BAND 2 Natur – Religion – Medien: Transformationen frühneuzeitlichen Wissens 9783050058337, 9783050058306

In the early modern period, knowledge became more differentiated in form and content. Contemporaries did not fail to rem

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German Pages 381 Year 2013

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Wissen und Wissensgeschichte. Theoretisch-methodologische Bemerkungen
Diskursivierung naturwissenschaftlichen Wissens
Zur Diskursivierung pflanzenkundlichen Wissens bei Leonhard Thurneysser zum Thurn
Die Tradierung alchemischen Wissens bei Michael Maier, Andreas Libavius und Oswald Croll
Alchemie, Elias artista und die Machbarkeit von Wissen in der Frühen Neuzeit
Diskursivierung theologischen und moralphilosophischen Wissens
Kulturelles Wissen zwischen Glaube und Aberglaube: Zum ,Hexensabbat‘ bei Martin del Rio, Pierre de Lancre und Johannes Praetorius
Antichristliche und antireligiöse Diskurse in Früher Neuzeit und Aufklärung
Erkenntniswege und Übungsgelände. Raumdarstellungen zur Vermittlung praktisch-philosophischen Wissens in Moralischen Wochenschriften der Frühaufklärung
Medien der Wissensgenerierung und Wissen über Medien
Suchmaschinen in der Frühen Neuzeit
Das Gespräch als Medium der Wissensvermittlung
Wissensdiskurse und frühneuzeitlicher akademischer Unterricht
„Divided and Distinguished Worlds“: Zur Diskursivierung literarischer Wissensräume im England des 17. Jahrhunderts
Vom Umgang mit Wissen im Wissenstheater. Aspekte von Wissenskonstituierung und Wissensetablierung in der Theatrum-Literatur des 17. Jahrhunderts
Musikwissen in der Frühen Neuzeit
Historische Semiotik des Leibes in der Kommunikation: Zur Dynamisierung von Körper und Sprache im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert
Formen und Funktionen von Verschriftlichung im klassischen China: Objekte und funktionale Inschriften während der Ming Dynastie (1368-1645)
Biographische Notizen
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BAND 2 Natur – Religion – Medien: Transformationen frühneuzeitlichen Wissens
 9783050058337, 9783050058306

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Natur – Religion – Medien

Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit Band 2

Herausgegeben von Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus, Steffen Ohlendorf, Claus-Michael Ort

Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus, Steffen Ohlendorf, Claus-Michael Ort (Hg.)

Natur – Religion – Medien Transformationen frühneuzeitlichen Wissens

Akademie Verlag

Einbandgestaltung: hauser lacour Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalzs Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2013 Akademie Verlag GmbH www.degruyter.de/akademie Ein Unternehmen von De Gruyter Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005830-6

Inhalt

Einleitung .........................................................................................................................7 Michael Titzmann (Passau) Wissen und Wissensgeschichte. Theoretisch-methodologische Bemerkungen..............17

Diskursivierung naturwissenschaftlichen Wissens Tobias Bulang (Heidelberg) Zur Diskursivierung pflanzenkundlichen Wissens bei Leonhard Thurneysser zum Thurn..................................................................................................39 Volkhard Wels (Berlin) Die Tradierung alchemischen Wissens bei Michael Maier, Andreas Libavius und Oswald Croll............................................................................................................63 Michael Lorber (Berlin) Alchemie, Elias artista und die Machbarkeit von Wissen in der Frühen Neuzeit .........87

Diskursivierung theologischen und moralphilosophischen Wissens Barbara Becker-Cantarino (Columbus, Ohio) Kulturelles Wissen zwischen Glaube und Aberglaube: Zum ,Hexensabbat‘ bei Martin del Rio, Pierre de Lancre und Johannes Praetorius.....................................117 Michael Titzmann (Passau) Antichristliche und antireligiöse Diskurse in Früher Neuzeit und Aufklärung ............135 Misia Sophia Doms (Düsseldorf) Erkenntniswege und Übungsgelände. Raumdarstellungen zur Vermittlung praktischphilosophischen Wissens in Moralischen Wochenschriften der Frühaufklärung.........197

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Medien der Wissensgenerierung und Wissen über Medien Helmut Zedelmaier (München) Suchmaschinen in der Frühen Neuzeit .........................................................................219 Rosmarie Zeller (Basel) Das Gespräch als Medium der Wissensvermittlung ..................................................... 229 Hanspeter Marti (Engi) Wissensdiskurse und frühneuzeitlicher akademischer Unterricht ................................249 Ingo Berensmeyer (Gießen/Gent) „Divided and Distinguished Worlds“: Zur Diskursivierung literarischer Wissensräume im England des 17. Jahrhunderts..........................................................265 Hans-Joachim Jakob (Siegen) Vom Umgang mit Wissen im Wissenstheater. Aspekte von Wissenskonstituierung und Wissensetablierung in der Theatrum-Literatur des 17. Jahrhunderts ....................285 Irmgard Scheitler (Würzburg) Musikwissen in der Frühen Neuzeit .............................................................................305 Angelika Linke (Zürich) Historische Semiotik des Leibes in der Kommunikation: Zur Dynamisierung von Körper und Sprache im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert ...............................323 Dagmar Schäfer (Manchester) Formen und Funktionen von Verschriftlichung im klassischen China: Objekte und funktionale Inschriften während der Ming Dynastie (1368-1645) ........................355 Biographische Notizen .................................................................................................371

Einleitung

Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Tagung des Forschungszentrums ‚Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit‘, die vom 26. bis 28. November 2009 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel stattgefunden hat. Ausgangspunkte waren für uns erneut1 Aspekte der Wissensdifferenzierung, -diversifizierung und -pluralisierung sowie der damit einhergehende Aufbruch in eine heterogene Wissensgesellschaft: Entwicklungen wie diese machen die Frühe Neuzeit zur entscheidenden Schnittstelle zwischen dem Mittelalter und der wissensdisparaten, hochgradig wissensspezialisierten und -fraktionierten Neuzeit. Dies gilt zumal für den in der ersten Sektion fokussierten Bereich der Naturwissenschaften und die in der zweiten Sektion behandelten theologischen sowie die daran teils anschließenden, teils damit konkurrierenden moralphilosophischen Debatten. Dabei zeichnet sich die Frühe Neuzeit nicht zuletzt durch verschiedene Versuche aus, die immer weiter divergierenden und sich in ihren Geltungsgraden und Geltungsbereichen auseinander entwickelnden Wissensbestände erneut zusammenzubinden und als Einheit zu erfassen (Enzyklopädieprojekte, Wissenspanoptiken etc.). Da diese Versuche von selbstreflexiven Wissensdiskursen begleitet werden, die die Konstitutionsbedingungen von Wissen thematisieren, verfolgt die dritte Sektion des Tagungsbandes die zeitgenössischen Verhandlungen der Medialität von Wissen. Die Diskussionen um die Theorie und Geschichte von ‚Wissen‘ sind inzwischen unüberschaubar geworden. Wir verstehen unter ‚Wissen‘ ebenso vorläufig wie pragmatisch Kommunikate, die in verschiedenen Medien vermittel- und speicherbar sind und in einer bestimmten Situation für wahrheitsfähig gehalten bzw. mit denen Wahrheitsansprüche erhoben werden. Die Analyse der ‚Diskursivierung von Wissen‘ soll dabei ebenso undogmatisch zwei Suchrichtungen akzentuieren, die mit unterschiedlicher Konsequenz und Tiefenschärfe zur Geltung gebracht werden können: Zum einen schließen wir an die diskursanalytisch prominente Frage nach der Konstituierung des Wissbaren und Wissenswerten an, ohne behaupten zu wollen, man könne diese Frage nicht auch aus einer anderen Richtung und in einem alternativen Vokabular formulieren: Was wird überhaupt zum Gegenstand von Wissen? Wie wird etwas zum Gegenstand von Wissen? Wie werden Relevanzen markiert? Welche Strategien der Plausibilisierung werden dabei eingesetzt? Welche Anschlussmöglichkeiten ergeben

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Siehe bereits Thorsten Burkard/Markus Hundt/Steffen Martus/Claus-Michael Ort (Hgg.): Politik Ethik - Poetik. Diskurse und Medien frühneuzeitlichen Wissens. (Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit 1) Berlin 2011.

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sich, und wo liegen die Sollbruchstellen etwa in historisch und regional spezifischen Diskursformationen? Wie sehen die Transformationen, Applikationen, Funktionalisierungen und Umfunktionalisierungen von Wissen und Wissensordnungen aus? Und wie gelingt es gegebenenfalls, bestimmte Rollenmuster von Akteuren des Wissens, bestimmte soziale Positionen, bestimmte Aufmerksamkeitsformen oder Ausbildungswege zu institutionalisieren? Man könnte viele dieser Fragen etwa an den frühaufklärerischen Lexikonprojekten entfalten. Diese ‚enthalten‘ auf der einen Seite ‚merkwürdiges‘ Wissen, auf der anderen Seite arbeiten sie aber überhaupt erst daran, so etwas wie lexikonwürdiges Wissen zu installieren, Praktiken der Mediennutzung zu plausibilisieren und Formen der Medienvernetzung zu aktivieren.2 So setzt Johann Hübners Projekt eines Realen StaatsZeitungs- und Conversations-Lexicons (zuerst 1704) auf den Medienverbund von Buch und Periodikum bzw. darauf, dass mehrere Medien nebeneinander und ergänzend benutzt werden. Dies leuchtet allerdings nur im Fall eines Wissens ein, das der Mühe wert ist bzw. das eine eigentümliche und nicht selbstverständliche Form des ‚Willens zum Wissen‘ aktiviert, der „die so genannten Zeitungen oder Nouvellen mit Verstande“ zur Kenntnis nehmen möchte.3 Zugleich geht es bei der Etablierung lexikonwürdigen Wissens darum, Nutzungsangebote zu unterbreiten und entsprechende Personalstrategien zu entwerfen, etwa im Fall von Siegmund Gottlieb Corvinus’ Frauenzimmer-Lexicon (1715), das – der Selbstwerbung des Titels zufolge – vom Autor „auff Begehren ausgestellet“ wurde, aber natürlich das „Begehren“ nach Lexikonwissen für Frauen gleichermaßen stimulieren wollte, und zwar ebenso für Hausfrauen wie für galante und gelehrte „Frauenzimmer“.4 Bei der Etablierung und Transformation von Wissen im Rahmen einer frühneuzeitlichen „Netzwerkgesellschaft“5 geht es nicht nur, aber natürlich auch um Themen des Wissens, um die Ausbildung von thematischen Segmenten, um die Konstanz und den Wandel der Kategorisierung und Klassifikation bestimmter Inhalte und um Gegenstände sowie ‚Dinge‘ des Wissens. In den Beiträgen dieses Bandes werden drei Typen von Inhalten untersucht: (1) prinzipiell akzeptiertes wissenschaftliches Wissen im Bereich der artes liberales,

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Vgl. dazu am Beispiel insbesondere von Zedlers Universallexikon: Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens. Enzyklopädisches Schreiben im Zeitalter der Aufklärung. Berlin 2012. So in der Vorrede zur sechsten Auflage, zitiert nach: Johann Hübner: Reales Staats-Zeitungs- und Conversations-Lexicon […]. Die siebende Auflage […]. Nebst einem Anhange, vollständigen Registern, und einer ausführlichen Vorrede. Leipzig 1715, unpag. Vgl. dazu die programmatische Vorrede: Gottlieb Siegmund Corvinus: Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon […] Dem weiblichen Geschlechte insgesamt zu sonderbaren Nutzen, Nachricht und Ergötzlichkeit auff Begehren ausgestellet Von Amaranthes. Leipzig 1715, f. ):( 3r. So Erdmut Jost in der Einleitung zu: Briefwechsel. Zur Netzwerkbildung in der Aufklärung. Hg. von Erdmut Jost und Daniel Fulda für das Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung. Halle a.d. Saale 2012, S. 7ff.

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der Philosophie, der Theologie, der Jurisprudenz, der Medizin, der Naturwissenschaften und der artes mechanicae; (2) heterodox-häretisches (etwa hermetisches) Wissen; (3) selbstreflexives Wissen und Meta-Wissen, das die Medien und die rhetorischen, didaktisierenden und semiotischen (allegorisierenden, erzählenden usf.) Praktiken der Wissensdiskursivierung selbst betrifft. Die Analyse von Themen des Wissens kann bezogen werden auf Konstanz und Wandel der beteiligten materiellen und semiotischen (sprachlichen, insbesondere schriftlichen, aber auch ikonischen, musikalischen usf.) Speicher- und Verbreitungsmedien, also auf die Analyse von Medien des Wissens. Bekanntlich hat die Medienrevolution in der Frühen Neuzeit für die Wissensdiskursivierung weit reichende Folgen, auch wenn nach wie vor umstritten ist, wann und wie diese Folgen genau zutage treten. Rekonstruieren lassen sie sich etwa auf einer materiellen Ebene (Medien als Wissensträger), auf einer methodisch-prozeduralen Ebene (medienspezifische Diskursivierungsstrategien), in Bezug auf die Adressaten (Distribution von Wissen, Gelehrtendiskurs vs. Popularisierung, Literarisierung von Wissen u. a.) oder auch in Bezug auf die Ordnung des Wissens selbst. Außerdem ist der Wandel der semiotischen Medien zu untersuchen (Medien als Zeichensysteme), etwa die Ablösung der Kultursprache Latein durch die einzelnen Volkssprachen, die Etablierung von Standardsprachen in den einzelnen Ländern in Verbindung mit der Disqualifizierung der Dialekte, die Transformation literarischer und visueller Codes usw. Gerade hier ließen sich als dritte Komponente neben den Themen und Medien des Wissens noch Räume des Wissens in den Blick rücken, zumal in Bezug auf die sozialen und regionalen ‚Wanderungen‘ von Wissen. Unter diesem Aspekt wären großräumige und wirkungsmächtige Prozesse des Wissenstransfers zu untersuchen, wodurch sich nicht zuletzt interkulturelle Vergleichsperspektiven eröffneten. Diese Fragestellung zielt u. a. auf soziale, politische, konfessionelle, wirtschaftliche und technische Bedingungen ebenso wie auf geographische und im weiteren Sinne kulturräumliche Faktoren, die jeweils in Wechselbeziehung mit den zu untersuchenden Wissensformationen stehen. In diesem Tagungsband kann dieser Aspekt nur am Rand behandelt werden, obwohl bestimmte Medienkulturen, Medienverbünde und korrelierende Wissensdiskursivierungen durchaus von spezifisch regionalen Bedingungen zehren.6 Insbesondere die skizzierten medienhistorischen Fragestellungen berühren deutlich den zweiten erkenntnisleitenden Aspekt des Tagungsbandes: Mit dem Begriff der ‚Diskursivierung‘ akzentuieren wir den Prozesscharakter solcher Praktiken und Verfahren der Etablierung von Wissen, die die Dauer und Anschlussfähigkeit von spezifischen Kommunikationsräumen sichern. Dabei gibt es viele Übergänge und Grauzonen zwi-

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Vgl. dazu in exemplarischen Studien: Daniel Bellingradt: Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches. Stuttgart 2011.

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schen Spezialisten- und Alltagskulturen des Wissens7, zwischen stabilem und fragilem, weithin akzeptiertem und problematischem Wissen. Zudem umfassen solche Prozesse der Konstitution und Generierung in der Regel die Marginalisierung, Tilgung oder Disqualifizierung von anderem Wissen. Martin Mulsow hat mit dem Konzept des „Wissensprekariats“ nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, wie instabil, fragwürdig und unsicher die enorm vielfältigen Wege der Diskursivierung von Wissen sind, und dies aus ganz unterschiedlichen Gründen: Soziale und politische Faktoren können dazu beitragen, Überlieferungen einfach abbrechen zu lassen; in medienhistorischer Dimension ist nicht allein auf die breite Dispersion von Wissen in der Frühen Neuzeit hinzuweisen, die die Wahrscheinlichkeit einer zumindest partiellen Überlieferung selbst von radikal häretischen Wissensbeständen erhöht, sondern auch auf die Fragilität von Trägern des Wissens – Handschriften können verschwinden, Postsendungen verloren gehen, die Voraussetzungen für das Verständnis von Zeichen verdämmern und sogar ganze Buchbestände zerstört werden. Anders als etwa das Konzept des radikalen Wissens oder des Wissens ‚im Untergrund‘8 liegt eine Pointe des „prekären Wissens“ darin, dass es sich diffus verteilt und bis „in ‚obere‘ Schichten der etablierten Wissenschaft“ hineinreicht,9 also der Verunsicherung kaum eine stabile Grenze setzt. Jedenfalls besteht ein Effekt der in höchstem Maße dynamisierten, gleichsam aufgeregten Wissensdiskursivierung in der Frühen Neuzeit darin, dass trivialdidaktische und instruktionsoptimistische Haltungen hinterfragt werden. Man verliert im Hin und Her der Argumente, in den unübersehbaren und teils mit aller Härte um die persönliche Existenz geführten Konflikten das Vertrauen darauf, dass das Wissenswerte sich eigentlich von selbst versteht. Wissen und Wissensvermittlung werden in einer Weise problematisch, dass Aspekte der Diskursivierung von Wissen der Sache nach zum Wissensbestand der Akteure selbst gehören. Christian Thomasius etwa gelangt nach einer langen Streitgeschichte, in der das ‚bessere Argument‘ nicht überzeugen konnte, weil u. a. strittig war, was überhaupt als Argument gelten konnte, dazu, das latente, zeitintensive und prozessualisierte ‚Ins-Spiel-Bringen‘ von Wissen zu akzeptieren. Es ist nutzlos, so erklärt er in den Fundamenta Juris Naturae et gentium (1705, deutsch 1709), mit dem Zeigefinger auf den Unverständigen zuzugehen. Vielmehr empfiehlt es sich, denjenigen, der nicht wissen will und vielleicht auch (zunächst) nicht wissen kann, „bescheidentlich“, ohne jede „Hefftigkeit“ zu erinnern, und so lange zu „warten / biß

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Vgl. zur alltagskulturellen Diskursivierung von Wissen, die ihre Überzeugungen nicht zuletzt über den Glauben gewinnt, „dass alle anderen daran glauben“, bzw. durch die „wechselseitigen Spiegelungen der Kommunikanten“: Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M. 2012, hier z. B. S. 35f. Auch hier sei auf die paradigmatischen Studien von Martin Mulsow verwiesen, z. B.: Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720. Hamburg 2002. Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin 2012, S. 18f.

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die Leser selbst diese Wahrheit mehr in ihren Hertzen fühlen / als besorget leben / daß sie sich hierüber kampeln und mit einander disputiren“.10 Dieser Ratschlag könnte auch für die aktuelle Diskursivierung von Wissen noch relevant sein. Zu den Beiträgen des Bandes: In seinen einleitenden Theoretisch-methodologischen Bemerkungen zu Wissen und Wissensgeschichte schlägt Michael Titzmann eine forschungspragmatische Orientierung von Foucaults Diskursbegriff vor. Mit Blick auf seine Anwendbarkeit im Rahmen einer historischen Wissensanalyse wird ‚Diskurs‘ aufgefasst als ein Wissen generierendes System, das durch diverse legitimatorische und formative Kriterien definiert ist. Eine Rekonstruktion von Diskursen und diskursiven Formationen widmet sich demnach den Regeln und Normen, an die Gegenstandsbereiche des Wissens je kulturell gekoppelt sind. Am Beispiel der Geschichte religiöser Wissensbestände in Früher Neuzeit und Aufklärung veranschaulicht Titzmann die Wandlung, Erneuerung und Ablösung dieser regulativen Bedingungen von Wissen im Spannungsfeld des Bemühens um eine konservative Stabilisierung bestehenden Wissens einerseits und der Konfrontation mit neuen, das traditionelle Wissen bestreitenden Propositionen andererseits. Die drei folgenden Aufsätze behandeln diskursgeschichtliche Ausschnitte der Tradierung, Umformung und Neuetablierung naturwissenschaftlicher Wissensmengen. Tobias Bulang stellt in seinem Beitrag zur Diskursivierung pflanzenkundlichen Wissens bei Leonhard Thurneysser zum Thurn den Versuch einer Reintegration von Wissensdiskursen dar, die sich im Verlauf der Frühen Neuzeit zunehmend ausdifferenzieren. So besteht das Ziel von Leonhard Thurneyssers Herbarium darin, der Datenexplosion des pflanzenkundlichen Wissens mittels einer multimedialen, synthetisierenden Strategie der Diskursivierung zu begegnen. Wie Bulang veranschaulicht, entwickelt die Zusammenführung von Traditionen und Innovationen der Signaturenlehre, der paracelsischen Pflanzenkunde, der Destillierbücher, des Kräuterbuchs usw. zwar innovative Formate der Wissenssynthetisierung, scheitert aber letztlich an ihrem Anspruch auf Vollständigkeit und Systematizität und bleibt für die weitere Geschichte der Pflanzenkunde ohne Folgen. Auch Volkhard Wels’ Beitrag zur Tradierung alchemischen Wissens bei Michael Maier, Andreas Libavius und Oswald Croll verhandelt die Auseinandersetzung mit Wissenstraditionen und ihrer diskursiven Transformation. Anhand des Umgangs der genannten Autoren mit dem traditionellen alchemistischen Schweigegebot zeigt Wels, inwiefern sich um 1600 ein radikaler Wandel der alchemistischen Sprache vollzieht, der im Kontext einer Entwicklung der Alchemie zu einer Chemie nach den Maßgaben einer modernen Wissenschaftlichkeit steht: Im Dienst eines Fortschrittsgedankens weicht die

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Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Bd. 18: Grundlehren des Natur- und Völkerrechts. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Frank Grunert. Personen- und Sachregister von Kay Zenker. Hildesheim u. a. 2003, S. 101.

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alchemistische Arkansprache einer allgemein zugänglichen und verständlichen Formatierung von Wissen. Parallel hierzu weist Wels die Umfunktionalisierung hermetischer Sprache zu einer genuin poetischen Form nach. Dass der Übergang von dem – in sich äußerst heterogen ausgestalteten – Wissensbereich der Alchemie hin zu einer methodisch streng reglementierten Experimentalkultur auch Momente der Kontinuität aufweist, erläutert Michael Lorber in seinem Beitrag Alchemie, Elias artista und die Machbarkeit von Wissen in der Frühen Neuzeit. Er zeigt, dass Alchemie als Wissenskonfiguration zu begreifen ist, deren Zugriff auf die Welt zwar noch dem Wunsch nach materieller und geistiger Läuterung und dem Ursprungsmythos einstiger Vollkommenheit verpflichtet ist. Auf praktischer Ebene aber wird das Experiment bereits als legitime Wissensquelle etabliert und verweist in der Produktion von Erkenntnismomenten auf die Bacon’sche Methodik. Mit den frühneuzeitlichen Praktiken der Diskursivierung von theologischem und moralphilosophischem Wissen geraten in den folgenden Studien Aspekte dezidiert autoritativer Strategien der Etablierung von Wissen in den Blick. So analysiert Barbara Becker-Cantarinos Beitrag Kulturelles Wissen zwischen Glaube und Aberglaube: Zum ,Hexensabbat‘ bei Martin del Rio, Pierre de Lancre und Johannes Praetorius die vielschichtige sowohl schrift- als auch bildmediale Konstruktion des frühneuzeitlichen Wissens über Hexen und Hexerei, das als Herrschaftswissen dem Zweck der Sozialdisziplinierung diente. Becker-Cantarinos Ausführungen rekonstruieren den Prozess einer breit gestreuten Umformung von tradiertem Wissen, die mittels einer Verflechtung von theologischer Fundierung, juristischer Legitimierung sowie didaktischer Belehrung das kulturelle Wissen über eine weiblich codierte Alterität popularisierte. Michael Titzmann untersucht in seinem zweiten Beitrag über Antichristliche und antireligiöse Diskurse in Früher Neuzeit und Aufklärung die denkgeschichtlichen Effekte der durch die frühneuzeitliche Medienrevolution beförderten Konfrontation von christlich-theologischem Wissen mit heterodoxen Ideologien. Durch die Konkurrenz Autorität beanspruchender Systeme verlagert sich der diskursive Schwerpunkt auf eine vernunftzentrierte Begründung von Wissen. Dies führt zu einer legitimatorischen Krise christlicher bzw. generell religiöser Argumentationen, der nicht nur intellektuell, sondern auch mit machtpolitischen Mitteln begegnet wird. Dieser Prozess einer fundamentalen Transformation von Begründungsmaßstäben mündet nach Titzmann in neuartig konzipierte Diskurse, wenn etwa moralisches Wissen um die Mitte des 18. Jahrhunderts jenseits religiöser Dogmen auf Grundlage logischer wie empirischer Kriterien verhandelt wird. Misia Doms widmet sich in ihrem Aufsatz Erkenntniswege und Übungsgelände. Raumdarstellungen zur Vermittlung praktisch-philosophischen Wissens in Moralischen Wochenschriften der Frühaufklärung der Untersuchung einer spezifischen Praxis der Formatierung von Moral. Sie rekonstruiert exemplarisch, inwiefern frühaufklärerische Raumentwürfe der didaktischen Vermittlung moralischen Wissens dienen, und kann insbesondere zeigen, auf welche Weise die Moralischen Wochenschriften den Gegen-

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satz zwischen einer tradierten, primär religiös fundierten Moral und einer frühaufklärerisch säkularisierten Ethik verhandeln. Die dritte Sektion des Bandes fokussiert primär die an der Diskursivierung von Wissen beteiligte Ebene der Medialisierung sowie deren frühneuzeitliche Verhandlung als Wissensgegenstand selbst. Helmut Zedelmaier beschäftigt sich in seinem Artikel Suchmaschinen in der Frühen Neuzeit insbesondere mit Konrad Gessners 1545 gedruckten Bibliotheca universalis, die als prominentestes Werk unter den Indizes des 16. Jahrhunderts gilt. Exemplarisch vorgestellt wird hiermit einer der frühneuzeitlichen Versuche, eine Selektion der infolge der Medienrevolution exponentiell angewachsenen Wissensmengen zu ermöglichen. Während Buchindizes traditionell bereits im Mittelalter der Erschließung von Wissen dienten, entwickelte die Frühe Neuzeit zunehmend ausdifferenzierte Formen der Verweisung. Dabei steht Gessners Index paradigmatisch für eine Verselbständigung der Verweisfunktionen: Sowohl alphabetisch als auch systematisch strukturiert verweist er auf einen Kosmos außerhalb seiner selbst verfügbarer Titel und sucht über genaue Standortangaben, das buchmedial gespeicherte Wissen einer gezielten Rezeption zugänglich zu machen. Das Gespräch als Medium der Wissensvermittlung auf dem deutschen Sprachgebiet des 17. Jahrhunderts untersucht Rosmarie Zeller am Beispiel von Harsdörffers Gesprächspielen, Zesens Sprachschriften und Rists Monatsgesprächen. In Auseinandersetzung mit den Gesprächstexten und den darin angestellten Reflexionen über ihre Funktionsweise zeigt Zeller, wie durch das Gespräch Wissen popularisiert und in der Tradition v. a. der italienischen Sprachakademien aufbereitet wurde. Durch seine inhaltliche wie formale Variabilität tritt das Gespräch in Konkurrenz insbesondere zu arrivierten institutionalisierten Formen wie beispielsweise der Disputatio. Hanspeter Marti behandelt die Beziehung zwischen Wissensdiskursen und frühneuzeitlichem akademischem Unterricht. Im Zentrum steht die unterrichtsgeschichtliche Bedeutung des akademischen Kleinschrifttums mit einem Schwerpunkt auf frühneuzeitlichen Dissertationen. Marti eröffnet hiermit einen neuen Zugang zum Bereich des Lehrens und Lernens an den Hohen Schulen, der die Aufmerksamkeit auf die Medien und die Modi der sprachlichen Vermittlung gelehrten Wissens sowie auf seine Produktion und Rezeption unter bestimmten gesellschaftlichen, kultur-, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Bedingungen lenkt. Ingo Berensmeyer stellt in seinem Aufsatz „Divided and Distinguished Worlds“: Zur Diskursivierung literarischer Wissensräume im England des 17. Jahrhunderts einige Hauptlinien der Diskursivierung von Wissen vor dem Hintergrund eines breit angelegten gesellschaftlich-kulturellen Umbaus von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung dar: Angesichts der im Kontext des Medienumbruchs entstehenden frühneuzeitlichen Kontingenzerfahrungen, der Diversifizierung von Beobachtungshaltungen und der Möglichkeit paralleler Deutungsalternativen von Welt ändern sich die Anforderungen an literarische und ästhetische Kommunikation grundlegend. Berensmeyer er-

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läutert die geschichtliche Funktion des englischen Neoklassizismus als Reaktion auf diese Problemlage. Neoklassizistische Literatur entwickelt sich im 17. Jahrhundert demnach zu einem Medium, das unterschiedliche kommunikative Perspektiven integriert, indem es sie einer normativen Ordnung eingliedert. Diese Strategie der Reduktion gesellschaftlicher Komplexität hatte langfristig Erfolg. Ein umfassendes und überaus erfolgreiches Projekt der frühneuzeitlichen Diskursivierung von Wissen behandelt Hans-Joachim Jakob in seinem Artikel Vom Umgang mit Wissen im Wissenstheater. Aspekte von Wissenskonstituierung und -etablierung in der theatrum-Literatur des 17. Jahrhunderts. Jakob skizziert die forschungspragmatischen Probleme der Erschließung eines so umfangreichen wie heterogenen Gegenstandsfeldes und veranschaulicht anhand dreier Theatra des 16. und 17. Jahrhunderts, die ganz unterschiedlich gelagerten Ansprüchen auf Systematizität und Komplexität verpflichtet sind, die historische Bandbreite divergierender Konzeptionen von Wissensdiskursivierung. Irmgard Scheitler untersucht den Verbreitungsgrad von Musikwissen in der Frühen Neuzeit. Anhand einer Analyse der Verschlüsselung bzw. der Auslassung von Notenund/oder Liedtextangaben innerhalb frühneuzeitlicher Dramentexte kann sie auf die Existenz eines umfangreichen Musikwissens in der Gesellschaft des 16. und 17. Jahrhunderts schließen. Angelika Linke stellt im Blick auf Stilfiguren, kollektives Wissen und kulturelle Dispositionen Überlegungen zum frühneuzeitlichen Wandel innerhalb körperlicher, modischer und sprachlicher Zeichensysteme vor. Auf Basis von normativen bzw. reflexiven Quellen – Umgangs- und Klugheitslehren, Complimentier- und Gesprächsbücher, zeitgenössischen Berichten und Memoiren – untersucht sie die hoch entwickelte frühneuzeitliche Repräsentationskultur des Leibes und konstatiert eine sprachliche wie auch körperliche Medien übergreifende kollektive stilistische Veränderung, die als Dynamisierung beschreibbar ist. Vor dem Hintergrund eines Umbaus der adlig dominierten Ständegesellschaft zu einer bürgerlichen Gesellschaft plausibilisiert Linke die Lesart dieses stilistischen Wandels als Medium einer übergeordneten gesellschaftlichen Dynamisierung, die sowohl Konstruktionen des Selbst als auch seiner Sozialität betrifft. Im letzten Aufsatz des Bandes Formen und Funktionen von Verschriftlichung im klassischen China: Objekte und funktionale Inschriften während der Ming Dynastie (1368-1645) erprobt Dagmar Schäfer das analytische Potenzial einer Gegenüberstellung von textlichen und materiellen Quellen. Mit dem Vergleich zwischen der schriftlichen Reglementierung der Kontrolle handwerklicher Güter im klassischen China einerseits und deren materieller Umsetzung als Inschrift andererseits eröffnet sie eine neue Perspektive auf die analytische Bewertung von verschiedenen Diskursebenen und zeichnet die Diskrepanzen zwischen einer theoretischen Kodifizierung staatlicher Kontrolle und der davon unabhängigen Entstehung materieller Praktiken nach.

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Wir möchten an dieser Stelle der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige Unterstützung der Tagung herzlich danken. Ebenso gilt unser Dank allen Tagungsteilnehmern und insbesondere allen Autorinnen und Autoren, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben. Für Einrichtung und Redaktion des Bandes sind wir Daniel Jäschke, Marko Rosen und Michael Scherer zu großem Dank verpflichtet, für Korrekturen einzelner Beiträge außerdem Frau Eltje Böttcher. Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus, Steffen Ohlendorf und ClausMichael Ort Kiel und Berlin im März 2013

Michael Titzmann (Passau) Wissen und Wissensgeschichte. Theoretisch-methodologische Bemerkungen

1. Vorschläge zur terminologischen Verständigung In diesem ersten Teil schlage ich einige Unterscheidungen und terminologische Festlegungen zum Gegenstandsbereich ‚Wissen‘ vor, von denen ich hoffe, dass sie konsensfähig sein sollten.1 Sprachlich unterscheiden wir im Deutschen ‚Wissen‘ und ‚Können‘, im anglophonen Bereich auch als ,knowing that‘ vs. ,knowing how‘ wiedergegeben,2 hier in der Folge als propositionales Wissen vs. prozedurales Wissen benannt.3 Während ersteres grundsätzlich verbalisierbar ist, gilt das für letzteres nur partiell, soweit es sich als Menge von Anweisungen zur Ausführung bestimmter Operationen (z. B. Rad fahren, eine Arie singen usw.) versprachlichen lässt; dieser propositionalisierbare Anteil am prozeduralen Wissen reicht aber weder aus noch ist er nötig, um die Ausführung der Operation zu beherrschen. Darüber hinaus kann es weiteres propositionales Wissen über solche Operationen geben, das nicht Teil des prozeduralen Wissens desjenigen ist, der die Operati-

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Außer den wenigen Titeln der wissenschaftlichen Literatur, auf die ich in der Folge verweise, seien als Werke, die mich (vor Jahrzehnten) zur Beschäftigung mit ,Wissen‘ angeregt haben, aus der Wissenssoziologie Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M. 1970 und aus der Wissensgeschichte Michel Foucault: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris 1966 und Michel Foucault: L’ordre du discours. Paris 1971 erwähnt. Auf diese und einige eigene Beiträge dazu (Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München 1977; ders.: Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik. In: Semiotik/Semiotics. Hg von Roland Posner u. a. Berlin/New York 2003, S. 3028-3103; ders.: Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation. In: Medien und Kommunikation. Hg. von Hans Krah und Michael Titzmann. Passau 2006, S. 67-92) wird in der Folge nicht explizit verwiesen. Vgl. Klaus W. Hempfer/Anita Traninger: Einführung. In: Dynamiken des Wissens. Hg. von Klaus W. Hempfer und Anita Traninger. Freiburg/Berlin/Wien 2007, S. 7-21. Zur Unterscheidung vgl. Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt a.M. 1997, S. 209 und Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Neue, vollst. überarb. Aufl. Frankfurt a.M. 2003, S. 155.

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on ausführt, etwa ein biologisch-physikalisches Wissen über die Bedingungen, die eine erfolgreiche Ausführung (z. B. eben des Radfahrens bzw. Arie-Singens) ermöglichen; durch den Besitz solchen Wissens erlangt man freilich ebenfalls die Fähigkeit zur Ausführung nicht. Im Folgenden soll nur vom propositionalen Wissen die Rede sein. Wissen ist nachweisbar immer nur gegeben in – und rekonstruierbar aus – semiotischen Äußerungen sprachlicher oder nicht-sprachlicher Art, wobei die Wahl des Zeichensystems (z. B. natürliche oder künstliche Sprache, nicht-sprachliche Zeichensysteme) und die Wahl des Mediums (Mündlichkeit/Schriftlichkeit, Texttyp bzw. Gattung, multimediale Präsentation usw.), aufgrund derer das Wissen jeweils gegeben ist, von zentraler Relevanz ist. Die semiotische und mediale Präsentation eines Wissens in einer Äußerung kann zum einen durch die Art des Wissens bedingt sein: bestimmte Wissensmengen lassen sich besser oder ausschließlich z. B. in Formeln, Tabellen, Abbildungen repräsentieren. Sie kann zum anderen wichtige soziale Implikationen haben. Wenn etwa Autoren der Frühen Neuzeit sich gegen die Gelehrtensprache Latein für eine Volkssprache – z. B. Italienisch4 oder Französisch5 oder gar Deutsch6 – entscheiden, machen sie damit Wissensbehauptungen einerseits neuen sozialen Gruppen in ihrer jeweiligen Kultur zugänglich, und schließen damit zugleich andererseits Gruppen aus anderen Kulturen, die zwar des Lateinischen, nicht aber des Italienischen oder Französischen mächtig sind, aus der Wissenskommunikation aus; folglich werden dann Übersetzungen relevant. Und wenn etwa politische oder religiöse Macht bestimmte Wissensbehauptungen verbietet und ihnen durch Zensur und Sanktionen den Zugang zum Medium des Buchdrucks unmöglich macht, dann ist die Distribution solcher Äußerungen, etwa wie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, auf anonyme, klandestin zirkulierende Manuskripte, später im 18. Jahrhundert auch auf ,illegale‘, ebenfalls nur heimlich verbreitete Drucke angewiesen. Auch können verbotene Wissensbehauptungen in der Äußerung dank geschickter sprachlicher Formulierung versteckt werden, indem sie nicht explizit geäußert werden, aber als Implikation erschließbar sind, oder aber, wie in nicht wenigen der literarischen Utopien der Frühen Neuzeit, fremden Kulturen oder Gruppen in den Mund gelegt werden, von denen sich die Sprechinstanz des Textes scheinbar distanziert.7 Die kleinste Einheit von Wissen soll Wissenselement heißen. Ein Wissenselement besteht in einer Proposition, die etwas behauptet oder etwas bestreitet. Diese Proposition ist zu unterscheiden von dem Satz oder der Satzmenge, mittels derer das Wissenselement etwa in sprachlichen Texten repräsentiert ist; denn ein und dasselbe Wis-

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So z. B. Galileis hauptsächliche Publikationen nach dem Sidereus Nuncius (Venedig 1610). So z. B. René Descartes: Discours de la méthode. Leiden 1637. So z. B. Johannes Kepler: Tertivs Interveniens. Das ist / Warnung an etliche Theologos, Medicos vnd Philosophos […]. Frankfurt 1610. Zu diesen Praktiken der frühneuzeitlichen europäischen Utopien vgl. Michael Titzmann: Die Relation von Glauben und Wissen(schaft) in europäischen Utopien der Frühen Neuzeit. In: Semiotische Weltmodelle. Hg. von Hartmut Schröder und Ursula Bock. Berlin 2010, S. 570-634.

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senselement kann in einem oder in verschiedenen Texten in unterschiedlichen sprachlichen Formulierungen gegeben sein. Vor allem eine Unterscheidung ist dabei wichtig: Die Wissensproposition kann in einem Text(korpus) explizit oder implizit gegeben sein. Explizit ist sie gegeben, wenn ein Text(korpus) sie direkt, in welcher sprachlichen Formulierung auch immer, artikuliert: wenn ihr also ein Satz(teil) an der Textoberfläche entspricht. Implizit gegeben ist sie, wenn sie nur als Präsupposition oder als Folgerung aus einer expliziten Äußerung erschlossen werden kann. Es kann also ein Wissen geben, das nur implizit bleibt. Solches implizite Wissen kann im Extremfall ein den Kulturteilnehmern nicht bewusstes Wissen sein, das aber grundsätzlich bewusstseinsfähig ist: also bewusst werden kann, etwa in intrakulturellen oder interkulturellen Begegnungen mit sozialen Gruppen, die ein solches nur implizites Wissenselement infrage stellen oder negieren. Ein Wissenselement kann von einem Text(korpus) auf verschiedene Weise modalisiert werden: Ihm kann z. B. der epistemische Modus des Wissens, des Glaubens, der (Un-)Wahrscheinlichkeit, der (Un-)Möglichkeit zugeschrieben werden. Wenn eine solche Modalisierung existiert, ist sie nach Möglichkeit zu rekonstruieren, da der epistemische Modus einer Proposition natürlich bestimmt, welche Rolle sie etwa in logischen Folgerungen spielen kann. Denn aus einer als ‚wahrscheinlich‘ geltenden Proposition lässt sich nicht folgern, was aus einer geschlossen werden kann, die als ‚wahr‘ modalisiert ist. Und Propositionen des Typs ‚ich glaube/wir glauben, dass p‘ haben selbst dann, wenn ‚glauben‘ hier nicht im alltäglichen Sinne eines ‚ich weiß nicht sicher, ob p‘, sondern im quasi-religiösen Sinne eines ,ich bin fest überzeugt, dass p‘ gemeint ist, einen anderen Status als eine Proposition des Typs ,ich weiß, dass p‘. Eine Proposition ist nun dann und nur dann ein Wissenselement, wenn sie in einem raumzeitlichen Segment von (fast) allen Mitgliedern dieser Kultur oder Epoche (allgemeines Wissen) oder von mindestens einer Gruppe dieser Kultur bzw. Epoche (gruppenspezifisches Wissen) für wahr gehalten wird, unabhängig davon, ob sie als ,Glauben‘ oder als ,Wissen‘ modalisiert wird, und unabhängig davon, ob sie anderen Kulturen bzw. Epochen – etwa unserer heutigen – als wahr gilt (wissenssoziologischer Wissensbegriff). Die intrakulturelle Gruppe, für die ein Wissenselement spezifisch ist (das also von anderen Gruppen nicht geteilt wird), kann durch Alter, Geschlecht, Beruf, Sozialstatus, Ideologie oder durch jedes beliebige andere soziale Merkmal definiert sein. Ein gruppenspezifisches Wissen ist dann ein konkurrenzloses, wenn keine andere Gruppe über Wissen zu diesem Gegenstandsbereich verfügt; das kann z. B. bei philosophischem oder wissenschaftlichem Wissen der Fall sein. Ein gruppenspezifisches Wissen ist dann ein konkurrierendes, wenn mindestens eine andere Gruppe über alternatives Wissen zum selben Gegenstandsbereich verfügt; das ist etwa in der Frühen Neuzeit innerhalb des ,Christentums‘ der Fall, wo Konfessionen und Sekten konkurrieren, die jeweils mindestens partiell unvereinbare Behauptungen aufstellen; es ist ebenso der Fall in der Kon-

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kurrenz der traditionellen aristotelisch-ptolemäischen Naturphilosophie mit der neuen Naturwissenschaft der Galilei, Kepler, Newton. Jede neue Proposition, die von einem Text als wahr gesetzt wird, ist zunächst eine Wissensbehauptung, die zum Wissenselement erst dann wird, wenn sie in das allgemeine oder zumindest in ein gruppenspezifisches Wissen (einer schon existierenden oder sich neu bildenden Gruppe) aufgenommen wird. Gruppenspezifische Propositionen sind für die Gruppe Wissenselemente, für alle anderen können sie, ist das Wissen konkurrenzlos (wie etwa das der Naturwissenschaften ab einem bestimmten Zeitraum), ebenfalls als Wissenselemente anerkannt sein, auch wenn sie den anderen möglicherweise nicht einmal bekannt sind: Der Nicht-Physiker glaubt, dass der Physiker etwas weiß. Ist das Wissen hingegen ein konkurrierendes, kann es für die Mitglieder der anderen Gruppen nur den Status von Wissensbehauptungen haben. Innerhalb eines Raumzeitsegments kann nun sowohl die Gesamtheit als auch jede Teilgruppe der Individuen sowohl Wissen über das Wissen anderer Kulturen bzw. Gruppen (‚der Christ weiß, dass der Moslem glaubt, dass p‘; ,der Kopernikaner weiß, dass der Aristoteliker annimmt, dass q‘) als auch Wissen über das eigene Wissen haben. Über jedem impliziten Wissen einer kulturellen Praxis (z. B. den Regularitäten einer Dichtungsgattung in der Frühen Neuzeit) kann eine explizite Theorie (z. B. die der Rhetoriken und Poetiken), über jeder expliziten Theorie etwa der neuen Naturphilosophie/-wissenschaft eine Metatheorie, z. B. eine Wissenschafts- oder Erkenntnistheorie,8 konstruiert werden. Eigenes implizites oder explizites Wissen wird natürlich in der Frühen Neuzeit auch in politologischen oder moral- bzw. rechtsphilosophischen Theorien reflektiert; ebenso dienen die neuen (protestantischen) Hermeneutiken, als Theorien der Praktiken der Bibelexegese, einer theoretischen Legitimation der eigenen religiösen Wissensbehauptungen. Jede solche Theorie oder Metatheorie über eigenes Wissen kann ihrerseits Teilmenge des allgemeinen oder gruppenspezifischen Wissens werden. Ob eine aus einem Text(-korpus) interpretatorisch abgeleitete Proposition ein – sei es: allgemeines, sei es: gruppenspezifisches – Wissenselement ist, kann natürlich nur durch eine propositionale Analyse eines repräsentativen Textkorpus entschieden werden. Ein solches Korpus muss eine auch statistisch hinreichende Auswahl aus all den Texten des Raumzeitsegments umfassen, in denen explizit oder implizit Aussagen über den Gegenstandsbereich gemacht werden, über den die Proposition eine Behauptung aufstellt oder bestreitet. Der Nachweis, eine Proposition sei ein Wissenselement, kann natürlich auch anhand von intrakulturellen Wissenssummen (Lexika und sonstige Nachschlagewerke) geführt werden, sofern deren – allgemeine oder gruppenspezifische – Akzeptabilität und Repräsentativität, wiederum aufgrund anderer Texte, nachgewiesen werden kann.

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So als Wissenschaftstheorie z. B. Francis Bacon: Instauratio magna [= Novum Organum]. London 1620; so als Erkenntnistheorie z. B. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. London 1690.

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Die Gesamtmenge des allgemeinen Wissens und der gruppenspezifischen Wissensmengen eines Raumzeitsegments soll kulturelles Wissen heißen. Dieses Wissen umfasst heterogene Teilmengen: vom Alltagswissen bis zu spezialistischen Wissensmengen der Theologie, Philosophie, Wissenschaft, vom Wissen über Einzelpersonen und Einzelereignisse9 bis zu Regularitäts- und Gesetzesannahmen, vom (zumindest scheinbar) deskriptiven Wissen über Mensch, Welt, Gott bis zum normativen Wissen poetologischer, sozialer, politischer, juristischer, theologischer, moralischer Wert- und Normensysteme. Diese Gesamtmenge des kulturellen Wissens ist allenfalls zum Teil eine unstrukturierte Menge, eine bloß additive Sammlung von Wissenselementen: Sie ist weitgehend in – ihrerseits in sich geordnete – Teilmengen geordnet. Diese Wissensordnung eines Raumzeitsegments kann wiederum selbst Teil des kulturellen Wissens und Gegenstand von Theorien der Epoche werden.10 Das kulturelle Wissen organisiert sich nicht zuletzt durch Klassen von Gegenständen bzw. Realitätsbereichen, zu denen ein Raumzeitsegment über Wissen zu verfügen meint. Welche Gegenstandsklassen bzw. Realitätsbereiche, zu denen man Wissen haben kann, unterschieden werden und als relevant gelten, ist seinerseits eine historische Variable und ein möglicher Teil des Wissens: Gegenstandsklassen/Realitätsbereiche sind selbst kulturell konstruierte theoretische Objekte, und eine Realitätsklassifikation kann ihrerseits im Wissenssystem umstritten sein. So wird sich erst im Verlaufe des 18. Jahrhunderts ein theoretisches Objekt ,menschliche Psyche‘ als abgegrenzter Gegenstand etablieren, der früher allenfalls als Teilproblem des Gegenstands ,Seele‘ im theologischen Sinne existierte (wenngleich es natürlich quasi-psychologische Propositionen in unterschiedlichen Diskursen und Texttypen gab).11 Umgekehrt wird ein im 17. Jahrhundert weitgehend unumstrittener Gegenstandsbereich ,Geisterwelt‘ (bevölkert von ,Engeln‘, ,Teufeln‘ und ähnlichen interessanten Geschöpfen) im Verlaufe des 18. Jahrhunderts zumindest unter den Aufklärern allmählich abhandenkommen. Eng mit der jeweiligen kulturellen Klassifikation der Welt in Gegenstandbereiche verbunden ist, was man den kulturellen Realitätsbegriff nennen kann: Was gilt überhaupt als ‚Realität‘, welche Klassen von Wesenheiten und Ereignissen hält man für (un)möglich usw.?

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Z. B. ‚Der gegenwärtige König von Frankreich heißt Louis XIV.‘; ,Im Dreißigjährigen Krieg kämpfte Frankreich auf Seiten der deutschen Protestanten‘. Nur zwei Beispiele frühneuzeitlicher theoretischer Wissensklassifikationen sehr unterschiedlicher Art seien hier genannt: Alsteds Encyclopaedia septem tomis distincta (Herborn 1630) und Bacons The Advancement of Learning (1605). So hat sich etwa in der Gegenwart seit nicht allzu langer Zeit ein neuer transdisziplinärer Gegenstandsbereich ‚Wissen‘ etabliert, über den es inzwischen reichlich – durchaus heterogene – Publikationen gibt und an dem wir uns bei dieser Tagung ja auch abgearbeitet haben. Vgl. dazu u. a. Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin/New York 2008 und v. a. Claus-Michael Ort: Das Wissen der Literatur. Probleme einer Wissenssoziologie literarischer Semantik. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hg. von Tilmann Köppe. Berlin/New York 2011, S. 164-191.

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Die Teilmenge des kulturellen Wissens zu einer kulturell unterschiedenen Klasse von Gegenständen kann als (Quasi-)Theorie beschrieben werden:12 Eine ,Theorie‘ in diesem weiten Sinne ist eine Menge von Propositionen zu einer kulturellen Gegenstandsklasse, die sich in der interpretatorischen Rekonstruktion als eine – in variablem Umfang – logisch und hierarchisch geordnete Menge darstellen lässt. Mindestens Teilmengen einer solchen (Quasi-)Theorie haben untereinander rekonstruierbare logische Beziehungen, d. h. sie sind z. B. Voraussetzungen oder Folgerungen aus anderen Propositionen dieser Theorie; manche haben einen größeren Anspruch auf Verallgemeinerung als andere (,alle x sind a‘, ,einige x sind b‘); manche formulieren quasi-kausale Annahmen (,wenn p, dann q‘). Unter diesem Begriff der ,Theorie‘ seien jedenfalls sowohl – oftmals nicht explizit artikulierte – Alltagstheorien (z. B. kulturell ,selbstverständliche‘ Annahmen über den Menschen im Allgemeinen oder Konstrukte von Geschlechterrollen) als auch pseudowissenschaftliche (z. B. alchimistische oder okkultistische Wissensbehauptungen, die sich noch im 18. Jahrhundert – freilich auch später – gern als ,wissenschaftlich‘ präsentieren) oder wissenschaftliche Theorien (für die seit ihren Anfängen bei Galilei neue Rationalitätskriterien gelten) subsumiert. Zu erläutern bleibt ein in den letzten Jahrzehnten in der denk- und literaturgeschichtlichen Praxis und Theoriebildung sehr zentraler Begriff, den Michel Foucault eingeführt hat:13 der Begriff des ‚Diskurses‘. Gegenüber einer sehr inflationären und oft nicht eben präzisierten Verwendung sei hier eine Explikation des Begriffs vorgeschlagen, die die Begriffsbedeutung zwar gegenüber Foucaults Umschreibungen modifiziert, aber vielleicht den Vorteil hat, dass sie den Begriff operationalisierbar macht, d. h. zu entscheiden erlaubt, was in einem gegebenen Raumzeitsegment sinnvoll unter diesen Begriff subsumiert werden kann. Diskurs soll also ein (wiederum nur anhand eines repräsentativen Textkorpus rekonstruierbares) System der Produktion und Distribution von Wissen heißen, das sich in verschiedenartigen Texten unterschiedlicher Texttypen/Gattungen manifestieren kann und für das gilt: Es ist definiert 1. durch einen – kulturell als solchen akzeptierten – Gegenstandsbereich (der somit selbst Teil des Wissens ist), über den Propositionen aufgestellt werden; 2. durch die Begründung und Legitimierung von Wissensbehauptungen durch eine Menge expliziter oder impliziter Normen, die regeln, welche Bedingungen die Aufstellung von Propositionen über diesen Gegenstandsbereich erfüllen muss – hierher gehören z. B. vorausgesetzte ontologische, epistemologische, methodologische An-

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‚(Quasi-)Theorie‘, um beliebige solcher Propositionsmengen von ‚wissenschaftlichen Theorien‘ im engeren Sinne zu unterscheiden, die sich strengeren Logik- und Rationalitätskriterien unterwerfen als etwa Alltagstheorien; in der Folge sollen ,wissenschaftliche Theorien‘ aber unter dem Begriff der (Quasi-)Theorien mit verstanden sein. Vgl. z. B. Foucault: Discours (wie Anm. 1).

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nahmen, Kriterien für die Bestätigung bzw. Widerlegung von Propositionen, Argumentations- und Folgerungsverfahren; 3. (fakultativ) durch Formulierungsregeln, die festlegen, wie eine Proposition versprachlicht werden muss, die im System als zulässig akzeptiert werden kann. So haben z. B. der Diskurs der christlichen Theologie und der Diskurs der deistischen Religionsphilosophie – was das Kriterium 1. betrifft – beide einen Redegegenstand ‚Gott‘, aber dieser ‚Gott‘ ist nicht derselbe, sondern hat in beiden Fällen wesentlich verschiedene Merkmale. Und was das Kriterium 2. anlangt, werden Behauptungen über die Entität ,Gott‘ im ersten Falle (zumindest scheinbar) aus Texten abgeleitet, von denen man behauptet, diese Entität habe sie und sich in ihnen ,geoffenbart‘, im zweiten Falle hingegen (zumindest scheinbar) etwa aus einer ,Ordnung‘, die man in der ,Natur‘ wahrzunehmen meint; im theologischen und im deistischen Diskurs gelten also ganz unterschiedliche Verfahren der Bestätigung bzw. Widerlegung von Glaubenspropositionen. Dass auch die Sprache, deren sich die Texte des jeweiligen Diskurses bedienen (Kriterium 3.), in beiden Fällen eine deutlich verschiedene ist, sei nur am Rande notiert. Wenn sich im 17. Jahrhundert die Naturphilosophie und die Naturwissenschaft – beide damals als ,Naturphilosophie‘ benannt – ausdifferenzieren und sich die letztere von der ersteren zwar noch nicht terminologisch, aber strukturell deutlich abgrenzt, wie dies etwa eine Physik vom Typ Newtons gegenüber einer ,Physik‘ vom Typ Descartes’ tut, dann ist zwar der Redegegenstand ,Bewegung von Körpern‘ in etwa derselbe (Kriterium 1.), nicht aber die Begründung von Behauptungen, deren Differenz sich – sehr vereinfacht – mit den Oppositionen ,Spekulation‘ vs. ,Empirie‘, ,qualitative Gesetzesbehauptungen‘ vs. ,quantifizierte Gesetzesbehauptungen‘ beschreiben lässt. Jeder Text, der sich einem Diskurs zurechnen lässt, behauptet oder bestreitet eine ‚Theorie‘; und innerhalb eines Diskurses sind durchaus konkurrierende ‚Theorien‘ möglich. Die im Raumzeitsegment unterscheidbaren Diskurse können zudem in mehr oder minder komplexen logischen oder ideologischen Abhängigkeitsverhältnissen zueinander stehen. Der neue Diskurs der Physik seit Galilei setzt z. B. den der Mathematik voraus, den die aristotelische ‚Physik‘ nicht voraussetzte. In der gesamten Frühen Neuzeit beansprucht der theologische Diskurs aller Fraktionen die Dominanz über alle anderen Diskurse des Zeitraums, d. h. er beansprucht für sich, in letzter Instanz zu entscheiden, welche Propositionen in den anderen Diskursen zulässig sind, und setzt diesen Anspruch ggf. mit Hilfe der politischen Macht in ungeheurer Brutalität durch;14 diese Dominanz wird ihm dann im 18. Jahrhundert der philosophische Diskurs der Aufklärung streitig machen, was wiederum zu fundamentalen Veränderungen im gesamten Diskurssystem führen wird. Wie (Quasi-)Theorien ein und desselben oder verschiedener Diskurse konkurrieren können, können natürlich auch Diskurse konkurrieren, so z. B. der theologische Diskurs und der religionsphilosophische, der okkultistische und der wis-

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So wird denn Galilei in der Lettera a Cristina di Lorena (1615) den Anspruch auf Emanzipation der neuen Naturwissenschaft von der Theologie und ihren ,heiligen Texten‘ begründen.

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senschaftliche. Welche Diskurse sich in einem Raumzeitsegment unterscheiden und in welchen logischen oder hierarchischen Relationen sie stehen, kann selbstverständlich wiederum Teil des kulturellen Wissens sein. Verschiedene Diskurse und – innerhalb dieser – verschiedene (Quasi-)Theorien können natürlich auch mehr oder weniger umfängliche Mengen von Wissenselementen oder Wissensbehauptungen teilen. Anzumerken bleibt, dass es auch jederzeit Texte außerhalb des jeweiligen Diskurssystems geben kann: Texte also, die sich keinem der jeweils existenten Diskurse subsumieren lassen (so wie es z. B. in der Literatur Texte geben kann, die sich der Einordnung in ein existentes Gattungssystem widersetzen). Der Begriff einer ,Diskursivierung von Wissen‘, dessen sich die Kieler Forschergruppe bedient, lässt sich in dem entworfenen terminologischen Rahmen etwa so explizieren: Unter Diskursivierung von Wissenselementen bzw. Wissensbehauptungen würden alle Praktiken der Präsentation von Propositionen in semiotischen Äußerungen fallen: also z. B. die Wahl des Zeichensystems oder der Zeichensysteme, deren sich die Äußerung bedient; die Wahl des Mediums oder der Medien und innerhalb dieser ggf. die Wahl eines Texttyps bzw. einer Gattung, mittels derer die Proposition(smenge) transportiert und distribuiert wird; die Wahl zwischen den kulturell verfügbaren Diskursen (zumal wenn mehr als einer für die Vermittlung einer bestimmten Proposition[smenge] in Betracht kommt) und damit auch die Wahl der Strategien der Begründung und Legitimierung einer Proposition(smenge); die Wahl, welche Propositionen explizit oder implizit vermittelt werden; die Wahl des Äußerungsniveaus, also etwa die Wahl einer alltagssprachlichen Präsentation (z. B. um der Popularisierung von Wissensbeständen willen) oder fachspezifischen Sprache (z. B. einer Wissenschaft); die Wahl des semantischen Kontextes innerhalb der Äußerung, in den die Proposition(smenge) eingebettet wird; die Strategien, mittels derer der eigene Diskurs verteidigt bzw. ein konkurrierender Diskurs angegriffen wird usw. Die Strategien der jeweils gewählten Form der Diskursivierung modifizieren nicht nur die Semantik der Äußerung, sondern haben natürlich auch unterschiedliche pragmatische und soziale Implikationen, sei es, dass ein Autor einer abweichenden Wissensbehauptung sich dadurch der Verfolgung aussetzt oder entzieht, sei es, dass er dadurch jeweils unterschiedliche Publika erreicht. Ein hübsches Beispiel für die Diskursivierungsalternativen in der Frühen Neuzeit ist es, wenn Texte seit der Renaissance im 15. Jahrhundert nicht selten nach antikem Modell die Form des Dialogs wählen:15 Zumindest als Fiktion setzen sie damit, dass Wahrheitsansprüche von Propositionen in sozialen Prozessen ausgehandelt werden müssen, und begeben sich schon dadurch in Opposition zu den traditionellen ,Autoritäten‘. Selbstverständlich kann es auch von der jeweiligen Proposition(smenge) abhängen, auf welche Weise sie überhaupt ,diskursiviert‘ werden kann: Die neuen mathematischen Erfindungen des 17. Jahrhunderts lassen sich kaum sinnvoll ohne ein ma-

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Siehe dazu Klaus W. Hempfer: Lektüren von Dialogen. In: Möglichkeiten des Dialogs. Hg. von Klaus W. Hempfer. Stuttgart 2002, S. 1-38.

