wird in der Folge in der Erzählerrede marginalisiert, denn unmittelbar nach der Schilderung des Klosterbrands lässt der Erzähler dieses wesentliche Glied aus: dadurch [den Klosterbrand, Anm. d. Verf.] seinem vater vnd seiner mter gar grosser kummer aufferstnd vnd in vngefell kamen […] / deß selben vngefelles dise tat gancz ein vrsach was das geffro: das closter vnd die münch in dem closter verprennet (109,15 – 109,19).¹²⁷ Nichtsdestoweniger könnte diese klare Zuschreibung eines Ursache-Folge-Verhältnisses von Klosterbrand und Tabubruch in Erzählerrede die Frage nach der Verantwortung für das Geschehen erübrigen: Goffroy zündet das Kloster an, Reymund stellt in dem heimlich und verbotenerweise erworbenen Wissen um Melusines Natur jenen Zusammenhang her und beschimpft sie öffentlich. Zugleich ist die Trennung der beiden infolge des Tabubruchs konstitutives Element des Erzählschemas, dessen Automatismus aber gewissermaßen erst
ließen ihn eine „ungesühnte[] Schuld“ annehmen, so dass „[s]ein Unglück […] mithin als deren späte Folge gelten [müßte]. Dieser Nexus von Schuld und Strafe ist allerdings allein Reymunds Interpretation. Er wird nur deshalb wirksam, weil Reymund ihn so konstruiert, d. h. die Untat seines Sohnes mit seiner eigenen zweifelhaften Eheschließung, diese mit dem ungesühnten Totschlag verknüpft.“ Vgl. Schausten 2006, 178 ff. Auch Schnyder 2006b, 29, betont die Kausalität der Ereignisse, die er als für Thüring charakteristisch bewertet. Vgl. zu dieser Prolepese auch Drittenbass 2010, 283. Vgl. Drittenbass 2010, 287 f. Vgl. allgemein zu dieser und den auf Goffroy bezogenen Vorausdeutungen auch Drittenbass 2011a, 81, 86, 97 f., zu den auf ihn bezogenen Analepsen 125 ff.
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im zweiten Anlauf wirksam wird, zeitigt der erste Tabubruch doch gerade keine Konsequenzen. Dieser scheinbaren Eindeutigkeit sowie der Zwangsläufigkeit des Sagenmechanismus setzt die Erzählung nun erneut eine Vielzahl möglicher Hypothesen entgegen, die um die Erklärung der beiden Ereignisse konkurrieren.¹²⁸ Wie bei der Inszenierung des Jagdunfalls findet sich auch hier jene Pluralisierung möglicher Ursachen, die erneut um die zentrale Frage nach der Verantwortung für ein unrechtes Geschehen kreisen. Auch hier werden neben einer recht eindeutigen, die Kausalität des Geschehens wahrenden und individuelles Handeln proleptisch kommentierenden Erzählerhaltung¹²⁹ Figurenstandpunkte inszeniert, die mit finaler Gerichtetheit, dem eigenen Unglück oder subjektiver Verantwortung argumentieren und die auf verschiedene Weise privilegiert erscheinen, sowohl aufgrund des Figurenstatus als auch aufgrund plausibilisierender Erzählverfahren, wie etwa Bewusstseinsdarstellungen. Zugleich werden menschliche Affekte und individuelle Verantwortung thematisch, zum einen in Form umfangreicher Figurenreflexionen, zum anderen durch explizite Erzählerkommentare. Indem letztere in ihrem partiellen Bezug auf exemplarische Wissensbestände und Sentenzen aber ebenfalls einen providentiellen Horizont aufrufen, geriert sich auch die Bewertung und Motivierung des Geschehens durch den Erzähler als uneindeutig, als letztlich ambivalent. Blickt man auf den Fortgang der Handlung bis zum Klosterbrand, fällt insbesondere die Aktivität Reymunds auf: Hatte dieser noch kurz nach der Hochzeit Melusine gefragt, [a]ller liebster gemahel wie wllen wir nun fürbaß vnser ze:t vertre6ben (45,4– 45,5), so ist von ihm in der Folge weder bei Errichtung der Bauten noch bei der Geburt seiner Söhne die Rede, auch seine ritterlichen Leistungen finden nur äußerst kurze Erwähnung.¹³⁰ Während Melusine nun bei den
Vgl. zu der Gleichzeitigkeit konkurrierender Deutungen auch Müller 1990, 1034 f. Drittenbass 2011a, 88, hat darauf aufmerksam gemacht, dass die für das Zustandekommen der Katastrophe zentralen Ereignisse jeweils mit einer entsprechenden Prolepse markiert seien. Melusine bestellt und bezahlt die Handwerker, die das Land um den Durstbrunnen erschließen und bebauen (vgl. 45,7– 46,2), und benennt das von ihnen errichtete Schloss (vgl. 46,6 – 46,13). In der Folge wechseln sich Bauen und Gebären ab, erwähnt wird immer nur Melusine, von Reymund ist an keiner Stelle die Rede. So gebärt Melusine beispielsweise ihren ersten Sohn, sie nennt ihn Uriens (vgl. 47,3 – 47,4), und lässt danach das Schloss ausbauen (47,12– 47,21). Nach der Geburt des vierten Sohnes, Anthoni, verweist der Erzähler auf die Erziehung der Kinder, die ebenfalls in Melusines Händen liegt: Vnd erzoch die fraw vorgenant ire kind schon vnd lieblich biß das s: erwachssen waren (49,7– 49,8). Während die Berichte über die Taten der Söhne einen Großteil der Handlung dominieren, heißt es über Reymunds Taten lapidar: Re:mund beczwang mit seiner ritterlichen hant gar vil landes / besunder gewan er das lant auff der einen se:ten alles piß Britonia (91,18 – 91,20). Vgl. dazu auch Dimpel 2014, 217 f., der diese Konzeption der männlichen Hauptfigur als positives Sympathiesteuerungsverfahren zugunsten Me-
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beiden ältesten Söhnen als die elterliche Instanz fungiert, die deren Vorhaben und Absichten sanktioniert,¹³¹ ist es bei den Söhnen Goffroy und Freymund ihr Vater Reymund, der sich über deren weitere Laufbahn verantwortlich wähnt: Als Goffroy etwa beschließt, in den Kampf gegen den Riesen zu ziehen (vgl. 91,21– 91,30), überlegt er, wie er Geffro: behalten vnd im seinen willen prechen mcht (92,1– 92,2), was ihm in der Folge aber gerade nicht gelingt. Während diese Ignoranz gegenüber Reymunds Rat mit Goffroys Wesen erklärt und legitimiert wird (vgl. 92,2– 92,3), bittet Freymund, der we:ß vnd wol gelert (92,15) ist, seine Eltern ausdrücklich um die Erlaubnis, eine geistliche Laufbahn einschlagen zu dürfen (vgl. 93,3 – 93,4). Obwohl er die Bitte an Reymund und Melusine richtet, reagiert zunächst nur Reymund und äußert seine Zweifel an dem von Freymund explizierten Wunsch, kann ihn aber ebenfalls nicht von seinem Vorhaben abbringen. Nachdem Reymund um Melusines Einverständnis für seine Entscheidung gebeten hat, delegiert sie erstmals die Entscheidungsgewalt an Reymund, der mit seinem Entschluss den Klostereintritt seines Sohnes und damit das folgende Geschehen allererst ermöglicht. Dass an dieser Stelle womöglich ein kausaler Zusammenhang zwischen Reymunds erstmaliger Aktivität und individueller Entscheidung und dem folgenden Klosterbrand besteht, suggeriert die direkt anschließende Prolepse des Erzählers: Also veruolget der vater seinen willen vnd macht in z einem münich / vnd ließ in den orden an vnd profeß thn / des freüten sich die münch zemal ser. Das inen aber darnach z grossem kumer vnd herczenle: de geriet (94,8 – 94,12). Mit Freymunds Klostereintritt ist ein entscheidender Wendepunkt in der Erzählung markiert; indem dieser ausdrücklich an Reymunds Entscheidung geknüpft ist, trägt er letztlich die Verantwortung auch für das erste Glied in jener erwähnten Kausalkette. Dass es nun auch Reymund ist, der Goffroy über den Klostereintritt seines Bruders informiert, und dies erneut mit einer für ihn ungewöhnlichen Aktivität, wie sich an der gleich zweifachen Erwähnung von Reymunds Verfasserschaft des Briefes zeigt (vgl. 105,13 – 105,14; 107,2), verstärkt diesen Eindruck. Darüber hinaus legt auch an dieser Stelle die gleich darauffolgende Erzählerbemerkung einen Zusammenhang zwischen Aktivität Reymunds
lusines wertet. Die Passivität der Reymund-Figur sowie die Aktivität Melusines sind immer wieder konstatiert worden, vor allem im Kontext gendertheoretischer Ansätze, in denen dieses spezifische Verhältnis auch vor dem Horizont des zeitgenössischen Geschlechterverhältnisses, den mit Männern und Frauen jeweils assoziierten Stereotypen und Rollen sowie den damit einhergehenden Identitätsfaktoren untersucht wurde. Als Uriens gemeinsam mit Gyot ausziehen möchte, wird nur Melusines Einverständnis erwähnt: Melusina vernam iren vnderstand erlich z sein vnd freUet sich ihres fürnemens / vnd hett hoffnung das es in gelücklich vnd nach eren solte geen / vnd begabte s: mit gold vnd silber re:chlich (51,6 – 51,9).
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und folgendem Geschehen sehr nahe: Diß schre:ben im aber mißriet. Dann er des vmb leib ere vnd gt. vnd auch vmb seinen allerliebsten gemahel Melüsina kam (105,17– 105,19). Dieser Erzählerkommentar überspringt freilich ebenfalls ein Element im Ereigniszusammenhang – die auf den Brief folgende Tat Goffroys –, verdeutlicht aber nichtsdestoweniger die Kausalität des Geschehens: Brief, Brandstiftung, Reymunds Zorn, Verlust Melusines.¹³² Er schreibt somit Verantwortung für das Zustandekommen einer in ihrem Ausgang erneut tödlichen und in der Folge für Reymund auch persönlich verhängnisvollen Situation recht eindeutig zu.¹³³ Während die Folgen seines Handelns Reymund weder bewusst, noch von diesem intendiert sind, schafft er doch die Voraussetzungen für das folgende Geschehen, das allerdings nicht zwangsläufig aus diesen Prämissen resultiert: Die Reaktion Goffroys als solche ist ein potentielles Ereignis und folgt nicht notwendig aus Reymunds Entscheidung, ist damit weder vorherzusehen noch abwendbar. Indem also Goffroy auf die von Reymund ermöglichte Konstellation derart reagiert, wird Reymunds Handeln gewissermaßen erst retrospektiv zu einem generierenden Faktor in der Verkettung der Ereignisse und zum zentralen ermöglichenden Moment. Goffroys Reaktion hingegen als nicht vorhersehbares situationsspezifisches Handlungsmuster wird wiederum Anlass für jene
Auch Pafenberg 1995, 274, betont die Verantwortung Reymunds für das Zustandekommen der Situation, sofern dieser den „Auslöser für Goffroys Zorn geliefert hat.“ Dabei liest Pafenberg Reymunds Schreiben allerdings als Ersuch um Goffroys Meinung, was der Text nicht nahelegt, und bezeichnet Reymund außerdem als „Mitschuldige[n] bei der folgenden Missetat.“ An dieser Stelle ist nicht von einer Schuld Reymunds zu sprechen, sofern dies eine bewusste Intention impliziert, die in diesem Fall gerade nicht gegeben scheint. Vgl. zur Relevanz des Briefes auch Drittenbass 2011a, 85: „Gleichzeitig scheint das Unglück, das im Verlust Melusines seinen Höhepunkt findet, bereits im Akt des Briefverfassens angelegt zu sein. Im Unterschied zu Reymonds öffentlicher Beschimpfung Melusines […] nimmt das Unglück hier im Schreiben eines völlig anders intendierten Briefes sozusagen zufällig seinen Anfang, wobei Reymond gleichermassen schuldlos einen Teil der Verantwortung am kommenden Unglück zu tragen hat.“ Man könnte an dieser Stelle auch eine implizite Problematisierung der Rollenüberschreitung Reymunds angedeutet sehen: Die bis dahin gänzlich passive Figur wird an zwei zentralen Punkten der Erzählung aktiv, einmal auf Anweisung Melusines, einmal aus eigenem Antrieb; beide, seinen eigentlichen Aktionsradius überschreitenden Handlungen bedingen eine Entwicklung, die in ihrem Ausgang verheerend ist. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch die Rolle Melusines, die ihn zu der ersten eigenmächtigen Handlung allererst motiviert. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil sie eigentlich über zukunftsgewisses Mehrwissen verfügt, an dieser Stelle das folgende Geschehen aber offenbar nicht vorhersehen kann. Während sie beispielweise die Mutmaßungen von Reymunds Bruder antizipiert, hätte sie grundsätzlich auch Goffroys Zorn über den Klostereintritt prophezeien können müssen. Warum sie in diesem Fall nicht dazu in der Lage ist, bleibt offen; potentiell denkbar wäre, dass ihr die Zukunftsgewissheit hier deshalb verwehrt ist, weil es ihr eigenes Schicksal betrifft.
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Schlussfolgerung Reymunds sein, die er nur aufgrund seiner heimlichen Beobachtung Melusines, seiner Verbotsübertretung, ziehen kann – erneut schafft Reymund also selber die Bedingungen für das eigene Unglück.¹³⁴ Auch der erste Tabubruch ist dabei im Kontext jener für die Figur bis dahin ungewöhnlichen Aktivität zu sehen, denn bis zur Problematisierung von Melusines samstäglicher Abwesenheit durch seinen Bruder hat Reymund selbst weder an der Rechtmäßigkeit dieses Abkommens noch an Melusines ehelicher Treue gezweifelt: vnd es fget sich auff einen samstag / das re:mund Melusina aber verloren hette als auch ander samstag. doch hett er s: darumb nie erscht noch nachgefraget / vnd sein gelüb vnd eide gehalten. dann er auch nie nichcz dann gtes vnd keines argen gedacht (95,28 – 95,32).
Neben diesem Kommentar in Erzählerrede akzentuiert auch Reymunds Hinweis an seinen Bruder, lassent eüch nit belangen auff morn slt ir s: sehen (96,10 – 96,11), die bis zu diesem Zeitpunkt offenbar völlig bedingungslose Akzeptanz des Gegebenen durch eine passive, die Anordnungen Melusines bereitwillig hinnehmende Reymund-Figur. Die auf die Unterstellungen seines Bruders folgende Aktivität,¹³⁵ die Beobachtung Melusines, legt zunächst eine affektive Reaktion Reymunds nahe, nichtsdestoweniger hält er aber inne und wägt die Situation ab: vnd kam an ein e:sene tr. do stnd er vnd gedacht was im zthn wer / vnd nach seines prders worten do kam im in seinen sin vnd gedacht das sein weib gegen ime vngetreUlichen fre vnd bbere: schand vnd laster trib / vnd villeicht :eczundt an slchen vnerlichen enden wer. des s: laster vnd vnere hette / vnd also zoch er sein schwert auß seiner scheiden vnd scht ob er :ndert mcht ein loch vinden dodurch er seines gemahels handel vnd gewerb mcht gesehen vnd befinden (97,1– 97,9).
Diese Bewusstseinsdarstellung in Form einer Psychonarration verdeutlicht zum einen, dass eine Affekthandlung die Reflexion des eigenen Handelns nicht
Aufgrund dieser von Reymund erst geschaffenen Voraussetzung für die spätere Anklage Melusines, der kausalen Verknüpfung beider Ereignisse also, könnte man laut Schnyder 2006b, 32, anstatt von zwei Tabubrüchen eher von „einer einzigen Tabuverletzung, die sich in zwei Etappen vollzieht“, ausgehen. Diese Aktivität erinnert dabei insofern an Reymunds Entscheidung über den Klostereintritt, als er an beiden Stellen erst auf ‚Anordnung‘ reagiert: Melusine delegiert die Entscheidung an ihn, erst dann handelt Reymund; der Bruder legt ihm nahe, zwissen was ir gewerb se: das ir nit z einem toren gemacht werdent / vnd ir von ir nit geeffet werdent (96,24– 96,26), erst dann wardt er von zoren rot vnd darnach pleich geuar vnd kerte sich […] in gar grosser grymmike:t vnd in hertem zoren (96,26 – 96,29). Dimpel 2014, 220, spricht im letzten Fall von einer Perspektivenübernahme.
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prinzipiell ausschließt.¹³⁶ Eine Missachtung des Verbots erscheint hier also trotz Affekt nicht zwingend, sondern vielmehr abwendbar. Zum anderen zeigt sich in Reymunds Fokussierung auf die potentielle eheliche Untreue eine kategoriale Differenz zu der Bewertung Melusines unmittelbar vor dem zweiten Tabubruch. Zwar überwiegen in der Rede des Bruders diese mit einem Ehrverlust Reymunds assoziierten Unterstellungen, gleichwohl weist er auch auf solche Gerüchte hin, die Melusines gespenstisches Wesen betreffen (vgl. 96,13 – 96,23). Für Reymund spielen diese sowohl vor seiner heimlichen Beobachtung als auch im Anschluss und nun in dem Wissen um ihren Gestaltwandel keine Rolle: Während unmittelbar zuvor die Sorge um Melusines eheliche Treue dominiert, reflektiert er, selbst nachdem er sie verwandelt gesehen hat (vgl. 97,14– 97,22), nicht jene Unterstellung des Bruders, die auf den Aspekt des Gespenstischen gezielt hatte. Zwar erschreckt er ob ihres Anblicks im Bad (vgl. 98,5 – 98,7), in der folgenden Klage spielt ihr Gestaltwandel aber gerade keine Rolle mehr, sondern es überwiegt die Sorge um ihren Verlust (vgl. 100,2– 100,20).¹³⁷ Die Mutmaßungen des Bruders, es se: ein
Toepfer 2015, 289 f., 305 ff., hat in der Auseinandersetzung mit dem Tragikkonzept des Textes auf die Ähnlichkeiten zwischen der Affektinszenierung in der Erzählung und Senecas Affektlehre hingewiesen, die er im Rahmen seiner Tragödientheorie diskutiert.Wie in De ira erläutert, brauche der von außen angeregte Affekt (vgl. Seneca, De ira, 74, II,2,1) jeweils die ‚Billigung der Seele‘ (72, II,1,4; 76 ff., II,3,1– 5), der Zorn unterliege also dem menschlichen Willen; genau dieses Verhältnis von äußerem Stimulus und innerer Zustimmung scheint diese Stelle hier zu reflektieren, diskutiert Reymund doch gleichsam den äußeren Anstoß und sein folgendes Handeln. Damit trägt Reymund die Verantwortung für seine Handlung selbst, sofern er seiner Leidenschaft nachgibt und die Kontrolle über sich verliert (vgl. Toepfer 2015, 289; vgl. Seneca, De ira, 6 – 10, I,1; zum Kontrollverlust nach der Einwilligung in die Leidenschaft vgl. 26, I,7,2). Aufgrund dieser Selbstmächtigkeit des Subjekts über seine Affekte wertet schon Seneca „die durch den Affekt ausgelöste Katastrophe gerade nicht als einen Schicksalsschlag.“ (Toepfer 2015, 289; vgl. Seneca, De ira, 74, II,2,2) Auch dieser Klage geht eine Reflexion des eigenen Handelns voraus, auch hier verflucht Reymund die Stunde seiner Geburt, diesmal aber nicht wegen eines vermeintlich ungerechten Glücks, sondern in dem Wissen um das eigene Fehlgehen (durch mein vntreU [100,8]). Das Ausmaß seines Kummers und die Intensität seines Leids, die der Erzähler hier vor allem über die langanhaltenden physischen Auswirkungen besonders hervorhebt, übersteigen jene Trauer, die er im Anschluss an den unwillentlichen Totschlag seines Onkels empfunden hatte, erheblich. Speth 2012, 351 f., hat auf weitere Parallelen zwischen erster Verbotsüberschreitung und Jagdunfall hingewiesen: So erklärt er Reymunds Reaktion auf die Unterstellungen des Bruders als Rückbezug auf seine Schuld beim Jagdunfall, an die er sowohl durch den vom Bruder genutzten Begriff des ‚Toren‘, als ein solcher hatte er sich selbst bezeichnet, als auch durch dessen Formulierung in der Beschreibung von Melusines potentieller Untreue, die derjenigen von Melusines Gegenschwur entspreche, erinnert werde (vgl. zu weiteren Analogien 352, Anm. 42). Die hier von Speth skizzierten Parallelen in der narrativen Inszenierung (terminologische und lokale Ähnlichkeiten, Erwähnung von Emmerichs Tod, Furcht vor dem Gerede der Leute, Verweis auf Zähne, astrolo-
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gespenst vnd ein vngeheUr wesen vmb (96,22– 96,23) Melusine, sind für Reymund dabei in keiner Weise relevant.¹³⁸ Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil Reymund sowohl diesen Eindruck selbst mehrfach gewonnen und Melusine mit Gespenstischem assoziiert hatte, als auch mit entsprechenden Wahrnehmungen anderer Figuren bereits zuvor konfrontiert wurde.¹³⁹ Darüber hinaus wird genau dieser Aspekt, der hier und bis zum Klosterbrand sowohl von Reymund ausgeblendet, als auch in der Erzählerrede keine Erwähnung mehr findet, zum verbindenden Moment in jenem genannten Kausalzusammenhang, der Goffroys Untat aus Melusines übernatürlichem Wesen ableitet, und zum zentralen Vorwurf an seine Frau. Die veränderte Bewertung des Gesehenen geht dabei mit einer ebenfalls veränderten Beurteilung des eigenen Schicksals einher, sofern Reymund sowohl im Anschluss an seine erste Verbotsüberschreitung als auch vor
gische Verweise) führen zu der Frage nach ihrer Relevanz für die Beurteilung des Geschehens: Sind sie im Sinne einer Schuldzuweisung zu verstehen? Sollen sie Reymunds Reaktion plausibilisieren? Betonen sie die Kausalität des Geschehens? Speth lässt diese Fragen offen. Vgl. auch Müller 1990, 1034, der Reymunds Ausblendung des Gestaltwandels damit erklärt, dass dieser – anders als Ehebruch – keinen Ehrverlust bedeute. So auch Mühlherr 1993, 38 ff.; Ziep 2006, 249. Vgl. zu den Wahrnehmungen Reymunds 23,1; 33,23 – 33,27; 34,4– 34,6, zu denen der anderen Figuren 33,3 – 33,8; 36,28 – 36,29. Zwar wird der partielle Eindruck des Übernatürlichen, den die anderen Figuren gewinnen, nicht explizit an Reymund getragen; nichtsdestoweniger wird er von Bertram auf die Außergewöhnlichkeit der Eheschließung hingewiesen. Dessen Fragen bezüglich ihrer Herkunft und die Warnung vor einer möglichen Fehlentscheidung (vgl. 35,21– 35,24) zeigen sowohl die Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit dieses Vorgangs als auch die latent von Skepsis und Misstrauen geprägte Wahrnehmung Melusines. Es läge also nahe, wenn Reymund sich im Rahmen der Unterstellungen seines Bruders gerade an solche Konfrontationen mit kritischen Perspektiven auf Melusine erinnerte, problematisieren diese doch seine Unwissenheit und Unkenntnis, die es wiederum vor allem ist, die die Leute zu Gerüchten veranlasst: vnd spricht menigklich ir se:dt nit wol bedacht das ir nit süllent noch getürrent eUrem gemahel nachfragen wo s: oder wie s: sich halte an dem samstag / vnd ist ein fremde sach das ir nit süllent wissen was ir gewerb thn oder ir lassen se: (96,15 – 96,19). Auch erinnert er gerade nicht die von ihm selbst wahrgenommenen übernatürlichen Elemente seiner Frau oder aber die von Melusine bereits bei ihrer ersten Begegnung antizipierte potentielle Gefahr, von Dritten zu einer Verbotsüberschreitung animiert zu werden. Auf diese Gefahr der Verleumdung und Anstiftung weist sie nämlich bei der erstmaligen Nennung der Bedingungen hin. Nachdem sie ihm jenen glücklichen Aufstieg in Aussicht stellt, erklärt sie ihm: Re:mond so solt du mir z dem ersten schweren be: gott vnd seinem leichnam das du mich z einem eelichen gemahel nemen vnd an keinem samstag mir nymmer nachfragen noch mich erschen wllest / durch dich selbs noch niemant anderem günnen / gehellen verschaffen noch dich lassen auffwe:sen das du mich des ymmer erschest wo ich se: / was ich t / oder was ich schaff / sunder mich den ganczen tag des samstags fre: vnd vnbekümert lassen wllest (25,17– 25,25).
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seiner öffentlichen Anklage einzelne Stationen ihres gemeinsamen Weges jeweils anders erinnert bzw. gewichtet.¹⁴⁰ Obgleich Reymund seinen Bruder für seine Aktivität ausdrücklich verantwortlich macht – Vnslig se: die stund dar jnnen ir herkommen se:t dann ir habt geschaffet das ich ein sach gethan hab die mir wol mcht alle meine tag z schaden kommen (99,9 – 99,12) –, verdeutlicht der auf seine heimliche Beobachtung und seine Intention, die Wahrheit herausfinden zu wollen (vgl. 97,9 – 97,10), unmittelbar folgende Erzählerkommentar, dass Reymund selbst die Letztverantwortung trägt: Ach wie grosses übel angst vnd not machet er im selbest do / dann er verlor dardurch alle sein freüd vnd lust diser zeit als ir hernach wol hren werdent (97,11– 97,14). Der von Melusine bei ihrer ersten Begegnung antizipierte Fall einer Verleumdung und Anstiftung durch Dritte bewahrheitet sich also, der in der Rede des Bruders artikulierte Verdacht des Dämonischen, der für den ersten Tabubruch keine Rolle spielt, wird in der Folge Reymunds Handeln bestimmen, sofern er diesen öffentlich auf Melusine übertragen wird.¹⁴¹ Neben der Entscheidung über Freymunds Klostereintritt und der Unterrichtung Goffroys schafft Reymund an dieser Stelle somit eine weitere ermöglichende Bedingung für das folgende Geschehen;¹⁴² wie Emmerich den Jagdunfall zwar nicht verantwortet, doch aber die Prämissen für das Zustandekommen der in ihrem Ausgang tödlichen Konstellation geschaffen hatte, stellt auch Reymund die Voraussetzungen für eine für ihn verhängnisvolle Situation erst selbst her. Hier wie dort wird über den prolepti-
Im Anschluss an seine heimliche Beobachtung ruft er sich die Heirat und insbesondere seine Treueschwüre ins Gedächtnis und fürchtet den Verlust der hier noch vollkommen positiv wahrgenommenen Ehefrau: vnd besan sich des do er melusina z dem ersten nam. wie er ir so teUr vnd hoch gelobet vnd geschworn hett das er s: an keinem samstag nymmer wlt schen noch niemant gehellen zthn / vnd wo er das prech vnd ir sein gelüb nit hielt / das er s: verlür vnd nymmermer gesehen wrd. vnd aber so er an ir also prüchig was worden (99,22– 99,28). An dieser Stelle ist Melusine für ihn noch freüd, auffenhalt, kürczweile, trost und zuersicht (vgl. 100,9 – 100,10). Nach der Klosterbrandstiftung – ebenfalls in herczenle6de vnd iamer (112,25) – erinnert er hingegen den Jagdunfall, die Heirat mit Melusine, die Geburt der Söhne und den aus dieser Verbindung scheinbar resultierenden Brudermord. Dass er Melusine hier als merfe: vnd gespenst we:b beurteilt, zeigt, dass er an dieser Stelle erstmals die von seinem Bruder artikulierten Gerüchte mit dem von ihm Gesehenen verbindet. So bemerkt Reymund im Rahmen jener Kausalitätsunterstellung, [e]s ist gancz ein gespenst vmb diß weib (113,5 – 113,6), und greift damit sogar den Wortlaut des Bruders auf: es se: ein gespenst vnd ein vngeheUr wesen vmb s: (96,22– 96,23). Auf Reymunds Verantwortung für seine Tat wurde bereits hingewiesen, die er deshalb trägt, weil er den von außen angeregten Zorn zulässt (vgl. Seneca, De ira, 72 ff., II,1,4); es handelt sich hier – mit Seneca – somit nicht um einen Schicksalsschlag, sofern er seinen Zorn hätte unterdrücken können (vgl. 74, II,2,2).
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schen Kommentar eine übereilte Aktivität verurteilt, deren Folgen für die jeweilige Figur selbst verheerend sind.¹⁴³ Auch wenn Reaktion und Handlung Goffroys nicht vorherzusehen sind, sorgen sie dennoch für die Eskalation der Situation. Dabei finden sich im Kontext der Klosterbrandstiftung recht eindeutige Stellungnahmen des Erzählers, und auch hier wird eine Affekthandlung nahegelegt: So reagiert Goffroy auf die ihm von Reymund mitgeteilte Entscheidung über den Klostereintritt nämlich mit affektiv anmutendem Zorn: Er wird von zoren pleich vnd grymmig vnd schaumete als ein wildes schwein (107,14– 107,15), die Umstehenden fürchten ihn, zornig reitet er nach Malliers, grymme[n] zorns vol (108,14) beschuldigt er die Mönche, seinen Bruder verzaubert zu haben, dabei begund [er] gar ser zornig werden vnd von grymmikeit sein zen in einander peissen (108,19 – 108,21).¹⁴⁴ Die wiederholte Ver Dabei werden die Umstände der jeweiligen Ausgangssituation auch in diesem Fall plausibilisiert: Das Erscheinen des Bruders an einem Samstag und seine Frage nach Melusines Abwesenheit werden nachvollziehbar gemacht; seine Unterstellungen sind darüber hinaus erst Konsequenz ihrer von Reymund entschuldigten Absenz: So erscheint Reymunds Bruder nur deshalb, weil Reymunds Vater gestorben ist, allerdings zu einer Zeit, als ein Fest gefeiert wird; die Bitte des Bruders, Melusine möge ihre Gäste begrüßen, erscheint somit völlig plausibel (vgl. 96,1– 96,9). Müller 1990, 1069, betont, dass ihr Fernbleiben von den Feierlichkeiten als „Verstoß gegen höfische Etikette“ wahrgenommen wurde. Laut Speth 2012, 351, bediene sich der Erzähler hingegen, wenn er den Grafen „just auff einen samstag“ erscheinen lasse, „eines ‚relativen Zufalls‘ als ‚narrativer Strategie‘“. Auf die hier inszenierten Parallelen zu jenem wilden schweyn, das Emmerich und Reymund bei der Jagd verfolgen, wurde in der Forschung immer wieder hingewiesen. Wie dieses schäumt Goffroy und klappert mit den Zähnen (so kumpt dort her ein groß schwe:n klepffen mit seinen zenen / vnd schmet veintlich [19,21– 19,23]). Die so konstruierte Analogie wurde dabei ganz unterschiedlich gedeutet: So liest Ziep 2006, 254, schon den Eberzahn „als Zeichen väterlicher Gewalt“, der einen Zusammenhang zwischen Vater und Sohn stifte. Auch Rippl 2016, 210, deutet den Eberzahn als Rückverweis auf „den Herkunftsraum des Vaters und das blutschuldige Ereignis darin“, Goffroy trage somit „das Geschick seines Vaters im Gesicht. Und nicht nur im Gesicht, denn wie Reymunds Herkunftsraum schon das Tierisch-Wilde zum Merkmal hat, so zeigt sich nun das Unkontrollierbare auch als Teil von Geffroys Wesen“ (210 f.). Für Rippl ist Goffroys Beschreibung in der Szene des Klosterbrands daher ebenfalls explizite Referenz auf den Herkunftsraum des Vaters, dessen Schuld durch die Tat Goffroys aktualisiert werde. Als väterliches Erbe und Verweis auf den Jagdunfall bewertet auch Wetzel 2008, 375, Anm. 45, das Körperzeichen Goffroys. Laut Schnyder 2006b, 29, profilierten die Ähnlichkeiten gleichzeitig auch die Unterschiede zum Jagdunfall, so etwa „die moralische Differenz: dort der Unfall, hier ein geplanter Massenmord, dann die äusseren Umstände: dort das blitzschnell ablaufende, sich der Kontrolle entziehende Geschehen, hier das bedächtig kalkulierte Tun des Undenkbaren“. Für Kellner 2001, 291, hingegen manifestiert sich in Goffroys Transformation zum Tier auch das Erbe seiner Mutter; er sei wie alle anderen Söhne gezeichnet, in ihm zeige „sich dieses Vermächtnis am deutlichsten.“ Gleichzeitig wiesen die Verbrechen Goffroys und sein Eberzahn auf den Jagdunfall zurück (vgl. 292). Man kann den Vergleich mit einem schäumenden Schwein auch mit Seneca, De ira, 9,
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wendung von grymm und zorn, die Beschreibung der Furcht der Anwesenden sowie deren Begründung mit Goffroys Wesen suggerieren an dieser Stelle eine Affekthandlung, ein unbedachtes Agieren des von Zorn übermannten Heros.¹⁴⁵ Dem entspricht auch die sofortige Reue nach der Tat (vgl. 110,8 – 110,13). Dies wie auch die heftige Gemütsbewegung Goffroys erinnern dabei an jene Verbotsüberschreitung Reymunds, bei der dem affektiven Handeln ein reflektierendes Abwägen vorausging. Auch in Goffroys Fall zeigt sich nämlich dieses Muster einer willentlichen Billigung des Affekts: Zum einen geht der eigentlichen Tat eine Artikulation der eigenen Absicht voran, die einer Reflexion des eigenen Tuns gleichkommt und die zugleich von dem Bewusstsein über die Folgen zeugt: die schemlichen psen münch von Malliers die haben mir meinen prder gezaubert vnd mit verleckerten worten hinderkommen vnd hindergangen. das er ritterlichen orden versch-
I,1,6, als Symbol für einen vom Zorn ergriffenen Menschen deuten: Spumant apris ora, dentes acuuntur attritu (vgl. auch 174, III,4,2). Mit Blick nicht nur auf diese Szene, sondern auch auf Goffroys erste Erwähnung in Erzählerrede muss allerdings konstatiert werden, dass jenes Attribut ‚wild‘ nicht nur im Kontext seines Zornausbruchs und des Vergleichs mit einem Schwein genannt wird, sondern auch der Figurencharakterisierung dient, so heißt es über Goffroy: Der selb was auß der massen starck vnd wolmügent seins le:bs Vnd fremder wunderlicher vnd wilder s:nnen (50,3 – 50,5). In diesem Zusammenhang erscheinen die Überlegungen von Reuvekamp 2014, 125 f., besonders aufschlussreich, sofern die Bezeichnung einer Figur als ‚wild‘ (hier der TheodorusFigur im Fortunatus-Roman) auf deren innere, dem menschlichen Zugriff entzogene Dispositionen verweise, die entsprechend der eigentlichen Verwendung des Terminus für nicht-domestizierbare und kultivierbare Naturräume, Tiere o.Ä. ebenfalls als „eine fremde und weitgehend unbeherrschbare Sphäre eigenen Rechts“ (126) ausgewiesen würden. Diese Figureninformation korrespondiere dabei mit Theodorus Verhalten auf Handlungsebene. Diese Beobachtungen ließen sich auch auf Goffroy übertragen, sofern sich jenes ‚wilde‘ Wesen an keiner Stelle des Romans von außen beherrschen lässt. Dabei werden die scheiternden Versuche, Goffroy von seinen jeweiligen Vorhaben abzubringen, stets mit seinem Wesen erklärt (vgl. etwa den Versuch Reymunds, Goffroy vom Riesenkampf abzuhalten [91,31– 92,3]). Wie Reuvekamp für den Fortunatus festgestellt hat, wird das Attribut ‚wild‘ auch in der Melusine nur bei dieser Figur für eine Charakterisierung funktionalisiert, ansonsten bezeichnet es auch hier Naturräume oder Tiere (vgl. etwa die Verwendung im Rahmen der Palentine-Episode 166,5; 166,32; 169,18). Vgl. die wiederholte Verwendung dieser Termini: 107,14– 107,15; 107,18; 107,25; 108,3; 108,6; 108,14; 108,20; 109,2– 109,3; 110,4. Die Furcht der Anwesenden wird ebenfalls mehrfach betont (vgl. 107,15 – 107,17; 107,28; 108,3 – 108,5). Erklärt wird diese Furcht durch Goffroys Wesen, durch sein gefährliches und wildes Auftreten (vgl. 107,14– 107,15; 108,3 – 108,4) und seine körperliche Stärke (vgl. 108,6 – 108,7). Pafenberg 1995, 272, konstatiert in Anlehnung an Thomas von Aquin, dass Zorn im Unterschied zu anderen Leidenschaften nur von außen und als Reaktion auf einen negativen Reiz geweckt werden könne, er somit seiner Ursache nach böse sei. Um die moralische Qualität der Leidenschaft bestimmen zu können, müsse also diejenige des Auslösers beurteilt werden. Nichtsdestoweniger lässt Goffroy hier – wie auch zuvor Reymund – jenen auslösenden Stimulus zu und entscheidet sich willentlich für die Tat.
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mecht hat vnd ein münch worden ist. das sl im nymmermer wol erschiessen. vnd ich wil angendes das closter vnd alle münch in dem closter darumb verderben vnd verprennen (107,18 – 107,24).
Zum anderen erfolgt im Anschluss an diese Rede eine Absprache mit dem Boten bezüglich des anstehenden Riesenkampfes, was auf ein sehr überlegtes Vorgehen schließen lässt.¹⁴⁶ Möchte er den von einem Riesen bedrohten leüten z hilff kommen (108,2), intendiert er die Tötung seines Bruders und der Mönche explizit, er kündigt diesen seine Tat nicht nur an, sondern ignoriert auch die Appelle des Abtes und seines Bruders.¹⁴⁷ Dies wie auch die tatsächliche Ausführung des von Beginn an beabsichtigten Mordes verweisen hier erneut auf jene Unterordnung des Affekts unter den menschlichen Willen und pointieren die subjektive Verantwortung für ein durch Leidenschaften ausgelöstes Geschehen, derer er sich – auch trotz der steten Verweise auf seinen grymm und zorn – durchaus bewusst zu sein scheint.¹⁴⁸ Erst als er seinen psen willen volbracht hette an dem closter vnd an den münchen (110,4– 110,6), setzt Reue ein, plötzlich bedauert er seine Tat und sie erscheint ihm gotteswidrig. Sein anhaltender zoren (110,11), auch wenn dieser nun
Goffroy schiebt die Brandstiftung gewissermaßen zwischen seine anstehenden Termine, so trägt er dem Boten immerhin auf: du slt mein hie warten piß ich herwiderumb komm das auch als ich hoff gar in kürcz geschehen sl. Dann ich pald herwider an diß end zkommen / vnd mit dir gen Norhemen lande z varen (107,30 – 108,1). So äußert Goffroy gegenüber dem Abt und den Mönchen ausdrücklich, dass Freymunds Abkehr von der Ritterschaft zugunsten einer geistlichen Laufbahn Grund für deren Tod sein wird (vgl. 108,17– 108,19). Weder der Versuch des Abtes, den Vorwurf mit dem Verweis auf Freymunds Selbstmächtigkeit zu relativieren, noch die Beteuerungen Freymunds, die Entscheidung eigenmächtig getroffen zu haben mit der Intention, um göttliche Gnade für die ganze Familie zu bitten, können Goffroy aufhalten. geffro: was vol grymmes vnd zorns / vnd halff gegen im kein rede noch gte / vnd stnd zfß ab von seinem pferd vnd beschloß das closter allenthalben vnd die münch dar jnnen / vnd ließ im bringen grosse hauffen heUes stroes vnd holczes / vnd ließ das alles an einen ort des closters auf einen hauffen tragen vnd gegen dem winde anstossen mit feUr (109,2– 109,8).Vergegenwärtigt man die notwendige Zeit und den nötigen Aufwand für seine Tat sowie die gezielte Kalkulation der größtmöglichen Verheerung, wird deutlich, wie sehr auch die Durchführung der Tat ein bewusst reflektiertes Vorgehen ist. Dies entspricht sehr deutlich jener Annahme Senecas, nach der die dem Zorn folgenden Handlungen und die auch gedanklichen Verknüpfungen zwischen scheinbar erlittenem Unrecht, dem Verlangen nach Rache und folgender Tat vielschichtig und komplex seien und deshalb nur dann geschehen könnten, „wenn die Seele dem, von dem sie da berührt wurde, zugestimmt hat“ (nisi animus eis quibus tangebatur assensus est, Seneca, De ira, 72 ff., II,1,4).
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gegen ihn selbst gerichtet ist, sowie sein sofortiger Aufbruch zum Riesenkampf relativieren die hier erzählte Reue allerdings erheblich.¹⁴⁹ Die Ursache der – somit durchaus kalkulierten – Klosterbrandstiftung benennt Goffroy selbst: Während der Erzähler bereits in Form einer Bewusstseinsdarstellung den Anlass für Goffroys Schäumen, nämlich das fra:mund sein prder in ein ge:stlich leben gangen vnd ein münch worden was (107,12– 107,13), darlegt, artikuliert Goffroy in der Folge gleich zweimal den Grund für den in seiner Perspektive wohl verdienten Tod der Mönche – die Entscheidung Freymunds, ein geistliches Leben dem Ritterstand vorzuziehen.¹⁵⁰ Obgleich „das Motiv adliger Missbilligung für die geistliche Lebensform“¹⁵¹ hier überzeugen mag, die hier genannten Vorbehalte gegen den Klerus waren schließlich auch realhistorisch virulent,¹⁵² verwundern sie doch insofern, als Goffroy sich ansonsten stets als Werkzeug Gottes im Dienst für Hilfsbedürftige inszeniert¹⁵³. Nichtsdestoweniger bringen diese Vorbehalte – wenn auch für den Fluch irrelevant – „den letzten Anstoß zur Enthüllung des Tabus, greif[en] also in den Schuldzusammenhang der
Schnyder 2006b, 29, hingegen bewertet diesen erneuten Aufbruch unmittelbar nach der Tat als spezifische Komplexität von Goffroys Verhalten. So ist in beiden Figurenreden Goffroys nämlich gerade nicht die angenommene Verzauberung, die Überredung und Umgarnung Freymunds durch die Mönche das Problem, sondern dessen Abkehr von einem ritterlichen Leben. In ihnen wird der Mord an den Mönchen als explizite Folge von Freymunds Verschmähung des Ritterordens artikuliert, während die Ursache – nämlich jene potentielle Verzauberung – irrelevant zu sein scheint. So heißt es zunächst: das er ritterlichen orden verschmecht hat vnd ein münch worden ist. das sl im nymmermer wol erschiessen. vnd ich wil angendes das closter vnd alle münch in dem closter darumb verderben und verprennen (107,20 – 107,24). In der Rede an den Abt heißt es dann: warumb habt ir meinen prder also beleckert vnd hinderkommen das er ein münch ist worden. vnd der ritterschaft verlaugnet hat / daran habt ir vnweißlich gethan / vnd habet eUren tod beiaget. dann ir mßt darumb alle verderben vnd eUer leben darumb geben (108,15 – 108,19). Schnyder 2006b, 29. Vgl. Müller 1990, 1036, sieht an dieser Stelle eine explizite Referenz auf jenen zeitgenössischen Kontext: „Auch sind in die Verkettung zur Katastrophe Elemente zeitgenössischer Gesellschaftsbilder eingebaut, die den Automatismus der Sage zusätzlich determinieren: Anlaß für Reymunds unbedachte Äußerung […] ist Geffroys Gewalttat. Diese wiederum ist motiviert durch einen sozialgeschichtlich erklärbaren Umstand: das Ressentiment des Ritters gegenüber dem Mönch. […] Wirksam wird also ein ständisches Klischee aus dem ironisch oder erbittert geführten Streit zwischen Ritter und Kleriker, das nichts mit dem Fluch zu tun hat.“ Nichtsdestoweniger handelt es sich bei Goffroys Schuldzuweisung „um einen konstruierten Zusammenhang“ (Ziep 2006, 255, Anm. 95). Vgl. auch Schnyder 2006b, 29. Vgl. 102,3 – 102,4; 105,3 – 105,4; 106,6 – 106,7; 127,20 – 127,21; 128,25 – 128,26; 142,1– 142,2; 143,10 – 143,24; kurz bevor die Familiengeschichte aufgedeckt wird, kämpft er nicht nur im Namen Gottes, sondern auch vmb cristenlichs gelaubens willen und weil der Riese ein heide vnd vngelaubig ist (137,11– 137,12).
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Martenehe ein.“¹⁵⁴ Bemerkenswert ist allerdings, dass genau diese Vorbehalte gegen eine geistliche Lebensform bereits von Reymund geäußert wurden¹⁵⁵ – Goffroy scheint folglich dessen diesbezügliche Zweifel sowohl in jener Reflexion als auch in der Rede an den Abt zu repetieren. Über solche strukturellen Verweise zwischen einzelnen Szenen und Handlungselementen entsteht ein Netz von paradigmatischen Verknüpfungen, die eine spezifische Verbindung zwischen Goffroy und Reymund suggerieren. So erscheinen Reymunds Verbotsüberschreitung, Goffroys Klosterbrandstiftung und Reymunds öffentliche Anklage nicht nur handlungsstrukturell miteinander verbunden, sondern sie werden auf verschiedenen Ebenen, zum Teil bis in sprachliche und syntaktische Details, einander angeglichen;¹⁵⁶ neben Parallelen hinsichtlich der figuralen Gemütsverfassung, die in allen Fällen eine zunächst affektive und unreflektierte Reaktion suggerieren,¹⁵⁷ ähneln sich auch die jewei-
Müller 1990, 1036. Auch dieser hatte seine Skepsis gegenüber Freymunds Wunsch artikuliert und dabei gegen einen Klostereintritt zunächst entschieden protestiert: das th ich :e nit gern Jch wil dich lassen z ritter schlahen. vnd wil auch das du nach eren vnd vmb werde ritterschaft werbest also auch dein prder (93,9 – 93,12). Im Richel-Druck heißt es an dieser Stelle deutlicher: Froymond du _ihe_t wol das anthoni vnd alle dine brder noch eren werbent vnd tuͮre ritter _int vnd _olt ich den ein pfaffen machen oder ein muͮnch das thn ich niemer ich wil dich lo__en ritter _chlahen vnd wil das du noch erē / Vnd vmb ritter_chaft werbe_t al_o ouch din brder (Melusine, in: Schnyder und Rautenberger 2006, 49 ͬ, 1522– 1526). Schnyder 2006b, 24, hat darauf hingewiesen, dass diese Abneigung Reymunds ob der Fülle der Söhne und der eigentlich plausiblen „Sicherung des Gebetsdienstes für die Familie durch wenigstens einen Nachkommen“ erstaune. Während es bei Reymunds erstem Tabubruch noch sein Bruder ist, der Melusine mit Gespenstischem assoziiert, wird Goffroy in der Folge eine Verzauberung Freymunds unterstellen und Reymund wird den Verdacht des Dämonischen auf Melusine projizieren. In allen drei Fällen sind die Figuren mit für sie unerklärlichen Phänomenen konfrontiert, was jeweils in die Projektion des Bösen auf den Anderen resultiert. Die Ähnlichkeiten dieser drei Projektionen hat auch Schnyder 2006b, 30, betont. Mühlherr 1993, 44, spricht bei öffentlicher Anklage und Klosterbrandstiftung von einer „inhumane[n] Negation des Menschlichen im Anderen“. Dimpel 2014, 222, Anm. 35, sieht in der Annahme Goffroys hingegen eine Referenz auf die erste Begegnung zwischen Reymund und Melusine: „Reymund hat bei seinem ersten Treffen mit Melusine zu zurückhaltend auf merkwürdige Ereignisse – Melusines Wissensvorsprung – reagiert; Geffroy reagiert bei der Mönchwerdung zu maßlos auf vermeintlich merkwürdige Ereignisse, er unterstellt, dass sein Bruder ‚verzoubert‘ (87,20) worden sei. Das Verdachtsmoment, das bei Reymund abgewiesen wurde, wird bei Geffroy in übertriebener Weise kompensiert.“ Reymund und Goffroy werden insbesondere über ihre Gemütsbewegungen charakterisiert und analogisiert, ist doch bei beiden Figuren in den genannten Szenen stets von grymm und zorn die Rede. Während Reymund auf die Unterstellungen seines Bruders zunächst mit grosser grymmike:t vnd in hertem zoren (96,28 – 96,29) reagiert und Melusine nachstellt, beschuldigt er im Anschluss in grossem zoren vnd grymmike:t (98,12– 98,13) seinen Bruder, ihn zu der Verbots-
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ligen Anklagen bzw. Vorwürfe;¹⁵⁸ darüber hinaus ist in allen drei Fällen von sofortiger und unmittelbar nach Vollzug der jeweiligen Tat einsetzender Reue die Rede, die zum Teil mit physischen und psychischen Auswirkungen einhergeht.¹⁵⁹ Die so inszenierte Reue der Figuren¹⁶⁰ folgt in der Regel erst auf eine die jeweiligen Handlungen kommentierende Stellungnahme des Erzählers, in der das Figurenverhalten ausdrücklich bewertet oder aber Verantwortung eindeutig zugesprochen wird. Dabei beschränkt sich auch die Kommentierung von Goffroys Klosterbrandstiftung nicht auf einen proleptischen Verweis, wie es etwa bei Emmerich oder bei einzelnen anderen Handlungen Reymunds der Fall ist, sondern verurteilt Goffroys Tat ausdrücklich: Nicht nur seien die Mönche alle gancz vnd gar vnuerschuldet vnd auch vnuerdient (109,13 – 109,14) ums Leben gekommen, auch
überschreitung animiert zu haben; nicht nur Goffroy wird von zoren pleich vnd grymmig (107,14– 107,15), spricht gar zornigklichen (107,18) und ist grymmes zorns vol (108,14), sondern auch Reymund, in gar grosser grymmike:t vnd so vol zorens (114,1– 114,2), wird sein frumme fraw grymmigklich vnd zrnigklichen (114,13 – 114,14) ansehen. Dieses Begriffspaar wird dabei in beiden Szenen mehrfach wiederholt, sowohl im Rahmen der zur Beschreibung dienenden Erzählerrede als auch bei der Schilderung der Reaktion umstehender Figuren (vgl. zum ersten Fall neben den genannten Beispielen für Goffroy auch 108,20 sowie 109,2– 109,3, für Reymund 112,17; 112,21 und 113,15). Auch das Verhalten der das Geschehen jeweils beobachtenden Figuren ähnelt sich, denn alle reagieren auf die Konfrontation mit diesem Gemütsausbruch stets mit Furcht und Schrecken (vgl. 99,14– 99,18; 107,15 – 107,17; 107,24– 108,5; 109,21– 109,22). Bei Reymunds öffentlichem Tabubruch hingegen dominiert der Schrecken über das Gesagte: Während Melusine ohnmächtig wird (vgl. 115,16 – 115,18), erschrecken auch die anderen Anwesenden von den worten die s: gehrt hetten iren herren z ir reden (115,21– 115,22). Während nämlich Reymund seinen Bruder als schemliche[n] man (99,4) beschimpft, spricht Goffroy von schemlichen psen münch (107,18) und Reymund bezeichnet Melusine als pse schlang vnd schemlicher wrm (114,16 – 114,17). So ist Reymund nach seiner Verbotsüberschreitung in grossem iamer vnd herczen le:de (99,22), bereut seine untreU (100,8) und zeigt auch körperliche Reaktionen, und auch Goffroy bereut seine Tat, ist in grossem leide vnd zoren vnd schalt vnd flcht do im selber (110,10 – 110,11). Ausführlicher kommentiert der Erzähler hingegen die Trauer Reymunds nach seiner öffentlichen Anklage und der dort gewonnenen Gewissheit, Melusine verlieren zu müssen; die hier erzählte Reue, die auch körperlichen Dimensionen des Schmerzes sowie die Klage über den gegenseitigen Verlust übersteigen das zuvor erzählte Schuldbewusstsein der anderen Figuren erheblich (vgl. 120,8 – 120,22; 23,15 – 125,10). Auch die auf eine Zornes-Handlung folgende Reue, die aber vergeblich, weil nicht rückgängig zu machen ist, sei charakteristisch für diese Leidenschaft (vgl. Seneca, De ira, 26, I,7,4). Sie tritt bei Reymund und Goffroy gleichermaßen auf, die aus ihren Handlungen resultierenden Konsequenzen sind aber nicht abwendbar. Auf diese Weise werden die verheerenden Folgen dieses Affekts hervorgehoben, wobei die Vergeblichkeit der Reue in diesen Szenen besonders pointiert wird: Weder lässt sich das einmal Gesehene bzw. der Akt der Wahrnehmung rückgängig machen, noch lassen sich die Mönche wieder zum Leben erwecken. Ebenso verhält es sich bei dem einmal ausgesprochenen Wissen um Melusines Gestaltwandel.
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sei diese Handlung einem slchen bermten ritter zemal vnerlich (109,14– 109,15). Auch im Anschluss an die folgende Vorausdeutung, die diese Tat Goffroys ursächlich mit dem folgenden vngeuell verbindet (vgl. 109,15 – 109,19), pointiert der Erzähler in der Betonung der Unschuld der Mönche die Schuld Goffroys, die über explizit negative Zuschreibungen besonders hervorgehoben wird.¹⁶¹ In diesem Kontext wird auch Goffroys Reue relativiert, sei diese doch dem abbt vnd andern seinen münchen ein gesptte (110,9 – 110,10). Auch die in Erzählerrede wiedergegebene Unterrichtung Reymunds durch einen Boten verstärkt diese negative Beurteilung der Tat Goffroys, wird sie doch als poßheit vnd missetat erzählt, die Goffroy freuelichen begangen hette (111,29 – 111,30).¹⁶² Eine derart eindeutige Bewertung des Erzählers findet sich auch bei Reymunds zweitem Tabubruch, und auch hier ist es insbesondere sein Zorn, den der Erzähler verurteilt und als Motor des Geschehens bewertet: Noch bevor Melusine ihre Worte an Reymund richtet, bindet der Erzähler über eine Prolepse die Ursache des folgenden Geschehens an Reymunds Gemütsverfassung¹⁶³ und betont
So heißt es: DO nun Geffro: seinen zoren verrichtet. Vnd auch seinen psen willen volbracht hette an dem closter vnd an den münchen die er so ellendigklichen hett verprant vnd verderbet vnuerschulter sachen nemlich den Abbt vnd darcz wol hundert münch (110,4– 110,8).Vgl. zu dieser negativen Erzählerwertung auch Drittenbass 2011a, 126 f. Pafenberg 1995, 272, beurteilt die evaluative Struktur der Erzählung hinsichtlich des Klosterbrands genau gegensätzlich: Der Autor sei bemüht, Freymunds Entschluss negativ zu zeichnen, indem er diesem das aktive Leben der Ritter entgegenhalte; auch lobe der Erzähler Goffroys Ritterlichkeit (vgl. dazu die von Pafenberg gemeinten Verse 106,9 – 106,12), was durch die Platzierung des Lobs unmittelbar vor der Klosterbrandstiftung dazu diene, den Entschluss Freymunds negativ zu verstehen. Dass dies aber gerade nicht zu einer positiven Wertung führe, liege daran, dass es dem Autor nicht gelinge, dieses eigentliche Verbrechen positiv darzustellen. Auch hier findet sich somit die These einer narrativen Inkompetenz zumindest angedeutet, das erzählerische Arrangement wird gerade nicht als intentional beurteilt. vnd er was so in grossem vnmt vnd zoren damit er erwarbe se:n grosses herczenleit vnd ein lang werendes reUen darz auch ein betrbtes scheiden (113,14– 113,17). An dieser Stelle zeigt sich insofern ein Gegensatz zu Reymunds erstem Tabubruch und Goffroys Klosterbrandstiftung, als keine vorangehende Reflexion der Handlung stattfindet bzw. diese nicht erzählt wird. Erzählt wird lediglich, dass der öffentlichen Anklage ein grimmiger, zorniger und trotziger Blick Reymunds vorausgeht (vgl. 114,14– 114,15), eine Innensicht oder Bewusstseinsdarstellung wird an dieser Stelle verweigert, worauf durch die Hervorhebung seines auf den Blick folgenden Schweigens (vgl. 114,15) auch eigens aufmerksam gemacht wird: Der Hinweis auf das Schweigen Reymunds suggeriert ein Nachdenken der Figur im Anschluss an jenen Blick und bevor er Melusine beschimpft. Somit entsteht eine Leerstelle, denn der Leser erhält gerade keinen Einblick in die dieses Schweigen begleitenden Gedanken. Diese Form der Erzählerbeschreibung hebt das Fehlen einer Innenweltdarstellung, die Verweigerung einer näheren Information über Reymunds Gedanken hier explizit hervor. Auch hier spielt die Innensichtrestriktion somit eine zentrale Rolle. Zur Beurteilung von Reymunds zweitem Tabubruch als Affekthandlung vgl. auch Müller 1990,
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in der Folge mit dem Verweis auf Seneca¹⁶⁴ die gefährlichen Konsequenzen, die ein im Zorn redender Mensch verursachen könne (vgl. 114,1– 114,9). Unmittelbar im Anschluss an Reymunds öffentliche Anklage seiner Frau, in der er nicht nur ihr vermeintlich dämonisches Erbe für das Geschehen verantwortlich macht, sondern Goffroy explizit als ihren, Freymund hingegen als seinen Sohn bezeichnet (vgl. 114,16 – 115,6), wendet sich der Erzähler dann unvermittelt an den Leser: Ach got re:munnd wie hast du dich so gar von aller vernunfft gescheiden vnd ließt vnbesche:denheit in dir regieren so gewaltigklichen / warumb hast du die verarckwonet der es also leit was als dir. die dich so lieb vnd so wert hett / vnd wider dich arges n:e begieng […] Re:mund dein gelück dein seld vnd alle dein freUd vnd ere süllen leider :eczundt haben ein ende (115,6 – 115,16).¹⁶⁵
Wie auch in der Kommentierung von Reymunds erster Verbotsübertretung schreibt der Erzähler hier die Verantwortung für das folgende Geschehen ausdrücklich zu. Reymund lässt sich von Zorn regieren, beschimpft seine Frau öffentlich und realisiert damit den bereits im Erzählschema angelegten Zwang der endgültigen Trennung beider Figuren.¹⁶⁶ Diese endgültige Verletzung des Tabus wird dabei sowohl mit der ersten Verbotsübertretung als auch mit Goffroys Tat analogisiert; alle drei Ereignisse resultieren aus einem Mangel an Selbstkontrol-
1034 f.Vgl. die Stelle bei Coudrette, der ein Nachdenken der Figur explizit erwähnt (V. 3873 – 3878). Dass Reymund hier als an seinem Schicksal aktiv Mitwirkender beschrieben wird, sofern das Verb erwarbe „ein aktiv handelndes Subjekt“ impliziert, hat Drittenbass 2010, 289, bzw. Drittenbass 2011a, 89, beobachtet. Vgl. zur (fälschlichen) Zuschreibung der Sentenz an Seneca, Schnyder 2006b, 30. Vgl. Schnyder 2006c, 136: Der Verweis auf Seneca sei an dieser Stelle insofern von zentraler Bedeutung, als diese Maxime der Bewertung und Plausibilisierung von Reymunds Verhalten diene. Ihre besondere Relevanz zeige sich dabei auf verschiedenen Ebenen: Der Erzähler „tritt hier selber als zitierende Instanz in den Vordergrund, er bringt gleich einander ergänzende Maximen zum selben Thema, und er greift dafür zum autoritativen Latein – das er dann übersetzt, womit die Merksätze nochmals verstärkt nachklingen.“ An dieser Stelle wendet sich der Erzähler erstmals direkt an eine Figur und erzeugt somit „einen neuen Grad der Intensität.“ (Schnyder 2006b, 31) Vgl. zu diesem Erzählerkommentar auch die Überlegungen von Toepfer 2015, 303. Die Billigung des Zorn habe hier, dies betone der Erzähler, zu „einem vollständigen Verlust der Denkfähigkeit geführt“ (307). Mühlherr 1993, 45, betont, dass der „Zwang der immanenten Ablauflogik […] unter der Hand neu motiviert [wird] durch den Zwang der allein von Raymond imaginierten ‚Evidenz‘ einer Kausalverbindung von tabuisierter Schlangengestalt und Verbrechen Goffroys.“ Auch hier „treten ‚öffentliche‘ und ‚persönliche‘ Konsequenz des Vorgangs auseinander“ (Müller 1990, 1034), der Glückswechsel betrifft weniger das Haus Lusignan als vielmehr Reymund selbst. Nach Kellner 2001, 286, zerstöre Reymund mit dieser Handlung nicht nur sein privates Glück, „sondern legt selbst – öffentlich – den Finger auf den wunden Punkt seiner Herrschaftslegitimierung.“
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le.¹⁶⁷ Diese Ähnlichkeiten zwischen Reymund und Goffroy, die sowohl handlungslogisch als auch inhaltlich enge Verknüpfung der jeweiligen Szenen,¹⁶⁸ können somit zum einen als Relativierung jener Schuldsprechung verstanden werden, die Reymund in seiner Anklage an Melusine formuliert und die auf den Einfluss des Dämonischen auf Goffroy zielt, sofern sie auf jenen menschlichen, auch Reymund auszeichnenden Schwächen basieren.¹⁶⁹ Zum anderen, und dies scheint in diesem Kontext gewichtiger, pointiert diese Analogisierung von zwei letztlich gänzlich verschiedenen Figuren – aktiver Heros, passiver Ehemann – die Unvorhersehbarkeit menschlichen Handelns, die Gefahr mangelnder Selbstbeherrschung und die potentielle Fatalität individueller Entscheidungen.¹⁷⁰ Eine zentrale Rolle spielt dabei der Zorn, auf dessen handlungsmotivierende Relevanz nicht nur jener, auf Seneca bezugnehmende Erzählerkommentar, sondern auch die ihm verfallenden und damit für ihr Handeln verantwortlichen Figuren hinweisen.¹⁷¹ Diese Fokussierung auf menschliche Leidenschaften und die daraus
Vgl. Mühlherr 1993, 44: Trotz der Differenzen zwischen den beiden Handlungen – Goffroys Beschuldigungen seien grotesk, Reymunds Zornesausbruch prinzipiell nachvollziehbar – löse die Tat Goffroys die Reymunds nicht nur aus, sondern nehme sie strukturell auch vorweg: „Raymond handelt im Prinzip genau wie sein Sohn.“ Auch Toepfer 2015, 308, hat auf die enge Verbindung dieser drei ‚Grenzüberschreitungen‘ aufmerksam gemacht und ihre sowohl paradigmatischen als auch syntagmatischen Verknüpfungen betont: Sie seien paradigmatisch aufeinander zu beziehen, „indem sie negative Handlungsfolgen vor Augen stellen, die aus dem Affekt des Zorns resultieren können. Zugleich sind die drei Vergehen syntagmatisch miteinander verknüpft, indem Reymunds Verrat durch seinen ersten Tabubruch ermöglicht und durch die Untat seines Sohnes initiiert wird.“ Rippl 2016, 224, Anm. 67, hat überdies auf die erzählstrukturellen Verknüpfungen zwischen den einzelnen Szenen hingewiesen: So werden die Handlungsstränge von Goffroys Riesenabenteuern und Reymunds Tabubruch sowie Melusines Abschied sowohl über Anachronien miteinander verbunden, als sie auch als sich gleichzeitig ereignende Handlungen präsentiert werden. Rippl 2016, 211, betont, dass es gerade das Merkmal des Unkontrollierbaren sei, das Goffroy mit seinem Vater (bzw. dessen Herkunftsraum) teile und das gerade nicht auf den anderweltlichen Ursprung der Mutter verweise. Schnyder 2006b, 31, weist auf die bei Paracelsus vertretene Annahme hin, dass Kinder aus einer solchen Beziehung sich entsprechend des Vaters entwickeln. „Dies gewinnt bei Thüring im Blick auf die verhängnisvollen Affektausbrüche bei Vater und Sohn unmittelbare Evidenz.“ Für Kellner 2001, 292, werde „[a]n Geffroy und seiner Verstrickung in den Tabubruch […] demnach der unauflösbare Konnex von Schuld innerhalb der Familie ebenso vor Augen geführt wie die Ambivalenz adliger Gewalt überhaupt.“ Dass ‚Zorn‘ als Auslöser der Handlung fungiert, wurde in der Forschung mehrfach betont. So bei Wetzel 2008, 378; Mühlherr 1993, 43. Auch Schnyder 2006b, 30, betont die zentrale Rolle von ‚Zorn‘ in der Erzählung und sieht einen Zusammenhang zwischen den drei genannten Szenen, weist aber darüber hinaus auf den folgenden Zorn Goffroys über seinen Onkel sowie den Melusines hin. Dabei lassen sich an den Handlungen Reymunds und Goffroys und deren Konse-
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resultierende auch erzähllogische Notwendigkeit einer Kausalmotivierung überlagern den Automatismus des Erzählschemas gewissermaßen und fügen diesem weitere Determinanten hinzu, nämlich individuelle Verantwortung, subjektives Fehlgehen und moralische Integrität.¹⁷² Diese genuin menschlichen Dispositionen – das verdeutlicht ihre Diskussion anhand von zwei Figuren¹⁷³ – sind stärker als der sagenmäßige Zwang, sie sind nicht vorhersehbar und verweisen damit auf die grundsätzliche Offenheit von Geschehen, die Unkalkulierbarkeit von menschlichen Handlungen und Entscheidungen sowie auf die Unberechenbarkeit zukünftiger Ereignisse – „Geschichte [erweist sich] also durch das Eingreifen der Figuren als veränderbar“¹⁷⁴. Was sich in einem derartigen, Kausalitäten gehorchenden, aber damit gerade nicht absehbaren, weil auf subjektiven Handlungen beruhenden Ereigniszusammenhang manifestiert, ist die Abwesenheit von Ordnung, das, was sich der Kontrolle und der Vorhersehbarkeit entzieht.¹⁷⁵ Speth hat in diesem Zusammenhang von prinzipiell veränderbarer Handlungsführung und final bestimmter Katastrophe auf ein erzählerisches Prinzip des Romans aufmerksam gemacht: Immer wieder wird von einem für sich kausal motivierten Kettenglied auf die finale Katastrophe geschlossen, ohne dass jedoch berücksichtigt würde, dass erst das ‚relativ zufällige‘
quenzen paradigmatisch die von Seneca für die Leidenschaft des Zorns formulierten Prinzipien nachvollziehen, wie etwa die jeweils notwendige Billigung der Seele, die Unterordnung unter den menschlichen Willen sowie insbesondere auch die „Vergeblichkeit der späten Reue“ (Toepfer 2015, 307). Mit dieser Konzeption geht somit jene kausale Motivierung des Geschehens notwendig einher, sofern es sowohl einen äußeren Impuls als auch die subjektive Zustimmung zu einer Affekthandlung braucht, es sich somit nicht um „einen unvermeidbaren Schicksalsschlag“ (289) handelt: „[D]er Sturz ins Unglück in der Melusine des Thüring von Ringoltingen [wird] mit dem Fehlverhalten der Protagonisten, nämlich der Hingabe an den Affekt des Zorns, kausal motiviert.“ (310) Vgl. Müller 1990, 1035 ff., 1072; Ziep 2006, 252, die das „besondere[] (Spannungs‐)Potenzial“ der Erzählung aus der nicht schemagerechten Erfüllung der aufgerufenen literarischen Muster herleitet. Schnyder 2006b, 29, hingegen sieht hier weniger eine Überlagerung als vielmehr einen „Ersatz eines alten Fatalitätsmodells durch ein jüngeres, das mit Psychologie und Moral rechnet (aber damit die Zwangsläufigkeit nicht zu mindern braucht)“. In diesem Kontext wird dies anhand von zwei Figuren diskutiert, in der Folge werden sie auch an Melusine und Meliora thematisch. Ziep 2006, 252. Treffend hat dies auch Mühlherr 1993, 14, formuliert: „Explizit ist die Geschichte eines Adelsgeschlechts der Erzählgegenstand des Romans, implizit wird über Geschichte und menschliches Handeln in der Geschichte reflektiert.“ Auch Wetzel 2008, 378, betont die Unberechenbarkeit menschlicher Handlungen, sieht in ihnen aber den menschlichen freien Willen realisiert, „der sich jederzeit für oder gegen Gott entscheiden kann, der dadurch das Schicksal – das eigene wie das anderer Menschen – wesentlich zu beeinflussen vermag.“
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Zusammentreffen verschiedener Ketten die weiteren Folgen zeitigt. Der Erzähler nimmt bei seinen Vorausdeutungen auf das Ende des Eheglücks immer die vom aktuellen Erzählverlauf erreichte Perspektive ein. Wendungen oder dazwischengeschaltete kausale Motivierungen berücksichtigt er beim Schluss von einem der Kettenglieder auf das Ende der Partnerschaft nicht. Er ist zwar aufgrund seiner zukunftsgewissen Prolepsen als auktorial zu bezeichnen, sein Blick ist aber von der Gewissheit des Tabubruchs abgesehen auf den vom Erzählverlauf erreichten Stand fokalisiert […]. Dies unterstützt den Eindruck einer Finalisierung der Kausalketten.¹⁷⁶
In der so beschriebenen Erzählerhaltung manifestiert sich allerdings weniger eine Finalisierung der Kausalketten als vielmehr die narrative Reflexion von Kontingenz: Gerade indem der Erzähler die folgenden Ereignisse nur partiell mitteilt und auf den jeweiligen Stand des Geschehens fokalisiert erscheint, zeigt sich die grundsätzliche Offenheit und Veränderbarkeit desselben; er berücksichtigt bzw. erzählt „Wendungen oder dazwischengeschaltete kausale Motivierungen“ deshalb nicht, weil sie in einer kontingenten (Erzähl‐)Welt nicht vorhersehbar sind, sondern „erst das ‚relativ zufällige‘ Zusammentreffen verschiedener Ketten die weiteren Folgen zeitigt.“ Die Erzählerhaltung spiegelt somit gewissermaßen die das erzählte Geschehen lenkenden Mechanismen. Gleichzeitigt – und dies verdeutlicht den Grad der Reflexion – hebt der Erzähler aber die kausalen Ereigniszusammenhänge an zentralen Stellen hervor und verweist damit auf die Relevanz individueller Handlungen und affektiver Reaktionen für den Fortgang eines keiner Ordnung folgenden Geschehens. Dabei diskutiert die Erzählung auf Handlungsebene über die paradigmatische wie syntagmatische Verschränkung von Reymunds und Goffroys Geschichte auch, wie Figuren auf die Erfahrung von Kontingenz reagieren und diese zu bewältigen versuchen. Dass der Zorn dabei gerade kein probates Mittel der Kontingenzbewältigung ist, zeigt sie gleich mehrfach. Die Differenzen in den auf den Zorn folgenden Handlungsmustern¹⁷⁷ verweisen dabei auf einen je anderen, auf individuellen Dispositionen basierenden Umgang mit der Erfahrung einer kontingenten Welt und evozieren zugleich die Frage nach ihrer jeweiligen Adäquanz, deren Beurteilung dabei nicht nur dem Erzähler anheimgestellt ist, sondern auch – allerdings perspektivisch gebunden – von den anderen Figuren abhängig ist.¹⁷⁸ Die Art, wie Figuren auf Kontingenz
Speth 2012, 353. Sowohl Reymund als auch Goffroy reagieren auf die Konfrontation mit für sie unerklärlichen Dingen mit Zorn; während dieser Reymund, in Wahrnehmung und Handlungsfähigkeit eingeschränkt, zu jener öffentlichen Anklage motiviert, reagiert Goffroy auf den Einbruch des Unbegreiflichen, den er wie Reymund mit dem Dämonischen assoziiert, unverzüglich mit Gewalt, die ebenfalls als Mittel der Bewältigung zu verstehen ist. Dies zeigt sich eindrücklich an der Bewertung des Klosterbrands.
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reagieren, beeinflusst mithin das aus diesem Grunde nicht minder kontingente Geschehen. Narrative Kontingenzexposition zeigt sich in diesem Kontext somit in der aus individuellen Handlungen resultierenden Kausalität des Geschehens, der Verkettung von subjektiv verantworteten Ereignissen, deren Unvorhersehbarkeit über eine spezifisch inszenierte Erzählerrolle und die Fokussierung auf menschliche Dispositionen, insbesondere den Zorn, besonders pointiert wird. Zudem wird Kontingenz über die, die jeweiligen Ereignisse kommentierenden und interpretierenden Figurenstandpunkte reflektiert, sofern diese – ähnlich wie beim Jagdunfall – je verschiedene Deutungen für das Geschehen artikulieren. Auch hier ist es somit das ambivalente Erzählen, das gezielte Ausstellen von antagonistischer Gleichzeitigkeit, das der narrativen Reflexion von Kontingenz dienstbar gemacht wird. Diese Tendenz zur Ambiguisierung findet sich auch in der Erzählerrede: Trotz der skizzierten narrativen Inszenierung des Geschehens legt der Erzähler nämlich eine providentielle Lenkung des Geschehens nahe, die mit der erzählerischen Gestaltung nicht gänzlich zur Deckung zu bringen ist. So referiert er an einer zentralen Stelle – nämlich bevor Reymunds Bruder diesen zur heimlichen Beobachtung animieren wird – jene Augustinus zugeschriebene Sentenz über das Verhältnis von irdischer Glückseligkeit und ewiger Verdammnis: Nun laß ich d:ß alles sein vnd mß nun anfahen z sagen von dem ende so dise freüd nam / wann gewnlich die gelückselikeit dises iamertales nymmt mit leiden vnd mit kummer ein ende in diser zeit / dann ob das nit beschicht so ist es doch ein gewißheit der ewigen verdamnuß also vns das beczeichet der lerer sanctus Augustinus. der do spricht Successus humane prosperitatis / est verum indicium eterne damnacionis Das spricht z teUtsch also. das die gelückselike:t diser welt ist ein gewises zeichen der ewigen verdamnuß (95,4– 95,12).¹⁷⁹
Vgl. zur Zuschreibung an Augustinus und ähnlichen Sentenzen, Schnyder 2006b, 25; Müller 1990, 1067 ff. Drittenbass 2010, 282 f., beobachtet „ein interessantes Spannungsverhältnis“ zwischen Augustinus-Exempel und narrativer Inszenierung des Geschehens, insbesondere den die Handlungen kommentierenden Prolepsen, sofern diese in der Ankündigung des tragischen Endes jeweils auf das Exemplum Bezug nähmen bzw. auf dieses verwiesen: Sie hält fest, „dass der Erzähler an den zentralen Stellen des Romans – Treueschwur Reymonds, Geburt Goffroys, Klostereintritt und früher Tod Froymonds, Reymonds Bohren des Loches, Abfassung des verhängnisvollen Briefes durch Reymond und dessen Übergabe an Geffroy, dessen Verbrechen an Kloster und Mönchen und schließlich Reymunds Zorn – geradezu topisch immer wieder auf den traurigen Ausgang der Melusine-Reymond Geschichte aufmerksam macht. Dabei dient die Botschaft des am Zenit der Erzählung eingeschalteten Augustinusexempels als Referenzpunkt, auf das sich das textuelle Echo in den Prolepsen bezieht.“ (289 f.)
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Dieser lässt er das vermeintlich augustinische, eigentlich aber von Ambrosius stammende Exempel folgen, nach dem Augustinus bei dem Besuch eines an zeitlichem Gut reichen und glücklichen Wirts aus Sorge vor dem göttlichen Zorn dessen Haus mit seinen Dienern schnellstmöglich verlässt, das im Anschluss in Flammen aufgeht: also wir auch das lesen jn einem schnen exempel von dem he:ligen lerer sant Augustin der wolt ein nacht in einer herberg beleiben als er von rom reit in eines wirtes hauß der sein schlgesel gewesen was. den fraget er wie es im gieng Do antwurt im der wirt vnd sprach. es gieng im vast gelücklich vnd wol vnd re:chete an zeitlichem gt. vnd nm vast z Do rffet sant Augustin seiner diener einen vnd sagt im heimlichen. Gee pald vnd leg vns die setel auff dann wir wllen pald fliehen / das vns der gotes zoren nit hie begreiff Do sant Augustin nit verr von dem hause auff die strassen kam / do gieng das hauß oder die herberg […] an vnd verpran. vnd verdarb der wirt vnd alles sein hawßgesinde weib vnd kind knechtt vnd me6de (95,13 – 95,26).
Dieses Exempel etabliert nun einen providentiellen Horizont und referiert auf den „Gedanke[n] der Hinfälligkeit alles Irdischen, das ein dauerhaftes Glück nicht zulasse, wenn aber doch eine gewisse Zeit, dann nur als Zeichen der Gefährdung der Seele.“¹⁸⁰ Das kurz zuvor beschriebene (irdische) Glück Reymunds und Melusines, wie es sich im Erfolg der Söhne und im Wohlergehen der Familie zeigt, müsse somit entsprechend der Sentenz und des Exempels notwendig in leiden vnd mit kummer (95,6 – 95,7) enden, um der ewigen Verdammnis zu entgehen. Nach Mühlherr sei dies ein Versuch Thürings, ein Äquivalent für das Melusine und Raymond entzogene Glück zu schaffen. […] Wenn das böse Ende des Wirtes eine abschreckende Wirkung hat, dann gewinnt im Kontrast dazu das unglückliche Schicksal Melusines und Raymonds ein positives Vorzeichen: Bei ihnen ist in das strahlende Aufstiegs- und Eheglück durch Raymonds Tabubruch und Geffroys Verbrechen Negatives aufgebrochen, ihre irdische Glückseligkeit hat zwar ein Ende, doch ist damit gerade auch die Gefahr eines den Zorn Gottes provozierenden Glücks gebannt. […] Das Unglück ist zwar bitter, aber es ist besser als strahlendes Glück, das Zeichen ewiger Verderbnis sein könnte.¹⁸¹
Also doch „ein Äquivalent für das fehlende ‚happy end‘, das Melusine zu wünschen wäre“¹⁸²? Zeigt sich aber im Ende des irdischen Glücks und in der in Aussicht gestellten ewigen Glückseligkeit nun die göttliche Vorsehung? Manifestiert sich in dem
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Geschehen eigentlich Providenz? Oder ist das Ende des irdischen Glücks ein kontingentes Ereignis, wie es Mühlherrs Interpretation nahelegt, dessen (zufällige) Folge die Vermeidung göttlichen Zorns und damit die Hoffnung auf ewige Glückseligkeit ist? Erklärt der Erzähler mit diesem Exempel also das Geschehen als providentiell notwendig oder versucht er, einem kontingenten Geschehen providentiellen Sinn abzugewinnen? Der Zusammenhang von irdischem Glück und jenseitiger Verdammnis bleibt offen, der Erzähler konkretisiert diesen nicht. Das Exempel als solches ist somit bereits ambivalent: Es kann „nicht nur Kontingenz als Providenz, sondern genauso gut Providenz als Kontingenz erscheinen lassen, die beiden Größen also gegeneinander ausspielen“¹⁸³. Denn Klosterbrand, Tabubruch und Trennung können sowohl als providentielle Notwendigkeit verstanden werden, um die ewige Verdammnis zu verhindern, sie können aber auch als kontingente Ereignisse begriffen werden, deren – letztlich auch kontingentes – Resultat wiederum die jenseitige Glückseligkeit ist. Scheinbar Kontingentes kann sich als eigentlich göttlich gefügt, scheinbar Providentielles als eigentlich kontingentes Geschehen erweisen. Im Rahmen der ersten Lesart – Kontingentes zeigt sich als letztlich Providentielles – wäre die Trennung der beiden, das sie verursachende sowie das ihr folgende Verbrechen Goffroys also der göttlichen Vorsehung gemäß und dies, um ihre jenseitige Verdammnis zu verhindern. Diese Interpretation entspräche dabei letztlich der boethianischen Tradition, in der Kontingenz in Gestalt des Zufalls als Teil des göttlichen Plans verstanden wird, der sich dem Menschen aber nur begrenzt offenbart.¹⁸⁴ Und doch erscheint eine solchermaßen entworfene Zwangsläufigkeit fragwürdig, denn sie steht im auffälligen Gegensatz zur narrativen Herleitung des Geschehens und der expliziten Verurteilung des Handelns der für die Katastrophe ausdrücklich verantwortlich gemachten Figuren. Dass ihr Handeln grundsätzlich vermeidbar erscheint, sofern sie sich von Zorn regieren lassen, plausibilisiert der Erzähler mit dem Verweis auf Seneca. Diese Eigenmächtigkeit des Subjekts und die Möglichkeit der Beeinflussung des Schicksals werden bei
Rippl 2016, 226, Anm. 73. Vgl. Toepfer 2015, 301, die jene Sentenz als Verweis auf das Rad der Fortuna interpretiert, sofern diese „die abwärts gerichtete Bewegung [beschreibt], vom Höhepunkt zum Fall, die für das Lebensrad charakteristisch ist.“ Nichtsdestoweniger trage Gott die Letztverantwortung für das Geschehen: „Glück und Unglück sind der Interpretation des Erzählers zufolge Bestandteil des göttlichen Plans, nach dem die Welt gelenkt wird.“ (301) So auch Wetzel 2008, 376. Vgl. zum Symbol des Rades Boethius, Consolatio Philosophiae, 48, II,2,29 – 33; zum Verhältnis von Vorsehung und Schicksal 232, V,1,55 – 60; zur menschlichen Unergründlichkeit der göttlichen Ordnung 208 f., IV,6,94– 98.
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Boethius aber gerade infrage gestellt.¹⁸⁵ Auch impliziert diese Lesart eine moralische Problematik, denn mit der göttlichen Vorsehung ginge dann nicht nur der Brudermord, sondern auch die Tötung der Mönche und eines Verwandten einher.¹⁸⁶ Gleichwohl könnte sich in diesem Rahmen die ambivalente Rolle Goffroys erklären: Er ist zu Heldentaten und Verbrechen fähig; in den Verweisstrukturen seines Wesens auf Mutter und Vater ist er für die Erfüllung ihrer beiden Schicksale zuständig; die Selbststilisierungen als Instrument Gottes erschienen in diesem Kontext ebenso plausibel wie sein – zwar wenig heroisches aber doch – gänzlich nach christlichen Maßstäben ablaufendes Ende (vgl. 172,1– 172,27). Nichtsdestoweniger wird seine Klosterbrandstiftung vom Erzähler ausdrücklich kritisiert; auch wird das Kloster als solches sowohl in Erzähler- als auch Figurenrede stets als integer dargestellt.¹⁸⁷ Während also auch diese beiden Aspekte einer Lektüre widersprechen, die das Geschehen als Teil der göttlichen Vorsehung versteht, wird Melusine es als eben solches deuten, wenn sie Klosterbrand und Trennung als providentielle Fügung deklariert. Die evaluative Struktur sowie die narrative Inszenierung des Geschehens ließen sich nur dann erklären und die moralische Dimension nur dann entschärfen, wenn man von der zweiten Lesart – Providentielles zeigt sich als letztlich Kontingentes – und damit davon ausgeht, dass es sich um kontingente Ereignisse handelt, die nicht mehr der göttlichen Lenkung unterstehen, deren Resultat aber trotzdem mit der göttlichen Vorsehung korrespondiert, sofern gemäß dieser irdisches Unglück mit jenseitiger Glückseligkeit belohnt wird. Nur in diesem Zusammenhang stünde dem Menschen jener Spielraum zur freien Entscheidung und zur Entfaltung des freien Willens zu, den der Erzähler mit der
Boethius, Consolatio Philosophiae, 46, II, 1,58 – 61: Fortunae te regendum dedisti: dominae moribus oportet obtemperes. Tu vero volventis rotae impetum retinere conaris? At, omnium mortalium stolidissime, si manere incipit, fors esse desistit. Dies widerspricht dem boethianischen Konzept eines providentiell gelenkten Schicksals, sofern die göttliche Ordnung „alles zum Guten lenkt und anordnet. Nichts nämlich geschieht um des Bösen willen, nicht einmal von den Bösen selbst“ (Boethius, Consolatio Philosophiae, 208, IV,6,97– 99: nihilo minus tamen suus modus ad bonum dirigens cuncta disponat. Nihil est enim, quod mali causa ne ab ipsis quidem improbis fiat). Zwar kann die göttliche Vorsehung durchaus Böses integrieren, dies aber nur, um Gutes hervorzubringen: Sola est enim divina vis, cui mala quoque bona sint, cum eis competenter utendo alicuius boni elicit effectum (214, IV,6,193 – 195). Dass diese Taten gerade nicht zum Glück gereichen, zeigt sich an Melusines Erlösungsbedürftigkeit. Mit Schnyder 2013, 114, müsste überdies gefragt werden, „[w]ie […] im Rahmen einer meritorisch angelegten Moral, wie sie das mittelalterliche Christentum vertritt – menschliches Verdienst erhält vor dem ewigen Richter seinen Lohn – eine solche negative Prädestination vertretbar [ist].“ So weist etwa schon Reymund im Gespräch mit Freymund auf die strengen Klosterregeln hin (vgl. 93,34– 93,35) und auch das Dorf klagt über Goffroys Untat (vgl. 112,15).
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Betonung der Gefahr des Zorns und dem Mangel an Vernunft womöglich anzitiert. Eine solche Vorstellung entspräche einem Schicksalskonzept, in dem das entscheidungsmächtige Subjekt die Zufälligkeit des Daseins für sich zu nutzen in der Lage ist,¹⁸⁸ und damit der Annahme einer nicht mehr der Lenkung Gottes unterstellten Fortuna. Damit wäre die Erfüllung der ewigen Glückseligkeit zwar göttlich gewirkt, aber letztlich ein kontingentes Ereignis, dessen Realisierung sich durch das Exempel aber gerade nicht erklären ließe. Auch lässt sich der an anderen Stellen der Erzählung aufgerufene christliche Horizont mit einer gänzlichen Negation der Providenz nur schwer vereinbaren. Alternativ könnte man das Exempel als Versuch des Erzählers werten, diesen kontingenten Ereignissen einen providentiellen Sinn abzugewinnen. In beiden Lesarten – Kontingenz erscheint als Providenz, Providenz als Kontingenz – lässt sich nun die Annahme, dass das Ende von Melusines und Reymunds irdischem Glück die ewige Verdammnis verhinderte, aber gerade nicht mit Melusines Fluch vermitteln, ist es doch ausgerechnet der Bruch des Tabus, der ihr die Erlösung versagt. Die Erzählung konzipiert den Zusammenhang zwischen irdischem Glück und ewiger Verdammnis somit konträr zu dessen Akzentuierung im Rahmen des Exempels, denn nur ein Bewahren des irdischen Wohlergehens hätte Melusine jene christliche Erlösung ermöglicht, die ihr nun nicht mehr gewiss ist: piß an das ende des iüngsten tages. vnd piß got über die lebentigen vnd toten würt richten (116,17– 117,1), wird Melusine in le:den arbeit vnd in pein sein (117,19 – 117,20); nicht nur das Leben eines gewöhnlichen Menschen, sondern auch ein natürlicher Tod und ewige Glückseligkeit sind ihr durch den Tabubruch versagt: dann so du mir gehalten vnd dein gelüb geleistet hettest aufgerecht vnd redlichen So wer ich natürlich be: dir gewesen vnd beliben. vnd als ein ander natürlich weib gestorben. vnd der erden beuolhen worden / vnd wer mein sele von meinem leib gewißlich z der ewigen freüd kommen (117,14– 117,18).
Dieses Melusine ereilende Schicksal ließe sich letztlich nur dann mit dem Exempel in Einklang bringen, wenn man die Verkettung der tragischen Ereignisse – Klosterbrand, Tabubruch, Trennung – als Äquivalent zu dem in Flammen aufge-
Dies entspräche letztlich dem von Haug skizzierten Konzept, das im Anschluss an jenes âventiure-Modell als Verkörperung Fortunas im höfischen Roman (vgl. Haug 1995, 12 ff.) von einer Fortuna-Vorstellung ausgeht, in der sich diese als individuelle Chance offenbare, und dies in der Regel im Rahmen von Aufsteigergeschichten, wie es auch in der Melusine der Fall sei (vgl. 17 ff.). Diese Annahme einer „progressiv-frühneuzeitliche[n] Metamorphose der Fortuna“ (20) kann gleichwohl die Existenz des Exempels nicht erklären.
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henden Haus des Wirts verstünde: Zeigt sich an der Katastrophe womöglich schon der göttliche Zorn? Ist das irdische Glück der beiden, das kurz vor Einschub des Augustinusexempels noch ausführlich erzählt wird, der Anlass auch für ihr weltliches Ende, wie es bei dem Wirt der Fall ist, und zugleich Zeichen für ihre ewige Verdammnis? Fungiert das Exempel womöglich gar nicht als Kontrastfolie zum erzählten Geschehen, sondern als dessen Antizipation? Nur in diesem Fall ließe es sich mit Melusines Fluch und ihrer verwehrten Erlösung harmonisieren. Gleichzeitig leitet auch diese Lesart sich nicht bruchlos aus der Erzählung ab: Auch hier widerspricht die narrative Inszenierung und die evaluative Struktur der These einer providentiellen Lenkung. Auch ließe sich fragen, warum erst in der Enkelgeneration, nämlich mit Gysʼ scheiternder Sperber-âventiure, das Unglück der Familie einsetzt bzw. warum der Leser am Ende der Erzählung über das noch andauernde Glück der Lusignans unterrichtet wird.¹⁸⁹ Ebenso verstehen Melusine und Reymund ihr irdisches Glück als Wirken Gottes und seiner Gnade (vgl. 94,23 – 94,29) und Reymund erhält Absolution vom Papst (vgl. 153,3 – 153,14). Die ohnehin schon ambivalente Rolle Goffroys gestaltete sich auch in diesem Kontext prekär: Erfüllt er mit seinen Verbrechen nun doch den göttlichen Willen, als Werkzeug des göttlichen Zorns, aber ohne selbst zur Verantwortung gezogen zu werden? Auch hier sprächen die Selbstinszenierung der Figur sowie sein erwähntes christliches Ende für seinen Status als göttlich instruiertes Werkzeug, die positive Beschreibung des Klosters sowie die wertenden Erzählerkommentare dagegen. Auch wenn die konkrete Relation zwischen Exempel und erzähltem Geschehen ambivalent bleibt, wird mit dessen Anführung doch eine finale Lenkung der Handlung unterstellt. Somit wird wie im Fortunatus der eigentlichen narrativen Konstruktion, die einem kausalen Handlungsmodell folgt, die Argumentation mit einer übergeordneten lenkenden Instanz entgegengesetzt, deren Relation zu figuralen Dispositionen und Handlungsmustern unbestimmt bleibt. Zum Gegenstand der narrativen Auseinandersetzung werden auch in der Melusine mithin die Friktionen zwischen Handlungsoffenheit und Handlungsdetermination, zwischen Kontingenz und Providenz.¹⁹⁰ Die Erzählung evoziert deren paradoxe Gleichzeitig, indem sie die durch das Exempel suggerierte Finalität mit kausalen Handlungsmodellen kontrastiert,¹⁹¹ auf deren Relevanz für die Peripetie der Er-
Vgl. Toepfer 2015, 305; Schnyder 2013, 115. Vgl. zur narrativen Exposition der Gleichzeitigkeit von Kausalität und Finalität auch die Ausführungen in Kap. 3.2.3. Rippl 2016, 227, Anm. 74, fasst diese Unbestimmtheit als Gleichzeitigkeit von „Motivation von vorn“ und „Motivation von hinten“; sie konstatiert, dass hier gerade nicht jenes mythische Analogon am Werk sei, „insofern auch eine ‚Motivation von hinten‘ durch eine Vielzahl quer-
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zähler mithilfe der Prolepsen stets hinweist.¹⁹² Dabei generiert sowohl die Prozessierung dieser Unbestimmtheit als auch die Vagheit des Exempels als solche, die sich nicht zuletzt auch in dessen nicht weiter präzisierten Verhältnis zum erzählten Geschehen manifestiert, Ambivalenz. Die Besonderheit der Thüringʼschen Gestaltung zeigt sich im Vergleich zu seiner Vorlage, denn bei Coudrette finden sich Sentenz und Exempel zur Erklärung des Glückumschwungs nicht. Gerade diese Differenz zur französischen Fassung wirft die Frage nach der Bedeutung dieser einerseits Kontingenz reflektierenden Kausalität, andererseits Providenz und damit Finalität suggerierenden Geschehensdeutung auf. Diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Motivationsformen, wie sie sich überdies bereits in der Inszenierung des Jagdunfalls manifestiert, könnte nun zum einen als Resultat sich widersprechender Tendenzen von stofflich bedingter histoire- und rhetorisch geprägter discours-Ebene und somit als Konkurrenz verschiedener Wissensordnungen verstanden werden, wie sie von Hübner beschrieben wurden. Wenn man mit Hübner die der Rhetorik „impliziten Elemente einer anthropologischen Wissensordnung“ berücksichtigt und die von rhetorischen Verfahren geprägten discours-Strukturen „als eine eigenständige Ebene der Sinncodierung“¹⁹³ fasst, ließe sich auch im vorliegenden Fall die auf discours-Ebene inszenierte Kausalmotivierung als Reflex einer – innerhalb des Erzählschemas und auf der histoire-Ebene gerade nicht relevanten, der Rhetorik aber inhärenten – Anthropologie verstehen: Auch hier ist die zu erzählende Geschichte aufgrund ihrer Stofftradition durch Finalmotivierung konstituiert, gleichwohl zeigt sich die Tendenz des Autors, das Figurenhandeln durch Gründe, Intentionen und Gemütszustände kausal zu motivieren und damit zu plausibilisieren.¹⁹⁴ Die Simultaneität von Final- und Kausalmotivierung in der Erzählung könnte somit potentiell Resultat einer rhetorischen Bearbeitung des discours sein, die eigene Sinnangebote trägt und somit den durch die Stofftradition bedingten
schießender, alternativer Motivationslinien gestört wird: Eine dieser Linien ist die menschlichschuldhafte Verstrickung in Leidenschaften wie den Zorn, die vor allem Reymunds Schicksal (aber auch Melusines) an entscheidenden Stellen determiniert und im Sohn Geffroy wieder erscheint, durch ihn für das Schicksal der ganzen Familie virulent wird.“ Vgl. zum Aspekt der Gleichzeitigkeit der Motivierungsformen auch Toepfer 2015, 303 ff. Auch Toepfer 2015, 305, betont, dass die durch Erzählschema und providentiellen Horizont aufgerufene Finalmotivierung nicht ausreiche, um das Geschehen zu erklären: Weder funktioniere der dem Schema inhärente Mechanismus automatisch, noch werde Reymund von individueller Verantwortung freigesprochen. Darüber hinaus greife auch jene exemplarische Erklärung des Erzählers nicht. Hübner 2010a, 119. Vgl. die entsprechende Position bei Hübner 2010a, 142 f., sowie die Ausführungen in Kap. 3.2.