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thematisches Zeichensystem darstellen, das, wie im Beispiel der Integral- und Differentialrechnung, ggf. neu erfunden werden musste; so entwickeln hier Newton und Leibniz konkurrierende Notationssysteme, wobei sich das von Leibniz durchsetzen wird – auch auf dieser Ebene der vorgeschlagenen Zeichensysteme zur Diskursivierung von Wissenselementen kann es Konkurrenzen geben. Ein letzter Begriff, der des ,Paradigmas‘, den Thomas S. Kuhn in die Wissenschaftsgeschichtsschreibung eingeführt hat, sei zumindest kurz erwähnt;16 denn nicht nur ist Wissenschaftsgeschichte ein zentraler Teil der Wissensgeschichte, sondern der Begriff scheint mir auch – in Grenzen – auf nicht-wissenschaftliche Diskurse übertragbar zu sein. Der komplexe Sachverhalt, der mit dem Begriff gemeint ist, muss hier extrem simplifiziert werden. Ein Paradigma sei gegeben, wenn es a) einen – kulturell als solchen akzeptierten – Gegenstandsbereich gibt; b) eine (explizit artikulierte oder implizierte) Menge von Regularitäten für die Aufstellung und Bestätigung bzw. Widerlegung von Wissensbehauptungen (und fakultativ Formulierungsregeln für solche); c) einen Text (oder ggf. eine Textmenge), für den gilt, dass 1. die von ihm vertretene Wissensmenge/Theorie als wahr für diesen Gegenstandsbereich akzeptiert wird, und 2. die Praxis dieses Textes in der Aufstellung, Bestätigung, Widerlegung von Wissensbehauptungen als exemplarisches Modell für Wissenserwerb in diesem – und eventuell auch als ‚verwandt‘/,benachbart‘ geltenden – Gegenstandsbereichen anerkannt wird. Ob ein Text in einem Raumzeitsegment als ‚Paradigma‘ in diesem Sinne17 betrachtet werden kann, lässt sich also nur durch die Untersuchung der Rezeption des Textes, also durch die Analyse anderer Texte, entscheiden.

2. Aspekte der Wissensgeschichte Gegenstand einer Wissensgeschichte ist natürlich das gesamte kulturelle Wissen, also alle allgemeinen und gruppenspezifischen Wissenselemente und deren logische bzw.

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Tomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M. 1967; dazu auch Wolfgang Stegmüller: Theoriendynamik: Der Verlauf der „normalen Wissenschaft“ und die Theorienverdrängung bei „wissenschaftlichen Revolutionen“. Berlin/Heidelberg 1973 und Michael Titzmann: Galileis „Lettera a Cristina di Lorena“: Die Emanzipation der Wissenschaft im denkund wissensgeschichtlichen Kontext. In: Galileo Galilei: Lettera a Cristina di Lorena/Briefe an Christine von Lothringen. Hg. von Michael Titzmann und Thomas Steinhauser. Passau 2008, S. 213-550, hier S. 219-227. So werden Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica (London 1687) laut Kuhn: Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (wie Anm. 16), für gut zwei Jahrhunderte als ein solches Paradigma der Physik fungieren.

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hierarchische Beziehungen untereinander, alle Wissenssysteme ([Quasi-]Theorien, Diskurse, Paradigmen) und ihre logischen bzw. hierarchischen Relationen untereinander, alle Formen der Diskursivierung von Wissenselementen und Wissensmengen, alle (intra- oder interepochalen) Prozesse des Wandels von Wissenselementen und Wissensmengen durch Tilgung, Substitution, Modalisierung, Transformation vorhandener Bestände ebenso wie die Einführung neuer Elemente oder Mengen, denen kein Vorgänger entspricht. Gemäß dem Tagungsgegenstand beschränke ich mich im Wesentlichen auf Beispiele aus Früher Neuzeit und Aufklärung;18 aus Umfangsgründen muss ich natürlich vereinfachen. Erklärungsbedürftig ist dabei nicht nur die innovative Einführung neuer Wissenselemente/-mengen, sondern ebenso die konservative Erhaltung alter Wissensbestände. Denken wir uns ein Wissenssystem, in dem Innovation kein Wert ist, und das – welche ungelösten logischen Probleme es auch immer haben mag – eventuelle systeminterne Probleme nicht wahrnimmt oder verleugnet, somit mit sich zufrieden und so strukturiert ist, dass es weder intrakulturell noch aus interkulturellen Kontakten mit Daten konfrontiert ist bzw. sich konfrontiert, die es als Infragestellung eigener Propositionen empfindet: Ein solches System hätte keinerlei Motivation, sich zu transformieren – seine Konservierung ist folglich durch die bloße Beschreibung seiner Strukturen erklärt. Spannend wird es hingegen, wenn ein Wissenssystem konstant bleibt, obgleich es mit ernst zu nehmenden Einsprüchen konfrontiert ist, die zentrale Propositionen bestreiten. Das ist z. B. der Fall der christlichen Theologien in der Frühen Neuzeit und in der Aufklärung, die sich zunächst durch innerchristliche Abweichungen unterschiedlicher Heterodoxien, dann zunehmend durch außerchristliche Abweichungen (Deismus, Atheismus, Agnostizismus) infrage gestellt sehen, deren Einwände sie nicht ‚rational‘ widerlegen können; gleichwohl bleibt dieses Wissenssystem (zumindest in seinen zentralen Dogmen) konstant. Es kann diese Konservierung mit Hilfe diskursiver wie nondiskursiver Strategien erreichen. Ein System, das sich durch andere herausgefordert fühlt, erkennt man z. B. am Merkmal der ‚Reaktivität‘. Reaktivität soll heißen, dass ein gegebenes Wissenssystem gehäuft Texte produziert, in denen alte Wissensbehauptungen gegen neue apologetisch verteidigt werden: Gemeint ist hier nicht schon die bloß selbstverständlich-konstatierende Verurteilung einer Proposition als ,falsch‘, sondern erst der Versuch einer (mehr oder minder rationalen) Widerlegung der Proposition als ,falsch‘; denn erstere signalisiert eine Position tatsächlicher oder vermeintlicher Stärke,

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Die Geschichtswissenschaft scheint dazu zu neigen, das 18. Jahrhundert und mit ihm die Aufklärung unter ‚Frühe Neuzeit‘ zu subsumieren. Mir scheint, dass trotz aller Kontinuitäten von der Renaissance bis ins 18. Jahrhundert dennoch der epistemologische Einschnitt etwa zwischen dem ‚Rationalismus‘ im 17. Jahrhundert und der ,Aufklärung‘ im 18. Jahrhundert so tiefgreifend und die Transformation des Wissenssystems so fundamental ist, dass eine Unterscheidung ‚Frühe Neuzeit‘ vs. ,Aufklärung‘ angemessen ist. Ein Indikator mag sein, dass wir Heutigen uns wohl auf Werte, die die Aufklärung durchgesetzt hat, berufen, kaum aber – den Bereich der neuen Wissenschaft ausgenommen – auf solche, die dem 17. Jahrhundert entstammen.

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letztere hingegen das Gefühl der Gefährdung und Bedrohung.19 Genau dieser Fall liegt nun aber z. B. vor, wenn spätestens seit dem frühen 17. Jahrhundert sich Texte der christlichen Theologien gegen ‚Atheismus‘ zu häufen beginnen. Nun ist ,Atheismus‘ zunächst eine Kampfvokabel: darunter subsumiert man einen jeden, der nicht denselben ,Gott‘, nicht an dieselben Dogmen über diesen glaubt; in diesen weiten Begriff sind aber auch die inkludiert, die man bezichtigt, gar keinen ,Gott‘ zu glauben, und diese engere Bedeutung wird, meinem Eindruck nach, im Verlaufe des Jahrhunderts zur dominanten. Insofern man nun in der weiten wie in der engeren Bedeutung in jedem Falle die mit bekämpft, die an keinen ,Gott‘ glauben mögen, ist diese Apologetik umso interessanter, als sie auftritt, bevor sich ein Gegner überhaupt manifestiert hätte; die ersten – sehr wenigen – atheistischen Texte i. e. S. entstehen erst in der zweiten Jahrhunderthälfte als klandestine, nur Minoritäten überhaupt zugängliche Manuskripte. Diese Apologetik bezeugt also zunächst eigentlich nur eine Angst, jemand könne anders als man selbst denken: Anders zu denken ist denkbar geworden, und das bezeugt eine Schwächung dieses Wissenssystems; seine Repräsentanten befürchten seine Nicht-Selbstverständlichkeit für andere. Erst im 18. Jahrhundert wird man sich einer Häufung antichristlicher Religionskritik gegenüber sehen.20 Aber das christliche Wissenssystem schafft seine Konservierung nicht durch seine apologetischen Schriften, die, darin den Schriften seiner Gegner ähnlich, sicher nur sehr minoritäre Gruppen erreicht haben. Es schafft sie vor allem durch die sofortige Ausrottung inner- und außerchristlicher Abweichung durch die juristische Unterdrückung und Sanktionierung abweichender Schriften und durch Folter und Justizmord an deren Autoren.21 Diese eher nondiskursiven Strategien funktionieren freilich nur solange, als die politische Macht sich uneingeschränkt in den Dienst des theologischen Diskurses stellt, diese aber wird in den protestantischen und/oder aufgeklärten politischen Systemen im 18. Jahrhundert mehr oder weniger vom Aufklärungsdiskurs beeindruckt; grundsätzlich ist langfristig eine andere – sehr effiziente – Strategie wichtiger, die viele Aufklärer beklagt haben: die Indoktrination schon in der frühkindlichen Sozialisation,22 die die theologischen Wissensbehauptungen zu selbstverständlichen, konkurrenzlosen Wissenselementen der Kulturmitglieder werden lässt. Freilich bleibt auch das christlich-theologische Wissenssystem nicht gänzlich unberührt von den denkgeschichtlichen Veränderungen, zumindest in den protestantischen und/oder aufgeklärten Räumen: Es wird mindestens insoweit do-

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Um nur ein – freilich besonders abschreckendes – Bespiel zu nennen: François Garasse, S.J.: La Doctrine cvrievse des beavx esprits de ce temps ov pretendvs tels. […]. Paris 1623. Vgl. dazu meinen Beitrag über nicht-christliche Religionsphilosophie in der Frühen Neuzeit in diesem Bande. Im katholischen Raum stehen dafür spezielle Institutionen wie der Index librorum prohibitorum und die Inquisition zu Verfügung; im protestantischen Raum wurden natürlich auch – wenn auch dezentrale – Verfolgungsinstrumente entwickelt. Das gilt natürlich analog für andere spätere, nicht-religiöse Ideologien wie etwa Faschismus und Stalinismus.

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mestiziert und zwangshumanisiert, als es die neue Norm der ,Toleranz‘ Anders- oder Ungläubiger, die in der Frühen Neuzeit nur heterodoxe Individuen vertreten haben23 und die die Aufklärung sich zu eigen macht, zu akzeptieren gezwungen wird.24 Das Beispiel der Wissenskonservierung in der Theologie ist auch in anderer Hinsicht lehrreich. Denn vom 17. zum 18. Jahrhundert wandelt sich das System des westeuropäischen kulturellen Wissens in mancher Hinsicht radikal. Zum einen verliert der theologische Diskurs und die von ihm vertretene Wissensmenge zunehmend die beanspruchte Dominanz und Kontrolle über andere Diskurse und deren Wissensmengen: Zuerst emanzipiert sich von ihm seit Galilei und Kepler die neue Naturwissenschaft, jedenfalls soweit es um Astronomie und Physik geht, dann, in deren Gefolge, die Philosophie mit der Aufklärung. Es verändert sich also grundsätzlich das System der Diskurse und deren Relationen zugunsten zunehmender Autonomisierung (nicht nur im Bereiche des Wissens) und Ausdifferenzierung. Zum Zweiten setzt, wiederum zuerst in der neuen Naturwissenschaft, dann auch im philosophischen Denken, ein Prozess ein, bei dem zunehmend Wissensmengen als wahr behauptet werden, die in Opposition zum theologischen Wissen und den ,heiligen Texten‘ des Christentums stehen, aber nicht – wie im Streit der ,Konfessionen‘ und ,Sekten‘25 – denselben Gegenstandsbereich haben. Jetzt widerspricht nicht mehr nur ein ‚Glaube‘ dem anderen, sondern auch ein ‚Wissen‘ dem ,Glauben‘. Wo das Subjekt zunächst vielleicht zwischen zwei oder mehr Mengen von Glaubenspropositionen zu wählen hatte, denen es nicht zugleich zustimmen konnte, muss es jetzt eventuell zwischen einer Menge von Glaubens- und einer Menge von Wissenspropositionen wählen, denen es durchaus zugleich anhängen mag, obwohl es zwischen ihnen Inkompatibilitäten gibt; das schafft auch interessante – neue und komplexe – psychische Strukturen. Zum Dritten – und wichtiger noch – hat die neue Wissenschaft zunehmend neue Rationalitätsnormen, neue Normen der Bestätigung und Legitimierung von Wissensbehauptungen, die mit denen der alten Theologie unvereinbar sind, eingeführt und deren Verbindlichkeit auf immer weitere Gegenstandsbereiche ausgedehnt. Wie sehr dabei der theologische Diskurs unter Rechtfertigungsdruck geraten ist (also zu Reaktivität auch in diesem Bereich tendiert), zeigen schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts Texte, die zu beweisen versuchen, dass der theologische Diskurs

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So z. B. Hubmaier, Castellio, Bodin, Locke, Spinoza, Bayle. Vgl. dazu Michael Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit: Relevanz – Formen – Kontexte. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. von Hartmut Laufhütte und Michael Titzmann. Tübingen 2006, S. 5-118. Die katholische Kirche wird sich hingegen bis ins 20. Jahrhundert gegen diesen und andere aufklärerische Werte (z. B. ‚Menschenrechte‘ usw.) erfolgreich sträuben. „Als einziger europäischer Staat neben Weißrussland hat der Vatikan bis heute die Europäische Menschenrechtskonvention nicht unterzeichnet“ – so der Theologe Friedrich Wilhelm Graf in seinem Artikel „Eine kleine Papstkunde“ in der Süddeutschen Zeitung Nr. 218 vom 21.9.2011, S. 11. Was unter den einen oder den anderen Begriff fällt, entscheidet sich bekanntlich meist durch Machtverhältnisse und manchmal durch Mehrheitsverhältnisse.

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mit den neuen Rationalitätsnormen vereinbar ist.26 Und viertens hat seit dem frühen 17. Jahrhundert die neue Naturphilosophie bzw. -wissenschaft das Konzept des ,Fortschritts‘ – eine neue Wissensbehauptung über die Entwicklung der Wissensbestände – aufgestellt, das die Aufklärung über den Bereich der Wissenschaft hinaus generalisieren und auf potentiell alle diskursiven und non-diskursiven sozialen Praktiken ausdehnen wird. Fortschritt in diesem Sinne bedeutet erstens, dass eine neue Wissensmenge eine alte falsifiziert und folglich zu substituieren beansprucht, und zweitens, dass auf der Basis dieser neuen Wissensmenge weitere an sie anschließende – sie ergänzende und mit ihr kompatible – Wissensmengen aufgebaut werden können, also eine Vermehrung von Wissen, nicht nur eine Ersetzung von Wissen, stattfindet. Der theologische Diskurs muss demgegenüber für sich die Möglichkeit von fundamentalem ‚Fortschritt‘ leugnen: ,Göttlich geoffenbarte‘ Wissensbehauptungen können weder verändert noch ergänzt werden. Durch den dritten und vierten der hier genannten Prozesse gerät dieser Diskurs damit zwar noch nicht unbedingt bezüglich der Anzahl seiner Anhänger, wohl aber bezüglich seiner Position im Spektrum der intellektuellen Diskurse in eine langfristig gefährliche Randposition. Da er statisch-invariant ist, während die anderen Diskurse sich wandeln, gehen von ihm auch keine Impulse aus, die die anderen – autonom gewordenen – Diskurse beeinflussen würden; vielmehr muss er sich in der Folge unter dem Druck der philosophischen und mehr noch der wissenschaftlichen Diskurse zur Anerkennung von Wissensmengen bereit finden, die den ,heiligen Texten‘ widersprechen (so Kopernikanismus oder Evolutionstheorie). Was das Beispiel zeigt, ist also, wie Veränderungen in einem Diskurs gravierende Folgen für andere haben können und wie Veränderungen der Relation zwischen Diskursen die Relevanz der von ihnen vertretenen Wissensmengen grundsätzlich transformieren können. Doch nun zum Wandel von kulturellem Wissen. Damit es Innovation gibt, muss aus mindestens einer semiotischen Äußerung mindestens eine neue Proposition(smenge) ableitbar sein, die eine neue Wissensbehauptung aufstellt, welche entweder mit keiner Proposition des gegebenen Wissens konkurriert, weil es eine neue zusätzliche Behauptung zu einem schon im kulturellen Wissen etablierten Gegenstandsbereich ist (1a) oder weil es zu diesem – einem neuen – Gegenstandsbereich noch kein Wissen gibt (1b), oder aber welche einer schon vorhandenen Proposition(smenge) desselben (2a) oder eines anderen (2b) Gegenstandsbereiches widerspricht und diese also substituieren will. Grundsätzlich gilt natürlich, dass jederzeit eine semiotische Äußerung eine neue, irgendwie abweichende Wissensbehauptung aufstellen kann (sei ihr Urheber nun genial oder unzurechnungsfähig): Ein Teil des kulturellen Wissen wird aus der Proposi-

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Nur drei Beispiele seien genannt. So behandeln Antoine Arnauld und Pierre Nicole in den Schlusskapiteln von La Logique ou l’art de penser (1662), für eine Logik denn doch etwas überraschend, Theologieprobleme, und so stellt Leibniz seiner Théodicée (1710) einen umfänglichen „Discours de la conformité de la foi avec la raison“ voran. Und John Locke veröffentlicht 1695 The Reasonableness of Christianity, As delivered in the Scriptures.

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tion(smenge) aber natürlich nur, wenn sie mindestens von einer Gruppe, im Idealfalle von allen akzeptiert wird. Was die Bedingungen solcher Akzeptabilität einer Wissensbehauptung betrifft, unterscheiden sich nun die vier oben genannten Fälle (1a, 1b, 2a, 2b). Einige solche Bedingungen lassen sich, meine ich, formulieren.27 Im Falle (1a) scheint die Aufnahme der Proposition in das kulturelle Wissen zunächst unproblematisch: Der Gegenstandsbereich ist kulturell anerkannt, und es gibt keinen Widerspruch zum bisherigen Wissen. Aber deshalb, vermute ich, muss eine neue Proposition(smenge) noch nicht notwendig in das Wissen aufgenommen werden. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie es wird, dürfte steigen, wenn die Proposition(smenge) nicht nur vereinbar mit, sondern ,anschließbar‘ an das alte Wissen ist. Anschließbarkeit soll heißen, dass eine neue Wissensbehauptung nicht nur additiv den bisherigen Wissenselementen hinzugefügt wird, sondern mit ihnen in einer logisch-systematischen Relation steht, so dass sie als ,sinnvolle‘ Ergänzung erscheint.28 Optimal wäre eine solche ‚Anschließbarkeit‘ gegeben, wenn die neue Proposition(smenge) ein schon bewusstes oder durch sie bewusst werdendes ,Problem‘ des Wissenssystems zu diesem Gegenstandsbereich ,löst‘; aber das ist nur ein möglicher Spezialfall dessen, was ich mit ,Anschließbarkeit‘ meine. Schwieriger erscheint der Fall (1b), da hier durch die Proposition(smenge) ein neuer Gegenstands- und Wissensbereich eingeführt wird, wenngleich auch hier keine Unvereinbarkeit des neuen mit altem Wissen vorliegt. Nun gibt es Kulturen bzw. Epochen, die insgesamt bzw. innerhalb derer zumindest bestimmte Wissensteilsysteme mehr oder minder resistent gegen Innovation sind, weil alles relevante Wissen scheinbar schon vorhanden ist und relevantes neues Wissen folglich nicht denkbar scheint (auch eine solche Annahme wäre ein Wissenselement):29 In solchen Systemen werden es schon Wissensbehauptungen vom Typ (1a), erst recht aber solche vom Typ (1b), mehr noch solche der Art (2a) bzw. (2b) schwer haben, Akzeptabilität zu finden, wenn nicht zusätzliche Bedingungen erfüllt sind. Wenn hingegen eine Kultur bzw. Epoche bzw. ein Wissensteilsystem eine Proposition umfasst, der zufolge neues Wissen möglich oder gar

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Die folgenden theoretischen Überlegungen stelle ich selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit an. Ich bin mir bewusst, dass das Konzept der ,Anschließbarkeit‘ weiterer Präzisierung bedürfte. Wieder einmal ließe sich exemplarisch – pardon, wenn ich immer wieder auf dieses einfache Beispiel zurückgreife – die Theologie nennen, die zwar im 17. Jahrhundert in sich Ausdifferenzierungsprozesse vollzieht, bei denen aus einst eher einfachen Propositionen komplexe Propositionsmengen mit seltsamen neuen Unterscheidungen werden (Beispiel: die Diskussionen über die ,göttliche Gnade‘), während das System als Ganzes im wesentlichen keine neuen Propositionen zulässt, weil es in diesem Gegenstandsbereich keine neuen Wahrheiten geben könne. Vgl. Pascal, der in der Préface au Traité du Vide von 1651 für die Theologie die Abgeschlossenheit ihrer Wissensmenge behauptet: „[…] il est évident que l’on peut en avoir une connaissance entière, et qu’il n’est pas possible d’y rien ajouter“ (in: De l’esprit géométrique. Hg. von André Clair. Paris 1985, S. 58).

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wünschenswert erscheint, wie dies etwa in Systemen der Fall ist, in denen ,Fortschritt‘ als positiver Wert gilt, ist zumindest eine grundsätzliche Bereitschaft gegeben, neue Propositionen zu akzeptieren; daraus folgt freilich noch nicht, dass eine neue Proposition tatsächlich akzeptiert wird. Für eine Proposition(smenge) vom Typ (1b) muss zusätzlich zumindest gelten, dass die Einführung eines neuen Gegenstands- und Wissensbereiches aufgrund der Strukturen des vorhandenen Wissens als sinnvolle Erweiterung erscheint. Der Fall liegt vor, wenn sich z. B. im 18. Jahrhundert allmählich ein psychologischer Diskurs ausbildet (somit die Basis für die spätere Entwicklung zu einer eigenständigen, auch institutionell verankerten Disziplin gegeben ist). Denn einerseits wird dadurch quasi-psychologisches Wissen, das sich vorher in Texten verschiedener Diskurse fand, potentiell zusammengefasst (und dabei vermutlich erheblich transformiert): Der sich ausdifferenzierende Diskurs kann sich legitimieren, indem er an vorangegangenes Wissen anschließt und dieses zu systematisieren und fortzuentwickeln verspricht (der Wert ,wissenschaftlicher Fortschritt‘ ist ja schon durch die Naturwissenschaft etabliert). Andererseits hat eine mentalitätsgeschichtliche Verschiebung stattgefunden (d. h. wiederum: eine Menge von Wissenselementen hat sich transformiert), der zufolge erstens eine Umdeutung der Vorstellungen von einem ‚Gott‘, der nunmehr das Glück seiner Geschöpfe schon auf Erden will, und folglich zweitens eine Umorientierung vom ‚Jenseits‘ auf das ,Diesseits‘ sich vollzogen hat. ‚Psychologie‘ muss sich somit nicht mehr einer theologischen ,Pneumatologie‘ unterordnen und kann sich von ihr emanzipieren,30 da man nicht mehr primär mit seinem ,jenseitigen‘ Geschick, sondern zunehmend mit seinen irdischen Interessen beschäftigt ist und sich selbst wichtig wird.31 Für den Fall (2a) lassen sich mindestens die folgenden Möglichkeiten unterscheiden. Es sei ein Wissens(teil)system gegeben, das zugleich systemintern akzeptierte Rationalitätskriterien für die in ihm zulässigen Propositionen aufweist: also ‚Metapropositionen‘, die die Bedingungen für Wissensproduktion in diesem System regeln.32 Ein solches Kriterium könnte erstens z. B. die Forderung sein, dass es im System keinen Widerspruch zwischen Propositionen geben darf: Sobald eine solche Regel nicht nur formal anerkannt ist, sondern ihre Einhaltung eingefordert wird, muss ein entdeckter Widerspruch getilgt, also mindestens eine alte durch eine neue Proposition substituiert werden. Ein solches Kriterium könnte zweitens die Forderung sein, dass Propositionen dieses Wissens(teil)systems nicht solchen eines als hierarchisch übergeordnet anerkannten Wissens(teil)systems widersprechen dürfen. Wird ein solcher Widerspruch wahrge-

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Das beklagt denn z. B. auch ein gewisser Johann Friedrich Teller: „Ich wundre mich gar sehr, daß man bei dieser Gelegenheit so viel von Psychologie und Anthropologie geredet, und der Pneumatologie mit keinem Wort gedacht hat!!?“ (in ders.: Vom Wiederkommen, Wiedersehen und Erscheinen der Unsrigen nach dem Tode, und Geistererscheinungen überhaupt. Zeitz 1806, S. 16). Signifikant ist auch die Entwicklung einer ,Anthropologie‘ im 18. Jahrhundert, die neben der ,Psychologie‘ auch die biologischen Gegebenheit des Menschen unter sich begreift; die Voraussetzungen scheinen mir hier dieselben zu sein. Also Regeln, die dem zweiten Merkmal meiner Explikation des Diskurs-Begriffes entsprechen.

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nommen, müsste demnach entweder eine Proposition(smenge) des untergeordneten Systems durch eine neue substituiert oder die Relation der beiden Systeme transformiert werden. Ein solches Kriterium könnte drittens die Forderung sein, dass keine Proposition einem – von diesem Wissens(teil)system als solchen anerkannten – ,empirischen Faktum‘, d. h. einem Datum von außerhalb des Systems, genauer: einer Proposition, die ein solches Faktum konstatiert, widersprechen darf; eine Anerkennung von ,Empirie‘ als Kriterium der Bestätigung oder Widerlegung von Wissensbehauptungen ist keineswegs selbstverständlich – z. B. die okkultistischen Diskurse in der Frühen Neuzeit oder während der Aufklärung erkennen ein solches Kriterium allenfalls scheinbar an. Zwei Beispiele des Typs (2a) seien angedeutet. Die christliche Theologie beansprucht, dass ihre zentralen Wissensannahmen im sogenannten Neuen Testament zumindest implizit gegeben und aus ihm ableitbar seien, so auch die These, dass es drei Götter gäbe, die aber nur einer seien; aufgrund ihrer Interpretation des Neuen Testaments kommen im 17. Jahrhundert die Sozinianer zur Ansicht, dass diese ,Trinität‘ aus diesem Textkorpus nicht interpretatorisch gefolgert werden könne, und tilgen die einschlägigen Propositionen. Ob dieser Fall nun unter mein erstes oder unter mein drittes Kriterium subsumiert werden kann: Mein zweites Beispiel fällt eindeutig unter das dritte. Die von Leibniz33 – und seitdem immer wieder, etwa auch in der ,Physikotheologie‘34 – postulierte ,Théodicée‘ gerät in dem Ausmaß, in dem sich die Aufklärung zunehmend das dritte Kriterium der ,Empirie‘ zu eigen macht, in der Jahrhundertmitte in eine Krise,35 aus der sie vorläufig durch eine jener Hilfskonstruktionen mittels Zusatzannahmen gerettet wird, wie sie Thomas S. Kuhn für wissenschaftliche ,Paradigmen‘ in der Krise beschrieben hat: Sie wird gerettet durch die Erfindung einer Geschichtsphilosophie, die eine sukzessive Optimierung des Weltzustandes bis zur ,Vollkommenheit‘ postuliert – was noch nicht ist, wird irgendwann sein. Das Beispiel zeigt auch, wie verschieden der Umgang mit ,Empirie‘ geregelt sein kann: Während die Frühaufklärung offenkundig nur empirische Gegebenheiten zur Kenntnis nimmt, die das optimistische Postulat einer harmonischen, optimalen ,Ordnung‘ der Welt zu stützen scheinen, also ,Empirie‘ nur als bestätigende zugelassen ist, kommt es zur Krise, sobald man auch widerlegende Daten wahrzunehmen bereit oder gezwungen ist. Ich vermute, dass dieser Wandlungsprozess dadurch möglich wird, weil man aufgrund der zunächst scheinbar guten Erfahrungen mit (sorgfältig selegierter) Empirie in der Folge Empirie auch in nicht-selektiver Form zulassen zu können meinte.

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Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu la liberté de l’homme et l’origine du mal. Amsterdam 1710. Z. B. William Derham: Physico-Theology Or, A Demonstration of the Being and Attributes of GOD, from his Works of CREATION. London 1713. Z. B. Voltaire: Dictionnaire philosophique portatif. Genf 1784, Artikel „Bien (Tout est)“, und natürlich ders.: Candide, ou l’optimisme. Genf 1759.

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Doch nun zu meinem letzten Beispiel, das eine Kombination aus (2a) und (2b) darstellt; es geht um die Auseinandersetzung um den Kopernikanismus im 17. Jahrhundert.36 In den Jahrzehnten um 1600 herum scheint das neue Weltmodell des Copernicus37 – aus hier nicht zu diskutierenden Gründen – plötzlich einer Reihe von Intellektuellen, darunter Kepler und Galilei, dem tradierten aristotelisch-ptolemäischen Weltmodell überlegen und wird in nicht wenigen Publikationen vertreten. Die Wissensbehauptungen des neuen Modells widersprechen nun einerseits denen des physikalisch-astronomischen Diskurses der aristotelisch-ptolemäischen Tradition (= Fall 2a), andererseits denen der Bibel und der Theologie (= Fall 2b); für letztere ist das astronomische Weltmodell zwar an sich nur ein Randthema, aber solange die Bibel pauschal als ‚geoffenbartes Wort Gottes‘ gilt, ist der Widerspruch nicht ohne Schaden für diesen Anspruch hinzunehmen. Das Problem kompliziert sich noch dadurch, dass die Theologie seit dem 13. Jahrhundert den Aristotelismus zu ihrem philosophischen Fundament gemacht hatte, das sie logischerweise zu verteidigen sucht, zumal sie ja absolute Diskursdominanz für sich beansprucht. Der Ausgang ist bekannt: 1616 wird der Kopernikanismus – als theologisch und physikalisch [!] falsch – verurteilt und 1633 Galilei selbst, weil er ihn dennoch vertreten hat.38 Die Frage ist also: Warum haben sich Intellektuelle überhaupt mit den (kombinierten) Autoritätsansprüchen des tradierten philosophischen und des theologischen Diskurses anlegen können und warum haben sich die neuen Wissensbehauptungen trotz des machtgestützten Einspruchs der Theologie durchsetzen können? Mir scheint, dass zumindest in Teilen der west-/mitteleuropäischen Kultur in den Jahrzehnten um 1600 ein epistemologischer Wandel manifest wird, der sich latent im 16. Jahrhundert vorbereitet hatte.39 Dessen Voraussetzungen lassen sich benennen: 1. Die Ausdifferenzierung und Pluralisierung ,Autorität‘ beanspruchender Diskurse a) in der Renaissance, insofern neben die Autorität der Theologie die Ansprüche der reanimierten antiken Philosophien treten, und – gravierender – b) in der Reformation, wo die Theologie, also der ranghöchste Diskurs im Kultursystem, selbst in rivalisierende Systeme aufgespalten wird, zwischen denen die richtige Entscheidung zu treffen als ‚heilsrelevant‘ gilt. 2. In der Konkurrenz der Autoritäten bleibt dann dem Subjekt, dem eine Entscheidung abgezwungen wird, nurmehr der menschliche Verstand als ranghöchste Instanz in Wahrheitsfragen; zumindest eine Teilmenge der Population emanzipiert sich intellektuell.

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Vgl. zum Folgenden ausführlich Titzmann: Galileis „Lettera“ (wie Anm. 16). Nicolaus Copernicus: De revolutionibus orbium coelestium. Nürnberg 1543. Im Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, Tolemaico e Copernicano (Florenz 1632). Wenn es um 1700 – wie vor Jahrzehnten Paul Hazard zurecht diagnostizierte – eine „crise de la conscience européenne“ (vgl. Paul Hazard: La crise de la conscience européenne 1680-1715. Paris 1961) gegeben hat, so scheint mir eine solche schon in der Zeit um 1600 vorangegangen zu sein.

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3. Die sogenannten ‚Entdeckungsreisen‘ hatten antike Weltvorstellungen sowohl nichtchristlicher Philosophen wie christlicher ‚Kirchenväter‘ falsifiziert; ‚Autoritäten‘ erwiesen sich als durch ,Erfahrung‘ widerlegbar. Empirie kommt somit als neues Wahrheitskriterium zur Bestätigung bzw. Widerlegung von Theorien in Betracht. 4. Es kann also neues Wissen geben, das altem Wissen überlegen ist und es widerlegt: Innovation und Fortschritt werden zumindest im Bereich des Wissens potentielle Konkurrenten zu Tradition und Autorität, die bis dahin für Wahrheitsgaranten gehalten wurden. 5. Von Tycho Brahe zu Galilei häufen sich die astronomischen Beobachtungen,40 die zwar nicht ausreichen, das kopernikanische Modell zu bestätigen, wohl aber, das aristotelisch-ptolemäische zu widerlegen. Das wird 1616 die katholische Kirche, der diese Beobachtungsdaten weitgehend bekannt sind, nicht an der Verurteilung des Neuen hindern: Schließlich steht der Wahrheitsanspruch der Bibel auf dem Spiel. Also muss deren unbedingter Wahrheitsanspruch von der neuen Physik beschränkt und auf metaphysische Behauptungen i. e. S. eingegrenzt werden. Das versucht systematisch als erster Galilei selbst:41 Er emanzipiert die entstehende Naturwissenschaft von der Theologie, indem er dieser die Kompetenz für Physik/Astronomie abspricht und eine neue Hermeneutik der Bibel postuliert. Aber zum anderen bleibt der Widerstand der universitären Philosophie zu überwinden: Es müssen noch die Argumente der aristotelischen Physik gegen eine Erdbewegung entkräftet werden; auch das leistet Galilei im Entwurf einer neuen Physik.42 Die Details des langwierigen Prozesses der Durchsetzung des Neuen brauchen hier nicht zu interessieren; befristet versucht sich der hinhaltende Widerstand des Alten durch das Kompromissmodell Tycho Brahes zu retten:43 eine der typischen Hilfskonstruktionen eines Paradigmas in Krise. Durch die systematisierte Empirie in Form des Experiments und durch die Mathematisierung der Gesetzesannahmen war die neue Physik nun zwar der alten überlegen: Damit aber das kopernikanische Modell durchgesetzt werden konnte, musste die neue Theoriebildung noch weitere Bedingungen erfüllen, die man vielleicht für jeden erfolgreichen Wissenswandel in irgendeinem Gegenstandsbereich generalisieren kann: 1. Sie musste mindestens dieselbe, möglichst eine kulturell als besser bewertete Beschreibungs- bzw. Erklärungsleistung gegenüber dem Gegenstandsbereich, hier den

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Brahes Beobachtung einer Supernova; in der Folge Galileis Beobachtungen der Mondgeographie, der Venusphasen, der Sonnenflecken, der Jupitermonde, der Saturnirregularität; nicht zuletzt Keplers Nachweis der elliptischen Planetenbahnen. Lettera a Cristina di Lorena von 1615; Druck plus lateinische Übersetzung Straßburg 1636. Skizzenhaft im Grundriss schon im Dialogo von 1632, systematisch in den Discorsi e Dimostrazioni matematiche intorno à due nuoue scienze […] (Leiden 1638). Brahe zufolge kreisen alle Planeten außer Erde und Mond um die Sonne, aber diese, samt ihrem Anhang, um die Erde.

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Bewegungen in unserem Planetensystem, erbringen (da sie ihn – das wäre die Alternative – ja nicht für irrelevant erklären wollte und konnte). 2. Sie durfte keinen radikalen epistemologischen Bruch mit dem Vorgängersystem darstellen: Sie musste vielmehr zentrale Kriterien der Bestätigung bzw. Widerlegung von Propositionen beibehalten, hier also z. B. zum einen die aristotelische Logik, die die interne argumentative Kohärenz von Texten dieses Diskurses sichert, und zum anderen das Ökonomieprinzip für Theorien, dem zufolge nicht willkürlich theoretische Größen eingeführt werden dürfen.44 In beiderlei Hinsicht beansprucht das neue System, das alte zu überbieten: zum einen durch die Mathematik, insbesondere die Geometrie als Modell der Theoriekonstruktion, zum anderen durch die Abschaffung der Zusatzannahmen, deren Ptolemaios bedurfte, um seine Astronomie mit den Beobachtungsdaten in Einklang zu bringen. Damit also ein neuer Diskurs, ein neues Paradigma, eine neue Theorie, kurz: jede neue Wissensmenge sich durchsetzen kann, darf – zumindest im Normalfall – kein radikaler Bruch mit den epistemologischen Prinzipien der Diskurse stattfinden, mit denen die neue Wissensmenge in Relation steht; selbst wenn sie altes Wissen ersetzen will, muss sie doch zumindest partiell in den Rationalitäts- und Legitimierungskriterien an das gegebene Wissenssystem anschließen. Auch zwischen Theologie und neuer Physik lag kein radikaler Bruch vor, sondern auch hier existierte potentiell eine Anschließbarkeit, insofern die neuen physikalischen Gesetze einem göttlichen Urheber zugeschrieben wurden, der, wenngleich allenfalls ein deistischer, mit dem christlichen gleichgesetzt und verwechselt werden konnte. Ich denke, jede Rekonstruktion der Wissensgeschichte sollte heuristisch davon ausgehen 1. dass es eine Systemrationalität auch der Entwicklung von Wissens(teil)systemen gibt: dass sie sich also – wie absurd und irrational ihre Basisannahmen über die Welt auch sein mögen – im Rahmen ihrer eigenen epistemologischen Prämissen rational – quasi-logisch – verhalten; 2. dass folglich der Wandel von Wissensmengen in einem Raumzeitsegment möglichst als ein Versuch der Lösung von Problemen zu rekonstruieren wäre, die im System – sei es intern aus dessen eigner Logik, sei es interaktiv durch seine Relation zu anderen Systemen – entstanden sind. Wie weit diese Konzeption des Wissenswandels, die ich hier nicht weiter ausführe,45 die ungemein vielfältigen historischen Phänomene adäquat zu beschreiben imstande wäre, lässt sich naturgemäß nicht vorhersagen: Es bliebe auszuprobieren.

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Das bekannte „entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem“. Vgl. dazu ausführlicher Titzmann: ,Problem – Problemlösung‘ als literarhistorisches und denkgeschichtliches Interpretationsinstrument. In: Scientia Poetica 14 (2010), S. 298-332.

Diskursivierung naturwissenschaftlichen Wissens

Tobias Bulang (Heidelberg) Zur Diskursivierung pflanzenkundlichen Wissens bei Leonhard Thurneysser zum Thurn

1. Thurneyssers Projekte und ihre Diskursivierung im Druck Bei Diskursivierungen von Wissen wird immer auch vorgängiges, gespeichertes und irgendwie geordnetes Wissen aktualisiert. Mit jedem Diskursivierungsakt wird Überkommenes aus dem Zustand der Latenz geholt und einem neuen Vollzug verfügbar gemacht. Beobachtbar sind dabei die Weisen der medialen Präsentation von Wissen ebenso wie die Performanz der Wissensvermittlung (z. B. die historisch und kulturell divergierenden Entwürfe von ‚Gelehrsamkeit‘ u. ä.), diverse Umgänge mit den überlieferten Daten und ihren Ordnungsarrangements sowie den Formen der Autorisierung und Legitimation von Wissensbeständen und den ihnen geltenden Vermittlungsfiguren. Gemäß den differenten Weisen des Bezugs auf vorgängiges Wissen können konventionelle und innovative Wissensdiskursivierungen unterschieden werden. Konventionelle Wissensdiskursivierungen greifen vorgängiges Wissen auf, wobei die überlieferten Ordnungsformen, die medialen Formate, die Performanzen und Legitimationsfiguren ohne allzu gravierende Abweichungen übernommen werden. Akzente können sich dabei sehr wohl verschieben, die Datenmenge der behandelten Gegenstände kann erweitert sein, sogar erheblich; grundsätzlich jedoch gilt dabei, dass das Wissen bei seinem Wiedergebrauch die gängigen Bahnen seiner herkömmlichen Organisation nicht verlässt. Dies geschieht dagegen bei innovativen Weisen der Wissensdiskursivierung. Hier werden gezielt Alternativen zu den gängigen Formaten angestrebt und erprobt, sei es im Entwurf anderer Vermittlungsfiguren, im Gebrauch neuer bzw. ungewöhnlicher medialer Präsentationen oder in der Verwendung grundsätzlich anderer Ordnungssysteme. Man kann sagen, dass überkommenes Wissen dabei in einem neuen Rahmen erscheint. Eine innovative Diskursivierung des Wissens kann allerdings auf der Darstellungsebene allein vollzogen sein, keineswegs muss sie immer auch mit einer Innovation der wissenschaftlichen Gehalte einhergehen.

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Alle Bücher Leonhard Thurneyssers zum Thurn zielen auf die Autorisierung und Auratisierung ihres Verfassers durch neue Formen der Wissensdiskursivierung.1 Zum Verfasser wäre viel zu sagen, zumal eine Fülle von Urkunden, Zeugnissen und Briefen sowie eine gedruckte autobiographische Rechtfertigungsschrift Thurneyssers existieren.2 Diese Zeugnisse vermitteln das schillernde und hochambivalente Bild eines rastlosen Projektemachers.3 Zeitlebens steht der Basler Thurneysser einerseits im Ansehen eines hochgelehrten Mannes der Wissenschaften. Andererseits äußert sich allenthalben der Verdacht, er sei ein Erzbetrüger, Teufelsbeschwörer und Wucherer.4 Thurneyssers Apologien gegen solche Äußerungen nehmen in seinem Werk breiten Raum ein.5

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Ein Verzeichnis der gedruckten Werke Thurneyssers (mit Berücksichtigung der bekannten Nachdrucke) findet sich bei Peter Morys: Medizin und Pharmazie in der Kosmologie Leonhard Thurneissers zum Thurn (1531-1596). (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 43) Husum 1982, S. 155-165. Leonhard Thurneysser zum Thurn: Ein durch Nothgedrungenes Außschreiben Mein: Leonhardt Thurneyssers zum Thurn, der Herbrottischen Blutschandsverkaufferey / Falschs vnd Betrugs: Auch der Mir vnd meinen Kindern / zu Basel beschehenen Injurien / Gewaldthat / Spolirung vnd Rechtsversagung halber. Berlin 1584 und Will-Erich Peuckert (Hg.): Der Alchymist und sein Weib. Gauner- und Ehescheidungsprozesse des Alchymisten Thurneysser. Stuttgart 1956. Der Quellenwert dieser Schrift ist teilweise recht fragwürdig. Zum Leben Thurneyssers vgl. Johann Carl Wilhelm Moehsen: Leben Leonhard Thurneissers zum Thurn. Ein Beitrag zur Geschichte der Alchemie, wie auch der Wissenschaften und Künste in der Mark Brandenburg gegen Ende des 16. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in der Mark Brandenburg von den ältesten Zeiten an bis zu Ende des sechszehnten Jahrhunderts. Hg. von Johann C. W. Moehsen. Berlin/Leipzig 1783 (Nachdruck München 1976); Paul H. Boerlin: Leonhard Thurneysser als Auftraggeber. Kunst im Dienste der Selbstdarstellung zwischen Humanismus und Barock. Basel/Stuttgart 1976; Gabriele Spitzer: … und die Spree führt Gold. Leonhard Thurneysser zum Thurn. Astrologe, Alchimist, Arzt und Drucker im Berlin des 16. Jahrhunderts. Ausstellung der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz vom 14.8.30.9.1996. Wiesbaden 1996 (Beiträge aus der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz 3). Moehsen, Boerlin und Spitzer beziehen neben dem Außschreiben (vgl. Anm. 2) auch die Erträge umfassender Archivstudien ein. Die Thurneysser-Forschung stützt sich bezüglich der biographischen Einzelheiten, aber auch der Wertungen des Schrifttums weitgehend auf die alte Abhandlung von Moehsen, die nach wie vor unverzichtbar ist. Eine neue, systematische Aufarbeitung des Thurneysser’schen Nachlasses in Berlin wäre sehr wünschenswert. Belege für solche ambivalente Wertungen bei Moehsen: Leben (wie Anm. 3), S. 7-15. Vgl. hierzu auch den bemerkenswerten Holzstich von Jost Amann, der zeigt, wie Thurneysser über seine Feinde triumphiert (in: Leonhard Thurneysser zum Thurn: ‫ מלא‬ΚΑΙ ΕΚΠΛΗΡΩΣΙΣ Vnd Impletio oder Erfüllung / der verheissung Leonhart Thurneyssers zum Thurn […]. Basel 1580 [auch Nürnberg 1581], Aii). Vgl. auch den scharfen Ton der Replik gegen die Vorwürfe Franz Joels (Leonhard Thurneysser zum Thurn: Kurtze Verantwortung / Und notwendige Erenrettung […] Auff die vnbesunnenen vbelgegründten / mit Neid vnd falscher Anklag / wie eine Sackpfeiff / mit blast außgefülten / aber mit Unchristelichen gleißnerischen tücken vnd giftgellischer Bitterkeit / wie ein Igel mit Stachlen vberzogen / vorlognen / Ehrendiebischen Theses, disputationes vnd Schmehschrifften Frantz Ioels deß Leugcentiaten zu Grypßwaldt in Pommern. Basel 1580) oder die Rechtfertigung gegen den Vorwurf schwarzmagischer Praktiken (Leonhard Thurneysser zum Thurn: Wahrhafftiger bericht […] Von der Magia Schwartzen Zeuberkunst, vnd was dauon zu halten sey

Zur Diskursivierung pflanzenkundlichen Wissens

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Der 1531 in Basel geborene Thurneysser6 absolviert eine Goldschmiedelehre, befindet sich ab 1547 auf Wanderschaft, schließt sich 1551 als Schütze den berüchtigten Truppen des Markgrafen Albrecht, genannt Alcibiades, von Brandenburg-Kulmbach an und wird in der Schlacht von Sievershausen 1553 verwundet. Er erwirbt sich als Autodidakt eine Fülle von Kenntnissen, verschuldet sich maßlos, baut in Tirol eine Schmelz- und Schwefelhütte und unternimmt im Auftrag Ferdinands II. Reisen zum Studium des Hüttenwesens, die ihn nach England, Schottland, auf die Iberische Halbinsel, aber auch nach Ägypten, Kleinasien, Griechenland, Italien und Ungarn führen. In Brandenburg gelingt ihm eine glanzvolle Karriere: Der Autodidakt wird vom brandenburgischen Kurfürsten Johann Georg im Jahre 1571 als Leibarzt angestellt, seine Aufgaben erstrecken sich aber auch auf die Geldgeschäfte des Herrscherhauses, das Hüttenwesen, astrologische Prognostiken etc. Seine bemerkenswerte Jahresbesoldung von 1352 Talern, der Erlös aus seiner Berliner Offizin, ein reger Handel mit Talismanen, Amuletten und Arzneien sowie teure Harndiagnosen für verschiedene Fürstenhäuser,7 die Thurneysser auch per Post abzuwickeln wusste,8 versorgten ihn während seiner Berliner Zeit (1571-1584) mit einem außergewöhnlich hohen Einkommen,9 welches er in eine Fülle von Finanzspekulationen und Projekte investierte, insbesondere in den äußerst aufwändigen Druck der von ihm verfassten Bücher in seiner eigenen Offizin. Nach seinem Wegzug aus Berlin nach Basel verstrickt sich Thurneysser in eine Reihe von Prozessen, verlässt Basel, hält sich eine Weile in Italien auf, wo er

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[…]. Frankfurt a.M. 1591). Zu den apologetischen Ausführungen in den Vorreden seiner Kalender vgl. Fritz Juntke: Über Leonhard Thurneisser zum Thurn und seine deutschen Kalender 1572-1584. In: Archiv für die Geschichte des deutschen Buchwesens 19 (1978), Sp. 1356-1422, hier Sp. 1360, 1383-1385. Thurneyssers Generalabrechnung mit allen gegen ihn vorgebrachten Anfeindungen und Verdächtigungen stellt das Außschreiben (vgl. Anm. 2) dar. Bereits das Geburtsjahr ist umstritten. Gegen Thurneyssers eigene Angabe von 1530 als Geburtsjahr konnte Hermann Friedrich Macco gute Gründe für 1531 anführen (Wann wurde Leonhard Thurneysser zum Thurn geboren? In: Zeitschrift des Vereins für die Geschichte Berlins 3 (1954), S. 77-79. Leonhard Thurneysser zum Thurn: Βεβαίωσις αγωνισμου. Das ist Confirmatio Concertationis […]. Berlin 1576. Thurneyssers diagnostische Methode skizziert Moehsen: Leben (wie Anm. 3), S. 71f.; vgl. Boerlin: Auftraggeber (wie Anm. 3), S. 17; Michael Stolberg: Die Harnschau. Eine Kulturund Alltagsgeschichte. Köln/Weimar/Wien 2009, S. 19f., 89-92. Vgl. Bruno Harms: Leonhard Thurneysser in Berlin. Leben und Wirken. In: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins 12 (1963), S. 28-49, hier S. 36f. Vgl. die Zusammenstellung von Thurneyssers Einkünften bei Moehsen: Leben (wie Anm. 3), S. 100-134.

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1584 zum Katholizismus konvertiert und erneut als Leibarzt tätig ist. Thurneysser stirbt schließlich im Jahre 1596 auf rastloser Wanderschaft in Köln.10 Thurneysser verfasste und druckte Bücher (zunächst in Münster und Frankfurt an der Oder, ab 1574 in seiner eigenen Berliner Offizin im Grauen Kloster), wobei er oft und gern das Folio-Format verwendete und außergewöhnliche Darstellungsformen suchte und umsetzte.11 Neben einer Fülle von erfolgreichen Kalendern und Prognostiken12 erschien alchemistisches und astrologisches Schrifttum, zu dem ein Astrolabium im Imperial-Folio-Format gehört, welches acht jeweils in mehreren Scheiben drehbar gelagerte Himmelskarten enthält.13 Weiterhin erschienen Bücher über das Harnprobieren,14 in denen sich aufklappbare Bilder des männlichen und weiblichen Leibs finden, die den Blick auf Skelett und innere Organe freigeben (Abb. 1-2),15 ein Buch über alle Flüsse Deutschlands, welches die Beschaffenheit ihres Wassers und die in ihnen zu findenden Edelmetalle behandelt,16 ein Kräuterbuch, zwei paracelsische Onomastica, deren zweites einhundert Sprachen sowie eine große Zahl von Alphabeten und Schriften vorstellt (Abb. 3).17 Hinzu kommt Thurneyssers umfassende autobiographische Rechtfertigung

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Nach Moehsen und Diergart in einem Kloster, nach Huettchen dagegen im Hause eines Goldschmieds, vgl. Moehsen: Leben (wie Anm. 3), S. 187f.; Paul Diergart: Mitteilungen zur Wertung des Paracelsisten Leonhart Thurneysser. In: Beiträge aus der Geschichte der Chemie. Dem Gedächtnis G. W. A. Kahlbaums gewidmet. Leipzig/Wien 1909, S. 306-313, hier S. 312; Bruno Huettchen: Ergebnisse neuer Forschungen über Leonhardt Thurneysser. In: Zeitschrift des Vereins für die Geschichte Berlins. Beiblatt 13. (1943) Nr. 1, S. 3-4, Nr. 2, S. 7. Zu Thurneyssers Druckertätigkeit vgl. besonders Spitzer: … und die Spree führt Gold (wie Anm. 3), S. 31-106. Vgl. dazu die Untersuchung von Juntke: Thurneisser (wie Anm. 5). Leonhard Thurneysser zum Thurn: Dess Menschen Circkel und Lauff. Berlin 1575; vgl. die Abbildung bei Spitzer: … und die Spree führt Gold (wie Anm. 3), S. 44. Unter den vielen Thurneysseriana der Sächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Dresden findet sich ein vollständiges Exemplar, in welchem alle Teile der Himmelskarten gründlich koloriert sind (SLUB Astron. 71). Es wurde im Jahr 2010 restauriert. Leonhard Thurneysser zum Thurn: Προκατάληψις Oder Præoccupatio, Durch zwölff verscheidenlicher Tractaten gemachter Harm Proben […]. Frankfurt a.d.O. 1571; Thurneysser: Confirmatio Concertationis (wie Anm. 7). Thurneysser: Confirmatio Concertationis (wie Anm. 7), Bl. 28r, Bl. 35r. Diese Darstellungsform, heute allenfalls noch in Kinderbüchern gebräuchlich, darf wohl für sich reklamieren, von Thurneysser erfunden worden zu sein; vgl. Moehsen: Leben (wie Anm. 3), S. 69f. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die nackte Frau mit Schlange und Apfel ausgestattet ist, der Mann mit einem Spaten; es handelt sich also um Adam und Eva im postlapsalen Zustand, die hier den Blick auf ihr Innenleben freigeben. Vgl. das kolorierte Exemplar der Sächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Dresden SLUB Path. gen 10. Leonhard Thurneysser zum Thurn: Pison. Das erst Theil. […]. Frankfurt an der Oder 1572. Leonhard Thurneysser zum Thurn: ερμηνεία. Das ist ein Onomasticvm, interpretatio oder erklerunge […]. Vber die frembden vnd vnbekanten Wörter / Caracter vnd Namen / welche in den schrifften […] Theophrasti Paracelsi von Hohenheim gefunden werden. Das erst Teil. Berlin 1574; ‫ מליכח‬ΚΑΙ ΕΡΜΗΝΕΙΑ Das ist ein Onomasticvm und interpretatio oder außführliche Er-

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seiner Person gegen alle möglichen Verleumdungen und die gegen ihn in verschiedenen Prozessen vorgebrachten Vorwürfe, die auch eine an Misogynie nicht mehr zu überbietende Darstellung seiner dritten Ehe enthält.18

Abb. 1-2: Adam zum Aufklappen, aus Leonhard Thurneysser zum Thurn: Βεβαίωσις αγωνισμου. Das ist Confirmatio Concertationis […]. Berlin 1576, Bl. 28r. (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Path. gen 10)

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klerung […]. Vber Etliche frembde vnd […] vnbekante Nomina, Verba, Proverbia, Dicta, Sylben / Carakter, vnd sonst Reden. Deren nicht allein in des […] Aurelii, Theophrasti, Paracelsi von Hohenheim / Sondern auch in Anderer Authorum Schrifften / hin vnd wider weitleufftig gedacht […]. Berlin 1583; vgl. Tobias Bulang: Überbietungsstrategien und Selbstautorisierung im ‚Onomasticon Leonhard Thurneyssers zum Thurn. In: Aemulatio: Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450-1620). Hg. von Jan-Dirk Müller, Ulrich Pfisterer, Anna-Kathrin Bleuler und Fabian Jonietz. (Pluralisierung und Autorität 27) Berlin/New York 2011, S. 699-729. Vgl. Anm. 2.

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Abb. 3: arabische und persische Schriften, aus Leonhard Thurneysser zum Thurn: ‫ מליכח‬ΚΑΙ ΕΡΜΗΝΕΙΑ Das ist ein Onomasticvm und interpretatio oder außführliche Erklerung […]. Vber Etliche frembde vnd […] vnbekante Nomina, Verba, Proverbia, Dicta, Sylben / Carakter, vnd sonst Reden. Deren nicht allein in des […] Aurelii, Theophrasti, Paracelsi von Hohenheim / Sondern auch in Anderer Authorum Schrifften / hin vnd wider weitleufftig gedacht […]. Berlin 1583, S. 140. (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Chem. 26)

Solche Inszenierungen sollen die Gelehrtheit und die mannigfachen Kompetenzen des Projektemachers zeigen: Die aufklappbaren Abbildungen des menschlichen Leibes bringt Thurneysser damit in Verbindung, dass er Menschen obduziert hat,19 der Abdruck fremder Schriften evoziert, der Verfasser beherrsche alle Sprachen der Welt.20 Beides und andere Inszenierungen in seinen Büchern exponieren aber auch die Leistungsfähigkeit der Thurneysser’schen Offizin im Grauen Kloster, das große Reservoir an verfügbaren Typen, die außergewöhnlichen Holzschnitte. Bemerkenswert ist in Thurneyssers Buchprojekten auch die Arbeit am eigenen Bild und am eigenen Namen.

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Vgl. dazu auch Moehsen: Leben (wie Anm. 3), S. 58f., 68f.; Boerlin: Auftraggeber (wie Anm. 3), S. 57, S. 111; Paul H. Boerlin/Ladislao Münster: Der Alchemist Leonhard Thurneysser zum Thurn als Anatom auf einem Glasgemälde des 16. Jahrhunderts. In: CIBA Symposium 8.1 (1960), S. 32-36. Vgl. Moehsen: Leben (wie Anm. 3), S. 8, 92f.

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Immer wieder findet sich auf den Frontispizen und auf weiteren Holzschnitten seiner Bücher das Porträt des Verfassers und Druckers, welches oft mit einem eigens entwickelten emblematischen Programm gerahmt wird, das die allegorischen Figuren der Alchemia und der Temperantia, Kriegsgerät und Instrumente der Wissenschaft enthält sowie emblematische Darstellungen der Devisen „Zeit bringt Ehrenpreis“ und „Festina lente“ (Abb. 4-7).21

Abb. 4: Holzschnitt mit Porträt Thurneyssers, aus Leonhard Thurneysser zum Thurn: Pison. Das erst Theil. […]. Frankfurt an der Oder 1572, Frontispiz. (Sächsische Landesbibliothek – Staatsund Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Hydriat. 7r)22

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Alle Bildnisse Thurneyssers bietet Boerlin: Auftraggeber (wie Anm. 3), S. 174-200. Zum emblematischen Programm vgl. ebd., S. 200. Neben diesem Bild befindet sich ein lateinisches Epigramm mit deutscher Übersetzung. Der Text lobt Thurneyssers Vorzüge. Das Dresdener Exemplar SLUB Hydriat. 7r enthält eine Widmung des Buches von Thurneyssers Hand an die sächsische Kurfürstin Anna.