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Sinn der (Martenehen‐)Geschichte wenn nicht konterkariert, so doch ambiguisiert.¹⁹⁵ Zum anderen könnte man in Anlehnung an Kiening diese Gleichzeitigkeit als kompositorisches Prinzip, als spezifisches narratives Profil und damit als Möglichkeit begreifen, „den poetischen Entwurf zu profilieren“¹⁹⁶. Denn während sich bereits mit dem jenem Erzählschema inhärenten Tabu „die Spannung von Kausalität und Finalität zum Vorschein bringen läßt“¹⁹⁷, zeigt sich in der besonderen Darstellung und ambivalenten Relationierung der Ereignisse bei Thüring eine ganz spezifische Dynamik und poetische Komplexität, „von der wiederum der literarische Text lebt“¹⁹⁸. Beide Aspekte können somit auch als Resultat einer intendierten Ambiguisierung des Geschehens verstanden werden, die sich in der Gleichzeitigkeit konkurrierender Motivierungsformen, in der suggerierten Simultaneität von Providenz und Kontingenz und in dem Bezug auf verschiedene, je nach Lesart plausibilisierende gelehrte Wissensbestände konkretisiert.¹⁹⁹ Die Annahme, dass es sich bei dieser narrativen Konstruktion um ein spezifisches erzählerisches Profil handelt, kann womöglich durch den Befund erhärtet wer-
Vgl. die Ausführungen bei Hübner 2010a, 143 f. Fraglich ist, ob dies nicht auch als eine Form ambivalenten Erzählens verstanden werden kann, sofern man die produktionsseitige Wahrnehmung von solchen aus einer rhetorischen Bearbeitung resultierenden Unstimmigkeiten und das Bewusstsein über die Existenz sich widersprechender Sinnangebote in der Textproduktion gelehrter Dichter wohl voraussetzen kann. Als ein Konfligieren der Ebenen liest Drittenbass 2011a, 138, zwar das „textinterne Paradox“, wie es sich in den Deutungen des Klosterbrands manifestiere, führt dieses aber nicht auf die gelehrte rhetorische Bearbeitung des discours zurück. Die Widersprüche zwischen Melusines Deutung und denjenigen von Erzähler und Figuren versteht sie nämlich als Ergebnis eines „sperrigen Stoff[s]“: „Die interne Handlungslogik des Martenehenmotivs setzt voraus, dass die Geschichte schlecht ausgeht; andererseits kann der Erzähler die Familiengeschichte eines einflussreichen Geschlechts unmöglich als Verfall beschreiben. Zwischen (teilweisem) Niedergang und Weiterleben der Dynastie muss also ein Kompromiss gefunden werden.“ Kiening 2005b, 11. Kiening 2005b, 12. Kiening 2005b, 12. Schnyder 2013, 113 f., sieht in Thürings Integration des Exempels entgegen seiner Vorlage eine „kritische Auflösung des Sinns“ (114), und spielt damit auf die auch hier skizzierte Ambiguisierung des Erzählten an. Auch Kiening 2005b, 13, betont die hier inszenierten Friktionen zwischen finaler Gerichtetheit und kausaler Geschehensmotivation, wobei gerade die Verzögerung des Tabus das Augenmerk „vom final motivierten Automatismus von Tabu, Tabubruch und Glücksverlust auf einen kausal motivierten Ereigniszusammenhang [umlenkt], in dem Affekte und Konkurrenzen eine wichtige Rolle spielen. […] Das Verhängnis ergibt sich somit aus einem komplexen Bedingungszusammenhang, in dem scheinbar Kontingentes zwar in Providentielles umschlagen kann, das Providentielle selbst aber nicht das gesamte Geschehen durchdringt. Verschiedene Instanzen stehen nebeneinander.“
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den, dass sich jene Gleichzeitigkeit von finaler Motivierungsform und kausalem Handlungsmodell nicht nur in der Erzählerrede bzw. in der Konstruktion der Handlung findet, sondern sich gewissermaßen in den das Geschehen kommentierenden und interpretierenden Figurenstandpunkten spiegelt: Während Melusine nämlich mit göttlicher Lenkung sowohl in der Erklärung des Klosterbrands als auch der endgültigen Trennung argumentiert, führt Reymund sein individuelles Fehlverhalten als Ursache des Geschehens an; für Goffroy hingegen trägt der Graf vom Forst die Schuld am Unglück – derjenige also, der Reymunds ersten Tabubruch provoziert und damit die Bedingungen für den zweiten geschaffen hat. Sieht man nun genauer auf Melusines Interpretation der Ereignisse, zeigt sich aber bereits hier eine Vervielfältigung verantwortlicher Instanzen sowie eine den jeweiligen Annahmen zum Teil widersprechende Argumentation: Noch bevor Reymund sie vor der Hofgesellschaft beschimpfen wird, nimmt Melusine Bezug auf die Klosterbrandstiftung, die Goffroy, sollte sie denn eine Sünde sein, bereuen – so ihre Hoffnung – und deshalb die göttliche Barmherzigkeit erfahren werde (vgl. 113,28 – 113,34).²⁰⁰ Reymund selbst trage keine Schuld an dem Ereignis, die Ursache dieses Geschehens versteht sie dabei vielmehr im Sinne jener Sentenz über das Verhältnis von irdischer Glückseligkeit und ewiger Verdammnis: Dann du slt gedultig sein in deinem grossen kummer vnd leiden vnd es got befelhen / der alle ding volbringet nach seinem willen. vnd den seinen willen n:mant verkeren mag / der wil villeicht das wir disen kummer vnd herczenleit haben vnd domit ablegen vnser schuld vnd missetat (113,22– 113,26).
In dieser Aussage stellt sich der Klosterbrand also nicht als Verbrechen Goffroys, sondern als göttliche Prüfung für die beiden dar. Erst im Anschluss an seine öffentliche Anklage lässt Melusine Reymund wissen, dass Goffroys Tat die Strafe für das umtriebige Leben der Mönche sei (vgl. 118,10 – 118,12). Ihre Beurteilung steht somit im völligen Widerspruch zur ansonsten positiven Darstellung der Mönche und des Klosters. Die zuvor auf Goffroy bezogene Annahme über die göttliche Barmherzigkeit²⁰¹ relativiert sie hier insofern, als sie nun die Bestrafung auch nur eines Sünders als Legitimation für das Verderben anderer beurteilt: als du vormals mer gehrt vnd vernommen hast Dann vm eines sünders willen ettwan hundert verderben vnd schaden nemen (118,14– 118,17). Auf diese Weise ist jenes zuvor erwähnte moralische Dilemma beseitigt, das im Rahmen der vom Erzähler un-
Dass es sich um die Möglichkeit einer Sünde handelt, suggeriert der Konditionalsatz: ob geffro: gesündet vnd mißtan hat an dem gotes hauß (113,28 – 113,29). wann gotes parmherczikeit groß ist / vnd begert gar nicht des sünders tod / Mer das der sünder leb vnd sich beker (113,32– 113,34).
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terstellten providentiellen Lenkung in Brudermord und Tötung Unschuldiger bestand. In Melusines Interpretation ist Goffroy aber gerade kein Sünder; auch wenn sie dies nicht explizit artikuliert, fungiert Goffroy als Instrument, das den göttlichen Willen erfüllt.²⁰² An diese nachträgliche Deutung der vergangenen Ereignisse bindet sie dann auch die Vorhersage des künftigen Geschehens.²⁰³ Indem sie Goffroys Tat der göttlichen Verantwortung unterstellt, deren negative und moralisch-problematische Implikationen sie hier sanktioniert, legt sie eine solche auch für das sie selbst in der Folge ereilende Unglück nahe, sofern sie um den Zusammenhang von Goffroys Tat und Reymunds Tabubruch weiß, wie ihre einleitenden Worte an Reymund sowie ihr Hinweis auf seinen Zorn ob des Klosterbrands zeigen. Nach Reymunds Bitten um Vergebung konkretisiert sie diesen Aspekt: Auch die Trennung der beiden sei Teil der göttlichen Vorsehung, sie kann ihm nicht verzeihen, [d]ann es got nit also geordnet hat (121,11– 121,12). Diese Erklärung konkurriert nun allerdings mit den Vorwürfen an Reymund, in denen sie dessen individuelle Schuld betont, sowie mit der Annahme einer willkürlichen Schicksalsinstanz, die sie ebenfalls für das Geschehen verantwortlich macht. So schreibt sie in ihrer Anklage Reymund explizit die Verantwortung für ihre verhinderte Erlösung zu: dein grosse verretere: vnd valsche:t / dein valsche zung. dein zrnliche grymme red vnd verweisen / die haben mich so in ein lang werende arbeit vnd not geseczet. dar jnn ich sein vnd beleiben mß piß an das ende des iüngsten tages. vnd piß got über die lebentigen vnd toten würt richten / du schemlicher erloser pßwicht vnd schalck / vnd aller poßhe:t vol / du me:neidiger vngetreUer ritter. wie hast du mir gehalten. wie hast du so lesterlich dein gelüb dein sel vnd ere übersehen. […] Aber s:der das du nun selbs hast offenbar gemacht so mß es dir an leib vnd an gt. an gelück vnd an selde vnd sünderlich an deinen eren mißgeen. das kommt dir von deinem valschen me:neide vnd deiner grossen missetat so du an mir armen frawen so lasterlich hast begangen (116,13 – 117,14).²⁰⁴
Zugleich macht sei ein willkürliches gelücke als Ursache ihres Leids geltend, denn sie konstatiert:
Diese Deutung steht dabei im deutlichen Gegensatz zu den Einschätzungen des Erzählers und der anderen Figuren; trotz ihres Mehrwissens mutet diese „Behauptung auch als Versuch an, Geffroys Verbrechen zu mildern.“ (Drittenbass 2011a, 126) Goffroy wird das Kloster kßtenlicher vnd pesser (118,18) wieder aufbauen, es mit Besitz ausstatten und Geistliche einsetzen (vgl. 118,17– 118,21). Bemerkenswert erscheint, dass auch Melusines Verurteilung solche Termini beinhaltet, die sich in Reymunds Rede an seinen Bruder, in Goffroys Anklage der Mönche und in Reymunds öffentlicher Schuldigsprechung finden.
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vnser freüd die ist verkert in grosses trawren. vnser sterk vnd krafft ist verkert in anmacht. Vnser wol geuallen in ein grosses mißuallen / vnser glück in vngeuelle / vnser seld in ellende vnser sicherheit ist gekert in grosse sorg / vnser fre:he:t ist verwandelt in ein dienstperkeit. […] Diß kommt von gelückes zualle. das einen hhet den andern n:dert (119,7– 119,17).
Nichtsdestoweniger sei Reymund selbs schuldig daran. vnd von [s]einer grossen vnwarheit vnd vntreU wegen (119,17– 120,1). Diese beiden ursächlichen Erklärungen des Geschehens gehen jener Artikulation der göttlichen Lenkung voraus; erst mit dem Hinweis auf die Unrevidierbarkeit der providentiellen Ordnung scheint sich die Endgültigkeit der Trennung zu realisieren, sofern bis zu diesem Zeitpunkt eine Änderung des Schicksals und der aus dem Tabubruch resultierenden Konsequenzen möglich erscheint.²⁰⁵ Am Ende ihrer Klage und im Anschluss an jenen Bezug auf eine willkürliche Schicksalsinstanz betont sie dann ihre Hoffnung, dass Gott Reymund die grosse missetat (120,4– 120,5) verzeihen möge. In welchem Verhältnis diese Aussage nun zu den zuvor artikulierten Annahmen über die Verantwortung für das Geschehen steht, bleibt auch an dieser Stelle offen: Welche Rolle spielt die göttliche Gnade in einer vom Schicksal oder individuellen Entscheidungen regierten Welt, wie sie in ihrer Klage konstruiert wird? Und aus welchem Grund braucht es göttliche Vergebung, wenn das Geschehen dem göttlichen Willen und providentieller Lenkung untersteht, wie es Melusines Ausführungen ebenso nahelegen? Auch Melusines Deutung bleibt somit ambivalent.²⁰⁶
So verzögert etwa die Tötung Horribles das der Familie bevorstehende Unglück und damit den Untergang des Geschlechts. Vgl. Kiening 2005b, 13. Man könnte an dieser Stelle mit Toepfer 2015, 299 ff., Pafenberg 1995, 276 f.,Wetzel 2008, 372, und Speth 2012, 340, 349 f., nun zum einen den erneuten Verweis auf Boethiusʼ Konzept einer der Providenz unterstellten Fortuna sehen: Fortunas Wirken korrespondiert dem göttlichen Plan, der sich ebenso wie das Wirken des Schicksals dem Menschen nur partiell erschließt. Als Instrument der Providentia ist Fortuna dabei weder beeinflussbar, noch aufzuhalten. Dies könnte die von Melusine konstatierte Gleichzeitigkeit von gelückes zualle und göttlicher Lenkung erklären, nicht aber die Betonung der individuellen Schuld Reymunds. Auch Toepfer 2015, 304, konstatiert diese Gleichzeitigkeit, erklärt die Betonung der individuellen Schuld Reymunds im Rahmen der Glücksklage aber schlicht damit, dass Melusine zwar um die Wechselhaftigkeit des Glücks wisse, sie dies aber nicht dazu veranlasse, „ihren Mann aus der Verantwortung zu entlassen.“ Speth 2012, 340, sieht in dieser Verbindung von Glücksklage und Vorwurf eine „Verschränkung von philosophischer Meta- und schemagesteuerter Handlungsebene“. Indem sie neben jenen Vorwürfen aber auch auf seinen Zorn anspielt, den sie explizit mit Goffroys Tat korreliert, wird die Relevanz dieser affektiven Handlung für die Verkettung der Ereignisse auch in ihrer Interpretation der Dinge hervorgehoben – denn auch wenn sie die zentrale Rolle des Klosterbrands nicht eigens erwähnt, weiß sie doch, dass dieser der Auslöser für Reymunds Zorn ist, den sie mit dem Verweis auf den göttlichen Willen als unberechtigt herausstellt: Aber vmb den vnmt so du hast vmb das
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Zwar macht sie für den zentralen Auslöser und das endgültige Verhängnis göttliche Vorsehung geltend, nichtsdestoweniger beruft sie sich in der Erklärung der ursächlichen Verantwortung aber auf individuelle Schuldhaftigkeit und auf ein Glücksprinzip, das zwar an Boethius rotae fortunae erinnert, gleichzeitig aber auch jene fortuna velox meinen kann.²⁰⁷ Die einzelnen Determinanten schließen
geffro: das closter vnd die münch verprant vnd verderbet hett / So süllent ir wissen das es got über die münchen verhengt hat von irer grossen sünd wegen (118,9 – 118,12). Diese Kontrastierung einer der göttlichen Lenkung unterstellten Fortuna mit individueller Verantwortlichkeit, die im Rahmen jenes Konzepts gerade keine Relevanz besitzt, generiert erneut Unbestimmtheit in der Frage nach der Verantwortung für das Geschehen. Zum anderen könnte man mit Quast an dieser Stelle von einer eben nicht mehr der göttlichen Macht unterstellten Fortuna ausgehen: In der Erzählung Thürings zeige sich nach Quast 2004, 85 f., nämlich gerade keine „providentiell gezähmte“, sondern eine dämonische Fortuna, eine „chaotisch-dämonische[] Macht“, „ein abstraktes Glücksprinzip“: „Fortuna […] gibt keine Garantien, ihr Prinzip ist die Unberechenbarkeit des gesellschaftlichen Auf- und Abstiegs, sie erhöht und verwirft, wie es ihr gefällt.“ Melusine erkenne in ihrer Klage gegen das Glück nun diese steuernde Instanz als ihr überlegene Macht an. Auch in diesem Kontext stellt sich aber die Frage nach der – überdies auch von Quast konstatierten – Pluralität der Instanzen (vgl. 92), die auch Melusines Interpretation der Ereignisse kennzeichnet. Wenn Melusine eine dämonische Fortuna als ihr überlegene Macht anerkennt, warum argumentiert sie dann mit göttlicher Lenkung und Reymunds individuellem Fehlgehen? Quast versteht diese Verweise als jeweilige Referenz auf die mittelalterliche bzw. die frühneuzeitliche Vorstellung über die Wirkkräfte des Schicksals, von denen sich die Melusine aber in ihrer Konzeption deutlich absetze: Während sich im Augustinus-Exempel jener boethianische Gedanke eines göttlich gelenkten Zufalls und somit die „mittelalterliche Vorstellung einer göttlich-providentiell gezähmten Fortuna“ manifestiere, läge der Anklage an Reymund eine Glücksvorstellung zugrunde, die individuelle Entscheidungsmächtigkeit miteinbeziehe, und somit „die frühneuzeitliche Vorstellung einer vernunftbetonten Selbstermächtigung des Subjekts, das entschlossen die nicht mehr providentiell gelenkten Wechselfälle der Zeit für sich zu nutzen weiß“ (95), repräsentiere. Gewissermaßen zwischen diese beiden Vorstellungen trete nun in der Erzählung jene „unzähmbare fortuna volex, eine willkürlich agierende, sich rasend schnell bewegende Fortuna, die weder Gott noch der Mensch im Griff hat“, wie es sich an den, der göttlichen Lenkung widersprechenden Elementen des Geschehens und „Reymunds Verhalten wider jede Vernunft“ (95) zeige. Die in der Erzählung entworfene Fortuna-Vorstellung sei also nicht mehr mittelalterlich und noch nicht frühneuzeitlich und damit Ausweis epochalen Umbruchs. Auch wenn die von Quast beobachtete Reflexion der jeweiligen Konzepte plausibel erscheint, erhellt auch diese Argumentation nur Teilaspekte der Erzählung. So legt die narrative Konstruktion und Figurenzeichnung sehr wohl subjektive Entscheidungsmächtigkeit nahe – wenn auch mit negativem Vorzeichen –, und auch die Rolle Gottes – sowohl auf Erzähler- als auch Figurenebene – sollte nicht marginalisiert werden. Wenn Melusines Äußerung Diß kommt von gelückes zualle die Akzeptanz und Unterwerfung unter eine willkürlich agierende, chaotisch-dämonische Fortuna indiziert, so bleibt fraglich, warum sie das künftige Schicksal dann ändern kann – oder vielmehr: warum sie es überhaupt versucht und nicht ob dieser unberechenbaren Macht resigniert. Vgl. zu diesem Aspekt auch Friedrich 2011, 135 f.: „Zum einen wird Fortuna aus der göttlichen Providenz herausgelöst und als Instanz etabliert, die jenseits von Moral als ‚abstraktes Glücks-
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sich dabei nicht grundsätzlich aus, sie sind aber nur partiell miteinander vermittelbar. Im Rahmen eines göttlich gelenkten Zufalls wird die individuelle Verantwortung, in der Annahme eines entscheidungsmächtigen Subjekts, das den Zufall für sich zu nutzen weiß, die Rolle Gottes, in einer sich streng providentiell verstehenden Ordnung, in die sich der Mensch durch gottgefälliges Handeln fügt, die Bedeutung des Zufalls problematisch.²⁰⁸ Durch den Bezug auf diese drei möglichen schicksalsbestimmenden Mächte, die untereinander nicht hierarchisiert werden, entsteht Uneindeutigkeit in der Zuschreibung von Verantwortung, die über die Differenzen der einzelnen Deutungen zur narrativen Gestaltung und zur Kommentierung des Geschehens durch den Erzähler besonders hervorgehoben wird.²⁰⁹ Dabei zeigt sich insbesondere an dieser Stelle, dass die Bewertung eines Geschehens stets perspektivengebunden ist, denn „was unter dem einen Blickpunkt Verbrechen ist, kann unter dem anderen doch einen höheren Sinn haben.“²¹⁰
prinzip‘ waltet: Obgleich Fee und Christin, macht Melusine gelückes zuoualle verantwortlich für die ‚notwendigen‘ Folgen des Tabubruchs. Demgegenüber bleibt der Umschlag des Glücks aber auch weiterhin an die Providenz rückgekoppelt: In dieser Zeit schlägt notwendig Glück in Jammer um, so kommentiert der Erzähler das eingeführte Augustinus-Exempel“. Vgl. zu diesem Aspekt Haug 1995, 5 f. Das Zufällige und die Gestalt Fortunas brauche es in einem göttlich gelenkten Weltentwurf auch dann nicht, wenn es um die Erklärung solcher Fälle geht, die dem eigentlich angenommenen Tun-Ergehen-Zusammenhang zuwiderlaufen: Nicht nur das Glück des Guten und das Unglück des Schlechten, sondern eben auch das Glück der Schlechten und das Unglück der Guten seien Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit, sofern letzteres als Prüfung des Glaubens bzw. erneute Chance für den Sünder verstanden werde. Dies beschreibe letztlich die Ausgangssituation, von der aus die Fortuna-Vorstellung Kontur gewinnen wird, nämlich „die Ablehnung der antiken Fortuna-Vorstellung aufgrund einer Weltordnung, in der auch das Allergeringste in Gottes Händen liegt. Das Zufällig-Widersinnige beruht nur scheinbar auf Beliebigkeit. Gottes Wege sind zwar unerforschlich, aber es wird ihnen im Prinzip ein pädagogischer Sinn unterstellt, der keinen Zufallsrest übrig lässt.“ (21) Man könnte diese Konstruktion dabei grundsätzlich auch als Reflexion des genauen Verhältnisses von Zufall und Notwendigkeit verstehen, das in der Frühen Neuzeit als „dreigliedrige Relation im Spannungsfeld von Providenz, Kontingenz und freiem Willen“ diskutiert wird (vgl. Friedrich 2011, 128). So widerspricht Melusines Interpretation der Klosterbrandstiftung als Erfüllung des göttlichen Willens die Darstellung des Klosters und die Kritik an Goffroy durch den Erzähler (vgl. zu diesem Aspekt auch Müller 1990, 1075) sowie auch die Hoffnung auf göttliche Vergebung; der Bezug auf ein willkürliches Glück steht im Widerspruch zu der möglichen Änderung des Schicksals, mit der Melusine das Unglück erst einmal abwendet; die Betonung von Reymunds individueller Schuld hingegen korrespondiert der narrativen Inszenierung und den Erzählerkommentaren, sie steht aber nichtsdestoweniger neben jenen anderen Interpretationen und wird durch den abschließenden Hinweis auf die Providenz marginalisiert. Müller 1990, 1037. Nichtsdestoweniger sollte hier zwischen Erzähler- und Figurenperspektive differenziert werden. Vgl. dazu auch Ziep 2006, 250: „Sinnzusammenhänge lassen sich nicht
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Für Reymund scheint der Klosterbrand im Anschluss an die gewonnene Gewissheit der endgültigen Trennung und nach dem Verlust Melusines gleichwohl noch immer keinen höheren Sinn zu ergeben. Obwohl er zunächst ausschließlich die eigene Schuld an dem Geschehen reflektiert, wird ihm in der Folge die zentrale Rolle Goffroys in der Verkettung der Ereignisse zur Gewissheit; in seiner Perspektive bleibt dessen Tat ein Verbrechen und der Auslöser für sein Fehlgehen, er versteht sie auch retrospektiv nicht als Erfüllung des göttlichen Willens.²¹¹ Reymunds folgendes Verhalten – er verurteilt Goffroys erneuten Zornesausbruch, tadelt ihn aber nicht mehr wegen der Klosterbrandstiftung, sondern fordert ihn lediglich auf, die von Melusine prophezeite Wiedererrichtung des Kloster auszuführen²¹² – zeigt, dass er um die Unrevidierbarkeit des bereits Geschehenen weiß²¹³ und künftige (Blut-)Schuld vermeiden möchte, obwohl man von seinem allein aus übergeordneten Deutungsmustern ableiten, sondern müssen / können subjektiv produziert werden und bleiben somit individuelle Interpretationsversuche.“ Neben seiner Trauer, deren Intensität besonders hervorgehoben wird (vgl. 120,10 – 120,22), artikuliert Reymund seine Schuld nicht nur gegenüber Melusine (vgl. 121,9 – 121,10), sondern reflektiert diese auch nach ihrem Verlust (vgl. 125,6 – 125,8). Der anhaltende Kummer Reymunds sowie die erneute Verfluchung der Stunde seiner Geburt verdeutlichen den Grad seiner Reue (vgl. 125,8 – 126,33). Erst nachdem Reymund Goffroy von dem Verlust Melusines unterrichtet hat (vgl. 146,21– 146,24) und dieser sich aufmacht, um den Grafen vom Forst zu töten, scheint Reymund Goffroys Tat wieder zu erinnern: Re:mund was in grossem herczenle:de / dann do er betrachtet das geffro: so ein teUrer ritter worden was das sein geleich kaum leben mocht Do begund in erst reUen das er Melusina verloren hett durch geffro:s willen. vnd bekümert in auch übel das geffro: ein neUe missetat vnderstnd an dem grafen vom vorst seinem prder (147,10 – 147,16). Als göttlich gewirkt versteht Reymund die Klosterbrandstiftung also gerade nicht, als eine kausale Folge seiner Entscheidungen allerdings auch nicht. Obwohl Reymund durch die ritterlichen Taten Goffroys auffenthaltung in seinem grossen kummer (146,17– 146,18) erfährt, verurteilt er dessen geplanten Mord ausdrücklich, auch wenn er dies nicht Goffroy selbst mitzuteilen scheint (vgl. die entsprechenden Stellen 147,14– 147,16; 148,16 – 149,5; 149,17– 149,21). Vielmehr knüpft er an die Bitte Goffroys um Vergebung die Auflage, das Kloster wieder aufzubauen (vgl. 149,20 – 149,21). Diese Aufforderung erscheint mir eine zentrale Rolle für die Bewertung der Goffroy-Figur zu spielen, sofern seine Wiedererrichtung des Klosters in der Forschung als Ausdruck von Reue und damit letztlich als positives Sympathiesteuerungssignal gewertet wurde (so etwa Kellner 2001, 292; Pafenberg 1995, 273). Dass Reymund ihn dazu aber auffordern muss, relativiert diese Annahme doch erheblich. Darüber hinaus wird Goffroys tatsächliche Wiedererrichtung sowohl mit Reue als auch mit der Erinnerung an die Worte seines Vaters begründet, wobei die syntaktische Gestaltung vermuten lässt, das letzteres der eigentliche Impuls ist: Es begund sich geffro: bedencken vnd bes:nnen an mancherle: so er begangen vnd mißtan vnd was im sein herr vnd vater beuolhen hett Besunder vmb das closter vnd goczhauß z Malliers wider z pawen als es vor was Vnd er vieng an vnd bestellete werckleüt (152,6 – 152,10). Dies zeigt sich sehr deutlich in seiner Reaktion auf Goffroys Bitte um Vergebung: Melusina dein mter hab ich verloren der ich leider nit mer bekommen mag. so mag ich auch ir leben nit widerbringen (149,18 – 149,20).
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Wissen um die Rolle seines Bruders in der Kausalkette ausgehen kann²¹⁴. Zudem wird deutlich, dass er nun fähig ist, seine Leidenschaften zu kontrollieren.²¹⁵ Reymunds nachträgliche Deutung der Ereignisse entspricht somit der narrativen Herleitung des Geschehens und mag dabei als alternatives Handlungsmuster zu jenem zuvor problematisierten Umgang mit Kontingenz verstanden werden. Trotzdem bleiben die Widersprüche zu den anderen Deutungen bestehen und die Relation zu Providenz und Glück ungeklärt.²¹⁶ Im Gegensatz zu Reymund fällt Goffroy trotz der Erkenntnis der eigenen Schuldhaftigkeit an dem Unglück seiner Eltern in sein ursprüngliches Handlungsmuster zurück und lässt sich erneut von Zorn regieren.²¹⁷ Er begreift dabei allerdings, dass das seine Eltern ereilende Schicksal das Ergebnis einer Verkettung einzelner, einander bedingender und jeweils individuell verantworteter Er-
So ließe sich zumindest sein Kummer über Goffroys Tat und deren Bewertung als grosse missetat (149,2– 149,3) deuten. Dass er um die Relevanz der Verleumdungen seines Bruders für den Fortgang des Geschehens weiß, zeigt seine dortige zornige Reaktion sowie die explizite Schuldigsprechung seines Bruders für sein Vergehen an Melusine. Diese Annahme lässt sich aus den auch hier beschriebenen Gemütsbewegungen ableiten: Während es unmittelbar vor dem zweiten Tabubruch noch heißt vnd er was so in grossem vnmt vnd zoren damit er erwarbe se:n grosses herczenleit (113,14– 113,17), reagiert er auf Goffroys Mord am Grafen zwar auch mit grossem vnmt (148,18), aber gerade nicht mit Zorn: Denn Reymund ist in grossem vnmt vnd von ganczem herczen ser betrbet (148,18 – 149,1). Hatte Goffroys Zorn zuvor den Zorn Reymunds provoziert, führt Goffroys wiederholter Zorn (148,7– 148,8) diesmal zu herczenle:de (147,11). Hier ließe sich womöglich jene von Seneca, De ira, 74, II,2,1, beschriebene, aber an dieser Stelle gerade nicht vollzogene Einwilligung der Seele in den Affekt nachvollziehen: Der äußere Impuls lässt sich nicht vermeiden, Reymund ist in vnmt ob Goffroys Tat, er gibt dieser Leidenschaft aber nicht nach. Das Verhältnis von Reymunds Deutung zum verschiedentlich aufgerufenen providentiellen Horizont oder zu der von ihm schon einmal selbst angeklagten willkürlichen Glücksinstanz bleibt unbestimmt. Obwohl Goffroy seine Schuld an den Ereignissen einsieht (Goffroy verstnd dabe: das die sach vnd verlust ergangen was alleyn von seiner missetat wegen so er an den münchen vnd an dem closter z Malliers begangen hette [146,25 – 146,27]), beschließt er in der Folge, auch den Grafen zur Verantwortung zu ziehen. Dabei ähnelt sein Vorgehen demjenigen bei der Klosterbrandstiftung, denn auch an dieser Stelle folgt auf die Erkenntnis über die Schuld des Grafen (vgl. 147,3 – 147,5) die Artikulation des geplanten Vorgehens (Vnd schwr einen teUren hohen e:d der grafe vom vorst mst darumb sterben [147,6 – 147,7]), das in der Folge dann in Handlung umgesetzt wird (vgl. 147,17– 148,11). Auch wenn in der Schilderung dieses Mordes der Zorn keine derart prominente Rolle spielt, erläutert der Erzähler die Flucht der Diener erneut mit Goffroys zornigem Wesen (vgl. 148,8). Vgl. zur Ähnlichkeit der Szenen auch Schnyder 2006b, 38. Vgl. zur Deutung dieser Szene auch Speth 2012, 352 f., der Parallelen zum Jagdgeschehen skizziert.
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eignisse ist.²¹⁸ Als göttliches Werkzeug versteht er sich an dieser Stelle – im Gegensatz zu seiner sonstigen Selbstwahrnehmung – explizit nicht, so dass Melusines Deutung des Geschehens und der vom Erzähler (zumindest potentiell) aufgerufene providentielle Horizont relativiert werden.²¹⁹ Auch macht er kein willkürliches Glück für das Vorgefallene verantwortlich, sondern erkennt die eigene Schuld, auch wenn er diese nicht als ursächliche bewertet. Indem er seine schuldhafte Rolle in diesem Ereigniszusammenhang realisiert, den Grafen vom Forst aber dennoch tötet, zeigt er, dass je nachdem, wo man den Beginn des verhängnisvollen Geschehens setzt, Schuld und Verantwortung je anders beurteilt werden.²²⁰ In dem Wissen um die Vorgeschichte Melusines sieht Goffroy das zentrale Moment in der Ereigniskette in der Ermöglichung zum Tabubruch und damit in Reymunds heimlicher Beobachtung, die wiederum durch den Grafen initiiert wurde, nicht aber in dem eigentlichen Auslöser der öffentlichen Anklage, seiner Tat.²²¹ Dass dieses Wissen um die familiäre Vorgeschichte²²² ihn einerseits
Aus diesem Grund steht die Erkenntnis der eigenen Verantwortung für das Geschehen auch nicht im Widerspruch zur Beschuldigung des Onkels: Dieser hat Reymunds ersten Tabubruch tatsächlich bewirkt und weiß um seine diesbezügliche Schuld (vgl. 147,26 – 147,27). Beide Figuren haben Anteil an dem Zustandekommen jener Situation, die Reymund dann letztlich aktiv zur Katastrophe führt. Laut Drittenbass 2011a, 127, führe Goffroy das Unglück allein auf sein Verbrechen zurück, die Tötung des Onkles versteht sie deshalb als „impulsiven Rachezug“. In Melusines Interpretation des Klosterbrands ist Goffroy göttliches Werkzeug, das die Mönche für ihr sündhaftes Leben bestraft. Dass Goffroy sich selbst an anderer Stelle durchaus als ein ebensolches versteht und sich als Erlöser und Vollstrecker des göttlichen Willens im Kampf gegen Ungläubige geriert (vgl. 143,10 – 143,14), pointiert an dieser Stelle, dass er hier gerade nicht als solches handelt. Mit dem Mord am Grafen erfüllt Goffroy – ohne dass ihm dies bewusst wäre – allerdings Melusines Willen, denn er schafft auf diese Weise die Bedingung für die von ihr gewünschte Herrschaftsaufteilung der Söhne. Indem er den Sohn Reymund zum Grafen vom Forst macht (und dies unmittelbar nach dem Mord, vgl. 148,13 – 148,15), realisiert er die Anweisung Melusines, die sie Reymund kurz vor ihrem Verschwinden aufgetragen hatte: Aber deines suns re:mundes wllest nit vergessen / dann der selb sl graf im vorst werden an deines prder stat (121,14– 121,16). Ob Melusine mit dieser Anweisung die Tötung des Grafen intendiert oder ob es sich hier schlicht um gewöhnliche Herrschaftspolitik handelt, lässt die Erzählung offen. Dass er die Ermöglichung des Tabubruchs derart bewertet, zeigt sich daran, dass er seine eigene Schuldhaftigkeit an der Verkettung der Ereignisse auch nach dem Mord nicht negiert, diesen sogar als Teil der eigenen Schuld anerkennt: fr dem viel er n:der auf ein knie vnd pat vmb genad aller missetat / vnd bekante das durch in sein vater Melusina sein gemahel auch Fra:mund seinen sun. Auch seinen prder den grafen im vorst verloren hett (149,13 – 149,17). Auch wird er seine Verantwortung für das Verderben der Mönche gegenüber dem Papst einräumen (vgl. 154,29 – 154,30).
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befähigt, seine und die Taten anderer im Rahmen der Ereignisse zu deuten, darf also nicht darüber hinwegtäuschen, dass er andererseits aus der Familiengeschichte die zentrale Erkenntnis gerade nicht gewonnen hat: Zorn gebärt Zorn.²²³ Verfolgte er also die Verkettung der Ereignisse bis zu ihrem eigentlichen Anfang zurück, müsste er nicht nur erkennen, dass Zorn kein probates Handlungsmittel ist, sondern auch verstehen, dass die ‚Ur‘-Schuld letztlich Melusine selbst trägt.²²⁴ In der skizzierten Verkettung der Ereignisse, die zu der endgültigen Trennung von Reymund und Melusine und zu ihrer verwehrten Erlösung führt, manifestiert sich damit nicht zuletzt die grundsätzliche Variabilität von Beurteilungskriterien, die Abhängigkeit individueller Deutungsmuster von eingenommenen Perspektiven sowie die mit der subjektiven Produktion von Sinnzusammenhängen einhergehende Gefahr vorschneller Urteilsbildung. Indem die Erzählung eine Vielzahl an potentiellen Deutungen für ein Geschehen konstruiert, zeigt sich, dass „[e]insinnige Erklärungs- und Wertungsmuster […] brüchig [werden] zugunsten der Erfahrung von Doppelbödigkeit.“²²⁵ Der Erzähler generiert eine kausale Handlungsstruktur, die menschliche Verantwortung als Motor des Geschehens ausweist, die aber im Gegensatz zum finalen Erzählschema steht und auch dem durch jene exemplarische Sentenz suggerierten providentiellen Horizont widerspricht, der sowohl aufgrund seines unbestimmten Status – erscheint Providenz als Kontingenz oder Kontingenz als Providenz? – als auch wegen seines unbe-
Auf die zahlreichen Überlegungen zur Entdeckung der Familiengeschichte, die Rolle dieser Szene als mise en abyme sowie ihre Relevanz für das Stiften von Familiengeschichte und Erinnerung wird im Folgenden eingegangen. Die Ursache für die Verfluchung Melusines durch ihre Mutter wird Goffroy anhand der Schrifttafel mitgeteilt: Es ist Melusines Zorn (vgl. 139,10 – 139,13), der sie und ihre Schwestern dazu bringt, Rache an ihrem Vater für dessen Vergehen an der Mutter zu üben. Dass ihr dies zum Unglück geraten ist, müsste Goffroy nicht nur verstehen, sondern auch auf sich selbst beziehen. Dass er dies aber gerade nicht tut und das Gelesene nicht reflektiert, macht der Text mit dem Verweis auf seine eigentliche Intention, nämlich den Riesen zu finden, sehr deutlich (vgl. 141,9 – 141,10). Auch Ziep 2006, 260, Anm. 118, betont, dass das Wissen um seine Vorgeschichte Goffroy keinen Erkenntniswert bezüglich seines eigenen Handelns liefere. Vgl. Toepfer 2015, 309 f. Durch die rationale Herleitung der auf den drei Schwestern lastenden Flüche stellt sich auch das Motiv ‚gestörte Martenehe‘ als selbst verursachter Schicksalsschlag dar; das auf histoire-Ebene dominante Erzählschema ist somit gewissermaßen Resultat einer auf discours-Ebene inszenierten Affekthandlung. Verfolgte man die kausale Ereigniskette, die zum endgültigen Unglück führt, zurück, müsste man den Ursprung wohl bei Melusine selbst sehen: Auch „Melusine ist letztlich für ihr Unglück selbst verantwortlich. Weil sie sich einst vom Affekt des Zornes hinreißen ließ, ist sie überhaupt auf die Loyalität Reymunds angewiesen, um Erlösung finden zu können.“ Auf diese Weise wird „das Motiv der gestörten Martenehe über die Vorgeschichte zurück an den Affekt des Zorns gebunden.“ Mühlherr 1993, 26.
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stimmten Verhältnisses zum erzählten Kontext – Ende des irdischen Glücks oder bereits Zeichen der Verdammnis? – als solcher bereits ambivalent ist. Zugleich werden verschiedene Figurenstandpunkte präsentiert, die das Geschehen nicht nur subjektiv und zum Teil in sich widersprüchlich deuten, sondern die sich darüber hinaus nicht bruchlos mit anderen Elementen der narrativen Darstellung vermitteln lassen. Auf höchst komplexe Weise wird also ein Geschehen inszeniert, „das im Schnittpunkt von persönlichen Antrieben und politischen Interessen, von individueller Verantwortung und kollektivem Zwang, von göttlicher Fügung, dumpfer Fatalität und persönlicher Entscheidung seinen verhängnisvollen Fortgang nimmt.“²²⁶ Die derart inszenierte Ambivalenz steht dabei nicht im Widerspruch zur Gesamtkohärenz der Handlung,²²⁷ sondern generiert eine polyvalente Bedeutungsstruktur, die als solche sinnstiftend ist: Im Rahmen einer solchen narrativen Konstruktion wird nicht nur über die Imponderabilität des Daseins, die Relevanz individueller Verantwortung oder die in diesem Kontext zentrale Rolle von Providenz und Kontingenz reflektiert, sondern es werden auch die Bedingungen von Erkennen und Verstehen sowie die Relativität von Beurteilungskriterien und ihre perspektivische Abhängigkeit diskutiert. Diese programmatische Inszenierung von Konträrem, die intentionale Komplexitätssteigerung und Vervielfältigung von Deutungsangeboten²²⁸ zeigt somit sehr pointiert, dass Vieldeutigkeit, Polyvalenz und Offenheit nicht ausschließlich Kennzeichen der modernen Literatur und Kunst sind.²²⁹ Auch bei Thüring findet sich somit jenes „absichtliche[] Spiel[] mit
Müller 1990, 1037. Man könnte dieses Verhältnis von Ambivalenz und Kohärenz hier mit der von Quintilian, Institutio oratoria, IV,2,64– 65, skizzierten, allerdings verurteilten Verdunklung der Wahrheit beschreiben, die er im Rahmen seiner Ausführungen zur Anschaulichkeit der Erzählung diskutiert: quam quidam etiam contrariam interim putaverunt, quia in quibusdam causis obscuranda veritas esset. quod est ridiculum; nam qui obscurare vult, narrat falsa pro veris et in his, qua narrat, debet laborare, ut videantur quam evidentissima. Selbst dunkles Erzählen bedient sich also Verfahren der Veranschaulichung – ambivalentes Erzählen bedient sich solcher der Kohärenzerzeugung. Eine andere Bewertung von ‚narrativer Ambiguität‘ im frühneuhochdeutschen Prosaroman, hier im Faustbuch, vertritt Münkler 2016. Sie beurteilt narrative Ambiguität als kontraintentional, versteht diese aber insgesamt als eines der „Grundcharakteristika des Erzählens“ (155 f.). Obwohl Ambiguitäten also narrationsspezifisch seien, stellt programmatische Ambiguität für sie ein Spezifikum der Moderne dar, vormodernes sei im Unterschied zu modernem Erzählen gerade nicht programmatisch ambig (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 2.3). Wie dies entsprechend des äshetischen Forschungsparadigmas gemeinhin angenommen wird (vgl. Auge und Witthöft 2016, 1; Meier 2016, 49 f.; Münkler 2011, 116). Dies lässt sich in diesem Kontext nicht zuletzt mit Blick auf die Reflexionen Anselms und Arnulfs erhärten, sofern sie die Inszenierung von Mehrdeutigkeit und die Pluralität von Erklärungsansätzen und Ursachen als
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der ambiguitas“²³⁰, wie es Quintilian beschrieben hat,²³¹ das hier zwar durchaus als Reflexion von Erfahrungswirklichkeit verstanden werden kann, das in seiner narrativen Komplexität aber vor allem Ausdruck einer genuinen Literarizität ist. Ein abschließender Blick auf die Konstruktion der Protagonistin und die Inszenierung ihrer ‚Geschichte‘ soll zeigen, dass sich das Spiel mit der Ambivalenz nicht auf die Darstellung der Handlung beschränkt, sondern auch die Figurengestaltung betrifft. Die spezifische Konzeption der Melusine-Figur veranlasst zu der Annahme, dass diese paradigmatisch für das ambivalente Erzählen steht.
4.2 Melusine – Ambivalenz als poetisches Programm Die Ambivalenz der Melusine-Figur wurde in der Forschung verschiedentlich konstatiert. Im Anschluss an die lateinische, theologisch-naturkundliche Stofftradition, der eine recht eindeutige Funktionalisierung der Figur im Rahmen der christlichen Dämonologie unterstellt wurde,²³² findet sich bei den spätmittelal-
Spezifikum der Dichtung bestimmen – und eben nicht eindeutige Verifikation oder Falsifikation (vgl. Schneider 2013, 165). Lausberg 2008, 514, §1070. Vgl. zur Zweideutigkeit insgesamt, insbesondere hinsichtlich Terminologie, Syntax und Grammatik sowie deren Vermeidung, Quintilian, Institutio oratoria, VII,9,1– 15. Die Erörterung absichtlicher Zweideutigkeit findet sich im Rahmen seiner Ausführungen zum Lachen, dem Witz und den Übergängen zum Rätsel, so dass diese Formen intendierter Ambiguität natürlich von der hier bestimmten Form von Ambivalenz bzw. Ambiguität zu differenzieren sind (vgl. VI,3,47– 53); nichtsdestoweniger wird die Intentionalität und der Konstruktionscharakter von amphibolia (vgl. VI,3,47) deutlich. Zur Funktionalisierung der Erzählungen der lateinischen Tradition im Rahmen der christlichen Dämonologie vgl. Kellner 2001, 276 f. So wird etwa in Walter Maps De nugis curialium und hier in der Erzählung von Henno cum dentibus die Protagonistin, die das Misstrauen ihrer Schwiegermutter aufgrund ihrer Vermeidung religiöser Rituale weckt, als Dämon entlarvt und mithilfe eines Priesters vertrieben; der Erzähler bewerte die sich ebenfalls in eine Schlange verwandelnde Figur eindeutig negativ, nämlich als pessima creatura (vgl. Müller 1990, 1023; vgl. Kellner 2001, 277; vgl. für eine ausführliche Analyse der Map’schen Erzählung im Vergleich zur Fassung Thürings Schnyder 2011). Auch in der Otia imperialia des Gervasius von Tilbury finden sich verwandte Erzählungen: So beispielsweise die von Raymund, dem seine anderweltliche Geliebte das Verbot erteilt, sie nackt zu sehen, welches er bricht, und sie daraufhin verliert. Zwar zeigen sich hier einige deutliche Parallelen zu den volkssprachigen Versionen, es findet sich aber noch keine explizite Anbindung an das Haus Lusignan (vgl. Müller 1990, 1024; vgl. Mühlherr 1993, 16 f.). Eine weitere Erzählung handelt von der Frau des Burgherrn von Esperver, die sich – gewaltsam in der Kirche festgehalten – öffentlich verwandelt und auf diese Weise als Dämon entlarvt wird (vgl. Müller 1990, 1024; Kellner 2001, 277). Mit eher naturkundlicher Ausrichtung diskutiert Vincenz von Beauvais die Verbindung eines Menschen mit einer anderweltlichen
4.2 Melusine – Ambivalenz als poetisches Programm
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terlichen französischen Fassungen von d’Arras und Coudrette sowie in der deutschen Version Thürings eine deutliche Entschärfung der dämonischen Attribute der nun als Ahnfrau fungierenden Protagonistin. Mit dieser Akzentuierung genealogischer Aspekte sowie dem nun auch historiographischen Erzählanspruch ist somit zwar eine veränderte Darstellung der Hauptfigur einhergegangen, ihre Inszenierung ist aber auch in diesen Fassungen zutiefst widersprüchlich. Kellner hat diese Doppelwertigkeit der Figur vor dem Horizont der genealogischdynastischen Erzählperspektive auf die Ambivalenz des Dämonischen zurückgeführt, das zwar einem komplexen Prozess der Umwertung unterzogen, über weite Passagen in die Normalität adliger Herrschaft überführt und auf diese Weise integriert werde, sich aber letztlich nicht domestizieren lasse.²³³ In Auseinandersetzung mit dem genealogischen Erzählmuster wurde dabei vermehrt auch auf die Ambivalenz und besondere Inszenierung des Ursprungsgeschehens in der Erzählung, auf die Verdopplung und Verschiebung des Tabus, die ungeklärte Frage nach der Herkunft und die scheinbare Rationalisierung des mythischen Geschehens aufmerksam gemacht.²³⁴ Neben diesem bereits ambivalenten Ursprung der Figur ist aber auch ihre widersprüchliche Inszenierung als solche in den Blick geraten. So hat etwa Müller darauf aufmerksam gemacht, dass neben Coudrette vor allem auch Thüring die Manifestationen des Wunderbaren zurückzudrängen, die dämonischen Züge zu tilgen versucht habe, jedoch ohne Erfolg: Es bleibe „ein unbewältigter Rest“, eine tiefe Ambivalenz, die sich nicht zuletzt in der „widersprüchliche[n] Inszenierung“²³⁵ Melusines zeige. Auch wurde auf die Gleichzeitigkeit von Dämonisierung und Idealisierung, auf die „konträren Deutungsmöglichkeiten der tabuisierten Schlangenfrau“²³⁶, auf die „Mischgestaltigkeit der Fee“ ²³⁷ und ihre, auch andere Figuren kennzeichnenden moralischen Ambivalenzen²³⁸ hingewiesen.²³⁹ Nach Drittenbass sei diese „ambivalente
Geliebten und hier insbesondere Fragen nach der Zeugungsfähigkeit von Dämonen (vgl. Kellner 2001, 279 f.). Die erste Anbindung der Sage an das Haus Lusignan findet sich dann in Petrus Berchorius Reductorium morale (vgl. Müller 1990, 1025; Mühlherr 1993, 18; Kellner 2001, 281). Vgl. Kellner 2001, 294. Das Dämonische manifestiere sich dabei latent in den Körperzeichen Melusines und ihrer Kinder. Es sei somit vor allem dessen Ambivalenz, „die sich in besonderer Weise eignet, den genealogischen Ursprung einer Dynastie in der Literatur zu inszenieren: Das Dämonische soll einerseits den adligen Machtanspruch legitimieren, während es andererseits in den Strukturen von Gewalt und Schuld, die sich vom Ursprung her verketten, gerade auf die Legitimitätsdefizite einer genealogisch begründeten Macht verweist.“ Vgl. Kiening 2005b, 11, 20, 25; vgl. Raumann 2010, 187. Müller 1990, 1039. Mühlherr 1993, 45. Schulz 2004, 258. Vgl. Schulz 2004, 258.
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Natur Melusines“²⁴⁰ dabei nicht nur eines der zentralen Themen des Romans, sondern habe auch maßgeblich zu dessen Erfolg beigetragen. Genähert hat man sich dieser Ambivalenz der Figur dabei aus verschiedenen Perspektiven: Während etwa Mühlherr in einer präzisen Analyse der Erzählung gezeigt hat, dass im Roman zwei konträre Deutungsmöglichkeiten für die Figur aktiviert werden, sie somit stets „feenhaft-andersweltliche Glücksbringerin und obskure Gestalt“²⁴¹ sei, haben die erwähnten Studien von Drittenbass über die zeitliche Organisation der Erzählung und die Gestaltung der Redeszenen zentrale narrative Verfahrensweisen identifiziert, die der Ambiguisierung der Protagonistin dienen.²⁴² Auch die Überlegungen Dimpels zu Sympathiesteuerungsverfahren haben solche Aspekte der narrativen Gestaltung erhellt, die für die Inszenierung der Ambivalenz der Figur eingesetzt werden.²⁴³ Als Ergebnis einer spezifischen Perspektivenstruktur des Textes wertet hingegen Schausten die Ambivalenz der Figur: Über die Inszenierung wechselnder Beobachterperspektiven und -positionen auf Melusine konstruiere die Erzählung sie als „Auslegungsobjekt“²⁴⁴ anderer Figuren, deren oszillierende Perspektivierungen nicht nur ihren Status, sondern auch den Fortgang des Geschehens bestimmten. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden die narrative Inszenierung der Melusine-Figur und der ihr inhärenten Ambivalenz systematisch in den Blick geraten. Dabei werden sowohl die narrativen Strategien beleuchtet, die eine Ambiguisierung der Figur bewirken, als auch das poetologische Potential dieser spezifischen Form ambivalenten Erzählens diskutiert.
Darüber hinaus wurde sie als „Zwitterwesen aus Gespenst und Schutzpatronin“ (Dumiche 2010, 217) und als „gefallene[r] Engel[]“ (215) gedeutet, der „das Wissen um die Ambivalenz des Menschen“ (216) verkörpere, oder als „Doppelwesen im doppelten Sinne“ (Pafenberg 1995, 271) verstanden: „Sie ist sowohl Gespenst als auch Mensch, und als letzteres ist sie sowohl gut als auch böse.“ Vgl. Drittenbass 2009, 82. Mühlherr 1993, 45. Vgl. Drittenbass 2009. Dabei hat sie in der Untersuchung des ersten Dialogs zwischen Reymund und Melusine gezeigt, dass sich die Ambivalenz der Melusine bereits in einer spezifischen, für diese Figur typischen Rhetorik manifestiert (vgl. 64). Auf diese Weise werde der erste Dialog „zu einem Zeichen dessen […], was der Roman im Großen beinhaltet“ (65) und übernehme somit „Zeichenfunktion für den ganzen Roman“ (82). Vgl. Dimpel 2014. So werde über die Gleichzeitigkeit von positiven und negativen Verfahren der Sympathiesteuerung eine disparate Evaluationsstruktur generiert, wobei eine „eindeutige Gewichtung“ (233) der Verfahren nicht stattfinde. So fänden sich neben ordo-Verstößen, Verheimlichungen, Betrug und List auf der einen Seite, Hilfsbereitschaft, kluges Handeln und Bewältigung von Schwierigkeiten auf der anderen (vgl. 214 ff.). Vgl. Schausten 2006, 166, 180.
4.2 Melusine – Ambivalenz als poetisches Programm
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4.2.1 Die narrative Konstruktion der Melusine-Figur DAs abenteürlich bch bewe:set vns von einer frawen genandt Melusina / die do ein merfa:m vnd darz ein geborne künigin / vnd auß dem berg Awalon kommen ist (11,1– 11,3) – bereits die erste Nennung der Protagonistin in Erzählerrede, die als Exposition des Romans fungiert, zielt auf die Doppelwertigkeit der Figur, werden doch schon hier die beiden zentralen, sie konstituierenden Elemente genannt: Sie ist sowohl anderweltliches Wesen, ein merfa:m mit mythischem Ursprung (berg Awalon), als auch weltliche Dame und Herrscherin. Zugleich wird der Rezipient bereits an dieser Stelle mit ihrem Gestaltwandel konfrontiert, der hier zunächst allerdings mit ihrem gespenstischen Wesen begründet,²⁴⁵ im Anschluss dann als göttliches Wunder gedeutet²⁴⁶ und schließlich auf beide Instanzen zurückgeführt wird: Vnd wie das se: das ir wandel sich ettwas einem fast grossen gottes wunder oder gespenst geleichet (12,6 – 12,8).²⁴⁷ Diese auf Melusines Gestaltwandel fokussierenden Äußerungen des Erzählers werden dabei von solchen Hinweisen flankiert, die eine Normalisierung der Figur zu intendieren scheinen: Zwar verwandele sie sich samstäglich (vgl. 11,5), nichtsdestoweniger sei aus ihr ein großes Geschlecht entstanden (vgl. 11,7), habe sie doch trotzdem natürliche vnd eeliche kinder gelassen (12,8), die alle mächtige Könige, Fürsten und Ritter gewesen seien (vgl. 12,9 – 12,11).²⁴⁸ Die Existenz dieser zwar anderweltlichen, aber in ihrer Rolle als Ahnfrau eines mächtigen Hauses auch menschlichen Figur wird dabei erneut mit dem Verweis auf Gott legitimiert: Got ist wunderlich in seinen wercken Das bewe:set sich gar eýgenlich an diser fremden figur vnd h:stor:en (12,17– 12,19). Schon der Prolog folgt somit einer recht offensichtlichen Ambiguisierungsstrategie, sofern zum einen die Doppelwertigkeit der Figur – anderweltliches
Vnd ward dise Merfa:m alle samstag von dem nabel hin vnder ein grosser langer würm / dann s: ein halbe gespenste was (11,4– 11,6). Pafenberg 1995, 267, hat darauf hingewiesen, dass der Terminus ‚Gespenst‘ bei Thüring weniger ein eindeutig Böses bezeichne bzw. eine explizit moralische Dimension besitze, sondern lediglich für ‚nicht menschlich‘ stehe. das s: nit nach ganczer menschlicher natur ein weýb gewesen ist / sunder s: hat von gottes wunder ein andere gar fremde vnd selczame außze:chnung gehebt (12,3 – 12,6). Zwar wird im Rahmen des Prologs auch über Presine informiert – auch sie, wie Melusine, sei merfe:in vnd doch ein künigin gewesen (12,21– 12,22) –, ihre zentrale Rolle als Urheberin des melusinischen Tabus, als die sie die Erzählung später inszenieren wird, wird allerdings hier nicht konkretisiert. Auch Müller 1990, 1044, wertet den Verweis auf die Nachkommenschaft als „Beweis gegen Melusines dämonische Natur.“
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Wesen und Ahnfrau – besonders akzentuiert wird,²⁴⁹ zum anderen aber die Ursache ihres übernatürlichen Wesens aufgrund einer, auch in diesem Kontext somit höchst relevanten, Pluralisierung verantwortlicher Instanzen nicht erklärt wird. Die Bezugnahmen auf Gott und die für den Menschen konstatierte Unbegreiflichkeit seines Wirkens etablieren zwar einen providentiellen Horizont, werden aber nichtsdestoweniger durch solche Erzähleräußerungen konterkariert, die auf das Gespenstische der Figur und ihres Gestaltwandels zielen, vor allem dann, wenn beide Aspekte zur Erklärung herangezogen werden und als fakultativ erscheinen: gottes wunder oder gespenst. Diese im Prolog inszenierte Unbestimmtheit der Figur zwischen göttlichem und gespenstischem Status hat dabei gewissermaßen programmatischen Charakter, sofern die Darstellung und Wahrnehmung Melusines in der gesamten Erzählung zwischen diesen beiden Polen changiert. Markant zeigt sich diese Doppelwertigkeit der Figur bereits bei der ersten Begegnung zwischen Reymund und Melusine. Von besonderer Relevanz ist diese Szene dabei nicht nur aufgrund ihrer zentralen handlungsstrukturellen Funktion – sie markiert den Anfang der Herrschafts- und Familiengeschichte der Lusignans –, sondern auch wegen der hier dezidiert ausgestellten ambivalenten Natur Melusines. Die zentrale Rolle dieser Passage wird dabei auch auf discoursEbene angezeigt: Der sonst überaus präsente Erzähler, der in Form von Reflexionen, Kommentaren, Vor- und Rückblenden als die Handlung gliedernde Instanz erscheint, tritt hier für eine längere Sequenz in den Hintergrund und überlässt den Figuren das Wort.²⁵⁰ Darüber hinaus verdichten sich in dieser Szene solche narrativen Verfahren, die der Ambiguisierung der Melusine-Figur dienen. Da diese Erzähltechniken in der gesamten Erzählung – wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung – eingesetzt werden, sollen sie an dieser Stelle kurz beschrieben und erst im Anschluss in der genannten Szene nachgewiesen und analysiert werden. Die bereits für den Prolog konstatierte Unbestimmtheit der Figur resultiert an anderen Stellen der Erzählung unter anderem aus einer spezifischen evaluativen Struktur, in der sich explizite und implizite Wertungen zum Teil nicht bruchlos miteinander vermitteln lassen und auf diese Weise Widersprüche zwischen der explizit vorgenommenen Bewertung der Figur durch den Erzähler und den Beurteilungen Melusines aus der Perspektive anderer Figuren sowie zwischen ihrer Selbstinszenierung und ihren Handlungen generieren. Während die Melusine Diese Doppelwertigkeit wird insbesondere auch durch die hier betonte zeitliche Dimension hervorgehoben: vnd das ist von einer frawn genannt Melusina / die ein merfeýin gewesen vnd noch ist (12,2– 12,3). Vgl. zu diesem Aspekt auch Schnyder 2006b, 4. Vgl. Drittenbass 2010, 65 f.
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betreffenden und wertenden Erzählerkommentare meist positiv sind und ihre Selbstdarstellung häufig auf einen göttlichen Horizont fokussiert, halten die Beurteilungen der anderen Figuren, die nicht selten ebenfalls den Aspekt des Gespenstischen betonen, sowie Melusines zum Teil dubios anmutende Handlungen jene anderweltlichen, gerade nicht gänzlich integrierbaren Elemente präsent. Diese disparate Wertungsstruktur offenbart sich dabei insbesondere in solchen Szenen als Ambivalenz erzeugendes Erzählverfahren, in denen die Diskrepanz zwischen der Selbstdarstellung der Figur bzw. ihren offensichtlich präsenten Wesensmerkmalen und ihrer Wahrnehmung durch andere Figuren explizit herausgestellt wird. Im Rahmen dieser charakteristischen Wertungsstruktur wird auch die zeitliche Organisation der Erzählung für eine Ambiguisierung der Figur funktionalisiert, sofern der Erzähler über verschiedentlich inserierte Prolepsen, die in der Regel Reymunds Tabubrüche und eine Vorausschau auf ihr unglückliches Ende beinhalten, zwar das Reymund auferlegte Verbot und somit ihr Tabu präsent halten, dabei aber dessen Fehlgehen und den Bruch seines Gelübdes akzentuieren. Retrospektiv zeigt sich also, dass stets Melusines scheiternde Erlösung und nicht das sie umgebende Tabu im Zentrum der Prolepsen steht, jenem christlichen Horizont somit in der Erzählerrede besonderes Gewicht beigemessen wird. Erst mit einer auflösenden Analepse wird hingegen die Frage nach ihrer Herkunft thematisch. Durch diese am Ende nachgereichte Exposition wird der unbestimmte Status der Figur während der ganzen Erzählung aufrechterhalten, wird der Rezipient schließlich erst hier über die (vermeintliche) Ursache ihrer samstäglichen Verwandlung informiert.²⁵¹ Eine weitere narrative Ursache der Ambivalenz Melusines liegt in der besonderen Perspektivenstruktur des Textes begründet. So inszeniert der Roman, wie Schausten gezeigt hat, den Status der Figur in Abhängigkeit von den jeweils auf sie eingenommenen Perspektiven, deren Bewertungen jeweils den Fortgang des Geschehens sowie auch das Handeln Melusines bestimmen. Dabei unterscheiden sich die jeweiligen Beobachterpositionen und Urteile dezidiert: Während sich Reymunds Wahrnehmung größtenteils „durch ein Wegsehen und Übersehen des geheimnisvollen Anteils der ihm begegnenden Gestalt aus[zeichnet]“²⁵² und so die Verbindung der beiden wie auch die Gründung eines Geschlechts überhaupt erst ermöglicht, ist die Perspektive der Gesellschaft von einer Drittenbass 2011a, 157, hat darauf hingewiesen, dass keine der zahlreichen Prolepsen die Entdeckung der Familiengeschichte durch Goffroy oder Melusines Herkunft erwähne, sondern sie stets Reymunds Treuebruch fokussierten: „[N]ie aber wird der Schlangenschwanz der Fee und die damit verbundene Geschichte erwähnt.“ Schausten 2006, 165.
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aus einem Hinsehen resultierenden Skepsis gegenüber Melusine und Reymunds plötzlichem Glück geprägt: Mit diesen oszillierenden Perspektivierungen, die der Text aus der Sicht der anderen Figuren auf Melusine produziert, indem diese einerseits durchaus ihre Herrschaft bewundernd anerkennen, gleichzeitig andererseits aber ihre ungeklärte Herkunft als Zeichen ihrer Unergründlichkeit ‚lesen‘, entwirft der Text die Melusinenfigur als Auslegungsobjekt anderer: Damit verändert sich ihr Status in der erzählten Welt auch für die hier mit konstruierten impliziten Leser je nach dem, von welchem Beobachterstandort aus sie und bestimmte Aspekte ihrer Herrschaft im wahrsten Sinne des Wortes in den Blick geraten. […] Dabei ist die Struktur des gesamten Romans […] markiert durch die Lesarten, die Melusine und ihren Söhnen aus Erzähler- und Figurenperspektive zuteil werden.²⁵³
Indem Melusine also als Auslegungsobjekt anderer Figuren konstruiert ist, ist ihr Status in der erzählten Welt von den verschiedenen, perspektivisch gebundenen Urteilen abhängig und somit an keiner Stelle eindeutig zu bestimmen. Mit dieser Perspektivenstruktur geht dabei eine spezifische Technik der Innenwelt-und Bewusstseinsdarstellung einher, in deren Rahmen Melusine nicht nur zum Gegenstand der Wahrnehmungen anderer Figuren wird, sondern selbst an keiner Stelle einer umfassenden Innensicht zugänglich ist: Der Erzähler präsentiert zwar die Innenwelten verschiedener Figuren, so etwa Reymunds, seiner Söhne und seiner Verwandtschaft, ²⁵⁴ Melusine allerdings unterliegt einer – bis auf wenige Ausnahmen²⁵⁵ – konstanten Innensichtrestriktion. Somit erscheint sie nicht nur als Auslegungsobjekt anderer Figuren, sondern zugleich ist ihre Innenwelt für den Rezipienten an keiner Stelle transparent. Durch dieses Verfahren wird ihr Status ganz offensichtlich in der Schwebe gehalten, sofern der Rezipient keinen Einblick in ihre Motive, Emotionen und vor allem Intentionen erhält und somit in der Bewertung auf die Perspektiven der anderen Figuren angewiesen ist, die wie-
Schausten 2006, 166. Die Erzählung kann mit Hübner 2003, 33, grundsätzlich als fokalisierte Erzählung mit auktorialer Stimme bezeichnet werden. In Bezug auf den höfischen Roman hat Hübner ein solches Erzählmuster, das innerhalb eines auktorialen Rahmens Fokalisierungstechniken einsetzt, recht prägnant beschrieben: „Der höfische Roman fokalisiert die Erzählung und läßt den Erzähler trotzdem dazwischenreden.“ (69) Fludernik 2006, 109, bezeichnet die Existenz eines auktorialen Erzählers bei gleichzeitig genutzter Figurenperspektive hingegen als „auktorial-personales Kontinuum“. An nur zwei Stellen erhält man eine Innensicht in die Figur. Im ersten Fall handelt es sich um erzählte Wahrnehmung, bei ihrer ersten Begegnung sieht sie Reymund (Also sach die junckfraw wol das er ttlich gestalt was vor leid vnd von schrecken / vnd das er sich entfarbte on vnderlaß [23,1– 23,3]); im zweiten Fall um eine Gefühlsdarstellung, die nach seiner öffentlichen Anklage präsentiert wird: do erschrack s: außdermassen ser von grund ires ganczen herczen (115,16 – 115,17).
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derum in ihrer Ambivalenz – Skepsis und Hinsehen auf der einen, Akzeptanz und Wegsehen auf der anderen Seite – diejenige der Figur gezielt ausstellen. Dieses Verfahren hat folglich in der Melusine – stärker noch als im Fortunatus – den Effekt, „[…] daß nicht erzählt wird, wie der Held die Welt erlebt, sondern wie die Welt den Helden erlebt.“²⁵⁶ Aufgrund der gleichzeitigen Existenz einer auktorialen Erzählinstanz, die über Wissen verfügt, das den Horizont der jeweils präsentierten Innenwelten überschreitet und sich unter anderem in jener Vielzahl zukunftsgewisser Prolepsen manifestiert, tritt die Unmöglichkeit, Einblick in die Protagonistin und ihr ohnehin ambiges Wesen zu erhalten, besonders deutlich hervor.²⁵⁷ Blickt man vor diesem Hintergrund nun auf die Verfahren der Informationsvergabe und Wissensvermittlung bestätigt sich der Befund einer vor allem auf der discours-Ebene latent wirksamen Ambiguisierungsstrategie: Aufgrund der proleptischen Erzählerkommentare und den Vorausdeutungen auf das künftige Geschehen ist der Rezipient zwar stets darüber informiert, was geschehen wird, nicht aber darüber, aus welchem Grund und auf welche Weise es sich ereignen wird.²⁵⁸ Während er somit um das folgende Geschehen und außerdem um Reymunds Vorgeschichte weiß, ist er in der Wahrnehmung Melusines auf den Wissensstand der Figuren bzw. auf die durch den Prolog vermittelten basalen Informationen des Erzählers beschränkt. Der Rezipient erhält Informationen über Melusine somit ausschließlich gefiltert durch die jeweils spezifisch determinierten Perspektiven der anderen Figuren; die Konfrontation mit diesen oszillierenden Perspektiven sowie die hinsichtlich des Wissensstandes partielle Gleichschaltung von Rezipient und den Melusine umgebenden Figuren verhindern auf diese Weise eine eindeutige Bewertung der Figur, die allerdings selbst über ein hohes Maß an Mehrwissen verfügt: So scheint sie zum Teil über das sonst dem Erzähler vorbehaltene logische Privileg, nämlich die Gültigkeit der Behauptungen, zu verfügen, wie es sich in der Regel in einer Verdopplung der Erzählsituation manifestiert: Melusine sagt in Kürze exakt das voraus, was im Anschluss in Erzählerrede aus-
Hübner 2003, 63. Diese spezifische Technik der Innenwelt- und Bewusstseinsdarstellung veranschaulicht damit ex negativo die in der antiken Rhetorik skizzierte Relevanz einer Innenweltdarstellung für die Plausibilisierung des Geschehens, wie sie insbesondere im Rahmen des evidentia-Konzepts verhandelt wurde. Durch die Unzugänglichkeit von Melusines mentaler Innenwelt kann weder ihr Handeln motiviert und plausibilisiert, noch ihr Status als solcher geklärt werden. Vgl. dazu die obigen Ausführungen Kap. 3.2. sowie Kap. 3.2.1. Vgl. auch Drittenbass 2011a, 80: „Es liegt hier also eine Erzählkonstellation vor, die mit der ‚Wie-Spannung‘, der Spannung auf den Gang der Handlung, arbeitet.“ Vgl. auch Kiening 2005b, 15.
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führlich berichtet wird.²⁵⁹ Auf diese Weise scheint sie zumindest teilweise „als Medium einer übernatürlichen Instanz autorisiert“²⁶⁰ zu sein. Die spezifische Wertungsstruktur, die zeitliche Organisation der Erzählung und die Techniken der Perspektivierung, Fokalisierung sowie Informations- und Wissensvergabe arbeiten somit dem unbestimmten Status der Melusine-Figur zu und können an dieser Stelle jeweils als Elemente eines ambivalenten Erzählens bestimmt werden, das sich hinsichtlich der Figurenkonstruktion insbesondere durch die Kombination dieser skizzierten narrativen Verfahren konstituiert. Die auf histoire-Ebene aufgrund des Erzählschemas und der in den späteren Fassungen veränderten Funktion der Figur als Ahnherrin einer Dynastie notwendige Doppelwertigkeit der Figur wird somit von narrativen Verfahren auf discoursEbene realisiert, die das Changieren der Figur zwischen anderweltlicher und damit nicht eindeutig bestimmbarer Geliebten und höfischer Dame allererst ermöglichen. Besonders deutlich zeigt sich dies in der ersten Begegnung zwischen Reymund und Melusine. In dieser Szene ist Reymund durchgehend fokale Figur, und obwohl der Text hier nicht mit einem derart starken Fokalisierungseffekt arbeitet,²⁶¹ spielt diese konstante Transparenz seiner Innenwelt insofern eine wichtige Rolle, als Reymunds Wahrnehmung und die daraus resultierende Beurteilung Melusines konstitutiv für den weiteren Verlauf der Handlung ist. Nur aufgrund der
So sagt Melusine etwa die Trauer bei Hofe voraus, nachdem dieser vom Tod des Grafen erfahren hat: besunder die frawe vnd ire kind werden grossen jamer vnd herczleide haben / vnd ander frawen vnd mann werden mit jnen groß mitle:den haben (26,20 – 26,23). Der Erzähler bemerkt dann über die Trauer bei Hofe: Dar durch sich nun grosse klag z hoff erhb / jn sunders von der grffin vnd iren kindern / von den hb sich mit we:nen vnd schre:en groß iamer vnd klagen (29,4– 29,7). Ihr zukünftiges Mehrwissen manifestiert sich auch in den Horrible und das Schicksal der anderen Söhne betreffenden Vorhersagen. Vgl. zum Status von Melusines Vorhersagen als zukunftsgewiss auch Drittenbass 2011a, 102, zur Verdopplung der Erzählsituation 105 f. Der besondere Status von Melusines Vorhersagen wird dabei auch vom Erzähler hervorgehoben, der noch vor der Schilderung der Trauer bei Hofe durch eine markierte Analepse (vgl. 28,18) auf ihre Worte zurückverweist (vgl. Drittenbass 2011a, 116). Vgl. zu logisch privilegierter Figurenrede Martínez und Scheffel 2005, 97. Trotz der oben vorgenommenen Differenzierung zwischen Innenwelt- bzw. Bewusstseinsdarstellung und Fokalisierung (Kap. 3.2.1) wird Reymund hier als ‚fokale‘ Figur bezeichnet, weil in dieser Passage auch die Filtertechniken eine Rolle spielen, sofern nicht nur seine Innenwelt transparent ist, sondern auch der Raumfilter an Reymund orientiert ist. Es handelt sich allerdings nicht um einen starken Fokalisierungseffekt, da der Zeit- bzw. Informationsfilter nicht an diesem ausgerichtet ist. Der Wissensstand des Rezipienten ist nämlich gerade nicht auf den Reymunds beschränkt, er begegnet Melusine nicht wie Reymund zum ersten Mal, sondern ist durch den Prolog bereits über ihren ambigen Status und ihren Gestaltwandel informiert. Vgl. zu den Filtertechniken und den jeweiligen Fokalisierungseffekten Hübner 2003, 56–63.
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hier eingenommenen Perspektive auf Melusine kann Reymund ihr Angebot annehmen und so die Basis für die Gründung des Geschlechts legen. Dabei wird er als eine Figur inszeniert, der jede „Perspektive auf [ihre] Umgebung fehlt“²⁶²: Nach dem Totschlag seines Onkels reitet er wie von Sinnen durch den Wald, nimmt weder seine Umwelt noch die drei Damen am Brunnen wahr und bemerkt diese erst, als Melusine den Zaum seines Pferdes ergreift (vgl. 22,4– 22,17). Dieser eingeschränkten Wahrnehmung seiner Umgebung korrespondiert dabei sein mangelnder Erkenntnisdrang, der insbesondere im darauffolgenden Gespräch mit Melusine akzentuiert wird, scheint er doch hier nur solche Aspekte wahrzunehmen, die sein missliches Schicksal zum Positiven zu wenden versprechen, während er den zentralen Fragen nach ihrer Herkunft und ihrem Wesen deutlich weniger Interesse entgegenbringt.²⁶³ So ist er anfangs zwar verunsichert, ob das ein gespenst oder fraw wr (23,1) und wundert sich, woher sie seinen Namen kennt (vgl. 23,20), die Offenbarung ihres Wissens über den Jagdunfall und ihre Auslegung der Prophezeiung als göttlicher Wille (vgl. 23,29 – 24,13) führen aber unmittelbar dazu, dass er besundern trost z ir [gewan], weil s: von gott redte (24,13 – 24,14). Erst nachdem er entschieden hat, das die junckfraw kein gespenste noch keins vngelaubens / sunder von Christenlichem blt kommen vnd nicht vngelaubig se: (24,16 – 24,18), artikuliert er sein Erstaunen über ihr Mehrwissen (vgl. 24,18 – 24,28) und dessen Unerklärlichkeit: Jch mß mit vrlaub eUer genad fragen / wie das kumpt das ir meinen namen mügent wissen / vnd wie eUch auch fürkommen müge sein oder kund getan das groß le:d vnd vngefell das mir z handen gangen vnd widerfaren ist […] / vnd ich auch nit sach da mir das groß vngefell widerfr (24,21– 24,28).
Nichtsdestoweniger lässt er sich von ihren Beteuerungen – [d]och so zwe6fel auch nit das ich nit von gottes genaden vnd warlichen ein gt Cristen mensch se: / wann ich gelaub alles das das ein gtt cristen mensch sol halten oder gelauben (25,3 – 25,6) – überzeugen; er jetzt, nachdem Melusine alle artikel des Cristen gelaubens (25,9) aufzählt, kommt Reymund wieder gänzlich zu sich (vgl. 25,12– 25,14).
Schausten 2006, 173. Vgl. Schausten 2006, 174 f. Vgl. zu den Umständen der Begegnung und Reymunds eingeschränkter Perspektive auch Schnyder 2011, 448, der betont, dass die Reymund betreffende Äußerung ‚wuste nit‘ symptomatisch für das ganze Gespräch sei.
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An dieser Stelle wird somit zum einen die Prädestination Reymunds für eine erfolgreiche Verbindung mit Melusine profiliert. ²⁶⁴ Zum anderen zeigt sich in den christlichen Legitimationsversuchen Melusines und Reymunds anfänglichem Eindruck des Gespenstischen jene Diskrepanz zwischen ihrer Selbstinszenierung und der Wahrnehmung anderer Figuren, auch wenn es ihr gelingt, seine diesbezüglichen Zweifel zu zerstreuen. Dennoch lässt sich ihre Darstellung als gläubige Christin nur schwer mit solchen Elemente vereinbaren, die in auffälligen Gegensatz zu dieser Selbststilisierung treten, wie etwa ihre strategisch anmutende Gesprächsführung,²⁶⁵ ihre Verheißungen von Aufstieg, Ehre und Wohlstand in einer für ihn aussichtslosen Situation²⁶⁶ oder die in der Folge geäußerten Rat-
Es bedarf „eines passiven Helden vom Schlage Reymunds […], der eben nicht richtig hinsieht und der damit gegenüber der Fee über die Disposition verfügt, ihre dämonische Natur zu übersehen. […] Dem Helden eignet somit eine eingeschränkte Perspektive auf Melusine – Sichttabu und restringierte Neugier korrelieren hier –, die es ihm gerade ermöglicht, das Glücksangebot der Fee annehmen zu können“ (Schausten 2006, 174 f.). Vgl. zum Dialog zwischen Reymund und Melusine Drittenbass 2009. So scheint Melusine bereits die Ausgangsbedingungen des Dialoges zu instrumentalisieren: Zwar erscheinen ihre Vorwürfe bezüglich seiner Ignoranz in Anbetracht höfischer Umgangsformen berechtigt (vgl. 22,9 – 22,10; 22,14– 22,16), im Grunde ist er zu einer Interaktion mit ihr aufgrund seiner Verzweiflung aber gar nicht fähig. Da sie um seine Situation weiß, scheinen ihre Vorwürfe eben jene Entschuldigung Reymunds zu intendieren, die ihn direkt als untergeordneten Gesprächspartner determiniert (vgl. 69). Auch im Verlauf des Gesprächs markiert Melusine mehrfach, dass sie die dominante Position einnimmt, so spricht sie ihn beispielsweise stets mit seinem Namen an und duzt ihn, während er sie durchgehend irzt und mit aller schnste junckfrawe (23,7– 23,8) oder edle vnd schne junckfraw (23,21) anredet (vgl. 70). Sehr bezeichnend ist außerdem, dass sie auf seine einzige, aber höchst relevante Frage, woher sie seinen Namen kenne und aus welchem Grund sie von dem Jagdunfall wisse (vgl. 24,20 – 24,25), nicht antwortet. Drittenbass hat mit Blick auf die Konversationsmaximen Paul Grices gezeigt, dass Melusine hier gegen die Maxime der Relation verstoße, da ihre Antwort nicht seine Verwunderung kläre und somit für ihn wenig relevant sei. Aus diesem Grund verhalte sie sich verbal unkooperativ, denn sie erkläre nicht, woher und aus welchem Grund sie über dieses Wissen verfüge, welches sie hinzukommend noch explizit herausstelle (vgl. 70 f.). Vgl. zur Dominanz Melusines im Dialog, zum dortigen Machtgefälle und den jeweiligen Redebeiträgen auch Schnyder 2011, 448 ff., sowie mit stärkerer Fokussierung Melusines 453 ff. Neben der von Melusine etablierten Dominanz innerhalb des Gespräches ist es vor allem auch die spezifische Kombination von Wissensoffenbarung, Zukunftsverheißungen und Gottesbezug, die sie in ein ambivalentes Licht rückt: Nach der Offenbarung ihres Wissens um Namen und Jagdunfall verspricht sie ihm aus dieser privilegierten Position heraus Glück und Erfolg unter der Bedingung, dass er ihrer lere (24,4) folge – somit das genaue Gegenteil von dem, was ihm infolge des Totschlags eigentlich zustünde (vgl. Drittenbass 2010, 72 f.). Im Anschluss teilt sie ihm ihre Kenntnis der Sternendeutung und Prophezeiung Emmerichs mit, wobei ihre Prophezeiung diejenige des Onkels nicht nur übertrifft, sondern auch sie es ist, die ihm all dies entsprechend des göttlichen Willens ermöglichen will (vgl. 25,2– 25,3). An der Nennung Gottes zeige sich nach
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schläge hinsichtlich seines Verhaltens bei Hof und des dubiosen Landerwerbs.²⁶⁷ Melusines christliche Selbstinszenierung scheint in dieser ersten Begegnung soDrittenbass 2009, 73, dabei der Legitimationsdruck, unter dem Melusine in dieser ersten Begegnung stehe: Sie „erwähnt […] hier Gott ein erstes Mal. Dies ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, steht doch Melusine in ihrer Interaktion mit Reymond unter dem Druck, ihr übermenschliches Wissen zu legitimieren, bzw. es unter Berufung auf Gott in einen christlich vertretbaren Kontext zu stellen. Der Verweis auf Gott muß Reymond hier als indirekte Reaktion und Antwort auf seine Verwunderung über Melusines Wissen dienen.“ Im Rahmen ihrer Vorhersagen wird der Reymund betreffende Aufstieg und dessen Außergewöhnlichkeit derart betont, dass die dafür notwendig einzuhaltenden Bedingungen völlig marginal erscheinen. Zwar versucht sie, ihr Wissen und ihre Zukunftsgewissheit durch den Verweis auf Gott zu legitimieren, nichtsdestoweniger müssen ihr Angebot und die Weise, wie sie es offeriert, Zweifel bezüglich ihres rein christlichen Wesens erwecken. So hat Drittenbass 2008, 86, darauf hingewiesen, dass sich Melusine in dieser ersten Begegnung genau so verhalte, wie es der Malleus Maleficarum über böse Geister berichte, die sich die weltliche Schädigung eines Menschen zu Nutze machten. Vgl. Mühlherr 1991, 331 f.; Mühlherr 1993, 19. Die Anweisungen, die Melusine Reymund im Anschluss an seine Einwilligung in Heirat und Tabuwahrung erteilt, erscheinen insofern illegitimen Charakters, als das Verschweigen des Totschlags diesen erst zu einem zweifelhaften Akt macht. Überdies rät Melusine ihm, der Hofgesellschaft den zentralen Aspekt des Geschehens zu verheimlichen, wenn sie ihm nahelegt: vnd ob man dich fraget wo dein herre se: / magst du antwurten / jch hab in jn dem holcz verloren (26,15 – 26,17). Sowohl ihr Verweis auf die große Trauer, die über den Verlust Emmerichs herrschen wird (vgl. 26,18 – 26,23), und ihre daraus abgeleitete Anweisung, darinne du s: trosten solt vnd jnen freüntlichen dienen in irem grossen iamer vnd herczleide (26,23 – 26,25), als auch ihr Rat, sich auf seine treuen Dienste zu berufen (vgl. 26,27– 26,29), erscheinen vor allem auch in Anbetracht der verwandtschaftlichen Beziehung zwischen Reymund und seinem Ziehvater suspekt. Auch der Ratschlag, mit Berufung auf seine treuen Dienste um ein Lehen zu bitten, das sich mit einer Hirschhaut umschließen lasse (vgl. 26,29 – 27,3), pointiert dies: „Der Rat Melusines ist zwar zunächst Demonstration ihrer Klugheit, aber unter den gegebenen Umständen liegt der Akzent auf der Dubiosität des Vorgangs.“ (Mühlherr 1993, 19) Gerade das Verschweigen als Voraussetzung für Ehre und Aufstieg sei der „eigentlich böse Schachzug“ (19 f.). Dabei hält sich Reymund nur bedingt an Melusines Anweisung, der Hofgesellschaft mitzuteilen, er habe Emmerich im Wald verloren, denn er ergänzt diese Information, die als solche formell keine Lüge darstellt, um den folgenden Zusatz: ich hab in sider ncht abendes nie gesehen / wann er entritt mir in dem walde dem geigte nach das ich in nie mocht ere:len / vnd han in also verloren vnd daranch nit mer gesehen (28,10 – 28,13). Auf diese Weise gerät Reymund „von der geschickt formulierten doppelten Wahrheit zur eindeutigen Lüge.“ (Schnyder 2006b, 12) Reymunds unmittelbare Reaktion auf diese Äußerung sowie der Hinweis des Erzählers, damit den Ratschlag Melusines befolgt zu haben, verdeutlichen auch auf Ebene der agierenden Figur die dieser Vorgehensweise inhärente Problematik: Also fragt man in nit fürbaß / vnd niemantz hett sich versehen das dem Re:mund slicher handel z handen gangen oder widerfaren wr / wiewol er dardurch gar schwrmtig was vnd gar dick erseüffczet / doch so hielt er sich dar jnne gar weyßlich vnd nach ratte seines gemahel / als jm die denn das ze tn geratten het (28,13 – 28,18). Dimpel 2014, 215, wertet sowohl die Vertuschung als auch die List mit der Hirschhaut als ordo-Verstöße und damit als negative Sympathiesteuerungsverfahren. Quast 2004, 93, sieht darin eine „dämonische Amoralität des Glücks […]. Indem Reymund auf Anraten Me-
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mit primär instrumentellen Charakters zu sein.²⁶⁸ Bemerkenswert erscheint in diesem Kontext der Befund, dass der Erzähler an einer Stelle eine Wahrnehmung Melusines wiedergibt, aus dieser eine Handlung ableitet und somit das folgende Verhalten der Figur als Konsequenz genau dieser Wahrnehmung erzählt: Nach der Erwähnung von Reymunds Unsicherheit, ob es sich bei der ihn tadelnden junckfraw um ein gespenst oder fraw (23,1) handelt, schildert der Erzähler, wie Melusine Reymund ‚sieht‘: Also sach die junckfraw wol das er ttlich gestalt was vor leid vnd von schrecken / vnd das er sich entfarbte on vnderlaß (23,1– 23,3). Resultat dieser Wahrnehmung ist eine erneute Schelte Reymunds ob seiner Unhöflichkeit, die an dieser Stelle als strategisches Kalkül Melusines erscheint (Da fieng s: aber an vnd schuldiget in, [23,3 – 23,4]), sofern sie die sich schon physisch manifestierende Verzweiflung Reymunds für ihre Zwecke zu instrumentalisieren scheint.²⁶⁹ Die Beschreibungen Melusines in Erzählerrede, die vor allem auf eine körperliche Dimension zielen, sowie einzelne Bewusstseinsdarstellungen der Reymund-Figur erwecken dabei außerdem den Eindruck einer zwar schwachen, aber doch latenten Erotisierung der Situation, die im Kontext von Verheißung, Schwur und Tabu besonders intrikat erscheint.²⁷⁰ Darüber hinaus kann auch die Insze-
lusines den Verwandten des Grafen den Jagdunfall verheimlicht, macht er sich zum Komplizen dieser Amoralität.“ Auch Schnyder 2006b, 11, konstatiert, dass der Bezug auf Gott in dieser Szene das „moralische[] Zwielicht“ noch weiter ausbreite. Vgl. Drittenbass 2008, 90. Ohne Blick auf Melusines Wahrnehmung hat auch Schnyder 2011, 453, diese Instrumentalisierung von Reymunds Zustand konstatiert; ihr Vorwurf ziele dabei auf Reymunds Determination als untergeordneter Gesprächspartner, sofern er nun eine Entschuldigung leisten müsse. Vgl. Drittenbass 2008, 87 f.; Drittenbass 2009, 81; Schnyder 2011, 448 ff. sowie prägnant 463, der im Vergleich zu Walter Map ein nur schwaches Begehren der Reymund-Figur konstatiert. Die Beschreibungen Melusines in Erzählerrede sowie die Wiedergabe von Reymunds Wahrnehmungen fokussieren aber immer auch den adligen Körper: So bei der ersten Nennung aller Damen (schn junckfrawen hochgeboren von adelicher gestalt [22,6 – 22,7]), der näheren Beschreibung Melusines (die schnste vnd die jüngst [22,8]) und in der Wahrnehmung Reymunds (schon junckfraw [22,16]; Da begund er die vnsglichen schnheit ires le:bs fast sere beschawen [23,5 – 23,6]; Reýmond gewan trost vnd freUd an der schnen junckfrawen [24,8 – 24,9]). Vgl. zu diesem Aspekt außerdem die direkten Anreden an Melusine 23,7– 23,8; 23,21; 24,18; 25,14– 25,15. Dass bei Reymunds Einwilligung in Melusines Forderungen auch das männliche Begehren eine Rolle gespielt haben könnte, legen dessen Äußerungen gegenüber Bertram nahe, die dem Geschehen auch eine sexuelle Dimension verleihen: Reýmund sprach Herr in der warheit s: ist also wolgestalt vnd mit pre:ß mit schne vnd lblichen sitten gezieret als ob s: eines künigs tochter wr / vnd ein schner we:b ward kaum ýe gesehen […] Vnd s: ist gancz nach meinem geuallen / vnd ich will s: auch haben (36,3 – 36,8). An dieser letztgenannten Äußerung Reymunds zeige sich nach Müller 1990, 1050, die „ursprüngliche erotische Faszination“ der Sage.