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Abb. 5: Holzschnitt mit Porträt Thurneyssers, aus Leonhard Thurneysser zum Thurn: ‫ מלא‬ΚΑΙ ΕΚΠΛΗΡΩΣΙΣ Vnd Impletio oder Erfüllung / der verheissung Leonhart Thurneyssers zum Thurn […]. Nürnberg 1581. (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Astron 541)

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Abb. 6: Holzschnitt mit Porträt Thurneyssers, aus Leonhard Thurneysser zum Thurn: Historia sive Descriptio Plantarum omnium […]. Berlin 1578. (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Botan. 100)

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Abb. 7. Holzschnitt mit Darstellung Gottes, der Porträtzüge Thurneyssers aufweist, aus Leonhard Thurneysser zum Thurn: Historia sive Descriptio Plantarum omnium […]. Berlin 1578. (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: SLUB Botan 103)23

Eine diskurs- und wissensgeschichtliche Aufarbeitung der bemerkenswerten Bücher des Verfassers und Druckers Leonhard Thurneysser zum Thurn stellt weitgehend ein Forschungsdesiderat dar,24 was daran liegen könnte, dass kaum eine seiner mannigfachen Innovationen auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Heilkunde tradiert wurde. Weder das von Thurneysser entwickelte Verfahren der Harnanalyse noch seine Klassifikation der Pflanzen haben über seine Lebenszeit hinaus wissenschaftliche oder medizinische Geltung beanspruchen können. Fast alle seine Schriften wirken heute bestenfalls

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Vgl. zu diesem eigentümlichen Befund Boerlin: Auftraggeber (wie Anm. 3), S. 160f. In einigen Exemplaren des Nachdrucks des Kräuterbuchs von 1583 findet sich das anstößige Porträt nicht. Auszunehmen ist die Studie von Morys: Kosmologie (wie Anm. 1). Thurneyssers Stellung im Kontext des Paracelsismus wird umrissen bei Wilhelm Kühlmann/Joachim Telle (Hgg.): Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Bd. 2: Der Frühparacelsismus. 2. Teil. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 89), S. 436-439.

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kurios, interessant allenfalls aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, gleichwohl in hohem Maße anregend für Bibliophile, welche die aufwändige drucktechnische Ausstattung der Bücher um ihrer selbst willen goutieren können.25 Auch das Herbarium Thurneyssers weist einen gewissen Abstand zu den pflanzenkundlichen Wissensdiskursivierungen seiner Zeit auf. Vergleicht man es mit den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts und den pflanzenkundlichen Ausführungen des Paracelsus und der Paracelsisten, so zeigt sich bald, dass man es hier mit einer anderen Wissensdiskursivierung zu tun hat. Die folgende Fallstudie zu Thurneyssers Kräuterkunde geht den Funktionen dieser Wissensdiskursivierung nach und sucht zugleich die Positionierung des Arztes, Autors und Druckers Thurneyssers im Feld des Wissens seiner Zeit aufzuzeigen.

2. Diskurstraditionen der Pharmakognostik und ihre Umsetzung bei Thurneysser Thurneyssers Kräuterbuch ist ein Torso geblieben. Von dem ursprünglich auf zehn Bände angelegten Werk ist lediglich der erste Band erschienen (Abb. 8). Nicht weniger als 1600 Kräuterstöcke hat Thurneysser von teils hochrenommierten Formschneidern anfertigen lassen (dabei wurden freilich Pflanzendarstellungen aus anderen Kräuterkunden nachgeschnitten, mitunter spiegelverkehrt),26 lediglich 37 davon finden sich in dem veröffentlichten Band,27 die anderen wurden erst 1673 im Herbarium des Thomas Pancovius gedruckt.28 Der erste Band ist als Einleitung vorgesehen, welche die Prinzipien der Folgebände erläutert und 37 Doldenpflanzen (Umbelliferen) behandelt. Rechnet man den in der Vorrede des Bandes angekündigten Gesamtbestand von 1923 Pflanzen-Abbildungen entsprechend der pro Bild verwendeten Textmenge auf, ergeben sich für jeden der geplanten Folgebände 209 zu behandelnde Pflanzen, womit für jeden Band ca. 800 Seiten zu veranschlagen wären. Und dies stellt selbst im

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Zu diesem Zwecke wurde vom Grünwalder Kölbl-Verlag im Jahr 1981 ein Nachdruck der Kräuterkunde herausgebracht. Viele Bilder sind aus dem Kräuterbuch des Hieronymus Bock kopiert; vgl. Susanne Baumann: Pflanzenabbildungen in alten Kräuterbüchern. Die Umbelliferen in der Herbarien- und Kräuterbuchliteratur der frühen Neuzeit. Stuttgart 1998 (Heidelberger Schriften zur Pharmazie- und Naturwissenschaftsgeschichte 15), S. 83f. Dass sich Bocks Kräuterkunde in Thurneyssers Bibliothek befand, vermutet Moehsen: Leben (wie Anm. 3), S. 142. Eine Abbildung ist doppelt enthalten; vgl. Leonhard Thurneysser zum Thurn: Historia Vnnd Beschreibung Influentischer / Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen / Aller fremden vnnd Heimischen Erdgewechssen […]. Berlin 1578, S. 30, 71; vgl. Baumann: Pflanzenabbildungen (wie Anm. 26), S. 85, Anm. 271. Thomas Pancovius: Herbarium Pancovio-Zornianum […] Herbarium oder Kraeuter- und Gewechsbuch. […]. Cölln a. d. Spree 1673.

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Vergleich zu den imposanten Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts ein exorbitantes Überbietungsunternehmen dar.

Abb. 8: Frontispiz der deutschen Ausgabe von Thurneyssers Kräuterkunde: Leonhard Thurneysser zum Thurn: Historia Vnnd Beschreibung Influentischer / Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen / Aller fremden vnnd Heimischen Erdgewechssen […]. Berlin 1578. (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Botan. 103)

Anhand des Titels möchte ich nun die Diskurstraditionen skizzieren, in welche sich Thurneyssers Projekt stellt: Allgemein kann man sagen, dass das Ungewöhnliche der Thurneysser’schen Pflanzenkunde in der Synthese von anderwärts mehr oder weniger säuberlich getrennten Zugriffsformen auf das Wissen besteht, die hier, so könnte man sagen, zusammengeführt, rekombiniert und in einem neuen Rahmen gefasst werden: HISTORIA | Vnnd Beschreibung In|fluentischer / Elementischer vnd | Natürlicher Wirckungen / Aller fremden | vnnd Heimischen Erdgewechssen / auch jrer Subtiliteten / sampt | warhafftiger vnd Künstlicher Conterfeitung derselbigen / auch | aller teiler / Innerlicher und Eüsserlicher glider am Menschli-|chen Cörper / nebend fürbildung aller zu der Extraction di|enstlichen Instrumenten / auch deren gebrauch / vnd | alle[n] zu erhaltung der gesundheit not-| wendigen Processen | gemeine[m] | nutz zu | gut. | Durch | Leonhardt Thurneysser zum Thurn | Churfürstlichen Brandenburgischen bestalten Leibs | Medicum beschriben.

Zunächst fällt der holistische Anspruch des Projekts ins Auge: Alle und zwar nicht nur alle einheimischen, sondern auch alle fremden Pflanzen sollen beschrieben werden, hinsichtlich ihrer influentischen, elementischen und natürlichen Wirkungen. Die Formulierung zeigt, dass es nicht allein um die Angabe medizinischer Anwendungen der Pflanzen geht, sondern vielmehr auch darum, die Prinzipien, die solche Wirkungen generieren,

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aufzuweisen. Historia und Beschreibung meint hier also nicht nur die pure descriptio äußerer und innerer Pflanzenteile, sondern beinhaltet einen dezidierten Erklärungsanspruch. Mit den „In|fluentische[n] / Elementische[n] vnd | Natürliche[n] Wirckungen“ der Gewächse sind Prinzipien der alchemistisch-astrologischen Pharmakognostik eingebracht, die Paracelsus in seinen Schriften ausgebreitet hatte. Er führte die Pflanzen auf die Prinzipien Sulphur, Mercurium und Sal zurück und diskutierte die astrologischen Einflüsse auf Wachstum und medizinische Wirkungen der Pflanzen und ihrer Teile.29 In den Büchern des Paracelsus wurden solche Erklärungen für eine geringe Zahl von Pflanzen vorgebracht, seine Ausführungen zu dieser Thematik sind eher knapp.30 Thurneysser nimmt die Prinzipien der astrologisch-alchemistischen Pflanzenkunde auf und beansprucht, sie für die Gesamtheit der bekannten Pflanzen durchzuführen, womit, wie noch zu sehen sein wird, nicht unerhebliche Probleme einhergehen. Mit dem Stichwort der Subtilitäten ist auf die 21 Bücher von Girolamo Cardanos De subtilitate angespielt, ein Text, aber auch ein Autor, zu dem Thurneyssers Werk und seine Karriere eine Reihe von Parallelen aufweisen.31 Wie bei Cardano erschöpft sich die Darstellung der Historia nicht in der naturkundlichen Beschreibung, sondern es wird der Anspruch erhoben, auch die Prinzipien anzugeben, welche die Gegenstände der Welt konstituieren. Man hat deshalb Cardanos Werk als eine philosophische historia naturalis bezeichnet, was auch für Thurneyssers Pflanzenbeschreibungen zutrifft.32 Bei Thurneysser geht der pflanzenkundliche Erklärungsanspruch weiter als in den entsprechenden Ausführungen Cardanos zur Pflanzenkunde.33 Zwar führt auch Cardano Qualitäten der Pflanzen auf Wärme und Feuchtigkeit zurück, anstelle einer stringenten Durchführung solcher Vorgehensweisen verzettelt er sich jedoch in De subtilitate in der Ausbreitung von Seltsamkeiten, etwa über das Bethelblatt, das Männer siebzigmal hintereinander zum Koitus befähigt (auch

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Zu diesen drei Prinzipien bei Paracelsus vgl. Walter Pagel: Paracelsus. An Introduction to Philosophical Medicine in the Era of the Renaissance. 2. überarb. Aufl. Basel u. a. 1982, S. 82-95. Sie finden sich unter den Kärntner Schriften im sogenannten Herbarius: Paracelsus: Bücher und Schriften. Hg. von Johannes Huser. Bd. 3. Hildesheim/New York 1972, Tl. 7, S. 61-108; Paracelsus: Sämtliche Werke. Hg. von Karl Sudhoff. München/Berlin 1929-1933, Abt. I: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, Bd. 2, S. 1-57; vgl. auch den Kommentar ebd. VIIf., X; Agnes Arber: Herbals. Their Origin and Evolution. A Chapter in the History of Botany 1470-1670. 3. Aufl. Cambridge u. a. 1986 (zuerst 1919, 1938), S. 248-251. Girolamo Cardano: De subtilitate libri xxi […]. Nürnberg 1550; vgl. die deutsche Epitome: Auszug aller fürnemen puncten und artikel, so in dem H. Cardani bücheren von den subteylen hendlen begriffen, verteütscht und geordnet durch D Heinricum Pentaleonem [d. i. De subtilitate libri xxi]. In: Girolamo Cardano: Offenbarung der Natur und natürlicher Dingen […] in die verstendtliche Teutsche zungen gebracht durch Hulderichum Froelich xxx von Plawen [d. i. De rerum veritate]. Basel 1591. Vgl. Ingo Schütze: Die Naturphilosophie in Girolamo Cardanos De subtilitate. München 2000, S. 20-28. Sie finden sich im achten Buch von De subtilitate, vgl. Cardano: De subtilitate (wie Anm. 31), S. 195-218 bzw. Cardano: Auszug (wie Anm. 31), pp. dcclxxij-dcclxxi.

Zur Diskursivierung pflanzenkundlichen Wissens ohne Begehren), aber ihnen leider auch die Zähne schwarz färbt.34 Dergleichen Seltsamkeiten fehlen auch bei Thurneysser nicht, allerdings sucht er die Prinzipien paracelsischer und cardanischer Naturphilosophie im Gegenstandsbereich der Pflanzenkunde systematisch durchzuführen. Darin erschöpft sich sein Projekt aber nicht. Mit der „wahrhaftigen und künstlichen Conterfeitung“ nimmt Thurneysser das Programm der Kräuterbücher auf. In den großen Werken von Otto Brunfels,35 Hieronymus Bock, Leonhard Fuchs und anderen wurde die epochale Anstrengung unternommen, die Referenz der überlieferten antiken und der neu aufgekommenen Pflanzennamen zu klären, indem ihre Abbildungen nach der Natur mit den Namen und den überlieferten Beschreibungen des Dioskurides, des Plinius und ihrer humanistischen Kommentatoren korreliert wurden (Abb. 9).36 In den Kräuterbüchern wurden auch die Wirkungen und medizinischen Anwendungen der simplicia dokumentiert, ein naturphilosophischer Erklärungsanspruch der Pflanzenwelt jedoch, wie er bei Thurneysser ausgemacht werden kann, unterbleibt dort: Bei den Pflanzen handelt es sich um Schöpfungen Gottes, nicht um einen aus natürlichen Prinzipien hervorgegangenen Teil der terrestrischen Welt.

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Abb. 9: Darstellung der Christwurz mit Nomenklatur aus Otto Brunfels: Herbarum vivae eicones ad naturae imitationem […]. Straßburg 1530, S. 30. (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Botan. 194,1-1)

Cardano: De subtilitate (wie Anm. 31), S. 214 (im Exemplar Dresden SLUB H. nat. A 56m hat ein interessierter Leser diese Passage eigens unterstrichen); Cardano: Auszug (wie Anm. 31), p. dcclxx. Otto Brunfels: Herbarum vivae eicones ad naturae imitationem […]. Straßburg 1530. Vgl. Karen Meier Reeds: Renaissance Humanism and Botany. In: Annals of Science 33 (1976), S. 519-542; Brian W. Ogilvie: The Many Books of Nature. Renaissance Naturalists and Information Overload. In: Journal of the History of Ideas 64.1 (2003), S. 29-40.

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Thurneyssers Ankündigung einer Abbildung aller Teile des menschlichen Körpers verweist auf die Beziehungen von Pflanze und Pflanzenteilen zu den Gliedern und Organen des Menschen gemäß der Signaturenlehre. Wie Paracelsus, so bedient sich auch Thurneysser der Signaturenlehre zur Ermittlung der therapeutischen Wirkungen der Pflanzenextrakte. Die Bemerkungen des Hohenheimers zu den Pflanzensignaturen waren freilich alles andere als ausführlich, sie finden sich an wenigen Stellen, besonders in seiner Schrift Von den natürlichen Dingen.37 Die Zusammenführung der Modelle des Kräuterbuchs und der paracelsischen Pharmakognostik reagiert auf ein von Pharmakognosten der Zeit empfundenes Desiderat: Von Paracelsus existierte kein Herbarium, allenfalls punktuelle Auskünfte über einzelne Pflanzen, über die ihrem Wachstum zugrunde liegenden alchemistischen und astrologischen Prinzipien sowie über ihre Signaturen. Die Existenz eines von Paracelsus selbst verfassten Herbariums hielten viele Paracelsisten für eine ausgemachte Sache, einige von ihnen vermuteten es in Thurneyssers Bibliothek.38 Thurneysser deutete mehrfach an, im Besitz etlicher Autographen des Hohenheimers zu sein, und tat auch wenig, um den diesbezüglichen Verdacht zu zerstreuen.39 Schon Thurneyssers Ankündigung eines solchen Buches konnte mit großem Interesse rechnen, wie ein an ihn gerichteter Brief des anhaltinischen Leibarztes Johannes Franke zeigt, der später selbst einen Hortus Lusatiae in den Druck gab: Weil ich dan von E.A. an anderen orttern nichtt allein viell gehorett, sondern auch wie ich negst zu Basell bei dem hern D. Theodoro Zwingero gewesen, gentzlich vorstanden, wie daß ihr willenß werett den Herbarium Theophrasti midtt vilen anderen simplicibus zu locupletiren und in druck zuvorfertigen, (wie ich denn auch vor langst von Joanne Montano zur Strige berichtt), habe ich nicht konnen unterlassen ahn E. A. zu schreiben und, waß von disem werk zu hoffen sei, mich zuerkunden.40

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Erst Oswaldus Crollius wird einen Traktat über die Signaturen verfassen, in dem den Körperteilen jeweils Pflanzen und ihre Teile zugewiesen werden (Von den innerlichen Signaturn / oder Zeichen aller Dinge […]. Frankfurt a.M. 1623; ders.: De signaturis internis rerum. Die lateinische editio princeps [1609] und die deutsche Erstübersetzung [1623]. Hg. und eingel. von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle. [Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit 5] Stuttgart 1996). Eine vollständige Sammlung aller Pflanzen ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht angestrebt. Unter den echten Paracelsica findet sich nichts dergleichen; vgl. Kühlmann/Telle: Corpus Paracelsisticum (wie Anm. 24), S. 397. Vgl. Boerlin: Auftraggeber (wie Anm. 3), S. 187; Kühlmann/Telle: Corpus Paracelsisticum (wie Anm. 24), S. 397, S. 446, S. 449, S. 452. Das kaiserliche Druckerprivileg erwähnt, Thurneysser habe einen „neüwen Paracelsischen Herbarium / oder Kreutterbuch / zum theil auß deß Ernenten Authoris hindterlassnen schrifften / anders thails aber seiner selbst aigner Erfahrung vorsamlet“ (Thurneysser: Historia [wie Anm. 27], p. )(ij). Johannes Franke: Hortus Lusatiae. Bautzen 1594. Hg., gedeutet und erkl. von Rudolph Zaunick, Kurt Wein und Max Militzer. (Oberlausitzer Heimatstudien 18) Bautzen 1930, S. 23.

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Franke ist sich darüber im Klaren, dass ein umfangreiches Herbarium allein aus den bei Paracelsus behandelten Pflanzen nicht bestückt werden kann, sondern weiterer Pflanzenbeschreibungen bedarf: Belangendtt aber daß Herbarium Theophrasti, bin ich hochlich neben vielen andern gelarten leutten erfreuett, daß eß ein mall mochte an tag kommen, den er ane zweifell aliquid singulare dunne haben wirdtt. Jedoch dass es ein absolutum opus nicht sein konne, (wo ir nicht andere mehr simplicia, so euch auß langer erfarung bekantt, hinzu thuen werdet), kann ich woll erachten.41

Schließlich sind auch noch Wissensfelder aus dem Bereich der artes mechanicae angekündigt: technische Anweisungen zur Extraktion pflanzlicher Essenzen via Destillation, zur Herstellung von Ölen und Tinkturen sowie eine Instrumentenkunde für diesen Zweck. Hier ist auf die Tradition der Destillierbücher zu verweisen,42 auch Cardano hatte die Instrumente für die Destillation in De subtilitate ausführlich behandelt. Der Titel weist also bereits auf wichtige konstitutive Momente des Thurneysser’schen Herbariums: Es hat einen (freilich nicht eingelösten) holistischen Anspruch, es will beschreiben, darstellen und erklären und – dies zeigt dann Thurneyssers Vorrede – es sucht verfügbares Wissen neu zu ordnen, ja zu systematisieren. Der im Titel des Werkes und in der Vorrede ausgebreiteten Programmatik entspricht ein recht konsequent durchgehaltenes Kapitelschema, durch welches die heterogenen Wissensbereiche geordnet werden. Die Kapitelüberschrift nennt einen Pflanzennamen, gibt das genus an (Thurneysser unterscheidet bei Pflanzen jeweils männliche, weibliche oder kindliche genera)43 und vermerkt alternative Namen. Danach werden unter der Überschrift „Geschlecht / Ort vnd Namen“ die Nomenklatur der Pflanze, diverse Etymologien sowie Orte des Wachstums dargelegt. Es folgen „Gestalt / Constellatio / vnd Qualitet“. Hier werden Wurzel, Stengel, Blätter, Blüten und Samen nach Größe, Farbe und Form beschrieben, hinzu kommen Angaben zu den Jahreszeiten des Wachstums und der Reife sowie zu den Sternkonstellationen und Subtilitäten. In diesem Abschnitt wird eine Pflanzenabbildung platziert (Abb. 10-11):

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Franke: Hortus Lusatiae (wie Anm. 40), S. 23f. Zum Gerücht, Thurneysser besitze paracelsische Autographen, vgl. Kühlmann/Telle (Hg.), Corpus Pracelsisticum (wie Anm. 24), S. 444-446. Vgl. etwa Gualtherus Ryff: New Groß Destillirbuch […]. Frankfurt a.M. 1567. Und zwar nach der Stärke der Wirkung: Die männliche Pflanze entfaltet die stärkste Wirkung und ist deshalb bei der Behandlung von Männerkrankheiten angeraten. Entsprechendes gilt für die weibliche und kindliche Pflanze. Vgl. Thurneysser: Historia (wie Anm. 27), S. 1; vgl. Morys: Kosmologie (wie Anm. 1): S. 83-86.

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Abb. 10-11: Holzschnitte der Pflanzen aus Leonhard Thurneysser zum Thurn: Historia Vnnd Beschreibung Influentischer / Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen / Aller fremden vnnd Heimischen Erdgewechssen […]. Berlin 1578, S. 47 (pimpinella), S. 112 (anthriscus). (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Botan. 103)

In der Mitte der außergewöhnlichen Darstellung findet sich jeweils der Holzschnitt im ovalen Medaillon. Links darüber die Planetenkonstellation, oben mittig der hebräische, mitunter auch arabische oder ‚chaldäische’ Pflanzenname, links daneben die Angabe alchemistischer Grundsubstanzen und ihrer Anteile für die Konstitution der Pflanze, unten links die Angabe der aus dieser Pflanze zu gewinnenden pharmako-alchemistischen Mittel (also Öl, Tinktur, Elixier oder Salz), unten mittig der griechische Pflanzenname, rechts daneben die dominanten Wirkungen. In dieser Darstellung kulminieren die Ansprüche auf Darstellung, Erklärung, Sprachreflexion und technische Expertise des Pharmako-Alchemisten. Es folgen vier Abschnitte zur wirkenden Kraft der Pflanze, Rezepturen, Verabreichungsformen und Gebrauch. Die Vierergliederung behandelt zuerst zwei Anwendungsarten nach paracelsischer Weise, wobei zunächst die innere Anwendung (also die orale Verabreichung von Tinkturen, Elixieren und Salzen), sodann die äußere Anwendung von Salben und Pflastern dargestellt wird. Nach den paracelsischen Medikationen wird ein weiteres Mal die innere und äußerliche Anwendung dargestellt, wie sie „nach Alter Philosophischer weis“ beschrieben worden sei. Ein letzter Abschnitt betrifft die „Natürliche Inclinatio vnd Gebrauch […] nach Alter vnd Neiwer Magischer weis“. In diesem Abschnitt findet sich oft die Darlegung der planetarischen Einflüsse auf die Pflanze, ihrer Genese gemäß dem die Pflanze bestimmenden alchemistischen Grund-

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element sowie Hinweise zur Grabung und Ernte. Graphisch vergegenwärtigt werden die planetaren Wirkungen auf die Pflanzen durch eine figura coeli, das im astrologischen Schrifttum gebräuchliche Horoskopschema, welches Thurneysser druckgraphisch mehrfach virtuos variiert (Abb. 12-13), wobei anders als bei den Horoskopen berühmter Zeitgenossen hier nicht die Konstellation bei der Geburt eine Rolle spielt, sondern der Zeitpunkt der Ernte ins Zentrum rückt.

Abb. 12-13: Horoskope aus Leonhard Thurneysser zum Thurn: Historia Vnnd Beschreibung Influentischer / Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen / Aller fremden vnnd Heimischen Erdgewechssen […]. Berlin 1578, S. 22, 96. (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Botan. 103)

In welchem Jahr und an welchen Tagen mit der intensivsten Wirkung der Pflanze zu rechnen sei, wird durch astrologische Techniken ermittelt: So ist damit zu rechnen, dass in Jahren, in denen die Erntezeit einer Wurzel mit einer besonderen planetaren Konstellation zusammenfällt, die Heilkräfte der Pflanze besonders stark bzw. außergewöhnlich sein werden.44 Zwar haben im 16. Jahrhundert auch Mediziner immer wieder astrologisch den idealen Zeitpunkt von Medikation und Operation bestimmt und das Heraus-

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Ein Beispiel: Über die Saxifraga hircina, die Bibernell, heißt es: „Es seindt auch (wie Paracelsus meldet) Anno 1452 den 21. tag Septembris / dises geschlechts Wurtzlen gegraben / vnd nicht mit kleinem Nutz gebraucht worden / Weil Saturnus, Venus vnd die Sonn / mit sambt dem Mercurio zurselbigen zeit in der Wag erfunden / aber der Monn mit dem Marte im Steinbock gestanden / vnd andere Planeten (Wie beygesatzte Figur außweiset) die Heüser und Zeichen hierzu am dienstlichesten durchstrichen sindt. [fig. coeli] Damit wir aber nicht allein von vergangnem / sunder auch von zukunfftigen dingen reden / wirdt dise Wurtz zugraben (wer es Erlebt / wils Gott) im zukunfftigen Jar 1598. den 20 Septembris / Ein Außerwelter tag vnd treffeliche Constellation / Vrsach ist dises / daß nicht allein Saturnus vnd Venus / sunder auch die Sonn vnnd der Monn / im Zeichen der Wag erfunden […] werden.“ (Thurneysser: Historia [wie Anm. 27], S. 45).

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geben von Horoskopen in Sammelwerken war spätestens seit Cardano gängige Praxis,45 eine solche systematische Versammlung von Pflanzenhoroskopen scheint jedoch eine Neuerung Thurneyssers zu sein. Hier werden also die von Thurneysser als eigener Beitrag zum Metier erarbeiteten Innovationen platziert. Die „magische Weis“ wird als „Geistlich / Syderisch vnd Miraculosa“ bezeichnet, zugleich wird behauptet, dass diese Sicht die vorab dargestellten Traditionen zusammenfasst: Sie sei „auss vorigen allen Exorirt, Effluiert, Generirt vnd geboren“ und betreffe die Anwendungen „Inn und Ausserthalb deß Leibs“.46 Inszeniert wird also Thurneyssers Beitrag zu den pflanzenkundlichen Traditionen bei jeder einzelnen Pflanze als Werk einer Synthese der Traditionen – seine Kräuterkunde beansprucht also gerade auch durch ihr Artikelschema eine wissensgeschichtliche Ordnungsleistung. Die Inszenierung eines radikalen Traditionsbruchs durch Paracelsus wird relativiert, Paracelsus als Autorität unter die anderen Autoritäten der Schultradition eingereiht und mit ihr zusammengefasst. Man kann darin den Versuch einer historisierenden Entschärfung der Radikalität des Paracelsus durch den Paracelsisten Thurneysser sehen: Gewährleistet wird so die Autorisierung und Legitimation des Autodidakten Thurneysser durch die Inszenierung einer Affinität und zugleich auch einer gelehrten Distanz zum Hohenheimer. Neben diesem Artikelschema ist eine weitere paratextuelle Operation augenfällig: Die Abhandlung wird buchstäblich durchbrochen von kleinen Fensterchen, die jeweils mit einem kleinen Bild versehen sind. In diesen Fensterchen können sich Ausführungen zur Destillation finden, diese sind dann mit kleinen Bildern diverser Alembiken und Kolben versehen oder mit Tierdarstellungen, die den Destillationsprozess versinnbildlichen, es kann in diesen Fensterchen auch die Signatur der Pflanze erläutert sein. Neben standardisierten Fensterchen, wie den Pflanzenabbildungen und den Himmelskarten, findet sich auch Heterogenes: So können hier komplizierte hebräische Etymologien der Pflanzennamen oder fremde Gewichtseinheiten erläutert werden. Schließlich wird in Druckglossen eine Kurzzusammenfassung des Textes geboten, Planetenkonstellationen werden hier noch einmal fixiert, Etymologien, Wirkungen der Pflanzen und Anwendungen vermerkt (vgl. Abb. 14).

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Vgl. Anthony Grafton: Cardanos Kosmos. Die Welten und Werke eines Renaissance-Astrologen. Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht. Berlin 1999. Thurneysser: Historia (wie Anm. 27), passim.

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Abb. 14: Leonhard Thurneysser zum Thurn: Historia Vnnd Beschreibung Influentischer / Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen / Aller fremden vnnd Heimischen Erdgewechssen […]. Berlin 1578, S. 6-7. (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: chem.25.b, misc.2)

Programmatik und paratextuelle Disposition des Werkes zielen also auf einen Vollständigkeitsanspruch in mehrfacher Hinsicht: Behandelt werden nicht nur alle Pflanzen, sondern auch alle Anwendungen auf alle Körperteile unter Angabe der in der medizinischen Tradition vermerkten Medikationen. Beansprucht wird eine enzyklopädische Synthese des Wissens über die simplicia. Damit geht auch ein Überbietungsanspruch der Traditionen einher, insbesondere die paracelsische Medizin, die sich bereits als Überbietung inszenierte, soll durch konsequente Systematisierung und umfassende Durchführung ihrer Prinzipien im gesamten Pflanzenreich überboten werden. Thurneyssers Darstellung der „magischen Weis“ wird als das Nonplusultra der Pharmakognostik inszeniert. In der Forschung wurde immer wieder betont, dass Thurneyssers Pflanzenkunde jeglichen wissenschaftlichen Wertes entbehre.47 In der Tat sind die Leistungen der Thurn-

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Die Kommentatoren des Franke’schen Hortus Lusatiae sehen in Thurneyssers Herbarium „die Zeit des Niedergangs der Kräuterbuch-Literatur“ (Franke: Hortus Lusatiae [wie Anm. 40], S. 28); vgl. auch die kritischen Auseinandersetzungen bei Ernst Heinrich Friedrich Meyer: Geschichte

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eysser’schen Pharmakognostik kaum innerhalb einer Geschichte des Fortschritts botanischer Wissenschaft zu suchen. Das epochale Problem der Pflanzennomenklatur, die Zuordnung einer expandierenden Fülle bekannter und neu erschlossener Pflanzen zu den in der Tradition bekannten und allenthalben vermehrten Namen, ist von den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts mit Hilfe neuer Formen von Text-Bild-Zuordnungen und Beschreibungen in Angriff genommen worden.48 Thurneysser lässt in seinen Ausführungen jede Eindeutigkeit der Zuordnung vermissen, er bleibt – anders als die sogenannten Väter der Botanik – vage, lässt alle möglichen Namen nebeneinander gelten und vermehrt die Bezeichnungen noch durch Rückgriff auf orientalische und westslavische Sprachen sowie auf kratylistische Neologismen. Stereotyp ist sein Hinweis, über die Namen der jeweiligen Pflanze gebe es viel Gezänk bei den Gelehrten, er möchte nur opiniones bieten und sich ansonsten ganz aus dieser Diskussion heraushalten. Als Beitrag zur Klärung der Pflanzennomenklatur ist solche Abstinenz nicht zu bewerten.49 Die Ermittlung der Heilwirkungen einer Pflanze durch Rückgriff auf ihre Signaturen, wie sie insbesondere von Paracelsus und den Paracelsisten praktiziert wurde, wird bei Thurneysser inflationiert. Waren es im Rahmen der Signaturenlehre einzelne Pflanzen und Pflanzenteile, die ihre Heilwirkung anzeigten (z. B. die Walnuss aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit dem menschlichen Hirn ihre Eignung zur Heilung von Geisteskrankheiten),50 so sucht Thurneysser für jede Pflanze und jedes Pflanzenteil dergleichen zu bestimmen, was die Bedingungen der Plausibilität der Verweisung von Signaturen unterläuft. Problematisch ist auch die Disposition einer Pflanzenenzyklopädie nach Signaturen: Thurneyssers erster Band enthält mit den Umbelliferen Pflanzen, die den ganzen menschlichen Leib bezeichnen. Jeder weitere der neun geplanten Bände sollte jeweils Pflanzen enthalten, die qua Signatur einem bestimmten inneren Organ zugeordnet sind. Eine Gruppierung der Pflanzen gemäß ihrer Ähnlichkeit untereinander (im Sinne eines vagen Gattungszusammenhangs), wie dies bei den Doldenpflanzen des ersten Bandes noch möglich war, wäre so nicht mehr durchführbar gewesen, zudem wären Doubletten unausweichlich geworden, da verschiedene Teile ein und derselben Pflanze Unter-

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der Botanik. Studien. 4 Bde. Königsberg 1854-1857, Bd. 4 1857, S. 436-437; Arber: Herbals (wie Anm. 30), S. 259-261; Frank J. Anderson: An Illustrated History of the Herbals. New York 1977, S. 182f.; zusammenfassend Morys: Kosmologie (wie Anm. 1), S. 83-86. Vgl. zur Datenexplosion in den pflanzenkundlichen Schriften und den ihr geltenden Bewältigungsstrategien besonders Ogilvie: The Many Books (wie Anm. 36); Reeds: Renaissance Humanism (wie Anm. 36); dies.: Botany in Medieval and Renaissance Universities. (Harvard Dissertations in the History of Science) New York/London 1991. Vgl. auch mit weiterer Literatur Tobias Bulang: Epistemische Kontingenzen und ihre literarische Aktivierung. Fallstudie zur Nomenklatur der Pflanzen in Johann Fischarts Geschichtklitterung. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Cornelia Herberichs und Susanne Reichlin. (Historische Semantik 13) Göttingen 2010, S. 364-389, hier S. 365-381. Vgl. Morys: Kosmologie (wie Anm. 1), S. 84. Vgl. die diesbezügliche Erläuterung der Walnuss bei Crollius: De signaturis internis (wie Anm. 37), S. 19f.

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schiedliches signieren können. Eine Klassifikation der Pflanzen nach ihren Signaturen – wie sie, soweit ich sehe, nie zuvor systematisch erprobt wurde – hätte in ihrer Durchführung an allen Punkten die Künstlichkeit der Zuordnungen exponiert, was gerade bei den Signaturen so nicht vorgesehen ist, da die Relation von Signatur und Erkrankung doch als schlechthin natürliche Form der Verweisung konzipiert war (Abb. 15). Bereits im ersten Band entbehren die Behauptungen, bestimmte Pflanzenteile würden aufgrund ihrer Signatur auf bestimmte Körperteile und Krankheiten verweisen, oft jeglicher Anschaulichkeit, die ja gerade den Charme und die Plausibilität solcher Behauptungen ausmacht. Die Beziehungen werden von Thurneysser in vielen Fällen nur gesetzt und behauptet, nie gezeigt. Paracelsus konnte noch auf die ophthalmologische Anwendung von euphrasia officinalis (Augentrost) verweisen, weil die Blüte „anatomiam oculorum“ habe.53 Thurneysser bleibt solche Plausibilisierungen allenthalben schuldig. Zuordnungen Abb. 15: Pflanzen und Körperteile aus Fabricius’ ΑΠΟΡΗΜΑ wirken daher kontingent, will- ΒΟΤΑΝΙΚΟΝ (1653)51 (Bayerische Staatsbibliothek München, kürlich und nicht nachvoll- Signatur: 4 Phyt. 98 d)52 ziehbar. Wo dies allzu deutlich wird, beruft sich Thurneysser auf sein Wissen und seine Erfahrung – mehr nicht. Wie bereits ausgeführt, ist im Kapitelschema der Kräuterkunde an letzter Stelle die „Natürliche Inclinatio nach alter und neuer magischer Weis“ vorgesehen. Dass mit diesem Abschnitt ein besonderer Überbietungs- und Syntheseanspruch einhergeht, wurde

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Wolfgang Ambrosius Fabricius: ΑΠΟΡΗΜΑ ΒΟΤΑΝΙΚΟΝ, de signaturis plantarum. Nürnberg 1653, Anhang. Die Abbildungen vergegenwärtigen die von Crollius in seinem Traktat über die Signaturen behaupteten Beziehungen; vgl. Crollius: De signaturis internis (wie Anm. 36). Paracelsus: Sämtliche Werke (wie Anm. 30), Abt. I, Bd. 1, S. 376.

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oben dargelegt. Unter dieser Überschrift wird dann jedoch mitunter eine rege Buntschriftstellerei betrieben, die alle möglichen mirakulösen Angelegenheiten betrifft. Hier finden sich Aphrodisiaka, Amulette zur Förderung der Fruchtbarkeit und zum Zweck des Abwehrzaubers gegen Werwölfe, Hexen und andere Unholde, Zauberringe, welche die Melancholie, aber auch Krankheiten vertreiben, Kosmetika, Waffensalben und mehr dergleichen. Die Ordnung des Wissens auf solche Artefakte hin ist im Falle des Magiers und Wunderheilers Thurneysser durchaus nachvollziehbar. Eine nicht unwesentliche Quelle der Einkünfte Thurneyssers bestand im Verkauf von Talismanen und Sigillen.54 Dergleichen gab Thurneysser zu hohen Preisen den Nativitäten bei, die er in großer Zahl für seine Klienten erstellte. Für die im Geburtshoroskop verzeichneten Gefahren sollten die magischen Utensilien als Gegenmittel wirken. Auch Thurneyssers Handel mit geheimnisvollen Arzneimitteln und Kosmetika wird in den entsprechenden Abschnitten indirekt beworben. Die Rezepte für die teuersten Arzneien aus Thurneyssers Apotheke, wie z. B. Trinkgold (aurum potabile), finden sich freilich im Herbarium nicht. Im Thurneysser’schen Herbarium werden die Traditionsströme der Pharmakognostik und der astrologischen Kräuterkunde durch die inszenierte wissensgeschichtliche Überbietungsfigur in den Bereich dieser magischen und unternehmerischen Praktiken gelenkt. Ich fasse zusammen: Thurneyssers Kräuterkunde vereint in sich verschiedene Diskurstraditionen: paracelsische Pflanzenkunde, cardanische Naturphilosophie, Kräuterbuch, Signaturenlehre, Destillierbücher und astrologisches Schrifttum. Durch die Kombination dieser Elemente in einem eigenen Rahmen entsteht dabei etwas Neuartiges. Die Disposition der Pflanzen im geplanten Großkompendium erfolgt gemäß der Signaturenlehre, die hier eine Systematik und eine enzyklopädische Wissensorganisation zu leisten hat und mit klassifikatorischem Anspruch auftritt. Alchemistisch-astrologische Erklärungsversuche der Pflanzen sind vereint mit Beschreibung und Darstellung der Erdgewächse, mit dem Anspruch auf die Klärung ihrer Namen und heilkräftigen Wirkungen. Thurneysser verfährt dabei wissensgeschichtlich ordnend, distanziert die traditionsvernichtende Attitüde des Paracelsus, indem er ihn in die Geschichte der Alten und Neuen Philosophi einreiht. Er positioniert seine eigenen Ausführungen zu den Pflanzen als Zusammenschau, Synthese und Überbietung der Tradition. Die paracelsischen Überbietungsfiguren werden dabei ein Stück weit auch gegen Paracelsus selbst gewendet. Eine solche Zusammenstellung des Materials zielt in ihrem Anspruch sowohl hinsichtlich quantitativer Vollständigkeit als auch hinsichtlich qualitativer Durchdringung auf das Maximum des in der Pflanzenkunde Möglichen und scheitert – wie viele Projekte des Verfassers – grandios in seiner konkreten Durchführung. Der erste Band zeigt jedoch, dass dieses Projekt, soweit durchgeführt, zusammengehalten wurde durch eine forcierte Paratextualität, eine außergewöhnlich innovative und originelle Handhabung

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Moehsens Bemerkungen vermitteln eine Vorstellung vom Ausmaß dieses Handels (Moehsen: Leben [wie Anm. 3], S. 133-139).

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der Druckseite, auf der sich eine Hybridisierung aller möglicher Traditionen findet. Und dies ist es, was alle Bücher der Thurneysser’schen Offizin zum Ereignis macht. Ihr Zweck besteht in der grandiosen Veranschaulichung von Wissen, welches dabei zentriert wird auf die in Porträt, Namen und allegorischen Figurationen allgegenwärtige Persona des autodidaktischen Verfassers und Druckers, der noch im sogenannten „Register der Historien“ unter T mehr als anderthalb Spalten mit Einträgen zu seinem Namen füllt.55 Erkennbar ist das Bestreben, die Datenexplosion der Pflanzenkunde und die ausufernden hermetischen und sprachhistorischen Diskurse der Zeit zu zentrieren, indem sie mit dem eigenen Namen verbunden werden. Thurneysser ging es auch bei seinen Buchprojekten, in denen er eigene Strategien einer Diskursivierung des Wissens betrieb, immer wieder um die Sicherung und Überhöhung seines allenthalben gefährdeten Renommées.

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Die Einträge zu Thurneysser nehmen im „Register der Historien“ zwei und eine halbe Spalte ein, vermerkt werden besondere Pflanzenfunde des Verfassers, außergewöhnliche Heilerfolge, seine Reisen sowie persönliche Begegnungen mit wichtigen Personen in Politik und Wissenschaft (z. B. Cardano).

Volkhard Wels (Berlin) Die Tradierung alchemischen Wissens bei Michael Maier, Andreas Libavius und Oswald Croll

Die These, die die folgenden Überlegungen plausibel machen möchten, lautet, dass es in der Tradierung alchemischen Wissens um 1600 zu einem Bruch kommt, insofern aus der hermetischen, verschleierten, arkansprachlichen Darstellungsform der Alchemie die moderne, den neuen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Darstellungsform der Chemie wird, während gleichzeitig die hermetisch-verschleierte Darstellungsform zu einer spezifisch poetischen Form werden kann. Ich konfrontiere zu diesem Zweck drei Autoren und Werke miteinander, nämlich erstens den Arzt, Alchemiker und Dichter Michael Maier mit seiner Atalanta fugiens, zweitens den Chemiker, Humanisten und Coburger Professor Andreas Libavius mit seiner Alchymia und drittens den Arzt, Paracelsisten und Pharmazeuten Oswald Croll mit seiner Basilica chymica.

1. Michael Maiers Atalanta fugiens (1617) und die Arkansprache der Alchemie Bei Michael Maiers Atalanta fugiens (1617) handelt es sich um ein Emblembuch, das durch den enigmatischen Charakter seiner Kupferstiche und die Tatsache, dass Maier jedem Emblem eine Fuge beigegeben hat, einen festen Platz in den esoterischen Traditionen der Moderne hat.1 Die fünfzig Kapitel des Werkes bestehen aus je einem Emblem mit lateinischer und deutscher Subscriptio, begleitet von einer Fuge und gefolgt von einem zweiseitigen lateinischen „Discursus“. Die einzelnen Kapitel bilden eine lose Abfolge, die

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Grundlegend zu Maier ist Erik Leibenguth: Hermetische Poesie des Frühbarock. Michael Maier (1586-1622): ‚Cantilenae intellectuales‘. Tübingen 2002. Dort auch ein ausführliches Verzeichnis der älteren Literatur. Neben Leibenguth vgl. Hereward Tilton: The Quest for the Phoenix. Spiritual Alchemy and Rosicrucianism in the Work of Count Michael Maier (1569-1622). Berlin/New York 2003. Das lateinische Original der Atalanta fugiens liegt in mehreren Nachdrucken vor und wird als Digitalisat von der SLUB Dresden zur Verfügung gestellt. Auch eine anonyme deutsche Übersetzung von 1708 liegt jetzt als Neuausgabe vor, vgl. Michael Maier: Chymisches Cabinet. Atalanta fugiens deutsch nach der Ausgabe von 1708. Hg. von Thomas Hofmeier. Berlin/Basel 2007.

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nicht durch einen narrativen Zusammenhang verbunden ist, sondern einzelne chemische Prozesse und allgemeine Aspekte der Naturphilosophie zum Gegenstand hat. ,Über die Geheimnisse der Natur‘ („De secretis naturae“) lautet der Untertitel der Atalanta, und zu diesen Geheimnissen der Natur gehören solche chemischen Prozesse, wie sie der Vorgang des Waschens und Bleichens impliziert, der im dritten Emblem thematisiert wird, der Vorgang des Kochens im zweiundzwanzigsten Emblem, das Handwerk der Töpferei im fünfzehnten Emblem. Auch die Tatsache, dass jeder biologische Wachstumsprozess in der Natur eine chemische Grundlage hat, ist Maier bekannt, wenn er die Zeugung im zweiten Emblem oder die jährliche Aussaat des Bauern im sechsten Emblem thematisiert. Das Keimen der Saat, genauso wie alle anderen Gesetze der Landwirtschaft, beruht auf chemischen Prozessen und bildet insofern ein ‚Geheimnis der Natur‘. Zu den Geheimnissen der Natur gehören aber auch solche biologischen Prozesse wie die Versteinerung von Korallen, wenn sie mit Sauerstoff in Berührung kommen, die Maier zum Gegenstand des zweiunddreißigsten Emblems macht. Etwas geheimnisvoller und alchemischer sieht es schon aus, wenn Maier sich der antiken Mythologie bedient, um chemische Prozesse darzustellen, so etwa im einundvierzigsten Emblem des Adonis-Mythos, oder wenn er die klassisch alchemische Bildlichkeit übernimmt, die heute so bizarr anmutet, wie etwa die Sol- und LunaPersonifikationen (dreißigstes Emblem), das Bad des Königs (einunddreißigstes Emblem) oder den Drachen und die Frau, die sich gegenseitig töten und in ihrem Grab von ihrem Blut bedeckt werden (fünfzigstes Emblem). Auch diese mythologischen Embleme bezeichnen jedoch konkrete, chemische Prozesse oder Stadien des alchemischen Werkes. So ist etwa die Tötung der Frau durch den Drachen eine Chiffre für das Stadium der mortificatio der Materie, also den chemischen Prozess, in dem sich am Boden der Retorte aufgrund von Erhitzung eine schwarze Schlacke absetzt. Die Bildlichkeit, der sich Maier bedient, hat er nicht erfunden, sondern der alchemischen Tradition entnommen. Ein genauer Herkunftsnachweis ist nicht nötig, ich verweise hier nur auf das Rosarium philosophorum, eine weitverbreitete alchemische Kompilation, die zuerst 1550 gedruckt wurde und der Maier offensichtlich viel von seinem Material entnommen hat.2 Verweisen könnte man auch auf die Aurora consurgens aus dem 14. oder 15. Jahrhundert, in der sich – ebenfalls bildlich dargestellt – etwa das Backen als alchemische Metapher findet, genauso wie der Drache, der die Frau tötet. Dieselben Motive kehren wieder – auch hier in bildlicher Darstellung – im Splendor Solis vom Beginn des 16. Jahrhunderts, in dem sich etwa das Bad des Königs im Hintergrund einer Mercurius-Darstellung im siebten Bild und das Waschen des Leinens im einundzwanzigsten Bild finden.3

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Rosarium philosophorum. Ein alchemistisches Florilegium des Spätmittelalters. Frankfurt 1550. Ndr., hg. von Joachim Telle. Weinheim 1992. Nachweis der Übernahmen Maiers dort im Nachwort Telles, S. 190-197. Zum Splendor Solis vgl. vor allem Joachim Telle: Der ‚Splendor Solis‘ in der frühneuzeitlichen Respublica alchemica. In: Daphnis 35 (2006), S. 421-448.

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Diese flüchtigen Hinweise sollen hier genügen. Worauf es mir ankommt, ist nur der Nachweis, dass Maier mit der Bildlichkeit seiner Atalanta in einer alten und langen Tradition der Alchemie steht. Diese Bildlichkeit ist Ausdruck einer Arkansprache. Sie folgt aus dem sogenannten Schweigegebot, dem der Alchemiker unterlag. Dieses Schweigegebot entsprach im Mittelalter ganz handfesten, materiellen und ständischen Interessen, indem verhindert werden sollte, dass bestimmte, vor allem metallurgische Prozesse von jedermann nachvollzogen werden konnten.4 Das Schweigegebot übernahm damit eine Funktion, wie sie heute etwa das Patentrecht und die Gewerbeerlaubnis erfüllen.5 Es dient dem Schutz eines fachspezifischen Wissens und der Kontrolle seiner Ausübung. Die Arkansprache der mittelalterlichen Alchemie steht damit in der Tradition der Fachsprachen, nicht in der Tradition der Mystik oder des Okkultismus.

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Zur Arkansprache der Alchemie vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Michael Horchler: Die Alchemie in der deutschen Literatur des Mittelalters. Baden-Baden 2005, S. 19-54, sowie den Überblick bei Joachim Telle: Alchemie II: Historisch [Art.]. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller. Bd. 2. Berlin/New York 1978, S. 199-227, hier S. 210ff. Präzise zusammengefasst hat Telle den Sachverhalt zuletzt noch einmal in Telle: ‚Splendor Solis‘ (wie Anm. 3), S. 421ff. Immer noch höchst lesenswert ist die inaugurale Studie von Gerhard Eis: Von der Rede und dem Schweigen der Alchemisten. In: ders.: Vor und nach Paracelsus. Untersuchungen über Hohenheims Traditionsverbundenheit und Nachrichten über seine Anhänger. Stuttgart 1965, S. 51-73 (zuerst in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 25 [1951], S. 415-435). Zur Transformation der Arkansprache in der Frühen Neuzeit vgl. Florian Ebeling: ‚Geheimnis‘ und ‚Geheimhaltung‘ in den Hermetica der Frühen Neuzeit. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hg. von Anne-Charlott Trepp und Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, S. 63-80. Zur Entstehung der Vorstellung von einer ‚wissenschaftlichen Öffentlichkeit‘ und der mittelalterlichen Secreta-Literatur (der sicherlich auch die Atalanta verpflichtet ist) vgl. die grundlegende Darstellung von William Eamon: Science and the Secrets of Nature. Books of Secrets in Medieval and Early Modern Culture. Princeton/NJ 1994 sowie die konzise Zusammenfassung der Thesen in William Eamon: From the Secrets of Nature to Public Knowledge. The Origins of the Concept of Openness in Science. In: Minerva 23 (1985), S. 321-347. Innerhalb einer historischen Skizze, wie Eamon sie entwirft, würde ich auch meine hier vorgestellten Thesen verorten. Spezifisch zur Chemie vgl. Jan V. Golinski: Chemistry in the Scientific Revolution: Problems of Language and Communication. In: Reappraisals of the Scientific Revolution. Hg. von David C. Lindberg und Robert S. Westman. Cambridge 1990, S. 367-396 sowie besonders Stephen Clucas: Alchemy and Certainty in the Seventeenth Century. In: Chymists and Chymistry. Studies in the History of Alchemy and Early Modern Chemistry. Hg. von Lawrence M. Principe. Sagamore Beach 2007, S. 39-51. Wenig überzeugend der Versuch von Betty J. T. Dobbs: From the Secrecy of Alchemy to the Openness of Chemistry. In: Solomon’s House Revisited. The Organisation and Institutionalisation of Science. Hg. von Tore Frängsmyr. Canton/Mass. 1990, S. 75-94, eine Linie von der – nur als ‚esoterischer‘ Kunst wahrgenommenen – Alchemie über die Geheimgesellschaften zur Royal Society zu ziehen, mithin, in der Übertragung der „YatesThese“, eine nur ‚esoterisch‘ verstandene Alchemie zur Wurzel der modernen Chemie zu erklären. Diese These ist, das demonstriert die Arbeit von Dobbs, nur um den Preis einer extrem verkürzten Wahrnehmung der frühneuzeitlichen Alchemie zu haben. Vgl. Telle: Alchemie (wie Anm. 4), S. 211.

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Belege für die fortdauernde Gültigkeit des Schweigegebots auch im 16. Jahrhundert finden sich zuhauf. So etwa heißt es im Rosarium philosophorum: Doch auch wenn wir sie (die Lehre) verhüllt (vorgetragen) haben, so soll sich darüber kein Sohn der Wissenschaft wundern; denn nicht vor ihm haben wir sie verhüllt, sondern vor bösen, ruchlosen Menschen. Wir haben sie in solcher Sprache weitergegeben, daß sie den Toren notwendig unverständlich bleiben muß und daß ebendahin, nämlich zur Suche nach ihrer Auffindung, die Klugen gelockt werden können.6

Im Rosarium wird auch Geber, einer der mythischen Gründerväter der Alchemie, mit der Äußerung zitiert, er habe die Kapitelfolge seiner Summa perfectionis absichtlich durcheinandergeworfen, um das Verständnis zu erschweren7 – eine Methode, die im Übrigen auch die scheinbar willkürliche Kapitelfolge der Atalanta erklären könnte. Ratich Brotoffer begründet in seinem Elucidarius chymicus (1617) die Notwendigkeit einer Verschlüsselung des „secretum naturae“ mit der Boshaftigkeit der Menschen: Denn das ist einmal gewiß vnnd war / wann solch secretum naturae sollte vberall der Welt kundt gethan werden / es würde ein solche confusio vnnd schändlicher Mißbrauch darauß entstehen / das Gott der Allmechtige / nach Theophrasti Weissagung / mit Schwerdt / Hunger vnnd Pestilentz / wol also vnter den Menschen rumoren möchte / das nur der vierdte theil derselben vberbliebe.8

Ein weiteres Beispiel wären die gleichzeitig erscheinenden Rosenkreuzer-Schriften, denen mit der Chymischen Hochzeit Christiani Rosenkreutz ein allegorischer Roman angehört, der ebenfalls die Geheimnisse der Natur verschleiert zum Ausdruck bringt. Schon auf dem Titelblatt beruft er sich programmatisch auf das Schweigegebot: „Veröffentlichte Geheimnisse sind nichts mehr wert und profanierte Geheimnisse verlieren ihr Ansehen. Deshalb wirf keine Perlen vor die Säue und gib dem Esel keine Rosen.“9 Mit demselben Zitat von Mt. 7,6 – keine Perlen vor die Säue –, heißt es in der Apocalypsis Hermetis, die Alchemiker würden ihr Wissen verdunkeln, „damit sie das Würdige vor dem Unwürdigen nicht zeigten / und so ein edles Perlein nicht unter die Säue sträueten“.10 Insbesondere in dieser Metapher von den Perlen vor den Säuen kommt ein wei-

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Rosarium philosophorum (wie Anm. 2), S. 126f. Ebd., S. 142. Quelle ist [Pseudo-Geber]: The ‚Summa perfectionis‘ of Pseudo-Geber. A Critical Edition, Translation and Study by William R. Newman. Leiden/New York u. a. 1991, S. 630. Ratich Brotoffer: Elucidarius Chymicus Oder / Erleuchterung vnd deutliche Erklerung / was die Fama fraternitatis vom Rosencreutz / für Chymische secreta de lapide Philosophorum, in jhrer Reformation der Welt / mit verblümbten Worten versteckt haben. [Goßlar] 1617, S. 2. Johann Valentin Andreae: Fama Fraternitatis (1614), Confessio Fraternitatis (1615), Chymische Hochzeit: Christiani Rosencreutz. Anno 1459 (1616). Eingeleit. und hg. von Richard van Dülmen. Stuttgart 1981, S. 44. Ich zitiere den Paracelsus zugeschriebenen Text nach der Ausgabe in den Werken von Alexander von Suchten: Chymische Schrifften. Hg. von Ulrich C. v. Dagitza. Frankfurt a.M. 1680, S. 55-62, hier S. 57. Zum italienischen Original des Textes vgl. Florian Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus. München 2005, S. 107-109, der dort auch bereits auf diese Stelle hingewiesen hat.

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terer Aspekt des Schweigegebots zum Tragen, der den Akzent nicht nur auf den Schutz eines geheimen Wissens legt, sondern auch im moralischen Sinne die Unwürdigkeit der Scharlatane betont. Das naturphilosophische Wissen muss vor seiner Profanation und schnöden Ausnutzung zu bloß materiellen Interessen geschützt werden. Dazu kommt schließlich als weitere Funktion der Schutz der eigenen Person vor den Scharlatanen und am bloßen Gewinn orientierten Goldmachern. So heißt es in dem anonymen Güldenen Traktat vom Philosophischen Steine: Du solt dich auch nicht verwundern / das ich meinen Namen verborgen / vnnd mich dir Personlich nicht offenbahren wollen: ich suche nicht meine eitele Ehre / vnd mir für der Welt einen grossen Namen zumachen / sondern deinen Nutzen: Zu deme haben mich meine Lehrmeistere / die wahren Philosophos meine ich Nicht gelehret / wegen grosses Ansehens mein Leben in die schantze zuschlagen / vnd den geitzigen Räubern feil zubiethen / dazu auch mit prostituirung dieses grossen Geheimnuß grosse Sünden auff mich zuladen. […] die Erfahrenheit bezeugets / das vnderschiedene Philosophi, so jhre Schätze nicht gnugsam in acht genommen / von den geitzigen vnnd hoffertigen Gesellen / so deßhalben jhre Seelen in die Schantz geschlagen / erwürget / vnd der Tinctur beraubet worden.11

Das Geheimnis der Natur muss geschützt werden, und dies geschieht am sichersten durch eine Sprache, die nicht jeder versteht und die nur dem Würdigen in Andeutungen die Wahrheit enthüllt: Wolte mich aber jemand beschuldigen / das ich die Kunst zu Hell vnnd Klar geschrieben / daß solches ein jeder verstehen könne: deme antworte Ich / das ich sie zwar verstendig gnug beschrieben habe den würdigen / denen Gott solche gönnet / die vnwürdigen aber werden sie wol zufrieden lassen […].12

Es ist sicherlich nicht übertrieben, zu behaupten, dass sich solche und ähnliche Formulierungen in fast jeder der zahllosen Alchemie- und Rosenkreuzerschriften um 1600 finden. Ich verzichte auf weitere Beispiele und erwähne als letztes, besonders extremes Beispiel nur noch John Dees Monas hieroglyphica aus dem Jahr 1564, deren Unverständlichkeit ebenfalls literarische Strategie ist. Ihr letzter Satz lautet: „Hier erblickt das gewöhnliche Auge nur Dunkelheit und gerät stark in Zweifel.“13 Diese Behauptung hat sich bewahrheitet, denn vor der Monas Dees kapituliert die seriöse Forschung. Noch in den neuesten Publikationen kann man lesen, dass es nicht klar ist, worum es in diesem Buch überhaupt geht.

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[Anonym:] Ein güldener Tractat vom Philosophischen Steine. Von einem noch Lebenden / doch vngenanten Philosopho den Filiis Doctrinae zur Lehre / den Fratribus aureae Crucis aber zur Nachrichtung beschrieben. In: Dyas chymica tripartita. Das ist: Sechs Herrliche Teutsche Philosophische Tractätlein. Hg. von H. C. D. [Hermannus Condeesyanus]. Frankfurt a.M. 1625, S. 1166, hier S. 14. [Anonym:] Güldener Tractat (wie Anm. 11), S. 15. John Dee: Monas Hieroglyphica. Antwerpen 1564, S. 28: „Vulgaris, Hic, Oculus caligabit, diffidetque plurimum.“

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Wenn das Schweigegebot damit ein fester Bestandteil der alchemischen Tradition ist, sollte sich die Frage nach seiner Auflösung im 17. Jahrhundert besonders dringlich stellen. Seit Gerhard Eis’ inauguraler Studie Von der Rede und dem Schweigen der Alchemisten (1951) ist, soweit ich sehe, keine bessere Erklärung für diesen Traditionsbruch formuliert worden als die in der Mitte des 17. Jahrhunderts erstarkenden nationalökonomischen Triebkräfte, infolge deren der Alchemiker aufhörte, „ein Weiser zu sein, um Chemiker oder wohl gar Unternehmer zu werden“.14 Eis hat für diesen Bruch auch bereits auf eine Anekdote hingewiesen, die aufgrund ihres in der Tat höchst symbolischen Charakters wiederholt zu werden verdient. Noch 1656 erhält der Chemiker Rudolf Glauber – der immer wieder als ‚Begründer der chemischen Industrie‘ bezeichnet wird – den Brief eines anonymen „Filius Sendivogii“, der ihn inständig bittet, damit aufzuhören, die „chymischen Perlen […] vor die Schweine“ zu werfen.15 Als Glauber dem nicht nachgibt, droht der Verfasser in einem zweiten Brief ihm und seiner Familie sogar Gewalt an. Unterrichtet sind wir über diesen Vorfall, weil Glauber selbst die Briefe veröffentlichte. In seinem Kommentar gesteht er ein, dass die Veröffentlichung der Erfindung des Schwarzpulvers besser unterblieben wäre. Die zahlreichen nützlichen Erfindungen wögen allerdings die schädlichen bei weitem auf. 1656 dürfte es sich bei diesem Brief allerdings bereits um ein Kuriosum gehandelt haben, denn zu diesem Zeitpunkt war die sogenannte scientific revolution bereits in vollem Gange. Die erste Veröffentlichung von Robert Boyle, einem ihrer bedeutendsten Protagonisten auf dem Feld der Chemie, war An Invitation to a free and generous Communication of Secrets and Receits in Physick (1655).16 Derselbe Robert Boyle äußert sich 1661 in seinem Sceptical Chymist nur abfällig über die dunkle Sprache der älteren Alchemie. Diese habe allein dem Zweck gedient, die unscharfen Begriffe dieser Wissenschaft zu verschleiern.17 Scharfe Begriffe sind in der Tat notwendig, wo es um den Fortschritt der Chemie als Wissenschaft geht. Wie sich zeigen wird, steht Boyle mit einer solchen Äußerung in der Tradition von Andreas Libavius, der schon sechzig Jahre zuvor ein Ende der Unverständlichkeit gefordert hatte.

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Eis: Alchemisten (wie Anm. 4), S. 70. Ich zitiere den Brief nach dem Abdruck bei Eis: Alchemisten (wie Anm. 4), S. 70ff., hier S. 70. Zur Identität des Verfassers vgl. Joachim Telle: Zum „Filius Sendivogii“ Johann Hartprecht. In: Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Hg. von Christoph Meinel. Wiesbaden 1986, S. 119-136. Vgl. Eamon: Secrets of Nature (wie Anm. 4), S. 341. Auch Telle: „Filius Sendivogii“ (wie Anm. 15), S. 129 hat in diesem Zusammenhang bereits auf Boyles Invitation hingewiesen. Robert Boyle: The Sceptical Chymist. In: The Works of Robert Boyle. Hg. von Michael Hunter und Edward B. Davis. Bd. 2: The Sceptical Chymist and Other Publications of 1661. London 1999, S. 205-378, hier S. 292. Zu Boyle vgl. besonders Golinski: Chemistry in the Scientific Revolution (wie Anm. 4) sowie die wichtigen Einschränkungen von Lawrence M. Principe: Robert Boyle’s Alchemical Secrecy: Codes, Ciphers and Concealments. In: Ambix 39 (1992), S. 63-74.

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Bevor ich jedoch auf Libavius ausführlicher eingehe, komme ich noch einmal auf Maiers Transformation des Schweigegebots und seine Interpretation der alchemischen Arkansprache zurück. Maier selbst beruft sich mehrfach auf diese Tradition. In seinen Allergeheimsten Geheimnissen (Arcana arcanissima von 1614) hatte Maier versucht, die gesamte antike Mythologie, einschließlich der ägyptischen Hieroglyphen, als Konsequenz des Schweigegebots zu verstehen. Schlechthin unvorstellbar ist es Maier – das kann man überall in seinem Werk lesen –, dass es sich bei der antiken Mythologie um sinnlose Erfindungen und pure Fabelei handeln könnte. Die antike Mythologie ist der Schleier, dessen sich die Antike bedienen musste, um ihre naturphilosophischen Erkenntnisse, die ‚Geheimnisse der Natur‘, mitteilen zu können.18 Es sei allein „die tropische Ausdrucksweise“ zum Zweck der Verschleierung naturphilosophischer, chemischer Geheimnisse, die solche Geschichten erlaube und entschuldige, heißt es in der Atalanta.19 Diese allegorische Ausdrucksweise stünde nur den Philosophen zu, und zwar gerade deshalb, weil die mit der Allegorie implizierte Doppeldeutigkeit das eigentlich Gemeinte nicht mehr klar erkennen lasse. Eine solche Doppeldeutigkeit sei den Philosophen aber nicht nur zugestanden, sondern sogar geboten.20 Die Philosophen, d. h. die Biologen, Chemiker und Physiker, bedienten sich also, Maier zufolge, der Allegorie und der poetischen Ausdrucksweise, um nicht klar verständlich zu sein. Wenn Maier damit einerseits in der arkansprachlichen Tradition der Alchemie steht, dann wird man auf der anderen Seite aber auch anerkennen müssen, dass er diese Tradition in etwas Neues transformiert. Ein alchemisches Wissen, auch in geheimsprachlicher Form, vermittelt die Atalanta nämlich offensichtlich nicht mehr. Diese These belegen erstens die Fugen, die kein Wissen vermitteln und auch nicht aus der Tradition der Alchemie stammen.21 Zweitens bieten auch die begleitenden „Discursus“ zu den Emblemen keine Erklärungen, auch nicht in verschlüsselter Form, wie etwa im Rosari-

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Allgemein zur Bedeutung der antiken Mythologie in der Alchemie vgl. Joachim Telle: Mythologie und Alchemie. Zum Fortleben der antiken Götter in der frühneuzeitlichen Alchemieliteratur. In: Humanismus und die Naturwissenschaften. Hg. von Rudolf Schmitz und Fritz Krafft. Boppard 1980, S. 135-154. Eine grundlegende Darstellung von Maiers Mythos-Rezeption bereits bei Wilhelm Kühlmann: Sinnbilder der Transmutationskunst: Einblicke in die mytho-alchemische Ovidrezeption von Petrus Bonus bis Michael Maier. In: Metamorphosen. Wandlungen und Verwandlungen in Literatur, Sprache und Kunst von der Antike bis zur Gegenwart. Festschrift für Bodo Guthmüller zum 65. Geburtstag. Hg. von Heidi Marek, Anne Neuschäfer und Susanne Tichy. Wiesbaden 2002, S. 163-175. Darüber hinaus vgl. den allerdings stark paraphrasierenden Artikel von H. J. Sheppard: The Mythological Tradition and Seventeenth Century Alchemy. In: Science, Medicine, and Society in the Renaissance. Essays to Honor Walter Pagel. Hg. von Allen G. Debus. Bd. 1. London 1972, S. 47-59. Michael Maier: Atalanta fugiens. Oppenheim 1618, S. 102; Maier: Chymisches Cabinet (wie Anm. 1), S. 168. Vgl. Maier: Atalanta fugiens (wie Anm. 19), S. 166f. sowie Maier: Chymisches Cabinet (wie Anm. 1), S. 233. Vgl. Christoph Meinel: Alchemie und Musik. In: ders. (Hg.): Alchemie (wie Anm. 15), S. 201228.

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um. Was in den „Discursus“ geboten wird, sind vielmehr lose verknüpfte, zumeist naturphilosophische Reflexionen, keinesfalls aber konkretes alchemisches Sachwissen.22 Der eigentliche Gegenstand der Atalanta sind die ‚Geheimnisse der Natur‘ und zwar, wie bereits angedeutet, im Sinne jener chemischen und physikalischen Prozesse, die die ‚Natur‘ als solche überhaupt ausmachen. Ein Vergleich mit den fast gleichzeitig entstehenden Traktaten des (Pseudo-)Basilius Valentinus zeigt diesen Unterschied sofort. Hier, bei Basilius Valentinus, handelt es sich wirklich um chemische Rezepte und Anweisungen für die Laborpraxis, und Basilius Valentinus bedient sich der Arkansprache auch tatsächlich zur Verschlüsselung seiner Entdeckungen. Drittens aber, und das ist das wichtigste Argument, behauptet Maier nirgends, mit der Atalanta einen alchemischen oder naturphilosophischen Traktat geschrieben zu haben. Vielmehr heißt es in der Vorrede, diese sei „ein poetisches Gedicht“, deren Zweck es sei, den Leser und Betrachter zum Denken anzuregen. Dichtung, Musik und Malerei, wie sie die Atalanta vereinige, sollten die Vorstellungskraft des Lesers und Betrachters und über diese den Verstand und die Vernunft ansprechen: Dieses nun sind Poëtische Gedichte, verblümte Redens-Arten, Bilder und Emblemata […], die allein nach dem Verstand ergründet […] werden wollen, und weilen ihre Wissenschafft mehr auff die Vernunfft als den blossen äusserlichen Verstand gegründet ist, so ist auch ihr Gebrauch um so viel nützlicher und angenehmer. Sollten aber selbige am Anfang auff den Verstand fallen, so ist leicht zu glauben, daß sie sich alsdann gleich als durch eine Thür auch von dem Verstand zur Vernunfft wenden werden. Nichts ist im Verstand zu finden, welches nicht vorhero die Sinnen durchwandert, und ist das unschuldig neugebohrne Kind einer Tafel gleich in welcher noch nichts zwar geschrieben, doch vermittelst seiner Sinnen als mit einem Griffel, alles eingegraben werden kan.23

Wenn – mit Aristoteles (De anima III, 4-5), den Maier mit dieser Tabula-rasaVorstellung zitiert – im Verstand nichts ist, was nicht vorher in den Sinnen war, dann haben Dichtung, Musik und Malerei, wie sie die Atalanta versammelt, in der Tat eine wichtige Aufgabe. Als ‚bildliche‘, sinnliche, die Vorstellungskraft ansprechende Verfahren sind sie ein Mittel, den Verstand überhaupt erst einmal zu erreichen. Maier selbst bezeichnet dieses „bildliche Verfahren“ als genuin dichterisches. Damit aber transformiert Maier die Arkansprache der Alchemie in ein poetisches Spiel. Maier bedient sich der allegorischen Sprache der Alchemie nicht mehr, um das Schweigegebot aufrecht zu erhalten, sondern er transformiert die alchemische Arkansprache in eine poetische Sprache, um durch diese poetische Sprache dem Leser und Betrachter eine verborgene Wahrheit – das ‚Geheimnis der Natur‘ – zu vermitteln.

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Vgl. den Befund bei Joachim Telle: Maier, Michael [Art.]. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walther Killy. Bd. 7. Gütersloh/München 1990, S. 428f., hier S. 429. Maier: Chymisches Cabinet (wie Anm. 1), S. 77; lat. Original Maier: Atalanta fugiens (wie Anm. 19), S. 8f.

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Die entscheidende Frage lautet demnach, was denn die Wahrheit oder Erkenntnis ist, die Maier seinen Lesern auf dem bildlichen und musikalischen, dem ‚sinnlichen‘ Wege der Atalanta vermitteln will. Die Antwort ist relativ einfach. Genau in der Mitte der fünfzig Embleme findet sich nämlich ein Emblem, das schon deshalb aus dem Rahmen fällt, weil es keine alchemische, ja überhaupt keine allegorische Bedeutungsebene hat. Unter dem Titel „Die Frucht der menschlichen Weisheit ist das Holtz des Lebens“ sieht man die als Frau personifizierte Weisheit mit zwei Spruchbändern. Auf dem linken steht „Langes Leben und Gesundheit“, auf dem rechten „Ruhm und unbegrenzter Reichtum“.24 Damit sind genau die beiden Dinge genannt, die auch der Stein der Weisen verspricht. Der „Discursus“ des sechsundzwanzigsten Emblems rekurriert allerdings nicht auf den Stein der Weisen, sondern auf die göttliche Weisheit, wie sie sich in der Weisheit Salomos ausspricht. Als einziges der fünfzig Embleme der Atalanta zitiert damit dieses zentrale Emblem die Bibel, und zwar mehrfach und durch Marginalien mit Stellennachweisen auch drucktechnisch hervorgehoben. Mit einem Zitat von Salomo (Sprüche Salomo 3,18) heißt es von dieser Weisheit: „Sie ist der Baum des Lebens allen die sie greiffen; und seelig sind die sie halten.“25 Allein diese Weisheit als Erkenntnis Gottes verschaffe ein langes Leben, Gesundheit und Reichtum. Mit dieser Wahrheit aber steht die Atalanta offensichtlich weniger in der Tradition der Alchemie als in der Tradition der protestantischen Erbauungsliteratur, die zur selben Zeit einen unglaublichen Aufschwung nimmt. Diese Erbauungsliteratur bedient sich bevorzugt der neuen Gattung des Emblembuchs, und als ein genau solches tritt die Atalanta auf. Wenn ihr Untertitel lautet „Über die Geheimnisse der Natur“, so gibt das zentrale sechsundzwanzigste Emblem auf die Frage, worin denn das Geheimnis der Natur besteht, eine Antwort: das Geheimnis der Natur ist die Weisheit Gottes. Gott offenbart sich in der Natur, in den chemischen Zeugungs-, Entwicklungs- und Zersetzungsprozessen, die der Begriff ‚Natur‘ im Wesentlichen bezeichnet. Ich würde Maier damit in die Vorgeschichte der Bewegung stellen, die sich ein Jahrhundert später als Physikotheologie konstituieren wird. Die Atalanta fugiens wäre ein frühes – und freilich etwas ungewöhnliches – Beispiel protestantischer Andachtsliteratur. Damit habe ich zumindest implizit auch schon meine Ausgangsfrage beantwortet, nämlich warum sich Maier der alchemischen Bildersprache bedient, wenn die Tradierung alchemischen Wissens nicht sein Ziel ist. Maier bedient sich dieser Sprache zu Zwecken, die in der Frühen Neuzeit als genuin poetische gelten. Er transformiert die alchemische Bildersprache in eine poetische Bildersprache. Die Atalanta steht damit zwar in der Tradition des alchemischen Schweigegebots, aber nur, insofern sie dieses Schweigegebot in ein poetisches Stilmittel transformiert. Diese Transformation ist unmittelbar mit einem zweiten, sich gleichzeitig abspielenden Prozess verbunden, der die Gültigkeit des Schweigegebots auch für die sich gleichzeitig entwickelnde, ‚echte‘

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Maier: Atalanta fugiens (wie Anm. 19), S. 113. Ebd., S. 114.

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Chemie aufhebt, also die Chemie, die nicht wie bei Maier poetische Allegorie ist, sondern tatsächlich Laborpraxis. Der Autor, an dem ich diese Behauptung demonstrieren möchte, ist Andreas Libavius.

2. Andreas Libavius’ Alchymia (1597) Die Alchymia des Andreas Libavius, die 1597 zum ersten Mal erschienen war und dann mehrere, stark erweiterte Auflagen bis 1611 erlebte, hat sich den Bruch des Schweigegebots zum Programm gemacht.26 Der dritte Teil der Alchymia trägt den Titel ‚Zusammenstellung ausgewählter und klar vermittelter Geheimnisse der Alchemie‘ („Syntagma selectorum undiquaque et perspicue traditorum Alchymiae Arcanorum“, 1611). In der Alchymia selbst wird die Entstehung des Schweigegebots, mithin die Entstehung einer allegorischen, bildlichen Darstellungsform, historisch begründet. Einerseits, so Libavius, habe man das Wissen seinen Schülern vermitteln und deshalb irgendwie schriftlich fixieren müssen, andererseits habe man sicherstellen müssen, dass dieses Wissen nicht in die Hände von Unwürdigen falle. Die symbolische, bildliche Ausdrucksweise sei die Lösung für diese widersprüchlichen Forderungen gewesen. Auch Libavius stellt, wie Maier, eine Tradition her, die bis zu den ägyptischen Hieroglyphen zurückreicht.27

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Grundlegend zu Libavius jetzt Bruce T. Moran: Andreas Libavius and the Transformation of Alchemy. Sagamore Beach/Mass. 2007. Hannaway hat bereits Libavius und Croll miteinander konfrontiert und dabei einige der grundlegenden Punkte benannt, die auch für meine Argumentation eine große Rolle spielen (vgl. Owen Hannaway: The Chemists and the Word. The Didactic Origins of Chemistry. Baltimore/London 1975). Zu Libavius’ vermittelnder Position zwischen Galenisten und Paracelsisten vgl. Allen G. Debus: Guintherus, Libavius and Sennert: The Chemical Compromise in Early Modern Medicine. In: ders. (Hg.): Science, Medicine and Society (wie Anm. 18), Bd. 1, S. 151-165. Zu Libavius’ Transformation des Schweigegebots vgl. Bruce T. Moran: Medicine, Alchemy, and the Control of Language: Andreas Libavius versus the Neoparacelsians. In: Paracelsus: The Man and His Reputation, His Ideas and Their Transformation. Hg. von Ole Peter Grell. Leiden u. a. 1998, S. 135-149. Zu Libavius als Gegner der Paracelsisten vgl. Wilhelm Kühlmann: Der vermaledeite Prometheus. Die antiparacelsistische Lyrik des Andreas Libavius und ihr historischer Kontext. In: Scientia Poetica 4 (2000), S. 30-61 (teilweise wiederaufgenommen in Wilhelm Kühlmann: Das häretische Potential des Paracelsismus – gesehen im Licht seiner Gegner. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. von Hartmut Laufhütte und Michael Titzmann. Tübingen 2006, S. 217-242) und Carlos Gilly/Cis van Heertum (Hgg.): Magia, alchimia, scienza dal ‘400 al ‘700. L’influsso di Ermete Trismegisto. Bd. 1. Florenz 2002, S. 409-415. Vgl. Andreas Libavius: Commentariorium alchymiae pars prima. Frankfurt a.M. 1606, S. 78 (zweiter Teil von Andreas Libavius: Alchymia recognita, emendate, et aucta […]. Frankfurt a.M. 1606, allerdings mit separatem Titelblatt und separater Seitenzählung).

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Schon in der Vorrede zur Ausgabe von 1597 polemisiert Libavius scharf und ausführlich gegen die Alchemiker, die ihre Erfindungen durch eine doppeldeutige Sprache geheim zu halten versuchten: Du kannst auch zuweilen Leute hören, die nach der entgegengesetzten Seite neigen und es für etwas Schimpfliches halten, daß gewisse Arkana in so eindeutigen Worten öffentlich bekanntgegeben werden. Man müsse es machen wie die Philosophen [also die Alchemiker]; die eine völlig durchsichtige Sache durch Benennungen und Lehrweise geheimgehalten und den Jüngern der Wissenschaft vorbehalten haben. Ich habe es nicht nötig, diesen Leuten zu entgegnen; für mich gibt es nämlich kein Arkanum; wofern es eines gibt, so hat es Gott durch die Wissenschaft , durch vorzügliche Scheidekünstler und durch die Erfahrung zugänglich gemacht.28

Auch der ganze Widmungsbrief zum dritten Teil der Alchymia ist ein ausführliches Plädoyer für die Veröffentlichung des chemischen Wissens. Die bildliche Sprache der antiken und mittelalterlichen Alchemie betrachtet Libavius als eine abgeschlossene Epoche, für deren Fortsetzung er kein Verständnis hat. Mit der Berufung auf das pythagoräische Schweigegelübde und den hippokratischen Eid habe man versucht, auch ihn, Libavius, von der Veröffentlichung der chemischen Geheimnisse abzuhalten. Aber die Gegenwart unterscheide sich von der Antike wie die Epoche des Neuen von der des Alten Testaments. Wie Christus seinen Jüngern befohlen habe, seine Botschaft in die Welt hinauszutragen, so dürfe auch heute nichts verborgen werden, was von allgemeinem Nutzen sei. Der Berufung auf Mt. 7,6 – keine Perlen vor die Säue – sei Ioh. 3,19 entgegenzuhalten, dass nur, wer Böses tue, das Licht scheue.29 Auch auf das pythagoräische Schweigegelübde könnten sich die Alchemiker nicht berufen, wenn sie ihr Wissen allegorisch verschleierten. Das fünfjährige Schweigen, das Pythagoras seinen Schülern auferlegt habe, sei tatsächlich nur den Schülern auferlegt worden, damit diese, solange sie noch nicht genug unterrichtet und geübt gewesen seien, durch ihre Unerfahrenheit und Geschwätzigkeit nicht das ganze Fach in Verruf gebracht hätten. Grundsätzlich jedoch gebühre den ‚Interpreten und Vermittlern‘ („interpretes et publicatores“) einer Kunst dasselbe Lob wie deren Erfindern.30 Das ist sicherlich als eine Bemerkung pro domo zu betrachten. Die drei Folio-Bände der Alchymia, die insgesamt weit über tausend Seiten zählen, bilden eine grundlegende, klare und deutliche Darstellung der chemischen Prinzipien und Methoden. Zu Recht hat man die Alchymia das erste Handbuch der Chemie genannt. In systematischer Abfolge werden die Instrumente des Chemikers, wozu die Laborgefäße genauso wie die Öfen und das Feuer gehören, die chemischen Prozesse und schließlich natürlich die Stoffe, die chemischen Substanzen selbst behandelt. In der zweiten und dritten Auflage erwei-

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Andreas Libavius: Die Alchemie des Andreas Libavius. Ein Lehrbuch der Chemie aus dem Jahre 1597. Hg. von Friedemann Rex. Weinheim 1964, S. XIf. (Übersetzung Rex). Vgl. Andreas Libavius: Syntagma selectorum undiquaque et perspicue traditorum alchymiae arcanorum. Frankfurt a.M. 1611, S. (?) 3vf. Vgl. ebd., S. (?) 4vf.

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tert Libavius diese Grundlegung immer mehr. So werden dort dann etwa auch die architektonische Anlage eines Laboratoriums skizziert,31 die Konstruktion von Pressen und Öfen oder die Gefäße und Retorten beschrieben und bildlich vorgeführt. Hier bleibt nichts mehr dem Geheimnis überlassen. Die Abbildungen in der Alchymia erfüllen unverkennbar eine technische Funktion. Umso mehr erstaunt der vierte Traktat des zweiten Teiles der Alchymia, und zwar nicht so sehr, weil er dem Stein der Weisen gewidmet ist. Wie viele Alchemiker begreift Libavius den Stein der Weisen als eine Metapher und ist von einer theosophischen oder mystischen Deutung weit entfernt.32 Erstaunlich ist dieser Abschnitt vielmehr, weil Libavius den Traktat mit einem Abdruck der Figuren Heinrich Kuhdorfers aus dem 15. Jahrhundert beginnt. Und anders als die technischen Abbildungen der Alchymia selbst sind diese Figuren nun den Emblemen der Atalanta offensichtlich verwandt. Aber die Ähnlichkeit täuscht. Im Gegensatz zu Maier gibt Libavius seinen Figuren einen Index bei, mithilfe dessen er die Figuren als technische Anleitung liest. Anders als bei Maier dienen die Figuren nicht der poetischen Verschlüsselung und Meditation, sondern der Illustration. In Libavius’ Interpretation der Kuhdorferschen Figuren sehen wir also genau das, was Libavius gemeint hatte, als er für die älteren Zeiten von der Notwendigkeit einer gleichnishaften, bildlichen Darstellung sprach. Libavius führt hier an einem Beispiel vor, wie sich die bildliche Sprache der älteren Alchemie rückübersetzen lässt in technische Anweisungen. Wie bei einer Betriebsanleitung wird mit kleinen Indexbuchstaben das Bild aufgeschlüsselt und in eigentlicher Sprache erklärt. Auch für Libavius handelt es sich bei der bildlichen Sprache der älteren Alchemie also nicht um okkulte, mystische Geheimlehren, sondern um eine Symbolsprache mit technischem Charakter.33 Libavius druckt die Figuren Kuhdorfers in seiner Alchymia

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Nicht überzeugend ist der Versuch von Newman, aus der architektonischen Anlage des Laboratoriums auf ein alchemisches Geheimnis, das in letzter Instanz auch Libavius nicht veröffentlicht gesehen haben wollte, rückzuschließen (vgl. William R. Newman: Alchemical Symbolism and Concealment. The Chemical House of Libavius. In: The Architecture of Science. Hg. von Peter Galison und Emily Thompson. Cambridge/Mass. 1999, S. 59-77). Vgl. Andreas Libavius: Commentariorium alchymiae pars secunda. Frankfurt a.M. 1606, S. 4984, bes. S. 58 (dritter Teil der Alchymia von 1606 mit eigenem Titelblatt und separater Seitenzählung). So heißt es auch in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Alchymia ausdrücklich (vgl. Libavius: Alchemie des Andreas Libavius [wie Anm. 28], S. X [Übersetzung Rex]): „Zwar weiß ich sehr wohl, daß auch vorzügliche und bewährte Autoren, um ihre Erfindungen geheimzuhalten und Unredlichkeit abzuwehren, Ein und dasselbe mit vielerlei und noch dazu seltsamen Namen bezeichnet haben, aber ich wollte, Du wärest überzeugt, daß deren Denkart stets lauter und charakterfest war, da diese ja nicht [bloßes] trügerisches Gerede, sondern das Zusammentreffen von Tatsachen und Erfahrung geprägt haben: es besteht kein Grund, diese [Männer] Betrügern gleichzustellen.“ Die Äußerung richtet sich ausdrücklich gegen die Paracelsisten, die Libavius damit scharf von den traditionellen Alchemikern unterscheidet.

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ab, um genau diesen technischen Charakter der Bildersprache der älteren Alchemie zu beweisen. Diese These bestätigt sich, wenn Libavius im Fortgang des Kapitels gleich noch den Text abdruckt, der überhaupt den mythischen Anfang der Alchemie bildet, nämlich die angeblich von Hermes Trismegistus verfasste Tabula smaragdina. Auch hier demonstriert die in der Folge abgedruckte Kommentierung, dass Libavius die bildliche Sprache der Tabula nicht für mystisch, sondern für symbolisch verschlüsselt im Sinne einer Arkansprache hält.34 Der entscheidende Punkt ist, dass Libavius diese Arkansprache als das Signum einer vergangenen Epoche betrachtet. Gegenüber dieser vergangenen Epoche ist die Zeit für einen grundsätzlichen Bruch des Schweigegebots gekommen. Mit einer weit vorausweisenden Metapher des Ans-Licht-Bringens, Erhellens und Aufklärens fordert Libavius für die Alchemie eine klare und allgemein verständliche Sprache. Wer ein nützliches Wissen habe und dieses nicht allgemein kommuniziere, heißt es in der Widmung zum dritten Teil der Alchymia, der handle weder gottgefällig noch werde er von den sachverständigen Menschen empfohlen.35 Nur, wenn man sich in offener und klarer Form über die Art und das Ergebnis seiner Laborexperimente austauschen könne, sei so etwas wie wissenschaftlichen Fortschritt möglich. Es könne nicht immer wieder jeder von vorne anfangen und sich allein auf sein eigenes Ingenium verlassen.36 Libavius also, so lautet mein Befund, hat mit der bildlichen Sprache der älteren Alchemie keine Probleme, sondern hält lediglich die Zeit für gekommen, diese bildliche Sprache in eine eigentliche Sprache zu überführen. Dieser Punkt ist deshalb für meine Argumentation von großer Bedeutung, weil Libavius auf der anderen Seite ein großes Problem mit dem zeitgenössischen Paracelsismus hat. Diesem Paracelsismus wirft er gerade vor, sich einer unverständlichen und dunklen Sprache zu bedienen – genau das also, was er der älteren Alchemie nicht vorwirft. Während die symbolische, gleichnishafte Sprache der Alchemie sogar mit den Gleichnissen des Alten und Neuen Testaments verglichen wird, gilt Libavius die Sprache des Paracelsismus als „deliramentum“ und als missverstandenes Wörtlich-Nehmen von Symbolen und Allegorien.37 Die Unverständlichkeit der Paracelsisten, die gerade auf einen Mangel an akademischer, rheto-

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Vgl. Libavius: Commentariorium alchymiae pars secunda (wie Anm. 32), S. 70f. Vgl. den Befund von Peter Forshaw: Alchemical Exegesis: Tractious Distillations of the Essence of Hermes. In: Principe (Hg.): Chymists and Chymistry (wie Anm. 4), S. 25-38, der Libavius’ metallurgischkonkrete Auslegung der Tabula smaragdina mit Khunraths spekulativ-theologischer Auslegung vergleicht. Nachdrücklich sei hier noch einmal auf Moran: Andreas Libavius (wie Anm. 26) und Bruce T. Moran: The Less Well-known Libavius. Spirits, Powers, and Metaphors in the Practice of Knowing Nature. In: Principe (Hg.): Chymists and Chymistry (wie Anm. 4), S. 13-24 hingewiesen, der diesen Punkt gesondert herausgestellt hat. Vgl. Libavius: Syntagma selectorum (wie Anm. 29), S. (?) 3rf. Vgl. Libavius: Alchemie des Andreas Libavius (wie Anm. 28), S. Xf. Vgl. bes. Libavius: Syntagma selectorum (wie Anm. 29), S. (?) 5r.

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risch-dialektischer Schulung zurückzuführen ist, sei etwas ganz anderes als die allegorische, arkansprachliche Ausdrucksweise der älteren Alchemie.38 Bezeichnend für Libavius Haltung ist, dass er neben seinen chemischen Traktaten vor allem Abhandlungen zur Logik verfasst hat. Genau wie Maier fordert Libavius ausdrücklich eine dialektische, rhetorische und poetische Schulung des Alchemikers, denn nur diese ermögliche ihm ein Verständnis der alchemischen Sprache.39 Im achtzehnten Brief seiner Rerum chymicarum epistolica forma (1595), ,Über die dunkle Sprache der Alchemie‘ („De obscura chymicorum locutione“), erklärt Libavius die metaphorische Arkansprache für problemlos, solange man sich an die Regel halte, nur eine Metapher für eine Sache zu benutzen. Unverständlich werde diese metaphorische Sprache nur dann, wenn man es wie die Paracelsisten mache, die sich inzwischen schon selbst nicht mehr verstünden.40 Die Unverständlichkeit des Paracelsismus hat für Libavius also andere Ursachen als die bewusste Verschlüsselung in der Tradition der alchemischen Arkansprache. So sehen es auch die Paracelsisten selbst, und damit bin ich bei meinem dritten Autor, dem Paracelsisten Oswald Croll und seiner Basilica chymica aus dem Jahr 1609.

3. Oswald Crolls Basilica chymica (1609) Der Paracelsismus wurde seit etwa 1560 eine zunehmend mächtigere Gegenbewegung zur aristotelisch-galenischen Schulmedizin, wie sie an den Universitäten vertreten wurde.41 Im Unterschied zu diesem akademischen Galenismus, im Unterschied aber auch

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Vgl. Libavius: Alchemie des Andreas Libavius (wie Anm. 28), S. Xff. Michael Maier: Examen fucorum Pseudo-Chymicorum. (1617). Nachgedruckt und übersetzt, ohne eigene Seitenzählung. In: Wolfgang Beck: Michael Maiers Examen Fucorum PseudoChymicorum. Eine Schrift wider die falschen Alchemisten. Diss. München: Technische Universität 1992, S. 83. Vgl. Andreas Libavius: Rerum chymicarum epistolica forma. Liber primus. Frankfurt a.M. 1595, epistola 18, S. 162-170, hier S. 169. Grundlegend zum Paracelsismus ist die Edition des Corpus Paracelsisticum: Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Hg. und erläutert von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle. Tübingen 2001 und 2004. Daneben verweise ich auf Wilhelm Kühlmann: Der ‚Hermetismus‘ als literarische Formation. Grundzüge seiner Rezeption in Deutschland. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 145-157 und Wilhelm Kühlmann: Paracelsismus und Hermetismus: Doxographische und soziale Positionen alternativer Wissenschaft im postreformatorischen Deutschland. In: Trepp/Lehmann (Hgg.): Antike Weisheit (wie Anm. 4), S. 17-39. Zu Croll insbesondere vgl. neben Hannaway: Chemists and the Word (wie Anm. 26) bes. Wilhelm Kühlmann: Oswald Crollius und seine Signaturenlehre: Zum Profil hermetischer Naturphilosophie in der Ära Rudolphs II. In: Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance. Hg. von August Buck. Wiesbaden 1992, S. 103-123 sowie die Einleitung von Kühlmann und Telle in Oswald Croll: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle. Stuttgart 1996 und 1998.

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zur Chemie eines Libavius ist der Paracelsismus stark von theologischen Überzeugungen getragen. Diese theologischen Überzeugungen machen sich insbesondere in der Erkenntnistheorie bemerkbar. Wo nämlich Libavius auf Experiment, Beobachtung und Vernunft als Methoden chemischer Erkenntnisgewinnung setzt, da behauptet der Paracelsismus die Vorgängigkeit einer göttlichen Inspiration. Die Entdeckung der pharmazeutischen Qualitäten bestimmter Substanzen wird also nicht auf eine rational gesteuerte Erforschung der Natur zurückgeführt – diese kommt für die Paracelsisten erst an zweiter Stelle –, sondern auf eine göttliche Erleuchtung. Diese Erleuchtung vollzieht sich zumeist über die sogenannten ,Signaturen‘ der Dinge, also etwa die äußere Gestalt einer Pflanze, aber auch die chemischen Eigenschaften bestimmter Mineralien, die in einem analogischen Verhältnis zu makrokosmischen Erscheinungen gedacht werden. Damit ist bereits einer der Punkte genannt, die bei Libavius zu wiederholten, aggressiven Ausbrüchen gegen den Paracelsismus und gegen Oswald Croll insbesondere führen, nämlich die Ersetzung einer spezifisch chemischen Erkenntnistheorie durch die Berufung auf göttliche Inspiration. Schon im Untertitel seiner Basilica beruft sich Croll auf das „Licht der Gnade und der Natur“, wobei mit „Licht der Gnade“ die unmittelbare göttliche Inspiration gemeint ist, mit „Licht der Natur“ aber das Firmament, also der makrokosmische Sternenhimmel, aus dem der Geist des Menschen „alle Künste / Wissenschaften / Faculteten vnd Menschliche Weißheit“ beziehe.42 Grundgedanke ist die Analogie von Mikro- und Makrokosmos. Das „Licht der Natur“, auf das sich Croll beruft, ist nämlich nichts anderes als ein Göttliche Analogia oder Vergleichung dieser sichtbaren Welt mit der kleinen. Dann was in dem Menschen vnsichtbahr verborgen ligt / das wirdt in der sichtbarn Anatomia deß gantzen vniversi offenbahret: […] Vnd dieses ist die wahre vnnd rechte Erkandtnuß / daß nemblich der Mensch microcosmice sichtbahr vnd vnsichtbahr oder magice werde erkant.43

Der Mensch trägt als Mikrokosmos in sich den Makrokosmos, und indem er sich selbst erkennt, erkennt er den Makrokosmos. Aus diesem „Licht der Natur“ erkennt der Mensch die verborgenen Kräfte der Mineralien und Pflanzen. Naturkundliche Exkursionen sind im Grunde nicht mehr nötig, denn wer auß Erleuchtigung Gottes den MENTEM erlangt / vnd die Eygenschafften der Cörper in dem obern Globo wahrgenommen durch eine Kunstreiche Analogy den Astris vnd Cörpern deß vntern Globi recht können accommodiern / die werden selbst bekennen / daß jhnen gar nicht von nöthen Philosophirung halben nach Jndien oder in Americam zuschiffen / sondern werden

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Oswald Croll: Basilica chymica oder Alchymistisch Königlich Kleynod. Frankfurt a.M. 1623, S. 24. Die lateinische Fassung der Basilica liegt in einem Nachdruck vor, vgl. Oswald Croll: Basilica Chymica. Frankfurt a.M. 1611. Ndr. Hildesheim u. a. 1996. Der volle Titel der deutschen Übersetzung, nach der ich zitiere, lautet: „Basilica chymica oder Alchymistisch Königlich Kleynod: Ein Philosophisch / durch sein selbst eigne erfahrung confirmirte vnd bestättigte Beschreibung vnd gebrauch der aller fürtrefflichsten Chimischen Artzneyen so auß dem Liecht der Gnaden vnd Natur genommen / in sich begreiffent“. Croll: Basilica chymica (wie Anm. 42), S. 12.

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Volkhard Wels alle Philosophische Difficulteten / vnnd dunckel eingewickelte Rätzel oder Fragen in einer feinen kürtze sehr klärlich können eröffnen.44

Um die pharmazeutischen Eigenschaften der Pflanzen und Mineralien zu erkennen, muss man nicht die Natur studieren, sondern vom „Licht der Natur“ erleuchtet werden. Noch deutlicher heißt es etwas später, mit einem Verweis auf die platonische Theorie der Anamnesis, das pharmazeutische Wissen sei nicht auß dem Fleisch vnd Bluth / beruhet auch nit in der Mänge der Bücher / fleissigem Lesen / Vberfluß der Erfahrung / hohem Alter / Menschen Lehren oder desselbigen Vernunfft / sondern in dem Leyden der [des] Heiligen: Nicht in dem lehren / sondern in dem Leyden des Göttlichen oder Heiligen wirdt deß Menschen Gemüth vollkommen. Alles stehet vnd beruhet in der Erkantnuß / dieweil wir auß allen sind vnd alles in vns tragen / nicht anderst / dann als Gott vnser Vater selbst.45

Mit Gott müssten wir in uns selbst zurückkehren, um das Wissen zu finden, heißt es an anderer Stelle46, oder, der Heilige Geist sei in uns und von ihm lernten wir „alle Himmlische vnd Jrrdische Geheymnussen“.47 Später unterscheidet Croll eine „sensualische Schul der Anfänger“ von einer Schule der Ratio auf zweiter Stufe und einer „mentalischen und intellectualischen Schule der vollkommenen PfingstSchüler“ auf dritter Stufe. Zu dieser dritten Schule, der die Ausgießung des Geistes zuteil geworden sei, gehörten die Propheten, Apostel „und alle gelährte Männer / so in jhrem Leben den Fußstapfen Christi“ gefolgt seien.48 Göttliche Erleuchtung, nicht menschliche Vernunft ist demnach das Mittel menschlicher Erkenntnis. Nicht Intelligenz, Fleiß, Anstrengung der Vernunft oder praktische Erfahrung sind für den Arzt ausschlaggebend, sondern dezidiert religiöse Tugenden wie Demut, Liebe und das Lauschen auf das Anklopfen Gottes im eigenen Herzen. Eine Wiedergeburt in Christo sei das erste, was der Arzt erstreben müsse, heißt es bei Croll, vor aller Lektüre und vor allem Studium.49 Das lässt sich schwer mit den Prüfungsordnungen der Universitäten vereinbaren, auch schon in der Frühen Neuzeit. Medizinische Erkenntnisse werden an ein gottgefälliges Leben des Arztes und Pharmazeuten geknüpft, genauso wie der medizinische Heilungserfolg in erster Linie von einem solchen gottgefälligen Leben des Patienten abhängig gemacht wird. Dieser theologische Horizont der Basilica ist auf dem Titelblatt schon angedeutet, wenn dort die „Alchymia medica“ mit der „Cabala theologica“ und der „Magia Astrologica“ parallelisiert wird. Wenn das medizinische, pharmazeutische Wissen in erster Linie auf göttlicher Eingebung beruht, und der Arzt, statt medizinische Fachliteratur zu lesen und akademische Prüfungen abzulegen, sich besser auf religiöse Tugenden wie Demut und Liebe besinnt,

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Croll: Basilica chymica (wie Anm. 42), S. 13. Ebd., S. 25f. Ebd., S. 26. Ebd., S. 32. Ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 70.

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dann fragt sich natürlich, wozu Croll überhaupt seine Basilica geschrieben hat. Bei dieser handelt es sich ja um ein pharmazeutisches Rezeptbuch, und dieses ist in einer durchaus klaren und eigentlichen Sprache geschrieben. Auch Libavius nimmt übrigens die chemiatrischen Rezepte Crolls ernst. Wenn Libavius die dunkle Sprache des Paracelsismus geißelt, richtet sich seine Kritik in diesem Punkt nicht gegen Crolls Rezepte. Man kann Libavius deshalb auch nur bedingt einen „rabiaten Antiparacelsisten“ nennen.50 Libavius richtet sich – ganz wie später Daniel Sennert und Robert Boyle – gegen den Paracelsismus als Religion, als ‚Theophrastia sancta‘, nicht gegen den Paracelsismus als Chemie und Naturerforschung. Der Sachverhalt ist also komplizierter. Indem Croll 1609 ein chemiatrisches Rezeptbuch der paracelsischen Medizin schreibt, bricht er mit der Tradition des älteren Paracelsismus. Dieser Bruch ist auch Croll bewusst. So heißt es in der Vorrede zur Basilica mit dem klassischen Zitat von Mt. 7,6, die „aller subtieleste Philosophi“ hätten, weil sie „den Fluch Gottes vnnd der Weisen“ fürchteten, „mit allem Fleiß jhre Schrifften“ verdunkelt, „damit sie nicht einem jeden derselbigen Verstandt eröffneten vnnd die edle Perlen dieser Kunst den vnflätigen Säuwen vorwürffen“. Wenn überhaupt, so hätten sie ihre Geheimnisse nur den Verständigen offenbart, und zwar indem sie „nur allegorice oder durch Gleichnuß“ gesprochen hätten.51 Und so habe sich auch Paracelsus selbst einer dunklen Schreibart bedient, damit sein Wissen nicht in die Hände von Scharlatanen falle. Nur die in den „magischen Schulen“ Auferzogenen könnten ihn verstehen, nicht die Sophisten – damit sind die syllogistisch verfahrenden Akademiker und Schulmediziner gemeint – und die Scharlatane wie die Goldmacher.52 Ganz ähnlich hatte sich schon ein Alexander von Suchten zugeschriebener Dialogus53 gegen Scharlatane gewendet, die sich zu Unrecht auf Paracelsus beriefen, indem sie diesen wörtlich verstünden:

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51 52 53

Carlos Gilly: ‚Theophrastia sancta‘. Der Paracelsismus als Religion im Streit mit den offiziellen Kirchen. In: Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Theophrast von Hohenheims im deutschen Kulturgebiet der frühen Neuzeit. Hg. von Joachim Telle. Stuttgart 1994, S. 425-488, hier S. 437. Croll: Basilica chymica (wie Anm. 42), S. 92. Ebd., S. 79. Zu Suchten vgl. vor allem die „Gesamtwürdigung“ von Kühlmann und Telle in: Corpus Paracelsisticum (wie Anm. 41), Bd. 1, S. 545-584 mit Angaben zur älteren Literatur, sowie Gilly/van Heertum (Hgg.): Magia, alchimia, scienza (wie Anm. 26), S. 193-198 und Walter Pagel: The Smiling Spleen. Paracelsism in Storm and Stress. Basel/München 1984, S. 13-17. Den „radikalen Antiintellektualismus“ Suchtens zeigt auch Ralf Bröer: Friedenspolitik durch Verketzerung. Johannes Crato (1519-1585) und die Denunziation der Paracelsisten als Arianer. In: Medizinhistorisches Journal 37 (2002), S. 139-182, hier S. 161-166. Nach Kühlmann und Telle (Corpus Paracelsisticum [wie Anm. 41], Bd. 1, S. 548) stammt der Dialogus, der in den Chymischen Schrifften Suchtens ([wie Anm. 10], S. 305-356) unter dessen Namen gedruckt wurde, nicht von ihm. Ich zitiere den Text nach dieser Ausgabe.

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Volkhard Wels Er [Paracelsus] schreibt von der Heimligkeit der Natur / und Wunderwerck Gottes / das ist von seinem Wort / das die Artzney ist / das Wort hat nicht ein jeder gefasset / kan auch nicht ein jeder darvon schreiben; Es müssen zwar einfältige Leuth seyn / die darfür halten / das Oleum Spießglaß sey / Tartarus, Weinstein / Aurum Gold / vnd Mercurius praecipitatus, Quecksilber. Gebens dem Krancken / sagen / sie habens vom Paracelso, der ein trefflicher Artzt gewesen. O ihr Einfältigen! Es seynd Arcana, so nicht ein jeder wissen soll / sondern die / so Gott zu diesem Handel erkohren / denen Gott den Verstand dieser Wörter von oben herab eingibt.54

Deutlicher aber als bei Croll wird in diesem Dialogus, dass die Unverständlichkeit der paracelsischen Schriften nicht auf das Bedürfnis nach Verhüllung im Sinne einer Arkansprache zurückgeht, sondern auf eine grundsätzliche Unverständlichkeit dieser Schriften für alle jene, die nicht von Gott inspiriert sind.55 Ich verweise noch einmal auf den letzten Satz der gerade zitierten Stelle, in der diese Begründung der Unverständlichkeit deutlich zum Ausdruck kommt: „Es seynd Arcana, so nicht ein jeder wissen soll / sondern die so Gott zu diesem Handel erkohren / denen Gott den Verstand diser Wörter von oben herab eingibt.“ Ganz ähnlich heißt es schon 1567 bei Adam von Bodenstein in einem Nachwort zu einer Paracelsus-Ausgabe: Euch werden dise dona geschriben / die eins auffrechten gemüets / nicht den stoltzen / nicht den spylbuben / nicht den wolgezierten linguisten / [das sind die humanistisch gebildeten Akademiker] nicht den mießiggengern / viel weniger den verdorbnen ellenden vnglerten vnd vnwarhafften / für welche seuw die perlin nicht gehören / ob sie dann vnder sie geworffen auch werden / das ist / so die kunst vnder jhnen sein ders auff heben wirdt / Nicht einem yetlichen ist gesundtheit bescheret / Nicht einem yetlichen kunst bescheret / Nicht ein yetlicher sicht der schöne augen hatt / nicht ein yetlicher höret der groß oren hatt […] Gott ist der / der alle ding außdeilet / bey seiner außtheilung wirds pleiben / Der gerecht artzet wirdt gerecht erfunden / dem die artzney nicht geben ist / wirdt in seinem falsch auch gespüret […].56

Alexander von Suchten ist sogar von einer regelrechten Aversion gegenüber Metaphern und Allegorien – mithin den Methoden der alchemischen Arkansprache! – besessen, denen er als bloß menschliche Sprache seine eigene Geistbeseeltheit („wir seynd die Außlegung des A. und N. Testaments“) und die unmittelbare und unsinnliche Sprache der Engel („Ecclesiastica Hierarchia“) entgegen hält: Darumb höret was wir euch sagen / lernet diese Bücher [die magischen Bücher] ablesen / darinnen keine Allegoria, keine Metaphora, keine Similitudines, sondern die blosse nackete Wahrheit ist: Wir seynd die Außlegung des A. und N. Testaments / und der Apostolischen

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56

[Pseudo-]Suchten: Dialogus (wie Anm. 53), S. 341f. Diese Unterscheidung scheint mir wesentlich. Die Beiträge von Golinski: Chemistry in the Scientific Revolution (wie Anm. 4) und Ebeling: ‚Geheimnis‘ und ‚Geheimhaltung‘ (wie Anm. 4) leiden darunter, diesen Unterschied nicht beachtet und die spezifische Ausprägung, die der Paracelsismus dem Schweigegebot gibt, damit nicht hinreichend vom Schweigegebot der älteren Alchemie unterschieden zu haben. Vgl. dagegen Clucas: Alchemy and Certainty (wie Anm. 4), dessen Argumentation ich hier folge. Kühlmann/Telle (Hgg.): Corpus Paracelsisticum (wie Anm. 41), S. 412.

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Schrifften / nicht dieser oder jener Bauer / der erst vom Pfluge herlaufft / euch ein neues Liedlein zu singen: Also reden die Ecclesiastica Hierarchia, Selig ist / der ihr Sprach verstehet.57

Nicht hermeneutische Künste, sondern allein der Geist Gottes ermöglicht ein Verständnis der paracelsischen Schriften. Dieser „Intellectus magicus“ ist kein „Teuffelswerck“, wie die Akademiker („Galenische Medicos“) meinen, sondern die „allergröste Weißheit Gottlicher Werck“: Paracelsus hat keinen grössern Feind / dann die Galenische Medicos, die überreden sich / wann sie über ein Buch kommen / dasselbige lesen / wissen sie schon / was es sagt. Aber die hochgelehrten Dölpel betrachten nicht / daß Paracelsus seine Bücher Stylo Magico beschrieben. So ist auch ihr Hirn voller Witz / daß Intellectus Magicus nicht hinein kan. Darumb schreyen sie / Magia ist Zauberey / hütet euch / es ist Teuffelswerck / da doch Magia keine Zauberey / sondern die allergröste Weißheit Gottlicher Werck ist / vnd eine Erkennerin verborgener Natur.58

Konsequent beruft sich denn auch Suchten für seine eigenen Schriften nicht auf „Menschen-Verstand“ oder hermeneutische Techniken, sondern auf göttliche Inspiration, auf „Magia“.59 Die Alchemie fordert den Verzicht auf die Vernunft: „Die Alchymia ist eine reine und ewige Jungfrau / läst keinen vernünfftigen Menschen zu ihr / sie will hominem mentalem haben / deren ich bey unsern Zeiten noch wenig gesehen.“60 Das „Licht der Gnade“, die unmittelbare Inspiration durch Gott, und das „Licht der Natur“, nämlich die Offenbarung Gottes in der Natur, die nun ihrerseits durch ihr Licht den Menschen erleuchtet, sind komplementär zu denken. Diese Zeychen [nämlich „alle Kräuter und Bäume auf Erden“] seynd jetzo unser Bücher / geschrieben allein von Gott dem Allmächtigen / der vns / auß grundloser Barmhertzigkeit / solche Bücher mitgetheilet / nicht dass diese Bücher unser Gesundheyt seyn […] sondern daß wir aus ihnen vnser Seeligkeit und Gesundheit finden mögen / durch ihre Erkäntniß / wie sie von Gott geschaffen.61

Und wie Croll, so bringt auch Suchten diese „Erkäntniß“ der Natur in einem scharfen Gegensatz zur Buchgelehrsamkeit: Höret nicht allein / was das Maul sagt / höret was das Wasser sagt / was das Saltz sagt: Sie reden auch / aber ein andere Sprach. Die solltet ihr vorgelernet haben / und hören können / so könten euch die Scribae und Pharisaei nicht verführen / würden keine Unruh unter euch machen […] Aber werdet ihr nicht hören / was wir sagen / und ihr Werck und Bücher für Heilig-

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58 59 60 61

Alexander v. Suchten: De tribus facultatibus. In: ders.: Chymische Schrifften (wie Anm. 10) S. 357-382, hier S. 373. [Pseudo-]Suchten: Dialogus (wie Anm. 53), S. 346. Suchten: De tribus facultatibus (wie Anm. 57), S. 361. Suchten: Vom Antimonio Oder Spießglaß. In: ders.: Chymische Schrifften (wie Anm. 10), S. 229-304, hier S. 247. Suchten: De tribus facultatibus (wie Anm. 57), S. 374f.

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Volkhard Wels tumb halten; so werdet ihr verführet werden auß einer Sect in die ander / […] Also wird euch der Lohn werden auß eurer Weißheit / so ihr auß unsern Buchstaben erdichtet.62

Die Natur selbst, das Wasser und das Salz, spricht zum Naturforscher, und im Gegensatz zur menschlichen Sprache und dem Buchwissen der Akademiker ist diese Ansprache der Natur – ihr „Licht“ – unmittelbar verständlich. Die Natur offenbart sich im Geist des Menschen. Diese Offenbarung ist nicht nur schweigend zu empfangen, sie darf auch nicht durch schriftliche Vermittlung profaniert werden. Das Schweigegebot des Paracelsismus ist damit etwas ganz anderes als die Arkansprache der Alchemie, die letztlich in ihrer Verschlüsselung doch auf die Weitergabe eines Wissens zielt. Der Paracelsist dagegen verschweigt seine Wahrheit, weil diese Wahrheit die Möglichkeiten „lehrhafter Unterweisung“ übersteigt. Vorgeprägt ist ein solches Verstummen im Angesicht der göttlichen Offenbarung in der Natur im spätantiken Corpus Hermeticum, das für den Paracelsismus von einiger Bedeutung ist. Im zwölften Traktat wird Hermes aufgefordert, auf dem Höhepunkt seiner Initiation schweigend unter freiem Himmel dem Aufgang der Sonne beizuwohnen, denn nur so könne er erfahren, was „lehrhafte Unterweisung“ übersteige.63 „Der Grund der Erleuchtung liegt in der Natur, nämlich im Aufgang der Sonne“, äußert Franckenberg gegenüber Seidenbecher64 und dürfte damit das Corpus Hermeticum zitieren. Es ist dieselbe Offenbarung, die Suchten aus Wasser und Salz empfangen hat. Das ‚hermetische‘ Schweigen, mit dem diese Offenbarung empfangen werden muss, ist ein Verschweigen des Unaussprechlichen, ein Verstummen vor der Offenbarung Gottes. In den Worten Suchtens: Aber wehe dem Menschen / der solch Geheimniß anders offenbahret / dann es offenbar ist / [also doch wohl auf nicht-magische Art] darumb ist mir zuverzeihen / so ichs auch bleiben lasse / und verschweige das Geheimniß / so Gott allen seinen Geliebten zuoffenbahren hat / und in seinem Göttlichen Gewalt behält / und behalten wird in Ewigkeit; uns allein / so wir redlich darumb gekämpffet haben / auß lauter Barmhertzigkeit mittheilet.65

Diese Weigerung erscheint nur konsequent.66 Suchten selbst hat denn auch viele seiner theo-medizinischen Schriften gar nicht veröffentlicht. Inkonsequent erscheint dagegen

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64 65 66

Ebd, S. 372. Das Corpus Hermeticum Deutsch. Teil 1. Die griechischen Traktate und der lateinische ‚Asclepius‘. Übers. und eingeleit. von Jens Holzhausen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, Traktat XII, Kap. 16, S. 183. Abraham von Franckenberg: Briefwechsel. Eingeleit. und hg. von Joachim Telle. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 366 (Übersetzung Seidel). Suchten: De tribus facultatibus (wie Anm. 57), S. 364. Einschränkend ist aber zu bemerken, dass Suchten im Vorwort zur Antimonschrift (1570) eine Veröffentlichung der Geheimnisse fordert, ganz wie Croll. Dabei verkehrt er sogar die Metapher der Perlen vor den Säuen: „Damit aber solchs nicht geschehe / [nämlich das paracelsische Wissen verlorengehe] foddert die zeit / das wir so dise geheymnuß wissen / vnnd erfahren haben / von dem der da geistet wa er will / auß pflicht / so ein jheder der warheyt zu leisten schuldig / vns widder dise schreier setzen / die gab Gottes verantworten / vnnd das perlin nicht lassen den Seuen

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Croll, der seiner Berufung auf die göttliche Inspiration ein chemiatrisches Rezeptbuch folgen lässt. Anders als bei Paracelsus ist dieses Rezeptbuch in einer klaren und unverhüllten Form geschrieben und benötigt keinen „Intellectus Magicus“ zu seinem Verständnis. Croll also bricht mit der Tradition. Dessen ist er sich auch bewusst, denn in seinem Vorwort schreibt er, er fürchte, weil er sich nicht mehr an die dunkle Schreibart gehalten und die „Chymische Sigil“ gebrochen habe, „die geheime Hermetische Philosophi“ beleidigt und gegen sich aufgebracht zu haben, dieweil ich dasjenige / so sie mit grosser Mühe vnd Fleyß erlernet / ein lange zeit darüber zugebracht / vnd in geheim gehalten / also wider alle jhre Hoffnung offenbahre vnd allen Menschen communiciere: Mich dannenhero einen Verbrecher der Chymischen Sigil intituliren / als der ich durch das geheyme Pythagorische stillschweigen nicht geladen / vnnd deß Hippokratischen Gesetzes vneingedenck / in dem er das Heilige den Heiligen zuvertrawen befihlet / die Chymische Warheit / so bißhero in den Gefängnussen der Schatten vnd Mißgunst verborgen vnd gleichsamb verstrickt gelegen / erlediget / vnd alle Thüren eröffnet / vnnd den Nachkömlingen dieselbige gutwillig communiciert.67

Croll formuliert damit genau dieselbe Befürchtung wie Libavius in der Vorrede zum dritten Teil seiner Alchymia, dass nämlich der Bruch des alchemischen Schweigegebots ihn zur Zielscheibe von Aggressionen machen würde. Sogar der Verleger Crolls sieht sich in einer Vorbemerkung zur deutschen Übersetzung der Basilica gezwungen, sich gegen den Vorwurf, das Schweigegebot gebrochen zu haben, zu verteidigen.68 Es kann also kein Zweifel bestehen, dass Croll ganz bewusst und analog zu dem Vorgehen seines Gegners Libavius mit der Tradition bricht. Im Gegensatz zu Libavius stellt sich bei Croll allerdings die Frage nach seiner Motivation, denn wo bei Libavius dieser Bruch klar mit der Notwendigkeit eines Wissensfortschritts begründet war, kommt dieses Argument bei Croll eigentlich nicht in Betracht, wenn das Wissen in erster Linie göttlich vermittelt ist und nur bedingt durch Bücher weitergegeben werden kann. Diesen Selbstwiderspruch hat schon Libavius an Croll kritisiert. Croll selbst legitimiert sein Vorgehen jedoch erstaunlicherweise mit der Berufung auf den allgemeinen Nutzen: Aber was vngestümmen Wellen vnterwürffe ich mich mit dieser meiner offenen vnd gantz wolgemeinten Publication? […] Der Schild / hinder welchem ich mich gantz vnerschrocken verbirge / ist meine wolmeinende Auffrichtigkeit vnd guthertzige Begierde / mich vmb die Rempublicam Spagyricam wol zuverdienen […].69

Croll wendet sich sogar ausdrücklich an die gegnerische Schule, nämlich an „die auffrichtigste aber / vnd subtieleste vnter den Galenisten“, die sich aus Furcht vor „Ex-

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vnder den füssen ligen.“ (Suchten in Kühlmann/Telle [Hgg.]: Corpus Paracelsisticum [wie Anm. 41], S. 570-580). Croll: Basilica chymica (wie Anm. 42), S. 4f. Ebd., S. )( ijrf. Ebd., S. 4

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communication“ bisher nicht öffentlich zur Wahrheit zu bekennen wagten,70 also doch offensichtlich an eine wissenschaftliche Öffentlichkeit und nicht an eine kleine Schar geistbeseelter „Pfingstschüler“. Sein Buch habe er „zum gemeinen Nutz publiciret“, heißt es an derselben Stelle, was sich doch schwerlich mit der Notwendigkeit einer göttlichen Inspiration vereinbaren lässt, die Croll in der weiteren Folge der Vorrede behauptet. Meine These lautet deshalb, dass sich in Crolls Rekurs auf eine wissenschaftliche Öffentlichkeit, auf Nachprüfbarkeit und Diskussion von wissenschaftlichen Ergebnissen, derselbe Prozess bemerkbar macht, wie er sich bei Libavius dokumentiert, nur dass sich bei Croll dieser Prozess in einem Widerspruch zu den theologischen Grundannahmen des Paracelsismus vollzieht. Das Ergebnis wäre ein Lehrbuch wie die Basilica, das in seinem eigenen Vorwort die Notwendigkeit eines Lehrbuchs leugnet. Croll wäre von denselben wissenschaftlichen Idealen wie Libavius geprägt, nur dass diese Ideale bei ihm zu einem Konflikt mit dem theologischen ‚Überbau‘ führten. An der Basilica Crolls ließe sich damit der Widerspruch von ‚wissenschaftlichem‘, empirisch überprüfbarem Anspruch einerseits – nämlich chemiatrische Rezepte so zu formulieren, dass sie nachvollzogen und erprobt werden können, mithin die medizinische Seriosität des Paracelsismus zu erweisen – und der theologischen Überzeugungen stark verpflichteten Erkenntnistheorie des Paracelsismus andererseits ablesen. Die wissenschaftliche Praxis Crolls befände sich in einem Widerspruch mit seinen theologischen Überzeugungen, ohne dass es Croll gelingen würde, diesen Widerspruch aufzulösen. Die Basilica Crolls würde den anlaufenden Prozess der scientific revolution damit letztlich noch viel deutlicher dokumentieren als die Alchymia des Libavius.