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nierung des Raumes als Betonung von Melusines anderweltlichen Elementen verstanden werden.²⁷¹ Zugleich zeigt sich in dieser Szene jenes für die Figur charakteristische Mehrwissen bei gleichzeitiger Pointierung von Reymunds Unwissenheit: So nennt sie ihn nicht nur bei seinem Namen, redet ihn zugleich mit lieber freünd (23,18) an und ignoriert Reymunds Verwunderung und indirekte Frage nach der Herkunft dieses Wissens (mich kan nit verwundern das ir meinem namen wissent [23,21– 23,22]), sondern offenbart auch ihre Kenntnis über den Jagdunfall (vgl. 23,29 – 24,4).²⁷² Damit wird der schon durch die Erwähnung seines Namens etablierte Wissensvorsprung um eine weitere, jedoch für Reymund kompromittierende Information ergänzt. In einem nächsten Schritt erklärt sie den prophezeiten Aufstieg bzw. dessen Verwirklichung dann als göttlichen Willen, wobei sie ihr Mehrwissen erneut explizit ausstellt, indem sie auf die Sternendeutung und Prophezeiung Emmerichs referiert (vgl. 24,10 – 24,13). Darüber hinaus ist sie in der Lage, das zukünftige Geschehen vorherzusagen, antizipiert sie doch hier die Ereignisse, die sich an Bertrams Hof ereignen werden (vgl. 26,15 – 27,5).²⁷³ Reymund, der auf das ihn betreffende Wissen zunächst skeptisch reagiert, sich in der Folge aber von ihren christlichen Äußerungen überzeugen lässt, erfährt während dieser ersten Begegnung – und mit ihm der Rezipient – nichts über Melusine: So weiß er weder um die Ursache ihres Wissens, noch erfährt er etwas über ihre Herkunft und die sie leitenden Motive.²⁷⁴ Allerdings, so scheint es, strebt er ein solches Wissen auch nicht explizit an: Im Anschluss an seine Vergewisserung, dass Melusine ein gt Cristen mensch (25,4– 25,5) ist, willigt er mehrfach in ihre Auflagen ein (vgl. 25,14– 25,17; 25,28 – 29,1; 26,9 – 26,11) und schwört – trotz seiner Unkenntnis –, dem Gebot Folge zu leisten. Dass Reymund die Dimension dieser Bedingungen unterschätzt, ihm sein mangelndes Erkenntnisstreben Schwierigkeiten bereiten
Vgl. zur Konstruktion des Raumes in dieser Szene Rippl 2016, 215 ff. Reymund artikuliert dabei explizit, dass sowohl die Kenntnis seines Namens als auch des Jagdunfalls eigentlich außerhalb des ihr verfügbaren Wissens liegen (vgl. 23,21– 23,23; 24,20 – 24,28). Schnyder 2011, 453, weist darauf hin, dass Melusines Offenbarung ihres Mehrwissens in dieser ersten Begegnung „nötig und nützlich“ ist, um Reymund zum Ehemann gewinnen zu können. Schnyder 2011, 450, macht auf die Informationspolitik des Erzählers gegenüber dem Leser aufmerksam, die der Melusines gegenüber Reymund gleiche: „[J]ener und dieser erfahren vom überlegenen Gegenüber nur gerade soviel, wie dieses für opportun hält, und beide, Reymond und Leser, verbleiben damit in jener Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Gegenüber, wie ein Defizit an Wissen sie erzeugen kann.“
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wird,²⁷⁵ zeigen die zwei dicht aufeinanderfolgenden Prolepsen des Erzählers, die dabei sein Fehlgehen sowie die ihn betreffenden Konsequenzen, nicht aber Melusines Tabu in den Vordergrund stellen.²⁷⁶ Eine eindeutige Bewertung der Figur wird an dieser Stelle somit durch den Einsatz verschiedener narrativer Verfahren verhindert: Die Selbstinszenierung der Figur steht im Widerspruch zu ihrer strategischen Rhetorik, den prekären Zukunftsverheißungen und ihren dubiosen Ratschlägen.²⁷⁷ Eine latente Erotisierung Vgl. Drittenbass 2009, 80: Die Bedingungen, die an Reymunds außerordentlichen Aufstieg, den prophezeiten Ruhm und die in Aussicht gestellte Ehre gebunden sind, nämlich Melusine samstags nicht nachzuspüren, mögen zunächst recht lapidar erscheinen, sie sind es aber gerade, die später das Misstrauen der Umwelt wecken. „In diesem Sinn wird die Leerstelle, die […] durch die unbeantwortete Frage nach Melusines Identität und ihrem Wissen entstand, später für Reymond zum Problem.“ So deutet der Erzähler nicht nur unmittelbar nach Reymunds erstem Schwur auf seinen Treuebruch voraus – aber ob er es hielt oder nicht werdent ir hernach hren / wann er seinen e:de vnd treUe an ir brach darumb jm grosses leýd / jamer vnd kumer z viele (26,1– 26,4) –, sondern kündigt auch nach dessen zweitem Eid den Bruch seines Versprechens an: Das er ir aber darnach nicht leiste dar durch verlore er sein schne vnd aller liebste frawen die jm so vnsglichen lieb was (26,11– 26,14). Vgl. zu diesen Prolepsen auch Drittenbass 2011a, 80. Melusines Forderungen könnten dabei allerdings als äußerst anstößig wahrgenommen werden. So weist Schnyder 2011, 451 f., darauf hin, dass Melusines Zugeständnis, sich samstags keines für ihn schändlichen Vergehens schuldig zu machen (vgl. 25,25 – 25,28), „auf den ersten Blick als ausgleichendes Moment erscheinen [mag]; doch bei genauem Hinsehen ist dem kaum so, denn sie verweigert im gleichen Atemzug mit dem vermeintlichen Zugeständnis den Aufschluss über ihre jetzige (und in der Vergangenheit begründete) Identität. Auch liegen Forderung und Zugeständnis gerade mit Blick auf den Wissensdiskurs nicht auf derselben Ebene. Ihr Verschwinden wird vom ganzen Hof bemerkt und stimuliert entsprechende Fragen; ihr Versprechen an Reymond kennt einzig er, zudem ist dessen Einhaltung nicht verifizierbar.“ Dies verdeutlichen nicht zuletzt die in der Folge artikulierten Zweifel durch den Grafen von Poitiers (vgl. 35,21– 35,25), der letztlich genau jene Informationen über Melusine verlangt – Herkunft, Geschlecht, Status –, die Reymund sich in diesem Gespräch nicht zu fragen gewagt hatte, die ihn aber offenbar weiterhin beschäftigen. So ließen sich zumindest jene Innensichten Reymunds deuten, die der Erzähler bei seiner Ankunft am Durstbrunnen mitteilt und die seine Verwunderung über die Erscheinung von Melusines Gefolge zum Gegenstand haben: Also giengen s: in ein Cappell / da sach Re:mund so vil schnes volcks […] / des begund Re:mund ser wundern was oder welherle: volcks dises wr (33,23 – 33,27); RE:mund gedacht heimlich / das ist ein fremde gehorsamkeit / vnd wlle mir verleýhen die gottes krafft das es ein gtt end gewinne (34,4– 34,6). Darüber hinaus scheint er die mit dieser Verbindung einhergehende gesellschaftliche Problematik doch zum Teil zu reflektieren, schließlich reagiert er auf die vom Grafen geäußerten Zweifel mit dem Hinweis, dass auch er nit gefraget ob s: keines herczogen oder Marggraffen tochter se: (36,6 – 36,7). Quast 2004, 87 ff., sieht in der ersten Begegnung hingegen eine deutliche Entzauberung der Figur, die sich in der christlichen Angleichung an Reymund manifestiere und so die Basis für eine gemeinsame Verbindung schaffe. Vgl. zu einer Gesamtdeutung der Figur vor einem christlichen Horizont Dumiche 2010.
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der Situation, die strategische – und über eine explizit Melusine zugeschriebene Wahrnehmung eigens hervorgehobene – Instrumentalisierung seiner Verzweiflung sowie das von ihr pointiert herausgestellte Mehrwissen akzentuieren jene anderweltlichen Elemente der Figur, die weder über ihre Selbstdarstellung noch die Erzählerbeschreibungen aufgefangen, durch die proleptische Kommentarstruktur, die Reymunds Fehlgehen und Eidbruch fokussiert, jedoch abgeschwächt werden. Die positive Wahrnehmung Melusines durch Reymund und dessen Ignoranz gegenüber jenen Elementen werden dabei insofern relativiert, als seine eingeschränkte Perspektive sowie sein mangelnder Erkenntnisdrang pointiert ausgestellt werden. Zugleich ist seine defizitäre Wahrnehmung die Prämisse einer Verbindung der beiden, sofern sein ‚Wegsehen‘ als notwendige Bedingung für eine Gründung des Geschlechts inszeniert wird, wobei die Notwendigkeit eines solchen ‚Wegsehens‘ dabei wiederum die Existenz von Melusines anderweltlichen Elementen betont. Auch im weiteren Verlauf der Handlung zeigen sich die skizzierten Ambiguisierungsstrategien. So inszeniert der Text etwa in der Folge eine kategoriale Differenz zwischen den Perspektiven der Hofgesellschaft auf Melusine und der Wahrnehmung Reymunds und pointiert damit die Relevanz dieser divergierenden Perspektiven für den Fortgang des Geschehens und die Ausrichtung ihres Handelns: So kann etwa Melusines in einem Dialog mit Reymund geäußerte Intention, dass die Hochzeitsfeierlichkeiten erlichen z geen (34,15 – 34,16), als Reaktion auf die zweifelnden Stimmen des Hofes verstanden werden, die sowohl ihr Befremden an der gewünschten Erschließung des Brunnenlandes als auch ihre Zweifel an der von Reymund intendierten Eheschließung mit einer Unbekannten artikulieren.²⁷⁸
Vgl. Schausten 2006, 165 f., 175. So äußert Bertram, nachdem Reymund um ein Lehen gebeten, dieses erhalten und jenes Land am Durstbrunnen mit der Hirschhaut hat abstecken lassen, seine Bedenken über das Land bei dem Brunnen, das auch er mit dem Begriff des Gespenstischen in Verbindung bringt: Der Graff sprach / diß ist ein frmde sach / es mag wol ein gespenst sein / wann ich hab vil vnd dick gehrt sagen das etwas fremder wunder vnd abenteUr dick be6 dem brunnen gesehen se:en worden (33,4– 33,7). Dabei stellt er zugleich das Reymund so plötzlich ereilende Glück infrage: Des geleich mcht Re:mund auch ettwas fremdes da widerfaren sein / oder noch widerfaren / doch wlle gott das es gt vnd sein gelück se: (33,7– 33,9). Im Anschluss an die Einladung zu der Hochzeit formuliert er seine Skepsis dann explizit: Doch eins mß ich dich :e fragen Wer oder von wannen ist die frawe die du da nimest Acht das du nit mißfarest von welcher gegnet oder was geschlchtes Auch sag mir / ob s: vast wol vnd hochgeboren se: (35,21– 35,24). Auch lässt er sich durch Reymunds Hinweis, er möge sich der Unbedenklichkeit der Sache selbst vergewissern, nicht von seinen Vorbehalten abbringen: Mich verwundert nicht klein lieber heim das du ein we:b n:mest vnd nit wissen magst wer s: ist / noch irer freünd kein kuntschafft hast (35,29 – 36,3). Dass auch Reymunds darauffolgende Erklärung ihn nicht überzeugt, verdeutlicht der Erzähler über eine Innensicht, in der deutlich wird, dass Bertram nur deshalb aufhört, weitere
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Die Skepsis der anderen Figuren basiert dabei auf einem „um-sie-Wissen-Wollen“²⁷⁹ und muss insofern von Melusine eingedämmt werden, als die Akzeptanz der Gesellschaft eine weitere notwendige Prämisse für die Gründung des Geschlechts darstellt. Aus diesem Grund kann ihre Inszenierung der Hochzeit – schließlich weiß sie um jene kritischen Stimmen²⁸⁰ – als Versuch gewertet werden, den für sie erforderlichen Beobachterstandpunkt entscheidend mitzugestalten.²⁸¹ Trotz der außerordentlichen Pracht der Hochzeit und der Rechtmäßigkeit der Vorgänge, dessen Ordnungsmäßigkeit auch der Erzähler konstant betont, bleibt aber die Skepsis der Hofgesellschaft bestehen: Sie nehmen nicht nur das Gespenstische des Geschehens war (vgl. 36,28 – 36,29) –, sondern erstaunen auch ob der Ungewöhnlichkeit dieser enormen Prachtentfaltung.²⁸² Und
Nachfragen zu stellen, weil er glaubt, dass die Sache ohnehin bereits beschlossen sei (vgl. 36,9 – 36,11). Schausten 2006, 175. In der Hochzeitsnacht wiederholt Melusine die Zweifel des Grafen, die er kurz zuvor gegenüber Reymund geäußert hatte, und betont damit nicht nur ausdrücklich ihr Wissen darüber, sondern greift auch den Wortlaut des Grafen auf: Hatte dieser Reymund gefragt, [w]er oder von wannen ist die frawe die du da nimest […] von welcher gegnet oder was geschlchtes (35,21– 35,23), merkt Melusine an: Wann ich we:s auch wol da du kamest z dem graffen von poitiers deinem herren vnd vettern […] vnd du jm sagtest das du mich z einem we:b genomen httest da fragt er dich gar vast / wer oder von wannen / oder was geschlchtes ich da wre (43,1– 43,6). Dieses hier offenbarte Wissen Melusines wird Reymund an späterer Stelle Gewissheit darüber geben, dass sie sich auch seines Treuebruchs gewahr ist (vgl. 99,28 – 100,3). Aufgrund ihrer positiven Reaktion in Folge des Tabubruchs hofft Reymund, sie wisse womöglich nicht um seine Untreue, der Erzähler macht aber deutlich: Aber s: wuste es alles wol wiewol s: nit deß geleich dem thett. […] doch west s: es alles (101,2– 101,6). Und auch Melusine wird später zugeben, von seiner heimlichen Beobachtung gewusst zu haben (vgl. 117,4– 117,5). Bemerkenswert erscheint nämlich, dass sie auf die latenten Zweifel Reymunds, die sie offenbar zu erahnen (oder zu wissen?) scheint, die von ihr gewünschte Ausrichtung der Hochzeit artikuliert; damit wird der Eindruck erweckt, dass sie somit nicht nur die Vorbehalte Reymunds, sondern vor allem auch die der Gesellschaft beseitigen möchte. So lassen sich ihre Anweisungen für die Hochzeit – Lieber Reýmund ne:n / es mß ein andere gestalt haben vnd mß erlichen z geen vnd du mst arbe:t haben / vnd leütt z deiner vnd meiner hochze:t mit dir bringen die da wissen hochze:t nach eren helffen z halten vnd auß ze richten Vnd gedenck noch zwe:ffel nit das die / die mit dir her kummen nit gepresten haben noch gewinnen an keinen sachen der man z hochze:tten bedarff / wann rattes vnd kost geng ist (34,14– 35,3) – durchaus als Versuch werten, die Gesellschaft von der Rechtmäßigkeit der Eheschließung und damit auch ihres Wesens zu überzeugen. Während der Erzähler bereits die Schilderung der Hochzeitsfeierlichkeiten mit einem wertenden Kommentar über die trliche sorg (36,20) Bertrams, am Brunnen nicht ordnungsgemäße Herberge zu haben (vgl. 36,17– 36,19), einleitet, beschreibt er in der Folge ausführlich die enorme Pracht der Feierlichkeiten sowie den auf allen Ebenen standesgemäßen Ablauf des Geschehens. Auffallend häufig verwendet er dabei Termini, die zum einen im semantischen Feld von ere anzusiedeln sind (vgl. 37,1– 37,2; 38,13; 39,10), zum anderen die Außerordentlichkeit der Vorgänge
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obwohl Reymunds Verwandtschaft in der Folge die gtte ordnung (37,12; 39,11) anerkennt und von der Legitimität der Eheschließung überzeugt scheint, plagen Bertram doch auch nachträglich noch Zweifel an Melusine und insbesondere an ihrer verborgenen Herkunft.²⁸³ Im Rahmen der Hochzeitsschilderung zeigen sich damit erneut jene Divergenzen hinsichtlich der Bewertung Melusines, die als konstitutives Element ihrer Ambiguisierung verstanden werden können. Während sie die Hochzeit in den Bahnen feudaler Praxis zu inszenieren sucht, dabei auch auf die Einhaltung christlicher Normen Wert legt und jeden Anschein des Übernatürlichen verhindern zu wollen scheint, ist es gerade die solchermaßen entstehende Außergewöhnlichkeit, die die Figuren an Melusine zweifeln lassen, bleibt die wesentliche Frage nach ihrer Herkunft schließlich offen. Die Identifikation mit einer im weitesten Sinne göttlichen Instanz prononciert dabei gerade ihren anderweltlichen Status.²⁸⁴ Dass dieser für Reymund auch in der Folge keine allzu große Rolle spielt, wird in der Hochzeitsnacht deutlich, in der Melusine diesen durch die Offenbarung ihres Mehrwissens erneut explizit ausstellt.²⁸⁵
betonen (vgl. etwa die Beschreibung der Kapelle 38,5 – 38,6; die Melusines 38,8 – 38,9; die der Speisen 40,9 – 40,10; die der Zelte 41,11– 41,12; die der Schmuckstücke 43,35 – 44,2). Vgl. zur Betonung der Standesmäßigkeit der Vorgänge durch den Erzähler auch Kellner 2001, 285; Schnyder 2006c, 136. Dabei wird stets auch ein christlicher Wertehorizont etabliert: Es wird die Messe gefeiert (vgl. 38,4– 38,7), in deren Anschluss sie vermählt werden (vgl. 39,3 – 39,4), sie erhalten den Segen (vgl. 41,15 – 41,16) und der Geistliche spricht die entsprechenden Gebete (vgl. 41,16 – 42,1). Diese Inszenierung provoziert bei den anwesenden Figuren Erstaunen und auch Befremden, die der Erzähler wiederum mit dem Hinweis auf die Außergewöhnlichkeit der Hochzeit zu relativieren sucht: So konstatieren die Gäste etwa nach der Messfeier, [d]as ist ein vnsgliche schne hochzeit / der geleichen wir alle nie gesehen noch vernomen haben (38,20 – 38,21), was der Erzähler im Anschluss folgendermaßen erklärt: Vnd was auch nit ein wunder ob s: dise hochzeitt ettwas fremd duncket / wann an slichen enden als kostlich hochze:t vngewonlich seind z haben (38,21– 38,24). Darüber hinaus verwunderten [s:] auch sere der adellichen bere:tschafft die s: sahen des s: sich nymmer versehen hetten / so adelliche zrichtung die da was / vnd niemant anderswo an slichem ende ze finden gesehen hett (37,17– 38,3).Vgl. zur Verwunderung der Gäste auch 39,10 – 39,14 sowie 43,28 – 43,33. Vgl. Schausten 2006, 166. Über die Darstellung der Innensicht Bertrams wird deutlich, dass auch nach der Hochzeit die zentralen Fragen unbeantwortet sind, Melusine mit der Ausrichtung der Hochzeit die grundlegende Skepsis an ihrer Person nicht ausräumen konnte: Nun hett der vorgenannt Graff den Réymund seinen vettern gar auß der massen geren gefraget / wer Melusina / oder von wannen s: gewesen wr / da besorget er Re:munden daran z erzürnen / vnd ließ es also anstan (44,8 – 44,12). Vnd also was nun Melusina auß der massen schn / vnd geleichet sich baß einem schnen engel denn einem tttlichen menschen (38,8 – 38,10). In der Hochzeitsnacht offenbart sie nicht nur ihr Wissen um die Zweifel Bertrams (vgl. 43,1– 43,7), sondern stellt Reymund auch erneut seinen außergewöhnlichen Aufstieg in Aussicht, den er bei Einhaltung seines Schwurs erfahren werde (vgl. 43,7– 43,13). Zugleich skiz-
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Im Anschluss an die Hochzeit der beiden – die Erzählung fokussiert hier auf die Bautätigkeiten Melusines und die Geburt ihrer Söhne – werden die skeptischen Perspektiven auf Melusine auffallend zurückgenommen.²⁸⁶ Sie gerät weder in den Blick Reymunds, der in dieser ganzen Sequenz kaum eine Rolle zu spielen scheint, noch wird sie zum Gegenstand der Beobachtungen der anderen Figuren, deren kritische Wahrnehmungen das bisherige Geschehen dominierten. Die Schilderung der Handlung nimmt hier einen nahezu berichtenden Duktus an, und obwohl die Innenwelten der Figuren größtenteils nicht dargestellt und somit auch die Beurteilungen Melusines zurückgenommen werden, hält der Erzähler doch die Ambivalenz der Figur durch die Hinweise auf die körperlichen Merkmale der Söhne sowie durch jene zentrale Prolepse bei der Erwähnung von Goffroys Geburt konstant präsent.²⁸⁷ Damit ist die Unsicherheit, die der Text bezüglich der Bewertung Melusines aus der Sicht der Figuren im ersten Teil konstruiert, das Oszillieren zwischen Bewunderung und Befremden, das ihren Beobachterstatus kennzeichnet, im zweiten Teil nur eingeschränkt, nämlich lediglich über die Erzählerfigur, präsent.²⁸⁸
Während jene Prolepse erneut Reymunds Scheitern – wenn auch eingebettet in einen Ursache-Folge-Zusammenhang – fokussiert (vgl. 50,7– 50,13), verdeutlichen die Beschreibungen der Kinder die grundsätzliche Doppelwertigkeit ihrer körperlichen Merkmale, sofern diese sowohl für Erfolg prädestinieren, als auch als „Zeichen einer unergründbaren, merkwürdigen Herkunft“²⁸⁹ erscheinen. Im
ziert sie negativen Konsequenzen eines Eidbruchs, ohne dabei aber die sie betreffenden Folgen zu nennen, sondern fokussiert nur auf sein Unglück (vgl. 43,14– 43,18). Reymund schwört an dieser Stelle erneut, das er sein gelüpte vnd e:de an ir getreUlich vnd stt halten wolt (43,19 – 43,20). Vgl. Schausten 2006, 167. Auch Kellner 2001, 285, betont, dass die Frage nach Melusines Ursprung durch die typischen Formen feudaler Herrschaftsausübung immer wieder zugedeckt werde. Vgl. Schausten 2006, 167. Zwar werden die kritischen Perspektiven auf Melusine selbst zurückgenommen, ihre Handlungen bzw. Bautätigkeiten geraten aber nichtsdestoweniger in den Blick; auch diese bewirken primär Verwunderung und Erstaunen: Vnd do die lanczleüt sahen das so ein vnsglich groß starcks werck an dem schloß in so kurczer ze:t volbracht was / des kunden s: sich nit verwundern (46,2– 46,5). Vgl. zur Verwunderung der Landsleute auch 47,1– 47,2. Die Schilderung von Melusines Herrschaftsausbau wechselt sich dabei mit der Erzählung von der Geburt der Söhne ab, die wiederum auf die jeweiligen körperlichen Merkmale fokussiert. Nach Kellner 2001, 284 f., konkretisiere sich in Melusines „enorme[r] Fruchtbarkeit“, ihrem Reichtum und ihrer Bautätigkeit ihr anderweltliches Wesen. Schausten 2006, 168. Vgl. Schausten 2006, 168. Die Beschreibung der Söhne in Erzählerrede ist jeweils durch die Betonung der Außergewöhnlichkeit ihres Aussehens und dem Verweis auf ihren künftigen Erfolg
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Laufe der Erzählung zeigt sich dann, dass auch die Deutung und Bewertung dieser Körperzeichen von den jeweils auf sie eingenommenen Perspektiven abhängig ist, somit wie bei der Beurteilung Melusines ein expliziter Zusammenhang von Wahrnehmung, Beurteilung und folgenden Ereignissen existiert.²⁹⁰ Indem also jene anfänglichen, Melusine beargwöhnenden Perspektiven während der Erzählung vom Ausbau der Herrschaft in den Hintergrund rücken und zugleich der Erfolg der Söhne als Resultat ihrer positiven Auslegung durch andere Figuren dargestellt wird, inszeniert der Text nicht nur das Schicksal der Familie als ab-
gekennzeichnet, so etwa bei Uriens: Dieser kommt zwar z grossen eren […] Doch was sein angesicht nit schn / sunder einer selczamer form vnd gestalt / wann er was gar kurcz vnd vast bre:t vnd flach vnder seinen augen Vnd was jm das ein aug rott vnd das ander grn Er htt auch einen grossen we:ten mund / vnd lange vnd grosse oren Aber von le:b vnd bainen / von armen vnd fssen aller geschpfte was er gar gerad vnd wolgeschickt vnd adelich gestalt (47,4– 47,12) oder Reinhart: da gewan s: aber einen sun / der selb hett nit mer dann ein aug / vnd das stnd jm in der mitte seiner stirnen / der ward genant Re:nhart Doch sach er vil baß mit dem einen augen dann hette er zwe: gehebt Vnd da er manns erwachssen was volbracht er gar groß tatt (49,9 – 49,13). Die körperlichen Merkmale werden dabei zum Teil durchaus als erschreckend oder beängstigend dargestellt, wie etwa bei Anthoni: der selb bracht auff die welt einen leowen griff an seinem backen / diser was auch rauch von hare / vnd hett lang vnd scharff negel an seinen fingern / vnd was so graussamlich gestalt das kein man in sach er mst in fürchten / vnd der selb volbracht darnach z Lüczelburg groß sachen vnd getatt an dem selben ende (49,1– 49,7) oder bei Horribel (vgl. 50,21– 50,24). Während die Beschreibung Goffroys stärker auf sein wildes Wesen und damit auch auf diese Dimension eines wunderbaren Ursprungs fokussiert (vgl. 50,1– 50,6) und die Freymunds auf dessen frühen Tod Bezug nimmt (vgl. 50,16 – 50,20), fallen die Darstellungen von Dietrich und Reymund, die ohne spezifische körperliche Merkmale geboren werden, entsprechend kurz aus (vgl. zu Dietrich 50,25; zu Reymund 50,26 – 50,27). Vgl. zu den Körperzeichen der Kinder, ihren Implikationen und möglichen Deutungen im Gesamtprogramm der Erzählung insgesamt auch Störmer-Caysa 1999. Vgl. Schausten 2006, 168 ff. Dabei konstruiere die Erzählung hinsichtlich der Bewertung der Söhne durch andere Figuren aber „eine Vereindeutigung der Beobachterperspektiven: Die Erfolge, welche die Ausfahrten der Söhne über lange Phasen der Erzählung zeitigen, bedürfen geradezu, so konstruiert es der Text, der positiven, damit allerdings eingeschränkten Sicht anderer Figuren auf die Helden.“ (168 f.) Dabei legen „die anderen Figuren die physiognomischen Auffälligkeiten der Melusinesöhne gemäß ihrem eigenen Interesse an ihnen aus“ (169). Dies zeigt sich etwa an der positiven Deutung Uriens durch die Zyprioten (vgl. 55,11– 55,16) oder der Anthonis durch die Böhmen (vgl. 85,17– 86,7). Dabei ist bemerkenswert, dass die positiven Wertungen immer erst dann erfolgen, wenn die Söhne ihre Leistungen bereits unter Beweis gestellt haben bzw. den sie beurteilenden Figuren zur Hilfe gekommen sind: So hat Uriens die ihm attestierte Prädestination vil lands vnd leUt z überkummen vnd z überwinden (55,15 – 55,16) zu diesem Zeitpunkt durch seinen Kampf gegen das heidnische Heer und die Tötung des feindlichen Führers schon bewiesen. Und auch bei Anthoni wird das körperliche Merkmal erst dann positiv gedeutet, nachdem er im Auftrag des elsässischen Königs den türkischen Kaiser erschlagen und den Kampf gegen die Heiden für sich entschieden hat.
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hängig von den Urteilen Dritter,²⁹¹ sondern verhindert damit rezeptionsseitig auch eine eindeutige Bewertung der Figur. Dieser „Zusammenhang von Beobachterstandpunkten und Familiengeschichte“²⁹² wird auch in der Folge thematisch: Reymund, mit den skeptischen Perspektiven der Gesellschaft auf Melusine konfrontiert, nimmt selbst eine andere Beobachterperspektive auf seine Frau ein, will plötzlich vom „Nicht-Sehenden zum Sehenden“²⁹³ werden und die – ihn bis dahin wenig tangierende – warhe:t wissen. Bemerkenswert erscheint dabei, dass der Bruder gleich zwei potentielle Ursachen, nämlich sowohl ihr gespenstisches Wesen als auch ihre potentielle Untreue, für das Melusine entgegengebrachte öffentliche Misstrauen nennt (vgl. 96,13 – 96,23). Selbst die von Skepsis und Misstrauen geprägten öffentlichen Perspektiven auf Melusine, die der Graf vom Forst an dieser Stelle an Reymund trägt, spiegeln folglich die Unsicherheit hinsichtlich einer eindeutigen Bewertung der Figur. Dabei ist es für Reymund gerade nicht der Aspekt des Gespenstischen, sondern der Vorwurf ehelicher Untreue und die damit einhergehende Problematisierung seines Status, die Infragestellung seiner Ehre und der Legitimität seiner Nachfahren, die ihn zu der Verbotsübertretung animieren,²⁹⁴ obgleich er das Gespenstische zum Teil selbst wahrgenommen und auch mit den diesbezüglichen Perspektiven auf Melusine zuvor konfrontiert wurde. Dieses um sie Wissen-Wollen, das zuvor ausschließlich die anderen Figuren kennzeichnete, führt somit zu Reymunds Verbotsübertretung und der vermeintlich heimlichen Beobachtung Melusines im Bad.²⁹⁵ Für Schausten stellt diese „Veränderung vom Nicht-Sehenden zum Sehenden […] den neuralgischen Punkt der gesamten Erzählung“²⁹⁶ dar, sofern diese in der Folge zu einer völlig anderen Bewertung Melusines, seiner selbst und seiner Familie führen wird. Zunächst folgt aus seinem bewussten Hinsehen aber gerade keine negative Bewertung Melusines, vielmehr wird in der Konfrontation mit seiner verwandelten Frau jene Diskrepanz zwischen offensichtlich präsenten Wesensmerkmalen und davon abweichender Wahrnehmung explizit herausgestellt, diesmal gleichwohl unter einem anderen Vorzeichen: Zum einen scheint er den verwandelten Körper nicht mit seiner Frau zu identifizieren, sondern diesen vielmehr als eigenständigen, ihr gewissermaßen
Vgl. Schausten 2006, 175. Schausten 2006, 176. Schausten 2006, 179. Vgl. Schausten 2006, 177. Schausten 2006, 177. Schausten 2006, 179.
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anhaftenden Teil wahrzunehmen,²⁹⁷ zum anderen ruft ihr Schlangenschwanz – obwohl in seiner Figurenwahrnehmung als grosser langer ve:ntlicher vnd vngeheUrer wurmes schwancz (97,19 – 97,20) bezeichnet – weder bei Reymund noch beim Rezipienten Entsetzen oder gar Abscheu hervor, die ausführliche Beschreibung seiner Farben scheint vielmehr Ausdruck einer spezifischen Ästhetik zu sein: Der vngeheUre[] wurmes schwancz ist von ploer lasur mit weisser silberin varbe. vnd darunder silberin trpfflin gesprenget vnder e:nander (97,19 – 97,21).²⁹⁸ Und obwohl Reymund ob dieses Anblicks erschreckt (vgl. 98,5 – 98,7), blendet er im Folgenden sein soeben erworbenes Wissen um ihren Gestaltwandel gänzlich aus. Zwar wird in diesem Kontext seine Furcht erwähnt (vgl. 98,7– 98,8), es bleibt allerdings unklar, ob diese Gemütsbewegung eine Reaktion auf das Gesehene ist oder vielmehr Ausdruck seiner Sorge um ihren nun ausstehenden Verlust, die schließlich in der Folge seine Gedanken dominiert. Selbst im Moment ihrer Verwandlung wird die Rezeption folglich so gesteuert, dass die Anderweltlichkeit ihres Wesens zwar präsent, nicht aber im Fokus des erzählerischen Interesses steht. Neben der beschriebenen Wahrnehmung von Melusines verwandeltem Körper sowie der unmittelbar vor Reymunds Beobachtung inserierten Prolepse, die diese Handlung und sein plötzliches Wissen-Wollen explizit verurteilt (vgl. 97,11– 97,14),²⁹⁹ lassen sich weitere narrative Verfahren beobachten, die einer eindeutigen Bewertung Melusines – diesmal als offensichtlich nicht rein menschliches Wesen – entgegensteuern. So fokussiert die ganze Sequenz ganz offensichtlich Reymunds Verbotsübertretung, nicht aber Melusines Gestaltwandel, der seit der ersten Erwähnung im Prolog nicht mehr explizit thematisiert wurde³⁰⁰ und hier nur über die erwähnte kurze Beschreibung ihres verwandelten Körpers zum Gegenstand der Betrachtung wird. Erzählt werden
Die Beschreibung der verwandelten Gestalt folgt einer spezifischen Blicklenkung: Reymund fokussiert zunächst auf den Nabel, blickt von dort aufwärts auf den menschlichen, dann abwärts auf den verwandelten Teil Melusines (vgl. dazu Rippl 2016, 219 f.). Dabei nimmt er die obere Körperhälfte Melusines trotzdem in all ihrer Schönheit wahr: vnd s: was von dem nabel auff auß dermassen vnd vnaußsprechlich ein schn weiplich pilde von le:b vnd von angesicht vnseglichen schn (97,16 – 97,17). Dies, wie auch die in Erzählerrede wiedergegebene Wahrnehmung Reymunds, der dise greüsenliche vnd fremde geschff an seinem gemahel gesahe (98,4– 98,5), erwecken den Eindruck, der verwandelte Körperteil sei kein wesenhafter Bestandteil seiner Frau. Vgl. Drittenbass 2008, 105. Eigentlich müsste Melusines wurmes schwancz (97,19 – 97,20) gemäß biblischer Tradition als Teufels- oder Dämonenzeichen verstanden werden. Auch Schausten 2006, 178, betont, dass diese Verurteilung von Reymunds Handlung der Schilderung dessen, was er sehe, vorgelagert sei. Darüber hinaus werden die im Rahmen der Prolepse in Aussicht gestellten negativen Konsequenzen als Resultat seines Handelns und nicht ihres dämonischen Wesens erzählt. Vgl. Steinkämper 2007, 107.
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seine Erleichterung über Melusines eheliche Treue, seine Reue, seine darauffolgende zornige Reaktion sowie seine Klage über den möglichen Verlust.³⁰¹ Auch problematisiert der Text hier implizit Reymunds neuen Status als Sehender, dessen – wie auch der neu gewonnenen Perspektive auf Melusine – er sich offenbar zu entledigen sucht, wenn er das Loch sofort wieder verschließt,³⁰² was zugleich als Intention gewertet werden kann, seine Verbotsmissachtung vor Melusine zu verbergen.³⁰³ An dieser Stelle wird somit das Anderweltliche der Figur trotz seiner Evidenz auf verschiedene Weise und nicht zuletzt auch über eine positive Zeichnung der Figur selbst relativiert. So ahndet sie seinen Tabubruch nicht sofort, sondern inszeniert sich stattdessen als unwissende und fürsorgliche Ehefrau und begibt sich im Anschluss in eine bis zu diesem Zeitpunkt einzigartige Intimität.³⁰⁴ Ihre Vgl. den unmittelbar auf seine Beobachtung folgenden Zorn auf seinen Bruder (98,11– 99,16), seine Reflexionen über das eigene Fehlverhalten sowie seinen Eidbruch (99,21– 99,28; 100,8 – 100,10). Dabei beurteilt Reymund seine Tat und nicht etwa das Gesehene stets negativ, mehrfach ist im Rahmen der Figurenwahrnehmung vom Bruch des Gelübdes (vgl. 99,26; 99,28) sowie von seiner vntreU (100,8; 101,2) die Rede. Vgl. Schausten 2006, 179. Ziep 2006, 249, deutet Reymunds Verschließen des Loches als Akt der Vertuschung, der mit dem Wissen um die erfolgreiche Verheimlichung des Jagdunfalls vollzogen werde: Er sehe seine Zukunft in Gefahr und besinne sich deshalb „auf bewährtes Wissen und versucht die Tat zu vertuschen.“ Im Hinblick auf Melusines Mehrwissen und auch strategisches Handeln erscheint bedeutsam, dass sie eine erotische Situation schafft und sich Reymund sexuell nähert, noch bevor sie diesem nach seinem Befinden fragt: Jn dem so kommt Melusina vnd entschloß mit irem schlssel die kamer auff vnd gieng hineyn z re:mund vnd schloß wider z vnd zoch sich auch nacket auß vnd leget sich z re:mund an se:n pedt vnd kust vnd vmbfieng in gar tugentlich (100,22– 100,26). Vgl. zum Verhältnis von Wissen und Begehren in dieser Szene auch Schnyder 2011, 464. Erst in dieser Situation erfragt sie die Ursache seines Verhaltens, die sie, das macht sowohl die Inszenierung der Szene als auch der darauffolgende Erzählerkommentar deutlich (vgl. 101,2– 101,7), natürlich bereits kennt. Nichtsdestoweniger führen ihre Sorge (re:mund aller liebster herre vnd gemahel wie gehabt ir eüch oder wie ist eüch se:t ir plde oder was gebricht eüch / vrchtent oder besorgent ir eUch [100,28 – 100,30]) und ihre Inszenierung als Unwissende zu einer positiven Rezeption der Figur. Bemerkenswert erscheint darüber hinaus, dass Melusine Reymund hier zum ersten Mal irzt; selbst mit Blick auf den jeweiligen Wissensstand der Figuren lässt sich dieses veränderte Redeverhalten aber nicht eindeutig bestimmen. So könnte es Ausdruck des veränderten Verhältnisses zwischen den Figuren sein: In diesem Fall wäre die Nutzung der Höflichkeitsform durch Melusine als tatsächliche Anerkennung ihrer nun untergeordneten, weil von Reymunds Verschweigen des Gesehenen abhängigen Position zu verstehen. Dies korrespondierte Reymunds erstmaliger Anrede der Figur mit Namen und Du-Form – wenn auch in seiner Klage und nicht im direkten Dialog mit ihr –, die dann ebenfalls als Ausweis seiner nun veränderten hierarchischen Lage zu interpretieren wäre (vgl. zu dieser Interpretation Steinkämper 2007, 114). Alternativ könnten diese beiden markanten Veränderungen im Anredeverhalten auch als Etablierung von Distanz bzw.
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auch in dieser Situation geäußerten Bezugnahmen auf die göttliche Instanz (vgl. 100,31– 100,32; 101,10 – 101,11) können dabei erneut als strategisches Kalkül verstanden werden; dieses Mal provozieren sie jedoch weniger Skepsis, sondern zeigen Melusine vielmehr als Figur, die plötzlich von Reymunds Wohlwollen abhängig ist und die ihn trotz seines Wissens um ihren Gestaltwandel von ihrem guten Wesen überzeugen muss. Wie bei der ersten Begegnung gelingt es Melusine also auch in diesem Kontext mit den Verweisen auf die hilff gotes (100,32), Reymund aus seiner Lethargie zu befreien. Im Gegensatz zu jenem ersten Aufeinandertreffen kombiniert sie diese aber nicht mit ihrem übernatürlichen Wissen, die dort geäußerten strategisch anmutenden Verheißungen werden weder revidiert, noch spielten die an den Eidbruch gekoppelten Konsequenzen eine Rolle oder träten gar ein. Obgleich Melusine hier ihr Mehrwissen also nicht explizit ausstellt, wird es aber nichtsdestoweniger auch in dieser Szene thematisch, sofern es der Erzähler für eine positive Rezeption der Figur funktionalisiert: In der Kommentierung von Reymunds Hoffnung auf Melusines Unwissenheit stellt der Erzähler ihr Wissen um seinen Treuebruch eigens heraus, um vor diesem Hintergrund ihr Verzeihen besonders großmütig erscheinen zu lassen:³⁰⁵ Aber s: wuste es alles wol wiewol s: nit deß geleich dem thett. Doch thett s: es darumb das s: verstnd das er noch keinem menschen nichcz dauon gesaget. vnd die sach im selbes behalten / vnd vmb die sach grosse reU hett (101,2– 101,6). Bemerkenswert erscheint, dass Melusine den hier vom Erzähler artikulierten Aspekt der Reue nicht erwähnt; sie betont zwar später ihr Wissen um das Geschehen und erklärt ihre Motivation, den ersten Tabubruch nicht zu ahnden,³⁰⁶ erklärt ihr Handeln aber gerade nicht als Wunsch nach Nähe gedeutet werden: Während Melusine Reymunds Reaktion auf sein neu erworbenes Wissen nicht vorhersehen kann, prinzipiell von einer – später ja auch tatsächlich eintretenden – Distanzierung Reymunds ausgehen muss und deshalb gewissermaßen vorausschauend Distanz zu ihm schafft, wird in Reymunds Klage die Sorge um ihren Verlust und damit der Wunsch nach Intimität artikuliert. Da er sein Wissen hier nicht öffentlich macht, kann Melusine ihm diese intime Nähe trotz anfänglicher Distanzierung dann auch gewähren. Die Tatsache, dass Melusine ihn nach dieser ersten Verbotsübertretung wieder duzt, so auch unmittelbar vor seiner öffentlichen Anklage, mag diese Interpretation plausibilisieren. Zugleich würde dies aber auch dafür sprechen, das Irzen hier als Ausdruck ihrer Sorge um die Veröffentlichung seines nun erworbenen Wissens und damit als spezifische Form des vorausschauenden Krisenmanagements zu verstehen; in diesem Fall zeugte sie ihm hier nur scheinbar Respekt und bestätigte ihn in einer vermeintlich dominanten Position, um die aus der Infragestellung seiner Ehre womöglich resultierenden Handlungen zu verhindern. Drittenbass 2011a, 91, wertet diesen Erzählerkommentar hingegen als Element des Spannungsaufbaus. noch hett ich mich gelitten in dem das du mich in dem pade hettest gesehen. wann du dir das heymlichen hettest behalten vnd verschwigen vnd keinem andern menschen geoffenbart / wann alle dieweil der poß veint das nit gewißt hett / so hett es mir nit geschadet (117,4– 117,9).
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Resultat von Reymunds Schuldbewusstsein, sondern betont den Aspekt der Verschwiegenheit.³⁰⁷ Diese Differenz zwischen Figuren- und Erzählerbewertung legt die Vermutung nahe, dass die Erklärung des Erzählers, Melusine vergebe den Tabubruch auch aufgrund von Reymunds Reue, hier eine erneute Fokussierung von Reymunds – auch selbst eingestandenem – Fehlgehen intendiert, um so dem Aspekt des mit seinem Verschweigen assoziierten Gestaltwandels nicht ausschließliches Gewicht einzuräumen. Während der Rezipient zuvor Reymunds eingeschränkte Sicht auf Melusine aufgrund der Latenz jener skeptischen Perspektiven nicht gänzlich teilen konnte, wird an dieser Stelle durch die erwähnten Verfahren eine Übernahme der Perspektive Reymunds intendiert. Obwohl er seine Frau gerade in ihrer puren Kreatürlichkeit gesehen hat und in dem nun erworbenen Wissen um ihren Gestaltwandel den Vorwurf ehelicher Untreue negieren kann, reflektiert er selbst zu diesem Zeitpunkt nicht jenes vom Bruder artikulierte Misstrauen hinsichtlich ihres gespenstischen Wesens. Vielmehr ist sein Urteil über sie – zumindest noch an dieser Stelle – durchweg positiv.³⁰⁸
Dies insbesondere auch über die Nennung jenes poß veint, dessen Status ungeklärt bleibt, womöglich aber – wie Müller 1990, 1034, mutmaßt – den „Agens des Fluchs“ meint (vgl. zur potentiellen Referenz Thürings auf die in Vinzenz von Beauvais Speculum naturale zu findende theologische Lehrmeinung, auf die mit poß veint hier angespielt sein könnte, 1074; vgl. auch Schnyder 2006b, 31). Nach Mühlherr 1993, 37, mache die Artikulation des Dämonievorwurfs Melusine „zum Opfer des ‚Feindes‘“, durch die Negation der eigenen Schuld liefere Reymund seine Frau dem Bösen aus. Fraglich bleibt dabei, in welchem Maße Melusine ihr Schicksal selbst bestimmt und welcher Handlungsspielraum ihr dabei zukommt. Dies lässt die Erzählung offen. Nach Müller 2007a, 98, entspreche die Nicht-Ahndung des Tabubruchs „genealogischer Alltagslogik“; solange das Wissen um Melusines Körper geheim bliebe, sei es belanglos: „Genealogische Legitimität ist ein Prinzip der öffentlich geltenden Rechtsordnung. Sie ist es, die den Verlauf dominiert, nicht der Mechanismus des Martenehenschemas.“ vnd also sich re:mund diser sachen alle begund e:gentlichen bedencken vnd besinnen. do begund er gar :nnigklichen z erseüffczen / vnd hett in seinem herczen grossen iamer vnd herczenleit / vnd klagte seinen grossen kumer herczenlichen ser vnd begund sprechen. Ach der ellenden stund das ich armer man :e geporn wardt / Sol ich nun durch mein vntreU verlieren die / die alle mein freüd vnd mein auffenthalt mein kürczweile mein trost vnd mein zuersicht ist. vnd vor leide und iamer zoch er sich auß vnd legt sich an ein pedt vnd weinet pitterlichen vnd sprach: Ach Melusina sl ich dich verlieren. so wil ich doch durch die wste varen vnd mich gancz von der Welt ziehen vnd ein einsidel werden vnd mich der welt gancz nit mer vnderziehen das tre:b er den ganczen tag. vnd darz auch die nacht on auffhrung vncz des andern tages der do was der Suntag / vnd wendet sich nun hin nun her nun auff den pauch nun auff den rucken nun stnd er auff nun leget er sich wider nider / vnd frt also ein klegliche weise das alle die seinen in grossem kummer waren (100,2– 100,20). Neben diesem Soliloquium zeigt sich die überaus positive Bewertung Melusines auch schon in der vorangehenden Rede an seinen Bruder: dann s: ist frumm vnd aller schand vnschuldig (99,6 – 99,7).
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Trotz der offensichtlich dämonischen Attribute Melusines³⁰⁹ ermöglicht auch die erste direkte Konfrontation mit Melusines Gestaltwandel – sowohl bei Reymund als auch auf Rezeptionsebene – somit gerade keine eindeutige, in diesem Fall negative Bewertung der Figur.³¹⁰ Ihre Ambivalenz bleibt bestehen, ist poetisches Programm: Von ihrer ersten Begegnung bis zu Reymunds Verbotsübertretung wird sie als gute Christin und zweifelhafte Gestalt, bei der Beobachtung im Bad als schlangenhaftes Mischwesen und liebende Ehefrau inszeniert. Dass diese unentscheidbare Doppelwertigkeit ein wesentlicher Bestandteil der Figurenkonstruktion ist, zeigt sich erneut im Rahmen des öffentlichen Tabubruchs. Während ihr Gestaltwandel im Anschluss an Reymunds Beobachtung im Bad weder von diesem noch in Erzählerrede erneut thematisiert wird, halten die primär auf Reymunds Eidbruch fokussierenden Prolepsen sein Fehlgehen präsent, auf das auch in der Schilderung des zweiten Tabubruchs insistiert wird. Auch hier zeigt sich jene Diskrepanz zwischen offensichtlich dämonischen Wesensmerkmalen und deren positiver Wahrnehmung: So wird Reymunds öffentliche Beschimpfung gerade nicht als Bestätigung des zuvor stets präsenten Verdachts der anderen Figuren wahrgenommen, denn nicht der Dämonievorwurf dominiert die Wahrnehmung der Anwesenden, sondern das Mitleid mit Melusine. Ihre ob des Schreckens über die öffentliche Beschimpfung eintretende Ohnmacht ruft bei den Umstehenden nämlich Entsetzen hervor, das die Verwunderung über das gerade Gehörte übersteigt: Die herren vnd die diener erschracken außdermassen ser von den worten die s: gehrt hetten iren herren z ir reden. vnd noch vil mer do s: sahen die frawen so schnell vallen. vnd so gar von allen krefften kummen (115,20 – 115,24). Auch die Reaktion der anwesenden Figuren auf Melusines Verwandlung, die ihr anderweltliches Wesen eindeutig belegt,³¹¹ ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Waren die Perspektiven auf Melusine bis zu diesem Zeitpunkt nämlich von Misstrauen und Skepsis geprägt, werden die sie wahrnehmenden Figuren im Moment ihrer – nun sogar öffentlichen – Verwandlung zu einem „Kreis bestürzter
Vgl. Drittenbass 2008, 99. Auch Mühlherr 1993, 40, betont: „Doch an ihrem guten katholischen Glauben zweifelt Raymond – angesichts der traditionellen ‚christlichen‘ Negativbesetzung des Schlangensymbols im Zusammenhang mit der weiblichen Natur überraschenderweise – auch nach der Entdeckung des Tabukörpers keineswegs.“ do thett s: vor in allen einen sprung. vnd sprang gegen einem venster vnd schoß also z dem venster auß vnd was zstund eines augenplickes vnder der grtel widerumb ein veintlicher vngeheUrer langer wrm worden […] Melusina schoß durch den lfft schnell vnd vmbfr das schloß dreistund / vnd ließ z :edem mal einen grossen schre: gar zmal erpermlichen / Vnd schoß also durch den lufft hin schnell (123,3 – 123,13).Vgl. Drittenbass 2008, 95 f.: „Mit Reptilform und Wegflug sind unübersehbar zwei traditionsgemäß dem Diabolischen verpflichtete Elemente im Spiel.“
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Zeugen der Tragik.“³¹² Während der Anblick ihres Schlangenkörpers lediglich zu Verwunderung führt – des s: sich alle ser wunderten. dann nýemant vnder in allen s: vormals also gesehen hett (123,7– 123,9) –, dominiert im Anschluss an ihr Verschwinden die Trauer um ihren Verlust und um ihr tragisches Schicksal: Es klagt sich re:mund vnmeßlichen vast das alle die seinen vnd wer das sahe mit im mst klagen vnd weinen. Dann auch sunst vmb Melusina gar grosse klag was in allen iren landen vnd anderß wo / wo man s: :e erkant hett (125,3 – 125,6). Diese positiven Reaktionen auf Figurenebene stellen dabei nicht nur jene Divergenz von öffentlicher Wahrnehmung und Figurenattributen explizit aus, sondern fungieren hinsichtlich der Bewertung Melusines auf Ebene des Rezipienten darüber hinaus als positive Sympathiesteuerungsverfahren. Der Evidenz ihres verwandelten Körpers wird somit auch an dieser Stelle eine diese relativierende positive Darstellung entgegengesetzt, wie in der Badszene wird der Fokus auf Reymunds Eidbruch und nicht auf die Ursache des Sichtverbots bzw. Schweigegebots gerichtet. Die Schilderung von Reymunds vorausgehenden Überlegungen sowie die Problematisierung des von ihm hergestellten Kausalzusammenhangs von Brandstiftung und Schlangenleib,³¹³ die Betonung seines Zorns noch vor der öffentlichen Anklage, der sein Handeln explizit ver-
Vgl. Mühlherr 1993, 37. Auch Schnyder 2011, 467 f., betont die ungewöhnliche Reaktion der anwesenden Figuren und vergleicht die Schilderung des Erzählers mit der „eines ‚normalen‘ Todesfalls“. Vgl. auch Schnyder 2006c, 127. Indem Reymund versucht, Goffroys Tat durch Melusines Wesen zu erklären, stellt er erstmals eine Verbindung zu den auf Melusines gespenstisches Wesen zielenden Gerüchten des Bruders her: Erst jetzt erscheint ihm Melusine als ein merfe: vnd gespenst we:b (112,31) und „wird ihm der Schlangenleib, bisher Zeichen einer geheimnisvollen Herkunft, zum Zeichen einer bösen Natur“ (Mühlherr 1993, 40). So schlussfolgert er: Es ist gancz ein gespenst vmb diß weib / das mag ich wol prfen. wan s: sich in dem pad erzeigete also ein halber mensch vnd ein halber wrm. Das doch ein greUsenlich angesicht was (113,5 – 113,9). Drittenbass 2008, 105 f., hat darauf hingewiesen, dass Reymund auch an dieser Stelle den Schlangenschwanz wie bei seiner ersten Beobachtung nicht interpretiere, sondern er hier primär Schrecken verursache: „Reymond ist also von einem Sinneseindruck durchdrungen, der jedoch keinen tieferen Einblick in Melusines Wesen nach sich zieht, sondern an der Oberfläche des Sichtbaren stehen bleibt. Der sich aus Melusines Doppelgestalt ergebende gespenstische Aspekt wird hier noch nicht mit ihrer (vorgeblichen) moralischen Bosheit in Verbindung gebracht, sondern steht vorläufig für das Nicht-Geheure, das Angst- und Sorge-Einflössende ihrer Erscheinung“. Eine Verbindung zwischen Äußerem und moralischer Dimension entstehe erst in der öffentlichen Anklage. Vgl. zu diesem Aspekt die Entsprechung bei Coudrette, wo Reymund das Gesehene an dieser Stelle nicht wie bei Thüring als gespenst beurteilt, sondern den Schlangenschwanz als Teufelszeichen interpretiert: Dieu me gart d’euvre de deable, / Mais me tienge en foy catholique (V. 3826 – 3827). Diese Abschwächung bei Thüring mag dabei sowohl als Plausibilisierung seiner sofortigen Reue und seiner Trauer, als auch als Bestandteil jener positiven Zeichnung Melusines verstanden werden.
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urteilende Erzählerkommentar unmittelbar im Anschluss an seine Beschimpfung, seine Reue, seine Klage über ihren Verlust und seine Bitte um Vergebung lenken die Aufmerksamkeit auf Reymunds Schuldigwerden;³¹⁴ seine Anklage, die Projektion des Bösen auf seine Frau³¹⁵ erscheint als das eigentliche Vergehen, „nicht der entlarvte Dämon ist der Skandal, sondern die Entlarvung aus Mangel an Selbstkontrolle.“³¹⁶ Melusine nämlich wird in dieser Sequenz positiv und damit im Kontrast zu Reymund gezeichnet:³¹⁷ Eingeführt als tgentreich vnd hochgeporne (113,18) wird ihre Weisheit – im Kontrast zu Reymunds Zorn – betont (vgl. 113,18; 114,1), im Moment der Enthüllung ihres Geheimnisses demonstriert sie Schwäche und Verletzlichkeit; nach ihrer Ohnmacht wieder bei Bewusstsein artikuliert sie ihre eigene Verantwortung für das Geschehen, indem sie ihre Zuneigung zu ihm als eine die Ereignisse erst ermöglichende Bedingung problematisiert (vgl. 116,6 – 116,13), sie betont ihre Gnade beim ersten Tabubruch (vgl. 117,4– 117,9) und seinen Verrat (vgl. 116,13 – 116,15; 117,1– 117,4; 117,11– 117,14). In diesem Kontext ist es dabei nicht zuletzt ihre durch Reymund verhinderte Erlösungschance (vgl. 116,15 – 117,1; 117,14– 117,20), die sie paradoxerweise in ihrem christlichen Status final bestätigt – trotz ihres anderweltlichen Wesens. Und obwohl sie ihm nun die Folgen seines Eidbruchs prophezeit (vgl. 117,10 – 117,11)³¹⁸, ist es ihr nicht nur schwer vnd le:d (117,28), ihn verlassen zu müssen, sondern sie verspricht ihm auch künftig Bei-
Vgl. den Hinweis des Erzählers auf den Zorn Reymunds (113,14– 113,15; 114,1– 114,9), die Vorausdeutung auf Reymunds selbst verschuldetes Unglück (113,14– 113,17), die Beschreibung seines der Anklage vorausgehenden Blickes (114,13 – 114,15) sowie den die öffentliche Beschimpfung explizit verurteilenden Erzählerkommentar, der den Bruch des Gelübdes eigens betont (115,6 – 115,16). Vgl. außerdem die ausführlichen Beschreibungen von Reymunds Trauer und Reue (120,8 – 120,17; 123,15 – 124,1), seine Bitte um Vergebung (121,7– 121,10) und die Klage um ihren Verlust (124,2– 124,14). Vgl. Mühlherr 1993, 37. Müller 1990, 1035. Vgl. zu den Melusine betreffenden positiven Sympathiesteuerungsverfahren in dieser Szene Dimpel 2014, 222 f. Vgl. auch ihre Äußerung: Vnd du hast nun dir selbs erworben. das dein le:den. kummer vnd arbeit :eczundt anuahet / vnd es würt dir ser übel vnd mißgeen. vnd dein lant wrt nach dir weit gete:let. vnd nymmermer wider z samen in ein hant kummen. Ettliche deines gesiptes geschlechtes die werden auch vngeuellig vnd nymmer frid gewynnen (117,21– 117,26). Dass die negativen Konsequenzen eines Eidbruchs dabei weniger in einem allgemeinen, schicksalhaften Unglück begründet liegen, sondern vielmehr aufgrund ihres Verlusts eintreten bzw. weil sie nicht mehr für das Wohlergehen der Familie sorgt, legt die auf diese Vorhersage folgende Äußerung Melusines nahe: Nun hab dein frbaß in acht dann ich dir frbaß kein geselschaft nymmer mer gele:sten mag (117,26 – 117,27). Drittenbass 2011a, 109, sieht in den Abschiedsdialogen eine Abschwächung der ursprünglichen Konsequenzen des Tabubruchs, insgesamt werde eine positive Zukunft prophezeit.
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stand (vgl. 122,4– 122,5). Dabei wird die in der Rede Melusines anklingende gegenseitige Zuneigung der beiden um die Beschreibung einer auch körperlichen Dimension ergänzt.³¹⁹ Die Darstellung der beiden als Liebende, die ob der nun anstehenden Trennung verzweifeln, steuert dabei ganz offensichtlich eine positive Rezeption der Figur; ihren Höhepunkt findet die Betonung dieser emotionalen Dimension in den jeweiligen Abschiedsreden, die von Ertzdorff „in ihrer ergreifenden Innigkeit zu den literarischen Höhepunkten der Romankunst des 15. Jahrhunderts“³²⁰ zählt. Die in Melusines Klage geäußerten Segenswünsche und Lobpreisungen Reymunds (vgl. 122,10 – 122,14), ihre anhaltende Bindung an ihren Herrschaftssitz³²¹ und ihre mütterliche Fürsorge³²² verhindern somit eine negative Bewertung der Figur, obgleich ihr anderweltliches Wesen nicht nur höchst präsent ist, sondern sie darüber hinaus erneut jenes übermenschliche Mehrwissen offenbart, indem sie das künftige Schicksal der Familie voraussagt und dieses sogar zu beeinflussen weiß. In ihrer Lenkung des zukünftigen Familienglücks wird dabei die für diese Figur charakteristische Ambivalenz allerdings massiv thematisch: Zwar intendiert sie das Wohlergehen ihrer Familie und ist dabei insbesondere um den Erfolg der zwei jüngsten Söhne bemüht, nichtsdestoweniger akzentuieren ihre Anordnung, Horrible zu töten, sowie ihre Deutung des Klosterbrands den latent dubiosen Aspekt ihres Wesens.³²³ Dennoch überla-
Re:mund stnd auff vnd gieng z Melusina mit gar imerlichen geperden. vnd vmbfieng vnd kust s: mit grossen betrbtnussen vnd weinet pitterlichen / vnd von grossem vnd vnaußsprechlichem herczen leide so s: beide hetten / des scheidenshalb. viellen s: beide stracks n:der auf die erden. […] Vnd so s: wider z inselbes ettwas waren kommen. do weinten s: be:de pitterlichen ser (120,17– 121,6). Von Ertzdorff 1989, 68. So kündigt sie nicht nur an, künftige Herrscherwechsel durch ihr Erscheinen am Schloss anzuzeigen (vgl. 118,22– 118,32), sondern erklärt auch ihre spezielle Verbindung zu diesem: dann ich meines tauffnamens auch eines te:ls an das schloß gelegt hab […] Aber das ich das schloß lassen vnd dauonsche:den mß / das benymmet mir alle freüde vnd bringet mir grosses trawren (118,30 – 119,2). In ihrer Abschiedsrede bittet sie außerdem um göttlichen Segen für ihr Volk und das Schloss (vgl. 122,24– 122,26). Melusine ist nicht nur bemüht, den zukünftigen Erfolg der beiden jüngeren Söhne und Reymunds väterliche Pflichten sicherzustellen (Aber deines suns re:mundes wllest nit vergessen / dann der selb sl graf im vorst werden an deines prder stat. auch gedenk an Ditterich deinen iüngsten sun der noch an der ammen ist Dann er z Portenach vnd z Rotschelle herre sein vnd werden sl [121,14– 121,18]), sondern kehrt auch nachts ins Schloss zurück, um diese beiden Söhne zu säugen (vgl. 126,22– 126,27). Die dieses Geschehen beobachtenden Ammen berichten Reymund davon, der dies allerdings weder als beunruhigend noch erschreckend empfindet, sondern Hoffnung schöpft, Melusine wieder gewinnen zu können (vgl. 126,26 – 126,32). Vgl. zur Deutung des Klosterbrands die Ausführungen oben, Kap. 4.1.2. Mit der Anweisung, Horrible zu töten, intendiert Melusine zwar, das die Familie ereilende Unglück vorerst abzu-
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gern diese knappen Pointierungen nicht die gleichzeitig eingesetzten positiven Verfahren der Figurendarstellung. In diesem Kontext erscheinen nämlich auch ihre Bezugnahmen auf die göttliche Instanz – trotz der bereits herausgestellten Ambivalenz ihrer auf einen providentiellen Horizont referierenden Deutung des Geschehens – als ein Sympathie generierendes Erzählverfahren: So hofft sie trotz ihrer durch Reymund verhinderten Erlösung auf die göttliche Vergebung seiner missetat (120,4– 120,5) und bittet auch ihn, für sie zu beten (vgl. 122,2– 122,4). Melusines daran anschließende Ankündigung, Reymund werde sie in weiplicher natur nit mer gesehen (122,6), realisiert sich unmittelbar nach ihrer Abschiedsrede; trotz ihres Anblicks als veintlicher vngehUrer langer wrm (123,6 – 123,7), ihres Wegflugs und Geschreis ist Reymund in gar grossem vnseglichem leide
wenden, nichtsdestoweniger erscheint der Mord an einem ihrer Kinder höchst suspekt. In ihrer Vorhersage begründet sie die Tötung Horribles sowohl mit dessen bösem Wesen, das sich auch in seinen körperlichen Merkmalen manifestiert, als auch mit dem aus dieser Bösartigkeit resultierenden Verhalten: Horribel […] den slt du nit lebentig lassen / dann zstund nach meinem hinscheiden tten vnd verderben. dann er hat dre: augen an die welt pracht / vnd ob er lebentig blibe / so enmcht in dem ganczen lande von Poitiers von grossem krieg so do wrde nymmermer korn noch anders gewachssen wann er wrd es gancz vnd gar verwüsten / vnd seine prder wrd er alle z rechter armt bringen vnd alle seyn freünd vnd die seines geschlechtes se:n wrde er alle verderben / vnd verheren (117,31– 118,8). Diese Vorhersage Melusines auf Horribles Taten korrespondiert dabei mit seiner negativen Beschreibung durch den Erzähler bei dessen Geburt: Nit lang darnach gewan s: den achtenden sun / der selb hett dreü augen der eins jm an der stirnen stnd / der selb ward Horibel genant / diser was und ward bser sitten / vnd alles sein gemt vnd hercz stnd nur auff arges (50,20 – 50,24). Trotz dieser negativen Zeichnung der mit dem sprechenden Namen Horrible versehenen Figur erscheint – gerade auch vor dem Horizont der von Goffroy begangenen Brandstiftung und dem Mord an den Mönchen, die als göttliche Strafe sanktioniert werden – die Anweisung zum Mord unverhältnismäßig. Dabei ist auch bemerkenswert, wie die Hofgesellschaft das Gebot Melusines in der Folge ausführt: Sie legen den Knaben in einen keler vnd verstopfften alle venster vnd trgen nasses heU vnd nasses stro z. vnd stiessen das mit feUr an vnd ersteckten in in dem keller z tod (126,10 – 126,13). Dieses Vorgehen mag über die Sorge ob des mit ihm einbrechenden Unglücks relativiert werden (vnd wolten frkommen das groß übel / so von Horribel irem sun auffersteen slte [126,8 – 126,9]), erinnert dabei aber sehr deutlich an das Verderben der Mönche im Feuer durch Goffroy, welches auf diese Weise erneut problematisiert wird. Vgl. zur Deutung Horribles auch Störmer-Caysa 1999, 257– 260. Mühlherr 1993, 25, vergleicht diese Tötung Horribles mit „einer Dämonenaustreibung“ und weist darauf hin, dass mit Horrible erzählstrukturell jenes Unglück bereitgestellt sei, das zum Untergang der Familie und zur Strafe für den Tabubruch führte. Indem sie die Anweisung zu seiner Tötung gibt, setze sie den „Mechanismus der Rache für das Vergehen ihres Gemahls außer Kraft“ (25). Auch Wyss 2002, 390, bemerkt in Bezug auf die Beschreibung Horribles: „Er war böse und er wurde es: In der unscheinbaren Doppelform verbirgt sich der Keim eines ganzen Entwicklungsromans“. Kellner 2001, 292, hingegen sieht in der Tötung eines „Sippenmitglieds“, in der nahezu rituellen Opferung eines Sündenbocks, eine „archaische Form der Entsühnung“ für das der Familie inhärente Schuldpotential.
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vnd in grosser quale (123,16 – 123,17), er schreit, weint und reißt sich das Haar aus. Seine an die mittlerweile abwesende Frau gerichtete Abschiedsrede sowie die Darstellung seiner Trauer um ihren Verlust beschließen die Szene über Melusines öffentliche Verwandlung. Was bleibt, ist nicht die Erinnerung an Melusines Schlangengestalt, sondern an den Kummer Reymunds, dem nach ihrem Verschwinden die erzählerische Aufmerksamkeit gilt. Erst im Anschluss erfährt man mit Goffroy über die Ursache ihres samstäglichen Gestaltwandels, so dass erst zum Ende der Erzählung die Ambivalenz der Melusine-Figur erneut thematisch wird. In der Forschung werden jene, einer positiven Figurenzeichnung widersprechenden Elemente nicht selten – und dies klingt auch in Müllers These eines „unbewältigte[n] Rest“³²⁴ an – als mythisches Substrat, entweder als Relikte einer nicht gänzlich gelungenen Ent- oder aber als Tendenzen einer Remythisierung verstanden.³²⁵ Die Gleichzeitigkeit von „Dämonisierung und Idealisierung“³²⁶, die
Müller 1990, 1038. So hat etwa Schulz 2004 im Rahmen seiner Untersuchung zu mittelalterlichen Feenerzählungen, die er zum festen Bestandteil des kollektiven Imaginären der zeitgenössischen Adelskultur zählt, in der Melusine, und hier insbesondere im spezifischen narrativen Umgang mit den mythischen Elementen der Hauptfigur, Tendenzen einer Remythisierung beobachtet. Er geht dabei grundsätzlich von einer aktantenlogischen Aufspaltung der übernatürlichen Partnerin in einen harmlosen und einen „bedrohlichen, archaischen, gewalttätigen“ (235) Teil aus, wobei letzterer sich nicht mehr in der anderweltlichen Fee selbst, sondern in anderen Figuren oder Wesen konkretisiere, um so einem insbesondere der zeitgenössischen theologischen Lehrmeinung entstammenden Dämonievorwurf entgegenzuwirken. Die raum-zeitliche Nähe zwischen Fee und den ihre mythischen Elemente nun inkarnierenden, meist bedrohlichen Mächten führe nach mythischer Logik aber dazu, dass – „gegen die Intention dieser narrativen Spaltungsphantasmen“ (235) – die eigentlich abgespaltene Bedrohung wieder zum Bestandteil der übermenschlichen Partnerin werde: „Als Resultat von Höfisierung und theologisch bedingter Depotenzierung der ursprünglich feenhaften Partnerin erscheint paradoxerweise deren Remythisierung: Negative und positive Mächte der Fee und ihres Reichs werden zwar narrativ auf unterschiedliche Figuren aufgespalten, fallen aber nach mythischer Logik wieder in eins“ (235 f.). Laut Schulz verzichte die Melusine auf eine solche aktantielle Spaltung der Fee im Kernbereich der Erzählung und verfolge so – unter anderem in Melusines Mensch-Tier-Gestalt – eine relativ offensichtliche Mythisierung. Im Vergleich zu anderen Erzählungen dieses Typs zeige die Melusine also einen offensiven Umgang mit dem Mythos, wie er sich etwa insbesondere auch in den moralischen Ambivalenzen der Protagonisten und in den Körperzeichen der Söhne dokumentiere. Trotzdem ließen sich aber Tendenzen der Depotenzierung und Delegation des Negativen beobachten: So werde Melusine durch ihre Erlösungsbedürftigkeit und ihre diesbezügliche Abhängigkeit von einem menschlichen Partner und ihr Tabu, das als Strafe der Mutter und nicht als ihrem Wesen inhärent erklärt werde, entlastet; daneben verringere sich die Ambivalenz der Figur durch die Tilgung des absolut Bösen, wie es sich in Horrible manifestiere, dessen Tötung somit als funktionale Auslagerung von Negativität verstanden werden müsse. Auch die Herrschaftsübernahme von Dietrich, einem nicht
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Ambivalenz der Protagonistin ist aber zunächst einmal Ergebnis einer spezifischen narrativen Konstruktion, die sich in ihrer speziellen evaluativen Struktur, ihrer zeitlichen Organisation, den angewandten Verfahren der Perspektivierung, Fokalisierung und Informations- und Wissensvergabe als ambivalentes Erzählen bestimmen lässt. Diese Techniken der Ambiguisierung korrespondieren dabei nicht nur mit der erzählschematisch oder der – vor einem genealogischen Erzählinteresse – funktional bedingten Doppelwertigkeit der Figur, sondern besitzen darüber hinaus besondere Relevanz für die Gesamtkonstitution der Erzählung. In der Folge soll daher mit Blick auf Melusines Herkunft und die ‚Unleserlichkeit‘ ihres Wesens das poetologische Potential dieser Form ambivalenten Erzählens betrachtet werden.
4.2.2 Die poetologische Dimension der Melusine-Figur Die bisherigen Beobachtungen haben gezeigt, dass die programmatische Inszenierung von Ambivalenz sich nicht nur auf die Handlungsstruktur beschränkt, sondern auch ein genuines Merkmal der Figurengestaltung darstellt. Dieser Befund entspricht jenen Annahmen der Forschung, die Ambivalenz als zentrales Charakteristikum der Erzählung ausgemacht haben. Zuletzt hat Schnyder auf dieses Merkmal aufmerksam gemacht und Ambivalenz zu einem wesentlichen Darstellungsprinzip des Textes erklärt: „Verrätselung der Geschichte – dies die
gezeichneten Sohn, müsse in diesem Zusammenhang als Depotenzierung des mythischen Potentials verstanden werden. Zugleich fänden sich im Randbereich der Erzählung jene Figuren der Abspaltung: Die Geschichten der Schwestern dienten zum einen der Entlastung Melusines, zum anderen sei deren mythische Bedrohlichkeit durch die sie umgebenden negativen Mächte erneut abgespalten (vgl. 258 f.). Solche Tendenzen der Remythisierung deutet er dabei als „trotziges Festhalten an einem Phantasma des kollektiven Imaginären, das zunehmend bedroht ist“ (260): Es gehe um die Faszination und imaginative Partizipation an einer traditionellen adligen Lebensführung, wie sie in Zeiten zunehmender sozialer Disziplinierung sich nur mehr literarisch niederschlage. Die Virulenz des Erzählmusters für das kollektive Imaginäre konstatiert auch Müller 2007a, 92 f., der allerdings dessen genealogische Implikationen und hierbei das Moment der Störung betont, das die Erzählungen narrativ prozessierten. Die in den Martenehenerzählungen und insbesondere in den Melusineromanen stets verhandelte Problematik von Kontinuität und Bruch – dem Bruch, der durch den genealogischen Anschluss an die Anderwelt entstehe, werde schließlich feudale Kontinuität entgegengesetzt – versteht er dabei als Auseinandersetzung zweier Ordnungen, einer „imaginäre[n] […] eines auf Herkunft gegründeten politischen Systems“ mit einer solchen alternativer Natur, die die Ursprünge großer Geschlechter verkläre, und somit als „Bewältigung einer Anomalie, die notwendig war, aber im Sinne der traditionalen Ordnung bewältigt werden muß.“ (100) Müller 1990, 1039.
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Grundfigur des Romans.“³²⁷ Die Ausstellung von Konträrem, die Komplexitätssteigerung und Vervielfältigung von Deutungsangeboten auf der Handlungsebene wird dabei über den Einsatz solcher narrativer Verfahren realisiert, die auch für die Konstruktion der Protagonistin eingesetzt werden, wie etwa eine spezifische evaluative Kommentarstruktur, die Gleichzeitigkeit von Begründungssprachen oder aber spezifische Techniken der Innenweltdarstellung und Redewiedergabe. Diese Form ambivalenten Erzählens generiert dabei eine polyvalente Bedeutungsstruktur, so dass sowohl die Handlung als solche als auch die Figur Melusines von einer grundlegenden Vieldeutigkeit – oder aber semantischen Offenheit – gekennzeichnet ist. Neben den in der Darstellung Melusines gebündelten Strategien der Ambiguisierung legt dabei vor allem auch die Prologgestaltung nahe, die Figur als paradigmatisch für die gesamte Erzählung zu verstehen. Nicht nur ist sie dieser in ihrer Doppelwertigkeit emblematisch vorangestellt, auch wird hier eine Analogie zwischen Protagonistin und Gesamterzählung suggeriert, die eine Rezeptionsanleitung für den gesamten Roman zu liefern scheint. Im Prolog wird die für die folgende Handlung programmatische Doppelwertigkeit der Figur als zentraler Gegenstand der Erzählung profiliert: DAs abenteürlich bch erzählt nämlich nicht nur von einer frawen genandt Melusina, sondern es erzählt von ihr als merfa:m und künigin, die zwar alle samstag von dem nabel hin vnder ein grosser langer würm [ward], die aber zugleich ein gar grosse mchtige geschlcht hervorbringt (11,1– 11,7). Ihre Ambivalenz wird dabei als substancz der mater: (12,1) begriffen, die es in der Folge zu erzählen gilt. In diesem Kontext werden zur Beschreibung der h:stor:e nicht nur dieselben Adjektive wie zur Charakterisierung Melusines genutzt (vgl. 12,4– 12,6), sondern diese und die zu erzählende Geschichte werden an anderer Stelle auch in eins gesetzt: Got ist wunderlich in seinen wercken Das bewe:set sich gar eýgenlich an diser fremden figur vnd h:stor:en (12,17– 12,19). Diese Gleichsetzung von Figur und Historie scheint dabei insofern programmatischen Charakters, als die im Roman eingesetzten Verfahren des ambivalenten Erzählens in der Figur gewissermaßen gespiegelt und konzentriert werden, wobei die prinzipielle, das erzählte Geschehen wie die Figur kennzeichnende Deutungsoffenheit auch auf metatextueller Ebene reflektiert wird. Dabei lassen sich sowohl Analogien zwischen der Figur und dem erzählten Geschehen als auch zwischen der Figur und der Erzählung als solcher beobachten: Im ersten Fall werden Ähnlichkeiten in den Reaktionen und Deutungsmustern der Figuren auf Melusine und die erzählten Ereignissen generiert; auf Figurenebene verhandelt der Text damit die prinzipielle Abhängigkeit von Wahrnehmung, Beurteilung und Fortgang des Geschehens. Im zweiten Fall in-
Schnyder 2006c, 137.
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szeniert sich die Erzählung als solche entsprechend ihrer Hauptfigur und dies sowohl in Bezug auf den zeitgenössischen curiositas-Diskurs als auch in der Thematisierung von Melusines Herkunft; auf diese Weise werden Möglichkeiten und Grenzen von ‚Lesbarkeit‘ und hermeneutischem Verstehen diskutiert. Blickt man auf die Relation zwischen Protagonistin und erzähltem Geschehen zeigt sich demnach eine Analogie zwischen der Deutung Melusines und der des Geschehens aus der Perspektive der anderen Figuren: So wie für Melusine, ihr Wesen, ihre ‚Natur‘ stets mehrere mögliche Erklärungen artikuliert werden, finden sich für das erzählte Geschehen stets divergierende Interpretationen auf Figurenebene; dabei werden in beiden Fällen aber nicht nur verschiedene Deutungen von je verschiedenen Figuren angestellt,³²⁸ sondern einzelne Interpretationen sind in sich ambig, sofern sie mehrere mögliche Ursachen benennen.³²⁹ Während über die Inserierung dieser divergierenden Geschehensinterpretationen Ambivalenz generiert wird, dienen auch die verschiedenen, deutenden Perspektiven auf Melusine – neben anderen Verfahren – ihrer Ambiguisierung. Auf diese Weise wird die These über Melusines Konstruktion als Auslegungsobjekt, das sich in den verschiedenen Perspektivierungen der anderen Figuren allererst konkretisiert, auch auf die Erzählung als solche übertragbar, sofern der Text den Rezipienten gerade nicht nur mit den oszillierenden Blicken auf die Figur, sondern auch mit jenen konkurrierenden Deutungen des Geschehens konfrontiert. So macht der Text die erzählten Ereignisse letztlich ebenfalls zu einem Auslegungsobjekt der Figuren – sowohl Melusines Status als auch der Sinn des Geschehens werden somit als jeweils interpretationsabhängig inszeniert: „Damit aber wird auch das, was jeweils als Wahrheit im Text bezeichnet ist, als abhängig von demjenigen erzählt, der diese Wahrheit als solche behauptet.“³³⁰ Dabei ist die Wahrnehmung der Melusine kritisch beäugenden Figuren für deren Handeln und die Möglichkeit einer Gründung des Geschlechts ebenso bestimmend, wie die jeweilige Interpretation der Ereignisse über den weiteren Verlauf der Handlung entscheidet, wobei dies anhand der über die kausale Konstruktion Für Reymund ist Melusine glücksbringend und trostspendend, die anderen Figuren begegnen ihr hingegen mit Skepsis und Zweifel (vgl. die Ausführungen in Kap. 4.2.1); der Jagdunfall wird als Walten einer launischen Fortuna oder als göttliche Vorsehung interpretiert (vgl. die Ausführungen in Kap. 4.1.1). Während Reymund zunächst unsicher ist, ob es sich bei Melusine um ein gespenst oder fraw (23,1) handelt, sieht dessen Bruder die Ursache ihrer samstäglichen Abwesenheit entweder in ihrer bbre: oder aber in ihrem vngeheUr wesen (96,22) begründet; in der Interpretation Melusines ist der Klosterbrand und der darauffolgende Eidbruch Resultat göttlicher Fügung, einer launischen Fortuna und von Reymunds individuellem Fehlverhalten (vgl. die Ausführungen in Kap. 4.1.2). Schausten 2006, 181.
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vermittelten Relevanz individueller Handlungen, affektiver Reaktionen und subjektiver Deutungen für den Fortgang eines Geschehens deutlich ausgestellt wird. Auch wenn also in der narrativen Herleitung des Geschehens Verantwortung recht ausdrücklich zugeschrieben wird und dieses insgesamt kausallogischen Ursache-Folge-Zusammenhängen folgt, zeigt sich in einer solchen Inszenierung doch die Problematisierung von Deutungskompetenzen und ihrer jeweiligen perspektivischen Gebundenheit. Enggeführt wird diese Verschränkung von Figuren- und Handlungskonstruktion bemerkenswerterweise in der Figur selbst, denn in der Interpretation des Tabus – nicht in seiner ursächlichen Deutung, auf die in der Folge zurückzukommen sein wird – und des damit zusammenhängenden Geschehens durch Melusine und ihre Schwestern greift die Erzählung letztlich ebenfalls auf zwei divergierende, perspektivisch gebundene Erklärungsmodelle zurück: Presine nennt die ihren drei Töchtern für die Rache an ihrem Vater auferlegten Bedingungen gaben (vgl. 139,24; 140,4; 140,29); Melusines Interpretation ihres eigenen Schicksals suggeriert eine andere Lesart: Sie spricht bei dem nun zu Erwartendem von lang werende[r] arbeit vnd not (116,15 – 116,16), von le:den arbeit vnd […] pein (117,19 – 117,20) und kommt damit der Auffassung nahe, die Meliora in der Folge explizit artikulieren wird: So ist vns von vnser mter Presine […] ein flch geben […] also sein wir z gespenst worden (161,17– 162,3).³³¹ Sogar für das zentrale, für Melusines Wesen und das ihrer Schwestern verantwortliche Ereignis gibt es nicht eine, sondern nur konkurrierende Deutungen: Es ist Verfluchung oder Begabung. Selbst Melusines Perspektive auf ihr eigenes Wesen wird demnach von anderen Perspektiven auf sie – hier die ihrer Mutter – konterkariert; mit Blick auf ihr Tabu ist sie sich gewissermaßen selbst Auslegungsobjekt. Sieht man auf die ursächliche Verantwortung für Melusines Wesen und die Ebene des Erzählens, zeigt sich, dass sich auch hier jene skizzierte Pluralisierung schicksalsmächtiger Instanzen findet. Die sich in den einzelnen Deutungen auf Figurenebene manifestierende Frage nach der Verantwortung für ein Geschehen wird in nuce an Melusine diskutiert: Wer ist für Melusines Tabu, das ihrer Schwestern und dessen Folgen verantwortlich? Presine, die ihnen diese auferlegt hat, oder Gott, der die aus einem Verstoß gegen die Bedingungen resultierenden Konsequenzen realisiert? Zum einen wird Melusines Tabu zwar von Presine als Strafe für ihr Vergehen am Vater gewirkt, die Mutter ist also aktive Verursacherin der ihren Töchtern auferlegten magischen Bestimmungen; gleichwohl bleibt unklar, warum Presine überhaupt in der Lage ist, solche zu verleihen, und warum
Bei Coudrette wertet Meliora die ihr auferlegte Strafe hingegen als Feenzauber: Cy me mist, par euvre faee, / Pour garder yci l’esrevier (V. 6088 – 6089).
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auch sie einem Tabu unterliegt.³³² Zum anderen liegen die bei einem Verstoß gegen diese Bestimmungen eintretenden Folgen im Bereich göttlicher Lenkung, sofern den Töchtern jeweils die menschliche Sterblichkeit und ewige Erlösung untersagt ist. Darüber hinaus wird Melusines Wesen durch den Erzähler ganz explizit als Werk Gottes apostrophiert: s: hat von gottes wunder ein andere gar fremde vnd selczame außze:chnung gehebt (12,4– 12,5). Handelt es sich nun um eine aus eigenem Fehlverhalten resultierende Sanktion der Mutter oder aber um eine göttliche Auszeichnung? In welchem Verhältnis stehen die Bestrafung durch die Mutter, die Bestrafung durch Gott im Sinne der verspielten Erlösung und die Annahme einer göttlichen Auszeichnung? Die Erzählung konkretisiert diesen Zusammenhang nicht. Die ursächliche Erklärung von Melusines Wesen bleibt gewissermaßen doppelt ambivalent, sofern erneut zwei, in sich allerdings bereits ambige, mögliche Deutungen offeriert werden: Einerseits erlaubt die Rückführung des Tabus auf das ihrer Mutter keine weiteren Rückschlüsse auf die Ursprünge des Feengeschlechts, das Rätsel um Melusines Herkunft wird in diesem Zusammenhang „so aufgelöst, dass die Auflösung ihrerseits wieder in einem Rätsel besteht.“³³³ Andererseits ist der ebenfalls aufgerufene providentielle Horizont bereits in sich ambivalent, sofern der Zusammenhang von göttlich gegebener außze:chnung und versagter Erlösung nicht konkretisiert wird. Die solchermaßen auf Erzählebene generierte Ambivalenz³³⁴ ist in ihren Folgen für die evaluative Struktur mit jenem Bezug des Erzählers auf das Augustinus-Exempel zu vergleichen: Den verschiedenen subjektiven Interpretationen auf Figurenebene und den damit einhergehenden Sinnzuschreibungen wird eine aus individuellen Handlungen resultierende und damit kausalen Zusammenhängen folgende Geschehenskonstruktion entgegengesetzt, die wiederum durch den über jene exemplarische Sentenz suggerierten providentiellen aber dennoch ambigen Horizont unterwandert wird. So wie das Exempel bereits ambivalent war, geriert sich auch die ursächliche Erklärung von Melusines Tabu als uneindeutig: Auch hier wird den verschiedenen Interpretationen der Figur mit einer vermeintlichen Er Vgl. auch Kiening 2005b, 15: „Die als Begründerin eines prosperierenden Geschlechts fungierende Melusine erhält nun selbst einen Ursprung; das sie kennzeichnende Tabu erweist sich als Konsequenz eines anderen.“ Laut Kiening könne dies „zumindest genealogisch als ‚Kern‘ der Melusinengeschichte verstanden werden“. Vgl. zur Verdopplung des Tabus auch Dimpel 2014, 224 f., der in dessen Erklärung als Strafe der Mutter darüber hinaus ein positives Sympathiesteuerungsverfahren sieht, sie sei „Gefangene des mütterlichen Fluchs“. Dieses werde allerdings durch die Verschiebung des Tabus unterwandert. Vgl. auch Mühlherr 1993, 21. Dimpel 2014, 225. Vgl. auch Raumann 2010, 187: Indem sowohl auf Melusines Mutter als auch auf Gott als verantwortende Instanz referiert werde, bleibe der eigentliche Ursprung in dieser Rückführung auf zwei potentielle Urheber „in seiner Doppeldeutigkeit bestehen.“
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klärung ihres anderweltlichen Wesens begegnet; die Rationalisierung³³⁵ desselben durch die Rückführung auf Melusines Mutter als strafende Instanz, die dabei letztlich ebenfalls eine Kausalität des Geschehens nahelegt, ist aber nicht nur eine scheinbare, sondern wird durch jenen Bezug auf die in ihrer tatsächlichen Bedeutung nicht weiter konkretisierte göttliche Lenkung überdies konterkariert. Wie die Inserierung des Augustinus-Zitats erzeugt auch die Erklärung von Melusines Ursprung folglich Ambivalenz, in beiden Fällen wird finale Lenkung suggeriert, deren eigentlicher Status aber unklar bleibt. Während die Erzählung in der oben skizzierten Engführung von Figuren- und Handlungskonstruktion die Relationalität von Standpunkt, Beurteilung und Geschehensverlauf herausstellt, werden die damit einhergehende Problematisierung von Deutungskompetenzen und scheinbar eindeutigen Sinnzuschreibungen durch jene Ambiguisierung des Erzählers auch auf die Rezeptionsebene projiziert. Der Kern der Erzählung bleibt damit für den Rezipienten ebenso unergründlich wie Melusines Wesen und das erzählte Geschehen für die Figuren. Er ist wie diese Auslegungsobjekt seiner Rezipienten.³³⁶ Diese der Melusine-Figur analoge Stilisierung zu einem Auslegungsobjekt zeigt sich dabei unter anderem auch in der Referenz auf den zeitgenössischen curiositas-Diskurs. Im Rahmen der oben erwähnten Profilierung des Erzählgegenstandes situiert sich der Text nämlich bereits im Prolog im Kontext jener Auseinandersetzung über Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Wissens.³³⁷ Indem auf jene Aristoteles zugeschriebene Sentenz Bezug genommen wird, geriert sich der Text als literarische Antwort auf das menschliche Erkenntnisstreben:³³⁸ Ein :eglicher mensch begeret von natur vil z wissen / darumb so hab ich Thüring von Ringoltingen von Bern auß üchtland ein zemal selczame vnd auch gar wunderliche fremde h:storýen funden (11,15 – 11,18). Die h:storýe reagiert auf den
Das Tabu Melusines wird durch die Rückbindung an ihre Mutter insofern rationalisiert, als dessen „mythische Determination, dergemäß das Tabu eine erste selbst nicht begründbare Setzung darstellt“ (Kiening 2005b, 20), außer Kraft gesetzt wird. Dies wird als bewusste Strategie des Textes und nicht im Sinne der in der Rezeptionsästhetik angenommenen unbegrenzten Deutungsmöglichkeiten als conditio sine qua non eines Textes verstanden. Vgl. auch Schnyder 2006b, 4, der diese Situierung insofern abschwächt, als er von einer „implizit[en] und mindestens tendenziell[en]“ Aufhebung des curiositas-Verbots ausgeht. Man könnte die Verwendung dieser Sentenz auch in Bezug auf den Autor Thüring deuten, sofern dieser sich durch jenes menschliche Streben nach Wissen auszeichnet und deshalb die Erzählung verfasst (vgl. zu dieser Lesart, Schnyder 2006a, 383 f.; Schnyder 2013, 111 f.). Müller 1990, 1042 f., beurteilt den Status der Sentenz letztlich als trivial: Er gelte „so allgemein wie gewöhnlich in mittelalterlichen Fachtexten: als Rechtfertigung eines natürlichen Erkenntnisstrebens, das auch das Abseitige, Fremde, Wunderbare einschließt.“
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menschlichen Wissensdrang aber nicht nur, indem sie von ihrem zentralen Gegenstand – der Ambivalenz Melusines – erzählt; indem sie sich über ihren Status als Objekt eines als natürlich bezeichneten menschlichen Strebens nach Erkenntnis geradezu legitimiert und sich so zu einem Gegenstand macht, auf den sich ein genuines Wissen-Wollen richtet, gleicht sie sich ihrer Protagonistin vielmehr an. Denn diese ist schließlich ebenfalls Objekt eines solch expliziten Wissen-Wollens, einer curiositas der anderen Figuren. Der Text diskutiert nämlich gerade nicht nur das Verhältnis zwischen perspektivischem Standpunkt und davon abhängiger Beurteilung des als Anderen fungierenden Deutungsobjekts, sondern problematisiert auch beständig die Frage, „was die Figuren sehen und wissen dürfen“³³⁹. Dabei weist die Erzählung einzelnen Figuren solche Positionen zu, die im Rahmen des theologischen curiositas-Diskurses formuliert worden sind, und bietet durch diesen Bezug zugleich Kategorien der Bewertung für die jeweils eingenommenen Perspektivierungen an.³⁴⁰ Während der Text auf einen ersten Blick insbesondere die negativen Einschätzungen von curiositas reflektiert, sofern an verschiedenen Stellen eine übersteigerte Neugierde für die fatalen
Schausten 2006, 182. Vgl. außerdem die dortige Skizze zum zeitgenössischen curiositasDiskurs (182– 190). Vgl. Schausten 2006, 190 ff.: So inszeniere der Text in der Kommentierung von Reymunds Handeln durch die anderen Figuren zu Beginn der Erzählung eine positive, aus Sorge resultierende Form von curiositas, die allerdings zugleich Reymunds mangelnden Erkenntnisdrang und damit die Legitimität des von ihm erfragten Wissens um Melusines Herkunft herausstelle (so etwa bei Bertram, vgl. 35,21– 35,25; 35,29 – 36,3). Seine Nachfragen verwiesen dabei auf die Relevanz des Wissens um das Andere für die eigene Identität. Melusine wiederum stelle mit jenem Sichttabu gerade ein solches Streben nach Erkenntnis, das sich auf ihr samstägliches Tun und damit auf ihre Körperlichkeit sowie ihre Herkunft bezieht, als anmaßendes und damit als negative bzw. inadäquate curiositas dar (vgl. 192). Eine solche von Melusine von vorneherein „als Einmischung in die Angelegenheiten anderer“ (192) klassifizierte Form der Neugierde manifestiere sich dann in der Folge in den Unterstellungen von Reymunds Bruder und führe damit zum Tabubruch. Dabei stelle der Text dessen Verhalten als unangemessen dar und akzentuiere auf diese Weise, dass es gerade ein solches Einmischen in die Angelegenheiten Melusines sei, das Reymunds Zorn und damit wiederum dessen curiositas auslöse, die wiederum mit solchen negativen Verhaltensweisen einhergehe, wie sie in der gelehrten Auseinandersetzung beschrieben wurden. So wie die anfänglich nur verhaltene und letztlich zurückgenommene Neugierde der Figuren die glückliche Verbindung zwischen Reymund und Melusine erst ermögliche, stelle auch Reymunds Reue deutlich aus, dass dessen Akzeptanz von Melusines Abwesenheit bzw. das nicht Wissen-Wollen um ihren Verbleib die Gründung einer Familie überhaupt realisierbar gemacht hatte. Die Ursache für seinen Tabubruch sieht er dabei in der Neugierde des Bruders; er selbst, das macht die Erzählung konstant deutlich, ist im Gegensatz zu den anderen Figuren gerade nicht von einer genuinen Neugierde geprägt.
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Konsequenzen und das Verschwinden Melusines verantwortlich gemacht wird,³⁴¹ zeigt er doch zugleich ihre Relevanz für die Erkenntnis der eigenen genealogischen Herkunft.³⁴² Dabei scheint die für dieses Erkennen relevante Neugierde auf Figurenebene insofern auf die sich als Deutungsobjekt eines als natürlich bezeichneten menschlichen Erkenntnisstrebens inszenierende Erzählung übertragbar, als einem dezidierten Hinsehen, einem Erkennen-Wollen womöglich auch in literarischer Hinsicht jene „produktive Kraft“³⁴³ innewohnt, die eine Außergewöhnlichkeit – hier gleichwohl der Erzählung – erst erkennbar macht: Es bedarf eines Hinsehens, eines Erkennen und Verstehen-Wollens, um die Ambivalenz der Erzählung als spezifische Poetik begreifen zu können. Dass sich der Text nämlich selbst zu einem Geheimnis macht und damit die Unergründbarkeit und Verrätselung als ein genuines dichterisches Prinzip auch poetologisch reflektiert, soll anhand von zwei Szenen – der vermeintlichen Aufdeckung der Ursache des Tabus durch Goffroy und der ‚Lektüre‘ Melusines im Bad – veranschaulicht werden. Mit der Entdeckung der von Presine verfassten Grabinschrift wird sich Goffroy der eigenen Identität und der Rezipient der Identität Melusines als eines Rätsel inne.³⁴⁴ Auf diese zentrale Szene ist in keiner der zahlreichen Prolepsen hingewiesen worden. Während der gesamten Erzählung ist das „Rätsel um die Gründe von Melusines samstäglicher Doppelgestalt sowie ihre genealogische Herkunft nicht nur auf der Handlungsebene für die Protagonisten, sondern ebenso auf der Mitteilungsebene für den Hörer oder Leser des Romans intakt“³⁴⁵ geblieben. Auch die „bedeutungsvollste Analepse“³⁴⁶, die Erzählung jener Entdeckung, klärt nun
Vgl. Schausten 2006, 195 f.: Vor dem Hintergrund des theologischen curiositas-Diskurses ließe sich der Glücksumschwung der Familie nämlich letztlich als Folge eines unangemessenen Erkenntnisstrebens fassen, sofern die Erzählung an verschiedenen Stellen die Neugierde als zentralen Faktor in einem komplexen Begründungszusammenhang für die familiären Folgen verantwortlich mache: So etwa in den Unterstellungen des Bruders oder Reymunds plötzlichem Wissen-Wollen. Allerdings könne auch Goffroys Klosterbrandstiftung in diesem Kontext gelesen werden, sofern seine Tat „ebenfalls als Folge einer curiositas, d. h. einer unzulässigen Einmischung in die Angelegenheiten seines Bruders beschrieben worden“ (195) sei. Erst Reymunds plötzliches Hinsehen legt ein genealogisches Wissen frei, das konstitutiv für die Außergewöhnlichkeit und besondere „genealogische Identität“ (Schausten 2006, 196) der Familie ist: „Indem der poetische Text die theologisch vorformulierte negative Bewertung neugierigen Wissensstrebens nämlich nicht allein abbildet, sondern dem Erkennen-Wollen eines tabuisierten Bereichs gerade zugleich eine entscheidende produktive Kraft für die Ausbildung einer genealogischen Identität derer von Lusignan zuschreibt, überschreitet er schließlich deutlich die epistemischen Grenzen des theologischen curiositas-Diskurses.“ (197) Schausten 2006, 196. Vgl. Mühlherr 1993, 21. Drittenbass 2011a, 157. Drittenbass 2011a, 152.
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aber nicht die mit dieser strukturellen Organisation stets implizierte Frage nach Melusines Ursprung auf, im Gegenteil: Zwar wird hier über Melusines Herkunft informiert, nichtsdestoweniger wird die zentrale Frage über die Ursprünge der Familie mütterlicherseits bloß um eine weitere Generation verschoben. Die Höhle „birgt ein Geheimnis, das aufzudecken Fragen löst und gleichzeitig neue Fragen aufwirft.“³⁴⁷ So wie der Rezipient mit Reymund jene Verwandlung Melusines im Bad beobachtet, so liest er an dieser Stelle mit Goffroy die Grabinschrift,³⁴⁸ darüber hinausgehende Informationen erhält er nicht. Mit dieser Verrätselung erfüllt die Erzählung dabei letztlich die im Prolog artikulierte Erzählintention, sofern der Erzähler hier nur zu erzählen beabsichtigt, wie sich die genant Melusina erze:gte am ersten und wannen vnd von welchem geschlcht s: gewesen se: / vnd wie ir mter Presina auch ein merfe:in vnd doch ein künigin gewesen ist (12,19 – 12,22), und die Aufklärung von Melusines Geheimnis gar nicht in Aussicht stellt. Das, was erzählt werden soll – Gestaltwandel, genealogische Herkunft, Tabu der Mutter –, wird erzählt, die Enthüllung der Ursache ihres Wesens, die Klärung des warum, wird dabei nicht intendiert.³⁴⁹ Man hat diese Verdunklung des Ursprungs als Arbeit am genealogischen Muster, als „ein Spannungsfeld zwischen dem fortdauernden Bezug auf einen numinosen Ursprung und der gleichzeitigen Demonstration von dessen Entzogenheit“³⁵⁰ gelesen.³⁵¹ Vor der Prämisse einer prinzipiellen Ähnlichkeit von Genealogie und Erzählen³⁵² hat insbesondere Kiening auf die besondere Inszenierung des Raumes hingewiesen, in dem Goffroy, dem zu der Entdeckung der eigenen Familiengeschichte Prädestinierten, auf das Grab seines Großvaters stößt.³⁵³ Als aus der Handlungszeit und dem Handlungsraum herausgenommener Kiening 2005b, 18. Vgl. auch Dimpel 2014, 225; Mühlherr 1993, 21. Vgl. Drittenbass 2011a, 158. Drittenbass 2011a, 158, versteht diese Erzählerbemerkung konträr: Sie „präsentiert die Erhellung genau dieser ‚Rätsel‘ als erklärtes Ziel des Romans“. Kiening 2005b, 11. Vgl. Kiening 2005b, 9 ff. Vgl. zur Interpretation des Textes und insbesondere der Szene vor einem genealogischen Hintergrund: Kellner 2001, 281 ff.; Ziep 2006, 258 ff.; sowie insg. von Ertzdorff 1972; Keller 2005. Vgl. Kiening 2005b, 10: Genealogie und Erzählen basierten auf einem ähnlichen Prinzip, nämlich zwei Elemente „zugleich substantiell und zeitlich verknüpft zu denken. Eben jenes ‚und dann‘ des Erzählens bzw. der genealogischen Folge ist Entfaltungsort von Geschichte im doppelten Sinn (als Geschehen und als Erzählung).“ Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Müller 2007a, 46; Keller 2005, 200 f. Über das Vordringen zu einem verborgenen Ort, die Erzählung in der Erzählung, die Memorialfiguren und die Grabinschrift werde, so Kiening 2005b, 17, ein Zeitenraum entworfen, in dem „genealogische[] Identität mit raumzeitlicher Gegenbildlichkeit“ verknüpft und so poetologisches Potential transportiert werde. Vgl. zur Interpretation der Höhle und Verfahren der
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Ort gewinne die Höhle nicht nur zentrale Bedeutung für Goffroy, sondern auch für den Rezipienten, sofern dieser hier im „Gegenlauf zum Bewegungsgesetz der Geschichte in konzentrierter Form das Bewegungsgesetz der Erzählung erfährt“, indem er mit jenem „poetologischen Subtext“³⁵⁴, der Grabinschrift, konfrontiert werde.³⁵⁵ Neben den erzählerischen Momenten, die dieser im Hinblick auf die Handlungsebene geriert,³⁵⁶ und seiner genealogischen Relevanz³⁵⁷ spiegelt der Text der Schrifttafel als mise en abyme die Erzählung als solche: Wie diese erzählt er die Geschichte von Tabu und Tabubruch, von dessen Öffentlichwerden und dem Bruch der Gemeinschaft, von dem Erzählen dieses Bruchs und der daraus resultierenden Rache; er vermittelt zwischen einer entzogenen Vergangenheit –
Temporalisierung, Historisierung und Entzauberung Quast 2004, 90 f.; vgl. zur Konstruktion des Raumes auch Rippl 2016, 221 ff., die diesen nicht nur als Herkunfts- und Ereignis-, sondern auch als Erzählraum interpretiert, sowie Oehri 2015, 40 ff., die besonderes Augenmerk auf die Höhle als Heterotopie legt. Vgl. auch Keller 2005, 205 ff., die an dieser Stelle Ähnlichkeiten zwischen Genealogie und Topographie beobachtet. Kiening 2005b, 17. Vgl. zur Inschrift der Tafel und ihrer auch medialen Besonderheit Schnyder 2006a, 391 ff., der etwa die Selbstbezüglichkeit des dort niedergeschriebenen Textes betont, die Funktion desselben in Kombination mit den Memorialfiguren für Erinnerungsvorgänge untersucht sowie die inhaltliche und formale Gestalt des Schrifttextes analysiert. Vgl. zum Status der Tafel als Objekt Oehri 2015, 39 ff., zu Medialität 44, Materialität 47 ff., zur Funktion der Schrifttafel als Wissensspeicher 56 ff.; vgl. außerdem Keller 2005, 205 ff. Vgl. Kiening 2005b, 18 ff.: Der auf der Tafel enthaltene Text fächere durch die Erzählung der Auflagen Presines erzählerische und thematische Sinnmomente auf und generiere neue Erzählinhalte, deren narratives Potential sich in der Gleichzeitigkeit von Ermöglichung und Verhinderung manifestiere, wie sich vor allem an jenem Ritter der Tafelrunde zeige, der zwar über ideale Voraussetzungen für ein Bestehen der âventiure, nicht aber über die notwendige Herkunft verfüge; selbst sein Scheitern eröffne dabei aber weitere erzählerische Möglichkeiten: „So verbinden sich mit dem Erfüllen der von Presine gesetzten Bedingungen einerseits Optionen auf die Erlösung des Feengeschlechts aus seiner unchristlichen Unsterblichkeit, andererseits Optionen für die jeweiligen Befreier […] und die Welt im ganzen.“ (19) Vgl. Kiening 2005b, 22 ff.: Die mythische Vorgeschichte, wie sie die Entdeckung enthülle, werde zugleich zur Vergangenheit der Familie, das Mythische werde damit „ausgegrenzt und eingegrenzt, ins Ungewisse verschoben und in seiner Wirksamkeit bewahrt“ (22). In der Verdopplung des Tabus zeige sich dabei das „Paradoxon von Ursprungskonstruktionen […]. Zum einen ist der Ursprung als absoluter nicht faßbar; er ist als Moment der Zeit und zugleich Moment vor der Zeit immer schon entzogen […]. Zum anderen ist er als einer nicht faßbar; er ist immer im Begriff, sich zu vervielfältigen, und jede genealogische Reihe operiert mit der Möglichkeit, mehrere (partielle) Ursprünge anzusetzen.“ (23) Dieses Paradoxon werde in der Höhle dabei räumlich und zeitlich entfaltet, sofern das räumliche Vordringen einer zeitlichen Rückwärtsbewegung korrespondiere (vgl. 23), während die Objekte der Höhle von Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit geprägt seien. Vgl. zu der einem dynastischen Ursprung inhärenten Problematik auch Kellner 2001, 286 f.
4.2 Melusine – Ambivalenz als poetisches Programm
259
Presine und Helmas – und der erzählten – Goffroys – Gegenwart, wie auch die Erzählung eine Verbindung zwischen entfernter Vergangenheit und noch lebenden Nachfahren imaginiert. Die Erzählung „verdoppelt und verschiebt das Geheimnis des Ursprungs – und verlagert es zugleich auf sich selbst. Sie erzeugt das Geheimnis ihres eigenen Ursprungs, macht sich selbst zum Geheimnis.“³⁵⁸ Die Erzählung macht sich folglich anhand eines in ihr verorteten literarischen Textes – der Grabinschrift – zu einem Rätsel, indem sie über diesen Subtext einen – nämlich ihren – Ursprung erzählt, der allerdings keiner ist. Beide Texte zielen dabei in der Erzählung eines Tabus „auf den Kern von Tabuisierung selbst: auf die Eliminierung von Transparenz.“³⁵⁹ Laut Kiening könne der Text der Tafel dabei aufgrund seines Status als Gründungsschrift auf Plausibilitäten verzichten: „Zeit- und Raumsprünge, Motivationslücken und Ambivalenzen prägen einen Text, in dem der in der Zeit der Geschichte faßbare Ursprung niedergelegt und – in der Aussparung – die Entzogenheit des Ursprungs zum Ausdruck gebracht ist.“³⁶⁰ Nichts anderes gilt letztlich für die Erzählung, die Inschrift fungiert somit auch als eine mise en abyme auf der Ebene der narrativen Vermittlung. Die Ähnlichkeiten zwischen Figuren- und Geschehensdeutungen auf Handlungsebene, die zu Melusines Konstruktion analoge Inszenierung der Erzählung als Gegenstand eines menschlichen Erkenntnisstrebens und als Auslegungsobjekt seiner Rezipienten finden ihre Pointe in der narrativen Spiegelung der Erzählung in einer Erzählung, in der das Geheimnis von Melusines Ursprung zum Geheimnis der gesamten Geschichte wird. Neben einer „Ermächtigung der literarischen Rede“³⁶¹, wie sie Kiening beobachtet, scheint es bei dieser narrativen Kiening 2005b, 25. Sowohl die Tafel als auch die Erzählung als solche erzählen von Vergangenem und Gegenwärtigem bzw. noch zu Erwartendem: Während die Inschrift das Geschehen um Tabu, Bruch und Bestrafung der Töchter erzählt und dabei in der Schilderung von Palentines Aufgabe auf die gegenwärtige (Erzähl)Zeit verweist (der hab ich geben das s: in dem künigkreiche von Arrogon auff einem gar hohen perg genant konitsche hten sl vnd mß ihres vaters schecz. piß auff die zeit das einer vnsers geschlechtes kommt [140,21– 140,24]), betont auch die Erzählung die fortwährenden dynastischen Verflechtungen der Melusine-Nachfahren und verortet selbst ihren Auftraggeber in der genealogischen Reihe der Lusignans (vgl. 173,7– 173,25). Dimpel 2014, 226, der dies ausschließlich auf die Grabinschrift bezieht. Meines Erachtens gilt dies aber auch für die Erzählung als solche.Vgl. auch Rippl 2016, 222: „Der Text […] führt vor, was er selbst macht: Im Erzählen vom Herkunftsraum Herkunft stiften […], aber eben nicht, indem ein konkreter Herkunftsraum fassbar würde, sondern indem dieser immer weiter in ein räumliches Innen und ein zeitliches Vorher versetzt, immer mehr entzogen wird.“ Kiening 2005b, 26. Kiening 2005b, 24. Für Kiening stellt diese poetologische Spiegelung zwar eine Ausnahme dar, sofern er nicht davon ausgeht, dass der Text so wie auch die anderen Melusineromane „selbstreflexiv“ oder gar „Metanarrationen“ (25) seien, gleichwohl konstatiert er: „Andererseits dürfte es nicht genügen, die Texte als Akkumulation der sich aus der Abarbeitung des mythischen
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Konstruktion vor allem auch um eine Problematisierung von Lesbarkeit und hermeneutischem Verstehen zu gehen. Begreift man die Schrifttafel in der Verunklärung von Melusines Herkunft als narrative Miniatur der Erzählung und Melusine zugleich als Paradigma derselben, zeigen sowohl Goffroys Lektüre der Grabinschrift als auch Reymunds Blick auf seine badende Frau den problematischen Zusammenhang von Lesen bzw. Sehen, Verstehen und Erkenntnis. Goffroys Lektüre der Grabinschrift hat prozessualen Charakter: Auf seine Verwunderung (vgl. 141,3 – 141,4) folgt zunächst ein basales Verstehen des soeben Gelesenen, denn er verstnd vnd mercket wol das Melusina sein rechte natürliche vnd leipliche mter was gewesen Vnd darcz der künig Helmas sein großuater vnd Presine sein großmter gewesen weren (141,3 – 141,7). Dieses Wissen um die genealogische Reihe und seine eigene Position darin wird aber unmittelbar darauf von Zweifeln ob des gerade Erfahrenen und darüber, ob es sich dabei tatsächlich um seine Familiengeschichte handelt (vgl. 141,7– 141,9), sowie von seinem Wunsch, den Riesen zu finden, überlagert. Bemerkenswert erscheinen an dieser Stelle gleich zwei Aspekte: Zum einen wird Goffroy hier erstmals mit dem Gestaltwandel, dem anderweltlichen Wesen, seiner Mutter konfrontiert, den er – wie auch die daraus resultierenden Bedingungen für Reymund – an dieser Stelle explizit nicht reflektiert.³⁶² Nur aufgrund dieser Ignoranz reagiert er später auf die von Reymund mitgeteilte Katastrophe mit erneutem Zorn. Zum anderen zieht er aus dem Gelesenen nicht die nötigen Konsequenzen: Er ist nämlich nicht nur für die Entdeckung der eigenen Familiengeschichte, sondern auch für die Erlösung von Meliora und Palentine prädestiniert, sofern nur er die dafür nötigen Bedingungen erfüllt.³⁶³ Sein Lesen resultiert in ein rein oberflächliches Verstehen und gerade nicht in Erkenntnis:³⁶⁴ Als selbstloser Kämpfer gegen Riesen und Ungläubige und ohne ein genuines Interesse an Frauen ist er es, der im Anschluss an die Sperber-âventiure die gob vordern (140,10) müsste, Erlösung für die drei
Sinnmusters ergebenden Ambivalenzen zu verstehen und ‚das Schöpferische des poetischen Prozesses in der Montage und in der Allegorie‘ steckenbleiben zu sehen.“ (26) Darüber hinaus bleibt unklar, ob er diese Informationen später an Reymund weitergeben wird, erzählt er diesem doch bloß von der tafeln vnd geschrifft […] von der begrebnuß vnd dem pilde (146,30 – 146,32). Vgl. Dimpel 2014, 229 f.Während Goffroys Rolle für die Erlösung Palentines in der Forschung mehrfach betont wurde (vgl. Kiening 2005b, 19; vgl. Müller 2007a, 100, Anm. 133), ist diejenige Melioras nicht derart ausdrücklich in seinem Aufgabenbereich verortet worden, sondern vielfach als unmöglich verstanden worden (so etwa Müller 1990, 1040; Mühlherr 1993, 24). Anders beurteilt Keller 2005, 208 f., Goffroys Lektüre, sie sieht ihn als „erkennendes Subjekt“ (209).
4.2 Melusine – Ambivalenz als poetisches Programm
261
Schwestern zu erhalten.³⁶⁵ Gleichzeitig besitzt er die Voraussetzungen, um Palentine zu erlösen, da er ein Nachkomme des Geschlechts ist. Durch seine Lektüre der Tafel weiß er um die Bedingungen, um den freien Wunsch in der âventiure Melioras sowie um die Prämissen zur Rettung Palentines, bezieht die Aufgaben aber – anders als bei den Riesenkämpfen – nicht auf sich, er erkennt ihre Relevanz und seine eigene Rolle nicht.³⁶⁶ Indem das Scheitern beider âventiuren erzählt wird und dieses dabei jeweils auf solche Verhaltensweisen oder Mängel zurückgeführt wird, die Goffroy gerade nicht auszeichnen, wird die Notwendigkeit seines Eingreifens, seine Rolle als Erlöser aber hervorgehoben.³⁶⁷ Auch dass er auf diese
Vgl. Dimpel 2014, 228 ff.: Das Verbot, nach erfolgreicher Sperber-âventiure Meliora zu fordern, führe laut Dimpel dazu, Meliora als Objekt des Wunsches auszuklammern. Es müsse aber gerade ein Wunsch ausgesprochen werden, der sich auf sie beziehe, ohne aber sie zu fordern: Gerade die identische Bezeichnung von Tabu und Aufhebung des Tabus – die Mutter nennt es gob (139,24), der Ritter könne eine gob (140,10) fordern – zeige, dass es sich „[b]ei diesem Tabu […] sowohl um einen Verweis auf den richtigen Wunsch als auch zugleich um ein Mittel [handelt], ihn zu verschleiern.“ (229) Laut Dimpel müsste der Wunsch nach Erlösung der drei Schwestern in jedem Fall ausgesprochen werden. Goffroy ist nun gerade deshalb für diese Aufgabe prädestiniert, weil er innerhalb der Riesenkämpfe als altruistisch und ohne ein ausgeprägtes Interesse an Macht gezeichnet wurde – dies im Gegensatz zu seinen Brüdern – und damit in der Lage ist, einen solchen selbstlosen Wunsch zu fordern. Außerdem ist ihm kein intrinsisches Interesse an Frauen eingezeichnet (vgl. den Hinweis des Erzählers, dass er on ein weib piß an sein alter [was] [172,5 – 172,6]), so dass er nicht – wie Gys – Meliora fordern würde. Während Goffroy an anderen Stellen den Ersuchen um Hilfe stets nachgekommen ist, versteht er hier nicht, dass letztlich auch Meliora und Palentine auf eine solche selbstlose Form von Hilfsbereitschaft angewiesen sind, obwohl die auf der Tafel niedergeschriebene Rede recht offensichtlich solche Fähigkeiten und Voraussetzungen benennt, die Goffroy eigentlich als die seinen erkennen müsste. Dabei werden in der vorangehenden und folgenden Riesenepisode nicht nur solche Fähigkeiten herausgestellt, denen es auch bei den Schwester-âventiuren bedürfte, sondern auch Ähnlichkeiten in den räumlichen Gegebenheiten hergestellt: Melioras Festung (vgl. 140,5 – 140,7) erinnert an Berg und Schloß, in dem sich der Riese versteckt (vgl. 128,9 – 128,10; 141,15 – 141,17); die Bedingung, es müsse ein Ritter von hoher gepurt (140,12) sein, erfüllt Goffroy, der zuvor stets seine hohe Herkunft betont; drei Tage zu wachen und sie nicht als Gabe zu fordern, erscheinen für den in Riesenkämpfen Versierten und an Frauen und weltlichem Gut (vgl. 144,15 – 144,19; 146,1– 146,2) nicht Interessierten lapidar. Ähnlich verhält es sich bei Palentine: Auch hier erfüllt er die Bedingung – das einer vnsers geschlechtes (140,24) – und müsste sich dessen auch bewusst sein, sofern er zuvor gegenüber den Landsleuten seine genealogische Verbindung zu König Helmas Geschlecht explizit betont (vgl. 144,22– 144,23). Auch müsste er die damit verbundene Aufgabe, nämlich mit Helmas Schatz das gelobt land das ist das heilig grab vnd jherusalem (140,26 – 140,27) zu gewinnen, insofern als die seine erkennen, als er stets als Kämpfer im Namen Gottes auftritt (vgl. 127,19 – 128,3; 128,25 – 128,26; 129,29 – 129,30; 135,10 – 135,11; 137,9 – 137,12; 142,1– 142,2; prägnant 143,10 – 143,14). Gysʼ Versuch, die Meliora-âventiure zu bestehen, wird dabei von vorneherein als zu scheiternder gekennzeichnet: Noch bevor die genealogische Verbindung explizit benannt wird (vgl. die
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am Ende – trotz eigener Lektüre – hingewiesen werden muss, zeigt erneut, wie wenig er tatsächlich verstanden hat.³⁶⁸ Mit Dimpel könnte man diese Problematik des Nicht-Verstehens in jener Szene gespiegelt sehen, in der Goffroy nach erfolgreichem Kampf gegen den Riesen die Schlüssel zur Befreiung der Gefangenen erst nach einigem Suchen findet.³⁶⁹ Der Besitz eines Schlüssels ist nämlich auch an einer weiteren Stelle, der heimlichen Beobachtung Melusines im Bad, explizit mit der Fähigkeit zu verstehen korreliert. Die in Goffroy zugespitzte Problematik –
Rede Melioras 160,32– 161,14 sowie die Wiedergabe derselben durch den Erzähler 162,4– 162,18), wird seine Intention, in jedem Fall Meliora zu fordern, erzählt (vgl. 157,25 – 157,26; 158,19 – 159,1), die er in der Folge auch ihr gegenüber mehrfach artikuliert (vgl. 160,11; 160,14– 160,16; 160,28 – 160,31) und sogar versucht, sie zu ergreifen (vgl. 162,22– 162,24). Bei Palentine wird vor allem die Nicht-Erfüllung der notwendigen Bedingung, nämlich die Zugehörigkeit zum Geschlecht Helmasʼ, für das Scheitern verantwortlich gemacht. Diese Prämisse wird als solche vom Erzähler mehrfach betont (vgl. 166,1– 166,4; 167,6 – 167,8; 171,10 – 171,14) und auch explizit als Grund für das Scheitern jenes Ritters aus England genannt, der ansonsten über die notwendigen Fähigkeiten, die Aufgabe zu bestehen, verfügt (vgl. 166,18 – 166,21; 170,5 – 170,9; 171,15 – 171,19). Da Goffroy diese Bedingung erfüllt und ein Verhalten, wie es Gys kennzeichnet, der sonstigen Figurenzeichnung diametral entgegenstünde, weisen diese scheiternden Versuche darauf hin, dass Goffroy die Erlösung der beiden Schwestern zu bewirken hat. Dabei ist bemerkenswert, dass sowohl in der Unterrichtung Goffroys durch den Boten als auch in dessen folgendem Entschluss, auf diese âventiure zu ziehen, die Erlösung Palentines nur eine untergeordnete Rolle spielt: Schon in dem Botenbericht steht das groß greUsenlichs tier (171,28), das Scheitern des englischen Ritters und das anderer Ritter im Fokus, Palentine wird lediglich in ihrer Rolle als Hüterin des väterlichen Schatzes erwähnt (vgl. 171,32– 171,34). Goffroy, der im Gegensatz zum Boten von der Erlösungsbedürftigkeit Palentines weiß, scheint aber nicht nur das damals Gelesene nicht verstanden zu haben, er erinnert es an dieser Stelle nicht einmal (vgl. 171,34– 172,2). Dementsprechend bricht er dann auch nicht mehr zu der âventiure auf, er stirbt – alt und krank (vgl. 172,6 – 172,10). Auch Ziep 2006, 259 f., betont, dass die Entdeckung der eigenen Familiengeschichte für Goffroy keinerlei Konsequenzen mit sich bringt, weder werde „dynastische Kontinuität“ (259) hergestellt, noch spiele das Wissen für Goffroys Identitätskonstitution eine signifikante Rolle. Die gefangen die wurden der gten mer fro von grund ihres herczen vnd lobten got vnd paten in ser vnd vast Se:t das im got slchen grossen sigk geben vnd das er den risen erschlagen hette / das er in dann auch hülffe das s: auß der gefencknuße kemen Geffro: sprach das thn ich geren. wo sl ich aber die schlüssel vinden / S: antwurten vnd sprachen / herre das knnen wir eüch nit sagen wann wir wissen s: nit. vnd also schet er in dem schloß solange piß das er s: vand (vgl. 143,16 – 144,6). „Den Schlüssel zu finden, ist offenbar ganz einfach, wenn man nur die Augen aufmacht. Die Schlüsselszene folgt unmittelbar auf die Erzählung vom Erlösungsbedarf von Melusines Schwestern: Dass er verstehen soll, dass er eine virulente Erlösungsaufgabe hat, kann er nicht entschlüsseln.“ (Dimpel 2014, 230 f.) Diese Schlüsselszene sei somit mit Melioras Tabu vergleichbar: „In gleicher Weise, wie das Wunschtabu bei Meliora den Blick dafür verstellt, dass ein erlösender Wunsch auf Meliora ausgerichtet sein muss, verstellt die Erlösung der Gefangenen Geffroys Blick dafür, dass ihm eine Erlösungsaufgabe von größter Relevanz zukommt.“
4.2 Melusine – Ambivalenz als poetisches Programm
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er ist im Besitz eines Schlüssels, erkennt aber seine eigentliche Aufgabe nicht – ist in dieser Szene hingegen auf zwei Figuren aufgespalten: Melusine besitzt einen Schlüssel zu Reymunds Räumlichkeiten; indem sie sich Zugang zu dessen Kammer verschafft, kann sie das von ihm Gesehene relativieren und die Konsequenzen seiner Verbotsübertretung verzögern. Damit wendet der Einsatz des Schlüssels – wie auch bei Goffroy, der damit die Gefangenen befreit – das Geschehen zunächst zum Positiven.³⁷⁰ Darüber hinaus versteht sie: Sie weiß um Reymunds Treuebruch, sie weiß, dass mit seiner Verschwiegenheit ihre Erlösung nicht endgültig in Gefahr ist. Ihr Besitz eines Schlüssels zu seiner Kammer ist damit mehr als ein Ausdruck weiblicher Dominanz bzw. „zurückgedrängte[r] männliche[r] Gewalt“³⁷¹, er ist auch Symbol ihrer Fähigkeit, Zeichen zu lesen und diese zu deuten.³⁷² Reymund hingegen fehlt nicht nur der Schlüssel zu ihrer Kammer, wie es in seinem Akt, ein Loch in die Tür zu bohren, pointiert wird, sondern auch der zum Verstehen des Gesehenen: Reymund kann Melusine nicht entschlüsseln.³⁷³ Der Blick auf seine Frau, seine Lektüre Melusines führt nicht zu Erkenntnis, weder versteht er, was er sieht, noch kann er es deuten.³⁷⁴ Kraß hat diese spezifische Ausgestaltung der Szene, nämlich die Tatsache, dass Reymund keinen Schlüssel besitzt, sondern sich gewaltsam eine Beobachterposition auf Melusine verschafft, als „hermeneutische[n] Tabubruch“³⁷⁵ gelesen: Bei Reymunds Beobachtung, die der Intention folgt, Erkenntnis zu erlangen, handle es sich um einen „heimliche[n] und gewaltsame[n] Akt. Dies unterscheidet ihn vom legitimen Deutungsakt eines Exegeten, der aufgrund seiner professio-
Vgl. auch Dimpel 2014, 230 f., Anm. 62. Schnyder 2006c, 122, der im Schlüssel ein Symbol für das ungleiche Machtverhältnis sieht. Vgl. auch Ziep 2006, 250: „[D]ie Dominanz über die Zeichen behält weiterhin Melusine.“ Vgl. auch Suerbaum 2011, 438. Vgl. auch Dimpel 2014, 230 f., Anm. 62. Vgl. Schausten 2006, 177: „Reymund verschafft diese Tat kein objektives oder neutrales Wissen um Melusine.“ Drittenbass 2008, 104, weist darauf hin, dass Reymund das Zeichen, nämlich Melusines Schlangenschwanz, überhaupt nicht interpretiere. Vgl. auch Ziep 2006, 249 f., Anm. 70, die Reymunds Unfähigkeit, Erkenntnis zu erlangen, auf seinen Zustand zurückführt: „[S]eine Erkenntnisfähigkeit ist durch die Vielzahl der Deutungsangebote verschleiert. Er kann den Körper nicht ‚lesen‘ und ihn im doppelten Sinne des Wortes nicht be-greifen, denn eine Berührung ist durch den heimlichen Blick und die verschlossene Tür unmöglich.“ Anders Kellner 2001, 286, nach der Reymund hier Melusines dämonisches Wesen und damit die Infragestellung seiner Herrschaftslegitimation sehe. Vgl. zum Konnex von Sehen, Verstehen und Erkenntnis insgesamt und vor allem hinsichtlich der Reymund-Figur Suerbaum 2011, 435 ff., die in dieser Szene die „Diskrepanz zwischen Sehen und Verstehen“ als „eklatant“ (437) bewertet. Laut Suerbaum sehe und erkenne Reymund Melusine erst im Moment des Verlustes, „im liminalen Raum des Fensters, als sie sich im Flug seinem Blick bereits entzieht.“ (440) Kraß 2010, 116.
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nellen Kompetenz dazu berufen ist, den Schleier eines Textes zu lüften.“³⁷⁶ Da lesendes Subjekt und zu deutendes Objekt geschlechtlich markiert seien, sofern es sich um einen lesenden Mann und eine zu lesende Frau handle, und die Szene darüber hinaus deutlich voyeuristische Implikationen aufweise, komme „[d]er Versuch einer Lektüre des Textes durch den Leser beziehungsweise der Frau durch den Mann […] einer Vergewaltigung gleich.“³⁷⁷ Laut Kraß zeige der Roman auf diese Weise, dass jeder Versuch der Deutung immer schon einen Tabubruch darstelle, dessen Resultat das Verschwinden des zu deutenden Objekts sei.³⁷⁸ Mit Blick auf Goffroys Lektüre der Schrifttafel und die fatalen Konsequenzen, die beide Lektüreakte zeitigen, scheint sich hier allerdings weniger die Thematisierung eines ‚hermeneutischen Tabubruchs‘ als vielmehr eine Problematisierung hermeneutischen Verstehens abzuzeichnen. Es geht nicht darum, den Versuch einer Deutung grundsätzlich zu tabuisieren oder ihn als legitim bzw. illegitim auszuweisen, sondern die damit stets einhergehenden Schwierigkeiten des Verstehens und der Erkenntnis zu akzentuieren. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass in beiden Fällen das Missverstehen der Figuren Erlösung verhindert, während eine angemessene Deutung, die aus der Lektüre die jeweils richtigen Schlüsse gezogen hätte, genau diese ermöglicht hätte.³⁷⁹ Diese Potentialität, die Möglichkeit, die zu deutenden Zeichen richtig zu verstehen, lässt eine generelle Kritik an Deutungsakten wenig plausibel erscheinen, sind es doch eben diese, die eine Erlösung überhaupt ermöglichten.Wissen,Verstehen und Erkenntnis werden folglich gerade nicht als solche problematisiert; trotz der einem Erkenntnisprozess stets inhärenten Gefahr scheint es der Erzählung doch vor allem um einen solchen zu gehen. Schon im Prolog wird schließlich durch jene aristotelische Sentenz die Relevanz von Wissen explizit herausgestellt, die Erzählung macht sich hier zu einem Objekt, auf das sich ein explizites Wissen- und Verstehen- und
Kraß 2010, 116 f. Kraß 2010, 117. Vgl. Kraß 2010, 119. Mit Blick auf den Inhalt des Gesehenen verzeichnet Kraß außerdem „einen hermeneutischen Sündenfall“: Reymund sehe Melusine nicht nur in ihrer Nacktheit, sondern auch ihren Schlangenschwanz. „Dies ist ein Zeichen, das zu lesen sich verbietet. Der Schlangenschwanz ist ein monströser Signifikant, der Melusine in der symbolischen Ordnung der Gesellschaft fremd macht.“ Reymund hätte den Klosterbrand womöglich nicht auf das Gesehene zurückgeführt, Melusine nicht öffentlich diskreditiert und ihre Erlösung zumindest nicht gefährdet. Bei seiner öffentlichen Anklage hingegen wird die Willkür der Deutung besonders hervorgehoben, denn im Moment der semiotischen Zuschreibung – der Schlangenschwanz als Zeichen moralischer Verderbtheit – ist dieser gar nicht sichtbar, sondern nur in Reymunds Erinnerung vorhanden (vgl. Drittenbass 2008, 107). Goffroy wiederum hätte die âventiuren als seine Aufgabe erkennen, jenen Wunsch äußern und Meliora und Palentine erlösen können.
4.2 Melusine – Ambivalenz als poetisches Programm
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damit auch Deuten-Wollen bezieht. Auch Schausten hat – wenn auch vor dem Horizont eines genealogischen Erzählinteresses – auf diese höchst relevante Rolle des Wissens hingewiesen.³⁸⁰ In der Erzählung sind Wissen, Erkenntnis und Deutung sowohl für die Geschichte der Familie als auch für die Konstruktion der Erzählung nicht voneinander zu trennen; es geht gerade nicht um die Frage nach der Legitimität von Deutungsakten, sondern um eine Problematisierung von Deutungskompetenzen. Beide, für ein Verständnis der Melusine-Figur und damit des Kerns der Erzählung zentralen Passagen schildern einen Lektüreakt, der nicht in Verstehen und Erkenntnis resultiert. Indem der Rezipient in beiden Fällen mit den Figuren das jeweilige Geschehen erlebt, mit diesen Körper und Tafel liest, vollzieht er zwar einen Erkenntnisprozess, „bei dem es zwischen der Erfahrung des Protagonisten und der des Hörers/Lesers Konsonanzen gibt“³⁸¹, ist aber zugleich mit den diese Figuren auszeichnenden und der Lektüre inhärenten Problemen des Verstehens und Erkennens konfrontiert. Die Rezeption der Schrifttafel und die Melusines im Bad sind damit Sinnbild eines scheiternden hermeneutischen Aktes und stehen damit exemplarisch für den rezeptionsseitigen Versuch, der Erzählung deutend Sinn abzugewinnen. Mit Blick auf den zeitgenössischen Kontext der Erzählung, in dem nicht nur Herkunft, Abstammung und Genealogie fragwürdig werden,³⁸² sondern in der
Vgl. Schausten 2006, 164: „Am Beispiel einer nicht einfach als ‚Mensch‘ oder ‚Frau‘ zu kategorisierenden Gründerfigur produziert der Roman ein kontinuierliches Nachdenken über die sinnstiftende Funktion von Erkenntnis für die Konstruktion einer eigenen genealogischen Erzählung, die am Beispiel der Melusine konkretisiert ist als Frage nach der sinnstiftenden Funktion von Sehen und Beobachten bzw. Wegsehen für die Entwicklung der Geschichte derer von Lusignan.“ Kiening 2005b, 26. Auf die Relevanz der Genealogie für die soziale und mentale Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft kann an dieser Stelle nicht eigens eingegangen werden; dass sie fraglos eine überaus dominante Rolle in der Organisation und Strukturierung der eigenen Identität, aber auch grosso modo für die mittelalterliche Gesellschaft, für Ordnungs- und Machtverhältnisse gespielt hat, wird hier natürlich mitgedacht (vgl. zu diesen Aspekten Müller 2007a, Kap. 1 ‚Herkommen‘, 46 – 106; vgl. auch Peters 1999, 195 – 224). Mit der hier angesprochenen Fragwürdigkeit genealogischer Konstruktionen ist nicht nur die Erosion traditionaler Gemeinschaftsformen gemeint, wie sie besonders im Fortunatus thematisch wird, sondern auch die problematisch werdende Legitimierung adeliger Dynastien über ihre Herkunft angesprochen, deren Selbstverständnis sich zeitgenössisch mit neuen Formen der Herrschaftssicherung und Machtakkumulation konfrontiert sieht (vgl. Friedrich 2011, 141 f., 150 f.). In der Melusine zeigten sich dabei insbesondere die Angleichungsversuche bürgerlicher Aufsteiger – wie der Berner Twingherren – an feudale Legitimationsweisen, um Ansprüche der Gegenwart aus einer vermeintlich weit zurückreichenden Vergangenheit herzuleiten. Es gehe um die genealogische Legitimierung von Herrschaft generell
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auch traditionelle Deutungsmodelle, Erklärungsmuster und Orientierungen erodieren, inszeniert sich eine Erzählung analog zu ihrer Protagonistin als Objekt eines menschlichen Wissensstrebens, um die Schwierigkeiten hermeneutischen Verstehens und Deutens zu diskutieren. Man mag dies zum einen als Reflexion, als Strategie werten, „um die immer sichtbarer werdenden Formen der Kontingenz zu bewältigen“³⁸³ – dies als Bewältigung gleichwohl, die der lebensweltlichen Verunsicherung eine nüchterne Konstatierung entgegensetzt: Die Welt, das Schicksal, menschliches Handeln sind nicht vorhersehbar; man kann sie zu verstehen und zu deuten suchen, man kann dabei Erkenntnis erlangen oder aber darin scheitern. Indem die Erzählung an einigen Stellen diese Interpretationsbedürftigkeit der Welt, ihre grundsätzliche Sinnoffenheit, in der narrativen Konstruktion spiegelt, wird der Eindruck verstärkt, „dass Sinnlosigkeit menschliches Wollen, Tun, Sprechen, Schreiben begleitet, vielleicht sogar grundlegend prägt.“³⁸⁴ Der narrativen Konstruktion entspräche somit eine dezidiert geistesgeschichtliche Perspektive, sofern die Melusine-Figur „zum poetischen Bild einer dichterisch gestalteten Aussage über das allgemeine menschliche Los [funktionalisiert wird]“³⁸⁵. Melusine würde zur Symbolfigur der zeitgenössischen conditio humana. Man kann dies zum anderen aber auch als poetologische Reflexion literarischen Erzählens verstehen. Indem die Erzählung als sinnstiftende Instanz selbst ins Zentrum gerückt wird, stellt die narrative Inszenierung von Ambivalenz die poetischer Rede inhärenten Merkmale eigens heraus: Potentialität, Pluralität, Sinnüberschuss wie Sinnmangel – und dies konkretisiert in einer für die Erzählung als narratives Paradigma fungierenden weiblichen Hauptfigur.³⁸⁶ Damit wäre das ambivalente Erzählen, wären die narrativen Techniken als solche semanti-
(vgl. hier insbesondere Müller 1977, 35 – 70; vgl. zur Genealogie, ihrer Relevanz für Selbstthematisierung von Individuum und Kollektiv sowie zu Veränderungen genealogischer Konstruktionen in der Frühen Neuzeit Keller 2005, 200 ff. Vgl. die thematische Zusammenschau der historischanthropologischen Arbeiten zum Themenkomplex Familie, Verwandtschaft und Genealogie bei Peters 1992, 73 ff.). Friedrich 2011, 133. Schnyder 2013, 113. Dies käme der auch von Mühlherr 1993, 14, vertretenen Auffassung nahe, dass der Roman „[i]mplizit […] über Geschichte und menschliches Handeln in der Geschichte reflektiert.“ Mühlherr 1993, 47. Vgl. zu diesem Aspekt auch Schnyder 2006a, 400, der die „herausragende Qualität [des Romans] in der Vieldeutigkeit und Unentschiedenheit in der Darstellung menschlicher Verhältnisse“ sieht. Damit ließe sich die Konstruktion der Melusine-Figur in Anlehnung an Bauschke-Hartung 2014, 126, als autoreferentielle Thematisierung der discours-Ebene verstehen, sofern Thüring seine Protagonistin als poetologische Funktionsträgerin inszeniert.
4.2 Melusine – Ambivalenz als poetisches Programm
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siert, sie trügen den Sinn der Geschichte, dessen grundsätzliche Offenheit auf inhaltlicher Ebene wie im Rezeptionsakt gleichermaßen erfahrbar würde. Dass dieser, auf einen ersten Blick wenig didaktische Impetus, sondern primär ästhetische Anspruch womöglich eine zentrale Rolle gespielt haben mag,³⁸⁷ lassen die im weitesten Sinne kunsttheoretischen Reflexionen des Erzählers in Pro- und Epilog vermuten. Der besondere Rang der Erzählung konstituiert sich nämlich nicht nur über ihren Wahrheitswert, sondern insbesondere auch im Vergleich zu anderen literarischen Geschichten: Vnd ich hab auch gesehen vnd gelesen vil schner h:stori vnd bcher Es se: von künig Artus hof vnd von vil seiner Ritter von der Tafelrund Es se: von her Ywan vnd her Gawan / her Lanczelot / her Tristan / her Parcefal / der :eglicher sein besünder h:storie vnd lesen hat Darz von sant Wilhalm von Pontus. von herczog wilhalm von Orliens vnd von Merlin Vnd mich beduncket aller der h:storien keine frmder noch abenteUrlicher zesein dann dise / besunder so halt ich auch dauon mer dann von den andern allen / von sach wegen das d:e vorgemelten grosse geschlcht alle da her kommen vnd erborn seind / darumb nun das bch für ein warheit geschriben vnd erzelt werden mag (176,2– 176,13).
Die Erzählung von Melusine steht zwar „als ästhetisches Artefakt mit einer Reihe anderer Bücher in Konkurrenz um Unterhaltungswert und Wahrheitsgehalt“³⁸⁸, ihre Exzeptionalität wird aber nicht zur Disposition gestellt: Sie ist wahr und fremd wie keine andere.³⁸⁹ Diese Einzigartigkeit der Erzählung gegenüber anderen Geschichten, das Changieren zwischen Wahrheit und Wunderbaren, ist dabei nicht zuletzt Resultat eines ambivalenten Erzählens, dessen narrative Spiegelung die Erzählung einleitet wie beschließt: mit dem Bild der ambivalenten Protagonistin. Die ästhetische Besonderheit des ambivalenten Erzählens formuliert die Erzählung im Rekurs auf den für sie und ihre Protagonistin zentralen Terminus fremd dabei selbst: Wann auch solich schn vnd fremd h:stor: vast lieplich vnd lustlich z lesen vnd z hren seind vnd den leütten z sagen z pre:sen seind / wann als die ros vnder allen blmen gepreýset würt / also ist auch kunst vnd abenteUr über alle andere ze:tliche ding lieb z haben (12,23 – 12,27).
Das ambivalente Erzählen kann folglich sowohl vor einem geistesgeschichtlichen als auch einem literarästhetischen Horizont gedeutet werden – die Melusine lässt
Vgl. Schnyder 2006c, 137: „Wo das Rätsel herrscht, hat die simple Didaxe ihr Recht verloren.“ Schnyder 2006a, 399. Vgl. Schnyder 2006a, 384.
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4 Thüring von Ringoltingen: Melusine
beide Lesarten zu. Dies verwundert nicht bei einer Erzählung, deren poetisches Prinzip in narrativer Verrätselung und Ambivalenz besteht.
5 Heinrich Steinhöwel: Apollonius Trotz seines zeitgenössischen Erfolgs¹ ist dem 1461 entstandenen und 1471 in Augsburg erstmals gedruckten Apollonius-Roman Heinrich Steinhöwels im Vergleich sowohl zu anderen frühneuhochdeutschen Prosaromanen als auch zum Gesamtwerk des Autors bislang nur ein äußerst geringes Interesse seitens der Forschung zuteil geworden. Dies erstaunt vor allem aus zwei Gründen: Zum einen gilt Steinhöwel „als einer der vielseitigsten und meistgelesenen Autoren des 15. Jahrhunderts“², zum anderen ist der Apollonius-Stoff als solcher in jüngerer Vergangenheit vermehrt zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung geworden.³ Terrahe ist diesem Forschungsdesiderat jüngst mit einer Edition des Steinhöwel’schen Apollonius sowie daran anschließenden Studien begegnet.⁴ Mit
Vgl. Bertelsmeier-Kierst 2014, 155; Terrahe 2013a, 2. Terrahe 2013a, 1. Vgl. Dicke 1991, 157. Vgl. Terrahe 2013a, 2. Das Desinteresse der Forschung an Steinhöwels Bearbeitung, in der er sich neben der spätantiken Historia Apollonii regis Tyri auf zwei mittelalterliche Quellen, nämlich auf Gottfrieds von Viterbo Pantheon und die Gesta Romanorum bezieht, liege laut Terrahe unter anderem in der Position des Romans im Gesamtwerk begründet: Vor dem Hintergrund der in der Forschung ursprünglich vorgenommenen Klassifizierung desselben in ein spätmittelalterliches, unhumanistisches Früh- und ein frühneuzeitliches, humanistisches Spätwerk (vgl. die entsprechende Position von Melzer 1975, IIIf.) und der daraus resultierenden, meist geisteswissenschaftlich perspektivierten Konzentration auf die Anfänge des Humanismus in Deutschland wurde Steinhöwels Apollonius als unbeholfener erster Versuch, als volkstümlich-unhumanistische, spätmittelalterliche Unterhaltungsliteratur klassifiziert (vgl. Terrahe 2013a, 2 f.; vgl. für die negativen Urteile der frühen Forschung etwa Klebs 1899, 503: „So gehört dieses Buch zu den wenig gelungenen und wenig erfreulichen unter den Bearbeitungen der Erzählung.“ Vgl. zu einer anhaltend geringschätzigen Beurteilung noch Melzer 1975, IIf., V, VII, die sowohl die – nicht nur auf diese Fassung bezogene – Qualität der Gestaltung als auch den Stoff als solchen betrifft). Seine späteren Arbeiten hingegen haben aufgrund der Rezeption humanistischer Quellen, wie etwa in der Übertragung von Petrarcas Griseldis oder Boccaccios De claris mulieribus, nicht nur entsprechende Aufmerksamkeit seitens der Forschung erfahren, sondern wurden auch hinsichtlich ihres literarhistorischen Stellenwerts deutlich positiver beurteilt (vgl. Terrahe 2013a, 2 f.). Neben dieser ursprünglichen Fokussierung auf als humanistisch klassifizierte Werke habe aber auch die Annahme einer Epochenschwelle um 1500 zu jenem Desinteresse seitens der Forschung geführt, das sich nicht zuletzt in einer „miserable[n] Editionslage“ (1) nicht nur, aber vor allem seiner früheren Arbeiten manifestiert. In ihrer Untersuchung kritisiert Terrahe 2013a, 3 f., jene Polarisierung des Gesamtwerks in ein unhumanistisches Früh- und ein humanistisches Spätwerk ausdrücklich und bewertet diese als unhaltbar. Dabei müsse nicht nur der Humanismus-Begriff und die Annahme jener Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit revidiert, sondern auch Steinhöwels Rückgriff auf mittelalterliche Vorlagen neu bewertet werden. Jene Polarisierung des Steinhöwelʼschen Werkes „verkennt […] die sozial- und kulturhistorischen Verhältnisse und wird dem Wesen deshttps://doi.org/10.1515/9783110672589-005
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der Intention einer „möglichst umfassende[n] Zusammenstellung aller verfügbaren Informationen“⁵ strebt sie eine kultur- und sozialhistorische Verortung von Autor und Werk an und nimmt dafür die soziale Positionierung des Autors, die „gewiss auch widersprüchlichen Facetten“⁶ seiner Autorpersönlichkeit, seine Kommunikationsnetzwerke sowie die zeitgenössische Rezeption seines Werkes besonders in den Blick. Ziel ihres sozial- und kulturgeschichtlich orientierten Ansatzes ist dabei sowohl eine nähere Bestimmung des „gesellschaftlichen Stellenwert[s]“ der Literatur Steinhöwels als auch eine Rekonstruktion ihres „geschichtlichen Aussagewert[s]“⁷. Neben einer nach Vollständigkeit strebenden Aufarbeitung der Überlieferung des Apollonius möchte sie somit Steinhöwels Position in zeitgenössischen gesellschaftlichen, literarischen und bildungsgeschichtlichen Kontexten sowie die Relationen zwischen literarischem Text und seinen jeweiligen sozialgeschichtlichen Entstehungshintergründen und Rezeptionsweisen untersuchen. Darüber hinaus gilt ihr Interesse der Rekonstruktion der Steinhöwel’schen Bildungsintention und seines intendierten Publikums.⁸ Zwar beabsichtigt Terrahe auch eine nähere Bestimmung des „literarischen Stellenwerts“⁹ und möchte der Spezifik des Textes, den Ursachen für dessen Erfolg und seiner ästhetischen Dimension nachgehen und betont im Gegensatz zu früheren Forschungsarbeiten auch den literarhistorischen Rang des Romans, seine Verankerung „im aktuellen literarischen Diskurs seiner Zeit“¹⁰ und dessen sowohl moraldidaktischen als auch ästhetischen Anspruch, insgesamt wird dieser Intention aber nur bedingt Rechnung getragen, sofern auch die literarische Spezifik der Steinhöwelʼschen Fassung letztlich nur unter einer literatursoziologisch und sozialhistorisch geprägten Perspektive festgestellt wird.¹¹ Das Erzählen im Apol-
sen, was innerhalb der heutigen Forschung als deutscher Frühhumanismus bezeichnet wird, nicht gerecht, da für die damaligen Gelehrten Mittelalter und Humanismus noch keine Gegensätze darstellten“ (3). Terrahe 2013a, 4. Terrahe 2013a, 6. Terrahe 2013a, 6. Vgl. Terrahe 2013a, 6 f. Terrahe möchte dabei nicht nur „sowohl die Motivation als auch das Handeln des Autors an seinen verschiedenen sozialen Orten genauer bestimm[en]“ (6), sondern auch die persönlichen Beziehungen desselben zur literaturtragenden Schicht der Zeit untersuchen. Sie verspricht sich von einer Analyse der Entstehungskontexte und Rezeptionsstrukturen sowie von der Verortung des Apollonius im zeitgenössischen gesellschaftlichen Umfeld wichtige Erkenntnisse hinsichtlich des gesellschaftlichen Status des Textes und seines Aussagewerts. Terrahe 2013a, 7. Terrahe 2013a, 7. Vgl. dazu die Ausführungen bei Terrahe 2013a, 20 ff. sowie 78 ff. So wertet sie beispielsweise die „literarische[n] Ambitionen“ und das „individuelle Dichtungsverständnis“ (22) Steinhöwels,
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lonius als solches, seine spezifische Poetik und narrativen Verfahren geraten dabei nur äußerst begrenzt in den Blick.¹² Vor Terrahes Studie hat Steinhöwels Erzählung in der Forschung kaum Beachtung gefunden. So lassen sich nur äußerst wenige Forschungsarbeiten verzeichnen, die den Roman zum alleinigen Gegenstand einer Untersuchung gemacht hätten; in der Regel wurde er im Rahmen einer Gesamtschau auf Steinhöwels Werk oder seine Person thematisiert¹³ oder aber in komparatistischen Untersuchungen, sei es zum Apollonius-Stoff,¹⁴ zu einzelnen Motiven,¹⁵ zu antiken Erzählstoffen allgemein¹⁶ oder aber den frühneuhochdeutschen Prosaromanen¹⁷ in den Blick genommen.
wie sie sie etwa in Tarsias Rätselpassagen und in Pro- und Epilog realisiert sieht, als Positionierung im kulturellen Feld seiner Zeit (vgl. 20) und als Ausdruck seines didaktischen Anspruchs (vgl. 24). Insbesondere die erzählerische Gestaltung der Vorrede interpretiert sie dabei als Reaktion auf ein „literarisch anspruchsvolle[s] Publikum“ (31). Den von ihr konstatierten „profunden literarästhetischen Anspruch“ des Textes führt sie dabei ausschließlich auf die Nutzung verschiedener Quellen und deren Erweiterung „um kunstvolle literarische und poetische Ergänzungen“ (78) zurück. Nichtsdestoweniger liefert ihre Untersuchung aber – gerade im Vergleich zur älteren Forschung – zentrale Erkenntnisse über den Autor, das intendierte Publikum, die didaktischen und ästhetischen Ansprüche sowie über thematische und inhaltliche Schwerpunkte, wie etwa den Liebes- und Ehediskurs oder das auch hier virulente genealogische Erzählinteresse; auch kann sie jene frühen abwertenden Einschätzungen des Textes revidieren und damit neue Perspektiven auf den Apollonius-Roman eröffnen, der bislang stets im Abseits der Forschung gestanden hat.Vgl. zu den einzelnen Aspekten die Ausführungen bei Terrahe 2013a: Zum Werk Steinhöwels im Kontext des Frühhumanismus 17 ff., zur Autorintention, die sie als primär didaktische versteht, 23 ff., zum intendierten Publikum 29 ff., zum genealogischen Interesse der Rezipienten und dessen Auswirkungen auf die Textgestaltung 42 ff., zur Rezeption der lateinischen Apollonius-Tradition 63 ff. So etwa Terrahe 2013b; vgl. auch Dicke 1991; Dicke 1993; Henkel 1993, 57 f., 64 f.; Flood 2007, 781. Eine Rekonstruktion der gesamten Apollonius-Stofftradition von der Antike bis zur Renaissance findet sich bei Archibald 1984. Die Fassung Steinhöwels gerät dabei in der Betrachtung einzelner Szenen, Plotstrukturen und thematischer Motive vereinzelt in den Blick. Vgl. auch Archibald 1991, Kap. 3. Vgl. außerdem die Übersicht bei Terrahe 2013a, 63 ff. So wurde der Apollonius etwa in komparatistischen Untersuchungen zum Inzest-Motiv näher betrachtet, vgl. dazu Buschinger 1985; Bennewitz 1996; Eming 2003. Im Rahmen solcher Motivuntersuchungen sind dabei auch die spätantike Historia Apollonii regis Tyri sowie Heinrichs von Neustadt Fassung in den Blick geraten, vgl. etwa Hagemann 2013; Archibald 1984, 161– 188; Archibald 1991, 98 – 100; Archibald 1997, 133 – 149. Neben der relativ umfassenden Untersuchung des Inzest-Motivs wurden auch verschiedene andere Themen vereinzelt in den Blick genommen (vgl. etwa Kohlmeier 2000, 199 – 207; Tomasek 1994, 175 – 206). Vgl. Ebenbauer 1984, 281 ff., zu Steinhöwels Fassung 283; Lienert 2001, 163 – 175. Vgl. etwa Bertelsmeier-Kierst 2014, 155; Knape 1995; Weinmayer 1982, 88 – 95. Die umfangreiche Studie von Müller 1985, 67, 104, erwähnt die Erzählung nur am Rande.
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Vor dem Hintergrund dieser Forschungsbilanz verwundert es daher nicht, dass keine explizit erzähltheoretisch orientierte Auseinandersetzung mit der Erzählung stattgefunden hat. Zwar haben sich einzelne Ansätze den narrativen Strukturen des Romans genähert, dies in der Regel aber nicht mit alleiniger Fokussierung auf diese Erzählung, sondern in vergleichenden Analysen mit je verschiedenen Frageinteressen, die wiederum nicht selten auf eine explizit sozialund geistesgeschichtliche Anbindung zielten.¹⁸ Dies entspricht sowohl der bereits skizzierten Tendenz der Forschung, dem Prosaroman primär als sozial- denn als literaturgeschichtliches Phänomen zu begegnen, als auch der ursprünglich in der Forschung zu den Liebes- und Abenteuerromanen vertretenen Einschätzung einer formlosen, trivialen Poetik der dieser Gattung angehörenden Romane¹⁹. Bereits Melzer konstatiert im Nachwort zu seiner Apollonius-Ausgabe etwa die Notwendigkeit, neben ästhetischen vor allem auch literatursoziologische Kategorien für eine Einschätzung und Bewertung des Textes anzuwenden, um den Erfolg der Erzählung im Spätmittelalter trotz ihres „gering veranschlagten literarischen Wert[s]“²⁰ erklären zu können.²¹ Ursache desselben sei nach Melzer dabei das zeitgenössische Interesse breiter Leserschichten an bloßer Unterhaltungsliteratur; erst vor diesem Horizont, in „der Einführung und Durchsetzung der neuen Unterhaltungsromane erhält auch Steinhöwels ‚Apollonius‘ seinen literarischen Stellenwert.“²² Dieser Unterhaltungsaspekt der Steinhöwel’schen Erzählung ist auch in der Folge häufig betont, dabei aber differenzierter mit verschiedenen Erzählinteressen und Funktionszusammenhängen korreliert worden.²³ Auch bei
Vgl. dazu Röcke 1990 sowie Bachorski 1993. Beide Ansätze werden in der Folge noch ausführlich betrachtet. Vgl. Baisch und Eming 2013, 10. Melzer 1975, VII. Vgl. Melzer 1975, IX. Melzer 1975, IX. So etwa bei Weinmayer 1982, 90 ff., die dem Autor ein Interesse an der „Vermittlung von unterhaltendem Wissen“ unterstellt, wobei diese Intention in den Erzählzusammenhang einer Herrscher-Biographie eingebettet sei. Die Art und Weise der Selbstdarstellung und -positionierung des Autors versteht sie dabei als Legitimationsversuche, die sowohl der Gewinnung eines Publikums dienten, als auch seine Position auf dem literarischen Markt etablieren sollten (vgl. 92 f., vgl. zum Verhältnis von postulierter Kunstlosigkeit und didaktischer Absicht 94 f.). Der Aspekt der Unterhaltung wird dabei letztlich auch in solchen Ansätzen greifbar, die das Interesse an der Erzählung auf die einzelnen Motive und Ereignisse zurückführen, wie etwa bei Lienert 2001, 174: „Neben der handfesten und tröstlichen Moral, die lebenspraktische Orientierung verspricht, spielt […] wohl vor allem der stoffliche Reiz der verwickelten Geschichte eine Rolle, die Häufung sensationeller Ereignisse wie Inzest, Schiffbruch, Scheintod, Mordversuch, Entführung durch Piraten, Mädchenhandel und Zwangsprostitution, verbunden mit rührenden
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Ansätzen, die eine rein unterhaltende Funktion des Textes negieren, ist dabei stets besonderes Augenmerk auf die soziokulturellen, gesellschaftlichen und kommunikativen Kontexte gerichtet worden. So hat beispielsweise auch Terrahe, die eine Reduktion des Textes auf jene Funktion des delectare entschieden kritisiert,²⁴ in ihrer jüngsten Untersuchung zur Gebrauchsfunktion der Erzählung auf die Dringlichkeit einer sozialgeschichtlichen Verortung des Textes in seinem außerliterarischen Entstehungszusammenhang hingewiesen, da eine rein literaturwissenschaftliche Analyse des Romans als Erzähltext seinen vielfältigen Funktions-, Gebrauchs- und Rezeptionszusammenhängen nicht gerecht werde.²⁵ Aus
Elementen wie der (komisch-sentimentalen) ‚Bekehrung‘ der Freier durch Tarsia, der Wiedervereinigung von Vater und Tochter, Mann und Frau.“ Vgl. Terrahe 2015, 278, 303. Vgl. Terrahe 2015, 278 ff. Dieser Annahme entsprechend versteht sie die ‚Historien‘ – diese Bezeichnung der Erzählungen resultiert aus der intendierten Vermeidung solcher Implikationen, wie sie der Gattungsterminus ‚Roman‘ produziere, sowie der Absicht, den hybriden Formen der Erzählungen Rechnung zu tragen – als Mischformen, die zwischen fiktionalem und historiographischem Erzählen anzusiedeln seien, wobei diese Gleichzeitigkeit zwischen Faktizität und Fiktionalität intendiert und bewusst konstruiert sei, um den rezeptionsseitigen Anspruch sowohl auf historische Wahrheit als auch auf Unterhaltung zu bedienen. Dabei sei der fiktionale Anteil primär der Notwendigkeit geschuldet, das vermittelte Faktenwissen „aufzulockern“ (279), obgleich jene faktische Wahrheit eigentlich eine solche exemplarischer Natur sei. Nach einer Diskussion der jeweiligen biographischen Daten der beiden Dichter Steinhöwel und Hartlieb, die dem Beleg der zuvor skizzierten Erzählintention des ‚prodesse et delectare‘ dient (vgl. 281 ff.), ihrer sozialen Netzwerke (vgl. 283 f.) und der Ähnlichkeiten zwischen Alexander- und ApolloniusRoman (vgl. 284 f.) zeichnet sie den historiographischen Erzählanspruch beider Erzählungen nach, der in Verbindung mit jenen fiktionalen Elementen die Texte zu „‚hybriden‘ Mischformen“ (286) machte – wenn auch ausschließlich aus heutigem Verständnis, habe sich die Frage nach dem exakten Verhältnis von ficta und facta den zeitgenössischen Rezipienten gerade nicht gestellt (vgl. 286). Zugleich partizipierten die Erzählungen an aktuellen politischen und kulturellen Diskursen und hier vor allem im Zusammenhang mit politischen Ereignissen um den Fall Konstantinopels, der Türkenangst und den Kreuzzugsaufrufen (vgl. 286 f.). Terrahes Versuch, die „zeitgenössische[] Rezeption der beiden Werke im soziokulturellen Umfeld des 15. Jahrhunderts“ (286) nachzuzeichnen, basiert dabei auf der Annahme, dass die Autoren ihre Erzählungen „pragmatisch funktionalisierten“, indem sie „auf gewisse Weise Einfluss auf die Träger der politischen Schicht nahmen“ (286). „Es lässt sich daher ein poetologisches Programm in diesen narrativen Prosatexten ausmachen, das eine eminent pragmatische Funktion aufweist.“ (286) So skizziert sie in der Folge die Referenzen des Apollonius-Romans auf das zeitgenössische Kreuzzugsgeschehen, die sie auch mit sozialen Verbindungen Steinhöwels zu solchen Personen belegt, die in den realgeschichtlichen politischen Ereignissen eine wichtige Rolle spielten (vgl. 288 f.). Terrahe leitet somit die narrative wie motivische Faktur der Erzählung aus potentiellen Publikumsinteressen ab: „Bei dem von Steinhöwel anvisierten Publikum bestand demnach definitiv ein politisch-ideologischer Interessenshorizont, in den das Werk perfekt hineinpasste und innerhalb dessen der Apollonius für verschiedene Zwecke instrumentalisiert werden konnte.“ (289)
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diesem Grund fordert sie eine Erweiterung der „germanistische[n] Perspektive durch einen stärker interdisziplinär ausgerichteten kulturwissenschaftlichen und diskursanalytischen Ansatz“²⁶. Diese Forderung verwundert dabei nicht nur angesichts der bis in die jüngste Zeit andauernden Neigung der Forschung, trotz der Distanzierung von einem sozialgeschichtlichen Forschungsparadigma weiterhin die diskursiven Zusammenhänge zwischen der frühneuhochdeutschen Erzählprosa und den vielfältigen zeitgenössischen Veränderungen zu betonen, sondern vor allem auch deshalb, weil Steinhöwels Apollonius bisher nicht zum Gegenstand einer rein literaturwissenschaftlichen oder gar erzähltheoretischen Analyse geworden ist. Zwar hat man die narrativen Strukturen der Erzählung vereinzelt in den Blick genommen, dies aber stets in komparatistischer Perspektive und häufig vor dem Horizont eines geistes-, sozial- oder mentalitätsgeschichtlichen Frageinteresses. Ohne eine solche explizite Anbindung an historische Kontexte allerdings im Vergleich zu anderen frühneuhochdeutschen Erzähltexten diskutiert etwa von Ertzdorff einige Aspekte der erzählerischen Gestaltung des Apollonius. So sei der „Prototyp mittelalterlicher Romane“²⁷ durch ein knappes, novellistisches Erzählen gekennzeichnet: „viel Handlung, knapp erzählt, mit zahlreichen, ‚zufälligen‘ – aber genau passenden ‚Umschlägen‘.“²⁸ Die Handlung werde einsträngig linear präsentiert und mit Dialogen angereichert, so dass szenische Unmittelbarkeit entstünde; der auktoriale Erzähler leite „den Leser/Hörer sicher durch die Fülle des zu Erzählenden, die Ereignisse auswählend und wertend […], ihn belehrend über die moralische Bedeutung und ihn gleichzeitig durch das Außergewöhnliche der Ereignisse unterhaltend.“²⁹ Dabei betont von Ertzdorff neben einer spezifischen Figurenzeichnung auch die besondere Rolle der schicksalsmächtigen Instanzen, deren Wirken auch in dieser Erzählung nicht zuverlässig zu bestimmen sei.³⁰ Während von Ertzdorff die besondere Erzählform, jenes „knappe, novellistische Erzählen“³¹, unter anderem als Reaktion auf zeitgenössische Rezeptionserwartungen versteht und wie erwähnt von einer weitergehenDas Ergebnis ihrer Untersuchung verwundert in diesem Zusammenhang dann nicht weiter: Aufgrund des überlieferungsgeschichtlichen und sozialhistorischen Kontextes ließe sich eine Funktionalisierung des Apollonius für „politisch-ideologische Kontexte und Phantasmen der Zeit“ (302) vermuten, so dass seine Funktion gerade nicht ausschließlich und primär in einer unterhaltenden Dimension bestanden hätte. Terrahe 2015, 280. Von Ertzdorff 1989, 55. Von Ertzdorff 1989, 55. Von Ertzdorff 1989, 56. Vgl. von Ertzdorff 1989, 57. Von Ertzdorff 1989, 58.
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den soziokulturellen und geistesgeschichtlichen Kontextualisierung absieht³², diskutiert Röcke die Unterschiede der narrativen Raum- und Zeitkonzeptionen sowie der Figurenkonstruktion zwischen der Historia Apollonii regis Tyri und Steinhöwels Apollonius hingegen vor einem mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund,³³ wobei er als Indikatoren für die kollektive Mentalität einer Epoche sowohl die Kategorien Raum und Zeit als auch die Dialektik von Individualität und Kollektivität in den Blick nimmt.³⁴ Bemerkt Röcke in der Untersuchung der Historia Apollonii regis Tyri im Hinblick auf die Figurendarstellung das Ausbleiben von Entwicklung und konstatiert einen nur „abstrakten“ Raum sowie eine „leere“ Zeit,³⁵ zeichneten sich für ihn mit Steinhöwels Bearbeitung erste Ansätze zu „einem anderen, neuzeitlichen Romantyp“³⁶ ab. Zwar folge Steinhöwel dem antiken Erzählschema, nehme aber markante Veränderungen in den Darstellungsmoda Vgl. von Ertzdorff 1989, 2. Vgl. Röcke 1990. Vgl. zum methodischen Vorgehen die Diskussion der Notwendigkeit und Relevanz eines mentalitätsgeschichtlichen Zugangs 91 ff. Der Apollonius-Stoff biete sich dabei aus zwei Gründen für einen Ansatz aus Mentalitäts- und Literaturgeschichte an: Er sei „zum einen wegen der außerordentlich ‚langen Dauer‘ seiner Bearbeitungsgeschichte von der Spätantike bis in die frühe Neuzeit gut geeignet, zum anderen wegen der höchst widersprüchlichen Verbindung von Konstanz und Variabilität des Stoffes, die beim Vergleich der einzelnen Textfassungen deutlich wird.“ (101, Anm. 9) Vgl. Röcke 1990, 93 f. In diesem Zusammenhang wendet er sich zum einen dem sich in verschiedenen Bildern und Bildfeldern der Schifffahrt (Schiff, Schiffreise, Schiffbruch) konkretisierenden Chronotopos und damit den sich auf diesen stets beziehenden Darstellungsmustern von Raum und Zeit zu. Diese Bildfelder, die „Aufschluß über – im übrigen recht komplexe – historische Erfahrungen, Überzeugungen und Denkmuster zu geben vermögen“ (93) und dabei den zentralen Inhalt der Erzählungen darstellten, blieben in den mittelalterlichen Fassungen zwar erhalten, veränderten sich aber hinsichtlich der Konzeption von Raum und Zeit sowie der Handlungsoptionen der Figuren. Vgl. zur Rolle von Bildfeldern, Symbolen und Metaphern für die Rekonstruktion epochenspezifischer Mentalitäten auch 95 f.; in Anlehnung an Jürgen Links Überlegungen zur Kollektivsymbolik versteht Röcke „das Schiff als ein Kollektivsymbol vormoderner Epochen, das […] technische Elemente mit wichtigen soziokulturellen Problemstellungen einer Epoche verbindet.“ (96) Zum anderen untersucht er das Verhältnis zwischen kollektiven Mentalitäten im Sinne allgemeiner Überzeugungen, Vorstellungen und Praktiken und Einzelnem, das sich insbesondere an literarischen Texten überprüfen ließe, sofern es hier vor allem in seinen spezifischen Veränderungen und Variationen greifbar werde (vgl. 94). Vgl. Röcke 1990, 97 f.: In der spätantiken Historia blieben die Figuren trotz wechselnder Schauplätze, der Konfrontation mit der Fremde und Schicksalsschlägen gleich, sie veränderten sich nicht und bewahrten ihre Identität. So wie das Wirken Fortunas keine Veränderung der Figuren bewirke, so bleibe der Raum, den die Figuren – aus handlungslogischer Notwendigkeit – durchquerten, unkonkret und abstrakt, so dass die so dargestellte Welt ausschließlich der Extensivierung des Raumes diene. Entsprechend bleibe auch die Zeit eine leere Kategorie, sofern sie keine Veränderungen bewirke, weder biographisch noch historisch konkret werde. Röcke 1990, 98.
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litäten von Raum, Zeit und Figurenkonzeption vor. So werde „die ‚leere Zeit‘ des antiken Romans zur historisch-konkreten Zeit; seine ‚abstrakte Extensität‘ des Raumes zu einem konkreten Raum und die Figuren zu widersprüchlichen, sich verändernden Individuen.“³⁷ Die Umbesetzungen vom antiken zum spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Roman zeigten sich mithin in den Modifikationen der Zeit-, Raum- und Figurendarstellung, die wiederum auf eine Umbesetzung auch der „kollektiven Sinngebungs- und Deutungsmuster“³⁸ verwiesen. Wie bei Röcke, der folglich die spezifischen narrativen Umbesetzungen im Apollonius als Indiz für einen Wandel der kollektiven Mentalitäten wertet, basiert auch die Analyse Bachorskis, in der er die narrativen Strukturen und die sich in der Erzählstruktur jeweils konkretisierenden Ideologeme verschiedener Abenteuer- und Prüfungsromane untersucht, auf der Annahme eines sich in der Erzählstruktur und in inhaltlichen Paradigmen abzeichnenden Wandels von Denkformen.³⁹ Die von ihm analysierten Texte gäben dabei in ihrer je unter-
Röcke 1990, 98. Die Entwicklung zu einer konkreten, historischen Zeit zeige sich dabei in der Historisierung des Geschehens (und des Erzählens), wie es sich in der Vorrede in den historischen Fixpunkten und Bezügen manifestiere, wobei dies gleichwohl auf den Prolog beschränkt bleibe; ähnlich verhalte es sich mit der Konkretisierung des Raumes, die durch die exakte Lokalisierung des Geschehens, der Herkunft und des Handlungsraumes ebenfalls nur in der Vorrede erfolge (vgl. 98 f.). Die Erzählung als solche repräsentiere in beiden Fällen wiederum jene leere Zeit und jenen abstrakten Raum, wie sie für die Historia Apollonii regis Tyri kennzeichnend seien. Vgl. zu den Handlungsmöglichkeiten der Figuren weiter unten, Kap. 5.2. und 5.2.1. Röcke 1990, 101. Vgl. Bachorski 1993. Ausgehend von einer Parodie des Erzählmusters des Liebes- und Reiseromans, wie er sie in einer Geschichte des Decamerone realisiert sieht, diskutiert Bachorski die narrativen Strukturen und die sich in der Erzählstruktur konkretisierenden Ideologeme verschiedener Abenteuer- und Prüfungsromane auch vor einem gattungstheoretischen Hintergrund (vgl. 60 f.). Methodische Prämisse seiner Untersuchung ist die – jener geschichtsphilosophischen Teleologie von Epos und Roman entgegengesetzte – Fokussierung synchroner Schnitte in der Differenzierung von Erzähltypen, Gattungen und ihren Funktionen: „In funktionaler Distribution, also als Artikulation eines je unterschiedlichen Weltverhältnisses, würden sich dann etwa Heldenepik und höfischer Roman […] in einem gemeinsamen literarischen Kommunikationszusammenhang gegenüberstehen, verschiedene Funktionen erfüllen und einen je anderen Blick auf die Welt eröffnen.“ (62) Im Rahmen einer solchen Untersuchung müssten dann die verschiedenen Erzähltypen auf ihre jeweiligen Erzählformen, Struktur- und Handlungsmuster untersucht werden, um so verschiedene Gattungen und ihre jeweiligen Dominanten ermitteln zu können (vgl. 62 f.). Im Hinblick auf den zur Debatte stehenden Liebes- und Reiseroman geht Bachorski dabei von einem relativ festen, allen Texten dieses Typs zugrundeliegenden Erzählschema aus, das sich in den verschiedenen Gestaltungen je anders realisiere, obgleich sich die Tiefenstruktur der Texte nicht verändere. Solche spezifischen, je nach Fassung divergierenden Variationen und Realisierungen des Stoffes müssten daher auf „ihre spezifische Bedeutung befragt werden, also
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schiedlichen sowohl erzählerischen als auch inhaltlichen Faktur⁴⁰ Aufschluss über die ihnen zugrundeliegende imaginäre Ordnung der Welt, über die „Art und Weise, wie zu einem bestimmten Zeitpunkt Wirklichkeit gedacht wird.“⁴¹ Nicht nur die in den Romanen artikulierten und diskutierten Denkmodelle, sondern auch die Gattungsmuster als solche – wie etwa die spezifische Raum-Zeit-Relation oder die Idee der tugendhaften Prüfung des Einzelnen – implizierten immer schon ein spezifisches Weltverhältnis. Somit bedeutete nicht nur die Auseinandersetzung mit virulenten epochalen Fragen, sondern bereits eine Änderung des Erzählmusters „eine Umbesetzung auf der Ebene der Einstellungen zur Wirklichkeit.“⁴² Die in einzelnen Texten vollzogenen Umbesetzungen seien somit
den je besonderen historischen Gehalt, die ideologische Semantik etc. der konkreten Ausführung.“ (63) Vgl. zur Handlungsstruktur, Zeit- und Raumkonzeption der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Liebes- und Reiseromane Bachorski 1993, 64 f. Als „[g]attungshafte Dominanten“ (64) versteht er dabei das Verhältnis von biographischer und Abenteuerzeit, wobei letztere den Hauptteil der Handlung beinhalte, und die Konstruktion des Raumes, die entsprechend der Zeitstruktur in ‚Heimat‘ (biographische Zeit) und ‚Fremde‘ (Abenteuerzeit) differenziert sei. Diesem Zeit-Raum-Verhältnis und jener durch Abenteuerzeit und Fremde entstehenden Zäsur entspreche die Abfolge von Verlust und Wiedervereinigung, die im Apollonius wiederum verdoppelt sei, sofern dieser sowohl Frau als auch Tochter verliere (vgl. 65 f.). Eingeleitet werde jene Zäsur dabei in der Regel auf dem Meer; hier erfolge der „Einbruch des Schicksals in die biographische Zeit“ (66); die hier begegnenden Gefahren seien Reflexion einer realen Reiseangst, wobei diese Erfahrung allerdings – zu einem literarischen Topos verdichtet – zu einer Metapher für die lebensweltlichen Gefahren und das unkalkulierbare Wirken des Schicksals auf das Individuum werde (vgl. 66 f.). Während auf dem Meer die Selbstbestimmung der Figuren am geringsten und das Wirken des Zufalls am stärksten sei, es somit den Übergang zu einer – gleichwohl jeweils relativen – Fremde markiere, beginne ebendort die selbstbestimmte Bewährung der jeweiligen Figuren (vgl. 67) Bachorski 1993, 79. In allen diesen Texten werde trotz Variation allerdings ein gemeinsamer Diskurs geführt: „In allen geht es um die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Einzelnen in einer zunehmend ihre Überschaubarkeit und Geordnetheit verlierenden, also kontingenter werdenden Welt.“ (79) Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen, die wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Imaginären seien, sei dabei aber keineswegs nur für diese Gattung charakteristisch, sondern kennzeichne letztlich sämtliche Texte des von ihm gewählten Zeitausschnitts, den er als eine Epoche versteht, „die auf der Basis einschneidender ökonomischer Umstrukturierungen und weitreichender Veränderungen des sozialen Zusammenhangs vor der praktischen Notwendigkeit steht, auch die Systeme des Handelns, Denkens und Fühlens umzubauen.“ (80) Während zwar erst der Blick auf verschiedene Texte eines Erzählmusters „die ihnen allen gemeinsamen, epochalen Fragestellungen“ zu erkennen ermögliche, stelle der Einzeltext in seiner je eigenen poetischen und ideologischen Struktur „ein singuläres Ereignis dar, das als besondere Antwort auf ideologische Fragen gelesen werden muß.“ (80) Bachorski 1993, 81.
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notwendiger Bestandteil jenes „kollektive[n] Diskussionsprozess[es]“⁴³, in dessen Rahmen tradierte Systeme und Orientierungen zur Disposition stünden. Schon dieser exemplarische Blick auf die Arbeiten Röckes und Bachorskis zeigt, dass der von Terrahe jüngst geforderten Erweiterung der „germanistische[n] Perspektive um eine […] historische sowie kultur- und mentalitätsgeschichtliche“ und ihrem Appell, den „kulturellen und politischen Hintergrund des 15. Jahrhunderts miteinzubeziehen“,⁴⁴ letztlich bereits Rechnung getragen wurde, sofern das Erzählen auch im Apollonius stets als Ergebnis seiner Episteme aufgefasst wurde.⁴⁵ Während dieser Aspekt auch die Auseinandersetzungen mit anderen Prosaromanen kennzeichnet, ist im Gegensatz zu jenen die Erzählung Steinhöwels nur vereinzelt als ambivalent wahrgenommen worden. Im seltenen Falle einer Feststellung von Ambivalenz in narrativer Hinsicht bzw. ihren terminologischen Äquivalenten, wie sie sich etwa in unentscheidbarer Zwei- oder Mehrdeutigkeit, in der Gleichzeitigkeit von Deutungsmustern oder konträren Sinnstrukturen konkretisiert, wurde diese in der Regel ebenfalls in Bezug auf den außerliterarischen Kontext gedeutet: So konstatiert beispielweise Röcke den Verlust von Kohärenz in der Zeit-, Raum- und Figurendarstellung im Apollonius und liest dies als Resultat der auf widersprüchliche Weise ablaufenden Umbesetzung kollektiver Deutungs- und Sinngebungsmuster;⁴⁶ Bachorski führt von ihm bemerkte Widersprüche, wie sie sich in dem Verhältnis von stofflich bedingter Erzählstruktur und ideologischer Prägung konkretisierten, auf jenen
Bachorski 1993, 80. Terrahe 2015, 304. So geht etwa auch Kohlmeier 2000, 208, von einer Korrelation von Erzählformen und epistemischen Veränderungen aus, wenn er die Inszenierung des Erzählers und die Konstruktion des Protagonisten als „vernunftgeleiteten Herrscher“ als Resultat veränderter Normvorstellungen interpretiert. Die in ihrer Zurückhaltung – es gäbe nur wenige Einschübe des Erzählers, die meist einer stärkeren Motivierung und Plausibilisierung dienten (vgl. 206) – als „fast schon ‚modern[]‘“ (232) bezeichnete Erzählhaltung scheine nämlich „mit der im Zuge der wachsenden Verflechtung immer stärkeren Verinnerlichung von Normen zu korrelieren. An die Stelle äußerer Zwänge tritt in wachsendem Maße die Selbstkontrolle, und damit differenziert sich auch der Seelenhaushalt aus. Verhaltensregeln in der Form des Appells zu präsentieren wird dem sich wandelnden psychischen Standard, gerade dem der adligen und stadtbürgerlichen Oberschichten, die am stärksten in diesen Prozeß eingebunden sind, nicht mehr gerecht. Je mehr im Alltag der Menschen die sozialen Anforderungen ins Innere verlegt werden, desto stärker müssen in der Literatur, wenn denn eine didaktische Absicht besteht, die zu vermittelnden moralischen Regeln in die Handlung verwoben werden.“ (232) Vgl. Röcke 1990, 100. Röcke wertet dies als Symptom einer grundsätzlichen Variabilität kollektiver Mentalitäten, die sich im Gegensatz zu außerliterarischen Quellen vor allem in literarischen Texten offenbare, sofern gerade hier jene kollektiven Deutungs- und Sinngebungsmuster „häufig […] in Widersprüche getrieben, in Frage gestellt oder modifiziert [werden]“ (100).
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Wandel der Denkformen zurück;⁴⁷ und auch Kohlmeier interpretiert die von ihm in verschiedenen frühneuhochdeutschen Prosaromanen festgestellte Unstimmigkeit sowohl in den Verhaltensweisen der Figuren als auch in dem Verhältnis zwischen diesen und den moralischen, didaktischen und wertenden Erzählerkommentaren im Rückgriff auf soziologische Zivilisationstheorien als Reflex eines sich wandelnden normativen Systems.⁴⁸ Während diese Überlegungen zur epistemischen Anbindung widersprüchlicher narrativer Phänomene jener für die Prosaromanforschung charakteristischen sozialhistorisch geprägten Perspektive entsprechen und damit nur auf die Fassung Steinhöwels bezogen sind, wurde der dem Roman zugrundeliegende Erzähltyp, nämlich der Minne- und Âventiureroman, stets mit Hybridität in Verbindung gebracht. Grundlegend für diese Einschätzung sind Bachtins Arbeiten zur Theorie des Romans, in denen er mit dem Begriff der Hybridität den Kompositionscharakter dieser Erzählungen zu einem zentralen Merkmal der Gattung erhob.⁴⁹ Während Bachtin mit diesem Konzept noch auf einen „Synkretismus der
Vgl. Bachorski 1993, 73. Der Stofftradition des Liebes- und Abenteuerromans, dessen signifikantes strukturelles Merkmal in der Unveränderlichkeit der Figuren und der Invariabilität ihrer Identität bestehe, werde in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fassungen und damit auch bei Steinhöwel ein ideologisches Programm entgegengesetzt, das in der Thematisierung einer „‚inneren‘ Identität“ und einer eigenständigen Entwicklung einer sozialen Identität die Tiefenstruktur der Erzählungen gewissermaßen strukturell konterkariere, sofern sich jene Ideologeme „in einer Struktur und zugleich gegen sie herausbilden“ (73). Diese Gegensätzlichkeit ist für ihn dabei Ausdruck eines mentalitätsgeschichtlichen Wandels: „Dieses widersprüchliche Verhältnis von allgemeiner Erzählstruktur und besonderer Auffüllung mit speziellen Ideologemen aber dokumentiert den modernen Rezipienten den historischen Wandel von Denkformen.“ (73) Obgleich diese Annahme Bachorskis zunächst jener für die Prosaromanforschung verbreiteten Position zu entsprechen scheint, die von einem vorbewussten und vorreflexiven Erzählen ausgeht, dessen Widersprüchlichkeiten Resultat einer lebensweltlichen Verunsicherung und letztlich erst in der Retrospektive als solche erkennbar seien, betont er doch die Relevanz des narrativen Diskurses für eine Analyse jenes Weltbildwandels (vgl. 73 f.). Vgl. Kohlmeier 2000, 11 ff. So interpretiert er etwa einzelne Reflexionen und Verhaltensweisen der Apollonius-Figur als Ausdruck einer im Prozess der Zivilisation veränderten Form der Selbstregulierung sowie als Resultat einer verstärkten Psychologisierung (vgl. 209). Insgesamt bleibt die Analyse aber hinter dem postulierten Anspruch zurück. Vgl. Baisch und Eming 2013, 10 f. Vgl. dazu die Ausführungen von Bachtin 1989, 12 f. Vgl. zur Gattungsbezeichnung, ihrer prinzipiellen terminologischen Unschärfe sowie zu historischen und systematischen Problematiken des Gattungsbegriffs ‚Liebes- und Abenteuerroman‘ Putzo 2013, 42. Putzo betont dabei nicht nur die terminologische Unpräzision der Gattungsbezeichnung, sofern mit dieser oft gerade keine charakteristischen Handlungsbestandteile erfasst wären, sondern auch die Heterogenität des damit bezeichneten Textcorpus: „Als ‚Verlegenheitslösung‘ dient er als Sammelbecken für eine heterogene und uneinheitlich begrenzte Gruppe von Roma-
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Genremomente“⁵⁰, auf die Integration und Kombination von Motiven und Sujets anderer Gattungen anspielt, findet er in jüngeren Untersuchungen im Sinne „der charakteristischen Mischung von Gattungs- und Erzählmustern“⁵¹ Anwendung, in welchen darüber hinaus die dieser Gattung inhärenten „kreativen Potentiale […] in ihrer Verwendung poetologischer, narratologischer und Emotionen erzeugender Verfahren“⁵² in den Blick geraten. Zuletzt hat Hagemann in ihrer Untersuchung der Inzestthematik im Liebes- und Abenteuerroman und damit auch im Apollonius in Anlehnung an Schulzʼ Konzept einer ‚Poetik des Hybriden‘ Hybridität als Charakteristikum der Erzählungen dieses Typus bestimmt: Charakteristikum der Gattung ist demnach, dass sie andere Erzähltraditionen, verschiedene literarische Motive und Schemata akkumuliert und integriert. Durch die Kombination unterschiedlicher Elemente kommt es zu Überlagerungen; das Sinnangebot wird heterogen und ambivalent.⁵³
Hagemann sieht den Mehrwert der Kategorie der Hybridität dabei vor allem in der Fokussierung auf elementare Erzählstrukturen und Schemata und möchte den in den Apollonius-Roman (neben anderen Erzählungen) integrierten literarischen Traditionen und den sich an die Inzestthematik anschließenden Erzähllogiken nachgehen,⁵⁴ konstatiert für diesen letztlich aber nur eine geringe Relevanz jener Kategorie der Hybridität, sofern diese in Steinhöwels Apollonius „weit weniger Sinnpotential“⁵⁵ entfalte als in den anderen von ihr untersuchten Erzählungen. Im Gegensatz zu diesem Fazit Hagemanns und ohne expliziten Anspruch, Hybridität als Analysekategorie zu konzeptualisieren, hat hingegen Terrahe den Apollonius im Hinblick auf die Gattungsfrage und das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion als hybriden Text, als Mischform, charakterisiert. Sie nämlich führt den zeitgenössischen Erfolg der Erzählung gerade auf dessen Hybridität zurück: Die durch zahlreiche Bearbeitungen und Rezeptionszeugnisse belegte Beliebtheit des Textes im 15. Jahrhundert beruhte offenbar auf den vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten, die der Stoff bietet. Von der älteren Forschung als trivialer Unterhaltungsroman verkannt, der seine Popularität plakativen Themen wie Verrat, Entführung, Inzest und Mord verdanke,
nen des 12. bis 16. Jahrhunderts, über deren historische Zusammengehörigkeit keine Illusionen bestehen dürfe.“ Vgl. zur Gattungsdiskussion außerdem Hagemann 2013, 136 ff. Bachtin 1989, 12. Baisch und Eming 2013, 14. Baisch und Eming 2013, 15. Vgl. zur Hybridität als Gattungsmerkmal auch Hagemann 2013, 136. Hagemann 2013, 137. Vgl. Hagemann 2013, 138. Hagemann 2013, 141.
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erweist sich die Erzählung bei genauerer Betrachtung als ein Werk, das keinem der gängigen Gattungskonzepte ohne Weiteres zuzuordnen ist. Vielmehr scheint sich der Erfolg des ‚Apollonius‘ eben gerade aus seiner Diversität und seinem hybriden Gattungscharakter herzuleiten […].⁵⁶
Die dem Stoff und insbesondere der Fassung Steinhöwels inhärente Hybridität resultiert für Terrahe neben der problematischen Gattungszuordnung⁵⁷ dabei auch aus Steinhöwels Position im zeitgenössischen Kontext: Als „Autor in einer Übergangszeit“⁵⁸ verkörpere Steinhöwel neben anderen frühhumanistischen Persönlichkeiten jene Gestalt des Übergangs, die zwischen zwei Phasen weder das Alte bewahre, noch das Neue begründe. Somit seien die „Ambivalenzen und Interferenzen […] als Teil seiner Gelehrtenpersönlichkeit“⁵⁹ zu verstehen. Neben solchen entweder auf Steinhöwels Fassung oder auf den Liebes- und Abenteuerroman bezogenen Wertungen wurden darüber hinaus – unabhängig von vermeintlich gattungstypischen Merkmalen – für den Apollonius-Stoff als solchen Inkonsistenzen, Lücken und Brüche in Struktur und Handlungsführung konstatiert. Ausgehend von der Historia Apollonii regis Tyri aber mit Blick auf die gesamte Stofftradition hat Archibald auf solche Szenen hingewiesen, die ihr als erzähllogisch problematisch und inkonsistent erscheinen und die sich in variierter Form auch in späteren Fassungen und ebenso in derjenigen Steinhöwels fänden.⁶⁰ Im Gegensatz zu den hier zur Diskussion stehenden Formen eines ambivalenten Erzählens geht sie nicht von einer bewussten Gestaltung der von ihr als „illogicalities“⁶¹ bezeichneten Szenen aus, sondern erklärt sie und ihre Tradierung als Ergebnis eines mangelnden Kohärenzbewusstseins: „Consistency was not high on the list of medieval literary virtues, and it cannot be expected that
Terrahe 2013a, 100. Die grundsätzliche Hybridität des Apollonius-Stoffes konstatiert bereits Archibald 1984, 130: „[T]he Apollonius is a literary hybrid: it shares some characteristics and plot elements with various classical literary genres, yet does not fit perfectly into any one.“ Vgl. Terrahe 2013a, 91 ff.; vgl. zu diesem Aspekt auch Terrahe 2015, 278 ff., 286, 303. Im Hinblick auf die Gattungseinordnung definiert sie die zeitgenössischen Erzählungen (hier den Apollonius und Alexander) als „ambivalente Texte, die Fabulöses mit (Pseudo)-Historischem vermengen, eine Prise christliche Moraldidaxe einstreuen und einen Erzählstoff behandeln, der sowohl für ein adeliges Publikum, später auch für ein aufstrebendes städtisches Patriziat ansprechend gewesen sein dürfte.“ (286) Terrahe 2013a, 101. Terrahe 2013a, 101. Vgl. Archibald 1984, 62– 81; Archibald 1991, 63 – 80. Archibald 1984, 63; Archibald 1991, 63.
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later copyists or translators would have noted and amended all the lapses which trouble the modern reader.“⁶² Diese kurze Forschungsskizze hat gezeigt, dass der Apollonius bisher kaum mit der Kategorie Ambivalenz in Verbindung gebracht wurde. Dass sich einzelne narrative Arrangements und erzählerische Konstellationen aber durchaus gewinnbringend mit jenem Konzept eines ambivalenten Erzählens beschreiben lassen, soll im Folgenden gezeigt werden: Zum einen sollen Sequenzen der Er-
Archibald 1984, 63; Archibald 1991, 63. Die von ihr analysierten Szenen erscheinen dabei aber zu einem großen Teil weniger im Hinblick auf die Handlungsebene der Erzählung inkonsistent oder unzureichend motiviert; eher scheint Archibald einen Rezeptionseindruck wiederzugeben, der aus Beurteilungskriterien resultiert, die weniger eine bruchlose, als vielmehr eine psychologisch schlüssige und für den modernen Rezipienten nachvollziehbare Motivierung des Geschehens zum Maßstab erheben: So bewertet Archibald etwa die Apollonius von Antiochus gewährte Frist nach Lösung des Rätsels bzw. die im Gegensatz zu anderen Bewerbern hier nicht unmittelbar vollzogene Todesstrafe als inkonsistent: „It seems entirely inconsistent that the death penalty enforced in the case of all other suitors who failed to solve it (and some who succeeded) should be commuted in the case of Apollonius: his correct solution posed a considerable threat to the king, who in any case did not acknowledge that the solution was correct.“ (Archibald 1984, 64; vgl. zur Bewertung dieser Szene auch Archibald 1991, 64 f.) Dies mag auf Rezeptionsebene insofern schwer nachvollziehbar sein, als alle anderen Bewerber ihr Leben gelassen haben, auf handlungslogischer Ebene handelt es sich allerdings nicht um eine brüchige Motivierung des Geschehens, zumal Antiochus unmittelbar im Anschluss Thaliarchus mit der Verfolgung Apolloniusʼ beauftragt. Während sich in der Historia Apollonii regis Tyri kein Hinweis auf die Motivation und Intention von Antiochus findet, Apollonius nicht sofort zu töten (die relevanten Stellen aus der Historia Apollonii regis Tyri werden nach Archibald 1991 zitiert; vgl. hier: Historia, 116,6,1– 116,6,8), erklärt dieser bei Steinhöwel in Form einer Figurenrede dies mit dessen gter gestalt (Apollonius, in: Terrahe 2013a, 167,304. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe im Fließtext mit Seitenzahl- und Zeilenangabe in Klammern zitiert). Dass es Archibald weniger um die Handlungsebene, als vielmehr um einen psychologisch stimmigen Nachvollzug auf Rezeptionsseite geht, der an modernen Beurteilungskategorien orientiert ist, zeigt sich auch an einer weiteren von ihr als problematisch bewerteten Handlungssequenz, nämlich der Abreise Apolloniusʼ aus Tarsus. Sie kritisiert, dass „the only motivation“ (Archibald 1984, 70) für Apolloniusʼ Aufbruch der Ratschlag von Strangwilio und Dionisiades sei und keine weiteren diesbezüglichen Erklärungen und Motivationen gegeben würden. Allerdings bedarf es solcher nicht zwangsläufig, denn auf Handlungsebene erscheint dieser Ratschlag für eine Motivierung des Geschehens durchaus ausreichend, zumal in der Historia die Abfahrt von Apollonius überdies mit dem Drängen Fortunas erklärt wird (vgl. Historia, 122,11,1– 122,11,3). Bei Steinhöwel wird der Rat Strangwilios und seiner Frau ausführlicher in Figurenrede dargestellt und im Hinblick auf die ihm drohenden Gefahren bei einem Verbleib in Tarsus konkretisiert (vgl. 177,467– 177,471). Vgl. zum hier angelegten Maßstab in der Beurteilung der Motivierung, der an ‚modernen‘ Kriterien ausgerichtet ist, und der These eines mangelnden Kohärenzbewusstseins ‚vormoderner‘ Autoren, Archibald 1991, 63: „Medieval and Renaissance writers and readers were far less sensitive to illogicalities which strike modern critics so forcibly: consistency was not considered a literary virtue“.