4. Schlussfolgerungen Folgt man dieser These, so erleben wir um 1600 eine Revolution in der Tradierung alchemischen und medizinischen Wissens, die so tiefgreifend ist, dass sie sogar diejenigen erfasst, deren theoretisches Programm diese neuen Tradierungsformen eigentlich ausschließt. Croll übernimmt in der Praxis die Forderungen einer Wissenschaft, deren erkenntnistheoretische Grundlagen er in der Theorie weiterhin bestreitet. Das neue Ideal einer wissenschaftlichen Offenheit setzt sich selbst da durch, wo es von der Sache her eigentlich gar nicht gefordert werden könnte, wie bei Croll und seiner paracelsistischen, sich auf göttliche Offenbarung berufenden Medizin. Zu den Normen dieser neuen Wissenschaft gehört eine Darstellungsform, die sich um einen Stil bemüht, der ausschließlich dem Gegenstand dient. Klarheit, Nüchternheit und Eigentlichkeit des Sprachgebrauchs sind die Forderungen, die Libavius erhebt, und damit ist er ein Vorläufer jener Bemühungen um einen plain style, einen bewusst nüchter-

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Croll: Basilica chymica (wie Anm. 42), S. 6.

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nen und schmucklosen Stil, wie ihn in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die ,Royal Society‘ für alle Wissenschaften fordern wird.71 Damit ein solcher schmuckloser, eigentlicher Sprachstil aber überhaupt erst denkbar werden konnte, musste zuerst das Schweigegebot aufgehoben werden. Das Schweigegebot wird gebrochen, um eine wissenschaftliche Öffentlichkeit herzustellen und damit Erkenntniszuwachs und Fortschritt möglich zu machen. In und mit derselben Bewegung, in der das Schweigegebot für obsolet erklärt wird, kann es – und damit komme ich noch einmal zurück zu Michael Maier – zum poetischen Decorum transformiert und in poetisches Spiel überführt werden. Die naturphilosophische Redundanz der alchemischen Arkansprache macht deren Transformation in ein poetisches Stilmittel möglich. Maiers Atalanta ist kein verschlüsseltes Werk des Okkultismus, kein Ausdruck magischen, heterodoxen Geheimwissens, sondern Ausdruck eines spielerischen Umgangs mit alchemischer Bildlichkeit. Die enigmatische Bildlichkeit der Atalanta verschweigt kein technisches Wissen mehr, sondern ist ein poetisches Spiel mit dem ernsten Zweck einer andächtigen Versenkung in die Geheimnisse der Natur als einer sinnlich vermittelten Offenbarung Gottes.

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Zum plain style vgl. stellvertretend Richard Nate: Wissenschaft und Literatur im England der Frühen Neuzeit. München 2001, S. 163-170, mit Angaben zur älteren Literatur.

Michael Lorber (Berlin) Alchemie, Elias artista und die Machbarkeit von Wissen in der Frühen Neuzeit*

Auffassungen von Alchemie als ein für die Geschichte der Naturwissenschaften irrelevantes Unterfangen – „it would be better to stop regarding alchemy as a scientific or experimental endeavor“1 – stellen inzwischen eine selten gewordene Ausnahme dar. Über die Grenzen der dezidierten Alchemieforschung hinaus konnte sich innerhalb der letzten Jahrzehnte ein wesentlich differenzierteres Verständnis von Alchemie durchsetzen. Wenn es aber um die Errungenschaften der wissenschaftlichen Revolution in der Frühen Neuzeit geht, fungiert Alchemie häufig immer noch als bloßer Abstoßungspunkt, ohne dass nach der Bedeutung von Alchemie in diesen für die Moderne entscheidenden Wissensumbrüchen gefragt wird.2 Und es scheint auch gute Argumente dafür zu geben: In der Geschichte der Alchemie ist es kaum möglich, ihren Gegenstand – changierend zwischen einer Alchemia technica (Metallurgie), einer Alchemia transmutatoria (Goldherstellung), einer Alchemia mystica (Theosophie) und einer Alchemia medica (Iatrochemie) – eindeutig zu definieren3 oder sie zu anderen Formen der Natur-

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Der vorliegende Beitrag ist eine gekürzte Fassung eines Kapitels aus meiner Dissertationsschrift „Zwischen Erlösung und Produktivität. Zur Performanz alchemischen Wissens und den Projekten Johann Joachim Bechers (1635-1682) in der Frühen Neuzeit“, die 2012 von der Freien Universität Berlin angenommen wurde und derzeit für den Druck vorbereitet wird. Marco Beretta: The Enlightenment of Matter. The Definition of Chemistry from Agricola to Lavoisier. (Uppsala Studies in History of Science 15) Canton, Mass. 1993, S. 331. Vgl. bspw. Hendrik Floris Cohen: The Scientific Revolution. A Historiographical Inquiry. Chicago 1994; Steven Shapin/Simon Schaffer: Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life. Princeton 1989; Steven Shapin: Die wissenschaftliche Revolution. Übers. von Michael Bischoff. Frankfurt a.M. 1998. Obwohl bereits Shapin und Schaffer das Konstrukt wissenschaftliche Revolution mit der Betonung der anhaltenden Relevanz der aristotelischen Naturphilosophie im späten 17. Jahrhundert in Frage stellen, klammern sie die Alchemie weiterhin aus. Für eine grundlegende Methodenkritik an Shapin und Schaffer vgl. J. Andrew Mendelsohn: Alchemy and Politics in England 1649-1665. In: Past and Present 135 (1992), S. 30-78, hier S. 32; Mordechai Feingold: When Facts Matter. “A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England” by Steven Shapin. In: Isis 87.1 (1996), S. 131-139, hier S. 135ff. Joachim Telle: Paracelsus als Alchemiker. In: Paracelsus und Salzburg. Vorträge bei den Internationalen Kongressen in Salzburg und Badgastein anläßlich des Paracelsus-Jahres 1993. Hg. von

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philosophie klar abzugrenzen. Zudem kann in der Renaissance und Frühen Neuzeit ein verstärktes Auseinanderdriften in eine sich der praktischen Labortätigkeit widmende Alchemie einerseits und eine spirituell-symbolträchtige Alchemie andererseits festgestellt werden.4 Damit scheint die Alchemie in ihrer Heterogenität ein äußerst schwieriger und unverlässlicher Bezugspunkt in der Beschreibung frühneuzeitlicher Wissensumbrüche zu sein. Bereits der Gründungsvater der frühneuzeitlichen Experimentalphilosophie Francis Bacon warnte, „great danger may be apprehended from philosophies of this kind [Alchemie]“,5 und ermutigte dazu, diese Gefahr mittels seiner neuen Methodik zu überwinden. Eine hinsichtlich ihres Gegenstands schwer fassbare Alchemie und eine vielerorts anzutreffende frühneuzeitliche Rhetorik des Neubeginns scheinen also die Sichtweise zu legitimieren, die streng methodisch verfahrende Bacon’schen Naturphilosophie habe in radikaler Weise mit alchemischen Traditionen gebrochen. An dieser Stelle möchte ich aber eine andere Lesart vorschlagen, die nicht nur auf die Brüche, sondern auch auf die Kontinuitäten zwischen Alchemie und frühneuzeitlicher Experimentalkultur fokussiert. Damit kann – zumindest aus einer bestimmten Perspektive – die These von der wissenschaftlichen Revolution mit Blick auf langfristige epistemologische Verschiebungen in der Naturphilosophie des 16. und 17. Jahrhunderts präzisiert und in ihrer Konzentration auf das 17. Jahrhundert zeitlich entgrenzt werden. Denn jenseits der Streitigkeiten zwischen ihren Befürwortern und Gegnern kann Alchemie als „die stärkste und durchgängigste Form experimentalwissenschaftlichen Arbeitens vor der Neuzeit“ begriffen werden.6 Aus diesem Blickwinkel verdrängt die Frage nach den spezifischen Bedingungen von Wissenswandel die These vom revolutionären Bruch mit vorgängigen Wissenskonfigurationen in der Frühen Neuzeit

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Heinz Dopsch und Peter F. Kramml. (Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 14) Salzburg 1994, S. 157-172, hier S. 157f. Zu der auf Roger Bacon zurückgehenden Unterscheidung zwischen alchemia practica und alchemia speculativa vgl. William R. Newman: The Philosophers’ Egg: Theory and Practice in the Alchemy of Roger Bacon. In: Micrologus. Natura, scienze e società medievali/Nature, Sciences and Medieval Societies 3 (1995), S. 75-101; Joachim Telle: Alchemie: II. Historisch [Art.]. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller. Bd. 2. Berlin/New York 1978, S. 199-227. Francis Bacon: The New Organon or, True Directions Concerning The Interpretation of Nature [1620]. In: The Works of Francis Bacon. Hg. von James Spedding, Robert Leslie Ellis und Douglas Denon Heath. 14 Bde. Bd. 4. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 (Nachdruck der Ausgabe London, 18571874), S. 65. Zum Verhältnis von Alchemie und frühneuzeitlicher Experimentalkultur vgl. Gerald Hartung: Das chymische Laboratorium. Zur Funktion des Experiments im Naturwissenschaftsdiskurs des 17. Jahrhunderts. In: Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. Hg. von Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig. Berlin/New York 2006, S. 220-241. Wolfgang Krohn: Die „neue Wissenschaft“ der Renaissance. In: Gernot Böhme/Wolfgang van den Daele/Wolfgang Krohn: Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung. Frankfurt a.M. 1977, S. 13-128, hier S. 72.

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nicht einfach, sondern reformuliert und erweitert vielmehr das zu untersuchende Problemfeld: Wie haben sich im Kontext experimenteller Praktiken theologische Aspekte, Konfigurationen des Wahrnehmens oder das definitorische Verständnis von Natur und Kunst dergestalt ändern können, dass sie jene grundlegenden Verschiebungen zeitigten, die schon im 17. Jahrhundert wahrgenommen wurden und die im 20. Jahrhundert schließlich das Etikett wissenschaftliche Revolution erhielten?7 Vor diesem Hintergrund erweist sich Alchemie in meinen folgenden Überlegungen nicht länger als Gegenstück zur Experimentalkultur Bacon’scher Provenienz. Vielmehr erscheint sie als fruchtbare und äußerst vielschichtige Protogeschichte experimentellen Arbeitens und lenkt als wesentliches Moment für frühneuzeitliche Wissensumbrüche den Blick auf neue Aspekte. Im Fokus meiner Ausführungen stehen die paracelsistische Figur des Elias artista und ihre epistemologischen Implikationen, um auf deren historischer Spur die Rolle des Experiments in Alchemie und frühneuzeitlicher Experimentalkultur als privilegierten Ort der Wissensproduktion auf spezifische Weise zu untersuchen.

1. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist ein Gedanke, der in der Alchemie virulent war, bevor er um 1537 bei Paracelsus seinen programmatischen Ausdruck fand. In De rerum natura bemüht sich Paracelsus, Alchemie kurz und prägnant zu definieren. „Die generation aller natürlichen dingen ist zweierlei, als eine die von natur geschicht on alle kunst, die ander geschicht durch kunst nemlich durch alchimiam.“8

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Der Begriff scientific revolution wurde in den 1930er Jahren von Alexandre Koyré geprägt. Weite Verbreitung fand der Begriff schließlich mit Herbert Butterfields Publikation The Origins of Modern Science aus dem Jahr 1949, die aus einer gleichnamigen Vorlesungsreihe hervorging (vgl. Cohen: The Scientific Revolution [wie Anm. 2], S. 21 et passim). Paracelsus: Die 9 Bücher de Natura rerum an Johansen Winkelsteiner zu Freiburg im Üchtland, angeblich Villach 1537. Sämtliche Werke. Hg. von Karl Sudhoff. Abteilung 1: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Bd. 11: Schriftwerk aus den Jahren 1537-1541. München/Berlin 1928, S. 307-403, hier S. 312. Diese Definition erfolgt bei Paracelsus im Kontext seiner iatrochemischen Interessen. Joachim Telle und Wilhelm Kühlmann haben darauf hingewiesen, dass sich Paracelsus – trotz der Interferenzen zwischen Alchemica medica und Alchemia transmutatoria zu seiner Zeit und entgegen der schon unmittelbar nach seinem Tode einsetzenden Legendenbildung – nicht mit der Transmutationsalchemie beschäftigt hat (Telle). Hinsichtlich des Ziels dieser beiden Alchemieformen, nämlich „Erkundung der Stoffeswelt“ und „Heilung von Mensch und Metall“ (Telle), können dennoch Gemeinsamkeiten festgehalten werden, welche die Inanspruchnahme der oben angeführten Definition von Alchemie über die Alchemia medica hinaus rechtfertigen. An dieser Stelle ist außerdem noch darauf hinzuweisen, dass die Autorschaft in der grundlegenden Paracelsus-Werkausgabe von Karl Sudhoff nicht für alle Texte gesichert ist. Das noch zu Lebzeiten des Paracelsus erschienene und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit authentische Werk beschränkte sich auf iatrochemische und prognostische Texte. Ein Großteil der unter

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Die Frage, ob Kunst – im vormodernen Sinne von ars verstanden als Produktivität menschlicher Kunstfertigkeit in Abgrenzung zu den Produkten der Natur – die Natur nachahmt, ob sie auf einer Augenhöhe mit ihr steht oder sie gar übertreffen oder perfektionieren kann, ist in der Geschichte der Naturphilosophie allerdings nicht so klar zu beantworten, wie es Paracelsus nahelegt, sondern vielmehr heftig umstritten. Unter dem Einfluss der aus dem arabischen Raum überlieferten aristotelischen Naturphilosophie wird diese Frage im Abendland außerhalb der Alchemie bis in die Frühe Neuzeit hinein in aller Regel eher verneint.9 Dafür finden sich auch Gründe in der christlichen Theologie: Die Schöpfung der Natur ist allein Gott vorbehalten. Wenn der Mensch sich anmaßt, in der Natur schöpferisch tätig zu werden, müsse er hierfür die Hilfe dämonischer Kräfte in Anspruch nehmen.10 Das Selbstverständnis des alchemischen Adepten ist selbstredend ein völlig anderes. So beabsichtigt auch Paracelsus mit der Alchemie keineswegs, dämonische Kräfte zu

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dem Namen des Paracelsus erschienenen Schriften ab 1560 dürfte aus der Feder einer „‚fortschreibenden‘ Gesinnungs- und Publikationsgemeinschaft naturkundlicher, oft auch quer zum Konfessionalismus stehender, akademischer wie vor allem außerakademischer Dissidenten“ (Kühlmann) stammen. Im Rahmen meiner Ausführungen verzichte ich auf eine Diskussion des paracelsischen oder paracelsistischen Charakters der aus der Sudhoff’schen Werkausgabe zitierten Schriften. Um jedoch implizit diese Problematik mitzudenken, spreche ich zwar mit Bezug auf die Werk-Ausgabe von paracelsischen Schriften, hinsichtlich der Wissensfigur Elias artista von einer paracelsistischen Wissensfigur, da es bei ihr wesentlich um einen Aspekt der „wissenschaftlichen Bewegung“ der paracels(ist)ischen „Theo-Alchemie“ (Kühlmann) geht (vgl. Telle: Paracelsus als Alchemiker [wie Anm. 3], S. 162; Wilhelm Kühlmann: Paracelsismus und Hermetismus: Doxographische und soziale Positionen alternativer Wissenschaft im postreformatorischen Deutschland. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hg. von Anne-Charlott Trepp und Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, S. 17-39, hier S. 18). Vgl. William R. Newman: Promethean Ambitions. Alchemy and the Quest to Perfect Nature. Chicago 2005. Tatsächlich findet die Alchemie 1487 genau in diesem Sinne Erwähnung im Malleus maleficarum (Hexenhammer), in dem der Alchemie wie der Hexerei vorgeworfen wird, nur unter Zuhilfenahme dämonischer Kräfte und nur scheinbar, d. h. qua Täuschung der Sinne, in die Ordnung und Produktivkraft der Natur eingreifen zu können. Bei näherer Betrachtung erweist sich dieser Vorwurf jedoch – zumindest aus einer alchemischen Innenperspektive heraus – als nicht haltbar, da sich die Alchemiker eben nicht im Kontext okkulter Kräfte, sondern im naturphilosophischen Bereich situieren. Die im Malleus maleficarum erhobenen Vorwürfe gegen die Alchemie wurden selbst seitens der Kirche (trotz zum Teil vehementer Kritik an der Alchemie) bis in die Frühe Neuzeit kaum aufgegriffen (vgl. Newman: Promethean Ambitions [wie Anm. 9], S. 59-62; Telle: Alchemie [wie Anm. 4], S. 208). Das heißt jedoch nicht, dass es (auch innerhalb des Klerus) keine Alchemie-Verbote gegeben hätte, allerdings weniger aus religiösen denn aus wirtschaftlichen Gründen. Minderwertiges, d. h. versetztes Silber und Gold wurden bereits ab Ende des 13. Jahrhunderts im Rahmen fürstlicher Finanzpolitik zu einem ernst zu nehmenden finanzpolitischen Problem (vgl. Barbara Obrist: Die Alchemie in der mittelalterlichen Gesellschaft. In: Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Hg. von Christoph Meinel. Wiesbaden 1986, S. 33-59, hier S. 50f.).

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beschwören.11 Aber er löst die Alchemie als eine mit der Kraft der Natur gleichgestellte schöpferische Kunst auch nicht aus dem christlichen Kontext, säkularisiert sie also nicht, wie man vermuten könnte. Vielmehr verortet er sie auf der dem Bösen entgegengesetzten Seite, indem er sie als heilsgeschichtliches Remedium begreift: Denn Paracelsus stellt fest, nicht nur die Religion, sondern auch die menschliche Kunst, d. i. hier die Alchemie, habe ihren Elias, nämlich den Elias artista:12 dan es ist nicht minder, vil künst sind uns verhalten, darumb, das wir got nicht gefellig seind, die selbigen uns zu eröfnen, nun aber eisen in kupfer zu machen, ist nicht so vil, als eisen in golt zu machen. darumb das weniger leßt got offenbar werden, das merer ist noch verborgen, bis auf die zeit der künst helias, so er komen wird. dan die künst haben gleich so wol heliam, als sonst zuverston ist.13

Mit der Wissensfigur des Elias artista, die bis Mitte des 17. Jahrhunderts in der alchemischen Naturphilosophie ein nachhaltiges Echo fand, vermittelt Paracelsus zwischen den naturphilosophisch-alchemischen und theologischen Aspekten seines Denkens im Zeichen christlicher Eschatologie.14 Ihre volle Bedeutung entfaltet sich deshalb erst in ihrer Kontextualisierung in der christlichen Heilslehre: Im Tanach bzw. dem Alten Testament entrückt der Prophet Elias mit feurigem Pferdegespann in den Himmel15 und kehrt in der Maleachi-Apokalypse, dem letzten Buch des Alten Testaments, als Wegbereiter des kurz bevorstehenden göttlichen Endgerichts wieder auf die Erde zurück.16 Im jüdischen Glauben ist Elias der Retter in der Not, offenbart den wahren Schriftsinn der heiligen Texte und bereitet „als Hohenpriester der Endzeit“17 schließlich die Wieder-

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Bereits Roger Bacon verwirft im Abschnitt „De scientia experimentali“ seines Opus majus (126668) die Magie in Abgrenzung zur Alchemie als Illusion (vgl. Roger Bacon: Pars sexta. De scientia experimentali. In: Opus majus. 2 Bde. u. Ergbd. Hg. von John Henry Bridges. Bd. 2. London 1897, S. 221). Peuckert weist darauf hin, dass „Elias artista“ aus alchemischer Sicht gleichbedeutend war mit „Elias, der Alchimist“ (Will-Erich Peuckert: Die Rosenkreutzer. Zur Geschichte einer Reformation. Jena 1928, S. 48). Paracelsus: Von den natürlichen Dingen. In: Sämtliche Werke. Hg. von Karl Sudhoff. Abteilung 1: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Bd. 2: Frühe Schriften zur Heilmittellehre. München/Berlin 1929, S. 59-175, hier S. 163. Für eine begriffsgeschichtliche Analyse des paracelsistischen Elias artista vgl. Walter Pagel: The Paracelsian Elias artista and the Alchemical Tradition. In: Medizinhistorisches Journal 16 (1981), S. 6-19; Herbert Breger: Elias Artista – A Precursor of the Messiah in Natural Science. In: Nineteen Eighty-four: Science between Utopia and Dystopia. Hg. von Everett Mendelsohn und Helga Nowotny. (Sociology of the Sciences 8) Dordrecht/Boston/Lancaster 1984, S. 49-72; jüngst Antoine Faivre: „Elie artiste, ou le messie des philosophes de la nature“. In: Aries. Journal for the Study of Western Esotericism 2.2 (2002), S. 119-152 (Teil 1) und 3.1 (2003), S. 25-54, der die Elias artista-Spur bis in die moderne Esoterik verfolgt. Vgl. 2 Könige 2,1-18. Vgl. Mal. 3,23-24. Joachim Jeremias: Ήλ(ε)ίας [Art.]. Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hg. von Gerhard Kittel. 10 Bde. Bd. 2. Stuttgart 1935, S. 930-943, hier S. 934f.

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kehr des Messias vor.18 Insbesondere in der jüdischen Kabbala tritt Elias als Verkünderfigur verborgenen Wissens in Erscheinung.19 Im Neuen Testament ist Elias hingegen nur noch als eschatologische Figur präsent und wird manchmal mit Johannes dem Täufer assoziiert, der die Ankunft des Messias Jesu Christi vorbereitet habe.20 In der Offenbarung des Johannes kämpft Elias an der Seite von Henoch oder Moses gegen den Antichristen.21 In der christlichen Heilslehre wird er zudem mit der Offenbarung göttlichen Wissens in Verbindung gebracht, das er den Menschen verkündet, bevor Jesus Christus am Ende der Zeiten wiederkehrt.22 Eine Verbindung von christlicher Apokalyptik und Wissen, wie sie der biblische Prophet Elias verkörpert, lässt sich ab dem frühen Mittelalter beobachten, als vor allem außergewöhnliche Naturphänomene als „Gottes Sprache“ Aufmerksamkeit auf sich zogen und apokalyptisch gedeutet wurden. In diesen Naturdeutungen ist einer der zentralen Ursprünge christlich-naturphilosophischen Denkens und moderner Naturwissenschaft zu sehen.23 Dabei ist zu beachten, dass in den christlichen Apokalypsen – im Gegensatz zum heute gängigen Verständnis von Apokalypse – nicht das katastrophale Weltende im Vordergrund steht, sondern das Ende der Welt vielmehr die conditio sine qua non für das künftige Reich Gottes, also für die Vollendung der Welt und die Erlösung der Menschen im göttlichen Heilsplan darstellt.24 Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die volle Bedeutung der Elias artista-Figur: Paracelsus ergänzt diese mittelalterliche Verbindung von christlicher Apokalyptik und Wissen um die aktive Dimension praktischen Experimentierens, also um die Beweiskraft des Materiellen im Rahmen menschlicher Kunstfertigkeit. Im paracelsistischen Elias artista offenbart sich somit die alchemische Schöpferkraft des Menschen als ein

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Strittige Fälle hinsichtlich der Heiligen Schriften können im Rabbinertum bis heute mit dem Ausspruch „bis zur Rückkehr Elias“ vertagt werden, da sich dann alle Unklarheiten auflösen (Markus Öhler: Elia im Neuen Testament. Untersuchungen zur Bedeutung des alttestamentlichen Propheten im frühen Christentum. [Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 88] Berlin/New York 1997, S. 136). Auch heute noch wird im jüdischen Beschneidungszeremoniell der Säugling auf den „Elias“-Stuhl gelegt und im Seder (Festmahl) des Pessach-Festes werden ein leerer Stuhl und ein leerer Becher für den wiederkommenden Elias bereitgestellt. Ich danke Romina Walloch für diesen Hinweis. Breger: Elias Artista (wie Anm. 14), S. 51. Vgl. bspw. Matth. 16,14 u. 17,11; Joh. 1,21 sowie Öhler: Elia im Neuen Testament (wie Anm. 18), S. 299f. Zum Einfluss der spätjüdischen Elias-Apokalypse auf die Offenbarung des Johannes vgl. Jeremias: Ήλ(ε)ίας (wie Anm. 17), S. 942. Vgl. Johann E. Stadler u. a. (Hgg.): Elias [Art.]. In: Vollständiges Heiligen-Lexikon oder Lebensgeschichten aller Heiligen, Seligen etc. etc. aller Orte und Jahrhunderte […]. 5 Bde. Bd. II (E-H). Augsburg 1861, S. 33f. Vgl. Johannes Fried: Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter. München 2001, S. 43ff. Vgl. Wolfgang Braungart: Apokalypse und Utopie. In: Poesie der Apokalypse. Hg. von Gerhard R. Kaiser. Würzburg 1991, S. 63-102, hier S. 65.

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aktiver Bestandteil dieses Heilsplans, der in der Wiederkehr Jesu Christi seinen Abschluss findet: In der Akkumulation experimentell gewonnenen Wissens als einer erweiterten Form des Lesens im Buch der Natur25 kann der Mensch als Ebenbild Gottes das verlorene paradiesische Wissen wiederherstellen und den Heilsplan in der Erkenntnis des göttlichen Schöpfungswerkes erfüllen. Das Konzept des Elias artista besagt, dass der Mensch als Ebenbild Gottes mit seiner Kunstfertigkeit in der bemerkenswerten Lage ist, im alchemischen Experimentieren heilsgeschichtlich relevantes Wissen zu produzieren. Alchemie findet auf diese Weise mit dem Elias artista ihren programmatischen Ort in der christlichen Eschatologie.26 Auf Basis jüdisch-christlicher EliasExegese verbindet sich hier die apokalyptische Vorstellung von Elias als Verkünder des 1000-jährigen Reichs Jesu Christi mit Aspekten instrumentell-experimenteller Verfahrensweisen zur Wissensproduktion.27 Qualität und Quantität des alchemischen Wissens, das ein gnostisch gefärbtes Erlösungsversprechen in sich birgt,28 fungieren hier gewissermaßen als apokalyptischer Index auf dem Weg zur Vollendung der Welt.29

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Zum „Buch der Natur“ vgl. Ruth Groh: Buch der Natur [Art.]. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jäger. Bd. 1. Stuttgart 2005, S. 478-485. Die eschatologischen Aspekte in der paracelsischen Naturphilosophie hat Kurt Goldammer untersucht. Seine Kernthese lautet: „Die Ewigkeit oder Dauer der Welt ergibt sich nicht zwangsläufig aus seiner Naturerkenntnis. [...] Erst das christliche Bewusstsein von einer kommenden ganz andersartigen Welt, von der die Welt übergreifenden Grösse Gottes und von der Sinnerfüllung der an sich nichtigen Zeit durch das Hingerichtetsein auf die Ewigkeit und durch die sittliche Verantwortung eines unter dem Ewigen reifenden Lebens gibt die Möglichkeit eines ‚Mehr‘ über das physikalische Geschehen hinaus. Und so entsteht mit dem Wissen von der Einmaligkeit und unwiederbringlichen Vergänglichkeit des physischen Kosmos zugleich die Erkenntnis der Wichtigkeit und des Wertes des kosmischen Gesamtlebens und Gesamtgeschehens, die nicht aus der physikalischen Teleologie zu erklären ist, sondern aus der christlichen Eschatologie, der Lehre von einer neuen, ganz anderen Welt unter ganz anderen Bedingungen.“ (Kurt Goldammer: Paracelsische Eschatologie. Zum Verständnis der Anthropologie und Kosmologie Hohenheims. In: Nova acta Paracelsica. Jahrbuch der Schweizerischen Paracelsus-Gesellschaft 5 [1948] [Teil 1], S. 4585, hier S. 63 und 6 [1952], S. 68-102). Zum frühneuzeitlichen Chiliasmus aus wissenshistorischer Sicht vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hg. von Anja Hallacker und Boris Bayer. Göttingen 2007. Zum 1000-jährigen Reich Jesu Christi auf Erden vgl. Off. 20,4 sowie Wolfgang Biesterfeld/Wilhelm E. Mühlmann: Chiliasmus [Art.]. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. 13 Bde. Bd. 1. Darmstadt 1971, S. 1001-1005 und ausführlich Roland Haase: Das Problem des Chiliasmus und der Dreißigjährige Krieg. Leipzig 1933; Norman Cohn: Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen. Übers. von Eduard Thorsch. Bern/München 1961. Zum Begriff des 1000-jährigen Reiches in der nationalsozialistischen Nomenklatur vgl. Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York 2000, S. 156. Die gnostische Gleichsetzung von Wissen und Erlösung hat in der abendländischen Alchemie ihre deutlichen Spuren hinterlassen: Gleich wie in der Gnosis wird in der Alchemie dem erstrebten Wissen eine erlösende Funktion zugesprochen und dieses aktiv gewonnene Wissen wird durch die Gnade des Gottes gewährt. Dennoch ist die Alchemie kein Ableger der antiken Gnosis. Denn im

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Diese Machbarkeit von Wissen barg jedoch auch enormes Konfliktpotential, und zwar in zweifacher Hinsicht: Denn sie stand nicht nur in völligem Gegensatz zum aristotelistischen Ideal der Naturbeobachtung in der scholastischen Naturphilosophie, sondern auch zum (neu-)platonisch geprägten Augustinismus, insofern ein relevanter Schlüssel zur Erlösung tatsächlich auf Erden, und zwar in ihrer Materialität selbst und nicht in ihrer Überwindung zu finden sei. Besonders problematisch war die Machbarkeit von Wissen aber dadurch, dass sie zusehends in Konkurrenz trat mit der einzig legitimen Quelle für heilsgeschichtliches Wissen, nämlich der göttlichen Offenbarung, deren Auslegung in Händen der Kirche lag. Bereits in der scholastischen Naturphilosophie war dieses Problem virulent und kam im Problem der duplex veritas – der doppelten Wahrheit – im Rahmen des sogenannten Averroistenstreites von 1277 zum Ausdruck.30 Widersprachen menschliche Vernunft, Erfahrungen und Beobachtungen der christlichen Dogmatik, wurde dadurch die Existenz eines einzigen, ontologisch-göttlichen Wahrheitsbegriffs in Frage gestellt. Dieser für die Macht des Klerus gefährliche Konflikt konnte, wie Anneliese Maier darlegt hat, in den folgenden Jahrhunderten durch eine Hierarchisierung von menschlichem Vernunftswissen und göttlichem Offenbarungswissen einigermaßen befriedet werden.31 Während der göttlichen Offenbarung der Status der certitudo zuerkannt wurde, mussten

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Gegensatz zur Gnosis strebt sie naturphilosophisches Wissen an, das die Signatur des Schöpfergottes trägt. Die Materialität der Welt erscheint dem Alchemiker zwar wie dem Gnostiker in ihrem So-Sein der Erlösung entgegenzustehen, aber für den Alchemiker ist Materie nicht durchweg böse und verachtenswert, sondern erlösungsfähig (Hans-Werner Schütt: Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie. München 2000, S. 109). Der Gnostiker will die Materialität der Welt mit seinem Wissen endgültig überwinden, um zum Göttlich-Einen vorzudringen. Der Alchemiker will hingegen die Welt mit seinem Wissen in ihre finale materiale Perfektion treiben, die in ihr als gewissermaßen heilsgeschichtlicher Samen bereits angelegt ist. Allerdings ist das Erlösungsversprechen, das Wissen in sich birgt, recht ambivalent, da es im Christentum ja auch dezidierte Wissensverbote gibt und es der Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis war, der zum Sündenfall führte (vgl. Theodore Ziolkowski: The Sin of Knowledge. Ancient Themes and Modern Variations. Princeton 2000). Den Höhepunkt dieser Ambivalenz einer felix culpa – die sich schon im paulinischen Römerbrief abzeichnet, wenn im Sündenfall die Voraussetzung für das Erlösungswerk Jesu Christi erkannt wird (vgl. 1 Römer 5,12-21) – markiert vermutlich Schillers euphorische Deutung des Sündenfalls „die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte“, weil der Mensch erst in der Erkenntnis seiner selbst zum Menschen wurde (Friedrich Schiller: Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde [1790]. In: Sämtliche Werke. Hg. von Albert Meier. 5 Bde. Bd. IV: Historische Schriften. München 2004, S. 767-783, hier S. 769). Vgl. Ludwig Hödl: „… sie reden, als ob es zwei gegensätzliche Wahrheiten gäbe.“ Legende und Wirklichkeit der mittelalterlichen Theorie von der doppelten Wahrheit. In: Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen. Hg. von Jan P. Beckmann. Hamburg 1996, S. 225243. Vgl. Anneliese Maier: Das Prinzip der doppelten Wahrheit. In: Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik. Ed. di Storia e Letteratura. 5 Bde. Bd. V: Metaphysische Hintergründe der spätscholastischen Naturphilosophie. Rom 1955, S. 3-44.

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sich die mittels der menschlichen Vernunft induktiv gewonnenen Erkenntnisse mit dem Rang der probabilitas, der Wahrscheinlichkeit, begnügen, da der Mensch in seiner Erkenntnisfähigkeit den göttlichen Offenbarungen unterlegen war. In dieser Hierarchisierung blieb das Problem der vehement bekämpften duplex veritas jedoch unterschwellig präsent. Denn mit der sukzessiven Aufwertung der menschlichen Vernunft trat in der Renaissance und der Frühen Neuzeit die vernunftbasierte Naturphilosophie nach und nach als gleichwertig mit der Exegese auf. Die duplex veritas wurde „immer mehr zum Deckmantel, unter dem man glaubenswidrige Thesen verteidigen konnte, ohne sich offen zu ihnen bekennen zu müssen“32. Der in der Wissenschaftsgeschichte sicherlich bekannteste Fall, in dem dieser Konflikt zwischen Offenbarungswissen und Vernunftswissen aufbrach, ist der von Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei: Im stillschweigend beigefügten und anonym verfassten Vorwort der erst im Todesjahr von Kopernikus 1543 erschienenen Schrift De revolutionibus orbium coelestium schreibt der Herausgeber Alexander Osiander, dass das heliozentrische Weltbild ein mathematisches Modell sei und keinen Anspruch erhebe, die Wirklichkeit zu beschreiben.33 Sein Ziel war es, Konflikte mit der Inquisition zu vermeiden. Tatsächlich gerät das kopernikanische Hauptwerk erst 1616 – und zwar im Zuge der Vorwürfe gegen Galileis Arbeiten zum heliozentrischen Weltbild – ins Visier der Inquisition.34

2. Der paracelsistische Elias artista ist genau in dem Konflikt zu verorten, wo sich die menschliche Vernunft mit der göttlichen Offenbarung auf gleicher Ebene zu positionieren beginnt. Denn mit der menschlichen Kunstfertigkeit als Mittel legitimer Wissensproduktion gewinnt nach und nach ein neuer Aspekt an Bedeutung, nämlich der Mensch als Schöpfer von Wissen im Rahmen der Nachahmung und Perfektionierung von Natur; ein Wissen, das sich im praktischen Experimentieren materiell manifestiert. In eschatologischer Hinsicht kollabiert damit der Unterschied zwischen den Produkten der göttlichen Natur und der menschlichen Kunst: Denn beide tragen die Signatur der göttlichen Schöpferkraft und werden gleichwertig in der christlichen Heilsgeschichte situiert,

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Maier: Das Prinzip der doppelten Wahrheit ( wie Anm. 31), S. 42f. Vgl. Martin Carrier: Nikolaus Kopernikus. München 2001, S. 86, 131 et passim. Glaubenswidrige Thesen unter dem Deckmantel der duplex veritas zu verteidigen, darf jedoch nicht fälschlicherweise als verkappte Säkularisierung verstanden werden. Denn es ging nicht darum, die göttliche Offenbarung gezielt in Widerspruch mit der menschlichen Vernunft zu setzen oder sie aus den Erkenntnissen der Vernunft zu verbannen. Wenn diese Frage offen diskutiert wurde, ging es wie in der Physikotheologie eher darum, die Erkenntnisse menschlicher Vernunft dergestalt in den Glauben zu integrieren, sodass sie essentieller Teil und tragfähiges Fundament des christlichen Glaubens werden konnten. Es müssen in diesem Zusammenhang also Konflikte zwischen menschlicher Vernunft und göttlicher Offenbarung von Konflikten mit der kirchlichen Deutungshoheit klar unterschieden werden.

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weswegen die befriedigende Hierarchie der duplex veritas versagt und eine „Umwandlung des ontologischen Wahrheitsbegriffs“35 im Zwiespalt von Vernunfts- und Offenbarungswissen erforderlich wird. Denn der Mensch schwingt sich gewissermaßen zum homo secundus Deus auf, dem im göttlichen Heilsplan eine aktive Rolle zukommt. Der geistesgeschichtliche Hintergrund für diesen eschatologischen Wandel, in dem der aktiv-schöpferische Mensch an die Stelle der augustinischen passiven Gnadenerwartung tritt, wird besonders deutlich in den dignitas-Traktaten der Renaissance.36 Marsilio Ficino fasst die Bedeutung des naturschöpferischen homo secundus Deus in seiner Theologia Platonica wie folgt zusammen: Und, was fabelhaft ist, die menschlichen Künste stellen selber her, was immer die Natur selbst erschafft, so daß wir keine Diener der Natur zu sein scheinen, sondern vielmehr Konkurrenten. [...] Die Macht des Menschen ist fast so groß wie die der göttlichen Natur, da der Mensch mit Hilfe seiner Gedanken, seiner Intelligenz und seines Geschicks sich selbst regiert, ohne im geringsten von seiner physischen Natur eingeschränkt zu werden, und die individuellen Werke der Höheren Natur imitiert. [...] In diesen Handwerken mag beobachtet werden, wie der Mensch überall sämtliche Materialien des Universums nutzt, als wären sie alle vom Menschen abhängig. Ich sage, er nutzt die Elemente, die Steine, Metalle, Pflanzen und Tiere und verwandelt sie in zahlreiche Formen und Figuren, was Tiere niemals tun. [...] Universelle Vorsehung ist angemessen für Gott, der die universelle Ursache ist. Daher ist der Mensch, der für alle belebten und nicht belebten Dinge umfassend sorgt, gewissermaßen ein Gott. [...] Schließlich ist er der Gott aller Materialien, da er sie alle bearbeitet und sie wendet und ändert. Jeder, der den Körper in so vielen und so großartigen Dingen beherrscht und als der unsterbliche Vikar Gottes handelt, ist ohne Zweifel unsterblich.37

Dieses naturphilosophische Wissen, das der Mensch in seiner Göttlichkeit erringen kann und das paradigmatisch in der Wissensfigur des Elias artista zum Ausdruck kommt, ist eschatologisch aufgeladen und im Kontext einer, so könnte man sagen, mythischen Epistemologie zu situieren: Denn sowohl (1) die Bibel als auch (2) antike Texte als Quelle außerbiblischer Weisheit aus vermeintlich (prae-)mosaischen Zeiten stellen für die Alchemie die wichtigsten Bezugspunkte dar: (1) Von besonderer Bedeutung ist im Alten Testament Gen 2,19-20: Gott führt Adam die Tiere vor, damit er ihnen Namen gibt. In seiner paradiesischen Weisheit (sapientia adamica) erkennt Adam die Tiere in ihrem tatsächlichen So-Sein und kann für sie Namen finden, die ihrem von Gott

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Vinzenz Rüfner: Homo secundus Deus. Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 63.2 (1955), S. 248-291, hier S. 272. Zu den dignitas-Traktaten der Renaissance vgl. August Buck: Die Rangstellung des Menschen in der Renaissance: dignitas et miseria hominis. In: Archiv für Kulturgeschichte 42 (1960), S. 61-75. Explizit Bezug genommen auf den dignitas-Traktat von Pico della Mirandola hat der Paracelsist Oswald Croll: Von den innerlichen Signaturn / oder zeichen aller Dinge Oder Von der wahren und lebendigen Anatomia der grossen und kleinen Welt [1609]. Beigefügt in: Basilica Chymica oder Alchymistisch Königlich Kleiynod […]. Franckfuhrt 1623, S. 51. Ficino zit. nach der dt. Übersetzung in Dieter Groh: Göttliche Weltökonomie. Perspektiven der Wissenschaftlichen Revolution vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. Berlin 2010, S. 108ff.

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geschaffenen Wesen vollständig entsprechen. Die sapientia adamica zeichnet sich somit durch eine „unmittelbare Gegenstandserkenntnis“38 aus, in der Wort und Ding noch vollkommen übereinstimmen, wodurch die Erkenntnis der göttlichen Ordnung der Natur gewährleistet wird.39 Der Verlust dieser im Menschen eigentlich vollständig angelegten Erkenntnisfähigkeit hängt mit dem Sündenfall zusammen, den es nun zu überwinden gilt. (2) Im Zusammenhang mit der Alchemie ab der Renaissance kam vor allem noch dem von Marsilio Ficino übersetzten Corpus hermeticum (1471) eine herausragende Bedeutung zu, dessen Urheberschaft dem mythischen Hermes Trismegistos zugeschrieben wurde.40 Beim Corpus hermeticum handelt es sich um (je nach Zählung) 18 kultische Texte mit ägyptisch-neuplatonischen, griechischen, persisch-babylonischen und jüdischen Einflüssen, die in der Zeit von ca. 100 bis 300 n. Chr. entstanden sind. In Gesprächen oder Predigten, die eine alte Weisheit (prisca philosophia) in sich bergen, geht es vor allem der Entstehung des Kosmos und den damit in Verbindung stehenden spirituellen Kräften sowie der Vereinigung des Menschen mit Gott.41 In einer seit dem paradiesischen Sündenfall in Verfall begriffenen Welt konnten sapientia adamica und prisca philosophia als mythische und außerhalb des zeitlichen Verfalls stehende Fluchtpunkte somit die konsistente Einheit eines in sich geschlossenen Universalwissens garantieren (auch wenn die Auslegung der Schriften heftig umstritten war) und in der Formulierung alchemischer Ziele – wie der Transmutation unedler Metalle in Gold oder der Herstellung medizinischer Allheilmittel – unter Verweis auf den mythischparadiesischen Ursprung des Menschengeschlechts eine herausragende Rolle spielen. Einerseits kann in der Alchemie das durchaus auf Innovationen abzielende Moment im praktischen Experimentieren hervorgehoben werden, in dem neue Verfahrenswei-

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Hartung: Das chymische Laboratorium (wie Anm. 5), S. 238. Damit hängt die sapientia adamica mit der lingua adamica unmittelbar zusammen. Jede spätere Suche nach dieser vollkommenen adamitischen Ursprache, die Generationen von Theologen, Philologen und Naturphilosophen beschäftigte, nimmt ihren Anfang bei eben jener Benennung der Tiere durch Adam (vgl. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. Übers. von Burkhard Kroeber. München 1994, S. 21-26). Auch Paracelsus nimmt in der Ausarbeitung seiner Signaturenlehre Bezug auf die sapienta adamica (Paracelsus: Die 9 Bücher de Natura rerum [wie Anm. 8], S. 397f.). Zum Corpus Hermeticum vgl. die erste vollständig übersetzte u. kommentierte Ausgabe von Carsten Colpe/Jens Holzhausen (Hgg.): Das Corpus Hermeticum Deutsch. Übersetzung, Darstellung und Kommentierung in drei Teilen. Übers. von Jens Holzhausen. Teil 1-2, Teil 3 in Vorb. (Clavis Pansophiae, Bd. 7.1-7.3) Stuttgart-Bad Cannstatt 1997. Hervorgegangen ist die mythische Figur Hermes Trismegistos aus der Verschmelzung des ägyptischen Gottes Thot (seit ca. 1500 v. Chr. Gott der Weisheit und Schöpfer von Himmel und Erde) mit dem griechischen Hermes (Sohn von Zeus und Maia) im synkretistischen Umfeld des Hellenismus (ca. 3. Jahrhundert v. Chr.). Seinen Beinamen Trismegistos (der Dreimalgrößte) erhielt er aber erst im 1. Jahrhundert nach Christus von Philon von Byblos (vgl. Florian Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus. Vorw. von Jan Assmann. München 2005). Vgl. Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos (wie Anm. 40), S. 88; Kurt Rudolph: Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion. 2. Aufl. Göttingen 1980, S. 143.

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sen, neue Techniken und neue Geräte entwickelt wurden. Andererseits wurde diese innovative materiale Offenheit der Praxis begrenzt, da die mythische Epistemologie, die einen paradiesischen Wissensstand verhieß, sie in ihrer jeweiligen Bedeutung und Relevanz maßgeblich strukturierte. Die hier zutage tretende Paradoxie zwischen der progressiven Offenheit auf praktisch-materialer Ebene und der Geschlossenheit einer ersehnten Rückkehr in paradiesische Zustände lässt sich zugespitzt als zeitphilosophisches Problem reformulieren, nämlich dass im Experiment neu gewonnene Erkenntnisse auf vergangene mythisch-paradiesische Zustände verweisen, die in einer verfallenden Welt zugleich als künftiges und finales Ziel vor Augen stehen.42 Diese Paradoxie löst sich jedoch im Kontext christlicher Eschatologie auf: Die irdische Zeit ist im Christentum eine Zeit zwischen zwei Polen des Ewigen: Historie als endliche Interimszeit zwischen Ewigkeit von absolutem Anfang und absolutem Ende, zwischen Paradies und Jüngstem Gericht.43 Ziel des göttlichen Heilsplans ist eben die Vollendung und Erlösung der Welt in der Offenbarung am Ende der Zeiten.44 In diesem Sinne gibt der Entwurf einer mythischen Epistemologie einen entscheidenden Schlüssel für die Annäherung an alchemische Texte an die Hand. Bei genauer Betrachtung offenbaren sich jedoch auch ihre Grenzen. Bereits im 16. Jahrhundert – also noch bevor Isaac Casaubon 1614 den nachchristlichen Ursprung der hermetischen Texte nachwies und damit den Mythos (prae-)mosaischer Weisheit zerstörte – regten sich Zweifel bezüglich deren historischen Authentizität.45 Und die Benennung der Tiere

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Allerdings handelt es sich bei Rückkehr in paradiesische Zustände um keine zeitlich zirkuläre Vorstellung, die der christlichen Theologie fremd sein muss, sondern um eine Vollendung des Schöpfungsplans, was also einen neuen Zustand beschreibt. Im Rahmen einer zirkulären Vorstellung würde Christus, der sich für das Seelenheil der Menschen geopfert hat, umsonst gestorben sein. Eine Sonderstellung nimmt das Fegefeuer ein. Dort gibt es im Gegensatz zu Himmel und Hölle, wo eine immerwährende Ewigkeit herrscht, eine klar bestimmbare und messbare Zeit, die der Sünder in den reinigenden Flammen verbüßen muss, um anschließend in den Himmel aufsteigen zu dürfen. Damit ist das Fegefeuer – aus zeitphilosophischer Sicht – ein Hybrid zwischen Diesund Jenseitigem, wird aber aufgrund des bereits eingetretenen Todes und der gesicherten Weiterfahrt in den Himmel meist dem Himmel zugerechnet. Zur Geschichte des Fegefeuers vgl. Jacques LeGoff: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter. Übers. von Ariane Forkel. Stuttgart 1984. Vgl. Herbert Vorgrimler: Hoffnung auf Vollendung. Aufriß der Eschatologie. Freiburg u. a. 1980. In diesem Sinne bildet die christliche Heilsgeschichte die Voraussetzung eines geschichtsphilosophischen Denkens, das dem antiken Denken eines ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen noch fremd war (vgl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie [1953]. Stuttgart 2004). Vgl. Martin Mulsow (Hg.): Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance. Dokumentation und Analyse der Debatte um die Datierung der hermetischen Schriften von Genebrard bis Casaubon (1567-1614). Tübingen 2002 und ders.: Ambiguities of the “Prisca Sapientia” in Late Renaissance Humanism. In: Journal of the History of Ideas 65.1 (2004), S. 1-13.

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durch Adam bot derart vielfältige Spielräume, dass die Suche nach der sapientia adamica sich in völlig unterschiedliche, von sozio-politischen Interessenslagen geprägte Richtungen entwickelte46, d. h. also keineswegs ein sich konsistentes Universalwissen hervorbrachte. Gewisse Unsicherheiten ergaben sich aber auch durch die nicht nur in der mechanistischen Naturphilosophie wachsende Erkenntnis, dass man es zusehends mit Wissen zu tun hatte, das sich nicht einfach auf vergangene Zeiten rückbeziehen ließ, sondern als genuin neues Wissen anerkannt werden musste.47 Hier zeichnete sich also bereits ein Streit über die Hegemonie alten oder neuen Wissens an, der als Querelle des Anciens et des Modernes in Frankreich gegen Ende des 17. Jahrhunderts seinen diskursiven Höhepunkt erreichen sollte.48 Es war diese prekäre Mischung aus dem spirituell-mythisch aufgeladenen Überbau einerseits und den progressiv-praktischen Dimensionen alchemischen Experimentierens andererseits, in der schließlich Francis Bacon die methodische Schwäche der Alchemie erkannte und gegen die er sich im Entwurf seiner Experimentalphilosophie auflehnte. For the Alchemist nurses eternal hope, and when the thing fails, lays the blame upon some error of his own; […] (whereupon he turns to tradition and auricular whispers), or else that in his manipulations he has made some slip of a scruple in weight or a moment in time (thereupon he repeats his trials to infinity); and when meanwhile among the chances of experiment he lights upon some conclusions either in aspect new or for utility not contemptible, he takes these for earnest of what is to come, and feeds his mind upon them, and magnifies them to the most and supplies the rest in hope. Not but that Alchemists have made a good many discoveries, and presented men with useful inventions.49

Der mythischen Tradition und dem geheimnisvollen Geflüster in der Alchemie stellt Bacon seine Experimentalphilosophie gegenüber, in der sich der Experimentator allein von seinen Sinnen leiten lässt – „starting directly from the simple sensuous per-

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Vgl. Eco: Vollkommene Sprache (wie Anm. 39); Maurice Olender: The Languages of Paradiese. Race, Religion, and Philology in the Nineteenth Century. Übers. von Arthur Goldhammer. Cambridge, Mass. 1992. Die ungeheure Macht antiker Autorität illustriert eine Anekdote aus der Anatomiegeschichte: Jacobus Sylvius hat die auf Basis umfassender Sektionen gewonnenen Erkenntnisse seines Schülers Andreas Vesalius (De humani corporis fabrica, Basel 1543) mit dem Vermerk abgelehnt, der menschliche Körper reiche inzwischen eben einfach nicht mehr an die antike Perfektion heran. Die Gültigkeit der Galen’schen Überlieferung sah Sylvius trotz abweichender Sektionsergebnisse also nicht in Frage gestellt (vgl. Roy Porter: The Greatest Benefit to Mankind. A Medical History of Humanity from Antiquity to the Present. London 1997, S. 171). In Abgrenzung zur Festlegung der Querelle auf diesen Zeitraum hat August Buck auf ihre Omnipräsenz hingewiesen, insofern „die ‚Querelle‘ ein konstantes Phänomen der europäischen Geistesgeschichte darstellt, das jeweils dort begegnet, wo ‚antiqui‘ und ‚moderni‘ einander gegenübergestellt werden und sich dabei das Selbstbewußtsein der Nachantike gegen die Autorität der Antike auflehnt.“ (August Buck: Die „Querelle des Anciens et des Modernes“ im italienischen Selbstverständnis der Renaissance und des Barock. Wiesbaden 1973, S. 6). Bacon: The New Organon (wie Anm. 5), S. 84.

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ception“50 – und so zu neuen naturphilosophischen Ansätzen auf festem Fundament gelangt. Der alchemischen Naturphilosophie, die durch die mythische Epistemologie, ihre Metaphysik beschränkt werde, stellt Bacon seine offene Epistemologie empirischer Induktion gegenüber, die frei von spirituell-mythischen Spekulationen allein auf die geordnete Materialität der Welt und auf die Sinne vertrauen soll. Das Misslingen eines geplanten Experiments sollte also nicht länger – wie noch in der Alchemie – als moralischer Mangel des Adepten ausgelegt werden können, sondern das Scheitern selbst gab schon Auskunft über die tatsächliche Verfasstheit der Natur. Es ist bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen worden, dass Bacons Abkehr von der Alchemie nicht so radikal verlief, wie es seine eigenen Worte nahelegen.51 An dieser Stelle ist aber eine andere Frage von größter Bedeutung: Wenn die Machbarkeit naturphilosophischen Wissens die Alchemie als eine vorfrühneuzeitliche Experimentierkunst auszeichnet, wie verändert sich Wesen und Status dieses experimentell gewonnenen Wissens im Übergang zur Experimentalkultur Bacon’scher Provenienz? Erst mit Blick auf die Erwartung, die mit der experimentellen Machbarkeit von Wissen konkret verbunden ist, kann die Frage nach der entscheidenden Differenz mythischer und offener Epistemologie untersucht werden. Diese Differenz tritt – wie ich zeigen möchte – in der Unterscheidung zwischen Apokalypse und Utopie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts deutlich zutage.52 Im nächsten Abschnitt wird diese Differenz anhand eines Vergleichs der apokalyptischen Idealgemeinschaft Christianopolis (1619) von Johann Valentin Andreae mit der Wissensutopie Neu-Atlantis (posthum 1627) von Francis Bacon aufgezeigt.

3. Das apokalyptische Moment experimenteller Wissenserzeugung – wie in der Wissensfigur des Elias artista paradigmatisch angelegt – nimmt in den anonym verfassten Rosenkreuzermanifesten eine zentrale Stellung ein, die dem protestantischen Theologen Johann Valentin Andreae (1586-1654) und seinem Umfeld zugeschrieben werden. Die Fama fraternitatis (1614) setzt mit der Freude darüber ein, dass der gnädige Gott in den letzten Tagen sein Gnad und Güte so reichlich über das Menschliche Geschlecht außgegossen, daß sich die Erkantnuß beydes seines Sohns und der Natur, je mehr und mehr erweitert, und wihr uns billich einer glücklichen zeit rühmen mögen, [...] und dann hocherleuchtete Ingenia auffstehen lassen, die zum theil die verunreinigte unvolkommene Kunst

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Bacon: The New Organon (wie Anm. 5), S. 40. Vgl. Stanton J. Linden: Francis Bacon and Alchemy: The Reformation of Vulcan. In: Journal of the History of Ideas 35/4 (1974), S. 547-560 sowie Bernard Joly: Francis Bacon, réformateur de l’alchimie: tradition alchimique et invention scientifique au début du XVIIe siècle. In: Revue philosophique de la France et de l’étranger 128/1 (2003), S. 23-40. Vgl. Braungart: Apokalypse und Utopie (wie Anm. 24).

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wieder zu recht brächten, damit doch endlich der Mensch seinen Adel und Herrlichkeit verstände, welcher gestalt er Microcosmus, und wie weit sich seine Kunst in der Natur erstrecket.53

In der Confessio fraternitatis wird ein Jahr später das Argument von der umfassenden Verfügbarkeit neuen religiösen wie naturphilosophischen Wissens wieder aufgegriffen: Nach der jetzt bevorstehenden Wiedererlangung der einst im Sündenfall verlorenen sapientia adamica werde die Apokalypse in Kürze einsetzen. Darauff nun müssen wihr noch diß eintzige Stück euch wohl bewehren / o jhr Menschenkinder / wie daß nemblich Gott der Allmächtige und wunderbare beschlossen habe / der Welt / so nicht lange danach vergehen soll / die Warheit / das Liecht und alte würdigkeit wieder zugeben / gestalt er dieselben mit Adam auß dem paradeiß wandern heissen, dem menschen sein bitter Elend zuversüssen.54

In der Chymischen Hochzeit des Christian Rosencreutz (1616) fließen schließlich Wissenszuwachs und Apokalypse im Kontext der Alchemie unmittelbar zusammen.55 Die paracelsistische Wissensfigur des Elias artista kann in einen Kontext mit den Rosenkreuzermanifesten gestellt werden, obwohl sie dort nirgends ausdrückliche Erwähnung findet. Aber neben dem Aufgreifen der zentralen Argumente verweist noch eine der ersten Antworten auf die Fama fraternitatis auf diesen Zusammenhang. Bereits 1612, als die Fama fraternitatis vor ihrer Publikation noch unter der Hand zirkulierte, veröffentlicht Adam Haslmayr (ca. 1555-1630) aus Hall, äußerst bewandert in der Alchemie, seine Antwort An die lobwürdige Brüderschafft der Theosophen von RosenCreutz, in der er die Bedeutung der Fama fraternitatis wie folgt begreift: Drauß wir die grosse trew / Lieb unnd milte Barmherzigkeit Gottes / auch disen lesten zeiten / so reichlich sich durch ewre Theophrastiam un Gottes geschenck / herfürgebende / vernemen / und wol grundtlich zu verstehn haben / wie Gott die seinen so wunderbarlich von zeit zu zeit auff behalte und herfürgeben wans ihm gelegen ist.[...] also das sich die erkandtnuß / beydes seines Sohns und der Natur / je mehr und mehr / als ihr begert und meldet / erweitern möge / [...] bey der zeit deß Imperii Spiritus Sancti, oder Libertatis Euangelij; von der ihr meldet / darinn nicht allein der halbe der unbekanten unnd verborgnen Welt / sonder viel wunderliche / unnd zuuor nie gesehne werck und gschöpff der Natur / von Kreuttern / Thier unnd edlen Steinen oder Metallen angezeigt unnd gefunden werden / [...] und durch die eingerißnen Finsternussen unnd dicken Neblen / die uns das Liecht verdecken / hindurch zu arbeyten / [...] So spüren und schliessen wir / das ihr diejenigen nun von Gott erkoren seyt / die die ewige Theophrastiam unnd Göttliche warheit erweitern solten / wunderbarlicher weiß biß hieher reseruiert, villeicht auff die zeyten deß gephrophetierten Eliae Artistae zu achten, weilen er Theophrastus / in seinen Prophetia [...] meldet / [...] drauff nun der Allmächtige Gott kompt

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Johann Valentin Andreae: Rosenkreuzerschriften. Bearb., übers., komm. und eingel. von Roland Edighöffer. In: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann. StuttgartBad Cannstatt 2010, S. 139. Ebd., S. 213. Vgl. Sibylle Rusterholz: Alchemie und Dichtung. Johann Valentin Andreaes Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz. Anno 1459. In: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 17 (2007), S. 85-113.

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(mit seinen Priestern von R.C.) auff das die Welt sehe / das all ihr Weyßheit bisher nichts vor Gott sey gwest / als ein Thorheit und Theophrasti Doctrin, gerecht und ohne macel, floriern muß / in ewigkeit mit den weysen Gottes.56

Ganz im Zeichen des Elias artista – den Haslmayr in der Bruderschaft der Rosenkreuzer verkörpert findet – geht das unmittelbar bevorstehende Reich umfassender Naturerkenntnis mit der die Vollendung des göttlichen Schöpfungsplanes einher, und zwar auf Basis der forschenden Aktivität, sich durch die Finsternis und Nebel, welche die Erkenntnis behindern, hindurchzuarbeiten.57 Auf vielleicht elaborierteste Weise findet dieses apokalyptisch-paradiesische Denken im Zeichen rosenkreuzerischen Denkens seinen politischen Ausdruck 1619 in Andreaes Idealgemeinschaft Christianopolis.58 Ein Schiffbrüchiger strandet an der Küste der Insel Capharsalama (nach 1 Makk. 7,31; „Dorf des Friedens“), auf der sich die Stadt Christianopolis befindet. Dort finden die Fremden eine ideale Gesellschaft vor, in der christlicher Glaube und Nächstenliebe, Wissenschaft und Technik eine perfekte Symbiose eingehen. Handwerk und experimentelle Naturforschung fungieren hier gewissermaßen als „natürlicher Gottesdienst“.59

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Adam Haslmayr: Antwort An die lobwürdige Brüderschafft der Theosophen von RosenCreutz [1612]. Faksimile der Erstausgabe in: Carlos Gilly: Adam Haslmayr. Der erste Verkünder der Manifeste der Rosenkreuzer. Amsterdam 1994, S. 69-80. Sein öffentliches Bekenntnis zur Rosenkreuzerbewegung bescherte Adam Haslmayr – insbesondere auf Betreiben seines größten Widersachers, des Tiroler Jesuiten Hippolyt Guarinoni aus Hall – einen mehrjährigen Strafdienst auf einer Galeere im Mittelmeer (vgl. Peuckert: Die Rosenkreutzer [wie Anm. 12], S. 395; Gilly: Adam Haslmayr [wie Anm. 56], S. 32-60). Bereits der ersten Auflage der Fama fraternitatis (1614) ist die Responsion Haslmayrs beigefügt. Die Vorstellung eines diesseitigen irdischen Paradieses der Erkenntnis und des Glaubens – das zwar schon Teil der Apokalypse ist, aber zeitlich noch vor dem Jüngsten Gericht liegt –, dieses Imperium Spiritus Sancti, geht zurück auf die trinitarische Geschichtstheologie von Joachim von Fiore (ca. 1130-1201), wonach auf das Zeitalter des Vaters (Alter Bund), des Sohnes (Neuer Bund) das des Heiligen Geistes auf Erden kommen werde. Eingeläutet wird dieses vollkommene Zeitalter von dem Propheten Elias: „Wenn also mit dem Kommen des Elias das Zeitalter der geistigen Erkenntnis anbricht, dann tritt das verborgene Innere der christlichen Religion in das helle Licht der geistigen Schau, dann wird die Erkenntnis von den äußeren Dingen weg nach innen gezogen, wo der Geist wohnt. Dann wird der Schleier vom Alten und Neuen Testament weggehoben, dann werden die Rätsel der Offenbarung tiefer, innerer angeschaut, und ‚alle Geheimnisse und alle verborgenen Gerichte, über die sich die Menschen in diesem gegenwärtigen Leben wundern, werden für alle unverhüllt sein an jenem Tage‘.“ (Ernst Benz: Ecclesia spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der franziskanischen Reformation. Stuttgart 1934, S. 18; vgl. Öhler: Elia im Neuen Testament [wie Anm. 18]). Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Von Damcar nach Christianopolis. Andreaes ‚Christianopolis‘ als Verwirklichungskonzept der Rosenkreuzerideen. In: Rosenkreuz als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert. Hg. von der Bibliotheca Philosophica Hermetica. Amsterdam 2002, S. 105-132. Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. 2 Bde. (Studien zur deutschen Literatur 64) Tübingen 1981, S. 265; Wolfgang Braungart: Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur Frühen Aufklärung. Stuttgart 1989, S. 128.

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Denn im „künstlerischen Wettstreit“, so Andreae, bekomme „der in uns verbliebene göttliche Funke […] die Möglichkeit [...], in jedem uns verfügbaren Material herrlich hervorzuleuchten“.60 Dass der göttliche Funke in einem nach naturphilosophischen Kriterien geführten künstlerisch-experimentellen Wettstreit im irdischen Material hervorleuchten kann, ist hier das alchemische Argument Andreaes im Sinne des Elias artista. In Christianopolis entfaltet sich die menschliche Schöpferkraft als Wissensproduzent im praktischen Experimentieren, und zwar epistemologisch eingebettet in eine mythische Epistemologie, in der sich die Ordnung des göttlichen Schöpfungsplans – ausgefaltet in die Materialität der Welt – als sapientia adamica re-offenbart. Mit Christianopolis gewährt Andreae einen Einblick in die Perfektion einer vollkommenen christlichen Gemeinschaft, in der Staat und Religion symbiotisch ineinander aufgehen. Hier sind die Fähigkeit des Menschen, heilsgeschichtlich relevantes Wissen zu produzieren, und das apokalyptische Moment der Finalität allen Wissens, das den paradiesischen Zustand allererst ermöglicht, gleichsam vereint. Denn praktisches Experimentieren zielt in Christianopolis nicht mehr auf die Lösung bestehender Probleme, die allgemeine Besserung der Lebensumstände oder die sachbezogene Naturerkenntnis – das scheint alles bereits nicht mehr notwendig zu sein –, sondern Forschung wird eben als „natürlicher Gottesdienst“ im Sinne göttlicher Offenbarung umgehend transzendiert. Beim Abschied des Schiffbrüchigen am Ende von Christianopolis heißt es dann auch – gewissermaßen als Auftrag für die außerhalb von Christianopolis noch nicht vollkommene Welt – mit klar apokalyptischem Bezug: Laßt uns das verlorene Paradies bejammern und seine Wiederherstellung herbeisehnen! Denn wie wir die Dinge der Natur jetzt noch unter mangelhaftem Lichte sehen, so wird uns durch das Holz des Kreuzes das Gesicht einst wiedergegeben, und wir werden alle Dinge nicht nur oberflächlich, sondern in ihrem Innersten schauen.61

Ganz im Sinne des Elias artista-Gedankens verbinden sich bei Andreae also menschliche Kunstfertigkeit, Natur, Wissen und Heilsgeschichte. Doch trotz dieser eindeutig apokalyptischen Motive handelt es sich bei Andreaes Schrift letztlich um keinen rein apokalyptischen Text, sondern er weist mit seiner staatlichen Organisation zugleich deutlich utopische Züge auf. Befreit von den Widrigkeiten des täglichen Lebens scheint Christianopolis einerseits nur noch einen Steinwurf von der gnadenvollen Erlösung entfernt (apokalyptisch), aber in stoischer Erwartung darauf andererseits auch schon fast in seiner staatlichen Regelhaftigkeit erstarrt zu sein (utopisch): Wo bereits ideale Zustände herrschen, kann es keine gesellschaftliche Entwicklung mehr geben, die sich nicht in der umgehenden Transzendierung vollends erschöpfen würde. Aus eschatologischer Sicht erscheint Christianopolis damit nahezu als postapokalyptisches Paradies – in seiner stringenten staatlichen Verfasstheit allerdings ohne wirklich finale Erlösung.

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Johann Valentin Andreae: Christianopolis. Hg. und übers. von Wolfgang Biesterfeld. Stuttgart 1996, S. 32f. Ebd., S. 132.

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Das ideale Individuum wird in Christianopolis vollständig vom perfekten Gemeinwesen assimiliert, wodurch zwischenmenschliche Konflikte grundsätzlich vermieden werden. Jedes Individuum fügt sich in seiner äußerst klar geregelten Tätigkeit nahtlos in die ideale Gemeinschaft ein, d. h. Individualität definiert sich hier nicht aus persönlichen Zielen, Wünschen, Absichten und Eigenheiten, die auch im Widerspruch zum Gemeinwesen stehen könnten, sondern einzig aus der zugewiesenen gesellschaftlichen Funktion. Jeder Einfluss von außen stellt eine potenzielle Bedrohung für das genau austarierte Gemeinschaftsleben dar und muss deshalb entweder ganz verhindert oder zumindest schärfstens überprüft werden. Deshalb wird der Schiffbrüchige auch einer strengen sittlichen, körperlichen und geistigen Überprüfung unterzogen, bevor er die Gemeinschaft überhaupt betreten darf. Ein Abgleiten dieser postapokalyptischen Idealgemeinschaft in die Dystopie, in der sich die ideale Gesellschaft als totalitär gegenüber dem Individuum erwiese, kann nur dadurch vermieden werden, dass sich der Schiffbrüchige voller uneingeschränkter Begeisterung unterwürfig in alle Bereiche der Idealgemeinschaft fügt. Dabei erfüllt er paradoxerweise zugleich eine wichtige Funktion auf narrativer Ebene, da nur aus seiner Sicht als unvollkommenes Wesen Christianopolis für den Leser überhaupt Gestalt annehmen kann.62 Am Ende verlässt der Schiffbrüchige die Stadt Christianopolis wieder und bleibt so als Individuum – mit dem zutiefst empfundenen Auftrag, es künftig den Einwohnern auf Christianopolis gleichzutun – in der Rückkehr in die eigene, unvollkommene Welt erhalten. Diese Annihilierung des Individuellen zugunsten idealer Kollektivität, die das Sozialleben von Christianopolis auszeichnet, spiegelt sich auch im Verhältnis von Glauben und Wissen wider. Es gibt zwischen ihnen keine Widersprüche, es bedarf keiner vermittelnden Instanz und keiner duplex veritas. Genau das ist der Kern dieser utopischen Idealität, in der sich konkretes experimentelles Wissen reibungslos in den Glauben fügt. Andreaes Idealgemeinschaft steht zwar im Zeichen christlicher Eschatologie und versucht, göttliche Offenbarung mit den experimentellen Praktiken der Wissensproduktion in Einklang zu bringen. Dies gelingt aber nur, indem das experimentelle Wissen in seiner unmittelbaren Transzendierung jedweder materiell-gesellschaftlichen Konkretheit beraubt wird und letztlich folgenlos bleibt. Streng genommen ist Andreae mit seinem Anliegen deshalb letztlich gescheitert, experimentelles Vernunftswissen und göttliches Offenbarungswissen im Rahmen einer idealen christlichen Gemeinschaft auszusöhnen.63 Nur ein Jahr später veröffentlichte Francis Bacon sein Novum Organum (1620), in dem menschliche Vernunft – wie erwähnt auf Basis der leiblichen Sinne – am Beginn jeder experimentellen Forschung stehen sollte. Zwar wurde das Einbetten des experi-

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Vgl. Braungart: Die Kunst der Utopie (wie Anm. 59), S. 21-54. Andreae selbst hat die Gründe für das Scheitern seiner christlichen Reform im Einsetzen des Dreißigjährigen Krieges ausgemacht (vgl. Schmidt-Biggemann: Von Damcar nach Christianopolis [wie Anm. 58], S. 107, 132).

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mentellen Wissens in die christliche Eschatologie nicht gänzlich obsolet, denn selbst in Francis Bacons Konzeption der Instauratio Magna lassen sich apokalyptische Einflüsse im Sinne einer Vollendung des göttlichen Schöpfungsplans nachweisen.64 Aber die Harmonisierung von Glauben und Wissen stellte nicht mehr die zentrale und unmittelbar zu erledigende Aufgabe dar: In Bacons Inselutopie Neu-Atlantis65, die ansonsten zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Andreaes Christianopolis aufweist, wird dies deutlich: Religion ist zwar noch ein wichtiger Aspekt für das Gemeinschaftsleben, aber sie durchdringt nicht mehr alle sozialen Bereiche. Stattdessen steht in Neu-Atlantis die naturphilosophische Forschung an der Spitze des Gemeinschaftslebens. Deren Ergebnisse werden konkret benannt und nicht mehr als göttliche Offenbarungen transzendiert. Es zeichnet sich somit – zumindest in ihrer unmittelbaren Alltäglichkeit – eine gewisse Loslösung der Naturphilosophie von ihren eschatologischen Dimensionen ab, auch wenn sie unterschwellig weiterhin vorhanden sein mögen. Deshalb können andere Aspekte wie die Organisation der konkreten experimentellen Forschung stärker in den Vordergrund treten. Anstatt in ihrer unmittelbaren apokalyptischen Transzendierung aufzugehen, wird experimentelle Naturforschung im Gesamtprojekt der Instauratio magna ausdrücklich zum auf viele Generationen angelegten gesellschaftlichen Gemeinschaftsprojekt erklärt. Man kann von einer ersten Form der Big Science sprechen, die sich hier nicht zuletzt im Zeichen der vom Buchdruck eingeleiteten medialen Umbrüche etabliert. Bezogen auf die gedachte Endlichkeit und Vervollkommnung des Wissens im Rahmen christlicher Eschatologie bedeutet dies, dass das Ende der Zeiten – in den Rosenkreuzermanifesten noch als kurz bevorstehend imaginiert und in Andreaes Christianopolis gleichsam in deren Überschreitung erstarrt – bei Bacon in weite Ferne rückt und damit seinen unmittelbar strukturierenden Einfluss auf die experimentelle Wissensproduktion einbüßt. Mit dem zeitlichen Aufschub der Apokalypse eröffnen sich in Bacons Experimentalphilosophie stattdessen neue Perspektiven für die experimentelle Produktion von Wissen. Ganze Generationen von Forschern können im Rahmen der offenen Epistemologie Bacons naturphilosophisches Wissen langfristig erproben und sammeln. Aus dem Blickwinkel dieses weit in die Zukunft reichenden zeitlichen Spielraums, aus dem Blickwinkel dieser zeitlichen Entgrenzung, die nachhaltige Veränderungen aufgrund individueller Einflüsse grundsätzlich nicht völlig ausschließt, erweisen sich die dystopischen Züge von Neu-Atlantis denn auch nicht ganz so stark ausgeprägt wie noch in Christianopolis. Was sich damit in der Loslösung der Naturphilosophie von ihrer unmittelbaren eschatologischen Ausrichtung in Neu-Atlantis erstmals in Umrissen ab-

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Vgl. Klaus Reichert: In diesem Herbst der Welt. Francis Bacons Begründung der Wissenschaft aus dem Geist der apokalyptischen Verheißung. In: Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit/Ideals and Cultures of Knowledge in Early Modern Europe. Hg. von Wolfgang Detel und Claus Zittel. Berlin 2002, S. 239-257. Vgl. Francis Bacon: Neu-Atlantis [posthum 1627]. In: Der utopische Staat. Hg. und übers. von Klaus J. Heinisch. Reinbek bei Hamburg 1960, S. 171-215.

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zeichnet, ist die moderne Vorstellung eines auf der aktiven Forschertätigkeit des Menschen beruhenden Fortschrittsgedankens.66 In der Geschlossenheit der mythischen Epistemologie, in der wesentlich die Restauration verloren gegangenen Wissens eine wichtige Rolle spielte, stand dieser Gedanke dergestalt noch nicht im Vordergrund. Begreift man nun – wie eingangs erwähnt – die Alchemie als eine Naturphilosophie, welche die experimentelle Machbarkeit von Wissen der Frühen Neuzeit (im Sinne Bacons) auf paradigmatische Weise antizipiert, wird deutlich, dass die entscheidende naturphilosophische Wendung zur Frühen Neuzeit eben nicht im Aufkommen des Experiments an sich zu sehen ist, sondern vielmehr im Stellenwert, das ihm vor dem wirkungsmächtigen Hintergrund der jeweiligen epistemologischen Rahmenbedingen beigemessen wird: Die im Zeichen der Apokalypse stehende Vervollkommnung des Wissens ist latent retrospektiv, insofern sie an vergangene paradiesische Zustände der direkten Verfügbarkeit eines universalistischen göttlichen Offenbarungswissens anzuknüpfen versucht. Die im Zeichen der Utopie stehende Vervollkommnung des Wissens ist hingegen latent prospektiv, insofern sie die in der Zukunft liegenden Möglichkeiten menschlichen Vernunftswissen ausschöpfen will – im Laufe der Zeit tendenziell ad infinitum. Die konstatierte Latenz ist wichtig festzuhalten, denn der Gegensatz zwischen retrospektiver und prospektiver Vervollkommnung ist nicht absolut, sondern vielmehr relativ zu begreifen. Es geht nicht um den abrupten und unversöhnlichen Übergang von Apokalypse zur Utopie, sondern eher um Schwerpunktverlagerungen: In Christianopolis steht das im vernunftbasierten Experiment transzendierte Offenbarungswissen mehr im Vordergrund, während in Neu-Atlantis der Schwerpunkt auf dem sich im Experiment materialisierenden Vernunftswissen liegt: In beiden Fällen steht die experimentelle Machbarkeit von Wissen im Zentrum, aber eben in unterschiedlichen epistemologischen Erwartungshorizonten, die auf ihre unterschiedliche raum-zeitliche Konfiguration – wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird – zurückgeführt werden können.

4. Die dargelegte epistemologische Verschiebung innerhalb der experimentellen Machbarkeit von Wissen spiegelt sich in der Setzung von Raum und Zeit als epistemologische Ordnungskategorien wider: An die Stelle der Dechiffrierung der sich im Raum der

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Die Entkoppelung von experimenteller Naturphilosophie und christlicher Eschatologie stellt Bacon auf sichere Beine, indem er zwischen Gott als Erstursache (first cause) und den in der Natur wirkenden Zweitursachen (second causes) unterscheidet (vgl. Francis Bacon: Advancement of Learning [1605]. In: The Works of Francis Bacon (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 253-491, hier S. 267f.); zum Entstehen des modernen Fortschrittdenkens vgl. immer noch John B. Bury: The Idea of Progress. An Inquiry into its Growth and Origin [1932]. Einleitung von Charles A. Beard. New York 1960.

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Natur offenbarenden göttlichen Ordnung schiebt sich zusehends die Zeitlichkeit des Experiments als Quelle des Vernunftswissens, die – ganz der methodischen Forderung Bacons entsprechend – mit der Zeitlichkeit der menschlichen Sinne korrespondiert. Anhand eines Vergleichs zweier Bilder, die völlig unterschiedliche Wissensszenen zeigen, lässt sich diese Verschiebung beschreiben.67 Auf dem Frontispiz von Robert Fludds Utriusque Cosmi von 1617 (Abb. 1) steht der menschliche Leib nicht für ein bestimmtes Individuum, sondern für die menschliche Gattung überhaupt. In den Entsprechungen von Mikrokosmos und Makrokosmos ist eine immerwährende göttliche Ordnung gegenwärtig. Die beiden Kosmen markieren und umgrenzen ein zeitloses, im Raum der Natur präsentes Wissen gegenseitiger Entsprechungen, in denen sich die göttliche Ordnung offenbart. Auf dem Gemälde „An Experiment on a Bird in the Air-Pump“ (1768) von Joseph Wright of Derby ist einer der Luftpumpenversuche Robert Boyles zu sehen (Abb. 2), die ziemlich genau 50 Jahre nach Erscheinen von Fludds Utriusque Cosmi, nämlich Ende der 1660er Jahre, stattgefunden haben und deren Ergebnisse Boyle in den Philosophical Transactions 1670 veröffentlichte.68 Robert Boyle steht als Leiter des Experiments direkt hinter der Vakuumpumpe. In der Glasglocke befindet sich ein Kakadu, der dem Vakuum einer von Boyle entwickelten Luftpumpe ausgesetzt ist. Die Szene fängt also genau den Augenblick ein, in dem eine wichtige Erkenntnis unmittelbar bevorsteht: Diese Erkenntnis hängt von Boyle als Kurator und Erfinder ab und wird von den umstehenden Zeugen bestätigt.

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Bildvergleiche dieser Art sind nicht ganz unproblematisch, insofern die beiden Darstellungen nicht einfach ein bestimmtes Wissen repräsentieren, sondern in ihrer jeweiligen kulturellen Historizität, Ästhetik und Materialität ein eigenständiges ‚Bild-Wissen‘ produzieren. Im Falle des Gemäldes von Joseph Wright of Derby wäre vor diesem Hintergrund zudem zu bedenken, dass das dargestellte Ereignis ein Jahrhundert zurückliegt und so sicherlich keinesfalls stattgefunden hat. Mithin sagt das Gemälde mehr über den historischen Blick auf das – nachträglich inszenierte – Ereignis als über das Experiment selbst aus. An dieser Stelle geht es mir aber nur um die mit der jeweils zugrundeliegenden Wissenskonfiguration korrelierende Inszenierung von Räumlichkeit bzw. Zeitlichkeit. Für eine stärker der Bildlichkeit dieser beiden Darstellungen von Wissen verpflichtete Betrachtung vgl. Olaf Breidbach: Weltordnungen und Körperwelten. Das Tableau des Gewussten und seine Repräsentation bei Robert Fludd. In: Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert. Hg. von Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig. Berlin/New York 2006, S. 41-65 und Peter Wagner: Gendering Science. Joseph Wright of Derby’s An Experiment on a Bird in the Air Pump. In: Proceedings [Anglistentag München, 2003]. Hg. von Christoph Bode. Trier 2004, S. 141-149. Der interdisziplinären Erforschung dieses Bild-Wissens hat sich eine der material culture nahestehende Kunstwissenschaft in den letzten Jahren angenommen, wobei insbesondere die seit 2008 erscheinende Reihe „Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik“, hg. v. Horst Bredekamp u. Gabriele Werner, hervorzuheben ist. Vgl. Robert Boyle: New Pneumatical Experiments About Respiration. In: Philosophical Transactions of the Royal Society 5/6 (1670), S. 2011-2031 u. 2035-2056.

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bb. 1: Aussschhnittt au us dem d m Fr Fronttispiz zu z Rob R bert Ab Flludd d: Utriu U usquue Cosm C mi Mai M ioriss scciliceet et e Mino M oris Metap Me physsica a, P Physsica a Atqu A ue Tecchniica Hiistoria …]. Fra F ankffurt 161 17. […

Ab bb. 2: 2 Josseph h Wrigh Wr ht of Deerbyy: An n Exxperrimeent oon a Bird in th he Airrump p (176 (1 68); Öl Ö Pu auf uf Lein L nwan nd, ca a. 83 cm c × 244 2 4 cm m 18 (N Natio onall Gallleryy ondo on). Lo

Micchael Lorrberr

Alchemie, Elias artista und die Machbarkeit von Wissen

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Der Vogel wird sein Leben als Opfer für die Wissenschaft verlieren, um diese naturphilosophische Erkenntnis in Sachen Vakuum zu ermöglichen.69 Die beiden Darstellungen könnten hinsichtlich der Wissenskonfigurationen, auf die sie referieren, nicht unterschiedlicher sein. In Boyles Laborsituation wird die individuelle Lebenszeit – nämlich die des Experimentators und der Zeugen einerseits und der bevorstehende Augenblick des Todes des Versuchstieres als Augenblick der sich einstellenden Erkenntnis andererseits – zum zentralen epistemologischen Bezugspunkt. Mit der sukzessiven Aufwertung der experimentellen Wissensproduktion und ihrer methodischen Fundierung durch Bacon werden hier die individuelle Lebenszeitlichkeit und der augenblickliche Moment gewissermaßen zu Konstituenzien des erzeugten Wissens, das seinerseits wiederum als Mosaikstein in der Big Science fungiert. Vivisektion als Mittel der Erkenntnis erfasst in dieser Szene nicht nur das Versuchstier, sondern in epistemischer Hinsicht auch die an die Leiblichkeit gebundene Sinneswahrnehmung aller Anwesenden. Während im Raum göttlich geordneter Natur bei Fludd das Individuum an sich also keine Rolle spielt, zielt Boyles Versuch auf den selbstbezüglichen Erkenntnisaugenblick in der Zeitlichkeit des sich ereignenden Experiments ab. Wenn man die Berichte in den Philosophical Transactions dieser Zeit liest, dann wird dieser Perspektivenwechsel deutlich: An die Stelle metaphysischer Erörterungen der räumlichen Entsprechungen von Mikro- und Makrokosmos, in denen individuelle Aspekte keinen Platz finden, treten sensualistische Beschreibungen von kleinteiligen Versuchsanordnungen in ihrer spezifischen Zeitlichkeit, die die Experimentatoren der Royal Society selbstbewusst in der Ich-Perspektive verfassen. In ihrem Statutenentwurf macht die Royal Society klar, sie habe mit ihren Forschungen nicht vor, sich wie frühere Philosophen weiter in „Theologie, Metaphysik, Moral, Politik, Grammatik, Rhetorik oder Logik einzumischen“.70 Diese epistemische Wendung vom Räumlichen zum Zeitlichen ist hier allerdings weniger als eine „Verzeitlichung“ von Wissen im Sinne Wolf Lepenies’ zu begreifen, wonach ein in der Frühen Neuzeit angewachsener „Erfahrungsdruck“ es notwendig

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70

Dass aber auch im Falle Boyles – dem Begründer der modernen Chemie – die Grenzen zur Alchemie sehr durchlässig sind, ist wichtig zu betonen. Um den wissenschaftlichen Ruf von Robert Boyle machten sich dessen Nachlassverwalter und Herausgeber derart große Sorgen, dass sie weite Teile seiner sich mit Alchemie beschäftigenden Schriften nicht in die Werkausgaben aufnahmen. Lawrence M. Principe ist es gelungen, die Geheimschrift in den nachgelassenen Schriften Robert Boyles (Boyle Papers im Archiv der Royal Society) zu decodieren und so die Hybridität im Denken Boyles – zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Wissenschaft oszillierend – neu aufzuzeigen (vgl. Lawrence M. Principe: The Aspiring Adept. Robert Boyle and His Alchemical Quest. Including Boyle’s ‚Lost‘ Dialogue on the Transmutation of Metals. Princeton 1998). Zit. nach Krohn: Die „neue Wissenschaft“ (wie Anm. 6), S. 139. Selbstverständlich gab es diesen Bruch nicht in dieser radikalen Form. Die Statuten der Royal Society waren nach der Restauration auch ein notwendiges Lippenbekenntnis zwecks Gewährung königlicher Privilegien (vgl. ebd., S. 140ff.).

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machte, „Komplexität durch Techniken der Verzeitlichung“ zu verarbeiten.71 Räumlichkeit und Zeitlichkeit in epistemischer Hinsicht in strikte Opposition zu setzen, erscheint historisch betrachtet zumindest problematisch.72 Stattdessen geht es vielmehr darum, die dargelegten Verschiebungen als Konsequenzen eines Perspektivenwechsels im Kontext experimentellen Machbarkeit von Wissen deutlich zu machen: Auf Fludds Frontispiz entfaltet sich das Wissen zwar auch in der Zeit, richtet sich aber auf und wird begrenzt von der räumlichen Präsenz göttlicher Ordnung in der Natur. Das macht auch die Logik des Elias artista aus: das in der mythischen Epistemologie abgesicherte Wissen, das in der aktiven Schöpferkraft des Menschen seiner paradiesischen Vollendung – verstanden als vollkommene Harmonie von Raum und Zeit –, seiner Finalität entgegen strebt. Letztlich geht es also darum, die in der Ordnung der Natur präsente Transzendenz Gottes im Wissen immanent werden zu lassen – was schließlich in der Errichtung des Paradieses im irdischen Raum mündet. Das experimentelle Wissen im Zeichen der Bacon’schen Methodik emanzipiert sich von dieser definitorischen Kraft des sich im Räumlichen manifestierenden Offenbarungswissens. Stattdessen wird das Wissen strukturiert von der Zeitlichkeit des Experiments auf Basis individueller Erfahrungszeit und strebt im Rahmen der Big Science seiner zeitlich mehr oder minder infiniten Akkumulation entgegen. Das Ziel einer Vollendung des Wissens im eschatologischen Sinne gerät dabei immer weiter aus dem Blick oder verliert zumindest an unmittelbarer Bedeutung. Auch das Experiment in der Nachfolge Bacons hat seinen unmittelbaren Raum, auf den es referiert. Dies ist hier aber nicht mehr der göttlich durchwaltete Raum der Natur, sondern ein Raum, den das Bacon’sche Experiment in seiner Methodik der technisch-apparativen Zurichtung der Natur hervorbringt: nämlich das Laboratorium.73 An die Stelle der Dechiffrierung und Vollendung der Natur in einem geschlossenen Raum göttlicher Ordnung tritt mit Bacon die Akkumulation eines künftig zu produzierenden Wissens im Labor, was man eben Fortschritt nennen kann.74

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73

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Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1976, S. 18. Zur grundlegenden Kritik an Lepenies’ Verzeitlichungsthese vgl. Arno Seifert: ‚Verzeitlichung‘. Zur Kritik einer neueren Frühneuzeitkategorie. In: Zeitschrift für historische Forschung 10/1.4 (1983), S. 447-477. Ich danke Helmut Zedelmaier für diesen Hinweis. Der entscheidende Unterschied zwischen Alchemistenküche und modernem Laboratorium, die beide Räume experimentellen Arbeitens sind, ist dementsprechend in der ihnen zugrundeliegenden epistemologischen Ausrichtung zu sehen, welche Funktion und Bedeutung der einzelnen Prozesse und Geräte bestimmt. So gibt es zwar auch im modernen Labor bauchige Phiolen, die aber eben nicht mehr als vas hermeticum mit dem Kosmos korrespondieren. Diese Umbrüche beschäftigen bis heute die Katholische Kirche, und zwar mit explizitem Bezug auf Francis Bacons experimentelle Methodik als Ursprung moderner Glaubenszweifel. Papst Benedikt XVI. deutet diese epistemologischen Verschiebungen in der am 30. November 2007 veröffentlichten Enzyklika Spe salvi wie folgt: „Es ist die neue Zuordnung von Experiment und Methode, die den Menschen befähigt, zu einer gesetzmäßigen Auslegung der Natur zu kommen und

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5. Verfolgt man die Performanz alchemischen Wissens in der Frühen Neuzeit, so habe ich auf der Spur der paracelsistischen Figur des Elias artista zu zeigen versucht, erscheint Alchemie nicht länger nur als Abstoßungspunkt für die Errungenschaften der wissenschaftlichen Revolution: Mit Alchemie als Protogeschichte der frühneuzeitlichen Experimentalkultur rücken vielmehr jene Aspekte in den Vordergrund, die den allmählichen Perspektivenwechsel von einer mythischen hin zu einer offenen Epistemologie innerhalb der Kontinuität experimentellen Arbeitens markieren. Vor diesem Hintergrund ist Alchemie als Wissenskonfiguration zu begreifen, deren Zugriff auf die Welt in ihrer Materialität zwar noch dem Wunsch nach materieller und geistiger Läuterung und dem Ursprungsmythos einstiger Vollkommenheit verpflichtet ist. Auf praktischer Ebene aber wird das Experiment als legitime Wissensquelle bereits etabliert und verweist in der Produktion von Erkenntnismomenten schon auf die Bacon’sche Methodik. Mit Blick auf die paracelsistische Wissensfigur Elias artista wird deutlich, dass die experimentelle Machbarkeit von Wissen als legitime Verfahrensweise sich durchsetzen konnte, indem alchemisches Experimentieren in einen parareligiös-sakramentalen Status erhoben wurde.75 Denn der Unterschied zwischen der in der Natur wirkenden göttlichen Schöpferkraft und der in der alchemischen Kunst wirkenden menschlichen Schöpferkraft – mithin die Grenze zwischen Natur und Kunst – kollabiert, sobald im Rahmen christlicher Eschatologie ihre Produkte und die damit verbundene Erkenntnis gleichgesetzt werden. In der experimentellen Transformation der Materie ahmt die Alchemie die Natur nach, deren Potential zur seminalen Selbstveränderung sie bei ihrer Perfektionierung

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so endlich ‚den Sieg der Kunst über die Natur‘ (victoria cursus artis super naturam) [Bacon, Novum organum I, Aph. 67] zu erreichen. […] Diese neue Zuordnung der Wissenschaft zur Praxis bedeute, daß die dem Menschen von Gott gegebene und im Sündenfall verlorene Herrschaft über die Kreatur wiederhergestellt werde. […] Wenn man diese Sätze genau liest und bedenkt, so erkennt man darin einen bestürzenden Schritt: […] Nun wird diese Erlösung, die Wiederherstellung des verlorenen Paradieses nicht mehr vom Glauben erwartet, sondern von dem neu gefundenen Zusammenhang von Wissenschaft und Praxis. Der Glaube wird dabei gar nicht einfach geleugnet, aber auf eine andere Ebene – die des bloß Privaten und Jenseitigen – verlagert und zugleich irgendwie für die Welt unwichtig. Diese programmatische Sicht hat den Weg der Neuzeit bestimmt und bestimmt auch noch immer die Glaubenskrise der Gegenwart, die ganz praktisch vor allem eine Krise der christlichen Hoffnung ist. So erhält denn auch die Hoffnung bei Bacon eine neue Gestalt. Sie heißt nun: Glaube an den Fortschritt.“ (Benedikt XVI.: Enzyklika Spe salvi von Papst Benedikt XVI. an die Bischöfe, an die Priester und Diakonie, an die gottgeweihten Personen und alle Christgläubigen über die christliche Hoffnung [30. November 2007]. Quellenstandort online: [15. August 2011]). So verfährt z. B. der Paracelsist Oswald Croll, wenn er in seiner Basilica Chymica den biblischen Elias in der trinitarischen Geschichtstheologie des Joachim von Fiore mit aller Selbstverständlichkeit durch den Elias artista ersetzt und die arcana der Alchemie mit denen der Theologie gleichsetzt (Croll: Von den innerlichen Signaturn [wie Anm. 36], S. 5).

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aufgreift und nutzt.76 Es ist mithin der homo secundus Deus, auf den in der alchemischen Figur des Elias artista heilsgeschichtlich rekurriert wird. Ermöglicht wurde diese Gleichsetzung von Natur und Kunst dadurch, dass der biblische Prophet Elias als apokalyptischer Offenbarer göttlichen Wissens mit dem Elias der Künste als Offenbarer des in der menschlichen Kunstfertigkeit liegenden Erkenntnispotentials überblendet und identifiziert wurde. Damit ging die Alchemie als schöpferischer Kunst über die bloße Deutung von Naturphänomenen göttlicher Zeichen hinaus, indem sie in einer experimentellen Machbarkeit von Wissen aktiv zu Erfüllung des göttlichen Heilsplans beiträgt. Im langfristigen Projekt der Instauratio magna verliert schließlich die heilsgeschichtliche Intention einer erlösenden Restitution verloren gegangenen Wissens zugunsten der Produktion neuen Wissens im Rahmen einer Big Science an Bedeutung. So konnte sich nach und nach ein Fortschrittsgedanke jenseits apokalyptischer Beschränkung und im Sinne einer zeitlich unbegrenzten Akkumulation von Wissen etablieren, der sich legitimiert sieht in und sich speist aus der schöpferischen Kraft des Menschen. Dies ist aber eben nicht als ein radikaler Bruch zu begreifen, sondern umfasst als ein langfristiger Prozess sukzessive Verschiebungen in der Wahrnehmung der Materialität der Welt, in der Definition der Natur und in der Bedeutung, die der christlichen Eschatologie für die Naturphilosophie beigemessen wird.77 Eine Konsequenz der stärkeren Berücksichtigung alchemischer Einflüsse auf die ‚Neue Wissenschaft‘ muss es sein, der omnipräsenten frühneuzeitlichen Rhetorik einer tabula rasa-Philosophie mit größerer Vorsicht zu begegnen. Das in den ‚revolutionären Schriften‘ allerorten enthaltene ‚alte Gedankengut‘ hingegen wäre nicht länger als Überbleibsel alter Wissenskonfigurationen auszublenden, sondern – als wesentlicher Bestandteil sich ohnehin stetig im Umbruch befindlicher Epistemologien – auf seine just in der jeweiligen historischen Konstellation relevante Funktion hin zu befragen. Elias artista hat sich, so könnte man sagen, als Wissensverkünder schließlich in den frühneuzeitlichen Akademiegründungen institutionalisiert78 und zugleich in der Big Science seiner apokalyptischen Konnotationen entledigt. Die Anerkennung der menschlichen Kunstfertigkeit als eine mit den Schöpfungen der Natur gleichgestellte Quelle legitimen Wissens – der Paracelsus in der Figur des Elias artista für die abendländische

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In diesem Zusammenhang weist Goldammer auf die wichtige terminologische Unterscheidung zwischen göttlicher Prädestination und „praedestinaz“ bei Paracelsus hin, welche „den Endzustand eines Dinges ausdrückt, nicht den bestimmenden Akt Gottes“; d. h. die Prädestination ist der göttliche Wille, während die „praedestinaz“ den ontologisch vollkommenen Zustand eines Dinges bezeichnet, der wie ein Same in ihm schlummert und den der Alchemiker mit seiner Kunst zur Reifung bringen kann (Kurt Goldammer: Paracelsus. Natur und Offenbarung. Hannover-Kirchrode 1953, S. 64). Das Konzept einer unbegrenzten Akkumulation von Wissen steht aber auch heute zur Disposition. Vor dem hier skizzierten Hintergrund kann christliche Eschatologie als Ursprung aktueller Fragen – wenn auch in säkularem Gewand – nach Sinnhaftigkeit und Ziel naturwissenschaftlichen Forschens ausgemacht werden. Vgl. Breger: Elias Artista (wie Anm. 14), S. 58f.

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Naturphilosophie einen konzeptuellen Rahmen verliehen hat – stellt aber den Ausgangspunkt dieser für die Moderne so entscheidenden epistemologischen Verschiebungen dar.

Diskursivierung theologischen und moralphilosophischen Wissens

Barbara Becker-Cantarino (Columbus, Ohio) Kulturelles Wissen zwischen Glaube und Aberglaube: Zum ,Hexensabbat‘ bei Martin del Rio, Pierre de Lancre und Johannes Praetorius

1. Diskursivierung: religio – superstitio – kulturelles Wissen Imaginationen vom Hexenwesen gehörten zum kulturellen Wissen der Frühen Neuzeit. Die Diskursivierung dieses Wissens zwischen Glaube, Aberglaube und Skepsis, zwischen Radikalisierung, Subjektivierung und Kritik, zwischen Macht und Recht in dem Vorstellungskomplex vom Hexensabbat ist das Thema der folgenden Ausführungen. Ich gehe dabei von einem weit gefassten, historisierten Wissensbegriff aus (Wissen als Glauben, als Überzeugung), einem Wissensbegriff, der Fundiertheit und Wahrheitsbedingung kritisch betrachtet? und eine gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit annimmt.1 Mein bewusst gewählter wissenshistorischer Ansatz versucht phänomenales (Wissen-wie-es-erscheint) und praktisches Wissen (Gewusst-wie) im historischen Kontext von Glauben, Aberglauben und Wissen anzuvisieren. Ich gehe von der relativistischen Prämisse aus, dass ‚Hexenwissen‘ als eine Ausformung von Magie abhängig von der Kultur, der Zeitepoche und auch von Personen war (und ist). ‚Hexenwissen‘ gehörte in der Frühen Neuzeit zum ‚kulturellen Wissen‘ (so wie heute ,Hexenwissen‘ in das Gebiet der Imagination, der Unterhaltungsmedien und in pagane Kultformen verwiesen ist, nicht aber in das überprüfbare Wissenssystem gehört). Zu dem ‚kulturellen Wissen‘, das, wie Titzmann ausgeführt hat, „die Gesamtmenge der Aussagen bzw. Propositionen, die die Subjekte eines raum-zeitlich begrenzten epochalen Systems für wahr halten“ (oder für wahr ausgeben bzw. daran ‚glauben‘), umfasste,2 zählte in der Frühen Neuzeit auch der angstbesetzte Glauben an ‚Hexenwissen‘. Im Folgenden soll der Vorstellung vom Hexensabbat nachgegangen werden, um zu zeigen, wie das ‚Hexenwissen‘ im 16. und 17. Jahrhundert als eine machtvolle Funktion eines gruppenspezifischen Herrschaftswissens fungierte.

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Peter L. Berger/Thomas Luckmann: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge. New York 1966, S. 45ff. Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurse – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47-61, hier S. 47.

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‚Hexenwissen‘ wurde in der theologisch-kirchlichen Literatur im Kampf gegen den Dämonenkult, als Abwehr von Superstition, von ‚Aberglauben‘, entwickelt. „Theorieund Systemversuche über Aberglaube [...] gehen auf Augustinus zurück“, wie Dieter Harmening überzeugend dargelegt hat.3 Schon im mittelalterlichen Aberglaubensbegriff war die Vorstellung lebendig, dass besonders im Dämonenkult Reste vom Heidentum weiterlebten. Harmening betont jedoch auch, dass die Superstitionssysteme des Mittelalters nur geringen Bezug auf zeitgenössische Verhältnisse hatten, sondern der gelehrten literarischen (schriftlichen) Tradition verpflichtet waren und eher in spätantikmediterranen (als in germanisch-heidnischen) Verhältnissen wurzelten, was Ethnologen jedoch in akribischer Spurensuche nach Volksbräuchen und rituellen Praktiken (wie Carlo Ginzburg bei den Benandanti im Friaul) differenziert haben.4 Zauber und Dämonenspuk waren fest in den theologischen und naturkundlichen Systemen der Frühen Neuzeit verankert, wie auch in der auf hohem theoretischem Abstraktionsniveau geführten Magiediskussion.5 Die in der Frühen Neuzeit zirkulierenden Wissensbestände und Imaginationskomplexe auf dem Gebiet der Magie enthielten kulturelles Wissen über Hexen, das besonders der Hexenhammer (1487)6 geliefert hat und das durch die neue Drucktechnik in einer Bilderflut (wie etwa der als „vier Hexen“ verstandene Kupferstich Dürers von 1497 [Abb. 1]) verbreitet wurde.

Abb. 1

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4

5

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Dieter Harmening: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters. Berlin 1979, hier S. 318. Carlo Ginzburg: Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte. Berlin 1990. Besonders Ginzburgs Forschungen erheben den Anspruch, den Ursprung des Hexensabbats als einen Volksglauben an die Magie des nächtlichen Fluges und der Tierverwandlung lokalisiert und entziffert zu haben. Vgl. Kathrin Ehlers/Michael Mühlenhort: Erzählte Magie. In: Erzählte Welt. Frühneuzeitliche Erzählliteratur aus den Beständen der Universitätsbibliothek Marburg. Hg. von Jörg Jochen Berns. Marburg 1993, S. 38-65, hier S. 39; Harmening: Superstitio (wie Anm. 3), S. 318-337. Heinrich Kramer [Institoris]: Der Hexenhammer. Malleus Maleficarum. Hg. von Günter Jerouschek und Wolfgang Behringer. München 2010.

Kulturelles Wissen zwischen Glaube und Aberglaube

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Das ‚Hexenwissen‘ der Frühen Neuzeit entstand geschichtlich, war historisch variabel und war, so die These meiner folgenden Ausführungen, eng mit dem Sinnbildungsprozess von Geschlecht und der Geschlechterbeziehungen verbunden. Das ‚Hexenwissen‘ umfasste spezifische Imaginationen wie Schadenszauber, Teufelspakt und Kopulation mit dem Teufel, Flug durch die Lüfte, geheime Versammlungen unter Vorsitz des Satans und lässt sich keineswegs als bloße Addition oder ‚Kumulation‘ (so der klassische Begriff von Joseph Hansen) dieser (vermeintlichen) Einzelerscheinungen begreifen, sondern stellte ein innovatives Gewebe von dämonischen Vorstellungen dar. Es handelt sich also nicht um eine Nachhut mittelalterlicher Superstitio, sondern um „eine spezifische intellektuelle Konstruktion der beginnenden Neuzeit“.7

2. Veranschaulichung: ,Gelehrtenwissen‘ vom Hexensabbat als kulturelles Wissen Eine wirkungsmächtige Text- und ikonographische Tradition vom Hexensabbat entwickelte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts und wurde im frühen 17. Jahrhundert zum barock ausschweifenden, fülligen, detailfreudigen Riesengebilde ausgeweitet,8 in dem Imaginationen von Geschlecht und Sexualität eine zentrale Rolle spielten. So behandelte der Jesuit Martin del Rio in seiner an Theologen, Juristen, Mediziner und Philologen gerichteten, umfangreichen Hexenlehre Disquisitionum magicarum libri sex von 1599/1600 „die nächtlichen Zusammenkünfte der Hexen, und ob ihre Beförderung von Ort zu Ort wahr sei“9 auf achtzehn eng bedruckten Folioseiten:

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8

9

Gerd Schwerhoff: Esoterik statt Ethnologie? Mit Monika Neugebauer-Wölk unterwegs im Dschungel der Hexenforschung. In: Hexenforschung/Forschungsdebatten. Hg. von Katrin Moeller, (22. Juni 2011), Kap. III. Schon Julio Caro Baroja (Die Hexen und ihre Welt. Mit einer Einführung und einem ergänzenden Kapitel von Will-Erich Peuckert. Stuttgart 1967; spanisches Original 1961) hat auf das Vorkommen von Hexensabbatberichten in Geständnissen während der Inquisitionsverhöre in den Regionen um Carcasson und Toulouse während der 1330er Jahre verwiesen. Baroja erklärt die Dämonisierung solcher Versammlungen mit dem Hinweis auf den „Judensabbat“, da die Riten und der jüdische Glaube im frühen Mittelalter als Perversion des eigenen, christlichen Glaubens dargestellt wurden. Baroja zitiert den Volksmund, der seltsame Versammlungen als „Synagoge“ bezeichnete und mit dem Versammlungsort einer geächteten Gesellschaftsgruppe gleichsetzte. Alan Macfarlane (Witchcraft in Tudor and Stewart England. A Regional and Comparative Study. Abington 1970), Norman R. C. Cohn (Europe’s Inner Demons. An Enquiry Inspired by the Great Witch-Hunt. New York 1975) und Wolfgang Behringer (Hexenverfolgung in Bayern. Volksmagie, Glaubenseifer und Staatsräson in der Frühen Neuzeit. München 1987) haben die Verbindung von Berichten über Hexensabbatfeiern und Hexenprozessen hervorgehoben: Wann immer Gerüchte umgingen, dass Hexen zu ihren Treffen durch die Lüfte fliegen würden und Hexentänze aufführten, schloss sich eine Welle von Verfolgungen an. Martin Antonio Del Rio: Disquisitionum magicarum libri sex quibus continetur accurata curiosarum artium, et vanarum superstitionum confutatio utilis Theologis, Iurisconsultis, Medicis, Philologis.

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Nachdem sich die Hexen nun auf diese Art und Weise eingesalbt haben, pflegen sie entweder auf Stöcken, Mistgabeln, Spinnrocken oder Kesselstangen sich fortzubegeben, wobei sie einen Fuß darüber legen, oder auf Besen und Steckenpferden oder aber auf Stieren, Schweinen, Ziegenböcken oder Hunden […]. So kommen sie gewöhnlich, wie gesagt, zum Spiel der guten Gesellschaft (wie man ihre Zusammenkunft in Italien nennt), wo zumeist ein grässliches und schreckliches Feuer brennt. Dort sitzt der Teufel als Vorsitzender der Zusammenkunft auf einem Thron in grauenerregender Gestalt, zumeist in der eines Ziegenbocks oder eines Hundes. Sie nähern sich ihm, um ihn anzubeten […]. Dann bringen sie ihm Pechkerzen oder die Nabelschnur eines Kindes dar und küssen ihm zum Zeichen der Huldigung das Hinterteil.10

Es folgt die Beschreibung einer Satansmesse mit Kindesopfer, mit der Darbietung des eigenen Samens, der Verunglimpfung der Hostie, danach eines Banketts mit Teufelsspeisen und blasphemischem Segen. Am Gelage nehmen sie bisweilen mit unbedecktem, bisweilen mit von einer Larve, von einem Leinentuch oder einer anderen Verhüllung oder von einer Maske verhülltem Gesicht teil. Recht häufig sind in ebendieser Weise auch die Teufel maskiert; nach dem Gelage nimmt jeder von ihnen seine Schülerin, über die er wacht, bei der Hand; und damit alles in einem möglichst absurden Ritus geschieht, führen sie mit einander zugewandten Rücken und mit zu einem Kreise verbundenen Händen, wie Besessene die Köpfe hin und her werfend, Reigentänze auf; […] und sie führen alles auf lächerliche Weise und gegen die Sitten und Bräuche der übrigen Menschen durch. Dann vereinigen sie sich aufs abscheulichste fleischlich mit ihren buhlerischen Teufeln.11

Weiter werden obszöne Lieder gespielt, es wird gesungen und getanzt; jeder muss seine Übeltaten erzählen; wer keine schlimmen oder überhaupt keine begangen hat, wird ausgepeitscht. Schließlich werden Pulver, Asche und andere Gifte verteilt. „Nachdem

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Mainz 1617, (10. August 2011), lib. II, quaest. XVI, S. 167-184 (meine Übersetzung), hier S. 167: „De nocturnis sagarum conventibus, et an vera sit earum translatio de loco ad locum?“. Die HAB Wolfenbüttel besitzt allein sechs Ausgaben der Disquisitiones (von 1600, 1603, 1612, 1633, 1679 und 1755, alle ohne Illustrationen); die Ausgabe von 1633 hat einen von elf Bildern umrahmten Kupfertitel mit Szenen des Jüngsten Gerichts. Ein Exemplar der Ausgabe von 1612 (HAB Wolfenbüttel, 2 Phys.) hat durchgehend bis S. 1076 Unterstreichungen und kurze Inhaltsangaben am Rand, ein Hinweis auf eifrige, intensive Lektüre. Del Rio: Disquisitiones (wie Anm. 9), S. 172: „Sic ergo inunctae solent devehi insidentes, baculo, furcae, vel colo, vel cremathrae, imposito uno pede, vel insidentes scopis aut arundini, vel tauro, sui, hirco aut cani […] Sic inquam solent ad ludum bonae societatis (ut in Italia vocant conventum) deferri ubi ignis ut plurimum accensus, teter et horridus. ibi daemon conventus preses in solio sedet, forma terrifica: ut plurimum hirci vel canis. ad illum accedere adorandi gratia […]. tum candelis piceis oblatis, vel umbilico infantuli, ad signum homagii eum in podice osculantur.“ Del Rio: Disquisitiones (wie Anm. 9), S. 173: „Convivio intersunt facie interdum aperta, interdum velata larva, linteo, vel alio velamine, aut persona. sic etiam personati frequentius, post convivium quisque daemon suam quam custodit discipulam manu prehendit; et, ut omnia fiant ritu quam possunt absurdissimo, dorsis invicem obversis, et in orbem iunctis manibus iactantes capita more fanaticorum, choreas ducere; [...] omniaque ridicule et contra caeterorum morem peragere. tum suis amasiis daemonibus foedissime commisceri.“

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schließlich […] jedem sein [zu verrichtendes] Schadenspensum auferlegt und das Gebot des Teufels, des Pseudotheus, verkündet wird (‚Rächt euch: andernfalls werdet ihr sterben‘), damit du das dem Gesetz der Liebe entgegenstehende Gesetz kennenlernst, kehren alle zu ihren Häusern […] zurück.“12 Mit den ausufernden Bildern von Blasphemie und sexueller Perversion besonders von Frauen sollten in diesem umfangreichen Handbuch, das bis zum Jahre 1755 nachweislich 24 Auflagen erlebte und eine dem Hexenhammer vergleichbare Ausstrahlung hatte, die Gelehrten (Männer) über das Hexenunwesen informiert, die Gläubigen gewarnt und die Ungläubigen zur Umkehr aufgerufen werden.13 In einer breiten literarischen Tradition von plastisch beschriebenen Warnbildern und instruktiven Schautafeln wird der Informations- und Belehrungscharakter dämonologischer Schriften im 17. Jahrhundert noch verstärkt. Pierre de Lancres einflussreiche Hexenschrift Tableau de l’inconstance des mauvais anges et démons14 enthält eine ‚In-

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Del Rio: Disquisitiones (wie Anm. 9), S. 173: „ultimo […] indicto cuique nocendi penso, et pronunciato Pseudothei daemonis decreto; Ulciscimini vos: alioqui moriemini; ut agnoscas legem Caritatis legi contrariam; suas quisque domos [...] repetunt.“ Martin Antonio del Rio (1551-1608) hielt als Mitglied des Jesuitenordens Vorlesungen in Löwen, Graz und Salamanca und war bei der Re-Katholisierung der von Spanien 1585 zurückeroberten südlichen Niederlande beteiligt. Del Rio stammte aus einer begüterten spanischen Familie mit Landbesitz in Flandern, studierte Philosophie, Rhetorik und Jura in Paris, Douai, Löwen, promovierte in Salamanca, erhielt wichtige Verwaltungsämter in Brabant, trat 1580 in den Jesuitenorden ein und verfasste auch eine Geschichte Flanderns und zahlreiche juristische und theologische Schriften. Noch der Zedler (Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexikon. Leipzig/Halle 1734, Bd. 7, Sp. 475f.) kennt fünf Ausgaben der Disquisitiones: Löwen 1599, Mainz 1603, 1628, Köln 1657 und 1678. Das Werk sei „aber voller ungegründeter Erzählungen“ (Zedler: Universal-Lexikon, Sp. 475). Vgl. auch Edda Fischer (Die Disquisitionum magicarum libri sex von Martin Delrio als gegenreformatorische Exempel-Quelle. Diss. Frankfurt a.M. 1975), die über 250 magisch-dämonologische Exempel aufführt. Pierre de Lancre: Tableau de l’inconstance des mauvais anges et démons, où il est amplement traicté des sorciers et de la sorcellerie [1613]. Hg. von Nicole Jacques-Chaquin. Paris 1982 (Collection Palimpseste). Zu Pierre de Lancre (1553-1631) als passioniertem Verfolger des Hexenwesens vgl. die ausführliche Einleitung von Nicole Jacques-Chaquin und die Einleitung zur englischen Übersetzung von Gerhild Scholz Williams, die die Pariser Ausgabe von 1612 zugrunde gelegt hat (On the Inconstancy of Witches. Hg. von Gerhild Scholz Williams, aus dem Französischen übers. von Harriet Stone und Gerhild Scholz Williams. Tempe 2006). Frühere Ausgaben des Tableau von 1607 und 1610 waren Traktate gegen Hexen, ‚böse Engel und Dämonen‘ und bildeten den Grundstock für die erweiterten späteren Ausgaben von 1612 und 1613, die immer auch Frauen namentlich nennen, die in den Prozessen verurteilt wurden, und ihre Geständnisse als Fakten des Hexenwesens hinstellen. Die von mir benutzte Ausgabe des Tableau ist die zweite der erweiterten Ausgaben (von 1613), sie ist auf dem Titelblatt bezeichnet als „reueu, corrigé, & augmenté de plusieurs nouuelles observations, Arrests, & autres choses notables“, ein Zeichen dafür, dass solche ‚Informationen‘ sehr gefragt waren. Eine deutsche (stark gekürzte) Version, die sich auf die ‚Fakten‘ des Sabbats ohne die ‚Zeugenaussagen‘ verurteilter Frauen konzentriert, erschien als: Wunderbahrliche Geheimnussen der Zauberey / [...] Gezogen auß einem weitleufftigen in Frantzösischer Spraach getrucktem Tractat Herrn Petri de Lancre, Parlamentsherren zu Borde-

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formationsflut‘ über Hexerei und Sabbatorgien, die fortlaufend narrativ als ‚Zeugenaussagen‘ von Frauen gebracht werden. Der Jurist de Lancre war im Auftrag Heinrichs IV. 1608 in der Labourd (dem französischen Baskenland) tätig, um die Hexerei dort zu untersuchen, und ermittelte gegen ca. 80 Personen, die als Hexen angeklagt und zum Tode verurteilt wurden. In seinem umfangreichen, als historisch-juristischer Rechenschaftsbericht und Handbuch konzipierten Tableau verwertete er seine Erfahrungen während der großen Hexenverfolgung in Frankreich. Eingefügt in den umfangreichen Text im Quartformat ist eine detaillierte, instruktive Schautafel15 des Hexensabbats (Abb. 2) mit entsprechenden Erläuterungen von A bis M: A Satan est dans une chaire dorée, en forme de bouc qui prèche, avec cinque cornes, ayant la cinquième allumée pour allumer toute les candelles et feux du sabbat. B La reine du sabbat couronnée à dextre, et une moins favorite à senestre. C Au-dessous de sa chaire, est une sorcière qui lui présente un enfant qu’elle a séduit. D Voila les convives de l’assemblée, ayant chacune un démon [...] H Au-dessous se voit une troupe de femmes et filles qui dansent toutes le visage en-dehors du rond de la danse. I Voila la chaudière sur le feu pour faire toute sorte de poison, soit pour faire mourir et maléficier les hommes, soit pour gâter le bétail; l’une tienne les serpents et crapauds en main, l’autre leur coupe la tête et les écorche, puis la jette dans la chaudière.[...] M Près de ce ruisseau sonte les petits enfants, lesquels avec des verges et houssines blanches, éloignés des cérémonies, gardent chacun les troupeaux des crapauds de celles qu’ils ont accountumé les mener au sabbat. [...] il y a plusieurs autre choses [...] qui se pourront entendre commodément par le discours du sabbat, qui est au discours IV du livre second.16

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aus / welcher solchen gerichtlichen Processen persöhnlich beygewohnet. [...] Gedruckt im Jahr 1630 (HAB Wolfenbüttel 50.1 Ju [7]: [30. August 2011]). Die Abbildung ist dem Neudruck des Tableau von Jacques-Chaquin (s. vorige Anmerkung) entnommen, dem ein Exemplar der Ausgabe von 1613 in der Bibliothèque Nationale zugrunde liegt. Im Exemplar der HAB Wolfenbüttel von (derselben?) Ausgabe von 1613 (HAB Wolfenbüttel A: 6.34 Jur.) fehlt dieser Kupferstich. Diese Abbildung wurde von dem bekannten polnischen Maler und Stecher Jan Ziarnko (1596 Meister in Lemberg, 1605-1629 in Paris nachweisbar) entworfen, der Bildnisse, Darstellungen zeitgenössischer Ereignisse, Allegorien, religiöse Darstellungen, Ansichten, Buchillustrationen und Exlibris anfertigte. De Lancre: Tableau (wie Anm. 14), S. 56. Zum Bildprogramm vgl. jetzt auch Christian Kummer: Beschreibung der Unbeständigkeit der bösen Engel und Dämonen. Pierre de Lancres Hauptwerk Tableau de l’inconstance des mauvais anges et démons von 1612 im Spiegel der modernen Geschichtsforschung. Diss. Wien 2009, (30. August 2011), S. 172196.

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Abb. 2

Mit dem Verweis auf den vierten Discours des zweiten Buches von de Lancres Text stellt das Tableau eine visuelle Umsetzung der ins Sexuelle und Perverse ausufernden Sabbatvorstellungen dar. Das Bildprogramm inszeniert den Hexensabbat übersichtlich organisiert, stellt ihn flächig dar und hat ihn mit Verstehenshilfen aufgeschlüsselt, weshalb das Bild wohl auch die späteren Darstellungen mit prägen konnte. Es ist eine unter der Ägide des Teufels stehende Welt der Frauen und ihrer Kinder, die sich im Dienste des Teufels vergnügen. Im Zentrum der Darstellung steht das Hexenküchen-Motiv, das das Bild in zwei Hälften teilt, um die sich die Frauengruppen mit Kindern bei ihren Sabbat-Aktivitäten gruppieren. Hier lassen sich einige Strukturmerkmale dieser (und vieler ähnlicher) Sabbatdarstellungen erkennen: (1) Zuoberst steht der Satanskult, der männliche Teufel in tierischer Bocksgestalt wird von weiblichen Hexen mit atavistischen Riten wie Kindesopfer und Sodomie verehrt; (2) gesellige, aber unproduktive, oft unbefriedigende Vergnügungen wie ein gemeinsames Bankett, Tanz, Spiel, Musik mit grotesken, perversen Aspekten werden dargestellt, sinnvoll-produktive Arbeit oder nützliche Tätigkeiten fehlen; (3) magische Handlungen verbunden mit Kochen (Zeichen der Giftmischerei), mit Krö-

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ten (dem Zeichen der Habsucht), Schlangen (dem Zeichen des Sündenfalls) oder anderen Teufelstieren, mit sexuellen und oft gewalttätigen Akten werden dargestellt. Solche Hexensabbat-Darstellungen waren besonders in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts beliebt, etwa im deutschen Raum in einem illustrierten Flugblatt (mit

Abb. 3

einem Kupferstich von Matthäus Merian d. Älteren um 1626): Eigentlicher Entwurf und Abbildung deß gottlosen und verfluchten Zauber Festes (Abb. 3) oder auch schlicht Zauberey.17 Auch diese Hexensabbat-Darstellung ist in eine nächtliche Landschaft gesetzt und um eine Hexenküche zentriert; in der Mitte braut eine nackte, schwangere Frau einen Zaubertrank, in dessen Dampfstrahl krötenartige Tiere emporsteigen. Daneben liegt ein verstümmelter Kinderkörper, weitere Körperteile, Totenköpfe und Getier

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Der deutsche Zeichner der Zauberey war Michael Herr (1591-1661), der Kupferstich ist von Merian d. Älteren; vgl. Wolfgang Harms/Beate Rattay (Hgg.): Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten der Reformation und der Glaubenskämpfe. Coburg 1983, S. 308, Nr. 151. Das Flugblatt ist in zwei Typen erhalten geblieben: (1) als Zauberey überschrieben und mit lateinischen Hexametern des Theologen, Schriftstellers, Übersetzers und Historiographen Johann Ludwig Gottfried (um 1584-1633) versehen; (2) als Eigentlicher Entwurf und Abbildung deß Gottlosen und verfluchten Zauber Festes betitelt (unsere Abbildung) und mit deutschen Versen darunter.