5.1 Der topische Kontingenzraum als Ort göttlicher Providenz?
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zählung, in denen die Verantwortlichkeit für das sich ereignende Geschehen, die diegetische Motivierungsstruktur und damit einhergehend die Deutung der erzählten Ereignisse zur Disposition stehen, zum anderen die Verfahren der Figurendarstellung in den Blick geraten, die anhand einer spezifischen Konstruktion von Identität und der Betonung ihres auch performativen Charakters der Inszenierung widersprüchlicher Figuren dienen.
5.1 Der topische Kontingenzraum als Ort göttlicher Providenz? Gott, Fortuna und das Meer Eine Auseinandersetzung mit der in den frühneuhochdeutschen Prosaromanen immer wieder virulenten Frage nach den das Geschehen lenkenden, schicksalsmächtigen Instanzen wurde auch für den Apollonius-Roman konstatiert. So bemerkt schon von Ertzdorff die besondere, aber in ihrem Wirken nicht zuverlässig zu bestimmende Rolle der Determinanten des Schicksals: Wer lenkt das Geschehen, wenn es dem Willen und der Klugheit der Akteure entzogen ist? So allgemein gestellt, läßt sich beobachten, daß der spätantike ‚Apollonius‘-Roman in der bereits christlich geprägten vorliegenden Fassung mit den Romanen des 15. und 16. Jahrhunderts dies gemein hat, daß Gott und das Glück die Geschicke lenken, das Glück allein, was immer das sein mag: von Gott gelenkt, eine neutrale Instanz oder der ‚blinde Zufall‘ oder Gottes unerforschlicher Wille, dessen Sinn dem Menschen unergründbar bleibt.⁶³
Auch Bachorski betont die Bedeutsamkeit, die dieser Frage nicht nur, aber vor allem auch im Apollonius beigemessen wird: „Wie ein roter Faden zieht sich durch jeden dieser Romane die Klage der Figuren über ihr ungelücke und die Frage nach den Mächten, die das Leben lenken“⁶⁴. Zwei Aspekte erscheinen somit von besonderer Relevanz zu sein: Zum einen wird nicht konkretisiert, welche Instanz das Geschehen lenkt, zum anderen ist eine der beiden potentiellen schicksalsmächtigen Instanzen – das Glück – in seiner Faktur, Rolle und Wirkung nicht eindeutig zu bestimmen.⁶⁵ Diese Unbestimmtheit der tatsächlich verantwortlichen Instan-
Von Ertzdorff 1989, 57; vgl. zu diesem Aspekt auch 4 f. Bachorski 1993, 71. Dieser inhaltliche Befund spiegelt sich prägnant in einzelnen Forschungspositionen wider: So spricht etwa Bachorski 1993 von einer „von irrationalen Kräften dominierte[n] Abenteuerzeit“ (65), versteht die Krisen, denen die Figuren ausgesetzt sind, als „Eingreifen von Schicksal und Unglück“ (70) oder als „Schläge eines blinden Schicksals“ (71). Für Röcke 1990, 100, hingegen ist Fortuna für das Geschehen verantwortlich; sie determiniere den Handlungsspielraum der Figuren, wobei diese allerdings „von den Kapriolen der Fortuna nicht nur gejagt, sondern auch ver-
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zen sowie die prinzipielle Offenheit der Kategorie ‚Glück‘ ist dabei gleichwohl kein alleiniges Merkmal des frühneuhochdeutschen Apollonius, sondern prägt vielmehr die gesamte Stofftradition. Die Apollonius-Erzählung als solche scheint dabei grundsätzlich prädestiniert für die Diskussion solcher elementar-existentieller Fragen, denn trotz eines allen Bearbeitungen des Stoffes zugrundeliegenden Erzählmusters seien die, so Archibald, jeweiligen Instanzen der Anfechtung, die Mächte, die die Helden in Unglück und Gefahr bringen, ersetzbar: Der Apollonius-Stoff sei nämlich „merely a moral and physical endurance test, and an example of the fickleness of the gods or the instability of the wheel of Fortune, whatever the metaphor of the time happens to be.“⁶⁶
ändert“ (100) würden, und auch Archibald 1984, 231 f., beurteilt die Schicksalsschläge, denen die Figuren ausgesetzt seien, als Resultat von Fortunas Wirken und den „constant shifts between joy and whoe which afflict the sublunary world“. Unklar bleibt also stets, über welche Macht Fortuna konkret verfügt, welcher Grad an Autonomie ihr zugestanden ist und in welchem Verhältnis sie zu der göttlichen Ordnung steht. Die sich auf Ebene der Erzählung manifestierende Ungewissheit ob der tatsächlichen Lenkung des Geschehens, die sich auch in Reflexionen auf Figurenebene findet, nämlich in jenen Klagen, in denen die Figuren über die ihr Leben lenkenden Mächten räsonieren, wird somit auch in der Forschung greifbar. Archibald 1991, 104. Diese grundsätzliche Transformierbarkeit eines solch zentralen Aspektes mag dabei der Grund für die in der Forschung vorhandenen konträren Deutungsmuster sein. An dieser Stelle seien bloß zwei exemplarische Positionen genannt, die zwar nicht auf Steinhöwels Apollonius bezogen sind, sondern die Stofftradition als solche, ausgehend von der spätantiken Fassung, in den Blick nehmen, die aber gleichwohl zwei wesentliche, auch für die frühneuhochdeutsche Fassung höchst relevante interpretative Standpunkte vertreten. So identifiziert Archibald, trotz ihrer These einer grundsätzlichen Substituierbarkeit der Instanzen, nicht nur in der spätantiken Historia, sondern im Apollonius-Stoff insgesamt das Wirken Fortunas als handlungssteuernd. Kiening 2009, 40, hingegen sieht eine – wenn auch nicht weiter zu bestimmende – Providenz als zentrales Moment: „Häufig ist von dem oder den casus die Rede, den Stürzen, den Fällen, den Schicksalsschlägen, den Ereignissen, die kontingent scheinen, schlussendlich aber die Kontingenz aufheben in eine Demonstration von Beständigkeit, Tugend und Behauptungsfähigkeit. Im finalen Familienglück manifestiert sich eine Providenz, die allerdings keinen klaren Namen trägt. Anders als in der Legende gibt es nicht eine Instanz, die das Geschehen lenken würde. Doch es gibt […] eine höhere Ordnung, in der sich die Irrungen und Wirrungen schließlich auflösen.“ Die beiden Positionen unterscheiden sich folglich weniger in der Beurteilung hinsichtlich der tatsächlich lenkenden Instanz, sondern vielmehr in ihrer Bewertung von Kontingenz: Während man die von Archibald konstatierte Lenkung von Fortuna zwar prinzipiell als Form finaler Steuerung verstehen könnte (vgl. dazu Martínez 1996a, 20), scheint mir ihre Annahme gerade jenen Kontingenzaspekt zu betonen, den Kiening durch eine undefinierbare Providenz aufgefangen sieht: „the real manipulator of events is not a jealous goddess or a God who wishes to test their faith, but Fortune, that powerful overseer of medieval destinies.“ (Archibald 1991, 102) Obgleich beide Positionen von einer tugendethischen Bewährung der Helden im Rahmen jener ‚schicksal‘-haften Ereignisse ausgehen, divergieren sie doch markant in der Beurteilung, ob es sich um ein kontingentes oder providentiell gelenktes Geschehen handelt.
5.1 Der topische Kontingenzraum als Ort göttlicher Providenz?
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In Steinhöwels Apollonius stellt sich dabei primär die Frage, ob es sich um ein kontingentes oder providentiell gelenktes Geschehen handelt, denn die Erzählung bietet – so die These – beide Lesarten stärker als ihre Vorlagen⁶⁷ dezidiert an: So spielt zwar Fortuna, die bei Steinhöwel häufig durch das gelücke rad substituiert wird,⁶⁸ in der gesamten Apollonius-Tradition und insbesondere in den späteren, auf Gottfrieds Pantheon zurückgehenden Fassungen und nicht zuletzt auch bei Steinhöwel eine zentrale Rolle,⁶⁹ in dessen Erzählung wird aber zugleich ein providentieller Horizont konturiert, der im Gegensatz zu anderen Bearbeitungen eine Instanz erhält, deren exaktes Verhältnis zum Walten des gelückes gleichwohl unbestimmt bleibt: Gott. So wird, wie zu zeigen sein wird, nicht nur in den Figurenreden, sondern auch in der Inszenierung des Geschehens durch den Erzähler die Erzählwelt sowohl als Raum göttlicher Providenz entworfen, als auch als solcher, „wo das Auch-anders-sein-können regiert“⁷⁰. Während der Prolog göttliche Lenkung als zentrales handlungssteuerndes Moment inszeniert, wird diese im Verlauf der Erzählung über verschiedene narrative Verfahren immer wieder zur Diskussion gestellt, so dass sich die erzählte Welt zugleich als potentiell offener, kontingenter Handlungsraum darstellt. Die Konkurrenz von Kontingenz und Providenz wird dabei meist an einem Ort thematisch, der eigentlich als topischer Kontingenzraum gilt: dem Meer.⁷¹
Vgl. zum Verhältnis zwischen Steinhöwels Apollonius und seinen Vorlagen Klebs 1899, 491– 503; Terrahe 2013a, 63 – 75, 78 – 83. Vgl. schon Klebs 1899, 496. Vgl. zur Rolle Fortunas in der Apollonius-Tradition Archibald 1984, 230 ff.; Archibald 1991, 100 ff. Insbesondere Gottfried von Viterbo messe dem Wirken Fortunas besonderes Gewicht bei, vgl. Archibald 1984, 232 ff.; Archibald 1991, 102 f.; vgl. zu dessen Fassung auch Klebs 1899, 338 – 349. Buber 1998, 7. Diese Gleichzeitigkeit wird dabei nicht als bloßes Resultat einer christlichen Umformung des hellenistischen Romans verstanden, etwa im Sinne einer schlichten Integration christlicher Motive und Sinngebungsmuster in bereits vorhandene, nicht christlich determinierte Deutungsund Schicksalskonzepte. Eine solche Form der Hybridität wäre letztlich Ergebnis einer nicht gänzlich gelungenen christlichen Umformung des ursprünglichen Romantyps. So hat etwa Kiening 2009, 37, die Gleichzeitigkeit von Sinngebungsmustern als Ergebnis solcher christlicher Transformationen beschrieben: Da der hellenistische Roman für mittelalterliche Autoren eine „Differenzfolie [schuf], von der sich die christliche Sinngebung abheben konnte“ und infolgedessen der Chronotopos des antiken Romans seine Funktion verändere, würden einzelne Motive gewissermaßen doppelt besetzt: „Das Meer verkörpert nicht nur die Launen der Fortuna, sondern auch die Steuerung durch die göttliche Instanz.“ (37) Da es sich in Steinhöwels Apollonius aber weniger um die Applikation weiterer zu bereits bestehenden Sinngebungsmustern handelt, sondern vielmehr von einer Ambiguisierung dieser Muster ausgegangen wird – es ist unklar, ob das Meer die Launen der Fortuna oder die Steuerung durch die göttliche Instanz verkörpert –, wird
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Bevor es nun zu der Erzählung der meist sich eben dort ereignenden Handlungsumschwünge kommt, wird mit dem Prolog⁷² ein providentieller Horizont etabliert, der zunächst ausschließlich für die referierte Herrschaftsgeschichte Alexanders des Großen und dessen Nachfolger konstitutiv erscheint. In der Forschung wurde mehrfach betont, dass sich Steinhöwel in der Vorrede zu seinem Apollonius nicht nur einem „literarisch versierten Publikum“⁷³ präsentiere oder seine moraldidaktische Erzählintention⁷⁴ konturiere, sondern außerdem über die Historisierung und Datierung des Geschehens eine Herrscherbiographie der Apollonius-Figur entwerfe, die durch die Anbindung an Alexander sowohl den historischen Wahrheitsanspruch akzentuiere, als auch einen heilsgeschichtlichen Kontext evoziere.⁷⁵ Im Anschluss an diese These der Inszenierung einer historisch und heilsgeschichtlich verbürgten Herrscherbiographie erscheint ein weiter Aspekt der Prologgestaltung erwähnenswert, der bisher keine Beachtung gefunden hat: Die Schilderung der Taten Alexanders, die Darstellung der Reichsteilung und der verschiedenen Herrscher erfolgt vor dem Horizont eines göttlichen Tun-Ergehen-Zusammenhangs, sofern der Erfolg bzw. Misserfolg der jeweiligen Herrscherfiguren sowohl aus ihren jeweiligen Verhaltensweisen resultiert, als auch
die Etablierung eines providentiellen Horizonts also gerade nicht als Christianisierung eines profanen Erzählstoffes begriffen. Die in der spätantiken Historia strukturell angelegte heilsgeschichtliche, zwar nicht genuin christliche, für eine solche aber anschlussfähige Dimension, wie sie Kiening, 2009, 40 f., betont hat, mag für die beschriebene Besonderheit der Steinhöwel’schen Fassung allerdings trotzdem eine Rolle gespielt haben. Bei den älteren Handschriften des Apollonius fehlt der Prolog, er wurde laut Terrahe 2013a, 13, von Steinhöwel eigens für den Erstdruck 1471 konzipiert. Im Anschluss an den Erstdruck wird der Prolog nur noch in zwei Handschriften überliefert, auch die späteren Drucke beinhalten den Prolog nicht mehr, was allerdings auf die Drucker und weniger auf den Autor zurückzuführen ist (vgl. 31). Terrahe 2013b, 219; vgl. zum intendierten Publikum auch Terrahe 2013a, 29 ff. Vgl. zur Erzählintention vor allem Terrahe 2013a, 24 ff. sowie 28 ff.; Terrahe 2013b, 217; Terrahe 2015, 282. Terrahe 2013a, 29, kann mit ihrem Nachweis der Bildungsintention des Apollonius jene Vorbehalte der frühen Forschung revidieren, die diese ausschließlich für Steinhöwels spätere Werke konstatiert haben. Vgl. zum didaktischen Anspruch auch Kohlmeier 2000, 205; Henkel 1993, 65 f.; Weinmayer 1982, 95. Vgl. zur Etablierung eines heilsgeschichtlichen Kontextes Terrahe 2015, 285; Terrahe 2013a, 79 f. Die heilsgeschichtliche Anbindung manifestiere sich dabei in der auf Gottfried zurückgehenden Berufung auf die biblischen Makkabäer-Bücher, in denen Apollonius neben Antiochus erwähnt wird. Gottfried habe „die biblische Rolle des Königs Apollonius in den Vordergrund gestellt und ihn somit als einen historisch verbürgten Herrscher im Kontext der christlichen Heilsgeschichte präsentiert.“ (Terrahe 2013a, 80) Dieser Aspekt werde auch bei Steinhöwel betont.Vgl. zur historiographischen Einleitung insg. Henkel 1993, 58; Terrahe 2013a, 78 f.; Kohlmeier 2000, 203 f.; von Ertzdorff 1989, 55. Vgl. zur Inszenierung einer Herrscherbiographie auch Weinmayer 1982, 91.
5.1 Der topische Kontingenzraum als Ort göttlicher Providenz?
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explizit an Gott als sanktionierende Instanz zurückgebunden wird.⁷⁶ Dies zeigt sich etwa in der Schilderung der Unterwerfung des hebräischen Volks durch Alexander: Die Hebräer ergeben sich zum einen aufgrund der dröen (155,74), zum anderen ist es aber zugleich die götliche[] stim (155,75), die diesen Entschluss bewirkt; sie prophezeit die im Anschluss an die öffentliche Bekenntnis zu ihrem Glauben (vgl. 156,76 – 156,78) eintretende Gnade Alexanders. Die providentielle Determiniertheit dieser Ereignisse manifestiert sich dabei sowohl in der Erklärung, die Herrschaft Alexanders über Persen vnd Indien sei göttliche Verheißung (157,80 – 157,81), als auch in der dem hebräischen Volk von Alexander tatsächlich gegebenen frijhait (155,79), die den Erzähler außerdem z lob dem höchsten gott (157,80) veranlasst. Im Kontext dieser göttlich bestimmten Herrschaftsexpansion werden die Taten Alexanders nicht nur mit denen seiner Gegner kontrastiert, sondern jener göttliche Tun-Ergehen-Horizont wird auch als zentrales Wertungsmuster etabliert: Während Alexander nach dem Sieg über König Porus und der Einnahme von dessen Herrschaftsgebiet Erbarmen zeigt und auf die eingenommenen Gebiete verzichtet, rächt sich jener König wiederum mit einem treUBruch und wird daraufhin erschlagen. Wird hier dem Erbarmen Alexanders die Untreue des soeben rehabilitierten Königs entgegengesetzt, für die dieser sogleich sanktioniert wird, wird Gott auf Bitte Alexanders hin in der Bestrafung jenes vnmenschlich leben (157,96 – 157,97) selbst aktiv, wie es die jüdischen Völker unter Gog und Manog kennzeichnet:⁷⁷ Alexander bittet got, sie zebeschliessen in die berg. Do ze hand fieln die berg zesamen vnd wurden vmb ir vnmenschlich leben ewigclich dar in verdampnet (157,95 – 157,97),⁷⁸ wobei ihr wülfisch leben (157,98) und
Die Besonderheit der Konstruktion liegt darin, dass nicht nur der Zusammenhang von Tun und Ergehen, also eine Relation zwischen Figurenhandeln und gültigen Norm- und Wertparadigmen, etabliert wird, sofern Erfolg oder Misserfolg einer Handlung Ausdruck der Normerfüllung bzw. des Normverstoßes sind, sondern dass darüber hinaus Gott sowohl als normative als auch als sanktionierende Instanz erscheint. Vgl. zu Gog und Magog Schmolinsky 1989, 1534; Terrahe 2015, 292 ff. In Ez 38 – 39 wird Gog als Herrscher über Magog erwähnt, während sie in der Offenbarung des Johannes (Apk 20,8 – 10) als die ersten beiden Völker erscheinen, die am jüngsten Tag mit Satan gegen die Christen kämpfen, am Ende jedoch von Christus besiegt werden. Im Mittelalter basiert das Wissen über Gog und Magog sowohl auf diesen biblischen Quellen, als es sich auch aus dem Alexander-Stoff speist. Während die christliche Bibelexegese sie allegorisch, nämlich „als letzte Manifestation des Corpus diaboli vor dem Jüngsten Gericht“ (Schmolinsky 1989, 1534),verstehe oder sie mit historischen Gegnern gleichsetze, werden sie im Bericht von Flavius Josephus von Alexander dem Großen eingeschlossen. Von hier aus gelangen sie in die Alexander-Tradition und in den Koran. In der Schilderung jenes vnmenschlich leben (157,97– 157,98) greift der Erzähler auf eine gelehrte Quelle, nämlich Isidor von Sevilla, zurück. Dieser Bezug zeige zwar, wie auch die Referenz auf verschiedene Bibelstellen im Prolog, die von Steinhöwel an sein Publikum gestellten „nicht
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ihre Unterstützung des Antichristen als Ursache ihrer ewigen Verdammnis genannt werden (vgl. 157,98 – 157,105).⁷⁹ Könnte diese enge providentielle Anbindung der Alexander-Figur durchaus im Rahmen der literarischen Stofftradition und der hier üblichen Integration derselben in die Heilsgeschichte erklärt und daher in ihrer Aussagekraft für die Konzeption Steinhöwels marginalisiert werden,⁸⁰ ist doch auffällig, dass jene Kontrastierung von gottgefälligem und -abtrünnigem Leben und damit das Schema von irdischem Tun und finalem Ergehen auch in der Folge, nämlich in der Darstellung der einzelnen Herrscher im Anschluss an die Reichsteilung, Relevanz besitzt. Am auffälligsten zeigt sich dies in der Schilderung von Antiochus Seleucus, dem Vater jenes Antiochus, mit dem die folgende Erzählung einsetzen wird. Im Gegensatz etwa zu Ptholomeus Philadelphus, der als gottesfürchtiger und liberaler Herrscher über Ägypten dargestellt wird und der nicht nur Toleranz gegenüber dem jüdischen Volk zeigt, sondern auch für die Übersetzung der heiligen Schriften verantwortlich ist,⁸¹ wird Antiochus der grösser (161,176) durchweg
unbeträchtliche[n] Bildungsvoraussetzungen“ (Terrahe 2013a, 31), sei aber von Gottfried übernommen. Die aktive Bestrafung durch Gott mag an dieser Stelle natürlich der biblischen bzw. heilsgeschichtlichen Lehre sowie der literarischen Alexander-Tradition geschuldet sein. Auffallend ist allerdings, dass in unmittelbarer Folge – gewissermaßen als Kontrast zu dieser verdammenswerten Lebensweise – ein christliches Ideal präsentiert wird, das das Wohlwollen Alexanders und offenbar auch Gottes induziert. Auf Alexanders zunächst friedliches Gesuch um eine freiwillige Kapitulation des Volkes unter König Dindimus erklärt ihm dieser nämlich nicht nur ihre Glaubensgewohnheiten, sondern fordert ihn darüber hinaus zu einer rechten, christlichen Lebensführung auf: ‚Wir wöllen von kainem gesatzt verbunden sin, sunder dem angebornen rechten nach uolgen. Wir pflegen kaines krieges, wir trincken wasser, vnßre hüser wachsen mit vns uff, wir hand kainerlaij w!ffen, vnser spijß ist weder flaisch, brot noch win, wir hand weder stett noch merckt, wir eren kain abgott, wir brennen in weder wiroch noch mirren, sunder eren wir got mit rainem gemüt, wann was wir got geben mügen, das ist vor hin sin on vnßren frijen willen, wann es wer fremd zehören, das im ain tempel oder ain bild oder für von wiroch, von menschen hand gemacht, empfenclicher wer wann sin h:mellischer tempel vnd das menschlich gemüt, die er selb geschöpffet haut. Darumb solt du lernen, gott uß frijem gemüt lieb haben, glob in in vnd t aim andren, als du dir wellest beschechen. Das du got wellest buwen, das gib den armen, vnd leg von dir dine wauffen vnd t ab alle krieg, wilt du got gefällig sin.‘ (157,107– 157,119). Auch wenn die Mahnung zu einer richtigen Glaubensauslegung laut Erzählung bei Alexander keinen Erfolg zeitigt, lässt dieser ihn z leczst […] in friden leben nach siner alten gewonhait (159,120 – 159,121). Terrahe 2015, 292, betont etwa, dass Alexanders „Einbindung in die Heilsgeschichte“ im Zentrum der Alexander-Rezeption des 15. Jahrhunderts gestanden und damit auch Steinhöwels Vorrede beeinflusst habe. So heißt es über ihn nicht nur, dass er got lieb [het] (159,152), sondern auch die Juden (vgl. 159,149), die er alles laides, das in von dem vorigen geschehen was [ergeczet] (159,148 – 159,149). Er befreit sie aus der Gefangenschaft und lässt sie die hebraisch geschrifft der Iuden vnd die bibel
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negativ gezeichnet: Der Herrscher über Siria, Babylonien und Antiocha erschlägt nicht nur den vierten Herrscher über Ägypten Ptholomeus Philopater, der die Iuden och lieb hett (161,166), sondern unterwirft auch dessen Reich unrechtmäßig und durchächtet das hebraisch uolk mer wann die andren (161,171). Eine auf Geheiß der Juden vollstreckte Verwarnung durch die Römer lässt ihn schwören, den Iuden fürbas nümer kain vngemach z fiegen (161,174– 161,175), zum Pfand setzt er seinen Sohn. Folge dieser offenbar verdammenswerten Herrschaftsausübung ist das mehr oder minder direkte Eingreifen Gottes: Er wird von rechtem gottes rach von der pristerschafft in Persia ze clainen stucken erhowen (161,177– 161,178). Ähnlich verhält es sich mit seinem Sohn: Antiochus der minder (161,179) wird als wietrich (161,180) bezeichnet und dies sowohl wegen der vnzimliche[n] ding (161,181), die er mit seiner Tochter tut, und den daraus folgenden Tötungen zahlreicher Männer (vgl. 161,181– 161,182), als auch deshalb, weil er kein erbärmd über die Iuden [het] (161,180). Auch dieser wird im Laufe der Handlung sterben – und dies durch das Eingreifen Gottes, wie es zumindest die Rede jenes Kapitäns nahelegt, der Apollonius die Nachricht seines Todes übermittelt (vgl. 195,784– 195,787).⁸²
z siner sprach machen (159,154– 159,155). Mit der Erkenntnis, das ir aller ußlegung gelich was (159,156), stirbt er mit dem Propheten Esra an seiner Seite. Auffällig ist in diesen Schilderungen das Verhältnis der jeweiligen Herrscher zum jüdischen Volk, das sich stets auf deren Gesamtwertung auszuwirken scheint, sofern ein wohlwollender respektive ablehnender Umgang mit der jeweiligen Herrscherbiographie und ihrem spezifischen Ende korreliert wird; während sich somit in dem Herrscherkatalog nach der Reichsteilung ein insgesamt positiver Juden-Diskurs verzeichnen lässt, wird das jüdische Volk in der vorangehenden Darstellung der Taten Alexanders noch mit Gog und Magog identifiziert. Terrahe 2015, 293 f., hat darauf hingewiesen, dass das Christentum die ursprünglich aus dem Judentum stammende Vorstellung „von Gog und Magog als apokalyptische Völker [übernahm]“ und „[i]n Zeiten der Bedrängnis […] den übermächtigen Feind mit diesen Völkern [identifizierte], die die Scharen des Satans repräsentierten.“ Im ausgehenden Mittelalter wurde dieses Identifikationsmuster immer wieder aufgegriffen und führte vor allem in der literarischen Alexander-Tradition nicht selten zu einer Gleichsetzung der jüdischen Stämme mit Gog und Magog und somit zu einer pauschalen Übertragung jener unmenschlichen Lebensweise auf die Juden (vgl. 294 ff.). Aufgrund der Virulenz dieses Übertragungsmusters auch in anderen literarischen Texten der Zeit könnte man diese Identifikation bei Steinhöwel daher womöglich als bloße Reminiszenz verstehen (vgl. hierzu Terrahe 2015, 294 ff.), da einem grundsätzlich negativen Juden-Diskurs die bereits skizzierten Darstellungsverfahren widersprechen. Terrahe 2015 weist im Rahmen ihrer Überlegungen zur sozialhistorischen Einbindung des Textes auf die verschiedenen Identifikationsangebote hin, die die Alexander-Geschichte ihren verschiedenen Rezipientenkreisen geboten habe, in denen sie je anders funktionalisiert worden sei. So ließe sich „die Verknüpfung zwischen dem burgundischen Herzoghof und Alexander dem Großen im Sinne einer Identifikation zugunsten der Kreuzzugsidee nachweisen“ (298); über den Alexanderstoff habe somit „offenbar der Transfer eines propagandistisch aufgeladenen Sujets statt[gefunden], was sich am burgundischen Herzoghof in der dort ohnehin schon virulenten Thematik der Türkenabwehr niederschlug.“ (300) Bei der Rezeption
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Im Rahmen der Herrscherschau wird mithin über die Referenz auf jenen Mechanismus von Tun und Ergehen sowie die Etablierung Gottes als Sanktionsinstanz göttliche Providenz als zentrales handlungssteuerndes Moment markiert. Zumindest im Prolog wird somit recht eindeutig eine göttliche Ordnung konturiert. Die Relevanz dieser Konstruktion zeigt sich im Kontext der ebenfalls in der Vorrede artikulierten Erzählabsicht und des hier entworfenen erzählerischen Programms: Die vom Erzähler recht deutlich artikulierte Intention – Iugent zeuͤbent vnd ir synn / Lieb zehaben alt geschicht / Dar jnn man fint der wißhait dicht / Och annder ler exempel gt (153,26 – 153,29) – wird realisiert über die Erzählung von Apolloniusʼ Leben (vgl. 161,183 – 161,184), genauer: über die seines vngefell (161,194). Damit wird das vngefell Apolloniusʼ – der Terminus vngefell begegnet in der gesamten Erzählung immer wieder im Zusammenhang mit einzelnen Figuren, insbesondere aber mit Apollonius und Tarsia – zum zentralen Inhalt eines Erzählens, das zuvor Gott als lenkende Instanz etabliert. Auf diese Weise wird ein narratives Programm entfaltet, das in nuce das Verhältnis von vngefell und göttlicher Lenkung diskutiert. Zwar fügt der Erzähler mit dem Hinweis auf eine nun mögliche genaue Datierung des Geschehens um Apollonius eine Erklärung für die Integration der Alexander-Geschichte sowie des Herrscherkatalogs ein,⁸³ für eine historisch exakte Datierung bzw. die Verankerung der „Histori in der Historie“⁸⁴ oder aber für eine Authentifizierung des Erzählten⁸⁵ erscheinen die Ausführlich-
des Stoffes im süddeutschen Raum könnte hingegen von einer Funktionalisierung gegen die Juden ausgegangen werden, insbesondere bei Albrecht III. (vgl. 300). Auch wenn Terrahe 2015, 301, keine verlässlichen Aussagen zu dieser Thematik geben möchte, weist sie doch darauf hin, dass sowohl im Alexander Hartliebs, der wiederum persönlichen Kontakt zu jenem Herzog Albrecht pflegte, als auch in Steinhöwels Apollonius „besonderer Wert auf die Schilderung der barbarischen Lebensweise der genannten apokalyptischen Völker gelegt wird, die bei beiden mit Juden identifiziert werden.“ Der Fokus scheint mir allerdings tatsächlich eher auf der Beschreibung des Barbarischen, denn auf der Identifizierung mit den Juden zu liegen, zumal in der Folge – wenn auch in der Wiedergabe einer Figurenperspektive – der jüdische Glaube als legitimer und mit dem christlichen zu vereinbarender dargestellt wird: Do fand er, das ir aller ußlegung gelich was, darumb er och gelobt vnd bekennet, das ir geschrifft der bibel vnd ander inen von aim götlichen gaist in geflossen was. Er gelobt och, das ain warer got wer, uß dem alle geschrifft der Iuden wer (159,156 – 161,158). So ich aber des selben Appolonio leben schriben wolt, hab ich vorher ains tails erzelt von Allexandro, welchi küng geregniret haben vntz uff Appolonius zijt, och von anfang des buwes Rom vntz uff Allexandrum, das man dar uß dester bas wissen müg, wie lang vor der gepurt Cristi Appolonius gewesen sie (161,183 – 161,187). Müller 1985, 64. Die geschichtliche Einleitung hat Steinhöwel dabei von Gottfried übernommen, allerdings an einigen Punkten erweitert bzw. modifiziert: So übernimmt er die Datierungen für die Herrschaft
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keit der Schilderungen, die auch wertende Dimension sowie der erwähnte Bezug auf Gott allerdings entbehrlich. Aus diesem Grund mag neben diesen genannten Intentionen ein weiterer Aspekt eine Rolle gespielt haben, nämlich die Etablierung jenes providentiellen Horizonts, vor dem ein Erzählen des vngefell umso reizvoller erscheint; diese ästhetische Dimension wird von der Erzählung vor allem deshalb nahegelegt, weil im Verlauf der Handlung das Erzählen von vngefell immer wieder mit dem Terminus kunst in Verbindung gebracht wird, worauf in der Folge noch einzugehen sein wird. Im Gegensatz zum Prolog wird in der nun folgenden Erzählung göttliche Lenkung zunächst nur am Rande, meist in den Reden und Deutungsversuchen der Figuren thematisch. Die in der Forschung in Anlehnung an Bachtin gemeinhin als ‚Abenteuerzeit‘ bezeichnete Ereigniskette,⁸⁶ die den Großteil des Romans ausmacht und in der „sich der schildernswerte Teil des beschriebenen Lebens als schier unendliche Abfolge von immer neuen Geschehnissen, Komplikationen und Lösungen [vollzieht]“⁸⁷, scheint vielmehr Folie einer narrativen Exposition von Kontingenz zu sein. Ort derselben und damit des Einbruchs jener Abenteuerzeit ist das Meer. Die von Bachorski für den Liebes- und Reiseroman konstatierte Beurteilung desselben als „un-heimliche[r] Ort par excellence, an dem die zielstrebig Reisenden sich einem fremden, uneinsichtigen, aber stärkeren Willen unterwerfen müssen“⁸⁸, trifft somit auch und in ganz besonderer Weise auf Steinhöwels Apollonius zu. Das Meer ist auch hier Raum der Handlungsumschwünge, der Gefahren und der Fremdbestimmung.⁸⁹ Wer aber ist Instanz derselben? Wem ist jener uneinsichtige, aber stärkere Wille zuzuschreiben? Bachtin wertet das sich auf dem Meer ereignende Geschehen als Zufall.⁹⁰ Bedingung für das Eintreten eines solchen, für „[d]asjenige, für dessen Existenz es
Alexanders von Gottfried, setzt sie im Gegensatz zu diesem aber auch bei Ptholomeus Energetus und Antiochus ein. „Er entlehnt also das Element zur historischen Verifikation von Gottfried, arbeitet es aber wesentlich stärker heraus.“ (Terrahe 2013a, 79) Die Funktion dieses geschichtlichen Abrisses sieht Terrahe 2013a, 79, in der Erhöhung der historischen Glaubwürdigkeit der Erzählung, der Intention, die Erzählung als „authentische Herrscherbiographie“ zu präsentieren sowie „die Authentizität der Geschichte“ zu unterstreichen. Vgl. zu diesem Aspekt Bachtin 1989, Kap. 1 „Der griechische Roman“, 9 – 38. Bachorski 1993, 64. Bachorski 1993, 66. Vgl. zur Geschichte des Meeres als unberechenbare Sphäre und zur Metaphorik von Schifffahrt und Schiffbruch Blumenberg 1979. Bachorski 1993, 66, hat darauf hingewiesen, dass eine solche Inszenierung des Meeres immer auch Reflex einer „Angst beim Reisen“ sei. Vgl. Bachtin 1989, 19. Für Bachtin sind alle Ereignisse, die im Rahmen der Abenteuerzeit passieren, vom Zufall gelenkt. Aus diesem Grund bezeichnet er die Zeit, in der sich Abenteuer ereignen, als „Zeit des Zufalls“: Dies „ist die spezifische Zeit der Einmischung irrationaler Kräfte in
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keinen Grund gibt“⁹¹, ist aber ein Raum offener Möglichkeiten, in dem das Geschehen nicht festgelegt ist und keiner Notwendigkeit gehorcht, alles auch anders sein kann. Das Meer stellt also einen solchen Raum der Potentialität dar: Es ist, sofern sich etwas ereignet, was sich auch nicht hätte ereignen können, wobei das tatsächliche Eintreten eines Ereignisses – aus einer Vielzahl von möglichen anderen Ereignissen – ohne erkennbaren Grund geschieht,⁹² Raum der Kontingenz, in dem der Zufall wiederum ein in diesem kontingenten Raum nur potentielles Ereignis darstellt⁹³. Diese Potentialität, das grundsätzliche auch-anders-seinkönnen, erzeugt dabei zwar „einen Zustand des Ausgeliefertseins“⁹⁴, zugleich ist Kontingenz aber die Voraussetzung für menschliches Handeln, sofern dieses ein „Setzen von Wirklichkeit [bedeutet], die noch nicht ist.“⁹⁵ Eine solche Kontingenz-Konzeption wird nun auch in der Inszenierung des Meeres im Apollonius-Roman greifbar, sofern es als Raum dargestellt wird, in dem sich ein unvorhersehbares Geschehen potentiell ereignen kann, in dem darüber hinaus das Ausgeliefertsein der Figuren thematisch wird und der zugleich die Möglichkeit des Handelns eröffnet. Markant zeigt sich dies etwa in jener Szene, in der über den Verbleib von Cleopatras Leichnam entschieden wird: In dem Glauben, Cleopatra sei bei der Geburt Tarsias verstorben, fordert der Kapitän des
das menschliche Leben; es ist die Einmischung des Schicksals (der ‚Tyche‘), der Götter, Dämonen, Zauberer“ (19). Dabei seien es stets diese Kräfte, die Ereignisse auslösten und das Geschehen initiierten: „Alle Initiative und alle Macht liegen in diesem Chronotopos beim Zufall.“ (26) Buber 1998, 3. Vgl. Buber 1998, 7. Vgl. Haug 1998, 151. Vgl. zur terminologischen Unbestimmtheit von Zufall und Kontingenz auch insg. Wetz 1998. Buber 1998, 7. Buber 1998, 7. Der Bereich des Zufalls ist damit immer auch der Ort des menschlichen Handelns bzw. dessen grundsätzliche Voraussetzung: Wenn Handeln Wirklichkeitssetzung bedeutet, muss dafür „ein Raum eröffnet werden, weil kein Handeln überhaupt entworfen, durchgeführt und zu Erfolg oder Mißerfolg gebracht zu werden vermöchte, wenn in der Welt alles und jedes festgelegt wäre. Das Auch-anders-sein-können als ein schillerndes Gesicht der Wirklichkeit bietet jedem Handeln den eigentlichen Ansatzpunkt. […] Wo etwas notwendig geschieht, unvermeidlich war oder als Tatsache längst festliegt, ist für das Handeln kein Ort. Nur dasjenige, was ebensogut auch ausbleiben oder anders eintreten kann, bietet unserer zielgerichteten Aktivität Raum zur Entfaltung.“ (7) Vgl. zu dem Zusammenhang von Kontingenz und Handeln auch Makropoulos 1998a, 23, der auf die prinzipielle Konkurrenz von Handlungen und Zufällen hinweist, sofern beide je verschiedene Arten der Realisation von Kontingenz seien: „Einerseits konkretisiert sich Kontingenz in Handlungen, das heißt in Veränderungen, die individuellen oder kollektiven Akteuren zuschreibbar sind. Aber Kontingenz konkretisiert sich andererseits auch in Zufällen, und damit in Veränderungen, deren Eintreten schlechterdings grundlos ist – wobei Zufälle freilich erst dann von Belang sind, wenn sie Handlungen durchkreuzen.“
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Schiffes Apollonius auf, den Leichnam der Ehefrau im Meer zu versenken, denn ‚[…] das mer lidet nit in im das schiff mit dem totten lichnam. Darumb senck sie in das mer, das wir entrinnen mügen.‘ (199,835 – 199,836). Auf Apolloniusʼ zunächst folgende Ablehnung, in der er nicht nur seine triuwe gegenüber Cleopatra verdeutlicht,⁹⁶ sondern mit seiner Äußerung – ‚[…] woltest du, das ich den edlen lichnam in das mer wurffe, der mich armen vnd nackenden von meres nöten erlöset, erfröwet vnd gerichet hat? […]‘ (199,838 – 199,839) – auch die Annahme einer Eigengesetzlichkeit und Autonomie des Meeres artikuliert, stellt der Kapitän die von ihm befürchteten fatalen Folgen in Aussicht, die eine Missachtung des Gebot des Meeres bedeuten könnten: ‚Herr, es ist besser, der lib werd in das mer geworffen wann das wir alle sterben.‘ (199,841– 199,842). In dem Kontingenzraum Meer sind die Figuren somit einem nicht antizipierbaren Geschehen ausgeliefert, das nicht notwendig ist – Tarsias verfrühte Geburt ist weder intendiert noch zwangsläufig, sie ist Folge der vngestümen […] des meres (197,822), aus denen das Schwinden von Cleopatras Kräften und der Stillstand ihres Herzens erst resultieren – und das mit ihren eigentlich intendierten Handlungen interferiert⁹⁷; nichtsdestoweniger verfügen die Figuren in diesem Raum aber über weitere Handlungsoptionen, die eine potentielle Vermeidung womöglich schlimmerer Konsequenzen zumindest in Aussicht stellen.⁹⁸ Das Meer selbst hingegen scheint der eigentliche Akteur, jene Metainstanz zu sein, die das Geschehen lenkt. Dies wird nicht nur in Apolloniusʼ Klage oder in der Rede des Kapitäns deutlich, in der das Meer als aktive – es dulde kein einen Leichnam beherbergendes Schiff – und zu besänftigende Macht dargestellt wird, sondern zeigt sich auch in dem nun folgenden Geschehen, sofern die Bergung von Cleopatras Sarg und ihre Wiederbelebung letztlich aus der Aktivität des Meeres resultieren, spült es diesen doch genau dort an Land, wo jener große maister in der ercznij (199,861) spazieren geht: Do schlg in das mer an das land Epheseorum, nit ferr von dem huß Cerimonis (199,859 – 199,860).
In der Rede Apolloniusʼ fällt der Terminus triuwe zwar nicht explizit, der von ihm aufgebrachte Aspekt des Vergeltens – ‚[…] Billich were, vmb wider gelten des gten, das mir von ir beschechen ist, das ich für sie sturbe, wann es gesin möcht.‘ (199,839 – 199,841) – scheint mir mit diesem Terminus allerdings besser erfasst als mit seinem neuhochdeutschen Äquivalent. Für Lübbe 1998, 35, sind kontingente Ereignisse nämlich solche Vorgänge, die „mit Handlungen handlungssinnunabhängig interferieren.“ So ließe sich der Appell des Kapitäns und die daraus folgende tatsächliche Umsetzung seines Vorschlags auch als spezifische Form der Kontingenzbewältigung verstehen, nämlich als Versuch, aus dem Zufall Handlungssinn zu generieren bzw. diesem Sinn zu verleihen.Vgl. zu diesem Aspekt Lübbe 1998, 35, der diese Transformation des Zufalls als Praxis der Kontingenzbewältigung auf folgende prägnante Formel bringt: „Jedermann weiß ja: wir versuchen stets, das Beste aus dem Zufall zu machen, und genau das ist hier gemeint.“
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Auch hier findet sich somit die für die Darstellung und Thematisierung von Kontingenz nahezu topische Inszenierung des Meeres als aktive, gleichwohl aber unberechenbare Größe:⁹⁹ Als Ort der Grenzenlosigkeit und „grundlegenden Gefährdung“¹⁰⁰, als Repräsentation von „Unberechenbarkeit, Gesetzlosigkeit und Orientierungswidrigkeit.“¹⁰¹ Dies wird neben der genannten insbesondere auch in jener Szene deutlich, in der Apollonius, nachdem er Tarsus auf Anraten von Strangwilio und Dionisiades verlassen hat, Schiffbruch erleidet und sich der Willkür des Meeres ausgesetzt sieht. Auslöser desselben ist ain vngestümes wetter (177,475), die grosse widerwärtikait der winde (177,476), die hier auf das Wirken der verschiedenen Windgötter zurückgeführt wird: Do er aber dri tag vnd dri nacht gefr, do erhb sich ain vngestümes wetter vnd grosse widerwärtikait der winde, Eurus von mittentag, Aquilo von mitternacht, von den erhbe sich hagel, regen vnd nebel, die pläwe des himels verbarge sich, das mer ward also beweget, das von dere grössij der wellen vnd ir vngestümij ire schiff ietz ze grund des meres, ietz in höchin der wolken gesehen wurden. Affricus vnd Zephirus in widerwertigem starcken ween zerrissen alle segel. Die schiff zerbrachen, darumb si in todes not kamen. Jeder behalff sich so er best mocht. Do ging in meres grund alle künglich zier von gold, silber, gewand vnd gestain des künges Appolonij. Alles sine diner verdurben. Er schwam uff ainem brett, das er begriffen hett, nackender, so lang bis in das mer uss schlg an das tirenisch gestad (177,474– 177,485).
In dieser Schilderung werden jene oben genannten Attribute greifbar, die dem Meer als Kontingenzraum zugeschrieben werden: Seine Unberechenbarkeit und Gesetzlosigkeit, die über die verschiedenen Winde, die Unverfügbarkeit über die Gewalten und die plötzliche Dunkelheit inszeniert wird, sowie die Gefahr, wie sie sich in jener todes not manifestiert. Hier wird das Meer „zum Inbegriff für die Sphäre der für den Menschen unverfügbaren Willkür der Gewalten“¹⁰² – deshalb schwimmt Apollonius so lang bis in das mer uss schlg (177,485). Im Gegensatz zu anderen Szenen in der mittelalterlichen Literatur, in denen sich Figuren dem Auf und Ab der See, den Winden und Stürmen ausgesetzt sehen, wird hier gerade keine Urheberschaft Gottes für die widerwärtikait des Geschehens geltend gemacht: Während etwa in Gottfrieds Tristan, darauf hat unter anderem Schnyder aufmerksam gemacht, das den jungen Tristan und dessen norwegische Entführer ereilende Unwetter auf See als Strategie Gottes kenntlich
Vgl. Schnyder M. 2010, 174. Schnyder M. 2010, 174. Blumenberg 1979, 9; vgl. auch Makropoulos 1998b, 56. Makropoulos 1998b, 56.
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gemacht wird,¹⁰³ wird eine göttliche Lenkung des Geschehens im Apollonius nicht nahegelegt. Das Muster einer letztlich göttlich gewirkten, nur scheinbaren Fortuna-Welt findet sich auch in der Faustinian-Erzählung der Kaiserchronik: Sowohl die die Figuren ereilenden Schiffbrüche und Glücksumschwünge als auch die Wiedervereinigung der Familie werden als Zeichen göttlicher Allmacht erzählt, auch wenn sie für die Figuren als Wirken Fortunas erscheinen;¹⁰⁴ wie im Tristan wird die göttliche Lenkung dabei in Erzählerrede explizit und im Kontrast zu den jeweiligen Figurenstandpunkten hervorgehoben. Im Apollonius hingegen wird der noch in der Vorrede aufgerufene providentielle Horizont weder für Apolloniusʼ Schiffbruch noch für die Cleopatras Scheintod auslösenden vngestümen (197,822) vom Erzähler als Deutungsmuster geltend gemacht. Da dieser an anderen Stellen durchaus etabliert wird und die glückenden Meerfahrten zum Teil als Ergebnis göttlichen Wirkens erzählt werden, erscheint der Kontrast zu den beiden genannten Szenen umso deutlicher: Zwar werden nicht sämtliche erfolgreichen Fahrten über das Meer mit Gott in Verbindung gebracht,¹⁰⁵ an zentralen, auch handlungsstrukturell notwendigen Stellen aber durchaus: So gelangt Apollonius etwa nach dem scheinbaren Tod Cleopatras von ordnung der götter […] an das gestad des landes Tarsis (205,911– 205,912), dorthin folglich, wo er seine Tochter in die Obhut des ihm verpflichteten Volkes geben kann. Einer solch eindeutigen Zuschreibung hinsichtlich der das Geschehen lenkenden Instanzen enthält sich der Erzähler allerdings in den genannten Szenen.¹⁰⁶
Vgl. Schnyder M. 2010, 176 f. Hier werde somit „die Kontingenz (der Zufall) durch eine religiöse Rahmung negiert und zum Teil einer sinnvoll sich fügenden Geschichte“ (178).Vgl. zu dieser Szene auch Worstbrock 1995, 40. Auch in dem auf Eilharts Roman basierenden Prosa-Tristrant findet sich diese Rückführung auf göttliche Lenkung nicht (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 6). Vgl. zu diesem Aspekt Martínez 1996c, 88 ff. So heißt es etwa bei Apolloniusʼ Reise nach Antiochia nur, dass er über mer [fr] (165,272), bzw., dass er in grossen sorgen […] wider in sin schiff […] [ging] vnd […] wider in sin küngrich Tiria [fr] (169,314– 169,316). Auch sein Aufbruch von Tyrus (vgl. 169,336 – 169,340) sowie seine Ankunft in Tarsus (vgl. 173,380 – 173,381) werden bloß als glückende Seefahrten geschildert; und auch nach seinem Schiffbruch und dem Tod Cleopatras gibt es durchaus Überfahrten, die schlicht gelingen: So fährt er, nachdem er Tarsia in die Obhut Strangwilios und Dionisiades gegeben hat, zunächst zurück nach Tyrus (vgl. 205,927) und im Anschluss nach Antiochia (vgl. 205,929). Während die Gesta Romanorum (die relevanten Stellen aus den Gesta Romanorum werden nach Terrahe 2013a zitiert) in der Schilderung des Seesturms ebenfalls keinen Hinweis auf das Wirken Gottes geben (vgl. Gesta Romanorum, 176,133 – 176,142), erklären sie wie Steinhöwel die erfolgreiche Ankunft in Tarsus als Ergebnis göttlicher Lenkung (vgl. 202,357– 204,358). Bei Gottfried (die relevanten Stellen aus Gottfrieds Pantheon werden ebenfalls nach Terrahe 2013a zitiert) hingegen wird bei der Darstellung des Schiffbruchs Neptun als ursächliche Instanz genannt: Turbine de celis ruptis super equora velis / regia pompa perit; sed opes Neptunus ademit: / enatat infelix res, caro nuda tremit (Pantheon, 176,15), wobei jene Meerfahrt nach Tarsus nicht einem
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Diese Diskrepanz zwischen einem providentiellen und einem zutiefst kontingenten Geschehen lässt die Frage nach der Rolle Gottes vor allem auch im Hinblick auf dessen Macht im Kontingenzraum Meer und damit die nach dem genauen Verhältnis von Providentia, gelücke und Zufall virulent werden. Die bisherigen Beobachtungen legen die oben genannte Vermutung nahe, dass der Apollonius eine Gleichzeitigkeit von Providenz und Kontingenz inszeniert, die sich sowohl in der Darstellung des Erzählers als auch in den Deutungen der Figuren manifestiert. Die auf diese Weise entstehende Ambivalenz, hier konkretisiert als Uneindeutigkeit hinsichtlich der Bewertung des Geschehens und als Nebeneinander verschiedener Deutungsmöglichkeiten, ist dabei weniger Resultat einer Pluralisierung schicksalsmächtiger Instanzen wie in der Melusine als vielmehr Ergebnis einer je spezifischen Inszenierung der sich auf dem Meer abspielenden Ereignisse und der Evokation divergierender Deutungsoptionen für die Bewertung der erzählten Handlung, deren Gleichzeitigkeit auch in den das Geschehen interpretierenden Figurenreden gespiegelt wird. In diesen werden die Ereignisse dabei zwar meist entsprechend der Schilderung des Erzählers und des durch diesen jeweils aufgerufenen Deutungshorizonts interpretiert, gleichwohl wird das dazu jeweils in Kontrast stehende zweite Sinngebungsmuster stets präsent gehalten. Neben der in der Darstellung des Geschehens generierten Gleichzeitigkeit von Kontingenz und Providenz lässt sich darüber hinaus an einigen Stellen beobachten, dass die Auslagerung von zentralen, für die Kategorisierung der Ereignisse höchst relevanten Informationen in Figurenrede zu einer Ambiguisierung des Erzählten beiträgt, so dass das Nebeneinander von Kontingenz und Providenz als Ergebnis bewusster Formung erkennbar wird. So versteht Apollonius der erzählerischen Darstellung als kontingentes Geschehen entsprechend jene genannten Ereignisse, Schiffbruch und vermeintlichen Tod Cleopatras, als vngefell. Nach seinem Schiffsunglück macht er, soeben vom Meer an Land gespült, in seiner Klage Neptun für den Verlust seiner eren vnd gtes, für armt vnd ellend und damit für den Verfall dessen verantwortlich, was ihm vom gelückrad verliehen worden sei; die sonst für das Glücksrad der Fortuna
göttlichen Willen unterstellt wird. Auch in der Historia werden für den Schiffbruch Götter, hier Neptun und Triton, genannt: Ipse tridente suo Neptunus spargit harenas. / Triton terribili cornu cantabat in undis (Historia, 122,11,20 – 122,11,21). Hier findet sich, wie in den Gesta, hingegen der Hinweis auf die göttliche Lenkung bei der Fahrt nach Tarsus: gubernante deo apllicuit Tarsum (142,28,1). In den beiden letztgenannten Fassungen wird also durchaus eine schicksalsmächtige Instanz für das Geschehen auf dem Meer verantwortlich gemacht. Während Steinhöwel aber das Eintreffen in Tarsus als Ergebnis der Ordnung der Götter darstellt, beziehen sich die Gesta und die Historia an dieser Stelle auf nur eine Instanz.
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charakteristische Bewegung eines Auf und Ab wird hier somit scheinbar auf zwei Instanzen verteilt, wobei Neptun genommen, was das Glücksrad gegeben habe: ‚O du vngetrüwer trugenhaffter Neptune, wie hast du mich berobet aller miner eren vnd gtes, das ich nackender vnd ellend on alle hoffnung der hilff stan mß! Das gelückrad hat mir den namen geben aines künges von Tiria vnd Sidonia. Des hastu mich berobet vnd dar für armt vnd ellend gegeben. Für gte gestalt vnd gezierd mines libes machest du mich nackenden vnd ellenden vor grosser keltin zittrenden vnd krafftlosen bij dir stan, das ich nit waiß, welch end ich keren söll!‘ (179,486 – 179,493).¹⁰⁷
Mit Blick auf die Schilderung des eigentlichen Seesturms legt die Aussage von Apollonius, Neptun lasse ihn nackenden vnd ellenden vor grosser keltin zittrenden vnd krafftlosen bij [im] stan, eine Identifikation desselben mit dem Meer nahe.¹⁰⁸ So klagt er ihn außerdem für den Raub von Ehre und Gut, für die nun einsetzende Armut und den Mangel an gte[r] gestalt vnd gezierd und damit für den Verlust all jener Güter an, die ihm in Form äußerer, sichtbarer Repräsentationszeichen vom Meer genommen wurden: Do ging in meres grund alle künglich zier von gold, silber, gewand vnd gestain des künges Appolonij (177,482– 177,483). Neptun scheint somit lediglich Synonym für das Meer und damit für die Kontingenzerfahrung als solche zu sein, die – so suggeriert es Apolloniusʼ Äußerung – als Moment der Umdrehung des Rades begriffen wird. Neptuns Einfluss auf die Drehung des Rades ist somit eine nur scheinbare; er fungiert vielmehr als bloß arbiträres Objekt einer Adressierung, mit der Apollonius die Auswirkungen des kontingenten Geschehens zu bewältigen sucht, indem er sie einer vermeintlich höheren Macht und deren Einwirken auf das Glücksrad zuschreibt.¹⁰⁹ Da die Bewältigung über Adressierung In der spätantiken Historia klagt Apollonius nur Neptun an, die Erwähnung des Glücksrades findet sich hier nicht (vgl. Historia, 122,12,4– 122,12,7). Laut Klebs 1899, 496, habe Steinhöwel diese Stelle von Gottfried übernommen, der ebenfalls sowohl Neptun als auch das Rad der Fortuna nennt: ‚O male Neptune, fallax super equora numen, / quo rota Fortune convertit in ima cacumen / et cito precipitat, que meliora parat! / Que mihi Sidonem Fortuna dedit regionem, / nunc male perversa nomen mihi tulit et omen, / fit gravis atque fera (fitque noverca fera), que mihi mater erat.‘ (Pantheon, 178,17– 178,18). In den Gesta Romanorum hingegen findet sich weder die Adressierung an Neptun noch der Bezug auf Fortuna bzw. ihr Rad (vgl. Gesta Romanorum, 178,143 – 178,145). Diese Aussage findet sich in den Vorlagen nicht. Vgl. zur Adressierung als Mechanismus der Bewältigung Friedrich 2011, 127 f. Dass Neptun bloß Objekt der Adressierung ist und eigentlich als Synonym für das Meer steht, zeigt sich auch an späteren Äußerungen von Apollonius, in denen er das erlittene Geschehen nicht mehr auf den hier noch angeklagten Neptun, sondern auf das Meer selbst zurückführt. So erklärt er jenem Jüngling, dem er im Anschluss begegnet: ‚[…] mir hat das mer min gt vnd den namen vnd er genomen […]‘. (179,502– 179,503). Und auch jenen Diener, der ihn im Auftrag von Archistrates zu Tisch bittet, lässt er wissen, warum er dessen nicht würdig sei: ‚[…] wann miner er, gt vnd wirdikait mit dem namen hat mich das mer berobet […].‘ (183,564– 183,565). Dies ist bei Gottfried,
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eine zeitgenössisch klassische Reaktion auf die Erfahrung von Kontingenz darstellt,¹¹⁰ könnte Neptun, der letztlich nichts anderes als den Kontingenzraum Meer symbolisiert, an dieser Stelle gleichwohl auch durch Fortuna ersetzt werden, auf die durch die Erwähnung des Glücksrades schließlich auch implizit referiert wird. Durch die Assoziierung von Glücksrad und Neptun wird nämlich deutlich, dass entsprechend des zeitgenössischen Diskurses¹¹¹ auch im Apollonius das Meer der Wirkbereich Fortunas ist, obgleich Apollonius jene Kontingenzerfahrung nicht explizit an diese adressiert, sondern sie auf die durch eine scheinbar höhere Macht gelenkte Abwärtsbewegung von Fortunas Rad zurückführt.¹¹²
der Apollonius schließlich auch Neptun anklagen und diesen verantwortlich machen lässt, nicht der Fall, sofern auch an späteren Stellen Neptun und nicht das Meer als Akteur genannt wird: nomen Neptunus ademit (Pantheon, 180,20). Vgl. Friedrich 2011, 127 f. Vgl. Friedrich 2011, 130. Diese Ersetzung Fortunas durch das Glücksrad, die Steinhöwel im Vergleich zu seiner Vorlage an dieser Stelle – er ersetzt Gottfrieds rota Fortune (Pantheon, 178,17) sowie dessen Fortuna, die Apollonius zum Herrscher über Sidonia gemacht habe (vgl. Pantheon, 178,18), durch das Glücksrad, ohne Fortuna als solche zu nennen; weder in der spätantiken Fassung noch in den Gesta Romanorum wird ein Bezug zu Fortuna bzw. den ihr assoziierten Attributen hergestellt – und an einigen weiteren vornimmt (vgl. Klebs 1899, 496), mag dabei verschiedene Ursachen haben: Klebs 1899, 496, hat diese Substitution beispielweise mit Steinhöwels persönlichem Gefallen erklärt. Man könnte sie womöglich aber auch als Betonung der mit Fortuna assoziierten Wankelmütigkeit deuten, die über das Bildfeld des sich drehenden Rades noch einmal besonders hervorgehoben wird. Da sich die Veränderung hinsichtlich der das Geschehen lenkenden Instanz in einer Figurenrede findet, die auf die Erklärung des sich zuvor Ereigneten zielt, könnte man die Nennung des Glücksrades und nicht die Fortunas damit auch als spezifisches figurales Deutungsmuster verstehen: So ließe sich die in Apolloniusʼ Klage anzitierte und durch das Meer ausgelöste Auf- und Abwärts-Bewegung des Rades als Spiegelung jener Bewegung verstehen, der er auf der See selbst ausgesetzt war und die ihm somit als charakteristisch für die Erfahrung von Kontingenz erscheinen muss: das mer ward also beweget, das von dere grössij der wellen vnd ir vngestümij ire schiff ietz ze grund des meres, ietz in höchin der wolken gesehen wurden (177,478 – 177,480; vgl. die Beschreibung der Radumdrehung bei Boethius, Consolatio Philosophiae, 48, II,2,29 – 32: Haec nostra vis est, hunc continuum ludum ludimus: rotam volubili orbe versamus, infima summis, summa infimis mutare gaudemus, die wie das Meer auf die unkalkulierbare Bewegung zwischen Tiefe und Höhe zielt). Die Nennung des Glücksrades – gerade im Zusammenhang mit derjenigen Neptuns – versprachlichte somit eine zuvor am eigenen Leib erfahrene Bewegung, die durch jenes Bild treffender als mit einer konkret und personal gedachten Fortuna zu greifen ist. Zugleich könnte man in Apolloniusʼ Klage einen Hinweis darauf erkennen, dass den Figuren Fortuna weniger als personifizierte Gottheit, sondern vielmehr als unberechenbares, blindes Schicksal erscheint (vgl. Martínez 1996c, 88), welches wiederum durch das Symbol des Rades prägnant erfasst wird. Unabhängig davon, welcher Deutung man hier folgt, zeigt sich, dass der Roman auf verschiedenen Ebenen auf Fortuna rekurriert: Zum einen erscheint sie als allegorische Figur, auf die über ihre traditionellen Attribute Bezug genommen wird, wie es sich in der
5.1 Der topische Kontingenzraum als Ort göttlicher Providenz?
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Konsequenz der Erfahrung eines für Apollonius blind wütenden Schicksals ist schließlich die Resignation:¹¹³ on alle hoffnung (179,488) weiß er nicht, welch end [er] keren söll (179,493). Anders als etwa Reymund in der Melusine versteht Apollonius sein vngefell somit nicht als providentiell autorisiertes Wirken, er delegiert weder die Macht über Existentielles an Gott, noch versteht er diesen als Sanktionsinstanz.¹¹⁴ Der zuvor vom Erzähler etablierte providentielle Horizont wird hier somit weder von der Figur noch von diesem selbst aufgerufen. Dies erscheint deshalb bemerkenswert, weil dies an anderen Stellen durchaus der Fall ist, denn nicht nur der Erzähler erklärt das Geschick der Figur durch göttliche Beeinflussung, auch Apollonius macht diese zum Teil geltend. So lässt der Erzähler Apollonius etwa das Rätsel, das das inzestuöse Verhältnis zwischen Antiochus und seiner Tochter aufdeckt, durch sin kunst vnd göttliche gnade (167, 291) lösen; und Apollonius selbst beruft sich nicht nur auf die göttliche Macht, bittet um göttliche Gnade und setzt eine göttlich gelenkte Ordnung voraus,¹¹⁵ sondern inszeniert sich sogar als Instrument Gottes: Nachdem Strangwilio ihn von der die Stadt bedrohenden Hungersnot unterrichtet hat, lässt Apollonius ihn wissen: ‚So sagend lob vnd danck dem höchsten got, das er mich flichtigen úch zehilff vnd trost gesendet hatt […].‘ (175,430 – 175,431). Auch auf figuraler Ebene kann somit nicht von einer grundsätzlichen Negation eines göttlich gelenkten Weltlaufs ausgegangen werden. Auf dem Meer allerdings scheint dieses Sinngebungsmuster keine Geltung zu besitzen; es wird sowohl als genuiner Raum der Kontingenz inszeniert, als auch als ebensolcher von der Figur wahrgenommen, was sich nicht zuletzt in der wiederkehrenden Bezeichnung – sowohl in Erzähler- als auch in Figurenrede – des dort Geschehenen als vngefell manifestiert.¹¹⁶
Inszenierung des Meeres zeigt, zum anderen wird sie in den Figurenreden als lenkende Macht für die Erklärung des Geschehens herangezogen. Vgl. zu der Vielschichtigkeit der Fortuna-Bezüge, mit Einschränkung auf den Artusroman, sowie zur Differenzierung von Allegorie und lenkender Macht Cormeau 1995, 23. Vgl. zur Resignation als Reaktion auf die Erfahrung von Kontingenz Haug 1995, 9; Martínez 1996c, 88. Vgl. im Gegensatz dazu etwa die Klage Reymunds im Anschluss an das Jagdgeschehen (Kap. 4.1.1). So referiert er nicht nur in jener Bitte an den Jüngling, dem er unmittelbar nach seinem Schiffbruch begegnet, auf die göttliche Gnade und Güte (‚O wer du siest, so erbarmd dich durch gottes güttikait über mich!‘ [179,500 – 179,501]), sondern legt sein folgendes Geschick auch in die Hand Gottes: ‚[…] Vnd ob ich din vergesse, so wölle mir got aber meres not vnd schiffbruch z fügen […].‘ (179,519 – 179,520). Im Rahmen seiner Danksagung an Archistrates bittet er außerdem um Gottes Schutz für den denselben (‚[…] Der obrost got wöll úch bewaren!‘ [189,671]). Die Bezeichnung des Geschehens als vngefell findet sich dabei sowohl in Erzähler- als auch in Figurenrede und wird nicht nur auf Apolloniusʼ Schiffbruch, sondern auch auf Cleopatras Tod
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Zwar wird Apolloniusʼ Schiffbruch und vngelücke von anderen Figuren ebenfalls als vngefell bezeichnet und als Umdrehung des Glücksrades verstanden, gleichwohl interpretieren diese das Geschehen vor einem göttlichen Horizont, sofern sie die Folgen desselben der göttlichen Providenz unterstellen: So lässt etwa Archistrates seinen Hof, der Apolloniusʼ Verhalten bei Tisch missinterpretiert, nämlich als Plan desselben, wie er die klainet gestelen möcht (185,584– 185,585), wissen: ‚Ir irrend fast an der warhait. Diser jungling gedenckt, was er verloren hat, vnd klaget sin vngefell in sinem gemüt, wann er on zwiffel wol gngsame zierd gehaben möcht, in küniglichem sal ze sitzen, hette im das gluk rad die nit empfüret.‘ (185,586 – 185,589). Auch Archistrates interpretiert, allerdings ohne näheres Wissen um die Umstände des Schiffbruchs, diesen folglich als Umdrehung des Glücksrades, gleichwohl fordert er Apollonius auf: ‚Iungling, du solt din truren lassen vnd iß vnd trinck mit gtem mt vnd hab hoffnung z got vmb besser glück, der wirt dich nit verlassen.‘ (185,590 – 185,592). Hier wird das Wirken des Glücksrades somit in einer letztlich doch göttlich gelenkten Ordnung verankert und damit jene Vorstellung einer der göttlichen Providenz unterstellten Fortuna reflektiert.¹¹⁷ Dies entspricht boethianischer Tradition, in der „[d]ie Unbeständigkeit alles Irdischen […] programmatisch zum göttlichen Heilsplan [gehört].“¹¹⁸ Kontingenz wird in der Rede Archistratesʼ folglich zu einem Bestandteil der göttlichen Ordnung erklärt, die dem Menschen nur begrenzt zugänglich ist, so dass die einzige Reaktion auf eine solche Erfahrung nur die hoffnung […] vmb besser glück sein kann.¹¹⁹ Auf diese Weise wird eine providentielle Lenkung, die gleichwohl in ihrem Verhältnis zum Wirken Fortunas in der Figurenrede nicht expliziert wird, auch für dieses Ereignis präsent gehalten.¹²⁰ Für Archistrates ist bezogen. Vgl. zur Bezeichnung des Schiffbruchs in vom Erzähler wiedergegebener Figurenrede 187,626 – 187,627 (Appolonius saget lob vnd danckt mit scham vnd sünffczen irer gütikait, die sie im erzaiget hett nach sinem grossen vngefell) sowie 205,915 – 205,917 (Er erzelet inen sin vngefell, wie im sin wib uff dem mer an dem geberen gestorben wer).Vgl. zur Benennung als vngefell in Figurenrede die Worte von Archistrates 185,588; 187,622 und Cleopatra 185,611; 185,614. In der Historia sowie in den Gesta Romanorum wird das Glücksrad hingegen nicht erwähnt, sondern Apollonius lediglich nahegelegt, auf Gott zu vertrauen (vgl. Historia, 126,14,22– 126,14,23; vgl. Gesta Romanorum, 184,187– 184,188). Auch bei Gottfried erwähnt Archistrates das Rad der Fortuna nicht, obgleich es zuvor in der Klage von Apollonius Erwähnung gefunden hat. Hier fehlt darüber hinaus der Appell, auf Gott zu vertrauen (vgl. dessen Rede bei Gottfried, Pantheon, 184,39). Haug 1995, 6. Vgl. zum Verhältnis von Vorsehung und Schicksal Boethius, Consolatio Philosophiae, 232, V,1,55 – 60 (vgl. auch Kap. 3.2.3), zur menschlichen Unergründlichkeit der göttlichen Ordnung, 208, IV,6,94– 98. Auch von Ertzdorff 1989, 57, weist allerdings darauf hin, dass es sich bloß um die Interpretation einer Figur und nicht um eine Erzählerbemerkung handelt.
5.1 Der topische Kontingenzraum als Ort göttlicher Providenz?
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auch das Geschehen auf dem Meer letztlich dem Willen Gottes unterworfen, auch in Apolloniusʼ vngefell manifestiert sich für ihn die göttliche Ordnung. Diese in einer Figurenrede formulierte Annahme einer göttlichen Lenkung auch im Kontingenzraum Meer korrespondiert dabei zum einen jenem genannten Hinweis auf die Ordnung der Götter, mit der der Erzähler Apolloniusʼ Ankunft in Tarsus erklärt (vgl. 205,911– 205,912), zum anderen aber auch solchen Szenen, in denen dieser andere Figuren das Geschehen auf dem Meer als göttlich gefügt deklarieren lässt. So findet sich in einer für die gesamte Erzählung zentralen Passage, nämlich in der Mitteilung von Antiochusʼ Tod, eine Deutung auf Figurenebene, die ebenfalls vor einem göttlichen Horizont argumentiert und somit ein Bewertungsmuster für das erzählte Geschehen bereitstellt, das dem im Prolog entworfenen entspricht: Der Kapitän des aus Tyrus kommenden Schiffes teilt dem noch unerkannten Apollonius, der just in diesem Moment mit Archistrates und Cleopatra am Meer spazieren geht, nämlich Folgendes mit: ‚Ich bit dich, ob du z im kemest, das du im grosse fröd verkünden wöllest, wann der küng Antiochus mit siner tochter ist von dem hellischen für uff dem mer verbrennt vnd dar in versuncken, vnd ist vnser herr Appolonius von mengclichem ze küng erwelet worden vnd sind im die schätz vnd richtum behalten, darumb ich vnd vil ander uß gesendet sind, in zeschen.‘ (195,784– 195,789).
Während Antiochus und seine Tochter in der spätantiken Historia noch vom göttlichen Blitz erschlagen werden, verbrennen sie bei Steinhöwel in einem höllischen Feuer und versinken daraufhin im Meer.¹²¹ Eming hat zu Recht darauf hingewiesen, dass „[d]ie Anspielung auf die Hölle […] an das sündhafte Leben [erinnert], das beide geführt haben“¹²². Mit dieser Anspielung auf die Sünde des Inzests, die der Erzähler bereits während dessen Schilderung zu Beginn der Erzählung ausdrücklich kritisiert,¹²³ wird aber zugleich der Bezug zu jenem, im
Vgl. Historia, 136,24,10 – 136,24,11; auch in den Gesta Romanorum werden König Antiochus und seine Tochter vom Blitz erschlagen, hier allerdings ohne Erwähnung Gottes als Verursacher (vgl. Gesta Romanorum, 194,289 – 196,290). Bei Gottfried verbrennen Vater und Tochter, dies ebenfalls in Folge eines Blitzschlags (vgl. Pantheon, 194,60). Dort wird Antiochusʼ Tod zweimal erzählt, einmal in Form einer Erzählerrede, einmal in Figurenrede gegenüber Apollonius und Archistrates, dort allerdings ohne eine Explikation der näheren Todesumstände (vgl. 194,66). Eming 2003, 33. Die eindeutige Verurteilung des Inzests bei Steinhöwel wurde von der Forschung mehrfach konstatiert. Das Verhalten des Vaters wird dabei ausdrücklich als moralisch zutiefst verwerflich bewertet: So beurteilt der Erzähler die Absichten Antiochus als vngerechte[] vnuätterliche[] begirde, als vnordeliche[] liebi, die mer wann ainem vngesiptem zimlich wer, ich geschwig aines vatters (163,211– 163,214). Der Inzestvollzug wird dabei als angenomne boßhait vnd liblich vnzimliche wollust (165,248 – 165,249) beschrieben. Neben solchen Wertungen in Erzählerrede finden sich
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Prolog etablierten zentralen Bewertungshorizont hergestellt, nämlich zu jenem Tun-Ergehen-Zusammenhang, in dessen Rahmen Gott als Sanktionsinstanz fungiert. König Antiochus und seine Tochter werden somit bei Steinhöwel von Gott für ihr schändliches Vergehen bestraft, wobei Ort der Sanktion das Meer ist.¹²⁴ Auf diese Weise wird ein Deutungsmuster auch für ein sich auf dem Meer ereignendes Geschehen bereitgestellt, das der bei Apolloniusʼ Schiffbruch noch inszenierten Kontingenzexposition zunächst zu widersprechen scheint. Wenn die See, das Schiffsunglück, Ort – und Ereignis – der göttlichen Bestrafung ist, gilt dies dann auch für Apolloniusʼ vngefell auf eben dieser? Welchen Vergehens hätte sich dieser dann schuldig gemacht? Die Erzählung gibt keine Antwort auf diese Frage; auch legt sie eine Interpretation des Schiffbruchs als göttliche Strafe nicht zwangsläufig nahe, stellt durch die explizite Verknüpfung von göttlicher Vergeltung und dem Raum des Meeres die evaluative Differenz zwischen diesen beiden Ereignissen aber deutlich aus. Die Relation zwischen dem Kontingenzraum Meer und providentieller Lenkung lässt sich somit nicht eindeutig bestimmen; vielmehr scheinen sich drei mögliche Dimensionen abzuzeichnen: Das Meer ist Raum kruder Kontingenzerfahrung, in dem das göttliche Wirken keine Rolle spielt – eine solche Lesart zeigt sich in der Darstellung des Schiffbruchs und Scheintodes Cleopatras durch den Erzähler sowie in Apolloniusʼ Interpretation der Dinge; das Meer ist Raum der Kontingenz, der allerdings als Bereich Fortunas der göttlichen Providenz unterstellt ist – diese Annahme legt die Erklärung Archistratesʼ nahe; das Meer ist Raum, in dem sich der göttliche Wille vollzieht – diese Erklärung gibt Steinhöwel im Gegensatz zu seinen Vorlagen, dies allerdings – und dies erscheint als narrative Pointe der gesamten Konstruktion – ausschließlich in Figurenrede. Es ist nicht der Erzähler, der die Bestrafung des inzestuösen Paares erzählt und damit einen providentiellen Horizont etabliert, sondern eine Figur. Dies erscheint vor allem deshalb bemerkenswert, weil der Erzähler an anderen Stellen – wie bei jenem Hinweis auf die Ordnung der Götter – die Verantwortung für das sich ereignende Geschehen durchaus explizit zuschreibt. Die für eine Wertung des Inzests und eine Beurteilung der Frage, welche Instanz nun tatsächlich das Geschehen lenkt, höchst bedeutsame Information wird folglich in Figurenrede
auch solche in der der Figuren. So bezeichnet Apollonius das inzestuöse Verlangen des Vaters als inbrünstige[] böse[] liebe (169,333). Das Meer ist nur bei Steinhöwel Ort der Sanktion. In der Historia werden Vater und Tochter vom Blitz nicht auf dem Meer, sondern im Bett erschlagen (vgl. Historia, 136,24,10 – 136,11). In den Gesta und bei Gottfried wird das Geschehen nicht lokalisiert. Vgl. zu diesem Aspekt auch Terrahe 2013a, 83.
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ausgelagert und damit in ihrer Relevanz für die Erklärung des Geschehens marginalisiert.¹²⁵ Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang zudem, dass Figurenrede im Apollonius zuweilen als unzuverlässig erscheint, sofern die Figuren Sachverhalte artikulieren, die eigentlich fern ihres Wissenshorizontes liegen und sich zum Teil als interpretative Ausschmückungen erweisen: So erfährt etwa Thaliarchus, der im Auftrag von Antiochus auf der Suche nach Apollonius ist, von jenem Jüngling, den er nach der Ursache für die in der Stadt herrschende Trauer befragt, nur Folgendes: ‚[…] Vnser herr Appolonius, nach dem als er von Antiocho komen ist, ist er verloren worden vnd waist nieman, ob er in leben oder tod sie.‘ (171,357– 171,359). Im Anschluss an seine Rückkehr nach Antiochia erklärt Thaliarchus Antiochus allerdings: ‚Herr küng, du solt dich fröwen, wann Appolonius ist von diner forcht wegen uss sinem land geflochen vnd waist nieman, wo er sie, vnd gedenckt man mer, ob er in dem mer versuncken sie, wann das er lebe.‘ (171,361– 171,364). Auch wenn Apollonius tatsächlich geflohen ist, ist dies eine Information, die der Jüngling nicht expliziert hat und die Thaliarchus aus dessen Rede gefolgert zu haben scheint; jene Mutmaßungen über Apolloniusʼ Verbleib und einen potentiellen Schiffbruch hingegen ergänzt er schlicht – und dies nicht in Form einer eigenen Vermutung, sondern als eine solche der Bürger von Tarsus.¹²⁶ Der Figurenrede sind folglich Momente der Unzuverlässigkeit eingezeichnet, die die Glaubwürdigkeit von Figurenreden generell zur Disposition stellen. Denn auch an anderen Stellen werden in Aussagen von Figuren Informationen wiedergegeben, über die sie eigentlich nicht verfügen können: So informiert Elemitus Apollonius über das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld, gibt auch die Belohnung korrekt wieder, weiß aber zugleich um die eigentliche Ursache der Verfolgung durch Antiochus, die dieser allerdings nicht öffentlich gemacht hatte;¹²⁷ Archistratesʼ Diener findet
Vgl. zur Hierarchie zwischen Erzähler- und Figurenrede, Hübner 2003, 169, sowie die Ausführungen in Kap. 3.2.2. Während sich der Hinweis auf Apolloniusʼ Flucht auch in der Historia und den Gesta findet, fehlt dort jeweils die hier formulierte Aussage über Apolloniusʼ Verbleib und potentiellen Tod (vgl. Historia, 116,7,12– 116,7,14; vgl. Gesta Romanorum, 170,76). Das Geschehen um Antiochus und Thaliarchus ist bei Gottfried nicht erwähnt. Die Unzuverlässigkeit hinsichtlich des informativen Gehalts der Figurenrede findet sich somit ausschließlich bei Steinhöwel. Antiochus nennt als Ursache der Verfolgung, dass Apollonius das Rätsel nicht gelöst habe, und nicht die Aufdeckung des Inzests. Die jeweilige Belohnung, die auch Elemitus kennt, verkündet er hingegen öffentlich: ‚[…] Welcher mir gefangen bringt Appolonium, der ain verschmacher ist miner künglichen maiestat vnd sin leben verwircket haut, wann er min frag nit usslegen kund, der sol haben fünffczig pfund goldes; welcher aber mir sin hobt brächte, dem wil ich geben hundert pfund goldes.‘ (171,365 – 171,369). Aus dieser öffentlichen Kundgabe geht der Inzest, von dem Elemitus weiß, also nicht hervor (vgl. die Äußerungen desselben 173,386 – 173,398). Archibald
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Apollonius zwar in sinem halben zerrissen rock (183,560 – 183,561), kann aber nicht wissen, dass dieser im durch barmhertzikait gegeben ist (183,569), hatte Apollonius ihn doch nur wissen lassen, dass ihm das Meer seine er, gt vnd wirdikait mit dem namen […] berobet [hat] (183,564– 183,565), nicht aber, woher und aus welchem Grund er jenen Rock besitzt.¹²⁸ Die Unzuverlässigkeit von Figurenreden scheint somit eine narrative Konstante in der Erzählung zu sein und legt zumindest die Vermutung nahe, dass jene Erklärung des Kapitäns, dass der küng Antiochus mit siner tochter […] von dem hellischen für uff dem mer verbrennt vnd dar in versuncken [ist] (195,785 – 195,787), womöglich auch einen interpretativen Zusatz der Figur darstellt. Auf diese Weise wird göttliche Lenkung zwar fortwährend suggeriert und der providentielle Horizont präsent gehalten, dieser wird aber zugleich zumindest teilweise desavouiert. Bezeichnend erscheint nämlich, dass Apollonius, den diese Mitteilung direkt betrifft, sofern er die Herrschaft in Antiochia antreten soll, den Tod von Antiochus und dessen Auswirkungen auf sein eigenes Schicksal nicht vor diesem Horizont interpretiert, etwa als göttliche Fügung. Für ihn beschreibt der Verlauf vielmehr eine erneute Drehung des Glücksrades: ‚[…] So sich aber das gelückrad nun gewendet hat, so tn ich dir kunt, das ich der selb Appolonius bin, den man schet […]‘ (197,793 – 197,794). Im Rahmen seiner in der Folge artikulierten Dankbarkeit schreibt Apollonius Archistrates dabei in recht auffälliger Weise die Verantwortung für solche Veränderungen zu, die gewöhnlich mit dem Aufschwung des Rades assoziiert werden und die als positive Kontrastfolie zu jener Klage nach
1984, 73 f., zählt diese Stelle zu den auch die spätantike Fassung prägenden Inkohärenzen (vgl. auch Archibald 1991, 64). Das hier wiedergegebene Wissen ist also nicht nur in der Fassung Steinhöwels unmotiviert, sondern kennzeichnet neben der ursprünglichen Version auch noch weitere Bearbeitungen, allerdings nicht alle (vgl. die Stelle in der Historia, 118,8,11– 118,12; in den Gesta Romanorum, 170,78 – 170,80; fehlt bei Gottfried). Nichtsdestoweniger erscheint mir auch diese Stelle für die Steinhöwel’sche Tendenz charakteristisch zu sein, die Figurenreden durch Informationen anzureichern, die eigentlich nicht im Bereich des für die jeweilige Figur Wissbaren liegen, um so die Verlässlichkeit von Figurenreden grundsätzlich zur Diskussion zu stellen. In der spätantiken Fassung und in den Gesta schlussfolgert der Diener aus der äußerlichen Erscheinung von Apollonius, dass dieser einen Schiffbruch erlitten haben müsse. Ein Dialog zwischen beiden findet nicht statt, allerdings veranlasst die Schlussfolgerung des Dieners Archistrates dazu, nach der Ursache derselben zu fragen, wofür dieser die Evidenz der zerrissenen Kleider anführt (vgl. Historia, 124,14,4– 126,14,7; Gesta Romanorum, 182,175 – 182,177). Bei Gottfried wird Apollonius auf seine Erklärung hin eingekleidet, ein Gespräch zwischen Archistrates und Diener findet nicht statt. In Steinhöwels Fassung ist somit eine Information, die in den anderen Fassung deutlich als aus äußeren Zeichen resultierende Interpretation einer Figur ausgestellt ist und der kein Dialog vorausgeht, in eine Figurenrede verlagert, die gerade im Vergleich zum vorangehenden Gespräch einen Informationsüberschuss liefert, der für die Figur nicht im Bereich des Wissbaren liegt und nicht wie in den Vorlagen als Interpretation gekennzeichnet ist.
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seinem Schiffbruch erscheinen: Hatte er dort noch den Verlust seiner Güter und seiner Ehre, sein Elend, seine Armut und seine Nacktheit beklagt, heißt es nun: ‚[…] Darumb, wilt du, das ich das küngrich jn neme, so tn ich es vnd machen dich gewaltig über alles, das mir wirt, wann du hast mich armen ufferhebt vnd uß nichten ettwas gemachet. Du hast mich nackenden kostlich geklaidet vnd wol begabet. Du hast mich gesäliget mit ainem wijb vnd schwecher, du hast mich mit künglicher eren gezierett, des ich nimmer vergessen sol.‘ (197,795 – 197,800).
In Apolloniusʼ Deutung des für ihn nun zum Positiven gewendeten Geschehens spielt Gott somit keine Rolle; vielmehr erscheint Archistrates als personale Glücksinstanz, die den Aufschwung des Rades, der in der Nachricht vom Tode Antiochusʼ und von Apolloniusʼ anstehender Herrschaft seine Vollendung findet, zu verantworten scheint.¹²⁹ Auf diese Weise wird der soeben aufgerufene göttliche Horizont zwar nicht unterlaufen, aber in seiner Relevanz für eine Gesamtdeutung des Geschehens erneut marginalisiert. Wie bereits erwähnt, kann für die Apollonius-Figur aber keine generelle Negation einer providentiell gesteuerten Ordnung konstatiert werden; neben den genannten Stellen fällt dies insbesondere bei der Wiedervereinigung der Familie auf: Nachdem Apollonius erkannt hat, dass es sich um seine Tochter Tarsia handelt, ruft er: ‚O barmhertziger got, der du kennest die himel vnd die tieffin der hellen vnd die haimlichhait aller betrübten hertzen, gesegnet sij din nam! […]‘ (235,1388 – 235,1391). Könnte dieser Ausruf noch als bloße Phrase ob der glücklichen Wiederbegegnung mit seiner Tochter verstanden werden, formuliert er die Annahme göttlicher Fügung bei jenem Wiedersehen Cleopatras konkreter: ‚Gesegnet sij der obrost got, der mir min tochter vnd das wijb wider gegeben hatt.‘ (245,1501– 245,1502).¹³⁰ Indem Apollonius folglich das finale
Die Deutung des ihm widerfahrenen Geschehens als Drehung des Glücksrades findet sich in keiner der Vorlagen. Apolloniusʼ Dank an Archistrates, den weder die Historia noch die Gesta Romanorum beinhalten, wird auch bei Gottfried erzählt; auch hier mag eine Assoziation mit den dem Glücksrad zugeschriebenen Attributen naheliegen, da dieses aber vorab gerade nicht erwähnt wird, ist der Zusammenhang nicht derart konkret wie bei Steinhöwel (vgl. Apolloniusʼ Rede bei Gottfried, Pantheon, 196,71– 196,72). Apolloniusʼ Gotteslob findet sich an beiden Stellen auch in den Gesta Romanorum: Sowohl nach dem Erkennen Tarsias (vgl. Gesta Romanorum, 234,659 – 234,660) als auch bei der Wiederbegegnung der ganzen Familie (vgl. 244,747). Weder in der Historia noch in der Fassung Gottfrieds findet sich an den entsprechenden Stellen eine Lob- und Danksagung an Gott. Klebs 1899, 358 f., deutet diese Änderungen in den Gesta, der Steinhöwel an diesen Stellen folge, als christianisierende Zusätze, die der Gesamtintention der Gesta Romanorum entsprächen. Dementsprechend erklärt er das Fehlen solch christlicher Zusätze bei Gottfried aus dessen Desinteresse an ebensolchen oder „mittelalterlicher Färbung“ (344). Für Terrahe 2013a, 83, ziele auch
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Glück ausdrücklich als Lenkung Gottes interpretiert, wird der Kontrast zu jener davon abweichenden, gerade nicht auf göttliche Providenz zielenden Beurteilung von Antiochusʼ Bestrafung hervorgehoben, was wiederum ebenfalls die Zuverlässigkeit jener Figureninterpretation infrage stellt. Man kann die gesamte Konstruktion dabei insofern als Form der narrativen Ambiguisierung begreifen, als (1) die sonst in Erzählerrede artikulierte Geschehensdeutung an dieser Stelle in eine Figurenrede verlegt ist, (2) eine solche hinsichtlich Relevanz und Glaubwürdigkeit grundsätzlich einen niedrigeren Stellenwert beansprucht als Erzählerrede, (3) Figurenreden dabei in der Erzählung vermehrt in ihrer Zuverlässigkeit nicht eindeutig zu bestimmen sind und (4) das hier aufgerufene Deutungsmuster von Interpretationen anderer Figuren konterkariert wird. Dass eine solche Konstruktion somit als Resultat eines ambivalenten Erzählens begriffen werden kann, zeigt der Blick auf eine ähnlich gestaltete Szene: Apollonius, der soeben die Nachricht über den Tod seiner Tochter Tarsia erhalten und das eigens errichtete, gleichwohl leere Grab gesehen hat, zieht sich voller Trauer in sein Schiff zurück, mit dem er zunächst in sein Königreich zurückzufahren gedenkt: Do er aber uff das mer kam, ward er mit sölichem vnmt beweget, das er abging in den boden des schiffes vnd sprach z sinen dienern ‚Alle min fröd hat sich geendet, da sol min wonung sin bis in den tod.‘ Z hand erhbe sich ain grosses vngewitter, das der patron von dem schiff schier verzwiffelt was. Do batten sie alle got Neptunum, das er im hilffe z ainer porten, wa die were. Also warff sie der wind z der stat Militena da sin tochter inne was. Do lobten sie alle got, das sie von sorgen erlediget waren (221,1160 – 221,1167).
Blickt man auf die narrative Konstruktion auch dieser Szene, zeigt sich erneut, dass der spezifische Wechsel von Erzähler- und Figurenrede zu einer Ambiguisierung des Dargestellten beiträgt: So folgt auf die Repräsentation von Apolloniusʼ Bewusstsein in Erzählerrede in Form einer Gefühlsdarstellung – ward er mit sölichem vnmt beweget – die ebenfalls in Erzählerrede wiedergegebene Information über das plötzlich ausbrechende vngewitter, das den Kapitän des Schiffes – erneute Gefühlsdarstellung – verzweifeln lässt. Die Reaktion der Schiffsleute auf dieses Unwetter wird dann allerdings in einer erzählten Figurenrede dargestellt: Sie alle bitten den Gott Neptun um sicheres Geleit zum nächsten Hafen. Die daran anschließende Erzählerrede informiert nun über die Folge – [a]lso – dieses Bittens, wobei allerdings nicht Neptun, sondern der Wind – ein Substitut Neptuns? –
Steinhöwels Erzählung „auf die Vermittlung rechter Lebensführung im christlichen Sinne“. Vgl. zur christlichen Intention der Gesta Romanorum auch Weiske 1991, 118.
5.1 Der topische Kontingenzraum als Ort göttlicher Providenz?
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das Schiff in die Stadt bringt, in der sich Tarsia aufhält. Konsequenz ist der Dank an Gott für die Linderung ihrer Sorgen, der abermals in Form erzählter Figurenrede vermittelt wird. Während die beiden anfänglichen Bewusstseinsdarstellungen sowohl die Bedingung als auch die Folge des vngewitter[s] auf Figurenebene darzustellen scheinen – die Gemütsschilderung Apolloniusʼ wird nicht eindeutig zur Prämisse des Unwetters erklärt, sofern dieses nicht explizit als Folge des vnmt[s] markiert wird, die Formulierung [z] hand legt dies aber nichtsdestoweniger nahe –, führt der Wechsel von Erzähler- und erzählter Figurenrede zu einer Verstärkung jener Ambivalenz, die durch die Nennung von got Neptunum, wind und got generiert wird, sofern unklar ist, ob es sich hier um Identität oder Diversität handelt: Adressieren die Figuren sowohl ihre Bitten als auch ihren Dank an eine Instanz? Ist got Neptunum mit jenem got zu identifizieren, dem sie im Anschluss danken? Oder sind hier zwei Instanzen und damit zwei Kompetenzbereiche gemeint, nämlich der Meeresgott der römischen Mythologie und der christliche Gott?¹³¹ Die zwischen die erzählten Figurenreden integrierte Erzählerbemerkung löst diese Ambivalenz nun gerade nicht auf, sondern nennt mit dem wind die eigentliche Ursache für die erfolgreiche Weiterfahrt und Ankunft in gerade der Stadt, in der sich Tarsia aufhält, ohne allerdings dessen Verhältnis zu den genannten anderen Instanzen zu konkretisieren. Rein syntaktisch wird zwar eine kausale Folge suggeriert – [a]lso / [d]o –, diese operiert aber entweder mit verschiedenen Instanzen oder mit verschiedenen Bezeichnungen für ein und dieselbe Instanz, wobei der Wind nicht explizit einem göttlichen Machtbereich zugeordnet wird, und nur schwer nachzuvollziehen ist, welchen Zweck eine solch differente Terminologie an dieser Stelle erfüllte. Es wird folglich weder eine Identität der Instanzen noch ihre Unterschiedenheit behauptet – eine eindeutige Positionierung findet nicht statt, der Fall bleibt ambivalent. Aus diesem Grund liegt es womöglich näher, die Nennung des Windes durch den Erzähler als bewusste Kontrastierung zu den in den Figurenreden formulierten, göttliche Lenkung annehmenden, aber in ihrem Verhältnis zueinander
Die narrative Gestaltung der Szene ließe beide Deutungen zu: Zum einen könnte got Neptun, der Adressat der Gebete ist, auch jener got sein, dem sie im Anschluss danken. Dies wäre rein syntaktisch, sofern Kausalität suggeriert wird, und auch argumentationslogisch plausibel. Zum anderen könnten got Neptunum und got als zwei verschiedene Instanzen begriffen werden, so wie es die je verschiedene Terminologie nahelegt. In diesem Fall wäre hier eine Hierarchie zwischen Neptun und Gott etabliert, die der zwischen Fortuna und Providenz ähnelte, sofern got als Letztinstanz fungiert. Die Besonderheit liegt auch an dieser Stelle darin, dass beide Deutungen von der Erzählung aufgerufen werden und die Unentscheidbarkeit auch hier zu Ambivalenz führt.