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umgeben die rechts vorn im Bild zaubernde Gruppe von Frauen mit einer Hexenfurche, dem Signifikanten weiblich besetzter Zauberei und bedrohlicher Naturnähe. Links vorne sind Teufelsbuhlschaften mit diversen teuflischen Kreaturen dargestellt, links hinten ein Hexenzug zum „B. Berg“ (Blocksberg) mit auf Tieren heranreitenden weiteren Hexen und rechts hinten ein satanischer Hexentanz in einer höhlenartigen Ruine, die nun – an Volkswissen anschließend – topographisch in den Harz versetzt ist. Die vermutlich vom Nürnberger Dichter Johann Klaj verfassten Verse zu Merians Illustration beginnen wie folgt: SIeh an O Leser dieses Bild / So schröcklich / seltsam / wüst und wild Darinn vor Augen wird gestellt / Der größte Jammer in der Welt / [...]18

Das vielseitige, episch breite und neben ostentativer Didaktik auch unterhaltende und die Schaulust stimulierende Blatt Merians diente wiederum als Vorlage für weitere Buchillustrationen, u. a. für das Kompendium des viel gelesenen und exzerpierten barocken Vielschreibers, für Johann Praetorius’ Blockes-Berges Verrichtung (1668).19 Die Narration einer Wanderung von vierzehn Männern mit zwölf Pferden auf den Brocken beinhaltet eine wortreiche Kompilation von allen möglichen Themen und Ansichten aus frühneuzeitlichen Dämonologien (ohne erkennbaren eigenen Standpunkt, eher gruselig unterhaltend als religiös-moralisch abschreckend), wobei der eingeklebte, ziemlich vergröbernde, schematische Titelholzschnitt vom Hexensabbat und die eher volkstümliche als gelehrte Beschreibung der Walpurgisnacht-Sage noch den Unterhaltungswert erhöhen.20 Damit hat der Weg des kulturellen, gelehrten ‚Hexenwissens‘ in die Imaginationsräume der Literaten und Dichter begonnen; er erreicht dann ca. hundert Jahre später

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Harms/Rattay: Illustrierte Flugblätter (wie Anm. 17), S. 308, Nr. 151. Johannes Praetorius: Blockes-Berges Verrichtung. Oder Ausführlicher Geographischer Bericht von den hohen trefflich alt- und berühmten Blockes-Berge [...]. Leipzig/Frankfurt a.M. 1668. Vgl. http://www.zeno.org/Literatur/M/Praetorius,+Johannes/Prosa/BlockesBerges+Verrichtung (30. August 2011), und http://books.google.com/books?id=usQ5AAAAcAAJ&pg=PA432&lpg=PA 432 &dq=Johannes+Praetorius+Blockes-Berges+Verrichtung&source=bl&ots=kaLTT399QM&sig=cN VkubrwTpsjkVAM3T1NsIvIXMw&hl=en&ei=r5ETTKryFoKgnwewzMD9Cw&sa=X&oi=book_ resul t &ct=result&resnum=6&ved=0CCoQ6AEwBQ#v=onepage&q&f=false (30. August 2011; Exemplar der Bayrischen Staatsbibliothek, München). Johannes Praetorius (1630-1680) war ein eifriger Kompilator von naturwissenschaftlichen Informationen und Aberglauben der Frühen Neuzeit. Das eingeklebte Titelkupfer der Erstausgabe von 1668 zeigt einige Ähnlichkeiten in den Motiven mit Merians Flugblatt Eigentlicher Entwurf und Abbildung deß gottlosen und verfluchten Zauber Festes (wie Anm. 17), die Ausführung ist jedoch vergröbernd und wirkt schematisch. Vgl. Williams: On the Inconstancy of Witches (wie Anm. 14, S. 87-98), die sogar von „vorromantisch“ spricht.

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einen weiteren Höhepunkt im Wissen der Literatur in Goethes Walpurgisnachtszene im Faust, für die Goethe (neben anderen Quellen) nachweislich auch Praetorius konsultiert hat.21

3. Radikalisierung und Subjektivierung – Fokus auf Sexualität und Frauen Schadenszauber, Teufelspakt, Flug durch die Lüfte, geheime Versammlungen unter Vorsitz des Satans sind die Eckpunkte im ‚Hexenwissen‘ der Frühen Neuzeit, Innovationen gegenüber dem Mittelalter und eine spezifische intellektuelle Konstruktion.22 Welches Handlungswissen wurde in den Imaginationen des Hexensabbats diskursiv transportiert? Das barocke Tableau erinnert an die Bildprogramme der Renaissance, doch anders als die Allegorien der Renaissance sind hier (1) Aspekte gesellschaftlicher Un- oder Gegen-Ordnung mit lebensweltlichen Bezügen auf zeitgenössische Menschen und vornehmlich Frauen bezogen dargestellt, die (2) eine ausdrückliche Warnung vor dem dämonischen, d. h. blasphemischen, mörderischen und obszönen Treiben der Hexen aussprechen, und die (3) alle mit dem weiblichen Geschlecht, deren Körperlichkeit und bedrohlicher Naturnähe identifiziert werden. Die Hexen erscheinen vorwiegend nackt – ein Zeichen ihrer Wollust. Das Obszöne und Verbrecherische ihres Tuns, bei dem die Kindestötung bzw. das Kindsopfer für den Satan zentral ist, weist weiterhin auf den weiblichen Bereich der hier dämonisierten Prokreation: Die Hexen praktizieren Kindesentführung, Mord und Opfer, statt Mutterpflichten zu erfüllen. Die schriftliche Diskursivierung der Vorstellung vom Hexensabbat war begleitet von einer wirksamen ikonographischen Tradition eines sexualisierten Hexenmusters. Ein charakteristisches Beispiel ist Ulrich Molitors Abhandlung De laniis et phitonicis mulieribus. Teutonice unholden vel hexen (1489/1490), die auch zeitgleich in deutscher Sprache mit Illustrationen als Tractatus von den bösen Weibern, die man nennet Hexen erschienen ist und eine überaus starke Verbreitung fand.23 Molitors Traktat enthält ein Gespräch zwischen dem Erzbischof Sigismund von Österreich, der sich über das Hexenunwesen informieren will, dem Bürgermeister der Stadt Konstanz und dem Juristen Molitor, der mit theologischen Kenntnissen auf der Grundlage des Malleus Male-

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Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Hexenküche und Walpurgisnacht. Imaginationen von Dämonie in der Frühen Neuzeit und im Faust I. In: Euphorion 99 (1999), S. 193-225. Schwerhof: Esoterik statt Ethnologie? (wie Anm. 7), S. 6. Von Molitors Text gab es drei lateinische Ausgaben von 1490, mindestens zehn weitere schlossen sich an (zum Teil auch als Anhang an Ausgaben des Hexenhammers). Bis 1508 sind vier deutsche Ausgaben nachgewiesen. Eine zweite Welle kam nach 1540: Der deutsche Text wurde 1544, 1545, 1575, 1576 wieder gedruckt; eine spätere Übersetzung trug den Titel: Hexen-Meysterey […]. Ob die selben bösen weyber / hagel / reiffen / und ander ongefell / den menschen zu schaden machen können. Konstanz 1545. Der lateinische Text erschien wieder 1561, 1582, 1595 und 1600 (vgl. Peter Assion: Molitoris, Ulrich [Art.]. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. von Kurt Ruh u. a. Berlin 1987, Bd. 6, Sp. 637-645, hier Sp. 640).

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ficarum mit gekonnter Rhetorik für die Todesstrafe für Hexen plädiert, während er jedoch die Wirksamkeit ihrer Zauberkünste als Illusion und Täuschung durch den Teufel hinstellt. Neun typische Themenkomplexe werden angesprochen und enden in thesenartigen Merksätzen (determinationes) des Schlusskapitels: Wettermachen, Krankheitszauber, Impotenz, Verwandlung in Tiere, Hexenritt, Teufelsbuhlschaft, Satanskinder, Zukunftsdeutung, Strafbarkeit von Hexen. Molitor fokussiert als einer der ersten einflussreichen Autoren einen auf Frauen begrenzten Begriff der Hexe. Das sexualisierte Hexenmuster wurde in Traktaten und Predigten24 gegen die Hexerei weitergereicht, die mit Holzschnitten illustriert waren, die ebenfalls die didaktische Funktion hatten, Hexen und Hexerei der Frauen als Teufelswerk zu dämonisieren und davor zu warnen.25 Diese fanden durch die Revolution der Drucktechnik und die damit in einem bis dahin unbekannten Ausmaß mögliche Reproduktion von Bildmaterial in Kupferstichen und Holzschnitten eine weite Verbreitung. Zu dieser Text- und Bilderflut gehören auch die bekannten Hexendarstellungen von hervorragenden Künstlern wie Baldung Grien, dessen Konzeption der Hexen-Imago hier kurz exemplarisch näher zu beleuchten ist.26

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Geiler von Kaisersbergs Predigten wurden in der Sammlung Die Emeis (‚Die Ameisen‘) 1516 gedruckt und bekannt; allein unter den über 40 Fastenpredigten von 1508 enthielten 26 Warnungen vor „Unholden oder Hexen“. Stuart Clark (Thinking with Demons. The Idea of Witchcraft in Early Modern Europe. Oxford 1997), bietet erstmals eine umfangreiche Bibliographie zu dämonologischen Hexenschriften, vgl. für die Bestände der Herzog August Bibliothek Anneliese Staff: Von Hexen / Zauberern / Unholden / Schwarzkünstlern / und Teufeln. Bibliographie zu den Beständen der Hexenliteratur der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. In: Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee. Hg. von Hartmut Lehmann und Otto Ulbricht. Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler Forschungen, 55), S. 341-391. Hans Baldung Grien (1484-1545), der von 1503 bis 1505 in Dürers Werkstatt und danach in Straßburg und Freiburg arbeitete, schuf eine außergewöhnliche Folge von Bildern, die das weibliche Aktbild zur Darstellung von Hexen benutzten. Wenn Kunsthistoriker wie Sigrid Schade (Schadenzauber und die Magie des Körpers. Hexenbilder der Frühen Neuzeit. Worms 1983, hier S. 17) davor warnen, Hexendarstellungen in illustrativer oder dokumentarischer Form im unhistorischen Umgang mit künstlerischen Erzeugnissen zu verwenden, und anmahnen, den Zusammenhang zwischen Text und Bild und kunsthistorischen Details zu beachten, kann dem unbedingt zugestimmt werden. Andererseits ist der L’art-pour-l’art-Standpunkt mancher Kunsthistoriker, die das Kunstwerk aus jeglichem historischen Bedeutungs-Kontext herausnehmen – und etwa in Baldung Griens Hexenbildern lediglich schöne Aktstudien sehen und Baldung Grien jegliche Kenntnis von Hexenvorstellungen absprechen – ebenso entstellend und unhistorisch wie die Missachtung der künstlerischen Tradition und deren Implikationen. Sigrid Schade hat in detaillierter Interpretation der Hexenbilder Baldung Griens die „enge Verbindung Baldungs zu den geläufigen, zeitgenössischen Vorstellungen von schwarzer, das heißt dämonischer Magie“ (ebd., S. 56) aufgezeigt; vgl. hierzu auch die ausgezeichnet illustrierte Darstellung von Charles Zika (The Appearance of Witchcraft. Print as Visual Culture in Sixteenth-Century Europe. London/New York 2007).

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Sein Clair-Obscur-Schnitt Vorbereitung zum Hexensabbat (Abb. 4) von 1510 weist die Frauen durch ihre Attribute27 eindeutig als Hexen aus; die etwas füllige Frau rechts im Bild sitzt in einem magischen Dreieck – das Delta war ein Zeichen der weiblichen Genitalien –, das aus Furken zusammengesetzt ist. Sie hält einen Salbentopf (Hexenkessel, Schmierhafen), aus dem sich ein Dampfstrom mit Kröten und Salamandern erhebt. Ebenfalls Teil dieser magischen Szene ist eine dicke Frau am linken Rand, die dem Betrachter den Rücken zugewendet hat und in ihrer linken Hand einen Becher hält, sowie eine alte Frau in der Mitte des Bildes, die hinter dem Hexentopf beide Arme hoch erhoben hat. Ihre Hände halten einen Schleier, Zeichen der Verschleierung schwarzer Magie, und die rechte zusätzlich einen TelAbb. 4 ler mit einer Schildkröte hoch, eine Art Hostie als Inversion des christlichen Sakramentes. Eine vierte Hexe, alt und halb verdeckt, leuchtet den Weg für eine junge Hexe mit fliegenden Haaren, die rücklings auf einem Ziegenbock reitet und mit ihrer Furke einen Hexentopf trägt, aus dem zwei Knochen herausragen (aus Kinderknochen wurde die Flugsalbe der Hexen gekocht).28 Das dämonische, nächtliche, irrational-uneinsichtige, tierische Treiben ist hier noch nicht dem Teufel unterstellt; die um den siedenden Kessel über dem Feuer versammelte Frauengruppe stellt eine Hexenküche dar, eine Dämonisierung des im ,ganzen Haus‘ den Frauen zugeschriebenen Bereichs der Nahrungszubereitung. Die Nacktheit der Frauenfiguren wurde von den Zeitgenossen eindeutig als Zeichen der Hexerei verstanden, die bei den jungen Hexen sexuelle Laszivität bedeutet. Bei den betont alt und häss-

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Zur Deutung der einzelnen Attribute nach dem Wörterbuch des deutschen Aberglaubens vgl. Gustav Friedrich Hartlaub: Hans Baldung Grien. Hexenbilder. Stuttgart 1961. Vgl. Schade: Schadenzauber und die Magie des Körpers (wie Anm. 26, S. 58). Populäre Autorität für diesen Aberglauben der ‚Flugsalbe‘ ist u. a. der Hexenhammer, der den Hexenflug bei Tage oder nachts, sichtbar oder unsichtbar, mittels einer aus Neugeborenen oder aus Tieren, die der Dämon zur Verfügung gestellt hat, zubereiteten Flugsalbe als Realität hinstellt.

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lich an Gesicht und Brüsten dargestellten Hexen allegorisiert das hässliche Alter die unweiblichen Grenzüberschreitungen wie Ungehorsam, Eigensinn, Zorn, Mangel an Untertänigkeit dem männlichen Geschlecht gegenüber und die Laster wie ira, invidia und voluptas, wie denn auch die Kupplerinnen als alte, hässliche Frauen ikonographisch typisiert wurden. Unter dem ausgestreckten Arm der links sitzenden Hexe sind länglichrunde Gebilde auf einer Furke aufgereiht, die Würste als Wegzehrung darstellen sollen, sich jedoch bei genauer Betrachtung als weggezauberte männliche Glieder entpuppen.29 Die machtvollen, weiblichen Hexen bedrohen die Potenz der Männer. Besonders die Naturnähe – die Tiere (zwei Böcke, eine Katze, diverse Frösche, Salamander und eine Schildkröte), der Dampfstrahl, Himmel, Wolken, ein toter Baum, Wald – dieser im Freien spielenden dämonischen Szene fällt auf. Die Natur ist anthropomorphisiert, alle dargestellten Dinge und Personen sind formal nur durch ihre Konturierung voneinander getrennt. Die auf der Erde sitzenden Hexen deuten die Nähe, die Verschmelzung der Frauen mit der terra mater an (der humilitas-Gestus und der terra-mater-Bezug gehören zur Symbolik des Erdbodens in der spätmittelalterlichen Kunst). Auch die Gestaltung des Lichtes, von oben rechts bescheint Mondlicht (der Mond selbst ist nicht zu sehen) die nächtliche Szene, verleiht dem Bild eine magische, überirdisch-ominöse Qualität, während besonders in der niederländischen Kunst des 15. Jahrhunderts das Licht als Darstellungsmittel der Präsenz Gottes und der Transzendenz der Dinge gedient hat. Mit dem unheimlichen Mondlicht wird das Chaotische, Mysteriöse und Bedrohliche der Szene dem Betrachter vermittelt, der sich bildlich auf der Ebene der Hexen befindet, wenn wir die ausgestreckten Beine der uns zugewandten vorderen Hexe und die die weiblichen Genitalien markierende Furke verlängern. Den Betrachter markiert auch der Bischofshut im Vordergrund. Der Betrachter, ein Mann in Amt und Würden, ein Vertreter der Elite-Kultur, sieht in dem Bild das bedrohlich-mysteriöse Andere: unbekleidete, würdelose Frauen anstatt männlicher Würdenträger; bedrohliche Natur mit totem Baum (der Baum der Erkenntnis in der christlichen Tradition, hier verdorrt) anstatt dörflicher oder städtischer Zivilisation; Mondlicht statt Sonnenlicht; schwarze Magie statt Gelehrsamkeit und Gotteswort; perverse Riten statt Gottesdienst; vermessenes Durch-die-Lüfte-Fliegen statt normaler Fortbewegung; abgeschnittene männliche Glieder und Kinderknochen statt ehe- und hausfraulicher Produktion und Reproduktion. Diese bedrohliche ‚verkehrte Welt‘ wird von fünf – einer unheilvollen Primzahl – Frauen beherrscht, ist die Welt der Frauen, die im Delta-Zeichen der weiblichen Genitalien platziert sind. Ihre entblößten Körper, ihre Gesten und Handlungen sind fremd, bedrohlich, in sich selbst versunken,

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So sagte schon der Hexenhammer den Hexen nach, sie könnten 20 bis 30 solcher Glieder in ein Vogelnest zaubern (Schade: Schadenzauber und die Magie des Körpers [wie Anm. 26], S. 59); ein Mann, der seinen Penis verloren hat und sich deshalb an eine Hexe wendet, muss nach ihrer Aufforderung auf einen Baum klettern. Dort findet er in einem Vogelnest eine Menge Penisse, von denen er sich einen auswählen darf. Die Hexe hält ihn davon ab, einen sehr großen zu nehmen, denn der gehört einem Weltgeistlichen.

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unverständlich anders. Es ist eine totale Desorientierung für den auf der Erde liegenden Bischofshut, den seines Körpers verlustigen, männlichen Betrachter. Wie ein Kontrastprogramm zu gelehrtem Wissen und biblischem Text stellt Baldung Grien die Nähe der Frauen zur schwarzen Magie, zur bedrohlich-mysteriösen Natur und zueinander in den Vordergrund. Er bringt sie mit dem Unheimlichen der dunklen Nacht und des Waldes, mit einer chaotischen und bedrohlichen, dämonischen Natur in Verbindung. Ein wichtiger Aspekt ist die erotische Ausstrahlung, die die nackten Frauenkörper bei Baldung Grien – und in zahllosen Hexendarstellungen des 16. Jahrhunderts – ausüben, wie in den Gemälden von sog. ‚Hexenmalern‘ wie Salvator Rosa (1615-1673) oder Frans Francken d. J. (1581-1642), Der Hexensabbath (1607; Kunsthistorisches Museum, Wien). Das Erotische, Lustvolle und Mächtige dieser Szenen geht von den weiblichen Figuren und deren realistisch, sinnlich-fassbar gemalter Körperlichkeit aus. Diese ist nur in wenigen, aber betonten Details angedeutet; ebenso mysteriös und machtvoll sind die dargestellten Aktivitäten jeweils in Gruppen gemeinsam zaubernder Frauen, die mit Hilfe von abschreckenden Teufelstieren und Figuren ihr Unwesen treiben. Zusammengenommen trugen die zahlreichen bildlichen Darstellungen und Texte zur Etablierung einer ausdrucksstarken Ikonographie der Hexe als ‚böser Frau‘ bei, die entweder alt und hässlich oder jung und attraktiv war, immer in einem sexuellen Pakt dem Teufel ergeben, immer in ihren bösen Zauber verwickelt, oft mit anderen Hexen in einer Hexenküche oder auf einem Hexensabbat. Die Hexe, so schien man zu wissen, war mit einer dämonischen Natur verbunden, war Ausdruck dieser Natur, die sie zu dominieren versuchte. In diesen Imaginationen wurde die Körperlichkeit sexuell, fleischlich, tierisch verbildlicht; sie erschien bedrohlich, destruktiv, unfassbar, zügellos, eine Macht des Anderen, die sich verselbständigt hat. Die bedrohliche Macht war in den Frauenkörper, meistens nackt, mal halb bekleidet, mal aber auch in zeitgenössischer Gewandung, eingeschrieben und eingezeichnet. Der Frauenkörper war „in der Konnotation von Natur als das Andere ausgewiesen, eignet[e] sich“, wie die Kunsthistorikerin Sigrid Schade schon am weiblichen Aktbild der Renaissance gezeigt hat, auch in den Hexensabbat-Darstellungen „die Ordnungen der Macht als natürliche und begehrenswerte zu legitimieren“.30 Die Hexensabbat-Imaginationen blieben nicht bei einer „verkehrten Welt“ im Sinne einer Inversion der Verhältnisse (wie Clark wieder betont31) stehen; die Blasphemie der Religion und allen Lebens wurde über die Geschlechterdifferenz imaginiert, ging über die Frauen, einmal über die Aktivitäten der Frauen als Gruppe (die Hexenküche mit der Dämonisierung der

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Sigrid Schade: Himmlische und/oder irdische Liebe. Allegorische Lesarten des weiblichen Aktbildes der Renaissance. In: Allegorien und Geschlechterdifferenz (Literatur, Kultur, Geschlecht. Große Reihe 3). Hg. von Sigrid Schade. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 95-112, hier S. 112. Clarke: Thinking with Demons (wie Anm. 25), S. 106-133.

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Nahrungszubereitung als Schadenzauber ist zentral) und zum anderen über die lustvolle Verführung durch die Frauenkörper?32

4. Normalisierung, Disziplinierung und Umwertung der Geschlechterbeziehungen: Macht, Recht und Geschlecht Aus moderner wissenshistorischer Perspektive zeichnen sich im ,Hexenwissen‘ zwei Prozesse ab: (1) die Dämonisierung von magischen Vorstellungen und Teufelsglauben mit Fokussierung auf Körper, Sexualität und Frauen im theologischen Gelehrtenwissen, eine Dämonisierung, die die vorhandene Volksmagie vertreiben und ausmerzen sollte; (2) die Durchsetzung von christlichen Riten und theologischem Wissen als Elite-Kultur über Feindbilder andersartiger Gruppen als einer Art von Sündenböcken (wie Juden und andere ‚Ketzer‘, etwa die Waldenser, denen auch Nachtflug angedichtet wurde und die ebenfalls feminisiert wurden), wobei Frauen mit dem Konzept vom sündigen Geschlecht als Abkommen Evas stigmatisiert und als Sündenböcke instrumentalisiert wurden.33 In dem mitunter durchaus umstrittenen theologischen Herrschaftswissen, das dieser Christianisierung diente, war auch eine Sozialdisziplinierung angelegt (Norbert Elias und Gerhard Oestreich), die über die Instrumentalisierung von Hexen als Frauen im frühneuzeitlichen Zivilisations- und Ordnungsprozess lief. Geschlechterdifferenz und -antagonismus bestimmten das Leben und es kam zu einer Krise in den Geschlechterbeziehungen, weil die wesentlichen gesellschaftlichen Veränderungen im 16. Jahrhundert die Ordnung der Geschlechter betraf: die Aufhebung des Zölibats für die Protestanten, das Heiratsgebot für deren Pfarrer und die allgemeine Aufforderung zur Ehe als die christliche Lebensform für alle Konfessionen. Hierbei wurden Ängste vor dem anderen und dem eigenen Geschlecht und reale Konflikte zwischen den Geschlechtern freigesetzt, die von den zahllosen, bis ins 18. Jahrhundert hinein erscheinenden Ehebüchern und Predigten über den Ehestand mit ihren moralisierenden, praktischen Eheregeln zwar berührt wurden, ohne dass diese näher darauf eingehen konnten. Imaginationen des Anderen und Angst vor dem oder der Anderen

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Lyndal Roper hat darauf hingewiesen, dass das 16. Jahrhundert eine betont phallische Kultur war, dass hinter der Betonung und dem Vertrauen auf Männlichkeit Ängste vor dem möglichen Verlust männlicher Potenz und vor weiblichen Kräften tief verwurzelt waren: „Sixteenth-century culture [...] was a phallic culture, […] the symbol of the central Christian mystery of the Incarnation was the infant Jesus’s naked penis [...]. Beneath the phallic confidence [...] was a distinct awareness of the fragility of male potency and an anxiety about female power [...] we need to understand what men feared when they worried about the theft of manhood“ (Oedipus and the Devil. Witchcraft, Sexuality and Religion in Early Modern Europe. London/New York 1994, S. 137f.). Vgl. Richard van Dülmen: Die Dienerin des Bösen. Zum Hexenbild in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991), S. 385-396, hier S. 394). Meine Systematisierung der Strukturmerkmale des Hexensabbat orientiert sich zunächst an van Dülmen, kategorisiert jedoch anders, wie im Folgenden weiter ausgeführt wird.

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erschienen in den dämonisierten Hexensabbat-Bildern von der Kopulation mit dem Teufel, der magischen Verhexung des Körpers bis hin zu Kindesopfer und Menschenfresserei. Was zu denken gibt, ist die Dämonisierung in Text und Bild von real und gegenwärtig erscheinenden Frauen (nicht als ferne mythologische, biblische, antike oder historische Gestalten), die zu Hexenverfolgung, -prozessen und -verbrennungen führte. Es gab jedoch in dieser auch von Satansvorstellungen besessenen Zeit keine Teufelsverfolgung, keine Suche nach realen Teufeln und deren Hinrichtung. Im religiösen Rationalisierungsprozess34 wurde der Körper, die Sexualität und das Geschlecht in das ‚Hexenwissen‘ abgespalten. Es ging in der Imagination vom Hexensabbat um das Erleben des Körpers, der Geschlechtlichkeit, der eigenen und der des anderen Geschlechts, und zugleich um die Ängste davor, die im Satanskult und in Hexentreffen dämonisiert wurden – aus der Perspektive des männlichen Subjekts. Die Häufigkeit und „Uniformität der Bildlichkeit gerade im Bereich der Hexerei“ sind Indizien dafür, dass „der Primat bei der Entwicklung des Hexenbildes nicht der ‚volkstümlichen Phantasie‘, sondern den gelehrten Konstruktionen der Dämonologen zukam“.35 Der einfältigen malefica wurde immer die Rolle der lustvollen Sünderin zugeschrieben. „Die Hexe wurde – so wie jeder Sünder in Evas Gefolge – zugleich ‚objektiv‘ zur Erfüllungsgehilfin Gottes und ,subjektiv-intentional‘ Sünderin demselben Gott gegenüber.“36 Bei dem Hexenwissen handelte es sich, wie Foucault bemerkt hat, „um ein Wissen, das durch unendliche Anhäufung von Bestätigungen, die sich gegenseitig auflösen, vorgehen kann und muss. Dadurch ruht dieses Wissen mit seinem Fundament auf sandigem Boden. Die einzig mögliche Verbindung zwischen den Bausteinen des Wissens ist die Addition“.37 Das besondere Profil des kulturellen Wissens um den Hexensabbat bestand jedoch darin, dass es – trotz kritischer Stimmen38 – dennoch zur Grundlage dominanter Rechtsgrundsätze und Rechtspflege in den Hexenprozessen des 16. und besonders des 17. Jahrhunderts wurde und zur Sozialdisziplinierung diente.39 In der spezifischen

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Gerd Schwerhoff: Rationalität im Wahn. Zum gelehrten Diskurs über die Hexen in der Frühen Neuzeit. In: Saeculum 37.1 (1986), S. 45-82, hier S. 52. Ehlers/Mühlenhort: Erzählte Magie (wie Anm. 5), S. 48. Schwerhoff: Rationalität im Wahn (wie Anm. 34), S. 59. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M. 1971, S. 61. Vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Betrachtungen zur Hexenforschung. In: Geschichte und Gesellschaft 29.2 (2003), S. 316-347, hier S. 334. Historiker betonen, dass es keine historisch-faktischen Zeugnisse für real-existierende, ‚heidnische‘ Hexenfeiern gibt. „Der Hexensabbat war eine Imagination, die, wie der Glaube an das Fegefeuer und die Hölle, nicht nur die Phantasie der Menschen der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Gesellschaft lange beschäftigt hat, sondern sie auch in unheilvolle Schrecken versetzte“ (Richard van Dülmen: Imaginationen des Teuflischen. Nächtliche Zusammenkünfte, Hexentänze, Teufelssabbate. In: Hexenwelten. Magie und Imagination vom 16.-20. Jahrhundert. Hg. von dems. Frankfurt a.M. 1987, S. 94-130, hier S. 94). Van Dülmen weist auf die allerdings ganz realen Auswirkungen dieser Imagination hin: Die Vorstellung vom Hexensabbat sei aus der „Angst

Kulturelles Wissen zwischen Glaube und Aberglaube

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Kombination von weltanschaulich-theologischen Grundentscheidungen mit juristischen Argumentationen (wie bei del Rio und de Lancre) und literarisch-didaktischer Kommunikation und unterhaltender Belehrung (bei Praetorius) lag die Normalisierung dieser Imaginationen bzw. superstitio zu kulturellem Wissen, das Macht verlieh und Recht bestimmen konnte.40 Als Erklärungsmuster41 für die Dämonisierung von Frauen als Hexen und die Verfolgung in Hexenprozessen werden genannt: (1) die Reibungen an den Schnittpunkten von zwei Kulturen von nur oberflächlich christianisierter Volkskultur und einer herrschenden Elite und Gelehrtenkultur;42 (2) die krisengeschüttelte Gesellschaft (verunsichert durch Katastrophenerfahrung von Schismen und Glaubensspaltung, Seuchen und Krieg, ökonomischer und demographischer Depression) habe Sündenböcke zu ihrer Integration benötigt;43 (3) das ländliche Konfliktpotential und die Mentalität des ‚gemeinen Mannes‘, d. h. die im Aberglauben befangenen Ungebildeten;44 (4) die psychischen Ängste45 und allgemeine Intoleranz gegenüber dem Anderen und dem Andersartigen,

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vor der Beherrschung der Welt durch den Satan“ geboren und kostete als „imaginäre Realität zahlreiche Opfer“, denn in den historischen Hexenprozessen galt der Hexensabbat als Zentrum des Hexenwesens (ebd., S. 94). Aus religionswissenschaftlicher Perspektive weist NeugebauerWölk (Betrachtungen zur Hexenforschung [wie Anm. 38]) jedoch auf mögliche Reste paganer Kulte hin, was jedoch von der historischen Hexenforschung kritisch bezweifelt wird (Schwerhoff: Esoterik statt Ethnologie? [wie Anm. 7]; Christoph Daxelmüller: Die Erfindung des zaubernden Volkes. In: Jahrbuch für Volkskunde 19 [1996], S. 60-80). Diesem Phänomen, der Geschichte der Sabbatvorstellungen, dem imaginären Gehalt und der Verquickung mit realen Opfern, ist bislang relativ wenig nachgegangen worden, auch wenn eine ‚Entzifferung‘ anvisiert worden ist. Carlo Ginzburg (Hexensabbat [wie Anm. 4]) argumentiert spekulativ und bringt die Vorstellung vom Hexensabbat in Verbindung mit Volksbräuchen, heidnischer Mythologie, dem germanischen Mythos vom „wilden Heer“, der Gefolgschaft der vorgriechischen Göttin Diana, der baltischen Vorstellung von Werwölfen und eurasischen Schamanen, um eine „Geschichte der Nacht“ vorzustellen. Bei solchen weitausgreifenden Interpretationen, die strukturelle Aspekte der Ethnologie wie auch der Märchenforschung mit heranziehen, verlieren sich die historischen Details, das Charakteristische des Hexensabbats als zeitlich und örtlich in Texten lokalisierbares, auch inhaltlich bedeutungsvolles Imaginationsfeld. Vgl. Schwerhoff: Rationalität im Wahn (wie Anm. 34), S. 46 und Neugebauer-Wölk: Betrachtungen zur Hexenforschung (wie Anm. 38), S. 20. Harmening: Superstitio (wie Anm. 3); ders.: Zauberei im Abendland. Vom Anteil der Gelehrten am Wahn der Leute. Skizzen zur Geschichte des Aberglaubens. (Quellen und Forschungen zur Europäischen Ethnologie 10) Würzburg 1992; Neugebauer-Wölk: Betrachtungen zur Hexenforschung (wie Anm. 38). Hugh Trevor-Roper: The Crisis of the Seventeenth Century. Religion, the Reformation, and Social Change. Indianapolis 2001. Behringer: Hexenverfolgung in Bayern (wie Anm. 8). Roper: Oedipus and the Devil (wie Anm. 32) und dies.: Witch Craze. Terror and Fantasy in Baroque Germany. New Haven/London 2004.

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Barbara Becker-Cantarino

besonders anderen Religionsgemeinschaften gegenüber;46 (5) das misogyne Frauenbild der christlich-jüdischen wie auch der antiken Tradition, damit verbunden der geringe soziale und ökonomische Status der Frau, wobei der Ausschlussprozess von Frauen aus den Zünften für das 16. Jahrhundert belegt ist;47 die Abhängigkeit der Frauen von und ihre Unterordnung unter die jeweiligen männlichen Verwandten und die Verunsicherung durch das (seit der Reformation) propagierte Ehegebot für alle Männer. Erst mit der ‚Entzauberung der Welt‘ im rationalen 18. Jahrhundert, wie schon Max Weber aus religionssoziologischer Sicht betont hat, und der Entwicklung der Hemmschwelle gegen körperliche Strafen und deren öffentliche Zur-Schau-Stellung, wie sie Foucault beschrieben hat, verschwand das ‚Hexenwissen‘ aus dem juristischen Kanon und ging (als imaginärer Stoff) in die Literatur und Kunst ein, wie etwa in Goethes Zeichnung Hexenküche, die er etwa gleichzeitig mit der Abfassung des Urfaust mehrfach skizzierte, und wurde im Medium der Kunst wie bei Goya weitertransportiert. Das ‚Hexenwissen‘ hat im europäisch-amerikanischen Kulturraum eine grundlegende Wandlung erfahren. Mit der Rezeption der frühen Forschung zu den Hexenverfolgungen durch die alternative Szene und die Frauenbewegung,48 die u. a. die Vorstellung propagierte, die Hexen seien eigentlich paganen Riten anhängende weise Frauen gewesen, die von den Herrschenden verfolgt wurden, bietet das ,Hexenwissen‘ heute eher ein weites Spektrum der Identifikation für den Neopaganismus (die Wicca-Religion oder den keltischen Paganismus), für die Esoterik und die Erotikszene sowie eine Fundgrube für die neuen Medien.49

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Zika: The Appearance of Witchcraft (wie Anm. 26) und ders.: Exorcizing Our Demons. Magic, Witchcraft and Visual Cultures in Early Modern Europe. Leiden/Boston 2003. Schwerhoff: Esoterik statt Ethnologie? (wie Anm. 7) und Rationalität im Wahn (wie Anm. 34). Vgl. die Arbeiten von Jules Michelet: La Sorcière (Paris 1862) und Margaret A. Murray: The Witch-Cult in Western Europe. A Study in Anthropology (Oxford 1921), die den modernen Neopaganismus stark beeinflusst haben. Und das Gerede vom Hexensabbat überlebt als bedrohende sprachliche Metapher an den internationalen Börsen, wo es viermal im Jahr zum so genannten ,dreifachen Hexensabbat‘ kommt, auch genannt ‚großer Verfallstag‘, an dem an den weltweit wichtigsten Börsen die Terminkontrakte verfallen (d. h. weltweit fällt der Hexensabbat an allen wichtigen Börsen auf denselben Tag, die Futures und Optionen auf Termingeschäfte, also auch Kontrakte auf andere Indizes, internationale Aktien, Rohstoffe, Währungen etc.).

Michael Titzmann (Passau) Antichristliche und antireligiöse Diskurse in Früher Neuzeit und Aufklärung

Es wird hier nur um theoretische Texte gehen, die antichristliche bzw. antireligiöse Positionen eingenommen haben:1 die literarischen Texte des 17. und des 18. Jahrhunderts, die entsprechende Abweichungen aufweisen, werde ich hier nicht behandeln.

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Was die wissenschaftliche Literatur anlangt, verweise ich hier primär auf Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1998, der auch nicht wenige der einschlägigen Autoren herausgegeben hat; sekundär auf Georges Minois: Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Weimar 2000, dessen Titel insofern irreführend ist, als er verschiedenste Abweichungen von der offiziellen Orthodoxie behandelt; schließlich auf die Einführungen und Kommentare der Herausgeber der Texte des von mir zugrunde gelegten Korpus. Sie alle habe ich dankbar benutzt, auch wo ich sie nicht zitiere, um nicht unzählige Anmerkungen zu produzieren. Wer die Forschung kennt, sieht, wo ich abweiche. Hervorzuheben ist noch, dass die Texte des Korpus – lange von der Denk- und Philosophiegeschichte ignoriert – aufgrund eines Mentalitätswandels in unserer eigenen Gegenwart in überraschendem Ausmaß in den letzten Jahrzehnten sogar historisch-kritische Ausgaben erhalten haben: eine, wenn auch späte, so doch berechtigte Aufwertung. Mein Korpus der primären Quellentexte und die zitierten Ausgaben finden sich im chronologisch geordneten Anhang. Für die christliche Dogmengeschichte erwies sich David F. Strauß: Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft (1841) – nicht zuletzt wegen der vielen Quellenzitate – als wichtig. Texte der Antike und sonstige, für mein Thema marginale Texte habe ich nicht in den Anhang aufgenommen; diese bibliographischen Angaben finden sich in den Anmerkungen. Um einen Vergleich der Ergebnisse damaliger Religionskritik und heutiger Theologie zu haben, habe ich einige heutige theologische Texte einbezogen: die Protestanten Christoph Levin (Das Alte Testament. 4. Aufl. München 2010), Gerd Lüdemann (Der erfundene Jesus. Unechte Jesusworte im Neuen Testament. 2. Aufl. Springe 2009) und den Sammelband Die Anfänge des Christentums (Hg. von Friedrich Wilhelm Graf und Klaus Wiegandt. Frankfurt a.M. 2009), der z. T. sehr gute Beiträge von katholischen und protestantischen Theologen, zudem von Althistorikern und einem Philosophen (Kurt Flasch) umfasst. Bedauerlicherweise behandelt kein Beitrag die allmähliche Herausbildung der christlichen Dogmen vom 1. bis zum 5. Jahrhundert und die Einflüsse der anderen Religionen des römischen Reichs. Jedem Bibel-Leser sei die Lektüre von Israel Finkelstein/Neil A. Silberman: Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel. München 2002 (zum Stande der biblischen Archäologie) dringend empfohlen. Zum Thema der ,Gottesbeweise‘ aus der Sicht heutiger Philosophie vgl. Joachim Bromand/Guido Kreis (Hgg.): Gottesbeweise von Anselm bis Gödel. Frankfurt a.M. 2011, v. a.

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Michael Titzmann

Ausgeschlossen werden damit ganze Textgruppen wie z. B. die – insbesondere französischen – Utopien schon der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts2 oder die philosophisch-pornographischen Romane des französischen 18. Jahrhunderts3; sowie unzählige sonstige Text, in denen explizit oder implizit anti-christliche/-religiöse Positionen vertreten werden; so etwa bei so manchem englischen Autor der elisabethanischen Zeit, so bei den vielen französischen ,Libertins‘ des 17. Jahrhunderts, so bei den Literaten der französischen Aufklärung, so bei deutschen Autoren wie Wieland, Lessing, Klinger, Goethe, Schiller, Jean Paul usw.

0. Voraussetzungen Die neuartige Einstellung der Renaissance zu antiken Texten, die sie zudem im neuen Medium des Buchdrucks ediert, transformiert radikal die intellektuelle Situation: Ab jetzt sind synchron heterogenste Philosophien – Platonismus, Aristotelismus, Stoizismus, Pyrrhonismus/Skepsis, Epikureismus – verfügbar. Sie alle erheben autoritative Wahrheitsansprüche, die aber untereinander inkompatibel sind. Sie alle sind vor allem in verschiedenem Umfang unvereinbar mit dem Christentum und dessen absolutem und machtgestützten Autoritäts- und Wahrheitsanspruch (auch wenn in verschiedenen Jahrhunderten partiell Konzepte des Platonismus, des Stoizismus, des Aristotelismus in die Fundamente dieser Theologie eingegangen sind).4 Mit der Reformation, die in ihren Anfängen durchaus aus dem Renaissance-Denken hervorgeht, wenngleich sie sich bald gegen dieses wendet, tritt zudem die Spaltung der kulturell ranghöchsten Autorität in ,katholisch vs. protestantisch‘ ein, wobei sich der Protestantismus seinerseits bald in ,lutherisch vs. kalvinistisch‘ zerlegt und sich von ihm zudem diverse kleinere Gruppen abspalten, gern als ,Sekten‘ benannt, also Gruppen, die es nicht schaffen, sich als ‚Kir-

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aber John Leslie Mackie: Das Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes. Stuttgart 1985 und Norbert Hoerster: Die Frage nach Gott. 3. Aufl. München 2010. Noch nicht bekannt war mir bei der Abfassung des Ms. der wichtige Text – auf den hier nachdrücklich hingewiesen sei – des Philosophen Hubert Schleichert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. 7. Aufl. München 2012. Dazu Michael Titzmann: Die Relation von Glauben und Wissen(schaft) in europäischen Utopien der Frühen Neuzeit. In: Semiotische Weltmodelle. Hg. von Hartmut Schröder und Ursula Bock. Münster 2010, S. 570-634. Dazu Michael Titzmann: Sexualität und Anthropologie in der französischen Aufklärung. Der philosophisch-pornographische Roman. In: Michael Titzmann: Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte. Hg. von Wolfgang Lukas und Claus-Michael Ort. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 119) Tübingen 2012, S. 433-483. Wenn in unserem Zeitraum sich ein Text positiv auf Epikur bezieht oder zustimmend aus De rerum natura des Titus Lucretius Carus (Hg. und übs. von Karl Büchner. Stuttgart 1973) zitiert, darf man getrost deutlich heterodoxe Positionen vermuten, zumal wenn sich die vielzitierte Lukrez-Stelle „Tantum religio potuit suadere malorum“ (Buch I, Vers 101) in diesem Text findet.

Antichristliche und antireligiöse Diskurse

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chen‘ – d. h. als von der jeweiligen politischen Macht akzeptierte, mit ,legitimierter‘ Kontroll- und Sanktionsmacht gegenüber ihren ,Gläubigen‘ ausgestattete Organisationen – zu institutionalisieren. Auch im Katholizismus wird es im Übrigen erhebliche innersystemische Konflikte geben, so im 17. und frühen 18. Jahrhundert den zwischen Jesuiten und Jansenisten. Diese Ausdifferenzierung in konkurrierende Autoritäten führt bekanntlich zur deutlichen gegenseitigen Abgrenzung von Reformation und Gegenreformation durch Dogmatisierung und zur gewalttätig-mörderischen Auseinandersetzung in den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts sowie zur Ausrottung der Andersoder gar ,Ungläubigen‘ im eigenen Herrschaftsgebiet. Besonders im katholischen Raum gehört nicht nur das Verbrennen von Büchern ideologisch abweichenden Inhalts,5 sondern auch das von deren Autoren zu den legalisierten Praktiken, denen man bis tief ins 18. Jahrhundert nachgeht,6 wo man im protestantischen Raum nur mehr Bücher verbrennt.7 Nun teilen Katholizismus und Protestantismus natürlich zentrale Dogmen: Wer von diesen abweicht, wird von allen christlichen Kirchen verfolgt, so etwa die ,Täufer‘. Giordano Bruno gerät auf seinen Reisen in Kollision mit Lutheranern und Kalvinisten und wird jeweils ausgestoßen, die Katholiken verbrennen ihn 1600 in Rom; Michael Servetus (Miguel Serveto) entgeht der Verbrennung durch die Katholiken in Lyon per Flucht, Calvin verbrennt ihn 1553 erfolgreich in Genf. In den christlichen Staaten der Frühen Neuzeit ist selbständiges Denken lebensgefährlich; und noch im 18. Jahrhundert kann es zumindest die soziale Existenz zerstören. Fairerweise sollten lokale Unterschiede vermerkt werden: In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind vor allem die Niederlande, später dann auch England toleranter.

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Daran hat sich schon die christlich gewordene Antike vergnügt: So dekretieren etwa die Imperatoren Theodosius und Valentinianus 448 u. Z. die Verbrennung aller Werke des Philosophen Porphyrios und aller anderen antichristlichen Texte. Der antichristliche Alethes logos des Celsus ist nur insofern erhalten und einigermaßen rekonstruierbar, als Origenes ihn in seinem Contra Celsum ausgiebig zitiert hat. Siehe Celsus: Contro i Cristiani. Premessa al testo, traduzione e note di Salvatore Rizzo. Milano 1997. Auch der ebenfalls antichristliche Text Kata ton Galilaion [Gegen die Galiläer] (362/363 u. Z.) des Kaisers Julianus verdankt seine partielle Überlieferung seiner Zitierung in einem apologetischen Text eines gewissen Cyrillus aus Alexandria (siehe Julien l’Apostat: Défense du paganisme. Hg. von Yannis Constantinidès. Paris 2010; diese französische Übersetzung stammt im Übrigen vom Aufklärer Marquis d’Argens und ist 1764 in Berlin erschienen). So wird 1766 in Frankreich ein junger Mann, der Chevalier de la Barre verurteilt, 1. die Amputation der Zunge bis zur Wurzel zu erleiden, 2. ihm die rechte Hand vor der Tür der Hauptkirche abzuhacken, 3. ihn schließlich auf dem Marktplatz mit Eisenketten an einen Pfosten zu fesseln und bei kleinem Feuer (sonst erstickt das Opfer zu schnell) zu verbrennen (resümiert nach Voltaire: L’Affaire Calas et autres affaires. Hg. von Jacques van den Heuvel. Paris 1975, S. 319). Nachweisbare Vergehen de la Barres: hat den Hut vor einer Prozession nicht abgenommen, besaß drei pornographische Romane, zudem Voltaires Dictionnaire (!), hat mit Freunden Lieder über die biblische Maria Magdalena gesungen, die auf deren früheren Job Bezug nahmen. So wird Friedrich W. Stoschs Concordia rationis & fidei, sive harmonia Philosophiae Moralis & Religionis Christianae (1692) 1694 verboten und die Auflage verbrannt; der Autor kommt mit einer ,Abschwörung‘ davon.

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Michael Titzmann

Trotz – und auch wegen – aller ideologischen Verhärtungen im Gefolge der Religionsspaltungen haben die Konflikte der christlichen Theologien untereinander und jeder von ihnen mit jeder der durch die Renaissance wiederbelebten antiken Philosophien eine für die europäische Denkgeschichte zentrale und innovative Folge: Von allen Individuen, die Vernunft besitzen und davon Gebrauch zu machen gedenken, also von einer quantitativ unerheblichen Minorität, fordert der Konflikt konkurrierender ideologischer Systeme mit Autoritätsanspruch eine Entscheidung zwischen den ,Autoritäten‘. Als einzige Entscheidungsinstanz bleibt dann aber die menschliche Vernunft, die sich bis dahin dem Glauben zu unterwerfen hatte und jetzt über ihn entscheiden muss. Sie kann sich aus irgendwelchen Gründen für eine der im Angebot stehenden Autoritäten oder aber gegen alle entscheiden und sich ihr eigenes ideologisches System stricken. In dem Jean Bodin zugeschriebenen und auf 1593 datierten Colloquium Heptaplomeres findet ein Religionsdisput zwischen sieben Freunden statt, die unterschiedliche Positionen vertreten (Katholik, Lutheraner, Kalvinist, Jude, Mohammedaner, ,Heide‘, naturalista = im Text der ,Rationalist‘). Man streitet sich über Autoritätsansprüche, und der ,Rationalist‘ darf formulieren, was in einem solchen Konflikt die einzig mögliche Entscheidungsinstanz ist: Nichts scheint eine gewissere Norm der Wahrheit als der ungebeugte Verstand, d. h. das oberste Gesetz der Natur, das dem menschlichen Geiste vom unsterblichen Gotte eingegeben ist; es kann nichts Festeres, nichts Älteres, nichts Besseres existieren, ja nicht einmal gedacht werden.8

Der menschliche Verstand erscheint für solche Wahrheitsentscheidungen dadurch legitimiert, dass er als gottgegeben erscheint, was sich in der Folge bei so verschiedenen Autoren wie z. B. Galilei, Descartes, Comenius wiederfinden wird: eine Position, die seit dem frühen 17. Jahrhundert charakteristisch für die (minoritäre) Tendenz dieser Zeit ist, die man – zurecht – als ,Rationalismus‘ benannt hat. Angesichts dieser Wahrheitsinstanz, der Vernunft, sind dann folglich Autoritätsberufungen nicht mehr als Argument akzeptabel, wie wiederum der ,Rationalist‘ des Colloquium formuliert: Lassen wir die Autoritätsansprüche von Menschen beiseite, und es werde mit zwingenden Argumenten diskutiert!9

Da die Autoritäten sich wechselseitig infrage stellen und relativieren und zumindest bei – wenn auch kleinen – Teilgruppen folglich nur der eigene Verstand als letzte und

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Jean Bodin: Colloquium Heptaplomeres (1593), S. 257: „nulla veritatis certior norma videtur, quam recta ratio, i. e. suprema naturae lex hominum mentibus ab immortali Deo insita, qua nihil stabilius, nihil antiquius, nihil melius fieri ac ne cogitari quidem potest“. Die zitierten Ausgaben werden in Text und Anmerkungen mit Autornamen und Titel plus Jahreszahl zitiert; die Seitenzahlen sind die der verwendeten Ausgaben: siehe Anhang. Übersetzungen fremdsprachlicher Zitate stammen, wenn nichts anderes angegeben ist, von mir. Ebd., S. 300: „Omittamus hominum auctoritatem ac necessariis argumentis disseratur!“

Antichristliche und antireligiöse Diskurse

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ranghöchste Autorität verbleibt, werden als Konsequenz auch innovative Diskurse möglich, die entweder als antichristliche das Christentum, aber nicht Religion an sich, oder als antireligiöse jede Religion infrage stellen oder negieren. Diese – nicht aber innerchristliche Abweichungen, auch nicht die ‚theosophischen‘ oder ,okkultistischen‘ Diskurse, so wichtig alle diese Phänomene denkgeschichtlich sind – werden mein Thema sein. Sie bleiben zwar im 17. Jahrhundert noch ein Randphänomen des ‚Rationalismus‘, dem sie aber in den gemeinsamen Prämissen verbunden sind; innerhalb dessen dann, was man im 18. Jahrhundert als ,Aufklärung‘ benennt, tendieren sie dazu, dominant zu werden. Die Diskurse, von denen die Rede sein soll, entstammen lokal dem protestantischen Raum, dem englischen, niederländischen, deutschen Sprachgebiet, und Frankreich, das schon im 17. Jahrhundert einen Sonderstatus im katholischen Raum einnimmt, so unterprivilegiert trotz des Edikts von Nantes durch Henri IV. 1598 (das Louis XIV. 1685 aufhebt) seine protestantische Minorität auch sein mag – hier finden sich schon im 17. Jahrhundert erstaunliche ideologische Abweichungen derer, die man als libertins, als esprits forts, als sceptiques etc. benannt hat. Es wird im Übrigen auch dieser protestantische Raum plus Frankreich sein, in dem die europäische Aufklärung primär stattfindet: Der Rationalismus des 17. Jahrhunderts und die antichristlichen bzw. antireligiösen Abweichungen innerhalb seiner sind – ungewollt und ungewusst – ein intellektuelles Vorspiel der Aufklärung im 18. Jahrhundert. In Opposition zu anderen historischen Klassifikationen, die das 18. Jahrhundert der Frühen Neuzeit subsumieren, was zweifellos unter anderen Fragestellungen als der meinen, z. B. politischen oder ökonomischen, berechtigt sein mag, behaupte ich, dass unter dem denkgeschichtlichen Aspekt – um den es hier geht – zwischen jenem Rationalismus und der Aufklärung ein Systemwandel stattfindet. Noch eine letzte für das Thema relevante Voraussetzung ist einzuführen. Es handelt sich um die Entstehung eines fundamental neuen Diskurses innerhalb dieses Rationalismus, einsetzend bei Kepler und Galilei und fürs Erste bei Newton kulminierend, den man in der Folge als ,Naturwissenschaft‘ benannt und zurecht aus der zeitgenössischen ,Naturphilosophie‘, der er sich selbst noch zurechnete, ausgegrenzt hat.10 Das in diesem Diskurs vertretene kopernikanische Weltmodell kollidiert mit Bibel, Theologie, aristotelischer Philosophie (1616 Verurteilung des Copernicus, 1633 Verurteilung Galileis); in der Lettera a Cristina di Lorena von 1615 postuliert Galilei die Emanzipation der Naturwissenschaft von der Theologie. Dieser Konflikt zwischen dem Dominanz beanspruchenden theologischen Diskurs und dem der neuen Naturwissenschaft wird fundamentale Konsequenzen für das europäische Denken haben. Aus den Erfolgen des neuen Diskurses resultiert das Konzept eines (intellektuellen) ,Fortschritts‘, das dann die Auf-

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Vgl. Michael Titzmann: Die Emanzipation der Wissenschaft im denk- und wissensgeschichtlichen Kontext. In: Galileo Galilei: Lettera a Cristina di Lorena/Brief an Christine von Lothringen. Hg. von Michael Titzmann und Thomas Steinhauser. Passau 2008, S. 213-550.

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Michael Titzmann

klärung zum allgemeinen geschichtsphilosophischen Modell generalisieren wird; damit verknüpft ist die Legitimation von theoretischer Neugier und die positive Bewertung von theoretischer Innovation.

1. Bemerkungen zur Terminologie 1.1 Christentum Unter Christentum sei hier die Gesamtmenge der Propositionen verstanden, die die Theologie der jeweiligen christlichen Fraktion zu ,heilsrelevanten‘ Dogmen erklärt hat und von denen sie, oft genug zu Unrecht, behauptet, sie seien aus den ,heiligen Schriften‘, also der Bibel (dem ,alten‘ [= AT] und dem ,neuen Testament‘ [= NT]) ableitbar; die Dogmenmengen der katholischen, lutherischen, kalvinistischen Kirchen weisen natürlich einen umfänglichen gemeinsamen Durchschnitt auf. Die Differenzen dieser Kirchen und der sonstigen unzähligen innerchristlichen Abweichungen sind nicht mein Thema, sondern nur solche Diskurse, die entweder die Wahrheitsansprüche des Christentums generell oder jeder Religion grundsätzlich bezweifeln oder bestreiten. Wenn ich im Folgenden von ,Christentum‘ spreche, ohne die ,Konfession‘ zu spezifizieren, sind immer die allen Gruppen gemeinsamen Dogmen gemeint. Besonders wichtig in unserem Kontext sind: C 1: C 2: C 3: C 4:

C 5: C 6: C 7: C 8:

Es gibt einen Gott. Dieser Gott besteht aus drei Personen (,Trinität‘ = ,Vater‘ + ,Sohn‘ + ,heiliger Geist‘), die offenbar, wenn auch in Konsens, unabhängig voneinander handeln können, aber gleichwohl nur ein Gott sind: einerseits drei, andererseits identisch. Diesem Gott wird eine Menge von Merkmalen zugeschrieben; er ist u. a. a) ,ewig‘, b) ,allmächtig‘, c) ,allwissend‘, d) ,gerecht‘, e) ,gut‘/,gütig‘, f) ,immateriell‘ (,Geist‘), g) eine ,einfache Substanz‘, usw. Außer diesem Gott gibt es noch eine (von ihm geschaffene) Menge untergeordneter, ebenfalls immaterieller, nicht-menschlicher Wesenheiten, die sog. ,Engel‘, von denen eine Teilmenge von ihm abgefallen seien: die ,Teufel‘, die als seine Gegenspieler fungieren. Dieser Gott hat das Universum und sämtliche seiner Inhalte, also auch die Menschen, ,geschaffen‘. ,Gottes Vorsehung‘ kontrolliert und erhält diese Welt und ihre Inhalte. Der Mensch besteht aus einem Körper und einer ,unsterblichen Seele‘, die ihn im Tod überlebt. Dieser Gott hat sich (zuerst den antiken Juden) wiederholt ,geoffenbart‘; seine ,Offenbarungen‘ sind in einem Bibel genannten Textkorpus, bestehend aus den Texten des (jüdischen) ,Alten Testaments‘ und den Texten des (christlichen) ,Neuen Testaments‘, schriftlich fixiert: die sog. ,heilige Schrift‘.

Antichristliche und antireligiöse Diskurse C 9:

C 10:

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C 12:

C 13:

Dieser Gott verlangt von allen Menschen, a) die in der Bibel (also AT + NT) als wahr gesetzten Aussagen zu glauben, b) die dort als verbindlich behaupteten Normen zu befolgen, c) ihn und nur ihn, etwa durch bestimmte kultische Praktiken, zu verehren. Die Einhaltung der in C 9 gesetzten Regeln belohnt Gott, die Verletzung bestraft er, beides manchmal schon in diesem Leben, in jedem Falle aber, wenn er nach dem Tode des Menschen und/oder beim Weltende (sog. ,jüngster Tag‘) ,Gericht‘ über ihn hält; es scheint, dass von den drei Gottheiten speziell der ,Sohn‘ die Richterfunktion übernehmen wird.11 ,Lohn‘ und ,Strafe‘ sind jeweils als ,ewig‘ gedacht: Wer C 9 erfüllt hat, dessen ,Seele‘ wird für immer in den ,Himmel‘ aufgenommen; wer C 9 verletzt hat, dessen ,Seele‘ bzw. dessen ,Seele‘ und Köper (da am ,jüngsten Tag‘ die ,Auferstehung‘ aller Körper aller Menschen, die je gelebt haben, stattfindet) werden für immer in der ,Hölle‘ gefoltert. (Der Katholizismus kennt zudem noch einen dritten ,jenseitigen‘ Ort, das ,Purgatorium‘,12 zur temporären Peinigung und Zwischenlagerung der ,Seelen‘, die nicht so ,böse‘ waren, dass eine ewige Höllenstrafe angemessen scheint.) Schon die ersten Menschen (,Adam‘ und ,Eva‘), die dieser Gott geschaffen hat, haben eine Normverletzung, den sog. ,Sündenfall‘, begangen; diese Schuld wird als ,Erbsünde‘ an alle ihre Nachkommen vererbt, die damit von Geburt an ,verdammt‘, also höllenreif, sind. Da somit alle Menschen qua Geburt ,verdammt‘ sind, beschloss dieser Gott später eine ,Erlösung‘: zu welchem Behufe a) sich die zweite Person der Gottheit, der ,Sohn‘, auf Erden in Gestalt eines Jesus aus Nazareth – der sowohl ,ganz Mensch‘ als auch ,ganz Gott‘ gewesen sei (= Dogma der ,zwei Naturen in Christo‘) – inkarnierte, indem der ,heilige Geist‘ eine ,Jungfrau‘, Maria, die Verlobte eines gewissen Joseph, schwängerte, die gleichwohl ,Jungfrau‘ geblieben sei; und b) dieser Jesus während seines irdischen Lebens das ,Evangelium‘ verkündigt und durch viele ,Wunder‘ seine Botschaft beglaubigt habe, und c) schließlich gemäß ,göttlichem Heilsplan‘ gefoltert, gekreuzigt, gestorben sei, durch welchen ,Opfertod Gottes‘ das göttliche Rachebedürfnis an den Menschen befriedigt und die Menschheit ,erlöst‘ worden sei; und er d) endlich ,am dritten Tage‘ ,von den Toten auferstanden‘ sei, sich seinen ,Jüngern‘ gezeigt habe, dann in der ,Himmel‘ ,aufgefahren‘ sei.