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wiederum ambivalenten Geschehensdeutungen zu begreifen.¹³² Zwar untersteht der Wind, oder grundsätzlicher: unterstehen die Natur und ihre Elemente in einer göttlich determinierten Welt prinzipiell Gott – dieser fungiert schließlich zuweilen explizit als Herrscher über die Naturgewalten –, eine solche Unterordnung wird an dieser Stelle aber gerade nicht suggeriert, sofern der Wind als relativ autonome Macht erscheint: Ist zuvor vom vngewitter die Rede, ist es im Anschluss ausdrücklich der Wind, der das Schiff an Land bringt – und dies nicht auf Geheiß Gottes (oder Neptuns?). Der Wind wird damit also nicht als Strategie Gottes kenntlich gemacht.¹³³ Auf diese Weise wird der Konnex zu jener Inszenierung von Kontingenz hergestellt, wie sie sich in den beiden zentralen Ereignissen – Apolloniusʼ Schiffbruch und Tarsias Geburt – konkretisiert, so dass sich die zuvor konstatierte Gleichzeitigkeit von Kontingenz und Providenz, realisiert über die Divergenz von Erzähler- und Figurenrede, auch in dieser Szene manifestiert. Die Diese These ließe sich auch mit Blick auf die Vorlagen untermauern, sofern hier nur eine Instanz, nämlich Gott, genannt wird. Zwar wird dieser auch hier von den Figuren angerufen, es findet sich aber weder ein Hinweis auf Neptun noch eine Erzählerbemerkung, die auf den Wind als ursächliche Kraft für die erfolgreiche Ankunft verwiese. Die Unruhen des Meeres und die daraus resultierenden Gefahren werden vielmehr auf dieses selbst zurückgeführt, wobei allerdings nahegelegt wird, das sichere Eintreffen in Militena als Resultat jener Gebete zu verstehen. So heißt es in der Historia: Qui dum prosperis ventis navigat, subito mutata est pelagi fides. Per diversa discrimina maris iactantur; omnibus dominum rogantibus ad Mytilenam civitatem advenerunt (Historia, 156,39,1– 156,39,3). In den Gesta Romanorum wird überdies der Dank an Gott im Anschluss an die geglückte Ankunft erzählt: Et dum prosperis navigat Tyrum, reversus subito, mutatum est pelagus et per diversa maris discrimina naves jactabantur; omnes autem deum rogantibus ad Machilenam civitatem […] venerunt; gubernator autem cum omnibus magnum plausum dedit (Gesta Romanorum, 220,529 – 220,532). In Gottfrieds Fassung segelt Apollonius nach Militena, ohne dass göttlicher Einfluss überhaupt thematisch würde (vgl. Pantheon, 220,126.146.147). In Steinhöwels Vorlagen findet sich also nicht jene Gleichzeitigkeit der für das Geschehen verantwortlich gemachten Instanzen, weder werden zwei Götter – bzw. ein Gott in je unterschiedlicher Bezeichnung – noch der Wind genannt. Diese Annahme einer gerade nicht auf göttliche Urheberschaft, sondern auf Kontingenz zielenden Inszenierung der Passage ließe sich dabei sowohl mit Blick auf jene erwähnten Szenen in Gottfrieds Tristan und der Kaiserchronik, in denen göttliche Lenkung durch die explizite Rückführung eines Unwetters auf Gott hervorgehoben wird, als auch mit einem solchen auf die anderen Prosaromane erhärten. Zum einen wird die Verantwortung Gottes für das Wetter, die Natur und das daraus resultierende Geschehen in der Regel explizit vom Erzähler erwähnt (so glückt im Fortunatus etwa Agripinas Fahrt über das Meer nach Zypern, weil sie in dem namen gottes [frenn] / vnd der verlich ynen gt wetter / das es yn gar gelücklichen gieng / […] so kammen sy mitt der hilff gotz vnd mit allem lieb gen Cipren an das land [Fortunatus, 565,3 – 565,9]), zum anderen wird der Wind vermehrt als beinahe autonome, das Geschehen beeinflussende Macht dargestellt, die gerade nicht der göttlichen Fügung zu unterstehen scheint: So etwa im Tristrant, in dem die Winde den Protagonisten zweimal nach Irland bringen, wobei dies mit dem gelücke assoziiert wird (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 6.).
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göttliche Ordnung als Bewertungshorizont, wie sie der Erzähler im Prolog evoziert, würde somit auch an dieser Stelle, gleichwohl in Figurenrede, präsent gehalten, um ihr letztlich eine auf Kontingenz zielende Geschehensdeutung entgegenzusetzen. Auch hier stellte sich dann letztlich die, zum Ende des Prologs zum Erzählprogramm erhobene Frage, in welchem Verhältnis vngefell und göttliche Lenkung, Kontingenz und Providenz, stehen. Blickt man nun auf die Rolle der Figuren und insbesondere auf die von Apollonius in dieser nicht weiter konkretisierten Relation, fällt in den drei näher analysierten Szenen ein weiterer, diese inszenierte Konkurrenz der Instanzen noch ambiguisierender Aspekt auf: Es scheint stets das zu geschehen, was Apollonius explizit oder implizit fordert, begehrt oder in Aussicht stellt, ohne dass dies aber als Folge eben dieser Absichten oder Motivationen erzählt würde. So teilt der Erzähler etwa unmittelbar vor Apolloniusʼ Schiffbruch in Form einer Psychonarration mit, dass dieser sich verabschiedet in willen ze faren in ain insel, dar in er mainet vnerkant zesin (177,474),¹³⁴ was sich in der Folge auch insofern realisiert, als er tatsächlich zu jener Insel gelangt, auf der er glaubt, unerkannt zu sein.¹³⁵ Dieser letzte Aspekt, die von ihm forcierte Anonymität, muss aber zwangsläufig mit dem Verlust seiner äußerlichen Reputationszeichen einhergehen, so dass der diesen Verlust bedingende Schiffbruch im Hinblick auf seine eigentliche Intention nahezu als notwendige Prämisse erscheint. Auch das Geschehen um Cleopatra, die verfrühte Geburt, das Schwinden ihrer Kräfte und ihr scheinbarer Tod, ließe sich als Realisation dessen verstehen, was Apollonius – gleichwohl als Selbstbestrafung – antizipiert hatte: Sollte er, so lässt er jenen barmherzigen Jüngling wissen, ihn vergessen, ‚[…] so wölle mir got aber meres not vnd schiffbruch z fügen, vnd sij niemen, der sich über mich erbarmen werde als du getan hast.‘ (179,519 – 181,521).¹³⁶ Zwar erleidet er in der Folge keinen Schiffbruch, doch werden er und seine Frau einige Zeit später erneut der
Die Artikulation dieser Absicht findet sich weder in der Historia oder in den Gesta Romanorum noch bei Gottfried. Apollonius, der seine wahre Identität nicht verrät, sondern stets nur Hinweise auf seine Abstammung und eigentlichen Stand gibt, wähnt sich in Anonymität. Archistrates allerdings scheint um seine wahre Person zu wissen, teilt er Cleopatra schließlich mit: ‚[…] Das ich aber aigenclich wisse, wer er sij, sag ich nit. Doch zimet dir nit übel, das du in fragest, vnd wenn du das wissend bist, im gütig vnd barmhertzig sijest.‘ (185,605 – 185,607). In den Gesta Romanorum ist weder ein Bezug zu Gott hergestellt, noch wird das im Falle eines Vergessens einzutretende Geschehen als meres not vnd schiffbruch, sondern nur als letzteres konkretisiert: Si non memor fuero, iterum naufragium patiar, nec tui similem inveniam! (Gesta Romanorum, 178,157– 178,158). Dies ist auch in der Historia Apolloni Regis Tyri der Fall (vgl. Historia, 124,12,22). Bei Gottfried findet sich weder die Ermahnung des Fremden noch die Antwort von Apollonius.
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meres not ausgesetzt und dies bemerkenswerterweise im Anschluss an seine Restitution und seinen Dank an Archistrates, dem er jene Hilfe zuschreibt, die ihm eigentlich jener Jüngling hatte zuteilwerden lassen.¹³⁷ Und schließlich scheint sich auch jener Wunsch Apolloniusʼ – von vnmt beweget (221,1161), fasst er den Plan, sich bis zu seinem Tod im Bauche des Schiffes aufzuhalten – zunächst zu verwirklichen, wenn sich just in dem Moment ain grosses vngewitter [erhbe] (221,1163 – 221,1164). Welche Rolle spielt Apollonius nun in diesem komplexen Geflecht aus göttlicher Vorsehung und kontingenten Ereignissen? Die Erzählung konkretisiert auch diesen Zusammenhang nicht, suggeriert aber eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen Apolloniusʼ Gemütszuständen, seinen Intentionen und Antizipationen und dem sich auf dem Meer abspielenden Geschehen. Auf diese Weise wird die Problematik der Verantwortlichkeit, die Unbestimmtheit der das Geschehen dominierenden Mächte geradezu potenziert: Der Prolog, einzelne Figurendeutungen, die sich realisierenden Absichten sowie der finale Erfolg des Apollonius legen göttliche Lenkung nahe, die Konzeption der einzelnen, dieses finale Glück realisierenden Ereignisse, die sich meist auf dem als Kontingenzraum inszenierten Meer abspielen, sowie konkurrierende Figureninterpretationen negieren diesen zugleich. Diese über die narrative Konstruktion generierte Gleichzeitigkeit, die so etablierte Konkurrenz von Kontingenz und Providenz, findet ihre zentrale Pointierung in der Rede einer Figur, die letztlich wie keine andere Opfer der zahlreichen Ereignisse ist: Tarsia. Anders als ihr Vater, der zwar auch am Geschehen verzweifelt, fasst sie die Aussichtslosigkeit ihrer Situation nicht ausschließlich mit dem Bild des Rades, wie dieser es getan hatte, sondern klagt auch Gott an:
Vgl. die Schilderung der Barmherzigkeit des Jünglings (179,497– 179,518), in der deutlich wird, dass dieser für die – wenn auch basale – Bekleidung des Nackten verantwortlich ist: vnd das er sinen gten willen desterbas gen im erzaigte, zoch er ab sinen ellenden rock vnd tailet in in zwen tail vnd gab im den ainen, das er sinen nackenden lib ains tails dar mit bedecken möcht (179,507– 179,510). Apollonius hingegen schreibt den Akt der Bekleidung Archistrates zu, auch wenn hier der Aspekt der kostbaren Kleidung auch eine Rolle spielt (vgl. 197,798 – 197,799). Nichtsdestoweniger erinnert er im Moment seiner Rehabilitation die Hilfe jenes Mannes nicht, obgleich dieser ihm überhaupt den Ratschlag gegeben hatte, in die Stadt zu gehen, um dort weitere Hilfe zu finden. Da jener Jüngling ihn eigens daran erinnert, ihn – gerade im Moment seiner Restitution – nicht zu vergessen (‚[…] ob du ijmer in din wirdikait wider gesetzet wirdest, das du miner armt vnd gütikait, die ich dir geton hab, nümer vergessen wöllest vnd mich nit verschmachen.‘ [179,516 – 179,518]), löst sich mit Apolloniusʼ nicht-Erinnern letztlich jene Sanktion ein, die er sich selbst auferlegt hat.
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‚O trager der himel, wie verlast du mich vnschuldige in so vil kümmernuß vnd trübsälij von an fang miner geburt vntz uff dise stund, das ich rechter fröden nie tailhäfftig worden bin! […] O got, wann sol sich enden min vngemach? Besser wer mir, das ich sturbe oder nie geboren wer! O glückrad, so du alle ding verkerest, warumb wilt du min vngemach nit enden? Was han ich wider dich gesündet, das du mich geleczte von dir sendest? […]‘ (233,1362– 235,1378).
In dieser Figurenrede wird die Konkurrenz zwischen Glücksrad und Gott explizit greifbar: Entgegen der boethianischen Tradition erscheinen die beiden genannten Instanzen hier nämlich gerade nicht in einem hierarchischen Verhältnis zu stehen, sondern als je autonome und Tarsias Schicksal beeinflussende Mächte wahrgenommen zu werden, sofern sowohl Gott als auch Glücksrad prinzipiell über die Macht zu verfügen scheinen, Tarsias vngemach zu beenden. Auch erscheint das Glücksrad im Gegensatz zu seiner eigentlichen Konzeption als willkürlich agierendes, aber doch göttlicher Lenkung unterstehendes Instrument zu einer nahezu göttlichen Instanz transformiert, scheint es doch in der Lage zu sein, Sünden zu sanktionieren. Tarsia kann für ihr vngefell keine konkrete Instanz verantwortlich machen, die Leiderfahrung kann selbst über Adressierung nicht bewältigt werden, oder anders formuliert: Selbst eine Klage an Gott ist nicht ausreichend, um die Intensität ihres Leids fassen zu können. Diese Unbegreiflichkeit sowie Tatsache, dass sie einen Aufschwung des Rades letztlich nie erlebt hat, erklärt auf Figurenebene dann allerdings, warum sie für die glückliche Wiedervereinigung nur Gott verantwortlich machen kann: ‚Gesegnet sij der obrest got, der mir hat gnad gegeben, dich zesechen vnd mit dir zeleben vnd zesterben.‘ (237,1405 – 237,1406).¹³⁸ Diese Deutung auf Figurenebene stellt damit allerdings, In der Historia Apolloni Regis Tyri sowie in den Gesta Romanorum ist Tarsias Klage ausschließlich an Gott adressiert; in beiden Erzählungen beginnt der jeweilige Monolog mit einer Anrufung Gottes, beinhaltet aber nicht die abschließenden Klagen an Gott und Glücksrad, sondern nur eine erneute Bitte um die Wiedervereinigung mit dem Vater. Vgl. die Adressierung und die abschließende Bitte in der Historia: ‚O ardua potestas caelorum, quae me pateris innocentem tantis calamitatibus ab ipsis cunabulis fatigare! […] Deus, redde Tyrio Apollonio patri meo, qui ut matrem meam lugeret, Stranguillioni et Dionysiadi imppis me dereliquet!‘ (Historia, 166,44,6 – 168,44,19) sowie in den Gesta: O deus conditor celorum, vide afflictionem meam! […] et deus, quando ei placet, me reddat patri meo Appollonio (Gesta Romanorum, 232,649 – 234,658). Bei Gottfried hingegen finden sich in der Rede Tarsias beide Instanzen: O pater infelix! […] O rota Fortune, que tempora cuncta revolvis, cur mala, que patior, nullo mihi tempore solvis? hec mala non merui, que modo lesa lui (Pantheon, 234,139.159.160 – 234,141.161.162). Auch hier ist die Verzweiflung ob ihrer Situation greifbar, wenn auch mit stärkerer Betonung des Todeswunsches. Tarsias Dank an Gott, den sie im Anschluss an die Wiederbegegnung mit ihrem Vater artikuliert, findet sich hingegen nur in den Gesta Romanorum (vgl. zu diesem Aspekt auch Klebs 1899, 358 f.): O pater, benedictus deus, qui mihi gratiam dedit, quod te videre potero, tecum vivere, tecum mori! (Gesta Romanorum, 236,674– 236,675). Steinhöwels Kompilation ist somit gerade im Hinblick auf
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wie die ebenfalls auf göttliche Gnade zielende Erklärung von Apollonius, insofern einen – zumindest potentiellen – Widerspruch zur narrativen Herleitung des Geschehens dar, als der Erzähler die Wiederbegegnung von Vater und Tochter auf Handlungsebene letztlich als klassischen, boethianischen Zufall inszeniert, ohne diesen allerdings wie Boethius im Rahmen des Erzählerdiskurses an die göttliche Providenz zurückzubinden. Nach Boethius ereignet sich ein Zufall, „wenn ein Handelnder infolge einer ihm unbekannten Verknüpfung von Umständen durch sein eigenes Tun etwas gänzlich anderes bewirkt, als er beabsichtigte und überhaupt ahnen konnte.“¹³⁹ Ein solches unvorhergesehenes und unbeabsichtigtes Zusammentreffen von Ursachen ist allerdings nicht ‚grundlos‘, sondern wird als Resultat der göttlichen Vorsehung begriffen.¹⁴⁰ Das Erkennen von Vater und Tochter stellt auf Handlungsebene einen solchen Zufall dar, sofern es Ergebnis einer nicht intendierten Handlung Tarsias und des unerwarteten Zusammentreffens von Ursachen ist: Tarsia beabsichtigt mit ihrer Klage das sich in der Folge ereignende, für alle Beteiligten gleichwohl äußerst glückliche Geschehen nicht; sie klagt, durch den Tritt Apolloniusʼ zu Boden gestürzt, ob der Widrigkeiten ihres Schicksals und greift dabei auf ein ihr bekanntes und vielfach eingesetztes Handlungsmuster zurück. Im Vergleich mit den von dieser Figur immer wieder vorgebrachten Klagen, die sie zur Wahrung ihrer Jungfräulichkeit einsetzt und die stets ihr vngefell zum Gegenstand haben, liegt nämlich auch hier die Vermutung nahe, dass Tarsia mit ihrer gezielt eingesetzten Klage ausschließlich die Gunst ihres Gegenübers erlangen möchte.¹⁴¹ Dass es entgegen dieser eigentlichen Intention zur glücklichen Wiederbegegnung mit ihrem Vater kommt, war für keine der Figuren vorhersehbar. Als Ergebnis göttlicher Providenz kennzeichnet der
die Klage Tarsias besonders aussagekräftig: Zum einen übernimmt er die Pluralisierung der angeklagten Instanzen von Gottfried, zum anderen fügt er Tarsias Figureninterpretation hinzu, die finale Lenkung durch Gott unterstellt. Diese ist in den Gesta plausibler, weil die Klage der Figur ausschließlich an diese Instanz adressiert ist, während sie bei Steinhöwel durch die zuvor evozierte Uneindeutigkeit hinsichtlich der verantwortlichen Macht und ihres jeweiligen Kompetenzbereiches die Frage nach den Determinanten des Schicksals erneut virulent werden lässt. Hier wie auch an anderen Stellen zeigt sich somit jene von Terrahe 2013a, 7, betonte Leistung Steinhöwels: Er übersetzt die Vorlagen nicht bloß, „sondern [fügt] beide Quellen […] nach einem speziellem Schema kunstvoll zu einem neuen Ganzen zusammen“. Worstbrock 1995, 39. Vgl. Boethius, Consolatio Philosophiae, 231 f.,V,1,40 – 60, sowie die Ausführungen in Kap. 3.2.3. Vgl. die Klagen Tarsias über ihr vngefell bei den Seeräubern (213,1040 – 213,1043), bei Athanagoras (215,1080 – 215,1092), dem Jüngling (217,1101– 217,1102) sowie die diesbezüglichen Ausführungen weiter unten, Kap. 5.2.2. Zur strukturellen Ähnlichkeit zwischen diesen Klagen und jener bei der Wiederbegegnung vgl. auch Eming 2003, 35.
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Erzähler dieses zufällige Geschehen aber nicht, zumal er die Bedingung für ein Zusammentreffen der Figuren, nämlich die Ankunft von Apolloniusʼ Schiff in Tarsus, gerade nicht als Resultat göttlicher Lenkung inszeniert, sondern anhand jener oben skizzierten Verfahren ambiguisiert. Die Rückführung dieses zufälligen Geschehens auf die Macht Gottes, wie es die boethianische Definition kennzeichnet, wird erneut nur über eine Figurenperspektive sinnfällig gemacht. Auch an dieser Stelle wird der providentielle Horizont somit präsent gehalten, nicht aber eigens im Erzählerdiskurs als Erklärungsmuster aufgerufen. Man mag dies nun als kritische Reflexion der Fragwürdigkeit dieser zeitgenössisch angenommenen Relation von Kontingenz und Providenz verstehen, dies im Sinne einer Marginalisierung Gottes, der zwar für die Figuren, nicht aber für das tatsächliche Geschehen eine Rolle spielt, und dies pointiert durch die Tatsache, dass es sich auf Figurenebene um einen ‚glücklichen‘ Zufall handelt. Zugleich handelt es sich aber hier erneut um ein Verfahren der Ambivalenzgenerierung: Das Geschehen wird als zufälliges inszeniert, göttliche Lenkung vom Erzähler nicht explizit geltend gemacht; diese wird hingegen bloß in der deutenden Perspektive einer Figur aufgerufen, so dass für den finalen Erfolg göttliche Providenz induziert, zugleich in ihrer Aussagekraft aber marginalisiert wird. Im Anschluss an diese, auf Figurenebene als Zeichen göttlicher Gnade interpretierte Begegnung von Vater und Tochter ruft auch der Erzähler gewissermaßen abschließend noch einmal jenen göttlichen Horizont in Erinnerung: So erzählt er von Apolloniusʼ schwäre[m] traum (241,1452), in dem die Wiederbegegnung mit seiner Tochter als Resultat göttlicher Fügung erscheint und in dem eine Handlungsanweisung formuliert wird, die ihn zum Tempel der Diane und damit zu seiner totgeglaubten Frau bringen wird.¹⁴² Ist Gott also doch lenkende Instanz? Findet die Deutung des Geschehens auf Figurenebene ihre finale Bestätigung durch den Erzähler? Mit Blick auf den bloßen Inhalt des Traums könnte man dies bejahen, mit einem solchen auf die narrative Konstruktion kann man auch an dieser Stelle bloß Ambivalenz konstatieren: Der Erzähler gibt zwar eine Stimme wieder, die göttliche Lenkung deklariert und Apollonius nahelegt, das er danckber wer vmb die gütikait, die im got erzaiget, das er sine tochter wider funden hett (241,1452– 241,1454) – diese Stimme bleibt aber ohne Instanz. Es bleibt offen, wem diese Rede zuzuordnen ist.¹⁴³ Die hier scheinbar so deutlich artikulierte
Als er aber des nachtes an sinem bett lag, da kam im für ain schwärer traum, das er danckber wer vmb die gütikait, die im got erzaiget, das er sine tochter wider funden hett, vnd wie er solte faren vor allen dingen in den tempel Epheseorum, ze lob vnd er der göttin Dijane, vor der er och knieend alles sin vngefell von siner kinthait vntz uff die zijt mit lutter stimm erzelen sölt (241,1451– 243,1457). Die Darstellung des Traums in Steinhöwels Fassung unterscheidet sich markant von der in den anderen Versionen: In der spätantiken Historia erscheint Apollonius im Traum eine engel-
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göttliche Regentschaft spielt denn auch in der Folge keine Rolle mehr, der Aufforderung, er solte faren vor allen dingen in den tempel Ephesorum (241,1454– 243,1455), kommt Apollonius auch ohne göttliche Einwirkung nach, er kommt dort einfach an (vgl. 243,1459). Das Resultat einer solchen narrativen Konstruktion, die sich in der gezielten Ausstellung der Konkurrenz schicksalsmächtiger Instanzen manifestiert, ist eine Ambivalenz, die sich weder auflösen, noch als reines Reflexionsprodukt einer kontingenten Wirklichkeit verstehen lässt. Zwar zeichnet sich hier jene Unsicherheit ob der den Weltlauf lenkenden Mächte, wie sie in der Frühen Neuzeit verstärkt ins Bewusstsein tritt, deutlich ab; auch ließe sich in der Gleichzeitigkeit der konkurrierenden Instanzen eine Reflexion der „zunehmend ihre Überschaubarkeit und Geordnetheit verlierenden, also kontingenter werdenden Welt“¹⁴⁴ sowie der in Auflösung begriffenen tradierten Systeme und Orientierungen vermuten. Eine solche metaphysische Verunsicherung wird dabei über die Inszenierung von Konkurrenz reflektiert, die Referenzen auf die Fortuna-Symbolik und die ihr assoziierten Bereiche, insbesondere das Meer, verweisen auf die Vernetzung zu anderen zeitgenössischen Diskursen der Kontingenz und betonen ihre Virulenz auch für den literarischen Text. Zugleich scheint sich auch ein genuin ästhetischer Anspruch zu manifestieren, denn jene interdiskursiven Verflechtungen werden über spezifische narrative Verfahren mit der Inszenierung von göttlicher Providenz kontrastiert, ohne diese Gleichzeitigkeit auf discours- oder histoire-Ebene aufzulösen. Die realgeschichtlich existente metaphysische Verunsicherung wird gewissermaßen auch narrativ erfahrbar. Der Konstatierung von Konkurrenz der schicksalsmächtigen Instanzen auf Handlungsebene korrespondiert nämlich die narrative Konstruktion, die diese Konkurrenz explizit ausstellt. Das Erzählen selbst scheint somit die Möglichkeiten zu reflektieren, wie vngefell in einem göttlichen Kosmos narrativ inszeniert, wie eine Konkurrenz schicksalsmächtiger Instanzen erzählt werden kann. Die Ambivalenz auf narrativer Ebene scheint daher Spiegel des zum erzählerischen Programm erhobenen Verhältnisses von vngefell und göttlicher Lenkung zu sein: Da sich das Verhältnis von Providenz
hafte Gestalt, die ihn auffordert, mit Tochter und Schwiegersohn nach Ephesus zu fahren, dort den Tempel der Diane aufzusuchen und seine Geschichte zu erzählen; einen Hinweis auf die göttliche Gnade bzw. eine Relationierung von Wiederbegegnung und göttlicher Lenkung findet sich hier explizit nicht (vgl. Historia, 172,48,2– 172,48,6). Auch in den Gesta Romanorum erscheint im Traum eine fassbare Instanz, wobei es sich allerdings nicht um eine engelhafte Gestalt, sondern konkreter um einen Engel handelt; auch dieser gibt bloß Anweisungen, ohne jenen göttlichen Horizont explizit zu etablieren (vgl. Gesta Romanorum, 240,710 – 240,713). Bei Gottfried fehlt diese Szene völlig; hier beschließt Apollonius selbst, das Grab seiner Frau zu suchen. Bachorski 1993, 79.
5.2 Apollonius und Tarsia – Ambivalente Figuren, oder: Identität als Performance
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und Kontingenz einer jeden eindeutigen Bestimmung versagt, bedarf es eines ambivalenten Erzählens, um ein vngefell vor dem Horizont einer göttlichen Ordnung überhaupt adäquat erzählen zu können. Der spezifische ästhetische Reiz liegt somit gewissermaßen in der doppelten Konfrontation mit dieser Unbestimmtheit, nämlich sowohl auf inhaltlicher als auch auf narrativer Ebene – ‚ein vngefell erzählen‘ bedeutet im Apollonius demnach, ambivalent zu erzählen.¹⁴⁵ ‚Apolloniusʼ vngefell erzählen‘ bedeutet aber auch, die Figur sich selbst erzählen zu lassen.
5.2 Apollonius und Tarsia – Ambivalente Figuren, oder: Identität als Performance Die Auseinandersetzung mit Kontingenz und ihrem Verhältnis zur göttlichen Ordnung, wie sie sich im Erzählen von Apolloniusʼ vngefell, dessen uneindeutiger Relation zum etablierten providentiellen Horizont sowie in der auf diese Weise narrativ entfalteten Konkurrenz schicksalsmächtiger Instanzen manifestiert, geht im Apollonius-Roman stets mit einer Thematisierung der Rolle des Individuums in einem solchen von Kontingenz und/oder Providenz beherrschten Weltlauf, seiner Selbstmächtigkeit und Identität einher. In der Forschung wurde dieser Zusammenhang von Identität und Krisenerfahrung mehrfach betont und dabei sowohl mit der Annahme einer stärkeren Konturierung der Figuren als Individuen verknüpft, als auch als Indiz für realgeschichtliche Individualisierungsprozesse verstanden. Die spezifische Form der Identitätsthematisierung in Steinhöwels Apollonius unterscheide sich, so etwa Röcke, dabei nicht nur markant von anderen Realisationen des Stoffes und verweise somit auf eine signifikante Umbesetzung, sondern sie sei auch Anzeichen für ein anderes, neuzeitliches Erzählen im Roman.¹⁴⁶ Auch von Ertzdorff, die von einer spezifischen Relation zwischen der jeweils eingesetzten, das Geschehen verantwortenden Instanz und dem Grad der individuellen Konturierung einer Figur ausgeht, weist auf jenen Konnex zwischen dem Ausgeliefertsein der Figuren an unbestimmte Mächte und ihrer
Im Hinblick auf die ästhetisch-literarische Dimension des Steinhöwelʼschen Apollonius müsste dieser Aspekt folglich ergänzt werden. Terrahe 2013a, 97, sieht einen solchen Anspruch in den gereimten Textstellen, in der „Ausstattung des Werkes mit Akrosticha, Pro- und Epilog“ realisiert. Das Erzählen selbst, die auf Ambivalenz zielende narrative Inszenierung aber ist ebenfalls ein genuin ästhetischer Aspekt, der die Literarizität der Erzählung massiv thematisch werden lässt und sich nicht bloß über einen Unterhaltungsaspekt fassen lässt, anhand dessen etwa Terrahe 2015, 279, die fiktionalen und poetischen Anteile der Erzählung zu deuten versucht. Vgl. Röcke 1990, 98.
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Konstitution als Individuen hin: Je stärker ein Geschehen dem Zufall ausgesetzt sei und je weniger eine „personal gedachte Transzendenz“¹⁴⁷ Profil gewinne, desto deutlicher seien die Figuren in ihrem je eigenen Schicksal und ihrer je eigenen Geschichte als einmalig konturiert.¹⁴⁸ Dabei betont sie zwar die Unmöglichkeit der Figuren, das sie ereilende Geschehen subjektiv zu beeinflussen, zugleich deutet sie aber die Behauptung derselben in eben diesem fremdbestimmten Geschehen als Ausweis von Individualität: Der handelnde Mensch ist insofern ‚Objekt‘ einer nur undeutlich oder gar nicht erkennbaren Gewalt, die sein Geschick lenkt, ‚Subjekt‘ indessen und stärker konturiert als Individuum, insofern er unter Aufbietung seiner eigenen Kräfte sich behaupten und seinen Weg durch ‚seine Geschichte‘ gehen muß. Diese ‚seine Geschichte‘ […] konturiert die handelnde und leidende Person als Individuum im noch mittelalterlichen Sinn. In den Romanen des 15. und 16. Jahrhunderts kann daher in diesem Sinn durchaus von Individualität der handelnden Personen gesprochen werden.¹⁴⁹
Da Apollonius sich also in seiner eigenen Geschichte behaupten müsse, die, so von Ertzdorff, wie auch andere Erzählungen des 15. und 16. Jahrhunderts das Ausgeliefertsein „an unbestimmte lenkende Kräfte“¹⁵⁰ deutlich stärker akzentuiere als die hochhöfischen Romane, werde er zu einer nicht durch eine andere Figur substituierbaren individuellen Figur. Auch Röcke beobachtet in Steinhöwels Apollonius eine „stärker individualisierende[] Figurendarstellung“¹⁵¹, deutet dies als Indiz für eine sich verändernde Thematisierung der Dialektik von Einzelnem und Gesellschaft, von Individualität und Kollektivität¹⁵² und führt dies auf die spezifischen Umbesetzungen zurück, die der Roman hinsichtlich der Identität der Figuren vornehme. Im Vergleich zu
Von Ertzdorff 1989, 4. Vgl. von Ertzdorff 1989, 4. Von Ertzdorff 1989, 57. Ausgehend von den Überlegungen Lugowskis definiert sie zwei Arten von Individualität in der Literatur: Zum einen eine Individualität, die sie als ‚innere‘ bezeichnet und die sich vor allem im modernen Roman, nämlich im Entwicklungsroman des 19. und 20. Jahrhunderts, finde (vgl. 5). Zum anderen eine ‚äußere Individualität‘, die sie in Anlehnung an Boethiusʼ Definition folgendermaßen bestimmt: „Angewandt auf die Individualität einer literarischen Figur im mittelalterlichen Roman bedeutet dies, daß sie bestimmt ist durch Herkunft, Aussehen, Eigenschaften und von ihr erzähltem Geschick. Aussehen und Eigenschaften können dabei, im Unterschied zum ‚modernen‘ Individuum-Begriff, idealisiert einheitlich sein; Herkunft und erzählte Begebenheiten indessen konturieren die Figur und machen sie zu einer ‚unteilbaren‘ und nicht gegen eine andere austauschbaren ‚individuellen‘ Person.“ (5) Von Ertzdorff 1989, 57. Röcke 1990, 94. Vgl. Röcke 1990, 94.
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anderen Fassungen erzähle Steinhöwels Roman nämlich von einem Identitätsverlust und den Möglichkeiten ihrer Wiedergewinnung.¹⁵³ Neben dem der Figur zugeschriebenen „Bewußtsein vom Verlust einer alten und vom Gewinn einer neuen Identität“, das für Röcke „ein deutliches Indiz für Individualisierungsprozesse“¹⁵⁴ ist, verweise vor allem auch die sich in der Identitätsgenese manifestierende Veränderung des Individuums auf die Besonderheit der Individualitätskonzeption im frühneuzeitlichen Roman¹⁵⁵. Während Röcke dabei den spezifischen narrativen Umgang mit der Identität der Figuren als Ausdruck eines mentalitätsgeschichtlichen Wandels interpretiert, deutet Bachorski den auch von ihm konstatierten Verlust der Identität, den er nicht nur für den Apollonius, sondern für den spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Liebes- und Reiseroman generell feststellt,¹⁵⁶ zunächst als Reaktion auf außerliterarische, reale Zersetzungsprozesse.¹⁵⁷ Beide Positionen attestieren dem Identitätsverlust dabei also eine besondere Relevanz: Wie Röcke weist Bachorski auf jene Erklärung von Apollonius hin, die er gegenüber dem Fischer artikuliert, und betont „die Bedeutung, die Steinhöwel dem Thema der gestörten Identität zumißt: Vergleicht man die verschiedenen Apollonius-Fassungen, dann findet sich nur bei ihm ein
Vgl. Röcke 1990, 99 f. Ein solcher Verlust der sozialen Identität werde etwa in Apolloniusʼ Äußerung gegenüber jenem Fischer thematisch, auf den er unmittelbar nach seinem Schiffbruch trifft, und in der er weder seinen Namen noch seine Herkunft bzw. königliche Abstammung preisgibt. In Anlehnung an Jauss, nach dem die eigene Individualität über die Erkenntnis der Gebrochenheit des Lebens entdeckt werde, deutet Röcke Apolloniusʼ ‚Entzweiung‘ dabei als Ergebnis der Erfahrung seines Statusverlustes, den er allerdings durch die Versuche, eine neue Identität „durch Tugend und Können zu verdienen“ (100), zu kompensieren versuche. Der erfolgreiche Gewinn einer neuen Identität – Apollonius werde letztlich zwar in seinem alten Status bestätigt, habe sich aber nichtsdestoweniger verändert – resultiere dabei aber nicht nur aus Apolloniusʼ eigener Leistung, sondern sei auch vom Glück und damit von Fortunas Wirken abhängig, die erst bei Steinhöwel als Macht erscheine, die die Figuren nicht nur jage, sondern auch verändere. Röcke 1990, 99 f. Vgl. Röcke 1990, 100. Vgl. Bachorski 1993, 68. Vgl. Bachorski 1993, 68 f. Der literarischen Thematisierung des Identitätsverlustes gehe somit eine realgeschichtliche Verunsicherung hinsichtlich Position und Funktion des Individuums in einer sich gesellschaftlich wie sozial wandelnden Ordnung sowie der Verlust sinnstiftender und normativer Orientierungen voraus: „Von fragiler, bedrohter und verlorener sozialer Identität also erzählen diese Romane, und ich lese dies als eine literarische Reaktion auf die reale Zersetzung des starren ständischen Zusammenhangs, der für die mittelalterliche Gesellschaft kennzeichnend war, im Laufe des späten Mittelalters aber immer mehr in Auflösung überging.“ (68) Der Literatur schreibt Bachorski in diesem Zusammenhang somit eine die Realität abbildende Funktion zu bzw. deutet die spezifische Form der Identitätsthematisierung in jenen Romanen als Hinweis auf die zeitgenössische Identitätsproblematik der literaturtragenden Schichten.
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Held, dem so radikal unsagbar geworden ist, wer er ist.“¹⁵⁸ Neben dem Verlust erzählten die Romane aber zugleich von den Möglichkeiten und Bedingungen, die einst verlorene Identität wiederzugewinnen bzw. eine neue soziale Identität eigenständig auszubilden, wobei sich Individualität im Rahmen dieser Identitätskonstitution definieren ließe als Resultat der besonderen Anstrengungen […], wieder genau das zu werden, was man eigentlich schon ist oder zumindest einmal war, und für diesen Zweck doch Herausforderungen zu bestehen und Wege zu finden, die in den üblichen Verhaltensmustern nicht vorgesehen sind.¹⁵⁹
Dieser Darstellung von Individualisierungsprozessen korrespondiere dabei die narrative Gestaltung der Figuren, sofern sich auch hier eine Individualisierung zeige, die sich insbesondere in der Ausführlichkeit innerer Monologe und der Expressivität der Klagen manifestiere.¹⁶⁰ Im Rahmen solcher Figurenreflexionen würde dabei nicht nur die Identitätsproblematik, sondern auch die Frage nach den schicksalsmächtigen Instanzen und den für das erfahrene Unglück verantwortlichen Mächten immer wieder virulent.¹⁶¹ In diesen figuralen, die eigene Identität und ihren Verlust artikulierenden Reflexionen sowie in der aufgrund der Herausforderungen der Abenteuer notwendigen, eigenständigen Ausbildung einer sozialen Identität zeichnen sich für Bachorski die zentralen Ideologeme der
Bachorski 1993, 69. Bachorski 1993, 70. Laut Bachorski sei die durch den Identitätsverlust entstehende Vereinzelung und Isolation der Helden, jene ‚tabula rasa‘, Prämisse für die Rückgewinnung oder Ausbildung einer personalen und sozialen Identität, die erst dann als Individualität erfahrbar werde. Die einen Identitätsverlust erleidenden Figuren beabsichtigten dabei aber nicht, „irgendeine soziale Identität in einer beliebigen gesellschaftlichen Position auszubilden: Immer geht es ihnen genau um die Identität, die sie vor der Krise, vor dem Eingreifen von Schicksal und Unglück hatten, und das ist die Identität eines adligen Herrschers“ (70). Dieser Aspekt zeige sich im Apollonius in der nur kurzzeitigen Transformation der Apollonius-Figur in jenen Händler, der der hungernden Bevölkerung Korn verkaufen möchte, die aber sogleich rückgängig gemacht wird, sofern Apollonius sich seines eigentlichen Status besinne und das Geld der Bevölkerung zurückgibt. Vgl. Bachorski 1993, 69 ff. Vgl. Bachorski 1993, 71. Dabei ließen sich Ähnlichkeiten zwischen der Verzweiflung über die Widrigkeiten des Schicksals und den Klagen der Liebenden über Trennung oder Verlust des Geliebten beobachten, sofern beide eine zutiefst melancholische Stimmung erzeugten. Melancholie wiederum sei, weniger auf Figuren- als vielmehr auf Erzählebene, allerdings insofern positiv konnotiert, als sie eine Form gesteigerter Selbsterfahrung darstelle und damit die Reflexion über das Individuum besonders ermögliche (vgl. 72 f.). Vgl. zum Aspekt der Melancholie auch 72, Anm. 91, sowie Radmehr 1980, 105 f.
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Gattung ab.¹⁶² Besondere Relevanz misst er dabei dem Erzählen zu: So thematisierten alle Romane nicht nur das Erzählen im Erzählen, das zum Teil auch autoreflexive Züge annehme,¹⁶³ sondern zugleich sei das Erzählen der Figuren über ihr eigenes Schicksal stets Versuch, die eigene Identität zu bewahren: „Erzählen wird so im Liebes- und Reiseroman zum wiederholt erprobten Mittel, personale Identität als ‚Integrität‘ zu bewahren und sich ihrer zu vergewissern.“¹⁶⁴ Gemeinsam ist diesen nur exemplarisch skizzierten Ansätzen somit sowohl die Betonung jenes Zusammenhangs von Identitätskonstitution und Schicksalsschlägen als auch die Annahme einer stärkeren Profilierung der Figuren als Individuen. Die Überlegungen Röckes und Bachorskis ähneln sich darüber hinaus in der Deutung dieser – im Vergleich zu anderen Fassungen veränderten – Figurendarstellung und Identitätsthematisierung als Ausdruck von Individualisierungsprozessen und historischen wie mentalitätsgeschichtlichen Wandelerscheinungen. Während beide dabei der Thematisierung eines Identitätsverlustes, wie sie ihn der Apollonius-Figur zuschreiben, eine in mehrfacher Hinsicht besondere Relevanz attestieren, betont nur Bachorski die zentrale Rolle des Erzählens für die Konstruktion, Wahrung und Vergewisserung der eigenen Identität. Vor allem dieser letzte Aspekt, die These einer Identitätskonstruktion über das Erzählen des eigenen Schicksals, erscheint dabei von besonderer Bedeutung und soll Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sein. Zunächst soll dabei die Behauptung einer stärker individualisierenden Figurengestaltung – auch mit Blick auf die Haltbarkeit ihres postulierten mentalitätsgeschichtlichen Aussagewerts – am Apollonius überprüft werden, um vor diesem Horizont anschließend die These eines Identitätsverlustes mit solchen narrativen Arrangements zu konfrontieren, in denen sich Identität als Inszenierung der Figuren geriert, oder anders: in denen die Figuren weniger einen Identitätsverlust thematisieren, als vielmehr ihre Identität performativ und vor allem narrativ inszenieren. Im Gegensatz zu Bachorskis Annahme, dass „das wiederholte Erzählen ihres Schicksals für die Figuren immer wieder einen neuen Versuch dar[stellt], sich selbst eine unbeschädigte und unveränderbare Identität zu konstruieren“¹⁶⁵, wird das Er-
Vgl. Bachorski 1993, 73. Diese Ideologeme träten dabei aber in Widerspruch zur Erzählstruktur, sofern diese auf einer Unveränderlichkeit der Figuren und ihrer anhaltenden, nicht zur Disposition stehenden Identität beruhe. Durch die Momente der Autoreflexivität werde dabei „eine Verschiebung der Aufmerksamkeit der Rezipienten von der Ebene des Erzählten auf die Ebene des Erzählens vollzogen, also ein Diskurs über die narrative Struktur, ihre Topoi und Konventionen, Verweise und Bedeutungen eröffnet“ (Bachorski 1993, 83). Bachorski 1993, 76. Bachorski 1993, 76. Die Hervorhebung stammt von der Verfasserin.
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zählen der eigenen Geschichte hier vielmehr als Akt begriffen, der auf eine intendierte Wirkung beim intradiegetischen Rezipienten zielt: Es dient weniger der Konstruktion einer eigenen als vielmehr der einer gegenwärtig erforderlichen Identität und damit der Überzeugung der anderen Figuren von eben dieser spezifischen Identität – das Erzählen des eigenen Schicksals, Identität, geriert sich im Apollonius folglich als narrative Performance. Im Rahmen dieser Identitätsperformance bedienen sich die Figuren dabei, so die These, solcher narrativer Verfahren, wie sie – gleichwohl mit Blick auf die Ebene der Erzählung – als ambivalentes Erzählen bestimmt wurden. Es wird somit zu zeigen sein, dass nicht nur die Figuren aufgrund der zu ihrer Konstruktion eingesetzten Erzählverfahren als ambivalent zu bezeichnen sind, sondern dass diese in ihrer Rolle als intradiegetische Erzähler ebenfalls narrative Techniken einsetzen, die analog zu der Gestaltung der Diegese der Ambivalenzerzeugung dienen.
5.2.1 Zur Komplexität der Figuren(gestaltung) In der Forschung wurde Steinhöwels Apollonius-Figur stets als überaus positive wahrgenommen und mit Begriffen wie Klugheit, Vernunft, Affektbeherrschung und Integrität assoziiert.¹⁶⁶ Diese Figurenzeichnung unterscheide sich dabei nicht nur von anderen frühneuhochdeutschen Erzähltexten, sondern auch von anderen Fassungen und Bearbeitungen des Stoffes: So wurde etwa eine Differenz zu Helden anderer Prosaromane – Kohlmeier spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „Paradigmenwechsel“¹⁶⁷ – konstatiert, die sich insbesondere in der Darstellung der Figur als „Prototyp des gebildeten, vernunftgeleiteten Herrschers“¹⁶⁸ manifestiere.¹⁶⁹ Im Hinblick auf die Stofftradition wurde außerdem ein
Vgl. von Ertzdorff 1989, 56; Kohlmeier 2000, 208 ff.; Terrahe 2013a, 27, 66, 82 f. Kohlmeier 2000, 208. Kohlmeier 2000, 208. Diese Stilisierung der Figur zu einem idealen Herrscher unterscheide die Steinhöwel’sche Fassung allerdings nur von anderen Prosaromanen. Im Hinblick auf die Stofftradition verkörpere Apollonius stets ein Herrscher- und Tugendideal. So konstatiert nämlich Terrahe 2013a, 66, zu der Figurendarstellung in der spätantiken Historia: „Der junge König Apollonius wird als Inbegriff des vernunftgeleiteten und unkriegerischen Herrschers dargestellt, der in lebensbedrohlichen Situationen stets rational und mithilfe seiner Bildung nach friedlichen Lösungen sucht.“ Allerdings erhalte bei Steinhöwel der Aspekt des Tugendadels stärkeres Gewicht (vgl. 82; auch Lienert 2001, 174). Vgl. zur Idealität der Figur in einem herrschaftlichen und tugendethischen Sinne auch Röcke 1990, 95 ff. So verdeutliche etwa die von Apollonius im Anschluss an die Nachricht von Antiochusʼ Tod an Archistrates gerichtete Bitte um die Erlaubnis, die ihm nun zustehende Herrschaft antreten zu dürfen, die in anderen Quellen keine Erwähnung findet, die vorbildliche Gesinnung des künftigen
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im Vergleich zu Steinhöwels Vorlagen veränderter Grad der Determiniertheit menschlichen Handelns beobachtet, sofern Apollonius an einigen Stellen der Erzählung, so Kohlmeier, als autonom handelndes Subjekt erscheine.¹⁷⁰ Im Rahmen dieser Überlegungen zur Figurenkonstruktion ist vermehrt auf die Tendenz des Erzählers hingewiesen worden, das Verhalten und Handeln der Figuren sowohl stärker zu motivieren und zu plausibilisieren, als auch deutlicher moralisch zu bewerten.¹⁷¹ Während der letztgenannte Aspekt einer moralisierenden Erzählhaltung häufig mit jenem Erzählerkommentar über das inzestuöse Verlangen von Antiochus belegt wird,¹⁷² zeige sich die stärkere Motivierung und Plausibilisierung des Figurenhandelns zum einen an einer Emotionalisierung des Erzählten,¹⁷³ zum anderen an erklärenden Zusätzen des Erzählers, wie etwa der
Herrschers (vgl. Terrahe 2013a, 83); auch die Gerichtsszene am Ende des Romans weise die Figur als idealen und vollkommenen Herrscher aus, sofern er sich nicht selbst zur richtenden Instanz erhebe, sondern das Urteil und dessen Vollstreckung der Verantwortung der Bürger übertrage. Dabei erweise sich Apollonius gleich zweifach als vorbildlicher Herrscher, wobei auch in diesem Kontext jene sozialhistorische Anbindung des Textes und die Annahme einer engen Verflechtung von Textgestalt und Rezeptionsinteressen greifbar werden: „Zum einen bewahrt er trotz all der durch Strangwilio und seine Frau erlittenen Qualen seine Affektbeherrschung, zum anderen räumt er den Bürgern weitreichende Partizipationsmöglichkeiten ein; ein Herrscher wohl ganz nach dem Geschmack des Stadtbürgertums.“ (Kohlmeier 2000, 211) Vgl. Kohlmeier 2000, 209, Anm. 654. So entscheide er sich beispielsweise im Gegensatz zur Fassung der Gesta Romanorum, in der Gott das Geschehen lenke, selbstständig und bewusst zu einer Flucht vor Antiochus, lasse sich somit selbst in Krisensituationen, wie sie sich in der Aufdeckung des Inzests und der daraus für ihn resultierenden Gefahr manifestierten, nicht von seinen Affekten überwältigen, sondern kalkuliere rational und beherrscht sein weiteres Vorgehen (vgl. 208 f.). Kohlmeier bezieht sich für diese Figurencharakterisierung auf die Gedankenrede der Figur, in deren Rahmen sie nach ihrer Heimkehr über ihre potentielle Verfolgung durch Antiochus räsoniert (vgl. 169,333 – 169,336). Apollonius werde also gerade „nicht von seinen Affekten überwältigt, sondern er plant ganz leidenschaftslos und rein von Vernunft […] bestimmt seine weitere Vorgehensweise“ (208 f.). Auch nach dem Schiffsunglück plane er gezielt und klug seinen erneuten Aufstieg, den er vor allem mithilfe seiner vorbildlichen höfischen Umgangsformen und seiner musischen Fähigkeiten realisiere (vgl. 209 f.). Die Klugheit des Vorgehens der ApolloniusFigur sieht Kohlmeier dabei in deren strategischem Verhalten, wie es sich in der Motivation, das Bad aufzusuchen, realisiere. Erneut bezieht er sich dabei auf eine Gedankenrede der Figur (vgl. 181,538 – 181,539). Dabei entspreche nicht nur das Handeln des Protagonisten einem tugendethischen Ideal, sondern auch die Bewertungen desselben durch andere Figuren referierten auf diesen Horizont des Tugendadels (vgl. etwa Terrahe 2013a, 82; Lienert 2001, 174). Vgl. zum Aspekt einer stärkeren Motivierung des Geschehens, zum Teil auch durch erklärende und moralisierende Erzählerbemerkungen, Melzer 1975, IVf.; Kohlmeier 2000, 206; Terrahe 2013a, 83. Vgl. Melzer 1975, IV; Kohlmeier 2000, 206; Terrahe 2013a, 81. Nach Terrahe 2013a, 81, zeige sich dies bereits in der Darstellung des Inzests, in der „die emotionale Komponente stark in den Vordergrund“ gestellt sei; darüber hinaus ziele auch die
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Erklärung über Antiochusʼ Motive, Apollonius eine Frist zu gewähren, oder aber der Spezifikation der Krankheit Tarsias.¹⁷⁴ Auch diene die Transformation von Erzähler- in Figurenrede dieser Tendenz.¹⁷⁵ Die Plausibilisierung bzw. Motivierung wie auch die oben genannten Besonderheiten der Figurendarstellung werden dabei über folgende narrativen Techniken realisiert: So lässt sich zum einen das Verfahren der Innenwelt- bzw. Bewusstseinsdarstellung als die vom Erzähler für die Charakterisierung der Figuren primär eingesetzte narrative Technik identifizieren; zum anderen erfolgt die Plausibilisierung und Motivierung des Figurenhandelns zumeist über eine stärkere Profilierung des Erzählers hinsichtlich der Kommentierung und Bewertung des Geschehens. Bei diesen Bestimmungen müssen gleichwohl markante Einschränkungen vorgenommen werden: Die der Figurencharakterisierung dienenden Introspektionen sind limitiert, sie werden nur an einzelnen Stellen inseriert, an anderen hingegen verweigert. Die potentielle Teilhabe an der Innenwelt einer Figur lenkt, ähnlich wie im Fortunatus, die Aufmerksamkeit auf solche Szenen, in denen sie gerade nicht gewährt wird. Hinsichtlich der erzählerischen Motivierung und moralischen Bewertung des Geschehens ist darüber hinaus zu beobachten, dass moralisierende und evaluative Kommentare nicht ausschließlich in Erzählerrede erfolgen, sondern zum Teil in Figurenrede ausgelagert sind und in einem solchen Fall in der Regel dazu dienen, ein in ihnen formuliertes Verhaltensideal mit dem gegenwärtigen Handeln von Apollonius zu kontrastieren. Sowohl das Verfahren der Bewusstseinsdarstellung als auch die stärkere Profilierung der Erzählerstimme werden somit höchst selektiv und differenziert eingesetzt und dies mit dem Ziel, insbesondere den Protagonisten der Erzählung als komplexe und im Hinblick auf den stets aufgerufenen moralischen Horizont ambivalente Figur zu zeichnen. Mit Blick auf die eingesetzten narrativen Verfahren lässt sich nämlich gerade keine starre Kontrastierung von positiven und negativen Figuren feststellen, wie es einige Postulate der Forschung nahelegen.¹⁷⁶ Der These einer indivi-
Klagerede nach Apolloniusʼ Schiffbruch sowie der Auftritt am Hof von Archistrates auf eine Emotionalisierung. Vgl. Melzer 1975, V; Klebs 1899, 502. Vgl. Terrahe 2013a, 81, sowie 81, Anm. 92. Hier wird nämlich nicht nur die Eindimensionalität der Figurenzeichnung, sondern auch eine im Vergleich zu den Vorlagen stärkere Kontrastierung von tugend- und lasterhaften Figuren konstatiert: So stellt etwa Terrahe 2013a, 83, fest, „dass Steinhöwel die Priorität auf den Kontrast zwischen Tugend und Laster legt und diese Gegenpole stark pointiert“; dabei intensiviere er die für den jeweiligen Pol in den Quellen vorgegebenen Figurenmerkmale nicht nur, sondern schwäche zugleich diejenigen Elemente ab, die dieser intendierten Figurenzeichnung entgegensteuerten, indem er etwa solche Aspekte tilge, die potentiell eine negative Akzentuierung der Apollonius-Figur bewirken könnten (vgl. 83, Anm. 93). Terrahe führt dies dabei auf Steinhöwels
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dualisierenden, nicht typisierenden Figurengestaltung¹⁷⁷ wäre also ingesamt zuzustimmen. Dies soll im Folgenden anhand der Apollonius-Figur über die Betrachtung einzelner Szenen und der in ihnen eingesetzten Verfahren der Innenweltdarstellung und Erzählerprofilierung genauer erläutert werden. Der Rezipient erhält an einigen Stellen der Erzählung Einblick in das Innere der Apollonius-Figur; Gegenstand dieser Introspektionen sind dabei häufig Reflexionen der Figur über ihr weiteres Vorgehen, in denen die beabsichtigten Handlungen und deren Vor- und Nachteile abgewogen werden. Dabei fällt Apolloniusʼ beständiges Bestreben auf, das künftige Handeln strategisch zu planen, wobei Strategie hier nicht zugleich – wie etwa bei Kohlmeier – einen Rückschluss auf qualitative Charaktereigenschaften wie Klugheit, Vernunftorientierung und Rationalität meint, sondern zunächst ohne wertende Dimension die berechnende Planung des eigenen Vorgehens bezeichnet, die unter Einbezug der potentiell sich ereignenden und das eigene Vorhaben durchkreuzenden Faktoren dazu dient, ein spezifisches Ziel zu erreichen. So ist bereits Apolloniusʼ Reaktion auf die von Antiochus gewährte Frist als taktisches Handeln zu werten, sofern er hier die potentiell zu erwartenden Folgen antizipiert und daraus sein künftiges Vorgehen, nämlich die Flucht, ableitet: ‚[…] Nun ist besser von im geflochen wan gestorben.‘ (169,335 – 169,336). Zwar könnte man mit Kohlmeier hier von einer Unterdrückung des Affekts sprechen, sofern Apollonius der drohenden Gefahr nicht mit Gewalt begegnet, und dies als Indiz für eine nicht mehr von ritterlichem Ethos geleitete rational-vernunftorientierte Figur verstehen,¹⁷⁸ zugleich bedeutet diese Ent-
moraldidaktischen Anspruch und seine Intention zurück, elementare Lehren der christlichen Lebensführung zu vermitteln. Mit den Termini ‚individualisierend‘, ‚individuell‘ und ‚Individualität‘ soll hier kein Bezug zu den mit diesen Begriffen häufig assoziierten, auf einen spezifischen Modernitätsgedanken rekurrierenden Vorstellungskomplexen und Wertungen hergestellt werden, weder im Hinblick auf eine ästhetisch-stilistische Dimension dieser Kategorie im Sinne eines Originalitätsanspruches noch hinsichtlich ihrer historischen Dimension im Sinne einer Entdeckung der Subjektivität. In historisch wie ästhetischer Hinsicht werden sie als Differenzkategorie zum Begriff des ‚Typus‘ verstanden: In Bezug auf ‚historische Individualität‘ wird also von einer Universalität menschlicher Individualität bei divergierender historischer Konkretisierung ausgegangen (vgl. Soeffner 1983, 16; zur universalen und transtemporalen Dimension von Individualität auch Sosna 2003, 27), sofern „kein Einzelner […] mit einem kollektiven Typus identisch [ist] – auch dann nicht, wenn ein Kollektiv und in ihm der Einzelne eine gemeinsame, von allen Mitgliedern geteilte Weltanschauung und Wirklichkeitsordnung hat.“ (Soeffner 1983, 14) Unter einem ästhetischen Gesichtspunkt hingegen ist damit eine spezifische Gestaltungsweise gemeint, in der Figuren komplex, von ihrer rein erzählschematischen Funktion gelöst und von anderen unterscheidbar sind. Vgl. zu diesem letzten Aspekt, der Unterscheidung von Typen und Individuen in der Figurendarstellung, auch Martínez 2011, 147. Vgl. Kohlmeier 2000, 208 f.
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scheidung zur Flucht aber sowohl eine Duldung des zuvor aufgedeckten und vom Erzähler explizit verurteilten Inzests (vgl. 163,211– 163,215) als auch eine Vernachlässigung seiner Herrschaftspflichten, verlässt der gewaltig küng zwaier küngrich (165,271) doch nachts vngesegnet, och on wissen aller siner burger (169,339 – 169,340) sein Königreich. Dieser Missachtung königlicher Pflichten scheint in der Erzählung doch einige Relevanz beigemessen zu werden, denn es wird nicht nur die Reaktion der Bürger auf Apolloniusʼ plötzliches Verschwinden recht ausführlich geschildert, sondern es werden auch solche Eigenschaften seines Volkes besonders hervorgehoben, die Apollonius angesichts seiner Entscheidung zur Flucht offenbar nicht auszeichnen.¹⁷⁹ Zwar wird Apolloniusʼ Handlungsweise plausibilisiert und mit dem Verweis auf seine grossen sorgen (169,314) verständlich gemacht, nichtsdestoweniger dient seine Entscheidung ausschließlich der Realisierung seines Vorhabens und seinem individuellen Wohlergehen. Alle anderen Faktoren, die dies nicht explizit betreffen oder tangieren, blendet er strategisch-kalkuliert aus. Ein ähnlich durchdachtes Handeln der Figur zeigt sich auch in der ersten Begegnung mit Archistrates, die wiederum erst Resultat einer strategischen, auf die bestmögliche Realisierung der eigenen Interessen zielenden Vorgehensweise ist, wobei die diesbezüglichen Reflexionen der Figur erneut über eine Bewusstseinsdarstellung vermittelt werden: Ausgehend von der Überlegung, wie er hilff sines leben finden möchte (181,527), und durch den Ruf des Knaben über das öffentliche Bad informiert, reflektiert er in Form eines Soliloquiums zunächst über die sich nun ergebende Möglichkeit der Kontaktaufnahme – ‚In bedern vnd tabernen lernet man mengin des uolkes erkennen.‘ (181,538 – 181,539) –, um im Anschluss an die Mitteilung über das Erscheinen des Königs die Möglichkeiten zu bedenken, diesen gezielt von seinen Fähigkeiten zu überzeugen: Do sach er her gan den küng Archistrates mit vil siner diener, die ir kürtzwijl triben mit dem bal. Do
So heißt es: Do ain tag verging vnd der her von niemen gesechen ward, süchte sie iren liebn herrn mit trurigem gemüt, aber ward nit gefunden, darumb die stat vnd das gantz land in klag vnd vnmt gesetzt ward. Vnd das sie ir treU vnd libi des gemüttes mit den wercken dester bas erzaigen, liessend sie verbutten, das sich niemen scheren torst, och niemen tantzen, niemen baden noch hochzijt haben. Alle tabernen warn beschlossen, aber die tempel der götter geoffnet, dar in mengclich ging ze bitten, das ir küng Appolonius gefunde wurde (169,340 – 171,347). Man könnte in dem Verbot des Volkes, das auf die hygienischen Maßnahmen wie Rasur und Bad bezogen ist, womöglich eine Anspielung auf den im weiteren Verlauf der Handlung von Apollonius beschlossenen Verzicht, sich Bart, Haare und Nägel zu schneiden, sehen. Ein solcher Verweis diente dann der Analogisierung der von den Untertanen empfundenen Trauer über das Verschwinden ihres Königs mit Apolloniusʼ „selbst auferlegte[n] Buße für den Verlust der Gattin“ (Eming 2003, 34). In beiden Fällen wäre die Entscheidung zur Askese Ergebnis eines Verlustes und zugleich Ausdruck der Hoffnung, das zukünftige Geschehen beeinflussen zu können.
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gedacht der nackend Appolonius ‚Des spiles kennest du dich maijster sin‘ (181,542– 183,545). Auch sein daraus resultierendes Handeln fokussiert nun die Überzeugung des Königs von seinen Qualitäten, ist damit durchaus als Strategie zu bezeichnen: Er lieff dem bal engegen vnd schlg in so subtilclich, das der küng ain besunder uff sechen uff in hett. Er fliesse sich och, das er dem küng mer wann den andren den bal z schlüge […]. Als sie aber in das bad kamen, Appolonius nachet sich z dem küng im zedinen (183,545 – 183,549).
In dieser Szene dient das anhand des Wechsels aus Erzählerrede und Psychonarration dargestellte intentionale und taktische Handeln der Figur folglich auch der Steuerung ihrer Außenwahrnehmung: Apollonius ist bemüht, sich entsprechend zu inszenieren, um eine spezifische Wirkung auf die anderen Figuren, insbesondere den König, zu gewährleisten. Auf diese Weise wird eine höchst komplexe Figureneigenschaft fassbar, nämlich die subjektive Fähigkeit zur Reflexion der Selbstdarstellung und die daraus resultierende Beeinflussung der jeweils intendierten Rezeptionsmodi.¹⁸⁰ Aufgrund der besonderen Akzentuierung dieses Figurenmerkmals in der BadSzene liegt die Vermutung nahe, Apolloniusʼ Handeln – gerade im Kontext seiner beabsichtigten Rehabilitation am Hof von Archistrates – auch in anderen Zusammenhängen als Resultat einer von ihm intendierten spezifischen Rezeptionswirkung zu begreifen. Selbst wenn die in solchen Kontexten inserierten Bewusstseinsdarstellungen dies nicht derart deutlich exemplifizieren wie die genannte Sequenz, stellt sich zumindest die Frage, ob der Erzähler mit den von ihm inserierten Introspektionen nicht auch an anderen Stellen ein derartiges subjektives Bewusstsein der Figur um die Außenwahrnehmung unterstellt, das zuvor als elementare Eigenschaft etabliert wurde. So wäre etwa zu diskutieren, ob Apollonius, soeben vom König mit neuen Kleidern ausgestattet, für den küng so hoflich vnd wolkunend [ging] (183,571– 183,572), um diesen auch nach dem ersten positiven Eindruck im Bad von seinen Qualitäten zu überzeugen.¹⁸¹ Auch wäre zu
Dass diese Form der Selbstinszenierung und die damit intendierte Außenwirkung Erfolg hat, zeigt sich an Archistratesʼ Reaktion: Alsbald aber Archistrates das ersach, do hieß er von im gan all sin diner vnd wolt allain von dem jungling gewaschen vnd gesalbet werden, dar ab er ain gros wolgefallen hett. Als er aber uss dem bad kam, sprach er z sinem hoff gesind ‚Mir ist nie in kainem bad so wol uss gewartet worden als heüt von disem fremden jungling […]‘ (183,549 – 183,553). Die syntaktische Konstruktion dieser Bemerkung lässt nämlich offen, ob die positive Reaktion des Königs auf Apolloniusʼ Erscheinen Folge dieser Inszenierung ist oder aber eine Absicht des Protagonisten bezeichnet: Dar in [in den guten Kleidern] ging er für den küng so hoflich vnd wolkunend, das der küng ain besundern willen z im gewan (183,571– 183,572).
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fragen, ob Apolloniusʼ Verhalten bei Tisch nicht womöglich auch mit dem Wissen um die Wirkung seiner Gesten der Trauer einhergeht, immerhin kann Archistrates diese richtig deuten, und auch Cleopatras Reaktion wendet das Geschehen für Apollonius zum Positiven: Beim Anblick der königlichen Pracht ward er gedencken, was er verloren het in dem mer vnd uß sinem vertriben. Darumb er in sölichen vnmt fiel, das er nit essen mocht vnd ward im sin hopt sincken von truren (183,579 – 185,581). Der Erzähler lässt Archistrates diese Zeichen nun richtig deuten und dabei sogar den Wortlaut von Apolloniusʼ Gedankenrede wiederholen: ‚[…] Diser jungling gedenckt, was er verloren hat, vnd klaget sin vngefell in sinem gemüt, wann er on zwiffel wol gngsame zierd gehaben möchte, in künglichem sal ze sitzen […]‘ (185,587– 185,589). Im Anschluss bekundet auch Cleopatra nicht nur ihr Mitgefühl und Interesse an seinem Schicksal, sondern zieht aus der Apollonius erneut überfallenden Trauer auch die Konsequenz, ihn am Hofe aufzunehmen.¹⁸² Zwar expliziert der Erzähler hier nicht, ob Apollonius sich wie an anderen Stellen der Erzählung im Hinblick auf seine Außenwirkung inszeniert, ein Wissen um die Wirkung seiner Gesten und Gebärden legt er aber zumindest nahe, insofern er ihn nur in dieser Szene bei der Frage nach seinen Erlebnissen in Tränen ausbrechen und ihn am Ende mit scham vnd sünffczen irer gütikait (187,626 – 187,627) danken lässt.¹⁸³ Auch das unmittelbar folgende Geschehen scheint diese Annahme zu bestätigen, denn hier findet sich sowohl eine ganz spezifische Form der Selbstinszenierung, die auch in diesem Kontext auf ein Publikum hin orientiert ist, als auch eine Relativierung der zuvor noch Empathie generierenden Trauer der Figur: So stellt sich Apollonius in seiner Kritik an den musikalischen Fertigkeiten Cleopatras nämlich nicht nur explizit als denjenigen dar, der im Gegensatz zu dieser im Besitz der rechte[n] kunst (187,646) ist, sondern führt diese auch sofort publikumswirksam auf:
So teilt ihm Cleopatra nicht nur ihr Mitgefühl mit (‚[…] din vngefell beschwäret mich.‘ [185,614]), sondern entscheidet im Anschluss an Apolloniusʼ emotionale Reaktion (im wurden sine ogen zächern [185,619 – 187,620]) auch folgendes: ‚Iungling, leghin din truren vnd nim an dich mannes mt. Du solt sin vnser hoffgesind vnd richtum von minem uatter enpfachen.‘ (187,624– 187,626). Unmittelbar nach seinem Schiffbruch im Rahmen seiner Klagen über das ihn ereilende vngefell bittet er den ihm begegnenden Jüngling zwar wainend (179,500) um Erbarmen, scheint ihm aber im gefassten Zustand von seinem soeben erlittenen Unglück zu berichten: Er anwürt im vnd sprach ‚Ich bin nit mer der ich was, mir hat das mer min gt vnd den namen vnd er genomen […]‘ (179,501– 179,503). Terrahe 2013a, 82, sieht in den Veränderungen, die Steinhöwel im Vergleich zu den Gesta vornehme, das „Ziel, Verständnis und Einfühlungsvermögen für die Nöte des Schiffbrüchigen zu vermitteln.“
5.2 Apollonius und Tarsia – Ambivalente Figuren, oder: Identität als Performance
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‚[…] schaff mit diner tochter, das sie mir die harpffen liche, so wil ich dich hören lassen die rechte kunst.‘ Er nam die harpffen vnd stnd uff in frölicher gestalt vnd sang so wol daruff, das der gantz sal dar von erklange, vnd lobet in der küng vnd alles hofgesind übertrefenlich für alle, die sie ije gehöret hetten (187,644– 187,648).
Neben dieser allgemeinen Lobpreisung durch die Anwesenden fällt vor allem Cleopatras Konsequenz aus dieser Darbietung zu Apolloniusʼ Gunsten aus.¹⁸⁴ Bemerkenswert erscheint an dieser Stelle, dass der Erzähler hier keine Apolloniusʼ Handeln plausibilisierende Introspektion ermöglicht, die etwa die Schelte der Königstochter durch eine nähere Erläuterung der Innenwelt des Protagonisten relativiert hätte.Wird man zuvor noch über Emotionen der Figur unterrichtet, wird an dieser Stelle weder der Unmut über den nicht gelungenen musikalischen Vortrag noch der plötzliche Gefühlsumschwung näher motiviert, sondern nur über die direkte Rede der Figur vermittelt. In dieser Szene zeichnet sich somit ein erzählerisches Verfahren ab, das in der Darstellung problematischer oder zumindest kritikwürdiger Verhaltensweisen der Figur¹⁸⁵ auf eine erläuternde Bewusstseinsdarstellung bei gleichzeitigem Einsatz von längeren Sequenzen in direkter Rede verzichtet. Die nur selektive Inserierung plausibilisierender und motivierender Innenweltdarstellungen und deren Kontrastierung mit direkter Figurenrede, die sich auch an weiteren Stellen des Apollonius findet, wirkt sich dabei auf die evaluative Struktur, nämlich die Bewertung der Figuren aus, sofern diese in ihrer Ambivalenz erfahrbar werden.¹⁸⁶ Ein ähnliches narratives Arrangement lässt sich auch in jener Szene beobachten, in der Apollonius Strangwilio um Asyl in Tarsus bittet und der unter einer Hungersnot leidenden Bevölkerung das von ihm geladene Korn zunächst ver-
So bittet Cleopatra ihren Vater nämlich um Folgendes: ‚O aller liebster vatter, ich bitt dich, du wellest mir ginnen das ich disen iungling begabe nach sinen künsten vnd wirdikait.‘ (187,654– 187,655). Nach der Zustimmung desselben beschenkt sie ihn dann auch entsprechend (vgl. 187,656 – 187,658). Als solche kann man Apolloniusʼ Reaktion auf Cleopatras Darbietung sowie die von ihm geäußerte Begründung für sein ausbleibendes Lob (vgl. 187,641– 187,646) durchaus bezeichnen. Während alle Anwesenden nämlich ihren Gesang und ihr Harfenspiel entsprechend würdigen, enthält sich Apollonius als einziger dieser Bewertung: Er schwig vnd saget ir kain lob (187,637). Dies trifft auch auf jene Szenen zu, in denen von Cleopatras vermeintlicher Krankheit, ihrer Wahl des Schiffbrüchigen und der von Archistrates festgesetzten Hochzeit erzählt wird. In dieser gesamten Passage wird die Innenwelt der Apollonius-Figur an keiner Stelle zugänglich gemacht, weder wird eine Gefühlsregung seinerseits thematisiert – sondern über eine direkte Rede eher das Gegenteil betont (‚Nain ich, wann dein er vnd nutz ist mein gefr.‘ [191,728 – 191,729]) –, noch eine Reaktion auf die Entscheidung zur Heirat erwähnt, lediglich einmal wird eine Gemütsregung und mimische Reaktion geschildert (Appolonius erschrak von der geschrifft vnd errotet.[…] Er gab vor scham wenig antwurt [193,741– 193,743]).
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5 Heinrich Steinhöwel: Apollonius
kauft, dann aber schließlich schenkt. Apolloniusʼ Gesuch um verborgene Unterkunft in der Stadt geht eine Innensicht in Form einer Psychonarration voraus, die seine Sorge um sein weiteres Wohlergehen zum Gegenstand hat – Appolonius ging mit trurigem hertzen hin vnd her spaczieren, gedenckend, wie er sich bewaren wölte, vnd sach gegen im gan ein ainen, den er wol erkante (175,415 – 175,417) – und aus der die Bitte an den ob der genannten Not ebenfalls vnmütigen (175,417) Strangwilio erst resultiert: ‚[…] Darumb, Strangwilio, wölt ich geren in eUer stat verborgen ligen. Möcht es gesin?‘ (175,423 – 175,424). Die in der Folge von Strangwilio erläuterte Ausnahmesituation – Tarsus ist nicht nur die ermest vnder allen stetten (175,425), sie leiden auch grosse[n] hunger vnd türin (175,426), die Bürger haben keine Hoffnung und sechen ire künder sterben vor hungers nöten (175,426 – 175,428) – führt bei Apollonius aber nicht etwa zu der Rücknahme seiner Forderung, sondern er funktionalisiert die Hungersnot der Bevölkerung für die eigenen Zwecke, indem er sie zu einer Position in einem Tauschhandel transformiert: ‚So sagend lob vnd danck dem höchsten got, das er mich flichtigen úch zehilff vnd trost gesendet hatt. Wan wöltent ir mich halten verborgenlich in gter ht, so wil ich üwer hungrigen stat zehilff komen mit hundert tusent meß koren.‘ (175,430 – 175,433). Dabei intendiert Apollonius aber nicht etwa bloß ein ‚einfaches‘ Tauschgeschäft, in dem die Gewährung von Asyl mit der Gabe des Korns an die Bevölkerung vergolten würde, sondern eine auch finanzielle Bereicherung, sofern er sich das im Austausch für seine Aufnahme gegebene Korn bezahlen lässt. Zugleich inszeniert er diesen Tausch nicht als einen auf seine Initiative und seine Zwangslage zurückgehenden Handel, sondern als eine auf die Not des Volkes reagierende Tat der Barmherzigkeit, der Dank gebührt und die vor allem eine Gegenleistung erfordert. Dass diese sich in der Ermöglichung des Asyls realisiert, scheint dabei – so suggerieren es seine Worte an das Volk – gewissermaßen nur ein Nebeneffekt zu sein, dessen eigentlichen Nutzen und Intentionalität er völlig marginalisiert: ‚Ir burger von Tharsia, die von hungers nöten betrübet sind vnd nider getrukt vntz in des todes not, merckend was ich úch sag: Ich wil úch uss nötten helffen, darumb das ir der gthait, die ich an úch tn, ingedenck siend vnd min flucht verborgen haltent vnd min leben úch befolchen sie, wann ich doch nit von schulden wegen von Antiocho verschriben bin.Vnd durch úwer hail ich flüchtiger z úch bring hundert tusent meß kornes, die ich úch verkouffe vmb das, als sie in minem land erkoffet sind: ain mes vmb acht schilling.‘ (175, 439 – 175,446).
Apolloniusʼ kalkuliertes, der Ermöglichung des eigenen Ziels dienendes und die Situation der Tarsianer funktionalisierendes Vorgehen kann in diesem Kontext zwar als strategisches Handeln bezeichnet werden, geht aber im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit der zum Erreichen eines Ziels eingesetzten Mittel und den eigentlich intendierten Nutzen, nämlich Schutz vor Verfolgung, deutlich darüber hinaus. Bemerkenswert erscheint, dass Apolloniusʼ Motive, auch finanziellen
5.2 Apollonius und Tarsia – Ambivalente Figuren, oder: Identität als Performance
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Profit zu machen, auch hier nicht eigens erörtert werden, selbst wenn sie zunächst auch ohne Explikation nachvollziehbar erscheinen. Die Erzählung ermöglicht nämlich auch an dieser Stelle keine erläuternde Innensicht in die Figur, die ihr Handeln plausibilisierte, etwa im Sinne einer Begründung der auch wirtschaftlichen Interessen durch einen nur auf diese Weise zu gewährleistenden dauerhaften Schutz o.Ä., und damit zugleich von einer gewissen moralischen Verwerflichkeit entlastete, die sich in der Schilderung der Hilfsbedürftigkeit der Bürger und deren Bereitschaft zur Loyalität durch den Erzähler zumindest andeutet.¹⁸⁷ Auf diese Weise wird der Figur eine Facette verliehen, die nicht mit Begriffen wie Rationalität, Klugheit oder Vernunft zu fassen ist, sondern eher als Berechnung und Kalkül und damit als moralische Ambivalenz zu bezeichnen wäre. Dass diese Dimension der Figur Ergebnis einer bewussten Gestaltung ist, zeigt sich erneut an der nur selektiven Nutzung plausibilisierender Innensichten, die gerade im Kontrast zu Sequenzen in direkter Figurenrede ihre ambiguisierende Wirkung entfaltet. Zwar könnte man mit Röcke und Kohlmeier diese Konstruktion nun als Rekurs auf eine Monetarisierung der Verhältnisse sehen, in dem die zeitgenössische, „allgegenwärtige[] Dominanz geldwirtschaftlicher Beziehungen“¹⁸⁸ reflektiert wird;¹⁸⁹ mit Blick auf die Spezifik der Konstruktion, den Einsatz der narrativen Verfahren und auf das nun folgende Geschehen, in dem sich Apollonius gegen einen Verkauf und für eine Schenkung entscheidet, kann man diese im Ergebnis aber auch als Komplexitätssteigerung einer Figur deuten, die in der Zuschreibung von problematischen Verhaltensweisen sowie einer spezifischen Reflexionsfähigkeit besteht und dabei über einen Wechsel aus Ge-
Zwar findet sich die Schilderung der in der Stadt herrschenden Zustände in einer Figurenrede (vgl. 175,425 – 175,430), in der folgenden Beschreibung der Reaktion der Bürger auf Apolloniusʼ Angebot und der aus Dankbarkeit resultierenden Bereitschaft zu Loyalität weit über den eigentlich geforderten Schutz hinaus in Erzählerrede lässt sich allerdings ein deutlicher Kontrast zu Apolloniusʼ Verhalten beobachten, der an dieser Stelle eine moralische Wertung des Handelns impliziert: Nachdem Strangwilio das Volk von Apolloniusʼ Vorhaben unterrichtet hat, kommt dieses gesamlet für Appolonium. Sie fielen für sin fieß vnd sprachen also ‚O herr Appoloni, du wilt vnsern hunger vertriben. Darumb so wölln wir nit allain din flucht verbergen, sunder, ob es not wurde, für dich strijtten vntz in den tod.‘ (175,434– 175,437). Im Anschluss an Apolloniusʼ Rede, in der er jenes Tauschgeschäft vorschlägt, werden sie wolgemt vnd verschwand in alles ir laid. Z hand ließ er vss messen mengclichem das koren, iederm nach siner notturftt. Des sie danckber waren vnd williclich bezalten, ieder nach dem als er genomen hett (175,447– 175,449). Kohlmeier 2000, 211. Vgl. Kohlmeier 2000, 211 ff.; Röcke 1990, 95 ff., der dies bereits auf die spätantike Fassung bezieht. Ähnlich wie Kohlmeier 2000, 212, sieht Röcke 1990, 96, „in der Metamorphose des König Apollonius zum Fernhändler“ eine Referenz auf den zeitgenössischen ökonomischen Diskurs.
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5 Heinrich Steinhöwel: Apollonius
dankenrede bzw. der partiellen Einschränkung von Introspektion und direkter Rede erzeugt wird. Dass dieses narrative Arrangement eine signifikante Rolle für die Charakterisierung der Figur spielt, zeigt sich unmittelbar im Anschluss, denn über eine nun inserierte als Psychonarration gestaltete Bewusstseinsdarstellung wird Apolloniusʼ Reflexion über seinen soeben getätigten Tauschhandel und seine Entscheidung, den Verkauf rückgängig zu machen, erzählt: Do aber das koren usgeben was, gedacht Appolonius, das koffmanschafft vnd küngliche wirdikait nit zesamen fgtin, wolt er lieber ain milter geber den ain koffman gehaissen werden (175,449 – 177,452). Dabei hat diese Introspektion letztlich genau den Effekt, der zuvor über die Verweigerung einer Innensicht und damit einer Handlungsplausibilisierung erzielt wurde, nämlich eine Ambiguisierung in moralischer Dimension. Im Gegensatz zu Röckes Annahme, der in diesem Räsonnement der Figur die „Positivierung der Geldherrschaft durch Tugend und Klugheit, Geschenktausch und den Verzicht auf individuellen Gewinn“¹⁹⁰ beobachtet, oder zu Bachorskis Überlegung, nach der sich in Apolloniusʼ Distanzierung von einem ökonomisch geleiteten Handeln auch eine Abkehr von einer nicht der Selbstdefinition entsprechenden, aber zur Verfügung stehenden Identität abzeichne,¹⁹¹ konkretisiert sich auch in dieser Reflexion ein rein strategisches Kalkül: Apollonius transformiert den Fernhandel zum Geschenktausch nicht,¹⁹² weil er „die Einwohner der Stadt Tarsus vor dem Hungertod errette[n]“¹⁹³ möchte, sondern weil er seine individuelle Reputation in Gefahr sieht bzw. die Wahrnehmung seiner Person als freigebiger Herrscher gewährleisten möchte. Auch hier manifestiert sich folglich jene bereits erwähnte gezielte Steuerung der Außenwahrnehmung, die Fähigkeit
Röcke 1990, 95. Röcke bezieht diese Deutung zwar zunächst auf die spätantike Fassung, meint aber – und darauf hat auch Kohlmeier 2000, 211, Anm. 661, hingewiesen – die gesamte Erzähltradition; die „allgemeine Monetarisierung“ (Röcke 1990, 95) manifestiere sich dabei aber nicht nur in der genannten Szene, sondern – in negativer Hinsicht – vor allem auch im Hinblick auf „Liebe, Sexualität und Herrschaft“. Laut Röcke zeige sich in Apolloniusʼ Entscheidung, das Geld zu verschenken, eine „Positivierung des Fernhandels zum Geschenktausch“ (96), sofern Apollonius die Bürger vor dem Tod errette. Bachorski 1993, 70, betont, dass sich Apollonius von seiner soeben eingenommenen Rolle als Kaufmann distanzieren müsse, um die Identität wiedererlangen zu können, die er vor seiner Krise hatte. Nur so sei „[d]iese ökonomisch völlig irrationale Handlung“ (70) zu erklären: „Allein in der Rolle des Herrschers mag sich der verschollene und vom Schicksal gebeutelte Apollonius definieren, während eine Selbstdefinition als Kaufmann nur Teil des Unglücks selbst wäre und folglich abgewehrt werden muß.“ Vgl. zur Formulierung Röcke 1990, 95 f. Röcke 1990, 96. Oder – wie Kohlmeier 2000, 212, argumentiert – aus bloßem Verzicht auf individuellen Gewinn.
5.2 Apollonius und Tarsia – Ambivalente Figuren, oder: Identität als Performance
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zur Reflexion und Beeinflussung der die eigene Person betreffenden Rezeptionsweise. Dies ist der Grund für die, wie Bachorski meint, „ökonomisch völlig irrationale Handlung“¹⁹⁴. Die Schenkung des Geldes – denn er gibt es nicht schlicht zurück, sondern er schencket in das gelt, das er vmb das koren empfangen hett (177,453) –, mit der er die Möglichkeit einer Gefährdung seines öffentlichen Ansehens bewusst einschränkt, kann er dabei aber nur deshalb als Akt der Freigebigkeit und Barmherzigkeit inszenieren, weil dieser jene ökonomische Berechnung vorausgeht, vor deren Horizont seine Tat noch edelmütiger erscheint und die retrospektiv beinahe als eine auf genau diese Rezeption seiner Person zielende, arrangierte Handlung erscheint. Seine ursprüngliche Position als ein um Schutz Bittender spielt nämlich in dieser Reflexion ebenso wenig eine Rolle wie die Notlage der Bürger. Dass diese Steuerung der Rezeption seiner Person gelingt, zeigt sich unmittelbar in der Folge, denn die Bürger sind ihm nicht nur überaus gewogen, sondern lassen als Zeichen ihrer Dankbarkeit auch eine steinerne Säule errichten; diese wie auch die ihr beigegebene Inschrift fokussieren dabei genau jene Aspekte, die Apollonius als rezeptionswürdig erachtet und publikumswirksam inszeniert hatte: Darumb das uolk in grossem gunst vnd innerclichen liebi gegen im enzindet ward vnd liessend im howen ain staine sul vnd die stellen mittel an den marckt, vnd dar uff sin bild, das mit der rechten hand das koren ussgab vnd mit dem linggen fß das gelt von im stieß, z ainer ewiger gedächtnuß des gtten, das Appolonius an in getan hett, vnd liessend schriben an den fß der sul ‚Da mit sol begabet sin Appolonius von Tiria, der dise stat von tödlichem hunger erlediget hautt, des wir nümermer vergessen süllen.‘ (177, 453 – 177,460).
Weder Apolloniusʼ ursprüngliches Motiv – nämlich Schutz vor Verfolgung – noch sein anfängliches Interesse an wirtschaftlichem Profit besitzen in der Wahrnehmung seiner Person durch die Einwohner der Stadt irgendeine Relevanz. Auch hier erreicht Apollonius folglich durch strategische Planung und dementsprechende Handlungsschritte sein, gleichwohl erst im Laufe der ‚Verhandlungen‘ entwickeltes, Ziel. Die Inserierung einer Innensicht hat somit – insbesondere im Vergleich zur vorangehenden Unergründlichkeit von Apolloniusʼ Motiven, seinen Tauschhandel nicht als intentional und nutzenmaximierend, sondern als eine reversible Tat der Barmherzigkeit zu inszenieren – an dieser Stelle die Funktion der Komplexitätsgenerierung und dies sowohl im Sinne einer inneren, auf Eigenschaften und Dispositionen der Figur bezogenen Vielschichtigkeit als auch im Hinblick auf den an der Figur entfalteten Reflexionsgrad, sofern auch hier die
Bachorski 1993, 70.
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Fähigkeit zur Selbstinszenierung und zur Kalkulation der intendierten Außenwirkung sichtbar wird. Dieser letzte Aspekt sollte neben der durch die spezifische Figurenzeichnung generierten Ambivalenz des Protagonisten wohl als Ursache der ansonsten „kaum motivierte[n] Episode“¹⁹⁵ gesehen werden. Neben solchen Verfahren der Bewusstseinsdarstellung bzw. ihres nur limitierten Einsatzes dient auch die spezifische Profilierung der kommentierenden und wertenden Erzählerstimme der Charakterisierung der Apollonius-Figur. In diesem Kontext sind, wie erwähnt, vor allem auch solche Passagen von Relevanz, in denen der Erzähler in den Hintergrund tritt und evaluative Standpunkte von Figuren artikulieren lässt. Diese wertenden Kommentare in Figurenrede formulieren dabei in der Regel ein Verhaltensideal, das im Gegensatz zu dem in einer Situation sichtbaren Handeln des Protagonisten steht.Während der Erzähler etwa den von Apollonius nicht erwiderten Gruß an Elemitus noch über den Hinweis auf die Gewohnheiten des mechtigen […] gegen den armen (173,384– 173,385) relativiert, lässt er diesen im Anschluss Kritik an diesem Verhalten üben: ‚Gegrüsset siest, Appoloni! Vnd grüs mich wider umb vnd versmach nit min armt vnd min alter, das von der erberkait vnd gtten sitten her komen ist! Wann wistest du das ich waiß, du wärest bas behütet wann du bist.‘ (173,386 – 173,389). Hier wird die zuvor vom Erzähler geäußerte Sentenz als Position einer Figur formuliert, in der neben der schichtspezifischen auch eine altersbezogene Differenz als Ursache für das zu bemängelnde Verhalten benannt wird, das als solches mit der eigenen erberkait vnd gtten sitten kontrastiert wird. Die Aufforderung zum Gruß und damit zugleich zu untadeligem Verhalten bleibt allerding ohne Erfolg: Apollonius übergeht die Kritik und fokussiert auf den ihn direkt betreffenden Aspekt des mangelnden Wissens (vgl. 173,389 – 173,390). Im Rahmen des nun folgenden Dialogs über das von Antiochus ausgesetzte Kopfgeld teilt Elemitus ihm nicht nur sämtliche relevanten Informationen mit und mahnt ihn zu Vorsicht (vgl. 173,398), sondern artikuliert im Anschluss an Apolloniusʼ in grossem vnmt geäußerten Vorschlag, er werde ihn für die eigene Tötung bezahlen, weitere Verhaltensmaximen, die bei Apollonius aber ebenfalls auf Ignoranz stoßen: So verneint er nicht nur die individuelle Bereicherung durch eine derartige Tat – ‚Das wende der obrost got, das ich vmb söliche sach gold niemen sölle.‘ (173,402– 173,403) –, sondern legt Apollonius, der diese Haltung mit dem Verweis auf die Billigkeit eines solchen Tuns relativiert, auch ein grundsätzliches Tugendideal nahe: ‚Mit miner warnung hab ich trüwe früntschafft erzaigt, die vss rechtem gemüt ainen ursprung haut, vnd lat sich recht liebe vnd früntschafft vmb gold vnd silber nit erkouffen,
Bachorski 1993, 70.
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sonder wirt sie geboren uss ainikait zwaijer gemütt vnd nit uss gaben. Da mit so schaid ich von dir.‘ (173,406 – 173,410).
Apolloniusʼ Verachtung des sozial Unterlegenen sowie seine Unterstellung eines grundsätzlich pekuniären Interesses und der daraus resultierenden Käuflichkeit werden zum Gegenstand der Kritik einer anderen Figur, die dieses Verhalten durch direkten Tadel, die eigene Beispielhaftigkeit und moraldidaktische Sentenzen explizit verurteilt, dabei aber auf Ignoranz und Unbelehrbarkeit stößt.¹⁹⁶ Der Erzähler hingegen tritt nach der anfänglichen – Apolloniusʼ Verhalten relativierenden und plausibilisierenden – Bemerkung in den Hintergrund. Eine ähnliche Zurückhaltung des Erzählers in der Bewertung von Apolloniusʼ Verhaltensweise findet sich in jener erwähnten Szene, in der er Cleopatras musikalischer Darbietung zunächst mit Desinteresse, dann mit Missachtung begegnet. Auch in diesem Kontext wird die Kritik an diesem vnhofflich Verhalten durch eine Figur geäußert: Darumb der küng wider in beweg ward vnd sprach also ‚Appoloni, du tst vnhofflich! Min tochter wir gelobet von mengclichen für die beste in musica vnd allen saitten spilen, vnd du allain schwigest. Da mit du ain schelten erzaigen wilt. Sag mir, ob sie dir nit gefal in irem gesang?‘ (187,637– 187,641).
Der Erzähler kommentiert Apolloniusʼ Verhalten zwar nicht explizit, impliziert aber eine diesem inhärente Problematik durch die Relativierung der von Apollonius an Cleopatra geäußerten Kritik, wenn er erklärt, dass Cleopatra von Apolloniusʼ Fertigkeiten deshalb besonders beeindruckt sei, wan sie das bas verstund wann die andren (187,649 – 187,650). Trotz dieser subtilen Stellungnahme tritt der Erzähler auch an dieser Stelle als wertende Instanz in den Hintergrund. In der Darstellung problematischer Figurenmerkmale wird also nicht nur die Möglichkeit der Introspektion begrenzt, sondern auch die kommentierende Erzählerstimme zurückgenommen. Da die Wertungen des Erzählers für die eva-
Terrahe 2013a, 81, diskutiert diese Szene im Vergleich zu den Gesta Romanorum, postuliert aber fälschlicherweise, dass jene Verhaltensmaxime über die Nicht-Käuflichkeit von Freundschaft von Apollonius geäußert werde: „Ähnlich weicht er bei dem Gespräch zwischen Apollonius und Elemitus (Z. 382– 410) von den Gesta ab: Elemitus hat den König gewarnt, dass Antiochus Geld auf seinen Kopf gesetzt habe, und rät ihm, sich an einen sicheren Ort zu begeben. Apollonius bedankt sich bei Elemitus dafür und überreicht ihm Geld. Diese rein pekuniäre Entlohnung des Freundschaftsdienstes variiert Steinhöwel und legt Apollonius im Gespräch mit Elemitus die Worte in den Mund, dass sich recht liebe vnd früntschafft vmb gold vnd silber nit erkouffen lassen (Z. 408).“ Nur auf diese Weise trifft die von ihr aufgestellte These einer grundsätzlich moralisierenden Tendenz und einer positiven Figurenzeichnung ohne weiteres zu.
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luative Struktur einer Erzählung von größerer Relevanz sind als solche der Figuren, wird die moralisierende Kritik an Apolloniusʼ Verhaltensweise zwar abgeschwächt,¹⁹⁷ nicht aber gänzlich getilgt. Darüber hinaus wird ein Spielraum für Wertungen auf Rezeptionsseite eröffnet. Dies hat – ähnlich wie die nur selektive Bewusstseinsdarstellung – den Effekt, der Figur eine auch problematische Dimension zu verleihen, ohne diese im Gesamtbild dominieren zu lassen; auf subtile Art wird somit eine im Hinblick auf die sie auszeichnenden Eigenschaften komplexe und in der Simultaneität positiver und negativer Eigenschaften ambivalente Figur geschaffen.¹⁹⁸ Letztlich entspricht dies in Ansätzen einer Figurengestaltung, wie sie Gerok-Reiter in schematisierender Weise für ein subjektorientiertes Erzählmodell beschrieben und als konstitutiv für die Darstellung und Thematisierung von Individualität beurteilt hat: Ihr Charakter ist mehrschichtig, kann sogar widersprüchlich sein. Positives und Negatives, gut und böse greifen ineinander. Die Mehrschichtigkeit des Charakters gründet in der Möglichkeit zu subjektiver Entscheidung. Bedingung hierfür ist ein psychischer Innenraum, der Erinnerung, persönliches Verantwortungsbewußtsein und Zeiterfahrung erlaubt.¹⁹⁹
Ohne die mit einer Differenzierung verschiedener Erzählmodelle, wie sie sich in der Kontrastierung von subjekt- und strukturorientiertem Erzählen manifestiert, einhergehenden problematischen Implikationen hinsichtlich der sinnkonstituierenden Leistung von Erzählmustern marginalisieren zu wollen, scheinen sich in der hier festgestellten Figurenzeichnung durchaus Ähnlichkeiten zu dem von ihr beschriebenen Erzähltypus, dessen „komplexeste Ausprägung“²⁰⁰ Gerok-Reiter im Entwicklungsroman des 19. Jahrhunderts verortet, zu zeigen. Auch wenn damit natürlich keine unreflektierte Rückprojektion moderner bzw. neuzeitlicher Erzählkonventionen auf den Apollonius-Roman intendiert ist, lässt sich die Apol-
Vgl. zum Verhältnis von Erzähler- und Figurenrede, Hübner 2003, 169, sowie die Ausführungen in Kap. 3.2.2. Die nur selektive Introspektion und die Verlagerung evaluativer Standpunkte in Figurenrede dienen folglich dazu, den Protagonisten als vielschichtige und ambivalente Figur zu zeichnen. Diese These eines Zusammenhangs von narrativen Verfahren und intendierter Figurendarstellung kann dabei mit Blick auf andere Figurenkonstruktionen erhärtet werden: So zeigt sich etwa in der Darstellung von Antiochus nicht nur ein explizit wertender Erzählerkommentar (vgl. 163,211– 163,215; 163,217– 163,218; 165,248 – 165,252), sondern auch eine die verwerflichen Motive der Figur beleuchtende Bewusstseinsdarstellung (vgl. 165,245 – 165,246), wobei Erzählerrede und Figureninnenwelt hier teilweise überblendet werden. Wird eine Figur somit als eindeutig negativ gezeichnet, werden beide Verfahren uneingeschränkt eingesetzt. Gerok-Reiter 1996, 751. Gerok-Reiter 1996, 751.
5.2 Apollonius und Tarsia – Ambivalente Figuren, oder: Identität als Performance
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lonius-Figur in ihrer Komplexität und aufgrund ihrer sie auszeichnenden Ambivalenz nichtsdestoweniger durchaus als individuell bezeichnen.²⁰¹ Der These einer individualisierenden Figurengestaltung müsste mit den genannten Einschränkungen also bereits im Hinblick auf die narrative Konstruktion und der damit intendierten Komplexität und Ambivalenz zugestimmt werden; sie zeigt sich nicht erst in der Thematisierung eines Identitätsverlustes oder dem den Figuren zugeschriebenen Bewusstsein vom Bruch ihres Selbst,²⁰² der im Folgenden zur Diskussion gestellt werden soll.
5.2.2 Zur narrativen Konstruktion von Identität Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen zur komplexen narrativen Konstruktion der Apollonius-Figur muss die Annahme eines in der Erzählung thematisierten Identitätsverlustes erneut in den Blick geraten. Neben der festgestellten Vielschichtigkeit der Figur scheint vor allem die ihr zugeschriebene Fähigkeit zur Selbstinszenierung und zur Kalkulation und Beeinflussung der intendierten Außenwirkung dieser These zu widersprechen. Die Erzählung zeigt anhand der Apollonius-Figur nämlich weniger den Verlust und Wiedergewinn der Identität²⁰³, sondern vielmehr ihre publikumswirksame narrative Inszenierung.²⁰⁴
Entsprechend des oben erläuterten Begriffsverständnisses meint ‚individuell‘ auch in diesem Kontext die Unterscheidbarkeit der Figur von anderen Figuren der Erzählung aufgrund ihrer komplexen Merkmalsstruktur und damit eine nicht typisierende Figurenzeichnung. Obwohl eine solche für Erzählungen mit stereotypen Handlungsmustern und somit auch für den griechischen Abenteuerroman mittelalterlicher Prägung immer wieder angenommen wird, geht die Konstruktion der Apollonius-Figur über die mit solchen Erzählschemata assoziierte Figurengestaltung hinaus, sofern sie neben ihrer handlungsfunktionalen Rolle durchaus ein eigenständiges Profil gewinnt (vgl. zur Differenzierung von ‚Typen‘ und ‚Individuen‘ Martínez 2011, 147 f.). Diese These lässt sich dabei mit Rekurs auf die von Gerok-Reiter 1996, 751, getroffene Unterscheidung von subjekt- und strukturorientiertem Erzählen untermauern: Blickt man nämlich auf die von ihr formulierten Merkmale eines strukturorientierten Erzählens, zu dem der Apollonius aufgrund seiner Gattungszugehörigkeit und relativ stabiler Erzählstruktur gerechnet werden müsste, fällt auf, dass sich die Figur durch die hier genannten Charakteristiken nicht erfassen lässt: So verkörpert Apollonius nämlich gerade nicht „einen Idealtypus, die Erfüllung einer mustergültigen Norm.“ (751) Auch lässt sich an der Figur nicht jenes „binäre[] Denken“, in dem „Negatives und Positives […] in Opposition [stehen]“ (751), beobachten. Vgl. Röcke 1990, 99 f. Identität wird in diesem Zusammenhang zunächst als Grundmerkmal, als ontogenetische Prämisse menschlicher Existenz begriffen (vgl. Soeffner 1983, 14 ff.; Sosna 2003, 17 f.; Luckmann 1979, 293), deren individuelle Genese sich als Prozess auf der Basis von Interaktion und Kommunikation vollzieht: „Identität ist bedingt durch Interaktion und erwächst in ihr. Sie definiert
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das Verhältnis eines einzelnen zu anderen einzelnen, zu einer Gruppe, zu einer Gemeinschaft. Die Interaktionsgemeinschaft ist immer schon gegeben und mit ihr die Positionen der Individuen in ihr. […] Entstehung von Identität meint die Entstehung des Wissens eines einzelnen um seine Stelle in der Gemeinschaft: Identität ist eine Form des Bewußtseins. Voraussetzung dafür ist, daß ein einzelner so aus sich heraustreten kann, daß er für sich selbst zum Objekt wird und damit auch Distanz zu seiner Umwelt gewinnt.“ (Soeffner 1983, 16) Dabei kann Identität bzw. das Bewusstsein über die eigene Position in einer Gemeinschaft unterschiedlich ausgeprägt sein, wobei man dann von einer ‚organisierten Identität‘ spricht, wenn das Individuum in der Lage ist, sich mit den durch die Gemeinschaft vermittelten Normen, Konventionen und Haltungen zu identifizieren und diese zu internalisieren (vgl. Sosna 2003, 24; Soeffner 1983, 17 f.). Eine solche ‚organisierte Identität‘ wird erst über einen Reflexionsprozess, in dem das Individuum gegenüber sich selbst die Haltung der Gemeinschaft einnimmt und das eigene Verhalten überprüft, und der daran anschließenden „Übernahme der in diesem ‚Selektionsprozess‘ entstandenen eigenen Haltung im Bewußtsein von potentiellen Korrekturmöglichkeiten“ zu einer „bewussten persönlichen Identität.“ (Sosna 2003, 25; vgl. auch Luckmann 1979, 296 ff.) Identitätsbewusstsein meint daher „die Fähigkeit und Möglichkeit von Individuen, aufgrund der gesellschaftlichen Beziehungen zu anderen sich selbst und der eigenen Identität bewußt gegenüber treten und sich bewußt zu sich selbst verhalten zu können.“ (Soeffner 1983, 18; vgl. zur Distanziertheit zum eigenen Selbst auch Luckmann 1979, 96 f.) Die persönliche Identität ist dabei stets sozial dimensioniert, auch wenn die eigene Identität zum Gegenstand einer mehr oder minder bewussten Reflexion werden kann. Persönliche Identität ist somit „eine allgemeine gesellschaftliche Gegebenheit menschlichen Lebens“ (Luckmann 1979, 295), sie ist letztlich erst Resultat der Gesellschaftlichkeit (vgl. 298). Die personale Identität einer literarischen Figur ist dabei natürlich nicht mit der eines Individuums identisch; gleichwohl kann man in einer Figur die fiktionale Realisierung eines je spezifischen Identitätsmodells sehen, sofern ihre Darstellung den Erfahrungs- und Imaginationshorizont „des dahinterstehenden erzählenden Bewußtseins [spiegelt].“ (Sosna 2003, 30) Prämisse der folgenden Überlegungen, die aber nichtsdestoweniger weder eine Rekonstruktion der in der Erzählung womöglich reflektierten zeitgenössischen Identitätsdiskurse noch eine umfassende identitätstheoretische Analyse intendieren, ist dabei also die Annahme, dass die Apollonius-Figur auf fiktionaler Ebene mit jenem persönlichen Identitätsbewusstsein ausgestattet ist, das es ihr ermöglicht, in Distanz zu sich selbst zu treten und die eigenen Haltungen zu reflektieren, obgleich sich dessen persönliche Identität über seine soziale und gesellschaftliche Umwelt, über die Identifizierbarkeit mit einem Kollektiv und über eine solche „mit einem gesellschaftlichen Status“ (Bachorski 1993, 68, Anm. 60) konstituiert (vgl. auch Luckmann 1979, 294; Soeffner 1983, 32 f.). Auf die einzelnen Forschungsdiskussionen, wie sie sich sowohl zu Identität als solcher, der Rolle dieser Kategorie im Mittelalter als auch ihrer Thematisierung in der Literatur finden, wird hier nicht eigens Bezug genommen. Auch wird eine durch den Identitätsdiskurs potentiell mögliche identitätsstiftende Funktion der Literatur nicht eigens erörtert. Einen Überblick über die genannten Aspekte bietet allerdings Sosna 2003, 11– 54. Mit der Annahme einer publikumswirksamen narrativen Inszenierung von Identität gerät die grundsätzliche Bedeutung des Erzählens für die Konstruktion personaler Identität in den Blick, die in der Forschung mehrfach betont wurde. Narrativität gilt dabei als zentrales Struktur- und Organisationsprinzip menschlichen Erlebens und Handelns, sofern Individuen erst über eine Erzählung ihr Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Individuen und zur Umwelt organisierten und sinnhaft deuteten. Dabei würden Handlungen und Ereignisse des Erlebniszusammenhangs, die zwar bereits zeitlich organisiert, ihrem Wesen nach aber pränarrativ seien, in einen zeitlichen
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Das Erzählen des eigenen Schicksals zielt dabei wie auch andere Handlungen von Apollonius auf eine spezifische rezeptionsseitige Wirkung und muss daher als konstitutives Element der oben diskutierten, auf Komplexität zielenden Figurendarstellung gesehen werden. Mit Blick auf Apolloniusʼ Schicksals-Erzählungen zeigt sich nämlich, dass er zwar „auf dem Bruch seiner Identität [insistiert]“²⁰⁵, ihm aber gerade nicht „radikal unsagbar geworden ist, wer er ist“²⁰⁶, scheint er sich einzelner wesentlicher Elemente seines Selbst doch durchaus bewusst zu sein, wie etwa seiner Herkunft, seiner sozialen Rolle und seines gesellschaftlichen Statusʼ. Damit sind aber solche Faktoren benannt, denen man aus heutiger Perspektive eine für die zeitgenössische Identitätskonstitution, für die Ausbildung einer persönlichen Identität²⁰⁷, zentrale Rolle zuschreibt, sofern diese gesell-
Zusammenhang gestellt, der wiederum einer Geschichte gleiche (vgl. Sosna 2003, 28 f.). Das Erlebte werde somit über einen Reflexionsprozess in eine Erzählung transformiert: „Diese Übertragung eines Erlebniszusammenhangs in einen Erzählzusammenhang stellt damit ein grundlegendes Konstruktionsprinzip personaler Identität dar. Aus der Perspektive der Narrativität kommt Identität einer Selbst-Erzählung gleich, in der disparate Erinnerungen vergangener Geschehnisse, aktuelle Überzeugungen und Erfahrungen sowie zukünftige, imaginierte und antizipierte Handlungen miteinander verknüpft werden und in Form der ‚Lebensgeschichte‘ der Integration des menschlichen Lebenslaufs und Erlebens dienen.“ (29) Die eigene ‚Geschichte‘ sei damit genuin narrativer Struktur, ihre Einheit gleiche in Organisation und Aufbau derjenigen einer Erzählung. Ein solches Konzept der ‚narrativen Identität‘ geht mithin davon aus, dass „keine Variante personaler Identität [existiert], die jenseits von Erzählungen zu denken wäre.“ (Klein 2011, 84) Die Konzeption von Identität in fiktionalen Texten, versteht man diese, wie etwa Sosna 2003, 28, „[a]ls Ort des Vollzugs bzw. Nachvollzugs von Identitätsbildung“, entspreche diesem Muster, sofern auch hier ein Erlebnis- in einen Erzählzusammenhang übertragen und pränarratives Erleben in eine strukturierte Erzählung übertragen werde (vgl. 29 f.). Während dies die einer jeden Textgestaltung inhärente Thematisierung von Identität meint – „Literatur als Produkt des Individuums spiegelt dieses gleichzeitig, indem das Identitätsverständnis des erzählenden und organisierenden Bewußtseins über den Fiktionalisierungsprozeß im Text Niederschlag findet“ (30) –, ist mit der These einer narrativen Inszenierung von Identität explizit die Figurenebene der Erzählung und damit gewissermaßen eine doppelte Fiktionalität angesprochen: Nicht nur wird die fiktionale Identität einer Figur entworfen, sondern die Figuren als fiktionale Konstrukte vollziehen jene Transformation eines Erlebnis- in einen Erzählzusammenhang selbst. Es sollen also vor allem solche Szenen in den Blick geraten, in denen diese Übertragung von Erleben in Erzählen von den Figuren vorgenommen wird, sie sich selbst erzählen, auch wenn es gerade die Frage nach der tatsächlichen Relevanz dieser Selbst-Erzählungen für eine Identitätskonstitution ist, die in der Folge kritisch diskutiert werden soll. Vgl. zu dem Zusammenhang von Erzählen und Identitätskonstruktion auch Klein 2011, 83 ff. Röcke 1990, 99. Bachorski 1993, 69. Die, wie Luckmann 1979, 294, betont, „eine Geschichte [hat], die zumindest so alt ist, wie die Geschichte der Gattung homo sapiens, wenn sie nicht vielleicht darüberhinaus zurückreicht.“
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schaftlicher Prägung unterlag, sich über die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv konstituierte und nicht etwa „Ergebnis einer subjektiven Reflexion“²⁰⁸ war. Thomas Luckmann etwa betont, dass Identität […] von gesellschaftlichen Lebensformen geprägt und getragen [wurde]. […] Im größeren Teil der Menschheitsgeschichte war für den überwiegenden Teil der Menschen persönliche Identität […] eine gesellschaftliche Gegebenheit. Das Ich war in seine gesellschaftlich-natürliche Umwelt eingebettet, persönliche Identität wurde sozial hergestellt.²⁰⁹
Sozial-gesellschaftliche Faktoren, die die Identität des individuellen Einzelnen konstituieren, dürften somit in Apolloniusʼ Reflexionen, wollte man in ihnen das Bewusstsein vom Verlust der eigenen Identität sehen, keine Erwähnung finden bzw. müsste gerade ihr Mangel thematisch werden. Für Bachorski, der soziale Identität in ganz ähnlicher Weise als „Identifizierbarkeit [einer Person] mit einem gesellschaftlichen Status“²¹⁰ definiert, konkretisiert sich nun insbesondere in Apolloniusʼ unmittelbar nach seinem Schiffbruch artikulierten Aussage gegenüber dem Fischer ein solcher Identitätsverlust:²¹¹
Luckmann 1979, 294. Luckmann 1979, 294. Vgl. zur Bedeutung des Kollektivs und der Rolle des Einzelnen in nicht funktional ausdifferenzierten Gesellschaften, Soeffner 1983, 32 f. In solchen Gesellschaftstypen wird Identität somit über die Identifikation mit einem gesellschaftlichen Kollektiv hergestellt und definiert, sie ist funktional organisiert und basiert auf einer gesellschaftlich fest geregelten Ordnung. Identität ist unabhängig von ihrer jeweiligen historischen Ausprägung ein interaktionales Phänomen, sie weist stets eine gesellschaftliche Dimension auf: „‚Identität‘ ist nicht primär zu erklären aus den Anstrengungen eines um sich selbst bemühten Subjekts. Sie erwächst vielmehr aus der Interaktion, dem Gemeinschaftshandeln mehrerer Individuen. Sie konstituiert sich durch Interaktion und in ihr: der einzelne erfährt sich (auch affektiv) nicht aus sich selbst heraus […] als einzelner, sondern durch die mit ihm interagierenden anderen. Identität entsteht in einem Spiegelungsprozeß, ist ein Interaktionsprodukt.“ (Soeffner 1983, 22) Auch in nicht funktional ausdifferenzierten Gesellschaften ist dabei aber Individualität erfahrbar: „Subjektivität und Individualität existieren und artikulieren sich hochgradig geregelt, sozial-funktional und deswegen problemlos, lange bevor sich der Jargon der Individualität und Subjektivität entwickelt, der seinerseits Individualität nicht in ihrer Selbstverständlichkeit, sondern als Problem definiert. Ursprünglich stehen die individuellen, sozial unterscheidbaren ‚Charaktere‘ und ‚Typen‘ unmittelbar in der kollektiven Ordnung der Gesellschaft und der Natur. Sie bilden diese Ordnung ab und drücken sie im Reden und Handeln symbolhaft aus. Das geschichtliche Mysterium der Individualität, die sich selbst zum Problem wird, entsteht mit dem Verlust der positional und funktional geregelten Individualität, d. h. mit spezifischen Änderungen der gesellschaftlichen Organisation, mit der Auflösung einer einheitlichen gesellschaftlichen Ordnung“ (32 f.).Vgl. zu ‚Subjektivität‘ als nicht bloß ‚moderne‘ Kategorie auch Baisch et al. 2006. Bachorski 1993, 68, Anm. 60. So auch Röcke 1990, 99.
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‚Ich bin nit mer der ich was, mir hat das mer min gt vnd den namen vnd er genomen. Ich bitt dich du wellest mir ellenden, doch nit von niderm geschlecht geborn, zehilff komen vnd mich wijsen wie ich min leben früsten müg.‘ (179,501– 179,505).
Apollonius betont hier zwar eine Dissonanz zu einem früheren Ich, auch benennt er den Verlust äußerer Reputationszeichen, er identifiziert sich aber weiterhin mit einem sozialen Status: Nicht nur bedeutet der Verlust von gt, namen vnd er, dass er einst im Besitz dieser seine gesellschaftliche Position konstituierenden Faktoren gewesen ist, sie ihn somit nach wie vor prägen, sondern er verdeutlicht mit dem Hinweis auf seine gute Herkunft auch seine fortwährend gute gesellschaftliche Position und damit das Wissen um seinen Status als König.²¹² Wie an allen anderen Stellen der Erzählung, an denen Apollonius eine derartige Selbstbeschreibung artikuliert, findet sich auch hier weder eine plausibilisierende Innensicht noch ein erläuternder Erzählerkommentar, der die mentale Innenwelt der Figur und damit das tatsächliche Ausmaß seiner Identitätsproblematik zugänglich machte. Der Rezipient ist in diesen Szenen damit auf den Wissenstand der Apollonius jeweils begegnenden Figuren beschränkt, mit denen er den in direkter Figurenrede vermittelten Selbstdarstellungen folgt. Im Gegensatz zu Szenen, in denen das Handeln der Figur anhand einer Bewusstseinsdarstellung motiviert wird, ist im Kontext der das erlittene Schicksal thematisierenden Figurenreden ein Nachvollzug der Apollonius leitenden Motive also nicht möglich; Konsequenz dieser Konstruktion ist auch in diesem Zusammenhang der Eindruck eines auf Kalkül basierenden strategischen Figurenhandelns. Dass ihm jenes Wissen um seine soziale Position nämlich gerade nicht abhandengekommen ist, er sich nach wie vor seiner gesellschaftlichen Reputation gewiss ist, zeigt sich explizit im Gespräch mit Cleopatra, in dem er durch die Konstatierung des Verlusts von Name und Adel auf dessen eigentliche Existenz und anhaltende Relevanz für seine Selbstdefinition umso deutlicher hinweist: ‚Fragest du mich nach minem namen? Den han ich in dem mer verloren. Fragest du aber nach minem adel? Den han ich in Tiria gelassen.‘ (185,611– 185,613). Im Anschluss konkretisiert er: ‚So du das wissen wilt, so sag ich dir, das ich nit von nidrem geschlächt geboren bin in Tiria, vnd von vrsach wegen dar uß geschaiden mit grossem gt, das mir alles mit den schiffen in dem mer versuncken ist, vnd bin ich nackender mit grosser arbait uff ainem brett an das gestad komen.‘ (185,615 – 185,619)
Auch wenn er diesen, wie auch seinen Namen, nicht offenbart.
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Diese Selbstbeschreibung, in der sich das Bewusstsein des eigenen Statusʼ, das anhaltende Wissen um die adlige Herkunft und gesellschaftliche Position in lokaler wie materieller Hinsicht konkretisiert, ist nicht Ergebnis eines Identitätsverlustes, sondern macht einen solchen nur zum Thema: Apollonius – und das erscheint als eigentliche Pointe – erzählt hier seinen Identitätsverlust bloß. Er inszeniert sich als adliger, nit von nidrem geschlächt geboren[er], einst mit grossem gt ausgestatteter Schiffbrüchiger, der Namen und Identität in dem mer verloren habe. Er konstruiert hier gewissermaßen eine spezifische Identität, nämlich die eines identitätslosen Schiffbrüchigen – denn auch das (in diesem Kontext gleichwohl nur vermeintliche) Bewusstsein der Identitätslosigkeit ist letztlich nur in Interaktion und nicht aus sich selbst heraus erfahrbar und damit auch als Identität zu bezeichnen –, die von anderen Figuren als die seine wahrgenommen werden soll. Dass es sich dabei sowohl um ein bloßes Konstrukt als auch um ein intendiertes Spiel mit diesem handelt, wird dabei nicht zuletzt in seiner Äußerung gegenüber jenem Überbringer der Mitteilung von Antiochusʼ Tod deutlich, in der er den zuvor inszenierten Verlust seiner Identität selbst konterkariert, konstatiert er auf die Frage, ob er Apollonius kenne, doch: ‚Ja, ich kenn in so wol als mich selber.‘ (195,783 – 195,784) Die Intentionalität der auf eine spezifische Wahrnehmung zielenden Selbstpräsentation zeigt sich darüber hinaus darin, dass Apollonius noch bevor der König ihn nach Namen, Herkunft oder Status fragt, diesem seine Identitätslosigkeit bzw. Identität eines Schiffbrüchigen mitteilen lässt. So lässt er Archistratesʼ Diener wissen: ‚Du sichst, das ich minen lib nit bedecken mag, darumb ich vnwirdig bin zeberüffen über ainen künglichen tisch oder uff den stl der eren zesetzen, wann miner er, gt vnd wirdikait mit dem namen hat mich das mer berobet. Das bit ich dich dem küng zesagen, dar nach tn ich nach sinem gebot.‘ (183,562– 183,567)²¹³
Die Erzählung thematisiert anhand der Apollonius-Figur also weniger die Fragilität, Bedrohung und den Verlust einer sozialen Identität, wie es Bachorski annimmt,²¹⁴ als vielmehr die Möglichkeiten ihrer Inszenierung, und dies auch in
Apollonius erweist sich mit dieser Selbstdarstellung als ein des höfischen Umgangs nicht würdiger Schiffbrüchiger paradoxerweise gerade als ein für diesen höfischen Kontext Prädestinierter. Die eigene Exklusion bewirkt seine Inklusion in die höfische Gesellschaft, sofern er durch diese seine anhaltende Prägung durch höfische Verhaltensnormen signalisiert. Vgl. zu diesem Paradoxon von Inklusion durch Exklusion Schnyder M. 2006, 86, die dies anhand der Scham veranschaulicht. Vgl. Bachorski 1993, 68.
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narrativer Hinsicht. Denn die in variierender Wiederholung immer wieder präsentierten Selbst-Erzählungen, die auf die immer gleichen, auch sprachlich nahezu identisch dargestellten Aspekte referieren, führen letztlich bei den Rezipienten, nämlich Archistrates und Cleopatra, zur gewünschten Wahrnehmung: Obgleich Apollonius sein Inkognito nicht lüftet²¹⁵, wissen sie, wer der jungling ist, und trotzdem identifizieren sie ihn als den, der er vorzugeben scheint, als Schiffbrüchigen nämlich. Die Akzeptanz dieser inszenierten Identität trotz des Wissens um seine Person verdeutlicht zum einen, dass Apolloniusʼ Performance – die seine eigentliche Identität nicht ersetzt, aber eine vorübergehende neue schafft – erfolgreich ist, zum anderen impliziert sie aber auch, dass er noch immer über die ihn einst auszeichnende und gesellschaftlich zugeschriebene Position für andere erkenn- und identifizierbar ist²¹⁶. In der Wahrnehmung der anderen Figuren ist Apollonius somit sowohl der mit diesem Namen assoziierte König als auch der Schiffbrüchige. Diese Gleichzeitigkeit zeigt sich in der Identifikation der Figur mit beiden ‚Identitäten‘, sie nennen ihn nämlich bei seinem Namen und identifizieren ihn als Schiffbrüchigen: So weist Archistrates Cleopatra darauf hin, dass es sich bei dem Jüngling an seinem Tisch um einen Schiffbrüchigen handele (vgl. 185,603 – 185,604), erklärt aber auch, dass er aigenclich wisse, wer er sij (185,605 – 185,606); dementsprechend spricht er ihn in der Folge, nämlich in der Zurechtweisung ob seines Verhaltens gegenüber seiner Tochter, einmalig mit seinem Namen an (vgl. 187,638). Auch Cleopatra kann ihn aufgrund seiner musikalischen Fähigkeiten als Apollonius identifizieren (vgl. 187,650 – 187,653), nennt im Anschluss im Gespräch mit dem Vater auch dessen Namen (vgl. 189,676; 189,684), nutzt aber dessen ‚andere‘ Identität, um ihren Vater von ihren Heiratswünschen zu unterrichten: ‚Aller güttigister uatter, du begerest antwirt von mir, welchen ich haben wöl z ainem man. So du aber die wal z mir setzest, so beger ich des schüffbrüchigen.‘ (191,732– 193,734). Cleopatra setzt dieses von Apollonius inszenierte Spiel mit der Identität gewissermaßen fort und macht die Identitätslosigkeit, die Apollonius über seine Selbstdarstellung als Schiffbrüchiger für sich beansprucht hatte, zu einem charakteristischen Merkmal, das ihn von anderen abhebt und qualifiziert. Zugleich ist die von Apollonius inszenierte Identität zu einem erstrebenswerten Moment, der erlittene Schiffbruch zu einer Qualität geworden, die der Differenzierung gegenüber anderen dient. So gibt einer der Bewerber auf die Frage des Königs, ‚[w]elcher hat vnder úch meres not gelitten […]‘ (193,734– 193,735) vor, selbst eine solche erlitten zu haben: ‚Küng, der bin ich.‘ Vgl. zur Formulierung Röcke 1990, 99. Soeffner 1983, 32, weist darauf hin, dass Individuen in funktional nicht ausdifferenzierten Gesellschaften durch ihre „genau definierte und allen Gesellschaftsmitgliedern vertraute Position und Funktion […] hochgradig individualisiert“ und darin auch für andere unverwechselbar seien.
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(193,736). Während der Verlust von Identität im Rahmen der Werbung um Cleopatra somit zu einer individuellen Auszeichnung transformiert ist, identifiziert sich Apollonius nicht sofort mit dem von ihr genannten schüffbrüchigen, sondern muss erst den von ihr verfassten Brief lesen, um dies zu verstehen; er scheint die als die seine ausgegebene Identität, deren performativen Charakter Cleopatra offenbar durchschaut hat, nicht derart internalisiert zu haben, denn eine unmittelbare Identifizierung mit ihr ist ihm sichtlich nicht möglich. Pointiert wird diese Dissonanz, der Apollonius an dieser Stelle offensichtlich ausgesetzt ist, sowie die Simultaneität seiner Identitäten in der Wahrnehmung der Figuren in der Frage Archistratesʼ: ‚Appolloni, hastu den schiffbrichigen funden?‘ (193,742– 193,743). Auch Cleopatras Äußerung fasst diese doppelte Identität prägnant zusammen: ‚Aller liebster vatter, […] so sag ich dir, das ich kaines beger wann des schüffbrüchigen Appoloni […]‘ (193,752– 193,754). Dass es sich dabei aber um die performative Konstruktion einer nur temporären Identität handelt, zeigt sich, als der Schiffbrüchige Apollonius seine Performance als eben solche entlarvt, indem er seine Selbstpräsentation als Ergebnis einer intendierten Handlung erklärt: ‚Herr vnd uatter, so min glück miner geburt nit glich was, wolt ich dir min wirdikait nit ze wissen tn […]‘ (197,792– 197,793). Er muss sich also – dank der Nachricht von Antiochusʼ Tod – von jener Identität lösen, um seinen ursprünglichen Status in Gänze zu rehabilitieren: ‚[…] So sich aber das gelückrad nun gewendet hat, so tn ich dir kunt, das ich der selb Appolonius bin, den man schet […]‘ (197,793 – 197,794). Trotz dieser Distanzierung von der Identität eines identitätslosen Schiffbrüchigen und der Offenbarung seines eigentlichen Selbst zeigt sich in der Folge aber nicht nur die Persistenz seines Konstrukts, sondern auch dessen Relevanz für seine weitergehende Identifizierung, sofern Apollonius für Cleopatra noch bei ihrer Wiederbegegnung zugleich jenen Schiffbrüchigen verkörpert: ‚[…] so bist du Appolonius Tijrus, min vnd min maister, der mich gelert hautt, du bist min schiffbrüchiger, den ich lieb han gehabt vnd erwelet han […]‘ (245,1497– 245,1498). Im Rahmen dieser Wiedererkennen-Szene wird dabei erneut der Konstruktionscharakter jener inszenierten Identität deutlich, sofern Apollonius in der Rekapitulation seiner Erlebnisse gerade keinen Identitätsverlust mehr behauptet bzw. dieser in der rückblickenden Figurenperspektive keine Rolle mehr spielt, sofern hier nicht mehr auf den Verlust von Namen, Adel oder Ansehen rekurriert wird: ‚[…] Darumb ich flichtig ward vnd verlor uff dem mer als min gt vnd diener vnd schwam nackend uß uff ainem brett vnd kam ellender z dem küng Archistrato […]‘ (243,1474– 243,1476).
5.2 Apollonius und Tarsia – Ambivalente Figuren, oder: Identität als Performance
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Das Erzählen der eigenen Geschichte²¹⁷ als narrative Performance einer spezifischen Identität, wie sie sich in den Äußerungen der Apollonius-Figur manifestiert, kennzeichnet auch die Selbstpräsentationen Tarsias. Auch in ihren Erzählungen über das eigene Schicksal, mit deren Hilfe ihr die Erhaltung ihrer Jungfräulichkeit gelingt, wird Identität als narratives Konstrukt publikumswirksam inszeniert, auch wenn es sich nicht um die Thematisierung eines Identitätsverlustes handelt.²¹⁸ Bachorski hat in den wiederkehrenden Erzählungen der Figur dabei den Versuch gesehen, die eigene, aufgrund der Wirren des Schicksals zur Disposition stehende Identität zu bewahren und sich ihrer zu vergewissern: [D]as wiederholte Erzählen ihres Schicksals [stellt] für die Figuren immer wieder einen neuen Versuch dar, sich selbst eine unbeschädigte und unveränderbare Identität zu konstruieren, sie im Erzählen geradezu zu beschwören. In der Vergegenwärtigung ihrer Vergangenheit vergewissern sie sich ihres Status und zugleich auch – bei aller Verzweiflung – ihrer Zukunft, und sie präsentieren diese Integrität auch den jeweiligen Zuhörern. Eine fast schon magische Form des Erzählens und der Bewahrung / Schaffung von Identität praktiziert dabei Tarsia […]. Erzählen wird so im Liebes- und Reiseroman zum wiederholt erprobten Mittel, personale Identität als ‚Integrität‘ zu bewahren und sich ihrer zu vergewissern.²¹⁹
Tarsias Erzählungen über ihr Schicksal intendieren aber weder eine Selbstvergewisserung und Bewahrung ihrer Identität, noch dienen sie der Schaffung einer solchen im individuellen Sinne. Trotz der grundsätzlich hohen Relevanz, die dem Erzählen sowohl für die Identitätskonstitution als auch für die Vergewisserung des eigenen Selbst zukommt, wird Tarsias Erzählen nicht als individueller Versuch der Identitätswahrung verstanden, sondern als pragmatische Handlung, die der Beeinflussung des eigenen Schicksals dient, und damit als Akt, der auf eine spezifische Wirkung bei einem Publikum zielt: Tarsia erzählt ihre Geschichte, inszeniert eine von Schicksalsschlägen geformte persönliche Identität, mit dem Ziel, Mitleid und Barmherzigkeit bei ihren Rezipienten zu bewirken, um so ihre Jungfräulichkeit bewahren zu können; nur in diesem Sinne – und nicht im Hinblick auf eine Integrität der persönlichen Identität – sind ihre Erzählungen „existentiell notwendige“²²⁰.
Laut Bachorski 1993, 74, übernähmen die Erzählungen der Figuren verschiedene Funktionen im Text: So verlangsamten sie die Erzählzeit sowie den Fortgang der Handlung, vermittelten dem Rezipienten auf diese Weise „ein Gefühl für die quälende Dauer der erzählten Zeit“ und stellten stets eine Verknüpfung zwischen Rahmenhandlung und Abenteuerzeit dar. Sowohl in Apolloniusʼ als auch in Tarsias Erzählungen wird somit deutlich, dass Identität letztlich immer ein Narrativ und damit konstruiert ist. Bachorski 1993, 76. Bachorski 1993, 76 f.
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So kann sie bereits nach ihrer Entführung und mit der erstmaligen Erzählung ihres grosse[n] vngefell[s] (213,1041), das noch in Erzählerrede wiedergegeben wird, die Seeräuber davon abhalten, sich an ihr zu vergehen: Als aber die mer rober Tarsiam genomen hetten in das schiff vnd sie ser wunderten von irer schöne vnd mit vnzimlichem anfechten gegen ir beweget wurden, fiel sie dem patron des schiffes für die fieß vnd erzellet im ir grosses vngefell vnd bat sie, ir barmhertzig ze sin, das ir lib vnuermalget beliben möcht, vnd bezwang sie mit iren vernünftigen worten, das kainer vnder in was, der nit ain mitliden mit ir hette, vnd liessen si vnuermalget (213,1038 – 213,1043).
Schon an dieser Stelle lässt sich somit eine Funktionalisierung des erlittenen Schicksals erkennen, die der Verhinderung weiteren Unglücks dient und die sich in dem gezielten Einsatz von Gesten (Fußfall) und worten konkretisiert; die intendierte Wirkung ihrer Erzählung wird dabei explizit benannt – Barmherzigkeit der Umstehenden und daraus folgende Wahrung ihrer Unberührtheit –, wobei die tatsächliche Reaktion ihrer Rezipienten dieser Erzählabsicht völlig entspricht. Die narrative Darbietung ihrer Erlebnisse scheint für eine Beeinflussung des Geschehens von besonderer Relevanz zu sein, denn die alleinige Bitte um Barmherzigkeit und Gnade ohne entsprechende narrative Performance führt an anderer Stelle gerade nicht zu Erfolg: Obwohl sie jenem Bordellbesitzer ebenfalls für die füß (215,1066) fällt und ihn anfleht, ‚O herr, biß barmhertzig miner künschait vnd laß mich nit gesetzet werden in den schantlichen namen der sünden […]‘ (215,1066 – 215,1068), lässt sich dieser im Gegensatz zu den Seeräubern nicht von seinem Vorhaben abbringen. Scheinbar als Konsequenz aus dieser erfahrenen Notwendigkeit einer entsprechend ausgestalteten Narration ihrer Erlebnisse erzählt sie diese in der Folge nicht nur ausführlich, sondern inszeniert dabei eine durch das erlittene Unglück geprägte, ob der potentiellen Übergriffe der jeweiligen Freier zutiefst gefährdete persönliche Identität, deren Erhalt von dem Erbarmen ihrer Rezipienten abhängig ist. So appelliert sie nicht nur an Athanagorasʼ Tugendhaftigkeit und moralische Integrität, sondern leitet die Erzählung ihrer Erlebnisse mit dem Hinweis auf ihre königliche Abstammung und damit auf ihre soziale Identität ein, die durch die Geburt auf dem Meer, den Verlust der Mutter, den Mordversuch und ihren Verkauf in die Prostitution als bedroht dargestellt wird und deren Erhalt nur durch eine ihr gewährte Selbstbestimmung sichergestellt werden kann: Do Tarsia das ersach, sie fiel im für die füß vnd sprach z im ‚O herr, biß mir barmhertzig vmb den willen des obrosten gottes! Du bist ain künig vnd söllend alle tugend in dir erlüchten. So bit ich dich, du wellest durch die tugent der sterckin dinen bösen glüsten wider stan, vnd hör vor min vngefell, so wirst du mit mir laidig werden. Ich bin küngliches geschlächtes von
5.2 Apollonius und Tarsia – Ambivalente Figuren, oder: Identität als Performance
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vatter vnd mter. Ich bin uff dem mer geboren, min mter starb an dem geberen. Ich ward in dem ellend befolchen zeleren vnd ze neren Strangwilioni, der wolt mich lassen tötten. Do ward ich erlediget von der hand des morders von denen, die mich in diß süntlich leben verkofft hand. O künig, das laß dich erbarmen, wann es ist wol zimlich, das küngklich geschlächt von kunigen geeret werd vnd beschirmet, vnd hilff mir das ich morn als hüt min künschait behalten müg nach minem willen, dar durch dir lob vnd er von aller welt gesprochen wirt.‘ (215,1080 – 215,1092).
Athanagoras reagiert auf diese Erzählung Tarsias ihrer gewünschten Wirkung entsprechend und gesteht ihr die für einen Erhalt ihrer Identität vermeintlich notwendige Autonomie über ihren Körper zu. Dabei sind gleich mehrere Aspekte der in direkter Rede wiedergegebenen Äußerung für das weitere Geschehen von hoher Relevanz: Zum einen rezipiert er die von Tarsia mit der charakteristischen (Gattungs‐)Bezeichnung vngefell klassifizierte Erzählung als eben solches; zum anderen überreicht er ihr Geld und zwar mer wann uff dich gesetzet ist vmb die warck der sünden (217,1095); im Kontext dieser Bezahlung liest sich seine an sie formulierte Bitte, sie möge ihre Keuschheit auch anderen Freiern gegenüber bewahren (vgl. 217,1096 – 217,1097), darüber hinaus als Appell, die – sich soeben als erfolgreich erwiesene – Performance auch in der Folge zweckrational und vor allem finanziell ertragreich einzusetzen. Die von Tarsia gerade nicht mit dem Ziel einer für sie selbst notwendigen Identitätswahrung dargebotene Erzählung stellt ein raffiniertes, publikumswirksames Spiel mit einer gefährdeten Identität, mit ihrem vngefell, dar, das sich nach seiner ersten erfolgreichen Inszenierung zu einem finanziell lohnenswerten Geschäft entwickelt; indem Athanagoras sie bezahlt und ihr nahelegt, ihre Jungfräulichkeit mithilfe ihres vngefell zu erhalten, ebnet er ihren Weg zur „stadtbekannten Entertainerin“²²¹ – Identitätsdiskurs und Entwicklung der Figur zu einer solchen laufen ab hier somit parallel. Dies zeigt sich unmittelbar im Anschluss: Noch bevor sie jenem Jüngling, der sie in der Folge aufsucht und ihr mer geben [wil] als der künig (217,1101), ihre Geschichte erzählt, nimmt sie dessen Geld an sich, um danach die genau gleiche Performance wie zuvor zu präsentieren; die Übereinstimmung der Inszenierungen wird dabei durch die knappe, nur noch in Erzählerrede wiedergegebene Schilderung pointiert – Die iunckfrow nam das gold vnd fiel im für die füß vnd erzelet im ir vngefel, als sie dem künig vor getan hett (217,1101– 217,1102) –, damit in ihrer Relevanz für eine figurale Identitätskonstitution bzw. -wahrung marginalisiert und in ihrer funktionalen Dimension betont. Dass diese mit fortschreitender Anzahl der Rezipienten immer stärkeres Gewicht erhält, wird auch im narrativen discours angezeigt, sofern dieser von einer in
Vgl. zur Bezeichnung Tarsias als Entertainerin etwa Eming 2003, 35.
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direkter Figurenrede präsentierten Erzählung (215,1080 – 215,1092) über eine Erzählerbemerkung (217,1101– 217,1102) hin zu erzählter Figurenwahrnehmung (vgl. 217,1110) schreitet und dabei nicht mehr auf Tarsias Erzählung als solche, sondern nur noch auf deren Wirkung fokussiert: vnd [sie] sachend sie all wainend usgan (217,1110). Am Ende spielt Tarsias Geschichte somit keine Rolle mehr – sie wird nicht einmal mehr erwähnt: Gemäß ihrer pragmatischen und zweckdienlichen Funktionalisierung dominieren der rezeptionsseitige Effekt und finanzielle Ertrag. In der Übergabe des mit ihrer scheinbar gefährdeten Identität eingenommenen Geldes wird Tarsias eigene Beurteilung ihrer Situation thematisch, wobei ihre Äußerung ‚se hin den lon von miner künschait, die ich mit zächeren vnd bett behalten han […]‘ (217,1111– 217,1112) den Grad der performativen Inszenierung und ihre publikumsorientierte Realisierung besonders betont. Angesichts dieser nüchternen Konstatierung der Intentionalität der Identität nur als fiktionales Konstrukt exponierenden Performance verwundert es nicht, dass Tarsia ihre Laufbahn als Entertainerin in der Folge selbst initiiert.²²² Ihre Fähigkeit, das gemüte des uolkes [zu] bewegen (217,1129 – 219,1130), prädestiniert ihren Erfolg in der Öffentlichkeit, wobei das Wissen um diese Kompetenz auch für ihre Selbstpräsentationen unterstellt werden kann.²²³ Nur in diesem Zusammenhang, in der Annahme einer ihre Außenwirkung betreffenden Reflexionsfähigkeit der Figur und ihrer Neigung zu einer spezifischen Selbstinszenierung also, kann ihr späterer ‚Auftritt‘ bei den Bürgern von Tarsus erklärt werden: Apollonius, der Strangwilio und Dionisiades ob ihres Mordversuches vor dem Volk anklagt, lässt Tarsia rufen, um dieses von ihrer Existenz zu überzeugen: Die ging her für vnd sprach mit senffter stimm ,Tarsia die von den toten ufferstanden ist, saget úch allen iren grs.‘ (247,1526 – 247,1527). Diese an ein Schauspiel erinnernde Darbietung der
So ist sie es, die jenem, vom Zuhälter angeheuerten buren vorschlägt, mit ihren Fähigkeiten Geld zu verdienen und diese öffentlichkeitswirksam aufzuführen. Dabei betont sie nicht nur die Vielfalt ihrer Kompetenzen (vgl. 217,1128 – 217,1130), sondern macht auch erst den Vorschlag, diese in der Öffentlichkeit, auf dem Markt nämlich, zu präsentieren (vgl. 219,1131). Dieser ist dabei Resultat der sich als erfolgreich erwiesenen Inszenierung ihrer Identität, deren pragmatische Funktionalisierung sie selbst reflektiert und als Argument für ihren Gelderwerb nennt: Do sprach der gebur ‚So sag an, wie hast du dich rain behalten vor so vil mannen vnd dar z vil geltes gewunnen?‘ Antwirt Tarsia ‚Ich han in allen erzelet min vngefell, so hand sie ain erbärmd mit mir gehäbt. Wil ich dich bitten, du wellest mir och gütig und barmhertzig sin.‘ (217,1121– 217,1125). Mit ihrem Hinweis, das vngefell erzählt zu haben, wird der narrative Charakter ihrer Performance noch einmal besonders hervorgehoben. So heißt es über ihren Auftritt in Erzählerrede: Der gebur […] füret sie mit irem saittenspil an offnen marckt. Da lies sie ir fragen uffbieten vnd verantwirt sie so subtilclich, das mengclich dar ab wundert. Sie sang och so wol uff der harpffen, das grosse mengin des uolkes z höret, dar durch sie vil geltes verdienet, das sie alles irem maister gab (219,1131– 219,1136).
5.2 Apollonius und Tarsia – Ambivalente Figuren, oder: Identität als Performance
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Figur verdeutlicht aufgrund ihrer Entbehrlichkeit – und dies sowohl handlungsstrukturell als auch im Hinblick auf die Figur, deren Selbsterhalt an dieser Stelle obsolet geworden ist – den anhaltenden Status der Figur als Entertainerin, ihre Disposition zur Performance.²²⁴ In den Erzählungen Tarsias ist Identität und insbesondere ihre Gefährdung somit stets ein narratives und letztlich fiktionales Konstrukt, dessen performative Aktualisierung zunächst aus einer individuellen Zwangslage resultiert und erst aufgrund ihres Erfolges und Tarsias spezifischer Fähigkeit zur Selbstinszenierung zu einer Art Geschäftsmodell wird; dies zeigt sich besonders in der Szene der Wiederbegegnung mit Apollonius, in der sie zunächst nicht ihr zuvor stets thematisiertes vngefell, sondern ihre gegenwärtige Lage als eine in ihrer Identität bedrohte Jungfrau, und damit nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern auch den Status quo zum Gegenstand ihres Erzählens macht. Der ursprüngliche Erzählinhalt wird gewissermaßen extensiviert und ihr gegenwärtiger Status als um den Erhalt ihrer Jungfräulichkeit Erzählende zu einem sie auszeichnenden Faktor. So begrüßt sie ihren noch unerkannten Vater nicht nur als ain raine iunckfrow, die ir künschait in grosser anfächtung behalten haut (223,1224– 223,1225), sondern entfaltet in der Folge ausführlich ihre Situation als permanent in ihrer Keuschheit Gefährdete und vom vngevell immerzu Bedrohte, deren Leiderfahrung die des Apollonius deutlich übersteigt.²²⁵ Erst der Misserfolg dieser Performance, der
Diese wird auch in der gesamten Szene der Wiederbegegnung extrapoliert, sofern Tarsia sich als Unterhalterin geriert, die sich entsprechend zu inszenieren weiß. So geht sie kecklich (223,1223) zu Apollonius, grüßt ihn mit senffter stimm (223,1223 – 223,1224) und singt mit einer eben solchen so maisterlich (225,1227– 225,1228) zu der Harfe. Auch lässt sie sich nicht von seinen zum Teil sehr deutlichen Aufforderungen, das Schiff zu verlassen, beeindrucken, sie fährt schlicht fort (vgl. 227,1272– 227,1277; 229,1306 – 229,1309). Die Rätsel, die Tarsia Apollonius stellt, müssen ebenfalls in diesem Zusammenhang bewertet werden, auch wenn ihnen Tomasek 1994, 203, eine letztlich „therapeutische Intention“ unterstellt, sofern sie der Heilung des an Melancholie erkrankten Apollonius dienten. Dem Mediziner Steinhöwel müsse eine solche Heilung mithilfe von Rätseln als „sachgerechte Maßnahme“ (203) erschienen sein: „[W]enn er Apollonius dabei mehrfach in die Strophen Tarsias einstimmen läßt, gelingt es dem Autor, den Eindruck zu vermitteln, daß die junge Frau den gemütskranken Fremden in ein gemeinsames, therapeutisches Singen verwickelt.“ (203) Selbst in dieser Lesart wäre aber das Handeln Tarsias als Akt zu begreifen, der auf eine spezifische Wirkung angelegt ist. Vgl. dazu den in Liedform präsentierten Auftritt Tarsias: ‚Min wesen han ich in dem kat, / Doch vnvermalget blibt min wat. / Das rößlin bij dem dorn stat, / Kan schande es dar von an gat, / Es blibt fin rain nach siner sat. / Also flüch ich der sel vnflat / En mitten in den sünden. / […] Min vngefell sich täglich mert / Je mer vnd mer glück sich verkert, / Der künschait haß mins libs begert. / Mer wil ich dir verkünden: / Verkouffet ward ain blm der florn. / Aint gebott ging uß mit grimen zorn, / Ich solt min künschait han verloren. / Got halff mir uß den nötten. / […] Noch tn ich als das künsch ain horen, / So man es scht zetötten. / Ich stüpff min sinn mit wißhait sporn. / Also t och, herr
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körperliche Angriff von Apollonius, bedingt den Rückgriff auf jene bewährte und publikumswirksame ursprüngliche Erzählung über ihr vngefell; sie rekurriert hier somit auf ein Handlungsmuster, das sich für sie als überaus erfolgreich erwiesen hat und das auch hier gezielt eingesetzt wird, um die Gunst ihres Gegenübers zu erlangen: ‚O trager der himel, wie verlast du mich vnschuldige in so vil kümmernuß vnd trübsälij von an fang miner geburt vntz uff dise stund, das ich rechter fröden nie tailhäfftig worden bin! We mir arme, we minem ellenden uatter, we miner mter! O tod, war umb niemst du mich nit uss disem ellend? Min vngeluckliche geburt ist gewesen uff dem mer, ich bin ain vrsach gewesen des todes miner mter, die min vatter in einem sarch in das mer ließ vnd mocht ir so vil ertrichs nit ze tail werden, das sie begraben wurd. Do ward ich erstgebornes kindlin von minem vatter vntrüwen lütten befolchen in der stat Tarsia, die mich wolten getöt haben durch iren knecht. Doch ward ich von den merroberen von in genomen vnd her gefürt in dise stat vnd verkoffet an offem marckt in das gemein süntlich leben, dar inn ich minen lib künsch vnd rain behalten han. Vnd han dich uß trurigem hertzen getröstet. So hast du mir den lon gegeben des vngefelles. O got, wann sol sich enden min vngemach? Besser wer mir, das ich sturbe oder nie geboren wer! O glückrad, so du alle ding verkerest, warumb wilt du min vngemach nit enden? Was han ich wider dich gesündet, das du mich geleczte von dir sendest? Doch wil ich als min liden in geduld setzen, vntz ich von minem uatter Appolonio laides ergetzet wird, in den ich all min hoffnung gesetzet han.‘ (233,1362– 235,1380).
Die in dieser Klage fassbare und oben bereits analysierte Gleichzeitigkeit bzw. Konkurrenz von Kontingenz und Providenz, die sich in der Identifizierung der ihr Schicksal jeweils autonom beeinflussenden Instanzen mit Gott und dem Glücksrad manifestiert, verweist im Zusammenhang der hier skizzierten Identitätsperformance auf einen weiteren Aspekt, der die narrative Faktur der jeweiligen Inszenierung betrifft: Tarsia und Apollonius werden aufgrund ihrer Fähigkeit zur individuellen Inszenierung und der bewussten Beeinflussung ihrer Außenwahrnehmung nämlich nicht nur zu komplexen und letztlich ambivalenten Figuren, sondern sie bedienen sich in ihren Erzählungen, die entweder eine Gefährdung der persönlichen Identität oder einen Verlust derselben bloß inszenieren, außerdem zum Teil solcher narrativer Verfahren, die sich als ambivalentes Erzählen bestimmen lassen. Denn im Rahmen ihrer Erzählungen pluralisieren auch die Figuren die für ihr Schicksal verantwortlichen Instanzen und evozieren auf diese Weise Uneindeutigkeit hinsichtlich der Bewertung des Geschehens und ein Nebeneinander verschiedener Deutungsmöglichkeiten: So nennt Tarsia etwa in ihrer
ußerkorn. / Haust hüt nit glik, es kompt morn. / Din laid solt du beschniden. / Vff götlich gnad setz din geding, / Mit siner hilff nach fröden ring. / Herr wie min harpff so süß erkling, / Z fröden ich laidiges hertz zwing. / Din gemüt also z got uff schwing, / Der wirt dir wenden misseling, / Din truren gar verkeren.‘ (225,1230 – 225,1262).
5.2 Apollonius und Tarsia – Ambivalente Figuren, oder: Identität als Performance
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Klage nicht nur himel, got und glückrad, ohne diese zu hierarchisieren, sondern referiert mit dem Terminus vngefell, für das die genannten Instanzen verantwortlich gemacht werden, auch auf die mit diesem Begriff im Prolog evozierte Konkurrenz von vngefell und göttlicher Lenkung, so dass die Verantwortlichkeit für ihr Schicksal auch in ihrer Figurenrede ambiguisiert wird. Man kann dieses figurale Erzählverfahren nun insofern als narrative Strategie verstehen, als Tarsia diesen Terminus stets verwendet und damit immerzu auf die mit diesem Begriff assoziierte Unbestimmtheit schicksalsmächtiger Determinanten Bezug nimmt, so etwa in ihrer ersten ausführlich geschilderten Performance vor Athanagoras (vgl. 215,1081– 1092,1084). Da auch die Figur das Verhältnis von Providenz und Kontingenz offenbar nicht eindeutig bestimmen kann – oder wie zu diskutieren sein wird: möchte –, bedarf es auch hier einer spezifischen Erzählform, die somit nicht nur für die Erzählung als solche charakteristisch erscheint. Nicht nur in der Diegese, sondern auch in den intradiegetischen Erzählungen der Figur bedeutet das Erzählen des eigenen vngefells folglich, ambivalent zu erzählen. Eine Spiegelung des zum Erzählprogramm erhobenen unbestimmbaren Verhältnisses von Providenz und Kontingenz findet sich aber nicht nur in den Selbsterzählungen Tarsias, sondern – auf andere Weise – auch in Apolloniusʼ Identitätserzählungen. Analog zu der Erzählung exponieren diese nämlich stets das Meer als einen Raum, der zwar als ein solcher der Kontingenz dargestellt wird, zugleich aber in seinem Verhältnis zur Providenz unbestimmt bleibt. So stellt Apollonius etwa im Gespräch mit jenem Fischer das Meer als eigentlichen, für sein Schicksal verantwortlichen Akteur dar, sofern dieses für den Verlust von Gut, Namen und Ehre verantwortlich ist (vgl. 179,501– 179,503), suggeriert aber mit seiner auf den Appell des Fischers zu späterer Gegenleistung folgenden Äußerung nichtsdestoweniger die Möglichkeit göttlicher Beeinflussung des topischen Kontingenzraums, sofern dieser zum Ort der Sanktion durch Gott werden solle.²²⁶ Bei seiner öffentlichen Offenbarung wird diese Gleichzeitigkeit der Instanzen durch die Nennung des Glückrades noch potenziert, als dessen Umdrehung er das Geschehen nun zu begreifen vorgibt.²²⁷ Mit einer derartigen narrativen Inszenierung des Meeres etabliert auch Apollonius für das ihn betreffende Geschehen einen ambivalenten Bewertungshorizont, der sich wie auch bei Tarsia in der Gleichzeitigkeit von Providenz und Kontingenz manifestiert, was sich nicht zuletzt auch
‚[…] Vnd ob ich din vergesse, so wölle mir got aber meres not vnd schiffbruch z fügen […].‘ (179,519 – 179,520). ‚So sich aber das gelückrad nun gewendet hat, so tn ich dir kunt, das ich der selb Appolonius bin, den man schet […]‘ (197,793 – 197,794).
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an der rezeptionsseitigen Interpretation seiner Erlebnisse als vngefell konkretisiert.²²⁸ Beide Figuren nehmen in ihren Erzählungen somit eine Ambiguisierung hinsichtlich der für ihr jeweiliges Schicksal verantwortlichen Instanzen vor, indem sie sowohl finale Lenkung als auch eine in ihrer Kontingenz gleichwohl unbegreifliche Kausalität unterstellen und damit zwei gegensätzliche potentielle Deutungsmuster nahelegen. Diese Pluralisierung von Instanzen pointiert im Rahmen ihrer jeweiligen Identitätsperformance dabei die Unbegreiflichkeit des Geschehens und führt auf diese Weise zu einer Dramatisierung des erlittenen Schicksals. Das ambivalente Erzählen hat auf Figurenebene somit genuin instrumentellen Charakter, es wird pragmatisch funktionalisiert, um eine gewünschte Rezeptionsweise zu gewährleisten; aus diesem Grund kann es auf intradiegetischer Ebene letztlich als Verfahren der Sympathiesteuerung gewertet werden.²²⁹ Identitätsthematik und Erzählverfahren werden hier folglich unmittelbar verknüpft. Ambivalentes Erzählen hat somit für die Figurendarstellung eine doppelte Funktion: Zum einen dient es – über den Einsatz der oben genannten Verfahren, nämlich der Rücknahme der kommentierenden Erzählerstimme und der nur selektiven Bewusstseinsdarstellung – der Komplexitätssteigerung der Figuren, sofern diese als mehrschichtig und hinsichtlich ihrer Eigenschaften und Verhaltensweisen als ambivalent gezeigt werden. Zum anderen wird es zu einem die Figuren in ihrer Komplexität konstituierenden Merkmal, da es ihnen als narrative Kompetenz zugeschrieben wird, die sich insbesondere in ihrer jeweiligen Identitäts-Performance aktualisiert. Somit wird das ambivalente Erzählen im Apollonius Auch wenn in den Figurenreden von Apollonius der Terminus vngefell selbst nicht fällt, assoziieren die seine Identitätsperformance rezipierenden Figuren die genannte Inszenierung des Meeres mit diesem Begriff (vgl. 185,588; 185,614; 187,622). Indem Archistrates diesen Begriff dann ebenfalls mit einer Unbestimmtheit der lenkenden Instanzen in Verbindung bringt, sofern er auf das gluk rad (185,589) und got (185,592) Bezug nimmt, wird die in Apolloniusʼ Rede suggerierte Gleichzeitigkeit der Instanzen gewissermaßen auf intradiegetischer Rezeptionsseite gespiegelt. Aus diesem Grund zeigt sich etwa in den Figurenreden Tarsias eine unmittelbare Verknüpfung von Erzählinhalt und intendierter Wirkung, die der Erzählung als solcher vorangeschickt wird: So bit ich dich, du wellest durch die tugent der sterckin dinen bösen glüsten wider stan, vnd hör vor min vngefell, so wirst du mit mir laidig werden (215,1082– 215,1084). Athanagoras klassifiziert die von ihr als vngefell bezeichnete Erzählung dann auch als eben solches, so wie auch sein Diener auf Tarsias Erzählintention entsprechend reagiert: ‚O fraw, stand uff! Wir sind auch menschen vnd müssen täglich sölichs vngefells wartend sin.‘ (217,1103 – 217,1104) Vor allem an dieser, aber auch an der Äußerung Athanagorasʼ ‚Din vngefell hat mich beschwäret […]‘ (215,1094) zeigt sich, dass die über eine Pluralisierung der Instanzen vorgenommene Dramatisierung Erfolg zeigt und die rezipierenden Figuren zu Sympathie und sympathetischer Identifikation angeregt werden.
5.3 Die kunst, vom vngefell zu erzählen – poetologische Spiegelungen
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nicht nur für die Gestaltung der Figuren auf dicours-Ebene im Sinne eines ihnen äußerlichen, nur zu ihrer Konstruktion eingesetzten Verfahrens genutzt, sondern auch als ein diese erst konstituierendes Moment inszeniert. In diesem Fall kann man folglich ebenfalls von einer Semantisierung des Erzählverfahrens sprechen, sofern die narrativen Techniken der Figurengestaltung auch intradiegetische Relevanz besitzen. Diese Spiegelung des Erzählverfahrens auf Figurenebene sowie der im Kontext des vngefell-Erzählens häufig begegnende Terminus kunst legen nahe, der ästhetischen Dimension des Romans nachzugehen und ihn auf seinen auch poetologischen Reflexionsgrad zu befragen.
5.3 Die kunst, vom vngefell zu erzählen – poetologische Spiegelungen Das auf eine Dramatisierung des erlittenen Schicksals und damit auf eine sympathetische Identifikation zielende ambivalente Erzählen der Figuren, das sich in einer Pluralisierung schicksalsmächtiger Instanzen konkretisiert, erweist sich auf intradiegetischer Ebene, vor allem auch im Hinblick auf seine rezeptionsseitige Wirkung, als spezifisch narrative Kompetenz. Versteht man diese nun als konstitutives Merkmal der Figuren, was in Anbetracht ihrer bereits analysierten komplexen Eigenschaften plausibel erscheint, liegt es nahe, auch diese Erzählkompetenz als ein Element jener kunst zu verstehen, mit der die Fähigkeiten und Kompetenzen Tarsias und Apolloniusʼ vielfach assoziiert werden. Die Annahme einer Integration dieser Kompetenz in jenes mit kunst bezeichnete Merkmalbündel resultiert aus der Beobachtung, dass die kunst der Figuren in der Regel in solchen Situationen Erwähnung findet, in der entweder eine Hervorhebung ihrer Klugheit intendiert ist oder aber es um eine Inszenierung der Figuren vor einem Publikum geht. Die beiden, auf Figurenebene notwendigen Prämissen für den Einsatz eines ambivalenten Erzählens werden also bereits als kunst gekennzeichnet: So löst Apollonius das Rätsel um Antiochusʼ Inzest durch sin kunst (167,291) und beweist in seiner musikalischen Darbietung, in deren Darstellung auf die spezifische Selbstpräsentation der Figur sowie auf die rezeptionsseitige Wirkung des Auftritts fokussiert wird, die rechte (187,646) und damit auch die Vortrags-kunst;²³⁰ in der Folge bezieht sich nicht nur Cleopatra immerzu auf seine Die Selbstdarstellung der Figur ist vor allem im Kontext ihrer zuvor erzählten öffentlich wahrnehmbaren Trauer bei Tisch bemerkenswert, denn Apollonius nam die harpffen vnd stnd uff in frölicher gestalt vnd sang so wol daruff, das der gantz sal dar von erklange (187,646 – 187,647). Dass Apollonius diesen Auftritt zuvor als rechte kunst (187,646) bezeichnet, macht deutlich, dass kunst auch die spezifische Form der Darbietung meint, die wiederum zu entsprechenden Publi-
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kunst (187,649), sondern diese wird auch zu einem ihn auszeichnenden Merkmal.²³¹ kunst spielt auch in der Charakterisierung Tarsias eine signifikante Rolle: So akzentuiert bereits ihre eigene Beurteilung der sie auszeichnenden Fähigkeiten, ‚[i]ch bin wol geübet uff singen vnd sprechen […]‘ (217,1128 – 217,1129), ihre narrative Kompetenz, die hier zwar noch nicht mit jenem charakteristischen Terminus erfasst, nichtsdestoweniger aber angedeutet und in der Folge auch explizit mit diesem in Verbindung gebracht wird. So appelliert nämlich Athanagoras an sie, all dine kunst (223,1219 – 223,1220) einzusetzen, um Apolloniusʼ Unmut zu beenden; dieser Forderung kommt sie auch nach, indem sie diesem jene Klage über ihr gegenwärtiges vngefell (225,1240) vorträgt, ihre kunst somit narrativ entfaltet. Das Ausmaß dieser Erzähl-kunst wird dann in der Bewertung durch Apollonius pointiert: ‚[…] Dine sinn sind englisch, wann menschlich vernunfft möcht din kunst nit begriffen.‘ (229,1305 – 229,1306). Dieser Vergleich mit einer überirdischen Instanz veranschaulicht insbesondere im Kontext der vorangehenden Selbstpräsentation und Rätselsequenz den Zusammenhang von kunst und Erzählen, macht explizit, was über die Pointierung ihrer jeweiligen narrativen Fähigkeiten im Rahmen ihrer Performances bereits impliziert ist. Man kann in diesen also durchaus die Demonstration ihrer kunst sehen – einer kunst nämlich, die auch im Erzählen von vngefell besteht. Begreift man die narrative Kompetenz der Figuren, das ambivalente Erzählen, folglich als kunst und damit auch in seiner ästhetischen Dimension so wird insbesondere anhand der Erzählungen Tarsias das selbstreflexive Moment der Konstruktion sinnfällig gemacht: Sie zeigt nicht nur, dass ein vngefell die beste und publikumswirksamste Erzählung darstellt, sondern auch, dass ein solches
kumsreaktionen führt: vnd lobet in der küng vnd alles hofgesind übertrefenlich für alle, die sie ije gehöret hetten (187,646 – 187,648). So identifiziert Cleopatra Apollonius als ebensolchen anhand seiner kunst (vgl. 187,650 – 187,653), möchte ihn in der Folge nach sinen künsten begabe[n] (187,655) und artikuliert das Verhältnis von kunst und Lohn auch explizit: ‚Se, aller liebster iungling, nim hin die gab von minem uatter vnd mir, deren du wol wirdig bist von diner künsten wegen.‘ (187,658 – 189,660). In der Bitte Cleopatras an ihren Vater, Apollonius möge ihr Lehrer in musica vnd andren künsten (189,685) sein, sowie in dem darauffolgenden Gesuch an diesen durch Archistrates wird bereits angezeigt, dass kunst offenbar ein Apollonius auszeichnendes stabiles Figurenmerkmal ist: ‚Jungling, min tochter begeret von dir zelernen dine kunst. Ich bitt dich, du wellest sie vnder wijsen vnd leren nach dinem vermügen alles, das du kanst […]‘ (189,686 – 189,688). Eine implizite Gleichsetzung von Apollonius und kunst findet sich dann in der Äußerung Archistratesʼ, der die Bewerber um Cleopatras Hand wissen lässt, dass diese von grossem willen vnd inbrünstiger liebij, die sie z den künsten hat, […] kranck worden [ist] (191,715 – 191,716). Da Cleopatra aufgrund ihrer zunächst unerwiderten Liebe zu Apollonius erkrankt, erfasst dieser Verweis auf die künste, die hier paradigmatisch für Apollonius stehen, die Problematik im Kern.
5.3 Die kunst, vom vngefell zu erzählen – poetologische Spiegelungen
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nur über Formen eines ambivalenten Erzählens adäquat inszeniert werden kann, sofern der rezeptionsseitige Erfolg ihrer jeweiligen Performance aus der über die Pluralisierung von Instanzen generierten Kontingenz und daraus erfolgenden Spannungserzeugung sowie Sympathiegewinnung resultiert. Indem die Erzählungen dabei stets die zentralen, wenn auch nur für die Figur relevanten Ereignisse der histoire perspektivisch rekapitulieren, und dabei auf ihrer discoursEbene genau die narrativen Verfahren aufgreifen, die im discours der extradiegetischen Erzählung eingesetzt sind, gerieren sie sich letztlich nicht nur als partielle, den jeweiligen Erzählstrang beinhaltende Kurzfassungen des Romans²³², sondern reflektieren die Erzählung auch im Hinblick auf die eingesetzten narrativen Verfahren. Die Erzählungen Tarsias spiegeln somit en miniature die Erzählung als solche: Dies zeigt sich nicht zuletzt in der zentralen Erzählabsicht und ihrer jeweiligen Realisierung, sofern beide Erzähler, der hetero- wie der homodiegetische, intendieren, ein vngefell zu erzählen, und sich dabei jener Verfahren der Ambivalenzerzeugung bedienen. Gerade im Hinblick auf den Erzähler muss also eine über die im Prolog artikulierte Erzählabsicht hinausgehende Profilierung konstatiert werden, scheint sein Erzählen doch in poetischer Hinsicht eine rein didaktische und moralische Funktion weit zu übersteigen – trotz postulierter eigener Kunstlosigkeit. Die Spiegelung der Erzählung in der Erzählung legt nämlich nahe, auch den Erzählerdiskurs als kunst, als spezifische narrative Kompetenz aufzufassen, der auf eine besondere Wirkung bei seinen Rezipienten zielt – die Klage des Prologs, an kúnsten hol (153,8) zu sein, scheint also gerade nicht zuzutreffen. Versteht man Tarsias Erzählungen als paradigmatisch für die Im Anschluss an Cleopatras vermeintlichen Tod findet in struktureller Hinsicht eine Vervielfältigung der Erzählstränge statt, sofern das Geschehen an drei verschiedenen Orten prinzipiell als parallel ablaufend gedacht werden muss. Nach der Bergung von Cleopatras Sarg, ihrer Wiederbelebung und ihrer Entscheidung, fortan im Tempel zu leben, schwenkt die Erzählung zu Apollonius über, dessen Entschluss, seine Tochter in Tarsus zu lassen, berichtet wird, um danach das Geschehen um Tarsia ausführlich zu erzählen. Während der Erzählstrang um Cleopatra erst mit Apolloniusʼ Ankunft im Diane-Tempel wieder aufgenommen wird, werden die der beiden anderen Figuren bereits mit Apolloniusʼ Eintreffen in Tarsus zusammengeführt. Tarsia fokussiert in ihrer Erzählung zwar nur auf die zentralen, ihr bekannten Ereignisse der histoire und lässt solche Elemente, über die sie nicht informiert ist – wie etwa das Inzestgeschehen, Apolloniusʼ Schiffsunglück und Aufenthalt am Hof von Archistrates – aus, nichtsdestoweniger rekapitulieren ihre Erzählungen die in ihrem Erzählstrang relevanten Episoden und spiegeln damit die sie betreffende Geschichte, die sie mit dem Hinweis auf ihre königliche Abstammung beginnt und im Anschluss ihre Geburt auf dem Meer, den Tod ihrer Mutter, den Mordversuch der Pflegeeltern, ihre Entführung und ihren Verkauf in das süntlich leben (215,1088) erzählt. Diese Kurzfassung ‚ihres‘ Romans ist dabei zugleich elementarer Bestandteil der Gesamterzählung und übernimmt eine handlungsstrukturelle Funktion. Die Spiegelung der Erzählung in der Erzählung ist somit auch von intradiegetischer Relevanz.
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kunst, von einem vngefell zu erzählen, wäre auch ihr extradiegetisches Pendant letztlich als ein raffiniertes, publikumswirksames Spiel zu bezeichnen.²³³ Die erst dem Erstdruck von 1471 hinzugefügte Vorrede (vgl. Terrahe 2013a, 13; 31), die in Gestalt einer Selbstdarstellung erscheint und mit Reimform und Akrostichon in formaler Hinsicht „herkömmliche Mittel anspruchsvoller Repräsentation“ (Weinmayer 1982, 92) nutzt, beginnt mit der Schilderung der Lebenssituation eines Mannes, der noch keine produktive Leistung erbracht hat, so dass der Eindruck seiner literarischen Unvollkommenheit vermittelt wird: HEtt ichs geton / zaigt sumnus haß / Ain rapp singt all zeit cras cras cras / In slichem gsang han ich gelept / Nun vnd viertzig iar in hoffnung gswebt / Rúwiger der vergangen zeitt / Ich gedacht allweg bis morn beitt / Cumst du dannocht zelernen wol / Vß dem bleib ich an kúnsten hol / So ich nun ze alter komen bin / Stt brucht ich gern hertz mt vnd sin / Tugent zelernen frúnd zemachen / Aber mein sinn wllen mir schwachen / In arbait mag ich nit gduren / Nun mß ich vmb verganges truren (153,1– 153,14). Diese selbstkritische Haltung und die Klage um die verlorene Lebenszeit – pointiert durch den Verweis auf den Gesang des Raben, der als Maxime des bisherigen Lebens galt – verdichten sich also zu einer Aussage über die eigene literarische Inkompetenz. Der in der Folge hergestellte typologische Bezug zu Ruth der Ährensammlerin (vgl. 153,15 – 153,18) transformiert dieses Eingeständnis dichterischer Unvollkommenheit zu einem erzählerischen Prinzip, die „Einsicht in die eigene Kunstlosigkeit [wird] zum Prinzip seiner literarischen Praxis“ (Weinmayer 1982, 94). Diese Kunstlosigkeit konkretisiert sich in dem Verzicht auf ein [e]igen gedicht, was zeschwer [wer] (153,19) und auf hohe[] zierd (153,23). Intention ist die Übersetzung, die aber ebenfalls kunstlos sei: Latin zetútschen ist min ger / Leichtenklich nach schlechtem synne (153,20 – 153,21). Dieses Eingeständnis in die eigene poetische Kunstlosigkeit korrespondiert aber mit einem explizit didaktischen Anspruch: Wann gtte main han ich dar inn / Iugent zeuͤbent vnd ir synn / Lieb zehaben alt geschicht / Dar jnn man fint der wißhait dicht / Och annder ler exempel gt (153,25 – 153,29). Weinmayer 1982, 94, hat darauf hingewiesen, dass Steinhöwel mit dieser Vorrede an der Tradition anderer literarisch Versierter partizipiere, der Verzicht auf Ornat in seiner Rolle als Übersetzer begründet liege und er deshalb gerade nicht „auf den Weg literarischer Perfektion gedrängt werden, sondern, von formalem Anspruchsdruck entlastet, frei sein [will] zum Dienst an der Tradition.“ Sein Anspruch auf moralische Belehrung, seine pädagogische Absicht, sei dabei mit formaler Meisterschaft unvereinbar (vgl. 94 f.). Sie wertet die Profilierung in der Vorrede dabei als Versuch Steinhöwels, sich in der zeitgenössischen literarischen Szene zu etablieren: Zwar handle es sich beim Apollonius-Roman um ein mit Hartliebs Alexander vergleichbares Historienbuch, Steinhöwel verorte seine Erzählung aber in einem anderen Gebrauchszusammenhang, sofern sich dieser in seiner Vorrede als Neuling in der kulturellen Szene präsentiere, der auf die Gewinnung eines Publikums ziele und eine Positionierung im kulturellen Feld der Zeit anstrebe. Die anfänglichen Demutsäußerungen bei gleichzeitig repräsentativer Absicht, wie sie sich in Akrostichon und Reim manifestierten, führten zu einer „ständige[n] Balance zwischen Selbstdistanz und Anspruchsintensität, Äußerungen literarischen Unvermögens und moralischer Kompetenz, Altersmelancholie und Lebensweisheit […]. Die Demutstradition wird ausgebaut im Sinne einer reflektierten und überlegenen Legitimation seiner Tätigkeit. […] Steinhöwel betritt die literarische Szene in der Haltung des durch eigene, bescheidene Einsicht in die Autorität der Tradition gerechtfertigten Erziehers.“ (95) Unterstellt man Steinhöwel mit Weinmayer nun das Wissen um die Rezeptionserwartungen der zeitgenössischen literarischen Öffentlichkeit sowie das „Bewußtsein von den neu sich eröffnenden Möglichkeiten literarischer Publizität“ (90 f.) erscheint die Vorrede vor dem Hintergrund des skizzierten Einsatzes verschiedener narrativer Verfahren, die der Am-
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Der auf diese Weise entfaltete metapoetische Diskurs über die eigenen Erzählverfahren, narrativen Strukturen und wiederkehrenden Topoi findet seine Pointierung in Apolloniusʼ Erzählung im Tempel der Diane, die letztlich einen – nämlich seinen – Liebes- und Abenteuerroman beinhaltet. In der Wiedergabe von Apolloniusʼ Lebensgeschichte rekurriert sie nämlich nicht nur auf zentrale Elemente der Gattung, wie etwa die konstitutive Wiedervereinigung der Protagonisten,²³⁴ sondern stellt in der Spiegelung der Handlung ebenfalls eine Kurzfassung der Gesamterzählung und damit des dortigen Erzählmusters dar. Indem Apollonius sein vngefell erzählt und dabei die nur ihn betreffenden Ereignisse rekapituliert, realisiert er letztlich im Kleinen die im Prolog formulierte Erzählabsicht: Intendiert der Erzähler, des selben Appolonio leben schriben
biguisierung des Verhältnisses von Providenz und Kontingenz, der Zeichnung komplexer Figuren sowie ihrer jeweils auf ambivalentes Erzählen zurückgreifenden Performances dienen, vielmehr als publikumsorientiertes Spiel eines literarisch überaus versierten Dichters – man denke etwa an die akrostichische Struktur, das seit der Antike verwendete Wortspiel über den Gesang des Raben, den typologischen Bezug auf Ruth, der sich „als Transportmittel eines ausgeprägten literarischen Selbstbewußtseins [erweist]“ (94), aber auch an die im Epilog genannte Quellenberufung (vgl. 249,1566 – 249,1568). Blickt man nämlich auf die artikulierte Intention, die Jugend nicht nur über die in alten Geschichten vorhandene wißhait (153,28) zu unterrichten, sondern auch darin zu üben, [l]ieb zehaben alt geschicht (153,27), deutet sich ein Erzählinteresse an, das auf eine unterhaltende Dimension verweist, sofern es auf eine spezifische rezeptionsseitige Wirkung zielt. In diesem Kontext wären die Unfähigkeitsbeteuerungen als rein topische Inszenierungen zu verstehen, die die literarische Kompetenz gerade aufgrund ihrer Negation besonders herausstellten. Darüber hinaus signalisierte die nun einsetzende Erzählung, dass die anfangs evozierte, wenig produktive Schaffenszeit des Dichters vorbei, er nicht mehr an kúnsten hol (153,8) ist. Auch Terrahe 2013a, 23 f., die den Prolog insbesondere im Hinblick auf die dort artikulierte Ankündigung untersucht, lateinische Texte in die Volkssprache übersetzen zu wollen, betont, dass die Äußerungen der Vorrede gerade nicht wörtlich zu nehmen seien, sofern Steinhöwel gerade nicht nur übersetzt habe: „Im Gegensatz zu seiner Ankündigung im Prolog hat Steinhöwel im ‚Apollonius‘ nämlich nicht nur selbst gedichtet, sondern seine Texte aus mehreren Quellen zusammengestellt […] und zusätzlich ein hochkomplexes Strophenschema für die eingestreuten Rätsel und Lieder verwendet. In Anbetracht dessen beschränkt sich sein literarischer Anspruch also nicht nur auf das tútschen und verdient – trotz der Bescheidenheitsformel im Prolog – eine genauere Betrachtung“ (23). Steinhöwels literarischer Anspruch besteht für Terrahe dabei vor allem in einer didaktischen und moralischen Belehrung des von ihm anvisierten Publikums, wobei der von ihr immer wieder als Begründung herangezogene „gelehrte[] Impetus“ (91) des Dichters gerade auch für die oben genannte These einer spezifischen Literarizität spricht, zumal sie ebenfalls den „profunden literarästhetischen Anspruch“ (78) betont. Wenn man mit Bachorski 1993, 65 f., annimmt, dass das Muster von Verlust und Wiedergewinn gedoppelt und auf Cleopatra und Tarsia aufgespalten ist, enthält auch diese Kurzfassung des Romans das konstitutive Element der Wiedervereinigung. Aufgrund der Aufspaltung der thematischen Rollen kann die intradiegetische Erzählung hier nämlich wie ein Liebes- und Abenteuerroman enden – mit der glücklichen Wiedervereinigung der Protagonisten.
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5 Heinrich Steinhöwel: Apollonius
(161,183) und von Apopolonij vngefell (161,194) zu berichten, werden beide Aspekte im Rahmen der Handlung von Apollonius selbst realisiert: Aufgefordert von jener instanzlosen Stimme in seinem Traum, erzählt er alles sin vngefell von siner kinthait vntz uff die zijtt mit lutter stimm (243,1455 – 243,1456) und lässt dieses später auch verschriftlichen (vgl. 247,1555 – 247,1556) – er schreibt somit auch sein leben selbst. Die intradiegetische Erzählung reflektiert dabei aber nicht nur die Erzählung als solche, insofern Apollonius mit seinem vngefell den Inhalt des Romans referiert (vgl. 243,1469 – 243,1487), sondern hat wiederum Auswirkungen auf das folgende Geschehen, da sie die Wiedervereinigung der Familie allererst ermöglicht. Das heißt, dass Apolloniusʼ Lebensgeschichte, die Spiegelung des Apollonius-Romans in der Erzählung, eine handlungsstrukturelle Funktion übernimmt und den im Hinblick auf den gesamten Roman notwendigen Handlungsumschwung bedingt, zugleich aber auch sich selbst als intradiegetischer Geschichte eine neue Wendung, nämlich ein glückliches Ende, verleiht, auch wenn dieses nicht mehr dort, sondern nur im Rahmen der Gesamterzählung erzählt wird. Wie Tarsia und Apollonius mit ihren jeweiligen Identitätsinszenierungen eine spezifische rezeptionsseitige Wirkung und damit eine Beeinflussung des sie betreffenden Geschehens intendieren, funktionalisiert somit auch der Erzähler diese von einer Figur vorgetragene Kurzfassung des Romans für den Fortgang der Handlung: Er lässt Apollonius sein vngefell also auch im Hinblick auf das Gesamtgeschehen erzählen. Zugleich wird jener Identitätsdiskurs auf Erzählebene reflektiert, der in den Erzählungen der Figuren aufgerufen wird: Wie die Inszenierungen der Figuren – Tarsia, indem sie eine gefährdete persönliche Identität, Apollonius, indem er die Identität eines identitätslosen Schiffbrüchigen erzählt – den Konstruktionscharakter des Narrativs Identität diskutieren, reflektiert die Erzählung hier ihre eigene narrative Identität als ein auf spezifische Erzählmuster rekurrierender Roman und pointiert damit ihre eigene Konstruiertheit. Auch auf Ebene der Erzählung werden Identität und Erzählen somit parallelisiert, in ihrer jeweiligen Gemachtheit betont und zum Gegenstand einer selbstreflexiven poetologischen Auseinandersetzung. Eine solche Konstruktion stellt somit nicht nur eine implizite Reflexion der Gesetze des Romans dar, sondern demonstriert auch auf Ebene der Erzählung jene kunst, vom vngefell zu erzählen: Als zentraler Erzählinhalt wird das vngefell sowohl zum Gegenstand der Reflexion über das Verhältnis von Kontingenz und Providenz auf Erzähl- wie auch auf Figurenebene, als es auch den Kern der intradiegetischen Erzählungen der von ihm betroffenen und in ihrer Komplexität als ambivalent zu bezeichnenden Figuren darstellt. Diese funktionalisieren es im Rahmen ihrer Identitätsperformance für ihre jeweiligen zweckorientierten Absichten, indem sie es mithilfe solcher Erzählverfahren, die auch im discours Anwendung finden, entsprechend inszenieren, wobei sie außerdem die histoire-
5.3 Die kunst, vom vngefell zu erzählen – poetologische Spiegelungen
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Ebene der Erzählung spiegeln. Zugleich übernehmen die Erzählungen der Figuren eine zentrale handlungsstrukturelle Funktion für die Gesamterzählung, sofern diese im Hinblick auf den Fortgang der Handlung ein Ende des vngefell erst ermöglichen.²³⁵ Apolloniusʼ abschließende Erzählung gleicht in ihrer narrativen Faktur dabei einem Liebes- und Abenteuerroman und erweist sich als konstitutiv für das glückliche Ende desjenigen, dessen Bestandteil er ist. Die kunst, vom vngefell zu erzählen, manifestiert sich also nicht zuletzt auch in einer narrativen Potenzierung desselben, seiner auch handlungsstrukturellen Funktionalisierung sowie in der expliziten Ausstellung seines Konstruktionscharakters. Indem Apollonius am Ende sein Leben, seinen eigenen Liebes- und Abenteuerroman verschriftlichen lässt (vgl. 247,1555 – 247,1556), macht die Erzählung schließlich ihre eigene Verschriftlichung thematisch, pointiert damit erneut den Grad ihrer poetologischen Selbstreflexivität und zielt damit letztlich auf eine Ermächtigung der literarischen Rede – an kúnsten hol ist der Erzähler des vngefell wohl gerade nicht.
Nicht nur Apolloniusʼ Erzählung im Diane-Tempel ist nämlich von handlungsstruktureller Relevanz; auch die Erzählungen der Tarsia-Figur sind im Hinblick auf den Fortgang der Handlung bedeutsam, sofern ihr Erfolg im Sinne der tatsächlich eintretenden Rezeptionsweise ihre Unberührtheit, ihre Entwicklung zu einer Entertainerin, damit ihren von Athanagoras initiierten Auftritt bei Apollonius und schließlich die Wiedervereinigung der beiden garantieren.
6 Ambivalentes Erzählen im frühneuhochdeutschen Prosaroman: Schlussbetrachtung und Ausblick Mit dem Fortunatus, der Melusine und dem Apollonius sind drei der erfolgreichsten frühneuhochdeutschen Prosaromane in den Blick geraten. Die sich im Hinblick auf ihre Stofftradition unterscheidenden Erzählungen sind dabei in besonderem Maße von solchen Phänomenen einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“¹ gekennzeichnet, die in der literar- und sozialhistorischen Forschungstradition bisher entweder als Ausdruck eines alteritären und anderen narrativen Logiken folgenden Erzählens oder aber als Dokumentation zeitgenössischer Transformationsprozesse und damit als epochenspezifische Konstellationen verstanden wurden. In der vorliegenden Arbeit wurden jene Phänomene hingegen zunächst unabhängig von ihren kulturellen, epistemischen und pragmatischen Rahmenbedingungen in ihrer narrativen Faktur, als spezifische Erzähl- und Textbausteine untersucht und als Elemente eines ambivalenten Erzählens bestimmt und analysiert. Prämisse dieser analytischen Konzeptualisierung war dabei die Annahme, dass jene konträren Textarrangements Resultat des Zusammenspiels einzelner, auf verschiedenen Ebenen des Textes wirksamer narrativer Techniken und Erzählstrategien sind und sie sich als solche sowie auch die sie in Interaktion generierenden Erzählverfahren mittels einer übergreifenden Kategorie erfassen und beschreiben lassen. Die Differenzierung dieser Kategorie in zwei Teilelemente resultierte dabei aus ihrer sowohl produktions- als auch rezeptionsseitigen Dimension: Während das ambivalente Erzählen die narrative Gestaltung und damit den erzählerischen Prozess bezeichnet, meint Ambivalenz folglich das daraus resultierende Produkt und ein strukturelles Merkmal der Narration. Die hieraus folgende Bestimmung dieser Kategorie als zwischen Narratologie und Interpretationstheorie anzusiedelndes Phänomen führte einerseits dazu, produktionsseitig auf Basis eines hypothetischen Intentionalismus zu argumentieren, sich bei der Formulierung rezeptionsseitiger Wirkungspotentiale andererseits aber an dem Konzept eines Modellrezipienten zu orientieren. Eine solche Kategorisierung hat sich dabei aufgrund ihrer semantischen – Ambivalenz bezeichnet sowohl Mehrdeutigkeit als auch das Potential zu antagonistischer Gleichzeitigkeit – und konzeptionellen Offenheit – sie erfasst verschiedene Aktualisierungen narrativ erzeugter Plurivalenz – für eine Identifikation und systematische Beschreibung jener narrativen Phänomene als besonders geeignet erwiesen. Auge und Witthöft 2016, 2. https://doi.org/10.1515/9783110672589-006
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Ihr interpretatorischer Mehrwert hat sich dabei vor allem im Vergleich zu solchen Konzepten gezeigt, die jenen Textarrangements entweder vor dem Horizont des Alteritätsparadigmas oder aber eines kultur- und sozialhistorischen Frageinteresses begegnet sind. Während Ansätze der letztgenannten Art stets die außerliterarischen Verweiskontexte und damit die potentiellen Funktionalisierungen von Ambivalenz fokussiert haben, ohne ihre genuin literarische, ästhetische und nicht zuletzt narrative Dimension angemessen zu berücksichtigen, wurde in Untersuchungen zu narrativen Erzähllogiken die erzählerische Konstruktion solcher Textarrangements zwar durchaus in den Blick genommen, diese wurden dabei aber nicht selten als Inkohärenzen, als Ausdruck eines alteritären und damit weniger kohärenten Erzählens bewertet und damit einem Qualitätsurteil unterworfen, das – wie auch die Annahme ihrer bloß sozialhistorischen und kulturspezifischen Relevanz – dem literarästhetischen und literarhistorischen Status der Erzählungen nicht gerecht wurde. Sofern Ambivalenz nämlich gerade nicht als Resultat des Scheiterns einer narrativen oder interpretativen Bewältigung von Erfahrungswirklichkeit oder grundsätzlich anderer, weniger Kohärenz generierender Denk- und Erzählstrukturen verstanden wurde, hat sich der analytische Nutzen jener Kategorie somit vor allem in einer objektiveren Annäherung an narrative Phänomene und ihrer unabhängig von kulturgeschichtlichen und normativen Implikationen ermöglichten Beschreibung und Systematisierung erwiesen. Im Hinblick auf die Interpretation hat sich ihr Mehrwert darüber hinaus in der Möglichkeit manifestiert, die Koexistenz konträrer Sinnstrukturen als poetisches Potential zu begreifen und ihre über eine Handlungsfunktionalität hinausgehende Bedeutung für die Sinnkonstitution zu erfragen, ohne einer vorschnellen Hypothesenbildung über vermeintlich andere Anforderungen an Kohärenz und Plausibilität zu erliegen. Damit ist ein Aspekt angesprochen, der einen weiteren Vorteil der genannten Kategorie erhellt: Das Konzept der Ambivalenz bzw. des ambivalenten Erzählens trägt nämlich zugleich der als Wissenshorizont vorausgesetzten zeitgenössischen gelehrten Reflexionstradition Rechnung, sofern es das sich in dieser Tradition dokumentierende Kohärenz- und Ambiguitätsbewusstsein berücksichtigt, wie es sich etwa in den antiken Ausführungen zur ambiguitas und obscuritas sowie in den auf diese rekurrierenden mittelalterlichen Poetiken findet. Gerade die zeitgenössischen, auf antiken Wissensbeständen basierenden gelehrten Auseinandersetzungen, in denen sich ein Kohärenzideal findet, das sich hinsichtlich der geforderten erzählerischen Orientierung an Kausalität, Stimmigkeit und Wahrscheinlichkeit kaum von einem modernen unterscheidet, und die dabei zugleich die der poetischen Darstellung stets inhärente Mehrdeutigkeit reflektieren, leiten dazu an, ambivalente Textarrangements als Elemente eines spezifischen poetischen Programms zu begreifen.
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Der für dessen Erfassung unternommene Versuch einer analytischen Kategorisierung als ambivalentes Erzählen gründete in methodischer Hinsicht auf der Annahme, Erzählformen als sich wandelnde Kontinuitäten beschreiben zu können. Der Blick auf die in der rhetorischen Tradition und insbesondere in der narratio-Lehre systematisierten Erzählverfahren konnte zeigen, dass neben jenen Reflexionen über Kohärenz und Ambiguität auch das zeitgenössische Erzählen als solches einer Bewertung ambivalenter Textarrangements als inkohärent widerspricht. So lässt sich in den Erzählungen stets die grundsätzliche Neigung beobachten, das Geschehen wahrscheinlich, plausibel und kohärent darzustellen, und dies über den Einsatz genau solcher Verfahren, die bereits in der antiken narratio-Lehre in ihrer Funktion für die Erzeugung von Wahrscheinlichkeit und Plausibilität diskutiert werden, wie etwa motivierende Innensichten, eine Kausalität suggerierende Herleitung des erzählten Geschehens und Figurenhandelns sowie erläuternde und begründende Erzählerkommentare.² Ein grundlegend anderes Verständnis von Kohärenz, logischer Handlungsführung und Kausalität hat sich folglich bereits hinsichtlich der narrativen Verfahren nicht bestätigen lassen und notwendigerweise den Blick auf solche Stellen gelenkt, in denen eigentlich Plausibilität erzeugende Erzählverfahren fern dieser Funktion eingesetzt sind und die dazu veranlasst haben, solchen Textarrangements Intentionalität und bewusste Inszenierung zu unterstellen: So etwa die Verweigerung plausibilisierender Innensichten, die Ambiguisierung hinsichtlich der tatsächlich greifenden Motivierung über die Etablierung einer Konkurrenz bzw. Gleichzeitigkeit von Providenz und Kontingenz oder aber die Diskrepanz zwischen einzelnen Es lassen sich mithin auch im frühneuhochdeutschen Prosaroman Erzählverfahren identifizieren, die nicht nur den in der narratio-Lehre formulierten entsprechen, sondern zum Teil auch mit der ihnen dort zugewiesenen Funktion einer Handlungsplausibilisierung übereinstimmen. Wenn etwa Fortunatusʼ Erinnerung an den Mordprozess Andreans als Ursache für seine Angst vor einer potentiellen Strafe für den Totschlag des Wirts aufgeführt wird (vgl. Fortunatus, 459,18 – 459,212), wenn Reymunds Klage und Besinnungslosigkeit nach dem tödlichen Jagdunfall seines Onkels über die Darstellung seiner mentalen Innenwelt verständlich gemacht wird (vgl. Melusine, 21,23 – 21,28), wenn Apolloniusʼ Flucht vor Antiochus als Ergebnis strategischer Planung erscheint (vgl. Apollonius, 169,335 – 169,336), zeigt sich die Tendenz, das Handeln der Figuren durch Intentionen und Kalküle, Absichten und Affekte kausal zu motivieren. Dem entsprechen neben einer generellen Suggestion von Kausalität auch solche Erzählerkommentare, die auf eine Erläuterung oder Begründung des erzählten Handelns oder Geschehens zielen: So etwa die Erklärung des Erzählers, Fortunatus müsse sein Säckel bei der Beschenkung der Diener des Sultans verstecken, damit dessen Zauberkraft nicht bemerkt würde (vgl. Fortunatus, 495,7– 495,10), der Hinweis in der Melusine, die Verwunderung der Hochzeitsgäste sei deshalb nachvollziehbar, weil solche Hochzeiten stets außergewöhnlich seien (vgl. Melusine, 38,21– 38,24), oder aber die Begründung von Apolloniusʼ Ignoranz gegenüber Elemitus mit dem Verweis auf die Gewohnheit der Mächtigen (vgl. Apollonius, 173,384– 173,385).
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Erzählerkommentaren sowie zwischen diesen und der narrativen Herleitung des Geschehens. Sowohl die Annahme, Erzählverfahren als sich wandelnde Kontinuitäten beschreiben zu können, als auch der daraus resultierende, wenngleich nur äußerst knappe Blick auf die in der narratio-Lehre reflektierten und mit spezifischen kommunikativen Wirkungen assoziierten Erzählformen konnte die grundsätzliche Orientierung der Erzählungen an Kohärenz erhellen und damit die Identifikation jener Textarrangements als intentionale narrative Konstrukte ermöglichen. Auch in Anbetracht der zeitgenössischen Erzählkonventionen erscheint eine Kategorie ambivalentes Erzählen für eine Systematisierung und auch Interpretation entsprechender narrativer Konstellationen geeignet. Ihr interpretatorischer Mehrwert hat sich dabei vor allem in den Analysen der Erzählungen gezeigt, wobei der Untersuchung der Interaktion einzelner Ambivalenz generierender Erzählverfahren in der Melusine und im Apollonius die Diskussion der einzelnen narrativen Techniken im Fortunatus vorausgegangen ist. Die Beschränkung auf die Kategorien Innenweltdarstellung, Stimme und evaluative Struktur sowie Handlungsmotivierung war dabei ausschließlich ihrer Relevanz für die Konstitution ambivalenter Textarrangements geschuldet. Die Analyse ihres Einsatzes im Fortunatus hat dabei gezeigt, dass die genannten Erzählverfahren zwar primär, aber nicht nur in Interaktion Ambivalenz erzeugen, sofern auch ihr alleiniger Einsatz ohne Berücksichtigung des jeweiligen narrativen Kontextes für eine solche funktionalisiert sein kann: Dies zeigt sich nicht nur in der bloß selektiven Inserierung von Innensichten und der daraus zuweilen resultierenden Ambiguisierung einzelner zentraler und handlungsrelevanter Szenen, wie etwa bei Fortunatusʼ Entscheidung für Reichtum statt Weisheit (vgl. Fortunatus, 430,15 – 430,17), sondern auch in Kommentaren, in denen sich der Erzähler in der Bewertung des Geschehens nicht eindeutig positioniert, etwa indem er mehrere mögliche Ursachen für ein Ereignis nennt (vgl. die Erklärung der Rettung aus der Höhle des heiligen Patricius [Fortunatus, 447,5 – 447,10]), oder aber indem er die evaluativen Standpunkte von Figuren, die in ihrem Allgemeinheitsanspruch die normative Funktion der Stimme zu übernehmen scheinen, unkommentiert lässt (vgl. etwa den Appell des Eremiten an Andalosia [Fortunatus, 537,13 – 537,17]). Neben solchen die Kommentarfunktion der Stimme betreffenden Aspekten ist in diesem Kontext vor allem auch die Motivierung des erzählten Geschehens zu nennen, sofern diese in kompositorischer Hinsicht gerade die Ausstellung der Konkurrenz von Providenz und Kontingenz zu intendieren scheint, prozessiert die Erzählung doch fortwährend die Relation zwischen kausaler Handlungsfolge und finaler Steuerung. Dies zeigt sich nicht zuletzt in jener vermeintlichen Deutung, die sich der Fortunatus in Pro- und Epilog selbst gibt (vgl. Fortunatus, 387,14– 387,19; 579,25 – 580,15): Nicht nur wird der hier aufgerufene, durch den Bezug auf einen Tun-Ergehen-Zusammenhang etablierte normative Horizont durch die Er-
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zählinstanz relativiert und im Hinblick auf dessen Relevanz für die erzählte Handlung nicht weiter konkretisiert, sondern der finale – Fortunatusʼ Wahl retrospektiv als falsch ausweisende – Misserfolg wird darüber hinaus als kontingentes Ereignis inszeniert. Auf diese Weise wird Kontingenz zur Voraussetzung der über jenen Zusammenhang indizierten finalen Motivierung. Nach diesem Blick auf die einzelnen, für eine Inszenierung von Ambivalenz eingesetzten Verfahren im Fortunatus wurde ihre Interaktion zunächst in der Melusine, dann im Apollonius untersucht. In beiden Erzählungen konnten dabei ganz ähnliche Beobachtungen wie im Fortunatus gemacht werden. In der Melusine lässt sich eine auf die Erzeugung von Ambivalenz zielende Erzählstrategie nachweisen, die sich vor allem in Widersprüchen zwischen der Herleitung erzählten Handelns und Figurenbewusstsein, zwischen kausaler, aber von Figuren vermuteter finaler Geschehensmotivation, zwischen expliziten Erzählerkommentaren und impliziter Rezeptionssteuerung manifestiert. So konnte in den Analysen des Jagdunfalls sowie der Geschehnisse um den ersten und zweiten Tabubruch ein Erzählverfahren rekonstruiert werden, das in der Kombination einer spezifisch inszenierten Erzählerrolle, divergierenden, jeweils auf verschiedene Ursachen referierenden Figurenstandpunkten und einer auf kausalen Begründungszusammenhängen beruhenden Geschehensmotivierung die Pluralisierung schicksalsmächtiger Instanzen und damit die Uneindeutigkeit in der Frage nach der Verantwortung für ein Geschehen allererst evoziert. Denn während der figurales Handeln proleptisch kommentierende und damit Verantwortung recht eindeutig zuschreibende Erzähler die Kausalität des Geschehens über die Betonung der Relevanz von subjektiven Handlungen, menschlichen Affekten und individuellen Dispositionen stets hervorhebt, werden zugleich Figurenstandpunkte inszeniert, die mit finaler Lenkung – und hier sowohl mit Gott als auch mit Fortuna –, oder aber mit der Natur, mit individueller Verantwortung und subjektivem Fehlgehen argumentieren. Die ein Geschehen betreffenden Deutungen der Figuren generieren dabei nicht nur insofern Ambivalenz, als sie die Erklärung desselben Geschehens intendieren, sondern erweisen sich auch als solche zuweilen als ambivalent, sofern ihnen das Nebeneinander verschiedener Deutungsmöglichkeiten bereits inhärent ist. Da sich der Erzähler an solchen Stellen einer eindeutigen Hierarchisierung oder auch nur Evaluation dieser Standpunkte enthält, diese aber prinzipiell gleichrangig sind, stehen sie zum Teil unabgestimmt nebeneinander und konkurrieren um die Deutung des Geschehens. Die Funktion dieser spezifischen erzählerischen Gestaltung konnte dabei unter anderem als narrative Exposition von Kontingenz identifiziert werden; sie manifestiert sich in der kausalen Verkettung individuell verantworteter, aber unvorhersehbarer Ereignisse, den in ihrer Indifferenz jeweils Kontingenz reflektierenden und die Konkurrenz und Rivalität verschiedener Determinanten aller-
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erst evozierenden Figurenstandpunkten, der Diskussion verschiedener Strategien der Kontingenzbewältigung sowie den daraus folgenden, das kontingente Geschehen wiederum beeinflussenden Handlungen. Darüber hinaus wird dieses für ambivalentes Erzählen charakteristische Ausstellen antagonistischer Gleichzeitigkeit auch über die spezifische Inszenierung der erzählenden Instanz realisiert, sofern diese die zur Disposition stehende Frage nach der Lenkung des Geschehens bzw. der für dieses verantwortlichen Instanzen durch den Rekurs auf jenes Augustinus-Exempel einer erneuten Ambiguisierung unterzieht, kann dieses doch je nach Lesart sowohl Kontingenz als auch Providenz exemplifizieren. Auch die Bewertung und Motivierung des Geschehens durch den Erzähler erweist sich somit als uneindeutig, als letztlich ambivalent. Diese spezifische narrative Konstellation konnte dabei aber nicht nur als Reflexion von Kontingenz, sondern vielmehr auch als Verfahren der Dynamisierung und Komplexitätssteigerung ausgewiesen werden. Diese These konnte mit Blick auf die Konstruktion der Melusine-Figur erhärtet werden, denn die programmatische Inszenierung von Ambivalenz beschränkt sich gerade nicht nur auf die Handlungsstruktur, sondern ist auch ein genuines Merkmal der Figurengestaltung. Der bereits im Prolog inszenierten Unbestimmtheit der Figur korrespondieren eine komplexe evaluative Struktur, die zeitliche Organisation der Erzählung sowie spezifische Techniken der Perspektivierung, Fokalisierung und Informations- und Wissensvergabe, die allesamt dem ambivalenten Status der Figur zuarbeiten.³ Die Analyse der für ihre Darstellung eingesetzten Verfahren konnte dabei die These einer auf Komplexität zielenden poetischen Gestaltung erhärten und die Ambivalenz der Figur in ihrer auch poetologischen Relevanz erfassen. Es konnte gezeigt werden, dass die Vervielfältigung von Deutungsangeboten auf Handlungsebene über den Einsatz solcher narrativer Verfahren realisiert wird, die auch für die Konstruktion der Protagonistin eingesetzt werden, dass das ambivalente Erzählen mithin eine polyvalente Bedeutungsstruktur generiert, die sowohl für die Handlung als solche als auch für die Figur Melusines Neben der in der Vorrede inszenierten Doppelwertigkeit sind hier vor allem die Divergenzen zwischen der Bewertung der Figur durch den Erzähler und den Beurteilungen Melusines aus der Perspektive anderer Figuren sowie zwischen ihrer Selbstinszenierung und ihren Handlungen zu nennen. Auch spielen ihre Konstruktion als Auslegungsobjekt anderer Figuren und die damit einhergehende Unzugänglichkeit ihrer mentalen Innenwelt, die aus der zeitlichen Organisation resultierende rezeptionsseitige Uninformiertheit über die Ursache ihres Gestaltwandels bei gleichzeitiger Fokussierung auf Reymunds Fehlgehen sowie die Beschränkung auf den Wissensstand anderer Figuren bzw. auf die basalen Informationen des Prologs in der Beurteilung der über ein Wissensprivileg verfügenden Figur eine zentrale Rolle. Die Konfrontation mit oszillierenden Perspektiven sowie die partielle Gleichschaltung des Rezipienten und der Melusine umgebenden Figuren verhindern damit eine eindeutige Bewertung der Figur.
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konstitutiv ist. Neben der Prologgestaltung konnte vor allem die Analyse der Analogien zwischen der Protagonistin und der Gesamterzählung die Annahme bestätigen, dass die Ambivalenz der Melusine-Figur als Paradigma für die gesamte Erzählung fungiert und sich die Thüringʼsche Erzählung in der Angleichung an ihre Protagonistin, unter anderem in Bezug auf den curiositas-Diskurs, als Auslegungsobjekt ihrer Rezipienten geriert, um in der Problematisierung von Lesbarkeit und hermeneutischem Verstehen die Bedingungen literarischen Erzählens poetologisch zu reflektieren. Auch in Steinhöwels Apollonius-Roman konnte eine derartige Selbstreflexivität beobachtet werden, sofern sich die im Prolog artikulierte Absicht, von Apolloniusʼ vngefell erzählen zu wollen, als Chiffre für die Diskussion der eigenen narrativen Konstruiertheit hat identifizieren lassen. Zugleich konturiert diese Intention ein spezifisches erzählerisches Programm, das sich in der Diskussion des Verhältnisses von göttlicher Lenkung, wie sie im Prolog als zentrales handlungssteuerndes Moment inszeniert wird, und Apolloniusʼ vngefell und damit in der Konkurrenz von Providenz und Kontingenz konkretisiert, so dass die erzählte Welt sowohl als providentiell determinierter als auch als potentiell offener Handlungsraum erscheint. Anders als in der Melusine ist diese Gleichzeitigkeit von Providenz und Kontingenz nicht Resultat einer Pluralisierung schicksalsmächtiger Instanzen im Sinne eines nicht spezifizierten Nebeneinanders der jeweiligen Konstituenten, das durch die kausale Konstruktion letztlich aufgefangen wird, sondern Ergebnis ihrer expliziten Konfrontation: So suggerieren der Prolog, einzelne Figurendeutungen sowie der finale Erfolg göttliche Lenkung, die Inszenierung der einzelnen, diesen Erfolg realisierenden Ereignisse, die sich meist auf dem als topischen Kontingenzraum inszenierten Meer abspielen, und konkurrierende Figureninterpretationen negieren diesen providentiellen Horizont zugleich. Der Erzähler löst diese Spannung nun gerade nicht auf, sondern hält beide möglichen Deutungen präsent und spielt sie gegeneinander aus.⁴ Diese gezielte Exposition der Gleichzeitigkeit von providentieller Determination und kontingenter Potentialität konnte dabei aufgrund der vielfältigen Bezüge zu zeitgenössischen Diskursen, insbesondere zu dem über Fortuna, zwar als Form der Kontingenzreflexion identifiziert werden, wurde aber zugleich als genuin ästhetisches Verfahren verstanden, sofern die Erzählung anhand dieser Konstellation die narrativen Möglichkeiten reflektiert, wie ein vngefell in einem Etwa indem er die Figuren Gott dort anrufen lässt, wo er das Geschehen als klassischen Zufall inszeniert, den er gerade nicht providentiell autorisiert; oder aber indem er einzelne gelingende Fahrten über das Meer ausdrücklich als Ergebnis göttlicher Lenkung inszeniert, andere wiederum explizit nicht vor diesem Horizont verortet, sondern anhand der narrativen Konstruktion als kontingente Ereignisse kennzeichnet.
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göttlichen Kosmos erzählt werden kann: Die auf histoire-Ebene stets pointierte Unbestimmbarkeit der Relation von Providenz und Kontingenz, die Frage nach der tatsächlichen Lenkung, wird auf discours-Ebene erfahrbar, sofern die Ambivalenz dieses Verhältnisses in narrativen Verfahren gespiegelt ist, die diese erst konstituieren. Es konnte somit gezeigt werden, dass jenes prekäre Verhältnis von Providenz und Kontingenz nur über ein ambivalentes Erzählen adäquat dargestellt werden kann, dass ein ‚vngefell erzählen‘ im Apollonius bedeutet, ambivalent zu erzählen. Wie in der Melusine konnte der Blick auf die Figurendarstellung dabei die These eines primär auf Ambivalenz und damit Komplexität zielenden Erzählens erhärten, denn wie die Thematisierung von Kontingenz nicht in ihren diskursiven Verknüpfungen zu zeitgenössischen Wissensordnungen aufgeht, so ist die spezifische Gestaltung der Figuren, ihre Konturierung als komplexe, vielschichtige Charaktere, nicht ausschließlich Indiz für realgeschichtliche Individualisierungsprozesse oder Identitätsproblematiken. So konnte nämlich unter anderem gezeigt werden, dass insbesondere die Apollonius-Figur schon aufgrund der zu ihrer Konstruktion eingesetzten Erzählverfahren, einer spezifischen Technik der nur selektiven Innenweltdarstellung sowie einer ebensolchen Profilierung des Erzählers, die in der partiellen Zurücknahme der Stimme bei gleichzeitiger Auslagerung der evaluativen Funktion in Figurenstandpunkte besteht, als komplex und nicht zuletzt auch als ambivalent zu bezeichnen ist. Die Analyse der im Rahmen einer solchen Figurendarstellung pointierten Fähigkeiten zur Selbstdarstellung und Reflexion der Außenwahrnehmung konnte die von Apollonius und Tarsia vorgetragenen Schicksalserzählungen dabei als inszenierte, publikums- und rezeptionsorientierte Akte, als Identitätsperformances, und als konstitutiv für ihre Konstruktion ausweisen. Mit Blick auf ihre Erzählungen, die entweder eine Gefährdung der persönlichen Identität oder einen Verlust derselben bloß inszenieren, konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass sich die Figuren zum Teil solcher narrativer Verfahren bedienen, die sich als ambivalentes Erzählen haben bestimmen lassen, sofern auch sie im Rekurs auf verschiedene Determinanten des Schicksals Uneindeutigkeit hinsichtlich der Bewertung des Geschehens und ein Nebeneinander verschiedener Deutungsmöglichkeiten exponieren. Für die Figurendarstellung konnten somit zwei Funktionen des ambivalenten Erzählens aufgezeigt werden: Es dient zum einen der Komplexitätssteigerung der Figuren, zum anderen wird es zu einem sie in dieser Komplexität konstituierenden Merkmal, sofern es als narrative Kompetenz erscheint. Die die Gesamterzählung sowohl auf histoire- als auch auf discours-Ebene spiegelnden vngefell-Erzählungen der Figuren gerieren sich dabei als pointierte Kurzfassungen des Romans und reflektieren nicht nur dessen Erzählabsicht, sondern auch die zu ihrer Realisierung eingesetzten, nämlich Ambivalenz erzeugenden, Erzählver-
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fahren. Die kunst, von einem vngefell zu erzählen, manifestiert sich somit nicht zuletzt in einer narrativen Potenzierung desselben; die intradiegetischen Erzählungen spiegeln dabei das erzählerische Programm des Erzählerdiskurses und weisen diesen damit als kunst aus. Sowohl in der Melusine als auch im Apollonius lassen sich somit bereits aus der Profilierung des Erzählgegenstandes im Prolog Hinweise auf das jeweils Ambivalenz exponierende erzählerische Programm entnehmen. Während sich in der Vorrede der Melusine neben der Pointierung der als substancz der mater: begriffenen Ambivalenz der Figur durch den Bezug auf den zeitgenössischen curiositas-Diskurs eine Angleichung der Erzählung an die Figur beobachten lässt – sie inszeniert sich analog zu ihrer Protagonistin als Objekt eines menschlichen Wissensstrebens –, verweist die im Apollonius-Prolog artikulierte Erzählabsicht vor dem Horizont der hier suggerierten göttlichen Handlungsdetermination auf ein narratives Programm, das in der Diskussion der spezifischen Relation von Providenz und vngefell, von göttlicher Ordnung und kontingenten Ereignissen besteht. Im Unterschied zu diesen beiden Erzählungen formulieren Pro- und Epilog des Fortunatus auf den ersten Blick gerade kein auf Ambivalenz zielendes Erzählprogramm, sondern entwerfen einen vermeintlich eindeutigen Verständnishorizont; neben der durch den Erzähler vorgenommenen Relativierung dieses normativen Rahmens ist es insbesondere die Relation dieser Lehre zur Gesamthandlung, die eine eindeutige Evaluation des erzählten Geschehens verhindert. Ein solches ambiges Verhältnis von expliziter Sinngebung und impliziter evaluativer Struktur zeigt sich in ähnlicher Weise auch im Roman Tristrant und Isalde⁵, auf das ein kurzer abschließender Blick geworfen werden soll. Der anonyme, auf Eilharts Roman basierende Tristrant weist eine Reihe jener Erzählverfahren auf, die auch in den bereits analysierten Erzählungen eine zentrale Rolle spielen: So lässt sich etwa eine ähnliche Profilierung des Erzählers beobachten, die sich neben expliziten Markierungen als vermittelnde Instanz⁶ in der Kommentierung und Evaluation des erzählten Geschehens und der Figuren Tristrant und Isalde, in: Brandstetter 1966. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe im Fließtext mit Seitenzahl- und Zeilenangabe in Klammern zitiert. So thematisiert der Erzähler etwa im Anschluss an die Schilderung der Trauer, die Ribalin ob des Todes seiner Frau Blanceflor empfindet, den eigenen Erzählprozess sowie die eigene Rolle als diesen zu verantwortende Instanz, lässt er doch verlauten: darumb wil jch nicht weiter dauon reden (3,44– 3,45). Mit einem ähnlichen Hinweis beendet er auch die Beschreibung der Freude über Tristrants Rückkehr an den Hof (Vnd darumb will jch nit mer daruon sagen. allain auff das aller kürczt die history z ende bringen [22,543 – 22,545]). Auch einzelne Überleitungen zwischen verschiedenen Erzählsträngen markieren die Verfügungsgewalt des Erzählers über die eigene Geschichte (vgl. 28,705; 172,4512).Vgl. zu Kommentaren, die das eigene Erzählen thematisieren, auch 158,4165 – 159,4170; 159,4184– 159,4186.
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manifestiert;⁷ zudem finden sich plausibilisierende und motivierende Äußerungen sowie eine stärkere Betonung der kausalen Verknüpfung einzelner Ereignisse.⁸ Auch lässt sich die Tendenz beobachten, über Verfahren der Bewusstseinsdarstellung die mentale Innenwelt einzelner Figuren stärker zugänglich zu machen sowie ihre jeweiligen Handlungen als Resultat ihrer Gedanken, Absichten und Reflexionen zu zeigen.⁹ Im Hinblick auf die Motivierung des Geschehens lässt
Der Erzähler kommentiert das Geschehen zuweilen recht ausführlich, etwa in der Erläuterung der Situation am Hofe Marches, der seinen König von einer Heirat überzeugen will, aber in dem Glauben ist, Tristrant halte ihn davon ab (vgl. 22,545 – 22,557). Neben einzelnen erläuternden Hinweisen finden sich auch Verweise auf einen allgemeinen Erfahrungsschatz, wie beispielsweise in der Bemerkung über das Wissen um den Reichtum von königlichen Höfen (vgl. 37,943), in der über das weibliche Gemüt, das sich durch Schönheit besänftigen lasse (vgl. 35,875 – 35,878) oder in jener verallgemeinernden Feststellung, das der frumm von dem bsen geneidet vnd gehasset wirt. wann was der frumm gtes tht. das ist dem bsen alles lautteres gifft (62,1594– 62,1597). An einigen Stellen der Erzählung findet sich außerdem eine explizite Kritik des Erzählers an einzelnen Figuren, so etwa an Morholt (vgl. 8,171– 8,174), aber vor allem an Auctract (vgl. 62,1606 – 62,1609), der als fürst der bosheit (63,1621– 63,1622; vgl. auch 69,1771; 81,2099 – 81,2100; 174,4581– 174,4582) bezeichnet wird, an dessen Gesellen (vgl. 64,1655) und jenem Zwerg, der die Verbindung Tristrants und Isaldes in den Sternen sieht (vgl. 69,1780; 70,1788; 70,1801; 77,1995 – 77,1996). Pointiert wird diese Tendenz einer Plausibilisierung und kausalen Herleitung des Geschehens in der Trankepisode, und hier sowohl in den ausführlichen Beschreibungen seiner Kräfte, noch bevor er von Tristrant und Isalde getrunken wird (vgl. 42,1065 – 43,1099), als auch in der Beschreibung seiner Wirkung auf die beiden nach dem Verzehr (vgl. 46,1124– 47,1138). Dieser wird dabei explizit begründet und als kausale Folge der vorangegangenen Ereignisse dargestellt: So bekommt Tristrant nur deshalb Durst und verlangt zu trinken, weil er in der Unterhaltung der Frauen so viele Geschichten erzählt: in dem begab sich. das er mit den frauen allen redhafft warde saget in hübsche abentewr. darmit er in die zeit kürczet. vnd lang stund vertreib in dem reden ward in ser dürsten. vnd begeret z trincken. […] vnd tht eyn gtten trunck. wann in ser dürstet (44,1112– 44,1122). Der Trank kann ihm unter anderem deshalb überhaupt verabreicht werden, weil der schenk […] nit gegenwürtig [wz] (44,1116) und das kleine[] junckfrlin (44,1117) nicht weiß, dass es sich nicht um Wein, sondern um den Zaubertrank handelt. Die Weitergabe desselben an Isalde wird dabei durch dessen Wohlgeschmack motiviert (vgl. 44,1123 – 44,1124). Vgl. zur Erläuterung des Geschehens auch Buschinger 2010, 72. Offensichtlich zeigt sich dies ebenfalls in der Trankszene im Rahmen der erwähnten Motivierung von Tristrants Weitergabe des Tranks an Isalde, der als Konsequenz seiner subjektiven, über eine Innensicht bzw. Gefühlsdarstellung vermittelten Beurteilung des vermeintlichen Weins erzählt wird: vnd bedaucht in der wein gtt den bot er der frauen ysalden auch dar (44,1123 – 44,1124). Auch in der Baumgartenszene wird der von Tristrant und Isalde fingierte Dialog als Resultat ihrer jeweiligen Wahrnehmung bzw. der Erkenntnis ihrer Überwachung inszeniert (vgl. die erzählte Wahrnehmung bei Tristrant und die daraus resultierende Handlung 70,1807– 71,1814, bei Isalde 71,1814– 71,1827; vgl. den darauf folgenden Dialog 71,1827– 73,1868).
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sich diese Neigung zu einer logischen Verknüpfung und Plausibilisierung ebenfalls verzeichnen.¹⁰ Diese Erzählverfahren spielen nun ebenfalls vor allem dort eine Rolle, wo ihre Interaktion zu einer Ambiguisierung des erzählten Geschehens oder einzelner Figuren¹¹ führt. Neben einer auch hier zu verzeichnenden narrativen Kontingenzexposition, die sich wie im Apollonius etwa in der Darstellung einzelner Meerfahrten und der Betonung der Zufälligkeit eines Geschehens oder aber in der einzelne Episoden kennzeichnenden Gleichzeitigkeit von Finalitätssuggestion und kausaler Konstruktion manifestiert,¹² sind hier vor allem die
Dies zeigt sich vor allem in der Herleitung des Geschehens, das Ursache der finalen Katastrophe ist, nämlich die heimliche Begegnung zwischen Cainis und Gardeloyde bzw. das Hinterlassen der Spuren, die zu ihrer Entdeckung durch Nampecenis führt (vgl. 186,4884– 187,4932). Insbesondere Isalde ist als recht ambivalente Figur konstruiert. Dies zeigt sich etwa im Dialog mit Brangel über die anstehende Hochzeitsnacht mit Marche, im darauf folgenden Mordversuch sowie in ihrem Verhalten gegenüber dem als Aussätzigen verkleideten Tristrant. So verwandelt sich der von Isalde initiierte Dialog von einer vordergründig freundschaftlichen Beratschlagung über das richtige Vorgehen in eine ihre hierarchisch bedingte Machtposition ausnutzende, kalkulierte Erpressung, sofern ihre anfängliche Bitte um Rat – O brangel mein freündin. du mein allerliebste getrewe. Gibe mir deinen getrewen rat. wye jch meyn sach anfahen sol. so jch bey dem küng sol ligen (52,1331– 52,1333) – recht schnell in eine bittende Aufforderung (jch bitt vnd begere betlich. das du der ersten nacht dem künig ein weil beyligest [52,1349 – 52,1350]) und dann in einen Befehl transformiert wird, den Isalde mit Brangels Schuld an der Situation begründet: bist mir auch des vor gott schuldig. Nu hast du mir doch selbs gesaget. das mir slich mein nott vnd vngelick von dem getranck entstanden sey den du verwart soltest haben. vnd dir allein beuolhen worden ist. […] bist du denn nicht schuldig an meiner so grossen mseligkeyt. So du nun schuldig bist. so bist du auch schuldig vnd gepunden mir widerumb z helffen auß meiner so grossen nott (53,1375 – 54,1383). Dabei sind die Anreden Isaldes an Brangel in Kombination mit den Interjektionen des Leides auffällig, denn Äußerungen wie mein freündin (52,1331), helfferin in meynen netten (52,1334) oder mein Brangel (52,1341) suggerieren ein emotionales, freundschaftliches Verhältnis, das durch Ausrufe wie Ach nain (53,1364) oder Ach vnnd o wee (53,1372) noch verstärkt, aber im Laufe des Gesprächs von Isalde konsequent negiert bzw. zu ihren Zwecken genutzt wird (vgl. zu diesem Dialog auch Kellermann 2010, 471 f.). Während dieser Dialog vom Erzähler nicht kommentiert wird, beurteilt er Isaldes Plan, Brangel zu töten, als vntreü (57,1462), und lässt auch Tristrant scharfe Kritik daran üben (vgl. 61,1568 – 61,1577). Auch werden Isaldes Wut auf Tristrant ob seines Nichterscheinens sowie ihr Benehmen in der Konfrontation mit diesem problematisiert, vor allem durch die Kontrastierung ihres Verhaltens mit der Treue Tristrants (vgl. 146,3829 – 146,3833) und durch die Kritik der anderen Figuren (vgl. 147,3850 – 147,3854). Vgl. zur Ambivalenz der Isalde-Figur auch Müller 1985, 80; Schönhoff 2008, 266 f. So stirbt Blanceflor bei der Geburt Tristrants, weil das Schiff durch vngeuert (2,32) zu lange auf dem Meer bleibt; Tristrant und seine Gefährten gelangen auf der Suche nach der Dame, der jenes Haar gehört, durch die grossen sturmweter (25,620) nach Irland, an dessen Küste diese das Schiff wurffen (25,620). Bemerkenswert erscheint in beiden Fällen, dass auch Gott in der jeweiligen Situation eine Rolle zu spielen scheint: Während Tristrants Überleben bei der Geburt als göttliche Fügung (vgl. 3,49 – 3,50) bezeichnet wird, bittet Tristrant unmittelbar vor jener Meerfahrt Gott, sie
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Diskrepanzen zwischen moralisierendem Epilog und der Gesamtkonzeption der Erzählung zu nennen. Der im Epimythion formulierten Warnung der Rezipienten vor der Liebe – Darumb jr junger man vnd frawen habt auffmercken auff ewch selber. das eüch weltlich lieb nit so gar überhand nm dz jr damit der lieb gottes vergessent. vnd eüch z sllichen vnbereyten tod ziehe. Nembt war wie dise lieb disen czweien so gar ein schnlles vnbereytes sterben gefget hat. auch das nach kleyner kurczer freüde. gett langes trauren. vnd scharpffe pein. dann sy seind nun tod got der herr walt jr beyder sele. vnd helff vns. das wir beydenthalben gerechtiklichen lieb haben vnd wol farn (197,5174– 197,5183)
– widerspricht nämlich die Gestaltung der Erzählung als solche, sofern sie diese Liebe durch die Entlastung der Protagonisten von individueller Verantwortlichkeit fortwährend sanktioniert und als das eigentlich zu Erstrebende ausweist. Diese Sanktionierung der ehebrecherischen Verbindung zwischen Tristrant und Isalde wird dabei über den Einsatz verschiedener Erzählverfahren realisiert, die auf einen affektiv-identifikatorischen Nachvollzug zielen. Diese spezifische Form der Rezeptionssteuerung führt nicht nur dazu, die Protagonisten von individueller Schuldhaftigkeit freizusprechen, sondern auch die Legitimität dieser Liebe anzuerkennen. Nicht nur ist diese schon aufgrund ihrer ursächlichen, unfreiwilligen Entstehung durch den Liebestrank zu entschuldigen, dessen Wirkung sich niemand zu entziehen vermag, auch wird der Fortbestand dieser Liebe nach Ende des Liebeszaubers durch das anhaltende natürlich feüer der liebe (43,1087– 43,1088) plausibilisiert.¹³ So heißt es über den Trank, dass diejenigen, die diesen trinken,
die Dame irgendwann finden zu lassen (vgl. 25,618 – 25,619), obwohl er zuvor die Hoffnung artikuliert hatte, ob mich gelück der enden prcht da sy ist (24,598 – 24,599). Auf diese Weise werden beide Ereignisse mit göttlicher Lenkung in Verbindung gebracht, ohne die genaue Relation zu dem als zufällig ausgewiesenen Geschehen zu erklären. In der Schilderung der Meerfahrt des nach dem Morholt-Kampf verwundeten Tristrants hingegen wird providentielle Fügung nicht thematisch: Tristrant, der auf den see faren [wolt] ob in gelück ettwa brcht da jm geholffen wurde (18,440 – 18,442), gelangt nach Irland wegen der Winde und on alle hilff (19,465). Der Appell an das Glück findet sich bei den Figuren vermehrt: So etwa bei Tristrant vor dem Drachenkampf (vgl. 27,682); bei Isalde, die auf den wahren Sieger desselben hofft (vgl. 30,756) oder die das Glück in ihrer Liebesklage nach Einnahme des Trankes anruft (vgl. 48,1223 – 48,1224). Bei einem ihrer Abschiede haben beide Figuren die Hoffnung, gelück wurd sy noch offt zusamen fgen (159,4179 – 159,4180). Zuweilen wird das Glück auch explizit für die Rettung aus einzelnen Situationen verantwortlich gemacht (vgl. 161,4251– 161,4252). Vgl. zur These einer narrativen Exposition von Kontingenz auch Friedrich 2011, 135. Auch Buschinger 2010, 72, spricht davon, dass die „Liebenden moralisch vollkommen entlastet [sind].“
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die msten lieb an einander haben. Vnd so lieb. das eines on das ander nitt beleiben noch geleben mocht. Sy mochten auch einen tag nicht gesein. sy mßten an einander sehen. So es sich aber allso fget. das eines das ander nicht sahe. nur ein tag. so wurden sy kranck. vnnd so lang vngesund. bis sy wider an einander sehen wurden. dz geschahe durch wirckung vnd krafft des vnseligen trancks der mit sllicher maisterschaft getemperiert was. das die krafft der grossen starcken lieb also anhefft ward. das sich Jr keins daruon geziehen noch gemeistern mocht vor vier jaren. So aber vier jare verendert wurden. So mcht eins dz ander wol lassen des getrancks halb. Was würcket aber das natürlich feüer der liebe in so langer zeit jch laß mich beduncken wo die menschen also freüntlich in allen lieplichen gebrden. so lang bey Vnd miteinander wonen. das dann das feüer der lieb so groß vnd starck werd damit es füran gar hart z leschen vnd z tilgen sey (42,1076 – 43,1092).
Die hier zu beobachtende deutliche Positionierung des Erzählers im Sinne einer auf Eigenerfahrung basierenden Beurteilung der Situation und daraus abgeleiteter Antizipation des folgenden Geschehens wird durch die unmittelbar anschließende Vorausdeutung auf genau jene natürlich flammen der liebe (43,1095) bestätigt. Noch bevor die Protagonisten den Trank zu sich nehmen, der genau jene Wirkung zeigt, die der Erzähler zuvor beschrieben hat,¹⁴ wird also auf das tatsächliche Ausmaß der Tristrant und Isalde verbindenden natürlichen Liebe hingewiesen: also mag jch reden von disen zweien lyeben menschen. Do nun die lieb von der krafft des getranckes nach den vergangen vier jaren auff hret. was der natürlich flammen der liebe so hoch vnd weit inprünstigklichen in in beyden enzündt mit sllicher grosser krafft das in vnmügenlichen was das z erleschen. vnd mßten also jr lebtag prinnen in den flammen der starcken vnd vnsglichen grossen liebe (43,1092– 43,1099).
Die zuvor bloß als Vermutung – jch laß mich beduncken – geäußerte Antizipation einer potentiellen Liebe nach Ende des Zaubers wird in ein Faktum transformiert, das die Rezeption dieser Verbindung von diesem Zeitpunkt an steuert: Es wird nahegelegt, diese Liebe gerade nicht nur als Resultat des Tranks zu verstehen. Dieser legitimiert zwar ihre ursächliche Entstehung, ist aber nicht alleiniger Grund für ihre immer wieder betonte exzeptionelle Dimension.¹⁵
zehand als sy getruncken heten wurden jr hercz vnd all jr inwendig krefft verwandlet vnd erweget in inprünstiger lieb enzündet. vnd so hoch in dem flammen der lieb enprennt das jr yegklichs das ander jnnerlich begeret lieb zehaben. sy wyßten vor sllicher großer vngestmer lieb nit wie sy barn solten. vnd meinten von jren synnen z kommen. […] yedoch wurden sy beyde offt bleich vnd rott. heiß vnd kalte. vnd wurden dick verwandlet alle jr gebrd. […] Was sol jch sagen. die lieb ward also groß. vnd jr kummer so mannigueltige (44,1124– 45,1136). Zwar wird der Trank zuweilen noch als Begründung für einzelne Verhaltensweisen oder Handlungen der Figuren herangezogen (vgl. 55,1422– 55,1426; 80,2069 – 80,2076) und auch wird das Ende seiner Kraft als Ursache für die Beendigung des Waldlebens genannt (vgl. 99,2571–
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Neben einer solchen Betonung der vnsglichen grossen liebe fungiert auch die genannte, auf den eigenen Erfahrungshorizont rekurrierende Beurteilung des Erzählers als ein zentrales Verfahren, um die ehebrecherische Verbindung der Protagonisten zu sanktionieren. So positioniert sich dieser im Rekurs auf den eigenen Erfahrungsschatz und eigene Handlungsdispositionen immer wieder zugunsten der Figuren und entlastet sie von individueller Verantwortlichkeit. Pointiert zeigt sich dies etwa in jener Passage, in der Marche im Anschluss an die Baumgartenszene Tristrant zurück an seinen Hof holt und diesem gestattet, die Schlafkammer mit Isalde zu teilen. Aufgrund dieser Ermöglichung des Ehebruchs durch Marche seien Tristrants Annäherungen an Isalde keinesfalls zu verurteilen: Es ist jm ye nach meinem versteen nitt zm argen. noch nicht darumb zestraffen. dann wo mir souil gewalt wurt geben über dz. dz jch lieb het. Jch keret auch ye allen fleiß für. darmit jch mich des gebrauchen mcht nach allen leiplichen begirden. vnd auch nichcz vnderwegen gelassen. Dann was jch nit thn mcht (76,1973 – 76,1978).
Neben derartigen Kommentaren, in denen das subjektive Empfinden des Erzählers zum Maßstab der Bewertung wird,¹⁶ zeigen sich vermehrt auch solche evaluativen Äußerungen, die an die Erfahrung und das Rechtsempfinden der Rezipienten appellieren und die Unrechtmäßigkeit einzelner Vorgänge hervorheben.¹⁷
100,2589), für dessen Fortsetzung die natürliche Liebe nicht auszureichen scheint (vgl. 100,2585 – 100,2589), nichtsdestoweniger wird deren Ausmaß gerade nach Ablauf der Vierjahresfrist immer wieder eigens hervorgehoben sowie ihre Nichterfüllung als existentiell bedrohlich dargestellt.Vgl. hier etwa den Abschied nach der Rückkehr an den Hof (104,2679 – 104,2683) sowie Tristrants Rede (105,2725 – 105,2729) und die Beschreibung von Isaldes Emotionen (106,2738 – 106,2743). Schon hier zeigt sich in Erzählerrede die existentielle Gefahr, die eine Trennung der beiden bedeutet: Jch sprich fürware in wr verr bas geschehen. ob sy yeczen miteinander solten sterben. dann sich all so lebentig scheiden (106,2744– 106,2746). Vgl. auch die Bemerkung des Erzählers über die Strenge des Waldlebens und die Vermutung, dass kein anderes Liebespaar diese auszuhalten in der Lage wäre: Jch laß mich aber wol beduncken. sollten yecz zwey liebhabende menschen nur zwen monet in slicher grosser kümernuß hunger vnd armt sein. sy mchten das nitt erleiden noch on den tod hinkommen (96,2476 – 96,2480). Ein solcher Appell an die Rezipienten bei gleichzeitiger Betonung der Unrechtmäßigkeit zeigt sich etwa in der Kommentierung des von Auctract vorgeschlagenen Urteils, über Tristrant und Isalde die Todesstrafe zu verhängen: hret wye vngeleych vnnd vngerecht vrteyl das seind. wie ist gerechtigkeytt da hin hinder getrungen worden. Wer hat ye gehrt das zwen liebhabend menschen von lieb wegen z dem tod verurteylet seind offenbarlichen. es seyen denn ander vrsach darbey gewesen dardurch es geschehen sey. Aber was sag jch von dysen zweien menschen es was in vonn aller erst von neids wegen erdacht vnd z gericht darumben hett gerechtigkeyt do nichssen cz schicken oder z schaffen. allein neyd vnd haß warent do richter vrteyler vnnd anklager (81,2104– 82,2114). In ganz ähnlicher Weise wird Marches Intention, Isalde zu töten, verurteilt und als rechtswidrig dargestellt: O wie gar ein herttes vngerechtes vrteyl da erteylt ist. do ain einiger man
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Zuweilen stellt der Erzähler dabei die eigene emotionale Ergriffenheit ob der Tristrant und Isalde ereilenden Schmerzen und Nöte eigens heraus.¹⁸ Diesen Erzählerwertungen, die eine affektive Identifikation des Erzählers mit dem Schicksal der Liebenden offenbaren und eine ebensolche auf Rezipientenseite intendieren, korrespondieren solche Äußerungen, die das Verhalten der Protagonisten explizit rechtfertigen, indem sie ihre Unschuld betonen, wie etwa im Kontext der von Marche geplanten Tötung Isaldes (O edle künigin. nun bistu doch eins slichen tods gancz vnschuldig aller sachen halben [89,2292– 89,2293]), oder aber indem sie die Außergewöhnlichkeit dieser Liebe fokussieren.¹⁹ Im Rahmen dieser Erzählerprofilierung ist ein weiterer Aspekt zu nennen, der einer Entlastung der Protagonisten dient: Nicht nur werden sämtliche Figuren, die der Verbindung von Tristrant und Isalde im Weg stehen, explizit verurteilt,²⁰ sondern Marches Verhalten wird immer wieder als eigentlich ermöglichender Faktor gekennzeichnet, so dass die Fortsetzung der ehebrecherischen Verbindung
allein erteylt hat. vnd nit nach ordnung des rechten. weder anklagt. noch der vrteyl gefragt hat. Wee wie grosser gewalt ist da geschehen (89,2295 – 89,2299).Vgl. zu diesem Aspekt auch Plate 1977, 80 ff. So etwa, wenn Marche die beiden erstmals entdeckt und Tristrant von seinem Hof schickt: Was grosser vnuolseglicher schmerczen vnd angsten. in disen zweien betrbten herczen do entstnden. do sy beyde jr groß not vnnd schnlles abschneiden bedachten. ist von mir vngesagt. wann es erwegt mir mein hercz vnd gemt. in sllichem getreüen mitleiden. vnd auch gedechtnuß verganger lieb. das jch nit weiter dauon reden mag noch will dann kurcze zesagen (66,1703 – 66,1709). In der Folge stellt der Erzähler nicht nur die schrecklichen Folgen einer Trennung der beiden in Aussicht (vgl. 67,1714– 67,1720), sondern ruft darüber hinaus sogar eine seiner Figuren an, das Geschehen zum Positiven zu wenden: O Brangel getreüe helfferin. gib rat vnd t hilf darmit sy zesamen kommen. vnd in jren nten nit so jmerlich verderben (67,1720 – 67,1722). Eine solch affektive Reaktion zeigt der Erzähler auch in der Mehlstreuepisode, nachdem das verflchte[] getwerglin (80,2083 – 81,2084) Tristrant bei Marche verraten hat: Ach waffen des grossen mordes. mir tht selbs wee das er so gar mrtlich vnnd flschlich verraten ist (81,2085 – 81,2087). Solche Betonungen finden sich in der Erzählung an verschiedenen Stellen; prägnant wird die Exzeptionalität dieser Liebe in der Schilderung von Isaldes Aufbruch zum verwundeten Tristrant demonstriert: Do die fraw den ring sahe. vnd hret wie es vmb herrn Tristrant stnd. Nam sy kein lenger bit noch verzug. Sunder sy verließ jren gemahel. vnd land. lewt gt. vnd alles das sy het. […] Herr Tristrant was jr so lieb. das sy kein acht het weder auff künig noch künigreich. noch alles was jr got je geben het. sy schlg des alles zeruck. schczt es z nicht. vnd eylet allein dem z helffen. der jr hercz vnd gemt. on alles mittel bey jm het (191,5031– 192,5040). So vor allem der verrter Auctract (157,4130; vgl. auch 63,1621– 63,1622; 69,1771; 81,2099 – 81,2100; 174,4581– 174,4582), der Zwerg (vgl. 69,1780; 70,1788; 70,1801; 77,1995 – 77,1996), sowie auch Marche, der insbesondere im Rahmen der Verurteilung im Anschluss an die Mehlstreuepisode überaus negativ gezeichnet ist (vgl. etwa pointiert 89,2284– 91,2338).
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als eine auf seinen Entscheidungen basierende und damit völlig plausible Reaktion erscheint.²¹ Der Erzähler rechtfertigt die Liebe der Protagonisten und damit implizit auch den Ehebruch folglich in mehrfacher Hinsicht: Er betont die Unfreiwilligkeit der Verbindung und den magischen Zwang des Tranks, erklärt er die Liebe der beiden doch gerade nicht als Resultat der schickung vnd ordnung der natur (80,2071), sondern als würckung materlicher kunst (55,1425). Auf diese Weise kann er nicht nur einzelne Handlungen der Protagonisten legitimieren, sondern sie auch von einer jeden individuellen Verantwortung freisprechen.²² Dieser apologetischen Tendenz entsprechend wird die auf den Trank folgende Liebe als naturgemäß, als menschlich und emotional plausible und damit als nahezu logische Konsequenz der vorangehenden Verbindung verstanden und in der Rückführung auf Marches diese Liebe erst ermöglichende Rolle sanktioniert.²³ Zugleich positioniert sich der Erzähler stets eindeutig auf Seiten des Liebespaares und vollzieht dessen Schicksal selbst affektiv nach. Die sympathetische Identifikation des Erzählers zielt folglich auf eine ebensolche Reaktion auf Rezeptionsseite, auf einen Freispruch des Paares – trotz der dem Ehebruch und dem Verrat Marches inhärenten normativen Problematik. Diese wird neben solchen Erzählerstandpunkten auch über Verfahren der Innenwelt- und Bewusstseinsdarstellung relativiert: Während die über Innensichten zugänglich gemachten unlauteren Motive und Absichten der Antagonisten die Unrechtmäßigkeit ihres Verhaltens gegenüber dem Liebespaar zeigen,²⁴ wird in der Darstellung der mentalen Innenwelten von Tristrant und
Bei der von Marche initiierten Rückkehr Tristrants an den Hof weist der Erzähler eigens auf dessen Verantwortlichkeit hin: Nun hrt was wunders dz gesein müg. der künig hat nun zm vierden mal Tristrant vnd der frauen geben gewalt. mit willen vergünstet. das sy bey einander sein slen (76,1969 – 76,1972). Auch in der Verurteilung der von Marche intendierten Hinrichtung Isaldes findet sich ein solcher Hinweis auf dessen ursächliche Schuld: Nun hat doch der küng euch beiden willigklich vnd vngentt verginst eur wesen bey einander z haben. wie vnd euch gefalle (89,2293 – 89,2295). Vgl. zu diesem Aspekt auch Plate 1977, 88; Schönhoff 2008, 192– 197. Tristrants Verhalten in der Mehlstreuepisode sei etwa ausschließlich durch die Wirkung des Trankes zu erklären, wann herr tristrant ist sunst so ein weiß man gewesen. dz er natürlicher lieb jr maß het wol z wissen geben (80,2073 – 80,2074). Dass das Verhalten der Protagonisten auch nach Ablauf der Trankwirkung zuweilen alles andere als von weißheyt (80,2075) motiviert ist, zeigen die verschiedenen Rückkehrabenteuer. Vgl. zu diesem Aspekt auch Plate 1977, 86. So inseriert der Erzähler im Zusammenhang mit seiner Kritik an Auctract und dessen boßheyt (62,1609) eine Innensicht, die dessen Reflexionen darüber zum Gegenstand hat, wie er Tristrant am besten verleumden könne, und seine Freude über die Entdeckung der heimlichen Liebesbeziehung beinhaltet (vgl. 62,1611– 63,1619). Dies veranlasst den Erzähler zu dem Urteil: Auctract aigenlich z nennen nach meinem versteen ist ein fürst der bosheit (63,1620 – 63,1622). Auch zeigt er Marches Genugtuung über die Bestrafung Isaldes anhand von erzählter Wahrnehmung (vnd
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Isalde stets das Ausmaß und die Außerordentlichkeit der gegenseitigen Liebe demonstriert. Dies zeigt sich unter anderem bereits in der als Gefühlsdarstellung gestalteten Bewusstseinspräsentation im Anschluss an ihre erste Trennung – Hiermit schiede Tristrant ab. traurig vnd vnfro oder klglichen not. O des senlichen behenden scheiden. so da geschahe. do sich die geliebeten zwei vngesprochen msten scheiden Herr Tristrant […] bedacht das er dz land raumen solt vor nicht vrlaub nemen von seiner aller liebsten. vnd also füran jr gancz berawbet vnd von jr abgeschiden sein. wolt jm sein hercz zerbrchen. jm ward auch so wee. das er den tod meinet gewiß haben (66,1690 – 66,1698)²⁵
– oder aber in jener Gefühlsdarstellung, die Isaldes Abschiedsschmerz schildert: O wie gar klglich vnd snlich jm die fraw nach sahe. mit großser herczenlicher klag.Wann jr hercz so gancz entrist was.vnd so hrtiklich gepeiniget. da sy sich yecz scheiden mst vnd jm nit getorst zsprechen noch sich erzeigen als jr hercz gegen jm was. das Jr so on massen wee geschahe. dauon sich billich jr hercz vnd sel erwegt vnd von einander geteilt wrn (106,2738 – 106,2744).²⁶
vermeinet er hette sich hart wol an jr gerochen [90,2333 – 90,2334]), die ihn sogleich die Schande und Lasterhaftigkeit seines Handelns betonen lässt: jm ward aber groß laster vnd vnere darumb geredt. als weit das gancz land wz vnnd nicht vnbillichen. da er sich selbs sambt disen zwaien souil vnere anlegt gepüret sich auch wol (90,2334– 91,2337). Auch an anderen Stellen der Erzählung wird Tristrants emotionale, stets auf die Liebe zu Isalde fokussierende Innenwelt transparent gemacht. So etwa in der als Soliloquium gestalteten Bewusstseinsdarstellung, die Tristrants Erkenntnis der Beobachtung durch Marche und seine folgenden Gedanken in der Baumgartenepisode präsentiert: vnd gedacht es ist kein zweifel nun mßs jch sterben. O west du mein künigin vnd mein fraw. die ht die vnß getan ist. vnd das du nit her kmest. wann dein nott geet mir mer z herczen. dann mein selbs sterben (70,1809 – 71,1812); in der als Wechsel aus Soliloquium und Psychonarration wiedergegebenen Bewusstseinsdarstellung Tristrants in der Mehlstreuepisode: er gedacht wz haben sy geset. czwar es hilft doch nit all jr ht. jch wil meyn frawen sehen. wz mir halt darumb geschyhet. […] Er weßt wol wurd er ergriffen dz er darumb sterben mst. noch dann schlg er alle vorcht zerug. vnd wolt ye vor z seiner allerliebsten (80,2064– 80,2069). Auch die Abstinenz Tristrants in der Ehe mit der anderen Isalde wird als Ergebnis seiner anhaltenden Liebe zu seiner allerliebsten frawen ysalden (128,3331– 128,3332) erklärt, die wiederum anhand einer Gefühlsdarstellung präsent gehalten wird (vgl. 128,3328 – 128,3334). Auch die Darstellungen von Isaldes Innenwelt fokussieren stets ihre Liebe zu Tristrant, so etwa bei der ersten Verabschiedung (Des geleichen was auch der küngi. die laid wol zwiultig not. Jr wz herr Tristrant also lieb. vnd also ser zuͦ herczen gebunden. dz sy nit anderst begert noch gedacht dann in. vnd darumb wr sy vil lieber tod. dann das sy on in solt leben [66,1698 – 66,1702]) oder aber in der Darstellung ihrer Reue über ihr Fehlverhalten gegenüber dem als Aussätzigen verkleideten Tristrant (vgl. 147,3870 – 147,3874; 148,3881– 148,3886) und ihrer Schmerzen über die lange Trennung (vgl. 154,4061– 154,4063).
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Die derart akzentuierte Verbundenheit der beiden Protagonisten findet ihre narrative Pointierung sodann in einer Bewusstseinsdarstellung, die die Innenwelten beider Figuren präsentiert und damit nicht nur deren Identität, sondern auch die der Liebenden behauptet: Vnnd sorgeten beyde jr scheyden gar herczenlich ser. Sy wißten auch nit ob sy nymmer mer der enden kmendtt da eins das ander sehen mcht. das waz in gar außdermasen schwr (104,2679 – 104,2682). Die auf Empathie und identifikatorische Anteilnahme zielenden Bewusstseinsdarstellungen und Erzählerkommentare sanktionieren die ehebrecherische Liebe Tristrants und Isaldes und weisen sie als Verbindung eigenen Rechts aus. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Schilderung ihres tragischen Endes: Die Betonung der Trauer der anderen Isalde, aller Anwesenden (vgl. 195,5111– 195,5120) und eines jeden, der nicht ein stchlin oder steynin hercz [het] (195,5116 – 195,5117), die unzertrennbare Vereinigung von Weinrebe und Rosenstock auf den Gräbern der Liebenden (vgl. 197,5164– 197,5167), die finale Relativierung der Wirkung des Zaubertranks, die zwar allgemein als Ursache für die Verbindung von Rose und Rebe angenommen wird (vgl. 197,5168: so [m]an saget), die der Erzähler aber marginalisiert: Dem sey nun wye jm sey (197,5169) – all dies beweist die Rechtmäßigkeit dieser Liebe, auf der gerade nicht nur der Erzähler besteht: Indem Marche und die andere Isalde diese am Ende nicht nur akzeptieren, sondern in ihrer Außergewöhnlichkeit anerkennen, erfährt sie schlussendlich auch in der erzählten Welt Legitimation.²⁷ Wie kann aber diese Liebe Legitimität beanspruchen und zugleich als Negativexempel fungieren? Wie ist die Spannung zwischen expliziter Lehre bzw. der Selbstdeutung „als abschreckendes Beispiel“²⁸ und den skizzierten Bewertungsmaximen aufzulösen? Die Forschung hat diesen schon früh erkannten Widerspruch²⁹ zu glätten versucht, etwa indem man den Epilog als Distanzierung des
Während Isaldes Erkenntnis der Liebe der beiden und ihrer eigenen Schuld an deren Verhinderung ihre unsägliche Klage erst zu bedingen scheint (Als das sahe herr Tristrants eeliche fraw. das die küngin so erbermklich vnd snlich vonn dyser welt abgeschiden was. durch sllich groß streng lieb so sy jm leben zesamen gehabt heten. die in beyden sllich groß reü vnd laid gebar. das sy mit dem tod erfolgeten. vnd sy des vrsach was mitt dem einigen worte. das sy auß jrer thumheite vnnd doch on all arg lüst einfal. vnd eintrg sprach. Der segel wr schwarcz Des doch dennocht nit also was. Aller erst hb sy an zeklagen [194,5103 – 195,5111]) und diese wie auch die von ihr initiierte gemeinsame Bestattung der beiden (vgl. 195,5127– 195,5129) auf die Anerkennung dieser Verbindung hinweisen, besiegeln auch Marches Trauer und Reue sowie sein Schwur, dass er im Wissen um den Trank ihre Liebe akzeptiert hätte, die Rechtmäßigkeit derselben (vgl. 195,5135 – 195,5155). Buschinger 2010, 73. Vgl. etwa Müller 1985, 77.
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Erzählers von einer solchen Liebe³⁰ oder als Reduktion der Botschaft des Romans auf eine knappe Lehre³¹ gelesen hat, indem man in ihm den Appell zu einer kritischen Lektüre, die nicht auf Imitation zielt, gesehen³² oder aber weiterhin als Exempel „für die zerstörerische Macht der Gefühle“³³ verstanden hat. In all diesen Erklärungen scheint das spezifische Verhältnis von Epilog und Erzählung aber nicht aufzugehen. Der Erzähler desavouiert den mit dem warnenden Appell suggerierten exemplarischen Anspruch seiner Erzählung vielmehr, konterkariert den von ihm etablierten normativ-didaktischen Horizont und generiert insofern eine ambivalente evaluative Struktur, als diese Spannung zwischen expliziter Lehre und impliziten Bewertungsparadigmen nicht aufgehoben wird. Dabei erscheint die Selbstdeutung der Erzählung als warnendes Exempel in sich ambivalent, sofern der hier etablierte Tun-Ergehen-Zusammenhang – der „jähe[] Tod als Resultat der Liebe“³⁴ und der Abkehr von Gott – nicht der Konzeption der Erzählung entspricht. Zwar sterben sowohl Tristrant als auch Isalde wegen des jeweils anderen, es ist aber gerade nicht ihre Liebe, die ihren Tod ursächlich bedingt. Während sich Tristrants Antizipation seines von Isaldes Erscheinen abhängigen Todes, beleibt sy aber aussen. so byn jch on zweifel tod (190,5008 – 190,5009), im Moment der Erkenntnis ihres vermeintlichen Fortbleibens realisiert – Do erschrack der herr do vonn herczen so jnnigklichen ser legt sein haubt nider auf das pedt strecket sein hend vnd gab schnll auf seinen geist (192,5059 – 193,5062) –, stirbt Isalde in der Realisation seines vmb jren wille (194,5102) geschehenen Todes und gibt wiederum durch rechte lyeb vnd treü jr leben vmb seinen willen auff (197,5173 – 197,5174). Sie sterben somit zwar aufgrund ihrer groß streng lieb so sy jm leben zesamen gehabt heten (194,5105 – 194,5106), ihr Tod ist aber nicht etwa notwendige Konsequenz derselben, sofern die Ermöglichung dieser tödlichen Konstellation nicht in ihrer, sondern in der Liebe der anderen Figuren begründet liegt. Denn während die Liebesabenteuer von Cainis die tödliche Verwundung Tristrants und damit die Notwendigkeit von Isaldes Erscheinen erst verursachen, verantwortet die andere Isalde den Tod beider Liebenden und dies aus Eifersucht. Die Verurteilung des Erzählers der blische[n] liebe (187,4909) zwischen Cainis und Gardeloyde³⁵ sowie sein Isaldes Lüge über die Farbe des
Vgl. Buschinger 2010, 72. So Kellermann 2010, 466. Vgl. Plate 1977, 83. Schönhoff 2008, 268. Kellermann 2010, 467. Vgl. auch den kritischen Kommentar zur huote, die vergebens sei, wenn ein fraw selbs nicht wil (162,4274). Auch Mertens 1994, 113, weist darauf hin, dass die Zeichnung dieser Liebe der „Abhebung der Tristrant-Liebe“ diene.
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Segels verurteilender, emotionaler Kommentar – ach waffen des grossen mordes. den die frau do vnwissentlich mit vnwarheit begieng (192,5056 – 192,5057) – schreiben die Verantwortung für den tödlichen Ausgang nicht nur explizit zu,³⁶ sondern führen auch dazu, die im Epilog genannte, die Gottesliebe verdrängende und den Tod bedingende weltlich lieb (197,5176) mit der der anderen Figuren zu assoziieren. Diese bedingt den Tod der Protagonisten, der gerade nicht als Resultat der Liebe Tristrants und Isaldes und ihrer individuellen Schuldhaftigkeit erzählt wird. Darüber hinaus erscheint die durch den Bezug auf die Vernachlässigung der Gottesliebe nahegelegte providentielle Lenkung (vgl. 197,5174– 197,5177) problematisch. Es wird nämlich nicht nur die Verantwortung der anderen Figuren für die finale Katastrophe hervorgehoben, sondern stets auch die Kontingenz der das Ende der Protagonisten bedingenden Ereignisse betont.³⁷ Auch wird die Verbindung der beiden durch die Rückführung der gegen sie gerichteten Aktionen auf das Wirken des Teufels ex negativo göttlich sanktioniert. Wenn der Erzähler die einer Verhinderung der Liebe dienenden Handlungen der
Die Verantwortung der zweiten Isalde für den Tod Tristrants und Isaldes wird dabei nicht nur über diesen Erzählerkommentar, sondern vor allem auch durch ihre Erkenntnis der eigenen Schuldhaftigkeit im Rahmen ihrer Klagen betont: vnd verstnd nun dz jm von jren schulden vnd jrer wort wegen die sy doch on arg vnd übel geredt het sein hercz zerbrach. vnd sein leben so jhes verendet. wolt jr nun jr hercz auch zerbrchen. vnd schrey mit herczenlicher jnniklicher klag. O wee ach vvnd wee mir armen weib. das mir ye also geschahe. daz du von meinen schulden dein leben also verlorn hast (193,5064– 193,5071). In der Realisation von Isaldes Liebestod erkennt sie erneut ihre Schuld an: vnd sy des vrsach was mitt dem einigen worte. das sy auß jrer thumheite vnnd doch on all arg lüst einfal. vnd eintrg sprach. Der segel wr schwarcz Des doch dennocht nit also was (194,5108 – 195,5111). Zwar wird in diesen Klagen auf das nicht vorsätzliche Handeln der Figur hingewiesen, dies relativiert aber nicht ihre Verantwortung für den Tod der Protagonisten, sofern die falsche Information über die Farbe des Segels bzw. die List gegenüber Tristrant als intendierte Handlung geschildert wird: So droht sie jenem, am Ufer des Meeres auf die Ankunft des Schiffes wartenden Mädchen mit dem Tod und zwingt dieses, die Nachricht über die Farbe des Segels ihr mitzuteilen und Tristrant vorzuenthalten (vgl. 192,5042– 192,5048). Die Kritikwürdigkeit dieses Verhaltens zeigt sich dabei in der Distanzierung des Erzählers, der seine Unwissenheit über die Ursachen ihres Wissens um diese Vereinbarung konstatiert (vgl. 192,5041– 192,5042). Vgl. zur Intentionalität des Vorgehens und der negativen Bewertung durch den Erzähler auch Schönhoff 2008, 201. So werden bereits die Bedingungen für die spätere Entdeckung und Verfolgung von Cainis und Tristrant als kontingentes Geschehen exponiert, etwa wenn das Wegfliegen des Hutes als Fügung des vngelücke (186,4884) erklärt und das Vergessen der Pfeile mit dem Hinweis, es [geschahe] vnferlich vnd vndancks auß vergessenheyt (186,4898 – 186,4899), erläutert werden oder die misslingende Jagd auf das Reh und der dadurch bedingte Aufenthalt im Wald von vngelück (187,4914) geschehen.
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Figuren oder diese selbst mit sathanas in Verbindung bringt,³⁸ das fliehende Reh als Ursache für Tristrants und Cainis Ergreifung benennt und dieses als der bß geist. oder sein gespnst (187,4919) identifiziert, wird nicht die Liebe als solche, sondern ihre Nichterfüllung bzw. ihr tödliches Ende als dem Willen Gottes zuwiderlaufend gekennzeichnet: Die Annahme, es handle sich bei dem Reh um den bß geist, resultiert nämlich aus dem tragischen Ende des Paares, wenn sy msten beyde durch dise geschicht jr leben verliern (187,4219 – 187,4920). Dem entspricht auch die abschließend artikulierte Hoffnung des Erzählers, got der herr walt jr beyder sele (197,5181– 197,5182). Erfährt die Liebe final nun doch Legitimation? Wie ist der Appell – jr junger man vnd frawen habt auffmercken auff ewch selber (197,5174– 197,5175) – nun letztlich zu verstehen? Die narrative Gestaltung konterkariert die durch die histoire und den Epilog nahegelegte Beurteilung der Erzählung als Negativexempel, tilgt aber nicht völlig die damit einhergehenden evaluativen Implikationen, sondern lässt beide Bewertungsparadigmen nebeneinander bestehen. Diese unauflösbare Spannung sowie auch die Ambivalenz des Epilogs als solche verschärfen damit die der Ehebruchsliebe des Tristan-Stoffs inhärente normative Problematik, sofern sie keine eindeutigen Bewertungsparadigmen an die Hand geben. Das ambivalente Erzählen – der Einsatz von auf affektiv-identifikatorischen Nachvollzug und Empathie zielenden Erzählverfahren, ihre Relativierung durch die exemplarische Selbstdeutung, aber auch die Vielschichtigkeit und moralische Problematik einzelner Figuren sowie die Kontingenz exponierende und zugleich auf göttliche Lenkung zielende Darstellung des Geschehens – verweist dabei auf die Ambivalenz des zur Disposition stehenden Falls, auf die Relativität normativer Maximen und die Abhängigkeit ihrer Beurteilung von spezifischen Konstellationen. Insbesondere die Appelle an die Eigenerfahrung der Rezipienten verdeutlichen, dass es letztlich diesen überlassen ist, über die Rechtmäßigkeit dieses Rechtsbruchs zu entscheiden: „Die Grenzen zu ziehen, überläßt der Erzähler dem Einzelnen.“³⁹ Das ambivalente Erzählen übernimmt im Tristrant somit die Funktion einer textimmanenten Reflexion von Moral und Natur, Recht und Norm, Einzelnem und Gesellschaft und ihres zuweilen intrikaten Verhältnisses. Es verhindert eine ex-
Vgl. die Bezeichnung sathanas als Geselle Auctracts (vgl. 69,1776 – 69,1777) sowie den Vergleich der Verräter mit dem Teufel: aber sy waren erhertt vnd erstockt in jrer boßhait. gleich jrem herren lucifer (85,2187– 85,2189). Während aus dem Zwerg der Teufel spricht (vgl. 78,2004), resultieren aus dessen Wirken auch Auctracts Erblicken und die nachfolgende Jagd Tristrants im Anschluss an die Begegnung des Paares im Baumgarten: Do sant der bß geist seinen diener Auctract dar (170,4464– 170,4465). Müller 1985, 79.
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emplarische Auslegung sowohl der Erzählung als auch einzelner Konstellationen in der erzählten Welt und verweist damit auf die Situationsgebundenheit und Relativität normativer Urteile. Eine Antwort auf die von Müller einst aufgeworfenen Fragen – „Aber schaffen Markes prozessuale Mißgriffe den Rechtsbruch ehebrecherischer Beziehungen aus der Welt?“⁴⁰ „Schließt Tristrants ‚recht‘ des Zugangs zu Isalde, das Marke ihm […] gab, auch das ‚recht‘ zum Ehebruch ein?“⁴¹ – könnte somit nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Perspektive und der jeweils angelegten moralischen oder normativen Maßstäbe formuliert werden. Damit generiert das ambivalente Erzählen auch im Tristrant eine polyvalente Bedeutungsstruktur, eine semantische Offenheit, die den Rezipienten zu subjektiver Urteilsfindung anleitet. Diese Vielstimmigkeit ist also – zunächst ohne Berücksichtigung der in die Erzählung integrierten und von dieser reflektierten nicht-literarischen Diskurse – Ergebnis eines spezifischen narrativen Programms, nämlich der Potenzierung der einem jeden literarischen Text inhärenten semantischen Offenheit; diese ist es, die den ästhetischen Anspruch des Tristrant signifiziert. Die von Joachim Küpper als Spezifik des literarischen Diskurses bestimmte „semiotische Elastizität“⁴² zeigt sich in der Erzählung dabei also nicht nur in der Eröffnung jenes Raumes des rezeptionsseitigen „Sich-ergehen-Könnens“⁴³, sondern wird über die Integration des Rezipienten in die Beurteilung des normativ-moralischen Konflikts noch verstärkt. Auch wenn die Spezifik von Literatur laut Küpper gerade darin besteht, „teilzuhaben an anderen, affinen, nicht-literarischen Diskursen“⁴⁴, muss es der literaturwissenschaftlichen Analyse – und dies zeigt die abschließende Betrachtung des Tristrant – auch und in besonderem Maße um die genuin literarische Dimension in der Auseinandersetzung mit jenen kulturellen und histori-
Müller 1985, 78. Müller 1985, 79, Anm. 261. Küpper 2001, 197. Küpper 2001, 197. Küpper 2001, 193. Die Spezifik der Literatur bestehe somit in der keinen disziplinären Beschränkungen unterliegenden produktiven Integration verschiedener anderer Diskurse; Literatur wäre „wesentlich ein hybrides Gebilde, ein Diskurs mit der Lizenz, konstitutive Elemente anderer Diskurse […] zu inkorporieren. Literatur ist im Spektrum der Diskurse diejenige Rede, in der viele, wenn nicht alle Dinge verhandelt werden bzw. werden können, die ansonsten, dort aber separat, in den Spezialistendiskursen behandelt werden. Als solche wäre sie […] weder Reflex der extraliterarischen Diskurse, noch deren ganz Anderes.“ (193 f.) Eine Auseinandersetzung mit literarischen Texten setze dabei „die Kenntnis der disziplinären Diskurse voraus, auf die diese Texte Bezug nehmen. Mehr noch: Ein literarischer Text wird erst dadurch zu mehr als einer Aneinanderreihung trivialer fiktionaler Grund-Situationen, daß er in ein vielfältiges Geflecht nicht-literarischer, pragmatischer Diskurse eingebunden ist.“ (206 f.)
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schen Kontexten und den für diese charakteristischen Wissensordnungen gehen.⁴⁵ Erst unter dieser Prämisse lassen sich auch vormoderne Phänomene einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“⁴⁶ als poetisches Profil, lässt sich Ambivalenz als Manifestation einer besonderen literarischen Ästhetik begreifen und der literarästhetische Status der Erzählungen bestimmen.⁴⁷ Zuletzt sei noch auf einen weiteren Aspekt hingewiesen, den es zwar nicht neu zu perspektivieren, aber doch erneut in die Diskussion zu bringen gilt: Den im
Vgl. zur Betonung der Relevanz einer literaturwissenschaftlich angeleiteten Analyse der in einen Text integrierten Diskurse Reuvekamp 2007, 91, Anm. 204. Vgl. zu dieser Wendung, 1, Anm. 1. Im Anschluss an eine solche Bestimmung und Fokussierung auf narrative Strukturen sei abschließend nichtsdestoweniger auf einen Komplex verwiesen, auf den über die inszenierten Ambivalenzen zwischen Providenz und Kontingenz – die letztlich in allen untersuchten Erzählungen eine zentrale Rolle spielen – womöglich referiert wird: das Phänomen der Säkularisierung. Mit der Reflexion einer kontingenten Wirklichkeit und der Rolle Gottes in einer solchen sowie der anhaltenden Diskussion des Verhältnisses von Handlungsdetermination und -offenheit scheint doch jener Prozess berührt zu sein, der in aktuellen literaturwissenschaftlich-mediävistischen Debatten als „grundsätzlich ambivalentes Phänomen von Übertragung“ (Köbele und Quast 2014, 19; vgl. zu Säkularisierung als Übertragungsphänomen auch Ruh und Vollhardt 2003, 342) verstanden wird. In literarischen Texten können sich solche Übertragungen nämlich gerade in solchen narrativen Phänomenen äußern, wie sie hier nachgezeichnet wurden, so etwa wenn die Verantwortung für ein Geschehen zur Disposition steht, und damit in der Differenz und/oder Interaktion „der verschiedenen religiösen und säkularen Sprach- und Bildregister, Denk- und Erzählmuster“ (Köbele und Quast 2014, 16). Die hier untersuchten Textphänomene könnten also womöglich insofern als Reflexion von Säkularisierungsprozessen gedeutet werden, als sie – setzt man voraus, dass sie „zugleich auf komplizierte Weise durchlässig sind auf übergreifende kulturelle Konstellationen“ (19) – in ihrer Ambivalenz doch die „wechselseitige[] Durchdringung geistlicher und weltlicher Diskurse“ (18) zu spiegeln scheinen, ohne dabei allerdings die jeweilige Übertragungsrichtung kenntlich zu machen – deutet die Inszenierung eines Ereignisses als nicht von Gott autorisierter oder gar gewirkter Zufall nämlich auf eine Marginalisierung, Transformation oder Ergänzung des Religiösen hin? Oder ist die über die Perspektiven von Figuren evozierte Präsenz Gottes im Rahmen eines als zufällig inszenierten Geschehens als Sakralisierung des Weltlichen zu verstehen? (Vgl. zu der Rolle Gottes und des Zufalls in Fragen der Handlungsmotivierung im Kontext von Säkularisierungsphänomenen Köbele und Quast 2014, 17, sowie die Überlegungen von Hausmann 2014, der der jeweiligen handlungsbestimmenden Instanz in Chrétiens und Hartmanns bzw. Thomasʼ und Gottfrieds Fassungen nachgeht und markante Unterschiede in der das Geschehen jeweils autorisierenden Macht – Autor/Erzähler oder Gott – und damit hinsichtlich des Grads einer Loslösung von geistlichen Erzählmodellen feststellt). Versteht man solche Phänomene einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die die untersuchten Prosaromane fortwährend prozessieren, mithin als „ambivalente[] Transformationen des Religiösen“ (Köbele und Quast 2014, 20), könnten sie möglicherweise auch als Tendenzen einer Säkularisierung verstanden werden und reflektierten damit anhand eines spezifischen Erzählverfahrens nicht zuletzt eine zentrale zeitgenössische Erscheinung.
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Rahmen der Alteritätsdebatte vielfach diskutierten Aspekt der Komplexität. Die auch in der vorliegenden Untersuchung vorgenommene Klassifizierung eines literarischen Textes, nämlich des frühneuhochdeutschen Prosaromans, als komplex – in narrativer wie reflexiver, kompositorischer wie diskursiver Hinsicht – ist nicht Resultat des historischen Vergleichs, wie es in der Auseinandersetzung mit vormoderner Literatur allzu häufig zu beobachten ist, sondern einer Beurteilung vor dem Horizont der das Erzählen konstituierenden Episteme. So wie narrative Formen nicht jenseits der sie konstituierenden Wissensordnungen zu bestimmen sind, sich ihre Sinnpotentiale aber durchaus ausdifferenzieren und verändern können, lassen sich Aussagen zum Grad der Reflexion, zur Qualität der Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomen, zur gesellschaftlich-historischen Relevanz, zum spezifischen Umgang mit Welt – kurz: zur Komplexität einer Erzählung nur vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die Spezifik der literarischen Umsetzung treffen. Die im Tristrant beobachtete Erzählkonstellation, die implizite Sanktionierung einer in moralischer, normativer und rechtlicher Hinsicht zeitgenössisch höchst problematischen Konstellation und die narrative Spiegelung der ihr inhärenten Ambivalenz, kann aus diesem Grund wohl zu Recht als komplex bezeichnet werden. Diese Komplexität resultiert wie im Fortunatus, der Melusine und dem Apollonius aus einer speziellen poetischen Praxis, die in ihrem artifiziellen Charakter als wesentliches Merkmal der Erzählungen und damit als Poetik der Ambivalenz zu bezeichnen ist. Die Besonderheit der untersuchten frühneuhochdeutschen Prosaromane liegt mithin in der aus einer forcierten und effektvoll inszenierten Ambiguisierung resultierenden Potenzierung der einem jeden literarischen Text inhärenten semantischen Offenheit und damit nicht zuletzt in der Spezifik ihrer Narration. Dies kann nur dann als ein Grund für den Erfolg der Erzählungen verstanden werden, wenn man die von Joachim Küpper angestellten Überlegungen über das Wesen des Ästhetischen auf vormoderne literarische Texte ausweitet und die Offenheit für Heterogenes als wesentliches Merkmal auch ihrer Modalität begreift⁴⁸; dann wäre es nämlich gerade jene potenzierte semantische Offenheit der Texte, die „den Kern des Lustvollen“⁴⁹, die ihren literarischen Reiz ausmachte. Zugleich scheinen alle hier untersuchten Erzählungen nicht bloß eine historisch spezifische Thematik, sondern eine von konstant anthropologischem Belang zu transportieren: Prozesse des Wandels, der Rationalisierung und Pluralisierung prägen nicht nur den Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit; auch wenn sich die Strategien der Orientierung und des Handelns verändert haben mögen, ist die
Vgl. Reuvekamp-Felber 2016, 219. Küpper 2001, 201.
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Notwendigkeit, eine unüberschaubare Welt überschaubar zu machen, ist das Bedürfnis nach Kontingenzbewältigung kein geringeres als am Beginn der Frühen Neuzeit, wenn nicht sogar eine historisch-anthropologische Konstante. Möglicherweise haben die Erzählungen über die historische Distanz hinweg ihre „Sagkraft“ auch deshalb behalten, weil sie einen „Reflexionsraum“ für virulente Probleme auch der folgenden Zeiten darstellen.⁵⁰ Diese Affinität der Texte zu späteren und bis heute aktuellen gesellschaftlichen Diskursfeldern ist womöglich eine weitere Ursache ihres anhaltenden Erfolgs.⁵¹
Küpper 2001, 210. Vgl. Küpper 2001, 210 f. sowie 205, Anm. 59.
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Personen- und Werkverzeichnis Abel, Julia 25, 30, 32, 42 f. Ader, Dorothee 50 f. Anselm von Laon 82 f., 90, 177 f., 217 Archibald, Elizabeth 271, 281 f., 284 f., 303 f. Aristoteles 64, 66, 71, 85, 87, 91, 132, 254 – Poetik 64, 71, 87 – Rhetorik 87 Arnulf von Orléans 82 f., 90, 178, 217 Auge, Oliver 1 f., 32, 56, 217, 358 Aumüller, Matthias 29 f. Bachorski, Hans-Jürgen 15, 61, 272, 276 – 279, 283, 291, 314, 317 – 319, 330 – 332, 336 – 338, 340, 343, 355 Bachtin, Michail M. 279 f., 291 Baisch, Martin 272, 279 f., 338 Bauer, Matthias 24 f., 27 – 29, 31 f., 42, 86 f. Bauschke-Hartung, Ricarda 266 Becker, Anja 35 – 38 Becker, Eve-Marie 30 Behr, Martin 51 Bennewitz, Ingrid 53, 150, 271 Benz, Maximilian 37 Berndt, Frauke 24 f., 56 Berneker, Roland 24 f., 86 f., 89 f. Bertelsmeier-Kierst, Christa 2 f., 7, 269, 271 Bezner, Frank 80 Bleumer, Hartmut 62, 70 Blumenberg, Hans 179, 291, 294 Bode, Christoph 24 f., 86 Boethius 134, 136, 153, 163 f., 176, 202 f., 210 f., 298, 300, 312, 316 – Consolatio Philosophiae 134, 136, 163 f., 176, 202 f., 298 f., 312 Booth, Wayne 128 Brandt, Rüdiger 71, 79 f., 88 f. Braun, Manuel 11, 14 – 16, 18, 35 – 38, 40, 49, 153 Brüggen, Elke 63 Buber, Rüdiger 285, 292 Buschinger, Danielle 15, 51, 271, 367, 369, 375 f. https://doi.org/10.1515/9783110672589-008
Chinca, Marc 67, 79 Christ, Winfried 67, 71, 79, 94 f. Cicero 67, 79, 81 f., 84 – 87, 92, 177 – De Inventione 67, 79, 81 f., 84 – 87, 92, 177 – De Oratore 86 f. Cizek, Alexandru N. 79, 93 Classen, Albrecht 53 Contzen, Eva von 62, 76 Copeland, Rita 79 Cormeau, Christoph 299 Coudrette 6, 148 f., 152, 161 f., 169 f., 196, 206, 219, 244, 252 Dellsperger, Yvonne 51 Detering, Heinrich 33, 41 Dicke, Gerd 269, 271 Dimpel, Friedrich Michael 11, 154, 168, 182, 185, 193, 220, 229, 245, 253, 257, 259 – 263 Dohm, Burkhard 15 f. Domanski, Kristina 51, 150 Drittenbass, Catherine 51, 148, 151 f., 154, 168, 173 f., 181 f., 184, 195 f., 200, 207, 209, 215, 219 f., 222 f., 225 f., 228 – 230, 232, 239, 241, 243 – 245, 256 f., 263 f. Dumiche, Béatrice 153, 220, 232 Ebenbauer, Alfred 271 Eming, Jutta 271 f., 279 f., 301, 312, 324, 345 Erll, Astrid 61 Ernst, Ulrich 82 Ertzdorff, Xenja von 148 – 150, 246, 257, 274 f., 283, 286, 300, 315 f., 320 Flood, John L. 271 Fludernik, Monika 30, 224 Fortunatus 6 f., 9, 14 – 17, 19, 21, 23, 31, 39, 41, 43, 46 – 49, 51, 53 f., 57, 80 f., 90, 96, 99, 106, 111 – 114, 116, 124 f., 129 f., 133 f., 137, 144 – 146, 156 f., 190, 205, 225, 265, 308, 322, 359 – 362, 366, 381
412
Personen- und Werkverzeichnis
Frakes, Jerold C. 163 Fried, Johannes 79 Friedrich, Udo 5, 11, 14 f., 17 – 19, 21 – 23, 41, 45, 126, 140, 157, 179 f., 211 f., 265 f., 297 f., 369 Fuhrmann, Manfred 87 Galfred von Vinsauf 80, 82 – 84, 89, 177 f. – Poetria Nova 80, 82, 84, 89, 178 Genette, Gérard 59, 62 f., 97, 99 Gerok-Reiter, Annette 53, 334 f. Gesta Romanorum 6, 269, 295, 297 f., 300 f., 303 – 306, 308 f., 311, 314, 321, 333 Glauch, Sonja 72 Gottfried von Viterbo 6, 269, 285 f., 288, 290 f., 295, 297 f., 300 – 305, 308 f., 311 f., 314 – Pantheon 6, 269, 285, 295, 297 f., 300 f., 305, 308, 311 Graevenitz, Gerhard von 22 Habermann, Mechthild 51 Haferland, Harald 35, 38, 40, 69 f., 72 f., 132 Hagby, Maryvonne 150 Hagemann, Nora 271, 280 Hahn, Reinhard 50 Hasebrink, Burkhard 15 Haubrichs, Wolfgang 51 Haug, Walter 71, 79, 144 f., 148, 150, 157, 163 f., 179, 204, 212, 292, 299 f. Hausmann, Albrecht 380 Henkel, Nikolaus 271, 286 – Historia Appolonii Regis Tyri 6, 269, 271, 275 f., 281 f., 284, 286, 296 f., 300 – 305, 308 f., 311, 313 f., 320 Holznagel, Franz-Josef 63 Huber, Martin 47 Hübner, Gert 11, 31, 41, 62 – 71, 74 – 80, 91, 93 – 95, 97 – 99, 113 – 116, 120, 122, 132 – 137, 152, 178, 206 f., 224 – 226, 303, 334 Igl, Natalia
115
Johannes von Garlandia 85, 89, 177 – Parisiana Poetria 85
Kaminski, Nicola 17, 46 Kammer, Stephan 24 f., 56 Keller, Hildegard Elisabeth 151, 257 f., 260, 266 Kellermann, Karina 51, 368, 376 Kellner, Beate 14 f., 43 – 46, 48, 52 – 54, 148 f., 151, 189, 196 f., 213, 218 f., 235 f., 247, 257 f., 263 Kemmann, Ansgar 92 Kiening, Christian 35 f., 38, 52, 151, 155 – 159, 207, 210, 219, 225, 253 f., 257 – 260, 265, 284 – 286 Kindt, Tom 28 Kipf, Johannes Klaus 51 Klebs, Elimar 269, 285, 297 f., 305, 311, 322 Klein, Christian 337 Klopsch, Paul 82 Knape, Joachim 65, 67, 71, 77 f., 79 f., 91, 94, 271 Knapp, Fritz Peter 67, 75, 82, 134 Knischewski, Nina 53 Köbele, Susanne 380 Kohlmeier, Markus 271, 278 f., 286, 320 f., 323, 329 f. Kragl, Florian 29, 39 f. Kraß, Andreas 263 f. Kremer, Detlef 14 f. Künast, Hans-Jörg 51, 150 Küpper, Joachim 7 f., 379, 381 f. Lafond, Barbara 148 f., 153 Lahn, Silke 28 f. Laude, Corinna 24, 42 Lauer, Gerhard 47 Lausberg, Heinrich 86 f., 90 – 92, 218 Le Goff, Jaques 53 Lienert, Elisabeth 1 f., 56, 271 f., 320 f. Linden, Sandra 48, 52 f. Loleit, Simone 71, 79 – 81 Lübbe, Hermann 293 Luckmann, Thomas 335 – 338 Lugowski, Clemens 33 – 35, 38, 73, 130 – 133, 150, 316 Lundt, Bea 53 Mahler, Andreas 30 Makropoulos, Michael
22 f., 292, 294
Personen- und Werkverzeichnis
Marquard, Odo 22 Martínez, Matías 28 f., 33 – 35, 131 f., 137 f., 144, 175, 226, 284, 295, 298 f., 323, 335 Matthäus von Vendôme 83 f., 177 – Ars versificatoria 84 Meier, Christel 24, 30, 56, 89, 217 Meister, Jan-Christoph 28 f., 42 Melzer, Helmut 47, 269, 272, 321 f. Mertens, Volker 53, 150, 376 Meyer, Matthias 35, 38, 40, 69 f., 72 Miedema, Nine 69 f. Mohr, Jan 35 – 38 Moos, Peter von 79 f. Mühlethaler, Jean-Claude 51 Mühlherr, Anna 18, 148, 156, 158, 161 f., 168, 187, 193, 196 – 198, 201 f., 216, 218 – 220, 229, 242 – 245, 247, 253, 256 f., 260, 266 Müller, Hans-Harald 42 Müller, Jan-Dirk 2 – 4, 9, 11, 13 – 15, 17 – 19, 22 f., 33 – 35, 41 f., 45 – 50, 52 f., 67, 72 f., 128, 142 – 145, 148 – 150, 153 – 159, 161, 163, 167, 172, 180, 182, 187, 189, 192 f., 195 f., 198, 200 f., 212, 217 – 219, 221, 230, 242, 245, 248 f., 254, 257, 260, 265 f., 271, 290, 368, 375, 378 f. Münkler, Marina 24 f., 27, 49, 57 – 60, 217 Noll-Wiemann, Renate Nünning, Ansgar 28 Oehri, Martina
47
152, 258
Pafenberg, Stephanie B. 150, 161, 166 f., 184, 190, 195, 210, 213, 220 f. Peters, Ursula 35, 37, 45 – 47, 52 – 54, 148 f., 265 f. Pfeiffer, Jens 88, 90 Philipowski, Katharina 51 Plate, Bernward 372 f., 376 Platon 64 – Politeia 64 Plotke, Seraina 29, 63 f., 115 Putzo, Christine 279 Quast, Bruno 57, 150, 157 f., 162 f., 168, 211, 229, 232, 258, 380
413
Quintilian 86 – 88, 90 f., 217 f. – Institutio oratoria 86 – 88, 90, 217 f. Radmehr, Ingeborg 47, 318 Raumann, Rachel 150, 219, 253 Rautenberger, Ursula 51, 150, 193 Reichlin, Susanne 179 f. Reuvekamp, Silvia 16, 22, 31, 40, 46, 53, 99 – 101, 103, 111, 122, 125 – 127, 129, 148, 190, 380 Reuvekamp-Felber, Timo 4, 8, 32, 43, 86, 381 Rhetorica ad Herennium 67, 79, 81 f., 84 – 87, 92 – 94, 177 Ridder, Klaus 45, 52 Rippl, Coralie 51, 160, 162, 189, 197, 202, 205, 231, 239, 258 f. Röcke, Werner 272, 275 f., 278, 283, 315 – 317, 319 f., 329 f., 335, 337 f., 341 Roggendorf, Simone 61 Rohr, Günther W. 51, 150 Roloff, Hans-Gert 47, 149 f., 152, 163 Roth, Detlef 15 Ruh, Ulrich 380 Schausten, Monika 17, 53 – 55, 148, 151 – 153, 156, 181, 220, 223 f., 227 f., 233 – 240, 251, 255 f., 263, 265 Scheffel, Michael 24, 28 f., 32, 43, 226 Schmid, Wolf 69, 97, 115 Schmolinsky, Sabine 287 Schneider, Christian 29, 37 – 40, 42, 79 – 86, 90, 177 f., 218 Schnell, Rüdiger 47, 54 Schnyder, André 2, 4, 50 f., 149 f., 152, 161 f., 164 f., 167 – 170, 174, 181, 185, 189, 192 f., 196 – 198, 200, 203, 205, 207, 214, 218, 222, 227 – 232, 235, 240, 242, 244, 249 f., 254, 258, 263, 266 f. Schnyder, Mireille 179, 294 f., 340 Schönberger, Rolf 30 Schönhoff, Judith 368, 373, 376 f. Schrodt, Richard 152 Schulz, Armin 37 f., 41, 53, 70 – 75, 132, 152, 158, 219, 248, 280
414
Personen- und Werkverzeichnis
Seneca 153, 186, 188 f., 191, 194, 196 – 198, 202, 214 – De ira 186, 188 f., 191, 194, 214 Simmler, Franz 51, 152 Sluiter, Ineke 79 Soeffner, Hans-Georg 323, 335 f., 338, 341 Sosna, Anette 323, 335 – 337 Speth, Sebastian 150, 157 f., 162, 165 – 168, 179, 186 f., 189, 198 f., 210, 214 Stange, Carmen 16 Stegbauer, Kathrin 48 Steinfeld, Thomas 24 f., 86 f., 89 f. Steinhöwel, Heinrich 6, 269 – 275, 278 – 282, 284 – 291, 295 – 298, 301 – 306, 308, 311 – 313, 315 – 317, 320 – 322, 326, 333, 347, 354, 364 – Apollonius 6 f., 98, 114, 124, 129, 133, 142, 145, 147, 269 – 278, 280 – 286, 290 – 292, 295 f., 298, 303, 315 f., 318 – 320, 327, 334 f., 350, 354, 356, 358, 360, 361 f., 364 – 368, 381 Steinkämper, Claudia 53, 148 f., 239 f. Steinmetz, Ralf-Henning 16 Störmer-Caysa, Uta 237, 247 Suerbaum, Almut 150, 263 Terrahe, Tina 3, 7, 269 – 271, 273 f., 278, 280 – 282, 285 – 291, 295, 302, 305, 312,315, 320 – 322, 326, 333, 354 f. Thomas, Norbert 47 Thüring von Ringoltingen 6, 53, 148 – 153, 156, 159, 161 f., 170, 174, 178 – 181,
197 f., 201, 206 f., 211, 217 – 219, 221, 242, 244, 254, 266, 364 – Melusine 6 f., 46, 50 f., 53 – 55, 98, 113 f., 124, 129, 133, 145 – 148, 150 – 153, 155 – 159, 163, 179, 190, 193, 198, 204 f., 211, 225, 248, 267, 296, 299, 358, 360 – 366, 381 Toepfer, Regina 186, 196 – 198, 202, 205 f., 210, 216 Tomasek, Thomas 271, 347 Tristrant und Isalde 6 f., 45, 50 f., 295, 308, 366 – 379, 381 Vollhardt, Friedrich
380
Walde, Christine 86 – 89 Wegmann, Nikolaus 14 f. Weinmayer, Barbara 271 f., 286, 354 Weiske, Brigitte 306 Werner, Lukas 154 Wetz, Franz-Josef 292 Wetzel, René 161, 163, 165 f., 189, 197 f., 202, 210 Witthöft, Christiane 1 f., 32, 56, 217, 358 Worstbrock, Franz-Josef 71, 134, 136, 295, 312 Wyss, Ulrich 247 Zeman, Sonja 97 Ziegler, René 24 f. Ziep, Franziska 53, 151, 166, 176, 187, 189, 192, 198, 212, 216, 240, 257, 262 f.