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Vgl. z. B. Johannes 5,22 (Luther, Martin [1545]: Biblia: das ist: Die gantze Heilige Schrifft: Deudsch. Hg. von Hans Volz. Darmstadt 1972). Nach dieser Ausgabe wird auch im Folgenden zitiert. Im Hochmittelalter erfunden; vgl. Dante Alighieris Divina commedia (a cura di Fredi Chiapelli. Milano 1965, dort auch hübscheste Beschreibungen des höllischen Folterkellers); vom Konzil von Trient zum Dogma erhoben.

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C 14: ,Erlöst‘ wird aber allenfalls, wer a) an diesen Gott und seinen Sohn und deren ,Offenbarungen‘ glaubt, und b) die von diesem Gott bzw. seinem Sohn gesetzten Normen einhält, und c) durch die sog. ,Taufe‘ sich als Mitglied der ,einzig wahren Religion‘, nämlich der ,Kirche Christi‘, bekennt.13 Aber C 14 – das die ,Freiheit des menschlichen Willens‘ voraussetzt – kann durch weitere Zusatzannahmen eingeschränkt werden: etwa dadurch, dass für die ,Erlösung‘ zudem die ,göttliche Gnade‘ erforderlich ist (C 15a), und/oder dass eine ,Prädestination‘ angenommen wird, der zufolge Gott vor aller Zeit schon festgelegt hat, wen er zu ,erlösen‘ oder zu ,verdammen‘ gedenkt, unabhängig vom Verhalten der Menschen auf Erden (C 15b). Zu diesen Zentraldogmen kommen noch weitere wichtige Postulate hinzu, die Voraussetzung einer – christlich gesehen – adäquaten Interpretation der ,heiligen Schriften‘ sind: dazu später. Zwei innerchristliche – von allen Kirchen verfolgte – Abweichungen seien hier genannt, weil sie auch für die außerchristlichen Diskurse relevant waren. Das ist zum einen die dem Origenes zugeschriebene Position der Apokatastasis panton, der ‚Wiederbringung aller Dinge‘, der zufolge es keine ,ewigen Höllenstrafen‘ gebe, sondern am Ende sogar der bzw. die ,Teufel‘ ,erlöst‘ würden; diese – schon in der Antike für ‚häretisch‘ erklärte – Behauptung wird spätestens mit Pico de la Mirandolas Conclusiones nongentae 1486 wieder relevant und in vielen abweichenden Texten, wie eben auch dem Colloquium Heptaplomeres, diskutiert. Das ist zum anderen die Bestreitung des Dogmas der ,Trinität‘, dem zufolge es drei christliche Götter (,Vater‘, ,Sohn‘ = Jesus, ,heiliger Geist‘) gebe, die aber gleichwohl nur ein Gott seien.14 Während der unglückliche Servetus wegen dieser antitrinitarischen Position 1553 in Genf von Calvin verbrannt wird, ist Fausto Sozzini15

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Ungetauft sterbende Kinder kommen folglich in die ,Hölle‘, was man durch Erfindung des sog. ‚Limbus‘, einer ,Vorhölle‘, zu mildern suchte; diesen ,Limbus‘ hat jüngst der aktuelle Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) abgeschafft; ich habe keine Ahnung, was jetzt aus den ungetauften Kindern werden soll. Das ,Glaubensbekenntnis‘, das man als das ,nicaenokonstantinopolitanische‘ kennt, setzt, dass es drei Götter gebe, die gleichwohl nur einer seien: der ,Sohn‘ sei „genitum, non factum, consubstantialem Patri“ und „ex Patre natum ante omnia saecula“, und vom ,Geist‘ gilt, dass er „ex Patre filioque procedit“ (welches „filioque“ sich zwar die römisch-katholische, nicht aber die griechisch-orthodoxe Kirche zu eigen gemacht hat); auch scheint das Christentum der Frühen Neuzeit zu behaupten, der ,Sohn‘ sei „coaevus“, also gleich alt, mit dem ,Vater‘. Man darf bezweifeln, dass diese Formeln jemals von irgendwem verstanden worden sind. Laut Fausto Sozzini würde aus den ,Evangelien‘ nicht folgen, dass sich Jesus jemals als ein ,Gott‘ bzw. als leiblicher ,Sohn‘ eines solchen ausgegeben habe; unter ,heiligem Geist‘ sei nicht eine eigenständige Gottheit, sondern nur die Macht bzw. Wirkung Gottes gemeint. Siehe dazu: Fausti Socini Senensis Opera Omnia (Bibliotheca Fratrum Polonorum quos Unitarios vocant). Amsterdam 1656, Bd. I, S. 811.

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erfolgreicher; die ,Sozinianer‘, auch ,Arianer‘16 oder ,Antitrinitarier‘ genannt, breiten sich zunächst in Polen, dann in den Niederlanden und England17 – wo immerhin so Große wie John Locke und Isaac Newton diese Meinung teilen – aus; die antitrinitarische Position behauptet, jene ,Trinität‘ könne aus den Texten des NT nicht abgeleitet werden und sei im Übrigen auch den frühen ,Aposteln‘ unbekannt gewesen. 1.2 Deismus Mein Gegenstand sind also nur die Texte, die man unter ,Deismus‘, ,Skepsis‘, ‚Agnostizismus‘, ,Atheismus‘, ,Pantheismus‘ subsumiert hat, wobei einige Begriffsklärungen notwendig sind. Zunächst zum Deismus. Der Begriff des ,Deisten‘ (déiste) scheint im Französischen zuerst bei dem Kalvinisten Pierre Viret 1564 aufzutauchen;18 ihm zufolge handelt es sich um die Selbstbenennung einer Gruppe, die zwar an einen Gott, aber an keine ,Offenbarung‘ glaube (ohne die der Wahrheitsanspruch des Christentums zusammenbricht). Virets Zeugnis ist bemerkenswert, weil diese – durchaus neuartige – Position in diesem Zeitraum noch in keinem Text belegt scheint; das erste Dokument in meinem Korpus, das man zurecht als ,deistisch‘ bezeichnen kann, wäre Origo et fundamenta religionis Christianae (dem Protestanten Martin Seidel zugeschrieben und im Eintrag einer fremden Hand auf 1587 datiert). In Opposition zur christlichen Theologie kennt der Text tatsächlich nur einen Gott (ohne ,Sohn‘ etc.); und von dieser religiösen Einstellung behauptet er: Diese Erkenntnis Gottes und diese Verehrung Gottes haben seit dem Anfang der Welt bei den ersten Menschen existiert, die keine geschriebenen Gesetze, keine geschriebene Religion, sondern nur das gehabt haben, was Natur und Vernunft sie lehrten. Und allein aus der Vernunft haben sie Gott erkannt und verehrt.19

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Benannt nach dem Presbyter Arius, der sich auf dem Konzil von Nicaea gegen die – am Ende siegreiche – Meinung des Bischofs Athanasius gesträubt hat, der ,Sohn‘, Jesus, sei wesens- und ranggleich mit dem ,Vater‘. In seinen Ausführungen zur Religion in England behauptet etwa Voltaire (Lettres philosophiques [1734], S. 50): „[…] le parti d’Arius commence à revivre en Angleterre, aussi bien qu’en Hollande et en Pologne. Le grand monsieur Newton faisait à cette opinion l’honneur de la favoriser […].“ Neben Newton nennt er auch Samuel Clarke, John Locke und Jean Le Clerc. Nach Gerhard Schneider: Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert. Stuttgart 2000, S. 115. Martin Seidel: Origo et fundamenta religionis Christianae. In: Zeitschrift für die historische Theologie 6 (1836), 2. Stück, S. 180-259, hier S. 241: „Haec agnitio Dei et hic cultus Dei fuit ab initio mundi apud primos homines, qui nullas leges scriptas, nullam scriptam religionem, sed ea tantum, quae ipsos natura et ratio docuit, habuerunt. Deumque sola ratione agnoverunt et coluerunt.“

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Was man den ,Deismus‘ der Origo nennen kann, umfasst die folgenden Thesen: D 1: Es gibt genau einen Gott; damit grenzt sich der Deismus von der christlichen These einer ,Trinität‘ ab. D 2: Dieser Gott kann ohne ,Offenbarung‘ erkannt werden (in der Folge das Basispostulat des Deismus), und zwar D 2a: aus der ,Natur‘, weshalb sich der Deismus auch als ,natürliche Religion‘ verstehen wird. D 2b: aus der ,Vernunft‘; der Deismus wird sich als ,vernunftgemäße Religion‘ klassifizieren. D 3: Erkenntnis und Verehrung dieses Gottes ist D 3a: die älteste Religion; die These eines anfänglichen (deistischen) Monotheismus wird sich in vielen Texten unseres Zeitraums wiederfinden,20 gehört aber nicht notwendig zu den Annahmen deistischer Texte. D 3b: die Religion aller Menschen; es würde sich also – im Gegensatz zum Christentum – um ein universales Glaubenssystem handeln. Diesem Gott schreibt die Origo die Merkmale (D 4) zu, die schon das Christentum seinem Gotte zugeschrieben hatte: Er wäre demnach „unendlich“ (D 4a), „ewig“ (D 4b), „allmächtig“ (D 4c), „allwissend“ (D 4d), „gerecht“ (D 4e), „gütig“ usw.;21 diese Merkmale werden die meisten deistischen Texte sich zu eigen machen. Er habe die Welt „erschaffen“ (D 5a) und erhalte sie (D 5b); D 5a wird in der Folge von allen Deisten geteilt, nicht aber D 5b. Er habe Normen gesetzt, deren Einhaltung er belohne und deren Verletzung er bestrafe (D 6); im Regelfalle setzen die Deisten eine „Unsterblichkeit der Seele“ (D 7) voraus, wodurch sich das Postulat göttlicher Belohnung bzw. Bestrafung auch dann aufrecht erhalten lässt, wenn die „diesseitigen“ Erfahrungen ihm zu widersprechen scheinen. Diese Normen – die sich auch darauf reduzieren ließen, „dass wir Gott über alles lieben, dann aber auch den Nächsten wahrhaft lieben“22 – seien laut Origo mit dem Dekalog des Moses, also den „zehn Geboten“, identisch (D 8) und dem Menschen „von Natur aus“ angeboren und „quasi eingemeißelt“ in Gestalt des „Gewissens“ (D 9);23 das Problem der Normbegründung wird ein zentrales Problem der nichtchristlichen Diskurse noch des ganzen 18. Jahrhunderts sein; auf die durchaus sehr verschiedenen Lösungsversuche werde ich hier aus Raumgründen nicht eingehen. Eine ,natürliche Religion‘24, wie sie die Origo entwirft, stünde nicht notwendig in Opposition zum Christentum: Das Konstrukt einer Religion, die quasi allen Menschen

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So z. B. Theodor Lau: Meditationes philosophicae de Deo, mundo, homine (1717). D 4 und D 5: Seidel: Origo (wie Anm. 19), S. 236. Ebd., S. 242: „ut Deum supra omnia diligamus, deinde etiam proximum vere diligamus“; vgl. dazu auch Spinoza, der im Tractatus theologico-politicus (1670, S. 408) den dogmatisch-moralischen Gehalt der Bibel zu der Formel eindampft, „Deum supra omnia amare et proximum tanquam se ipsum“ („Gott über alles zu lieben und den Nächsten wie sich selbst“). D 6: Seidel: Origo (wie Anm. 19), S. 236; D 8: ebd., S. 241; D 9: ebd., S. 238. Das Lexem ist im 16. Jahrhundert schon belegt.

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gemeinsam wäre, bevor eine Teilgruppe von ihnen eine von einer Gottheit inspirierte ,Offenbarung‘ erhalten hätte, kann auch apologetischen Zwecken der christlichen Theologie dienen. So hat schon Nikolaus von Kues in De pace fidei 145325 behauptet, es gebe solche gemeinsamen Annahmen aller Religionen, woraus er folgert, sie alle könnten sich dem Christentum anschließen. Die Behauptung einer universalen ,natürlichen‘ Religion wird in der Frühen Neuzeit auch als Argument gegen ,Atheisten‘ verwendet. Man argumentiert dann mit dem consensus omnium: Was alle Menschen aller Kulturen glauben, müsse ‚wahr‘ sein.26 So entwickelt z. B. Herbert of Cherbury in De veritate 1624 (ebenso wie in De religione laici 1645) aus den angeblich allen Menschen gemeinsamen Konzepten (notitiae communes) die Elemente einer ,natürlichen‘ – deistischen – Religion,27 deren Relation zum Christentum hier (noch) unentschieden bleibt: Er legt sich nicht fest, ob eine solche Religion zur Erlangung des ,Heils‘ ausreichend sei;28 aber schon die Frage so zu stellen, impliziert die Möglichkeit, dass ein Deismus eine hinreichende religiöse Position sein könne und es somit eventuell des Christentums nicht mehr bedürfe. Wir müssen also innerhalb der ,natürlichen Religion‘ zwischen Varianten unterscheiden, die nur der apologetischen Unterstützung des Christentums dienen, und dem Deismus im engeren Sinne, der das Christentum substituiert; nur dieser interessiert hier. In beiden Fällen aber gibt es die Opposition ,natürliche‘ vs. ,geoffenbarte‘ Religion; aber im ersten Falle schließen sich die beiden nicht aus, sondern ergänzen sich, im zweiten hingegen schließen sie einander aus: Nur eine kann ,wahr‘ sein. Der Deismus der Origo könnte auf den ersten Blick mit dem Christentum kompatibel scheinen, hätte der Text nicht schon vorher zentrale Annahmen des Christentums angegriffen (dazu später). Radikaler noch verabschiedet sich vom Christentum der zweite deistische Text in meinem Korpus: die vor 1624 entstandene Versdichtung, der man den Namen der Quatrains du Déiste29 gegeben hat; diesen Text, den er ausgiebig zitiert, bekämpft Mersenne 1624 in L’impiété des Déistes. Die Quatrains attackieren die Gottesvorstellungen der Bibel, zumal des AT: Dem allzu (un)menschlichen AT-Gott30 – von heftigen menschlichen Affekten geplagt, rachelüstern, mordgierig, ungerecht, unberechenbar, seine Meinungen ändernd, das Verhalten seiner Geschöpfe nicht voraussehend

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Hg. und übs. von Klaus Berger und Christiane Nord. Frankfurt a.M. 2002. Das Argument tritt schon in Ciceros De natura deorum (Hg. und übs. von Olof Gigon und Laila Straume-Zimmermann. Darmstadt 1996) auf – und wird dort schon widerlegt. Edward Lord Herbert of Cherbury: De veritate. Editio tertia. De causis errorum. De religione laici. Parerga. Hg. von Günter Gawlick. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, hier De veritate, S. 208226: die „Notitiae communes circa Religionem“; vgl. in De religione laici, S. 129. Cherbury: De veritate (wie Anm. 27), S. 223: „An vero haec media ad salutem aeternam comparandam sufficiant, viderit cui haec curae sunt Deus Opt[imus] Ma[ximus].“ („Ob aber diese Mittel zur Erlangung des ewigen Heils ausreichen, mag der sehen, dem diese Aufgabe obliegt: der beste und größte Gott“). [Anonym:] L’Anti-Bigot, ou les Quatrains du Déiste (vor 1624). Der, da das Christentum auf das AT angewiesen ist und das NT dieses vielleicht zu ergänzen, nicht aber zu falsifizieren beansprucht, natürlich zu glauben ist.

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– wird eine würdigere Gottesvorstellung konfrontiert, die in der Folge wohl die aller Deisten des 17. und 18. Jahrhunderts sein wird: Dieser Gott ist frei von (un)menschlichen Leidenschaften; er ist unveränderlich; er ist gütig gegenüber seinen Geschöpfen und will folglich deren Glück schon im ,Diesseits‘, weshalb denn irdischer Genuss legitim ist. Gegenüber dem christlichen Gott – schlimmer und mehr zu fürchten als alle Tyrannen31 – ist der neue Gott, der im 18. Jahrhundert der der meisten Aufklärer sein wird, wohlwollend und gerecht: Es kann folglich für menschliche, also begrenzte Missetaten („méfait limité“) keine unbegrenzte Strafe („supplice infini“) geben;32 „ewige Höllenstrafen“ seien schon daher undenkbar, weil das Ziel jeder Strafe die Besserung („correction“) sein müsse.33 Doch der Text geht darüber noch hinaus: Eine Strafe nach dem Tode widerspreche der „höchsten Gerechtigkeit“; der Text tendiert zur Leugnung der Existenz einer „Hölle“.34 Und wie vor ihm schon Pietro Pomponazzi in De immortalitate animae 151635 und nach ihm viele andere wie z. B. Spinoza, Toland, Hume, Kant argumentiert er, ein Verhalten, das durch die Hoffnung auf Lohn (,Himmel‘) bzw. die Angst vor Strafe (,Hölle‘) motiviert sei, sei kein moralisch wünschenswertes.36 Wenn er setzt, Gott habe unmöglich sich selbst Feinde schaffen können, wird implizit der ,Teufel‘ geleugnet. Bis hierhin nimmt er Positionen vorweg, die unter den Aufklärern dominieren werden. Aber auch über diesen Rahmen geht er hinaus: Er schließt aus der Allwissenheit und Allmacht des Gottes, dass alles, was existiert und was geschieht, von diesem gewollt sein müsse. Diese Position werden wir bei Spinoza wiederfinden, und sie hat gravierende Implikationen für die Probleme der Normbegründung und der ,Théodicée‘. Für den ,Teufel‘ jedenfalls hat der Deismus keine Verwendung mehr: Er wird ersatzlos abgeschafft. Im protestantischen Raum gibt es im 18. Jahrhundert dann auch ‚aufgeklärte‘ Christen, bei denen der Teufel ebenfalls abhanden gekommen ist.37

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„[…] et plus qu’eux redoutable“, heißt es schon in den Quatrains (wie Anm. 29), S. 1329. Dass der christliche Gott ein Tyrann sei, kehrt in vielen Texten wieder; früh schon wird er auch mit politischer Tyrannei in Zusammenhang gebracht, etwa im Cymbalum Mundi (zwischen 1692 und 1720); zumal wird die radikalere französische Aufklärung nicht selten den Kampf gegen den göttlichen Tyrannen mit dem gegen weltliche Tyrannen, also den ,Absolutismus‘, verknüpfen. Berühmt ist natürlich Mesliers Formulierung in seinem Testament von 1729, der sich wünscht, „den letzten König mit den Gedärmen des letzten Priesters erwürgt“ zu sehen. Quatrains (wie Anm. 29), S. 1331 und 1338. Ebd. S. 1339. Ebd., S. 1336: „Que la peur d’un enfer n’est qu’une fantaisie / Et faiblesse d’esprit, consécutivement / Que tout châtiment cesse en cette humaine vie.“ Pietro Pomponazzi: Tractatus de immortalitate animae (1516), S. 222. Quatrains (wie Anm. 29), S. 1343. Im Katholizismus geht es ihm auch heute noch recht gut: Der Vatikan unterhält ja in Rom eine – offenbar florierende – Exorzistenschule, was, so vermute ich zumindest, so manchem universitären katholischen Theologen peinlich sein dürfte.

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1.3 Atheismus Auch der Begriff des ,Atheisten‘ ist schon im 16. Jahrhundert nicht nur griechisch oder lateinisch, sondern auch volkssprachlich belegt; so ist etwa bei Jean Calvin 1544 „athéiste“ belegt; sein Glaubensbruder Farel versteht 1550 darunter jeden, der nicht den ‚wahren Gott‘, also den seinen, verehrt.38 Dieser seltsame Sprachgebrauch ist unter Theologen der Frühen Neuzeit sehr verbreitet:39 ein besonders abschreckendes Exemplar ist der – noch im 18. Jahrhundert berüchtigte – Jesuit François Garasse, der etwa auch Luther und Calvin für Atheisten hält; Anders-/Ungläubige klassifiziert er als Tiere, deren Verbrennung angemessen ist; „Atheisten“ seien zudem feige: „sie müssten den Mut haben, sich lebend verbrennen zu lassen“;40 stattdessen besitzen sie die Frechheit, ihre Meinung zu verbergen, so dass man ihrer nicht habhaft werden kann. Selbst ein Marin Mersenne hat mit der Abgrenzung von ,Deisten‘ und ,Atheisten‘ in L’impiété des Déistes, Athées et Libertins de ce temps (1624) offenkundig Probleme; auch plädiert er für die Hinrichtung jedes Astronomen, der nicht im beobachtbaren Universum ,Gott‘ erkenne: „ich wäre der Meinung, dass man ihn bannt und dass man ihn das Leben verlieren lässt, dessen er gänzlich unwürdig wäre.“41 ,Atheismus‘ ist zunächst eine Kampfvokabel für alle Positionen, die man hasst, seien es innerchristliche, deistische, skeptische oder tatsächlich atheistische. Wie sehr nun jeweils auch der Begriff ,Atheismus‘ ausgeweitet sein mag, ist darunter doch immer auch der Atheismus im engeren Sinne subsumiert, der bestreitet, dass es solche Wesenheiten wie Götter – welcher Religion auch immer – gebe. Dieser einzig sinnvolle Sprachgebrauch scheint sich schon im Verlaufe des 17. Jahrhunderts zunehmend durchzusetzen. Von Ausnahmen wie Bacon und Bayle abgesehen,42 gilt der ,Atheist‘ aus der christlichen und oft auch aus der deistischen Perspektive grundsätzlich als verabscheuungswürdig, zu jedem Verbrechen fähig und bereit, in der menschlichen Gesellschaft unter keinen Umständen zu dulden. Es gibt nun schon im 17. Jahrhundert eine Unzahl theologischer Texte, die ,Atheismus‘ bekämpfen, bevor es auch nur ein einziges Dokument gibt, in dem er sich manifestieren

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Vgl. Schneider: Der Libertin (wie Anm. 18), S. 90. Vgl. dazu Minois: Geschichte des Atheismus (wie Anm. 1) und Schröder: Ursprünge des Atheismus (wie Anm. 1). „[…] ils devraient avoir le courage de se faire brûler tout vifs.“ Zitiert nach François Garasse: La doctrine curievse des beavx esprits de ce temps, ov pretendus tels (1623), S. 712 (im Original S. 801). Marin Mersenne: L’impiété des Déistes, Athées et Libertins de ce temps (1624), S. 138: „ie serois d’aduis qu’on le bannit, & qu’on lui fist perdre la vie de laquelle il seroit tout à fait indigne.“ Dass Mersenne zum Orden der Minimes (Minoriten) gehört, animiert Voltaire zu dem hübschen, nicht ganz fairen Wortspiel „le minime et très minime Mersenne“ (Dictionnaire philosophique portatif [1764], S. 53). So Bacon in seinen Essays (A. l. H. 1625) Kap. 17: „Of Superstition“; so, ausführlicher und begründet, Pierre Bayle in den Pensées diverses […] à l’occasion de la Comète qui parut au mois de decembre 1680 (1683).

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würde.43 Denn die theologisch-politische Macht verfolgt nicht nur schriftliche, sondern auch mündliche antireligiöse Äußerungen mit größtmöglicher Brutalität; so wird etwa der zu Unrecht des Atheismus bezichtigte unglückliche Giulio Cesare Vanini 1619 – nachdem man ihm vorher die Zunge herausgerissen hat – in Toulouse verbrannt. So viele Traktate verfolgen also etwas, was im 17. Jahrhundert zunächst ein Phantom ist: nichts als eine paranoide Wahnidee von Theologen. Manche der Traktate und sonstigen Äußerungen phantasieren von einer ungeheuren Vermehrung der Atheisten in der eigenen Gegenwart; andere behaupten umgekehrt, es könne gar keine wirklichen Atheisten geben; sollte es sie aber doch geben, seien sie (geistes-)krank. Was sich einerseits der eine gar nicht vorstellen kann, sieht andererseits der andere in furchterregender Verbreitung begriffen; und beide haben keine empirische Basis. Der erste vermutlich44 atheistische Text in meinem Korpus und, wie es scheint, der erste in der Frühen Neuzeit überhaupt, wäre der um die Mitte des 17. Jahrhunderts im französischen Sprachgebiet entstandene, lateinische Theophrastus redivivus; ihm folgen die drei kleinen Schriften des Schleswigers Matthias Knutzen, 1675 von Johann Musaeus herausgegeben, der gegen ihn polemisiert; der dem Norddeutschen Johann Joachim Müller zugeschriebene Traktat De imposturis religionum, spätestens 1688 verfasst, der erste Text, der die Hypothese von den ,drei Betrügern‘ – Moses, Jesus, Mohammed – systematisch vertritt, 1761 von Johann Christian Edelmann übersetzt und kommentiert; zur Betrügerhypothese gibt es, ungefähr gleichzeitig zu De imposturis, auch eine französische Variante, L’Esprit de M. Benoît de Spinoza; Nicolas Frérets Lettre de Thrasybule à Leucippe aus den 1720ern, Jean Mesliers Mémoire, 1729 bei seinem Tode hinterlassen; in den 1760ern häufen sich atheistische Publikationen von d’Holbach und seinem Freundeskreis, darunter auch Diderot;45 die letzten eindeutig atheistischen Texte in meinem Korpus sind dann Shelleys kleiner Text The Necessity of Atheism von 1811 und Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung von 1819. Atheistische Texte setzen also, vom Theophrastus abgesehen, erst spät im 17. Jahrhundert ein und entstammen im wesentlichen dem deutschsprachig-protestantischen und dem französischen Raum.

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Vgl. dazu z. B. Schröder: Ursprünge des Atheismus (wie Anm. 1) und Minois: Geschichte des Atheismus (wie Anm. 1). „Vermutlich“, da ich ihn nur partiell gelesen habe; ich stütze mich auf das Urteil von Schröder: Ursprünge des Atheismus (wie Anm. 1). Vgl. etwa Paul Thiry d’Holbach: Le Christianisme dévoilé, ou Examen des principes et des effets de la religion chrétienne (1766), Théologie Portative, ou Dictionnaire abrégé de la religion chrétienne (1767), Lettres à Eugénie, ou Préservatif contre les préjugés (1768), Histoire critique de Jésus-Christ ou Analyse raisonné des Evangiles (1770a), Essai sur les préjugés ou de l’influence des opinions sur les moeurs & sur le bonheur des hommes (1770b), Système de la Nature, ou des lois du monde physique et du monde moral (1770c); Denis Diderot: Entretien d’un philosophe avec la Maréchale de *** (1774).

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1.4 Agnostizismus Noch seltener als atheistische finden sich in meinem Zeitraum eindeutig agnostizistische Texte. Das Lexem ,Agnostizismus‘ wird erst im 19. Jahrhundert von dem bedeutenden Biologen und Darwin-Anhänger Thomas H. Huxley geprägt.46 Was ich hier unter diesen Begriff subsumiere, ist in Früher Neuzeit und Aufklärung eine Teilklasse dessen, was damals als Skepsis benannt worden ist. Eine erste solche Teilklasse sind die Varianten einer pyrrhonischen Skepsis; Pyrrhons Position kennt man seit der Renaissance aus des Diogenes Laertios Leben und Lehre der Philosophen (2. oder 3. Jh. u. Z.)47 oder aus den Pyrrhonischen Hypothesen des Sextus Empiricus (spätes 2. Jh. u. Z.)48. Diese radikal erkenntniskritische Position leugnet die Möglichkeit verlässlicher Erkenntnis und fordert daher Urteilsenthaltung, wobei empfohlen wird, sich in Frage der Religion und der Moral zumindest scheinbar nach den Spielregeln der jeweiligen Gesellschaft, in der man zufällig lebt, zu verhalten: Da über die Wahrheit religiöser und moralischer Setzungen nicht entschieden werden könne, vermeide man Ärger, wenn man so tue, als sei man angepasst. Als ,Skeptiker‘ hat die Forschung eine Reihe bedeutender Autoren der Frühen Neuzeit klassifiziert, darunter z. B. Montaigne, Charron, La Mothe Le Vayer, Bayle. Einigen von ihnen hat sie eine als Fideismus benannte Position zugeschrieben,49 der zufolge man sich angesichts der Ungewissheit der Erkenntnis in einen irrationalen ,Sprung in den Glauben‘ flüchten solle. So argumentiert explizit auch ein reichlich unbedeutender Text des Bischofs Pierre-Daniel Huet (Traité philosophique de la foiblesse de l’esprit humain von 1723), der im Übrigen auf den Index librorum prohibitorum, den Index der katholischen Gläubigen verbotenen Bücher, gesetzt wurde, was durchaus konsequent war: Denn das Christentum der Frühen Neuzeit behauptet, seine Religion sei mit der Vernunft kompatibel, wo nicht gar aus ihr erkennbar; ein solcher ,Fideismus‘ aus Erkenntnisskepsis entzöge dem Christentum jenen Rationalitätsanspruch, mit dem es sich gegen den frühneuzeitlichen Rationalismus zu verteidigen suchte. Die Position des ,Fideismus‘ ist natürlich ausgesprochen unlogisch: Nach welchem Kriterium soll man sich, wenn alle Erkenntnis ungewiss ist, für eine der im Angebot befindlichen Religionen entscheiden? Interessanter in meinem Kontext ist eine zweite Teilklasse der ,Skeptiker‘, die gegenüber einer oder aller der bekannten Religionen in einer Position der Unentschiedenheit – des Nicht-Wissens, ob eine gegebene Religion wahr sei – verharren.50 Ein sehr

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Thomas H. Huxley: Agnosticism. In: ders.: Essays upon some controverted questions. London 1892, S. 329-377 und ders.: Agnosticism and Christianity. Ebd., S. 449-500. Vgl. zum Thema ‚Agnostizismus‘ auch: Robin Le Poidevin: Agnosticism. A very short introduction. Oxford 2010. Dt. Übs. hg. von Fritz Jürß. Stuttgart 1998. Dt. Übs. hg. von Malte Hossenfelder. Frankfurt a.M. 1985. Vgl. Schröder: Ursprünge des Atheismus (wie Anm. 1). So schon Protagoras (5. Jh. v. u. Z.): „Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind […]“ (zitiert nach Hermann Diels: Fragmente

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bemerkenswerter phantastischer Roman des polnischen Grafen Jan Potocki, Le manuscrit trouvé à Saragosse (1805ff.), hat diese Position auf eine sehr hübsche Formel gebracht; eine seiner Figuren äußert: O mein Gott, wenn es einen gibt, erbarme dich meiner Seele, wenn ich eine habe.51

Nicht weniges von jenem angeblich so verbreiteten und theologisch bejammerten ‚Unglauben‘ mag von der Art solcher zweifelnden Skepsis gewesen sein.52 Am interessantesten (und am seltensten belegt) ist aber die dritte Teilklasse der ‚Skepsis‘, der ich den Begriff des ,Agnostizismus‘ reservieren möchte. Agnostizismus soll hier nun eine erkenntnistheoretische Position heißen, die mindestens die folgenden Behauptungen aufstellt: A 1: Niemand muss eine Proposition als wahr anerkennen, die nicht (im Rahmen dessen, was kulturell jeweils als ,rational‘ gilt) bewiesen worden ist. A 2: Wer eine Proposition behauptet, trägt die Beweislast für ihre Wahrheit – nicht derjenige, der sie nicht glaubt; religiöse Konsequenz daraus: der ,Gläubige‘ muss seinen Glauben beweisen, nicht der ,Ungläubige‘ ihn widerlegen. A 3: Es gibt Propositionen, über deren Wahrheitswert – zumindest beim je gegebenen Stande des Wissens – nicht entschieden werden kann. A 4: Wenn der Wahrheitswert einer Proposition (zu dem Zeitpunkt, wo eine Diskussion über sie eröffnet ist) nicht entscheidbar ist, ist Urteilsenthaltung die rational angemessene Position; sowohl die Proposition zu affirmieren als auch sie zu negieren, sind dann irrationale Verhaltensweisen. Dieser erkenntnistheoretische Agnostizismus, angewendet auf Religionen, wird in meinem Korpus in zwei bedeutenden Texten systematisch vertreten: dem anonymen, aus dem norddeutsch-protestantischen Raum stammenden Cymbalum mundi sive symbolum sapientiae, um 1700, und den Dialogues concerning Natural Religion des großen David

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der Vorsokratiker. Hamburg 1957, S. 122), was freilich auch als agnostizistische Position gelesen werden kann. Dt. Übs.: Jan Potocki: Die Handschrift von Saragossa. Hg. von Roger Caillois. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1975, Bd. 2, S. 673. Vgl. die berichteten Beispiele in Minois: Geschichte des Atheismus (wie Anm. 1).

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Hume, posthum 1779 veröffentlicht. Das Cymbalum mundi befasst sich zuerst mit den jüdisch-christlich-islamischen Gottesvorstellungen, die es rational zu widerlegen sucht, und folgert: Sie haben sich einen solchen Gott gebildet, wie er gemäß der Natur der Dinge nicht sein kann. […]. Denn ein solcher Gott, wie er von Christen und Heiden auf die Bühne geführt wird, kann jedenfalls in diesem Universum nicht angenommen werden.53

Bezüglich der Gottesvorstellungen der tradierten Religionen bezieht der Text also eine atheistische Position. Dass es deren Götter nicht gebe, heiße aber nicht, dass nicht ein Gott existiere, von dem man sich freilich eine würdigere Vorstellung zu machen habe. Hier nun setzt der erkenntnistheoretische Agnostizismus ein: Die Existenz einer jeden Sache muss bewiesen werden, und ich bin nicht gezwungen zu glauben, dieses oder jenes existiere, sei, werde aufgefunden, solange es nicht bewiesen wird. Wir sind daher durch kein Recht verpflichtet zu beweisen, dass es keinen Gott gebe, sondern weil die Beweislast bei demjenigen liegt, der eine Behauptung aufstellt, müssen nur jene, die behaupten, es gebe einen Gott, dies mit Argumenten beweisen. Denn die Vermutung, dass eine Sache entweder nicht existiere oder wir dies nicht wissen (können), gilt so lange, bis ihre Existenz bewiesen wird […].54 Deshalb dürfen wir, wenn vernünftig argumentiert werden soll, die Existenz Gottes weder bestreiten noch glauben, sondern es ist vorzuziehen, dieses Thema unter das uns Unbekannte zu subsumieren, über das wir unser Urteil offen lassen müssen. […]. Es empfiehlt sich, hier Skeptiker zu sein, nicht Atheist.55

Pyrrhonische Argumente werden also hier – wie auch bei Hume – so transformiert, dass die Möglichkeit rationaler Erkenntnis erhalten bleibt. Die manifeste Präsenz juristischen Denkens, aber auch der neuen Naturwissenschaft ist evident; zu beidem später. Das Cymbalum machte jedenfalls implizit eine wichtige Unterscheidung, deren Relevanz sich in der Folge zeigen wird und die allzu oft bis in die Gegenwart hinein nicht gemacht wird: die zwischen den Göttern der ,geoffenbarten Religionen‘ und solchen Göttern, die man vielleicht, da sie wie der deistische Gott theoretische Konstrukte sind, als

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[Anonym:] Cymbalum Mundi Sive Symbolum Sapientiae (nach 1692, vor 1720), S. 227: „Deum talem effinxerunt, qui per rerum naturam Deus esse non potuit. […]. Nam talis Deus, qualis a Christianis et Ethnicis in scaenam producitur, utique dari nequit in hoc universo.“ Ebd., S. 223: „Omnis rei existentia probari debet nec credere cogor hoc vel illud existere, esse, reperiri, nisi probetur. Nos igitur Deum non esse demonstrare nullo iure sumus obligati, sed quia affirmanti incumbit probatio, illi demum, qui Deum esse contendunt, istud argumentis evincere constringuntur. Nam tam diu militat praesumtio rem vel non existere vel istud a nobis ignorari, donec existentia illius probetur […].“ Ebd., S. 225: „Quapropter, si accurate ratiocinari lubet, nec Deum negare nec credere debemus, sed materiam hanc ad incognita referre praestat, de quibus iudicium nostrum est suspendendum. […]. Praestat hic esse scepticum, non atheum.“

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,philosophische Götter‘ bezeichnen kann.56 Nach Ausweis des Cymbalum heißt Agnostizismus nicht, dass man unentschieden lässt, ob es den jüdischen, den christlichen, den islamischen Gott gibt (welche das Cymbalum atheistisch negiert), sondern nur, dass man sich nicht festlegt, ob es überhaupt irgendeine Wesenheit gebe, der man etwa die Merkmale eines (z. B. deistischen) Gottes zuschreiben könne. Auch Humes Dialogues sind agnostizistisch allenfalls bezüglich der Existenz eines quasi-deistischen Gottes, nicht aber bezüglich der Existenz des jüdisch-christlichen Gottes, die implizit negiert wird. 1.5 Spinozismus/Pantheismus Am schwierigsten zu präzisieren ist, scheint mir, was man als ,Spinozismus‘ bzw. ,Pantheismus‘ benannt hat und womit zunächst einmal die religiöse Position gemeint ist, die man aus Spinozas Ethica (1677) ableiten zu können glaubte; dieses Interpretationsproblem hatten schon die Zeitgenossen, und nicht nur der große Pierre Bayle subsumierte Spinozas Position im Dictionnaire historique et critique 1697 unter ,Atheismus‘. Das Lexem ,Pantheismus‘ wird oft auf John Tolands Socianism Truly Stated von 1705 zurückgeführt, dem Toland einen reichlich merkwürdigen Text, sein Pantheisticon von 1720, folgen ließ; doch soll schon Joseph Raphson 1697 in De spatio reali seu Ente Infinito von „pantheos“ bzw. „pantheismus“ gesprochen haben.57 Spinoza hat nun in der Ethica u. a. postuliert: Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein noch begriffen werden.58 Gott ist nicht nur die wirkende Ursache der Existenz, sondern auch des Wesens der Dinge.59

Klar ist, dass dieser Gott in allen Teilen des Universums präsent ist, also alles in diesem eine Realisation des göttlichen ,Wesens‘ ist; nicht klar ist (zumindest mir), ob er in dieser ,Schöpfung‘ (sofern dieser Begriff hier überhaupt noch angewandt werden kann) aufgeht, also ihr ,immanent‘ ist (,Pantheismus‘ i. e. S.), oder ob er zwar in ihr, aber nicht nur in ihr, also mindestens partiell ,transzendent‘ ist (,Panentheismus‘): Im ersten Falle träfe jene Formel des „deus sive natura“ („Gott bzw. die Natur“) zu, die man aus der Ethica abgeleitet hat,60 und Spinozas Gott wäre wohl kaum von der Gesamtheit des Universums und seiner Gesetze unterscheidbar, was den zeitgenössischen Atheismus-

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Titzmann: Die Emanzipation der Wissenschaft (wie Anm. 10), Kap. 8; Franz Buggle: Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Aschaffenburg 2004, S. 278-283. Zu diesem Komplex vgl. Stephen Daniel: Toland’s semantic pantheism. In: John Toland: Christianity not mysterious. Neudruck Dublin 1997, S. 303-312, hier S. 305f. Baruch Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata (1677), S. 34 (liber I, propositio XV): „Quidquid est, in Deo est, & nihil sine Deo esse, neque concipi potest.“ Ebd., S. 64 (propositio XXV): „Deus non tantum est causa efficiens rerum existentiae, sed etiam essentiae.“ Vgl. ebd. S. 450 (pars IV, demonstratio zur propositio IV): „Dei sive Naturae potentia“ („die Macht Gottes oder der Natur“).

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Verdacht legitimieren würde; im zweiten Falle hingegen würde sein Gott nicht ganz mit seiner Schöpfung identisch sein, und der Atheismus-Verdacht wäre unberechtigt. So haben, um nur zwei Beispiele zu nennen, zwei so unterschiedliche Autoren wie Bayle und Clarke Spinoza zum Atheisten erklärt; er sei der meistgefeierte Patron des Atheismus in unserer Zeit (der dachte, es gebe keinen Unterschied der Substanzen, sondern dass das Ganze und jeder Teil der materiellen Welt eine notwendig existierende Größe sei und dass es keinen anderen Gott gebe als das Universum) […].61

In jedem Falle ist dieser Gott aber radikal vom christlichen und deistischen unterschieden, insofern er nicht wie diese beiden Götter eine anthropomorphe ,Person‘ zu sein noch sich ,außerhalb‘/,jenseits‘ seiner ,Schöpfung‘ zu befinden und offenbar auch keine moralischen Normen gegeben zu haben scheint. Elemente der spinozistischen Philosophie bzw. dessen, was Spinozas Interpreten für ,spinozistisch‘ halten, scheinen sich jedenfalls – oft unausgesprochen – reichlich in meinem Korpus, bis in die Goethezeit hinein, zu finden.62 1.6 Positions- und Koalitionswechsel Zwei Anmerkungen erscheinen mir noch notwendig. Erstens: Bei nicht wenigen der antichristlichen Texte meines Korpus ist kaum entscheidbar, welche dieser Positionen sie vertreten: Es gibt Texte, z. B. aus dem Milieu der französischen Aufklärer nach der Mitte des 18. Jahrhunderts, die sich bewusst nicht festlegen, damit ihre Kritik am Christentum für möglichst viele derer, die für Zweifel anfällig sind, akzeptabel sei; es gibt Texte, die Elemente an sich heterogener Positionen kombinieren, sei es, dass ihnen jedes Argument gegen das Christentum recht ist, sei es, dass sie – selbst in einer komplexen intellektuellen Krise befindlich – ihrerseits zwischen heterogenen Positionen schwanken. Das scheint z. B. der Fall von Stoschs Concordia rationis & fidei (1692), bei dem sich origenistische, sozinianische, deistische, spinozistische, antik-atomistisch-materialistische (also potentiell atheistische) Argumente finden, ohne dass die Position des Textes eindeutig erkennbar wäre. Die „intellektuelle Krise“63 manifestiert sich auch in sukzessiven Positionswechseln mancher Autoren. So bewegt sich etwa Toland von einem Deismus zu einer Art von Pantheismus, was vielleicht auch auf Edelmann zutrifft; so ist Diderot anfänglich Deist, der zum Atheisten wird; Lessing, den man aufgrund der Erziehung des Menschengeschlechts von 1780 vielleicht für einen extrem heterodoxen

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Samuel Clarke: A Demonstration of the Being and Attributes of God and Other Writings (1705), S. 20: „[…] the most celebrated patron of atheism in our time (who thought that there is no difference of substances but that the whole and every part of the material world is a necessarily existing being, and that there is no other God but the universe) […].“ So z. B. bei Stosch, bei Toland, bei Fréret, bei Diderot usw. So schon Paul Hazard: La crise de la conscience européenne 1680-1715. 2 Bde. Paris 1961.

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Christen, aber wohl am ehesten für einen Deisten gehalten haben dürfte,64 habe sich – falls Jacobi zu glauben ist – zum Pantheisten entwickelt.65 Auch bei den bedeutenden Naturwissenschaftlern (z. B. Kepler, Galilei, Newton) bzw. Naturphilosophen (z. B. Descartes, Leibniz) ist oft einigermaßen unklar, was sie geglaubt haben: Wo Kepler und Newton sich offenbar als – wenn auch heterodoxe – Christen empfanden, glaubten Galilei, Descartes, Leibniz zwar sicher an einen Gott – aber welchen? Galilei und Descartes z. B., die sich bezüglich des offiziellen Katholizismus ihrer Heimatländer so unauffällig als möglich zu verhalten versuchen, reden zwar in ihren wissenschaftlichen bzw. philosophischen Texten von einem Gott: Aber ein ,Sohn‘ oder ein ,heiliger Geist‘ scheinen bei ihnen keine Rolle zu spielen. Wir werden nie wissen, wie viel Abweichung – und welche genau – sich unter dem anscheinenden oder scheinbaren Konformismus so mancher Autoren verbirgt: Wer will schon gerne verbrannt werden? Und zweitens: Die Heterogenität der aufgelisteten Positionen erlaubt die unterschiedlichsten ,Koalitionen‘, die in der Tat auch alle realisiert werden: Einerseits argumentieren alle nicht-christlichen Positionen – Deismus, Atheismus, Agnostizismus, Pantheismus – explizit oder implizit gegen die christlichen Theologien; andererseits stimmen Christentum und Deismus in ihrer Abwehr gegen Atheismus, Agnostizismus, Pantheismus überein. Und der Agnostizismus schließlich befindet sich in Opposition zu Christentum, Deismus, Atheismus, Pantheismus. Je nach Diskussionsgegenstand bilden sich also ganz unterschiedliche ‚Bündnisse‘. Zumindest in meinem Korpus gilt im Übrigen, dass im 18. Jahrhundert der englische Deismus sich gern als das wahre Christentum präsentiert, das von christlicher Theologie verfälscht worden wäre (so z. B. Toland 1696, Tindal 1730, Morgan 173766; im deutschen Bereich: Edelmann 1746), während der französische Deismus sich ohne solche Verschleierungen dezidiert in Opposition zum Christentum setzt (so z. B. die Quatrains, Challe 1710 (?), du Marsais 1720er, Diderot 1746, Rousseau 1762, Voltaire 1764). Im deutschen Sprachgebiet geriert sich das von Wolff 1719 in Vernünftige Gedancken Von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen entworfene System zwar als ,natürliche Religion‘, die nicht mit dem Christentum konkurriere, was ihm freilich schon die zeitgenössische Orthodoxie nicht geglaubt hat;67 schon bei Gottscheds Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (1734), der sich an Wolff orientiert, wird deutlich, dass eine solche ,natürliche Religion‘ tat-

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Das jedenfalls wäre die Position, die man aus seinem Drama Nathan der Weise (1779) folgern muss. Vgl. Friedrich H. Jacobis Bericht in Gotthold E. Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. Bd. VIII. München 1979, S. 563-575, v. a. S. 564. Morgan macht die seltsame Unterscheidung zwischen dem „Christian Jew“, der auch das AT anerkenne, und dem „Christian Deist“, der nur das NT akzeptiere; für den Jesus des NT bleibt dann logischerweise nur mehr die Rolle des Morallehrers. In der Vorrede zur 3. Auflage 1725 versucht Wolff denn auch, die Vorwürfe, seine Philosophie sei antichristlich, abzuwehren.

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sächlich als Deismus gedacht ist, der das Christentum substituieren kann;68 in Reimarus Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion von 1754 ist der Deismus eindeutig als selbständige Religion konzipiert, deren das Christentum zu seiner eigenen Begründung69 bedürfe, während der Deismus offenkundig von diesem unabhängig ist. Nur am Rande sei erwähnt, dass die Texte meines Korpus von sehr unterschiedlichem Umfang70 und von sehr unterschiedlicher Qualität71 sind.

2. Restriktive Veröffentlichungsbedingungen Wenigstens einige Bemerkungen zur Publikations- und Distributionsproblematik der antichristlichen bzw. antireligiösen Texte sind wohl notwendig.72 Das Christentum kennt keine Denk-, Rede-, Veröffentlichungsfreiheit und es kennt keine Toleranz; die wenigen – eindrucksvollen! – Plädoyers für Toleranz aus der Frühen Neuzeit stammen von Autoren, die innerchristliche oder außerchristliche Abweichungen vertreten haben.73 Da das Christentum als einzig wahre Religion gilt, erscheint es als gottgewollt und gottgefällig, jede Abweichung von der lokal jeweils geltenden Theologie mit

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Im Anhang behandelt die „III. Abhandlung“ das Thema Wie sich ein Weltweiser, der von einer göttlichen Offenbarung nichts wüßte, zufrieden stellen könnte – schon dessen Deismus kann demnach die Gottheit befriedigen. Im letzten Satz der „IV. Abhandlung“ – und damit auch des gesamten Buches – bestreitet er gar den Wissenschaftsanspruch der Theologie (Johann C. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit [1734], Bd. II, S. 586). „Denn wie kann einer mit Grunde glauben, daß die Offenbarung von Gott komme, wenn er nicht vorher überführt ist, daß ein Gott sey?“ (In dem „Vorbericht“ von Hermann S. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion [1754], p. 3r). So argumentiert auch schon Shaftesbury: The sociable Enthusiast (1705), S. 96. Robert Challes Difficultés sur la religion proposées au Père Malebranche (1710er) umfassen im heutigen Druck ca. 650 Seiten, Hermann S. Reimarus’ Apologie oder Schutzschrift der vernünftigen Verehrer Gottes (1767/78) gar 1.500. Besonders bedeutende Texte sind zweifellos das Colloquium 1593, Spinoza 1670 und 1677, das Cymbalum Mundi nach 1692, Toland 1696 und 1704, Challe 1710, Collins 1713, du Marsais 1720er, Fréret 1720er, Tindal 1730, Edelmann 1746, Reimarus 1754 und 1767/68, Rousseau 1762, Voltaire 1764, Diderot 1770, d’Holbach 1770 a und c, Hume 1779, Kant 1791, 1793, 1798, Fichte 1792, Schopenhauer 1819. Vgl. dazu: Christine Haug/Franziska Mayer/Winfried Schröder (Hgg.): Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2011; für meinen Kontext insbesondere die Beiträge von Haug, Mulsow und Schröder. So z. B. Balthasar Hubmaier: Uon ketzern und iren verbrennern (1524), Sebastian Castellio: De hareticis an sint persequendi (1554), Baruch Spinoza: Tractatus theologico-politicus (1670), Pierre Bayle: Commentaire philosophique sur ces paroles de Jèsus-Christ, Contrains-les d’entrer (1686), John Locke: Epistola de Tolerantia (1689); implizit auch das Colloquium (1593). Vgl. dazu Michael Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit: Relevanz – Formen – Kontexte. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. von Hartmut Laufhütte und Michael Titzmann. Tübingen 2006, dort S. 30-43.

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größtmöglicher Brutalität zu sanktionieren. In diesem System wird eine merkwürdige anthropologische Annahme gemacht: Etwas nicht glauben zu können, gilt nicht als Entschuldigung, sondern selbst als Schuld; es wird postuliert, dass wer glauben wolle, auch glauben könne (was seltsamerweise wiederum die Behauptung nicht ausschließt, der Glaube sei ein ,Gnadengeschenk Gottes‘). Der unglückliche – wohl einigermaßen wirre – Geoffroy Vallée beging die unerklärliche Leichtsinnigkeit, 1573 La Beatitvde des Chrestiens ov le Fleo de la Foy unter seinem eigenen Namen drucken zu lassen: Er und sein Buch werden verbrannt, wobei man in diesem Falle insofern noch vergleichsweise ,human‘ vorging, als man ihn vor dem Verbrennen erhängte. Der „arrêt du Parlement“ verlangt, dass alle Besitzer seines Buches dieses der Justiz zur Vernichtung abliefern, mit der Androhung, anderenfalls „gleiche Strafe zu erleiden wie der genannte Vallée“.74 Antichristliche oder antireligiöse Meinungen können also – wie auch innerchristliche Abweichungen – nur in Form anonymer Manuskripte verbreitet werden, wodurch aus Gründen der notwendigen Vorsicht bei der Weitergabe der Texte natürlich nur sehr kleine Publika erreicht werden können. Zum Druck gelangen solche Texte nur insoweit, wie ein christlicher Apologet – so Mersenne 1624 die Quatrains oder Musaeus 1675 die drei Texte Knutzens – zitiert bzw. abdruckt. Die wenigen Texte aus dem 17. Jahrhundert sind also im Regelfalle nur in handschriftlicher Vervielfältigung tradiert, wobei es regelrechte Sammler solcher Texte, wie etwa den Prinzen Eugen von Savoyen (16631736), gegeben zu haben scheint – sicher kein Indiz für deren ,Rechtgläubigkeit‘. Der erste Beleg eines neuen Verfahrens, das in der Aufklärung Karriere machen wird, ist in meinem Korpus Stoschs, eines pensionierten preußischen Beamten, Concordia rationis & fidei von 1692; er lässt seinen Text anonym und mit dem fingierten Druckort Amsterdam erscheinen. Autor und Drucker werden identifiziert, doch Stosch kommt – vergleichsweise liberal – mit einer ,Abschwörung‘ und der Vernichtung der Auflage, soweit man ihrer habhaft wurde, davon; auch Edelmann lässt sein Glaubens=Bekenntniß 1746 im Druck erscheinen, was für ihn zumindest keine juristischen Konsequenzen hat, wenngleich das Buch 1750 durch eine kaiserliche Kommission in Frankfurt verbrannt wird, während er selbst offenbar vom Grafen von Neuwied, in dessen Territorium er lebt, toleriert wird. Generell erweisen sich schon im späten 17. Jahrhundert einige protestantische Staaten, insbesondere die Niederlande, dann auch England, als toleranter als andere. So darf Bayle in den Niederlanden publizieren, wenn auch gegen heftige theologische Widerstände, und auch Spinozas Tractatus (1670) wird erst mit erheblicher Verzögerung verboten; so erscheinen in England die Texte von Blount 1693, Toland 1696, 1704, 1720, Collins 1713,Tindal 1730, Morgan 1737ff. im Druck. Das Preußen Friedrichs II., der so dezidiert unchristliche Autoren wie La Mettrie

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Geoffroy Vallée: La Beatitvde des Chrestiens ov le Fleo de la Foy (1573), S. 24: „[…] sur peine à ceux qui en retiendront aucuns d’être déclarés fauteurs, adhérents, et punis de pareille peine que le dit Vallée.“

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oder Voltaire aufnimmt, bringt Kant auf die Formel: „Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt, aber gehorcht!“75 Generell häufen sich in den Jahrzehnten um 1700 die nicht-christlichen Texte: Im deutschsprachigen Gebiet wären neben den Manuskripten De imposturis und Cymbalum die gedruckten Texte von Stosch 1692 oder Lau 1717 zu nennen, in Frankreich setzt mit dem Esprit de Mr. Benoît de Spinoza eine Serie von (z. T. in erstaunlich vielen Manuskripten erhaltenen) Texten ein, so die Texte von Challe in den 1710ern, von Du Marsais und Fréret in den 1720ern, von Meslier 1729 usw. Mit dem denk- und mentalitätsgeschichtlichen Transformationen im Übergang zur Aufklärung häuft sich offenkundig die Christentums- bzw. Religionskritik; es scheint auch eine Vergrößerung des Publikums sowie die Ausbildung von Netzwerken zur Verbreitung der klandestinen Manuskripte und zum Schutze der Autoren stattgefunden zu haben. Nach der Jahrhundertmitte werden in Frankreich nicht nur Drucke bislang handschriftlich tradierter Texte organisiert, sondern auch neue Texte von vornherein per Druck verbreitet. Die Drucke müssen selbstverständlich anonym, manchmal auch mit fingierten Autorennamen, etwa dem verstorbener Gelehrter (z. B. Fréret oder Boulanger), und mit fingierten Druckorten (beliebt ist etwa London) oder im Ausland, etwa den Niederlanden (z. B. bei Marc-Michel Rey in Amsterdam), erscheinen. Autorschaft, Vertrieb, Besitz solche Schriften werden selbstverständlich juristisch sanktioniert, wenn man die Betroffenen identifizieren kann. Ab den 1760ern findet sich ein – in sich ideologisch sehr ausdifferenzierter – Kreis von Intellektuellen um Voltaire (der freilich schon im selbstgewählten Exil lebt), d’Alembert, Diderot, d’Holbach, Helvétius usw., die auf unterschiedliche Weise Christentum (Voltaire, Diderot, d’Holbach) oder Religion überhaupt (Diderot, d’Holbach) attackieren; auch Hume frequentiert den Kreis um d’Holbach;76 kurze Zeit gehört auch Rousseau zu diesem Milieu, bis ihn seine narzisstisch-paranoiden Störungen mit allen ehemaligen Freunden entzweien. Im deutschsprachig-protestantischen Gebiet kommt es in der Goethezeit zu einer Häufung von expliziter oder impliziter Christentums- bzw. Religionskritik: so z. B. in Lessing 1780, Schiller 1790, Kant 1793 und 1798, Fichte 1792, 1798, 1799; Lessing, Kant und Fichte werden ja dann auch erhebliche Probleme mit ihren jeweiligen ,Dienstherren‘ haben.77 Zu nennen wäre schließlich noch die atheistische Metaphysik von Schopenhauer 1819.

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Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783), S. 55. Zu diesem Kreis vgl. das informative Buch von Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München 2011. Auf diesen späten Zeitraum werde ich aus Umfangsgründen nicht eingehen; siehe dazu aber die Beiträge von Jaeschke, Murrmann-Kahl und Danz in Georg Essen/Christian Danz (Hgg.): Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Darmstadt 2012.

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Die Argumente unserer Texte können nun erstens und am häufigsten als ein – mehr oder weniger systematischer – theoretischer Traktat, zweitens in fingierter Dialogform78, drittens als Briefe an eine weibliche Adressatin79 präsentiert werden: Die Dialogisierung erzeugt den Eindruck einer zumindest scheinbar gleichberechtigten, scheinbar ergebnisoffenen Auseinandersetzung zwischen den Positionen; die Form des Briefes an eine Frau signalisiert von vornherein die Absicht, ein möglichst breites Publikum der ,Gebildeten‘ zu erreichen, aber auch eine Aufwertung der Frau, insofern ihr rationale Interessen unterstellt werden. Zur Verbreitung abweichender Einstellungen hat aber sicher ein vierter Texttyp, der sich der enzyklopädischen Form bedient, Erhebliches beigetragen. So liefert schon das große Dictionnaire historique et critique (1697) des heterodoxen Protestanten Pierre Bayle in der Folgezeit allen antitheologischen Positionen ergiebigstes Material. Aus der Aufklärung sei nur an Diderots und d’Alemberts große Encyclopédie (1751ff.), in die immer wieder auch Antitheologisches eingeschmuggelt ist, und an Voltaires Dictionnaire philosophique portatif (1764), in dem christliche Theologie ironisiert wird, erinnert; Ironisierung christlicher Dogmen charakterisiert auch d’Holbachs Théologie portative, ou Dictionnaire abrégé de la religion chrétienne von 1767. Zwar bedienen sich nun die meisten Texte nicht mehr der überregionalen Gelehrtensprache des Lateinischen, aber Französisch – die Sprache der lange intellektuell wie politisch dominanten Kultur – dürfte vielen, wenn nicht den meisten deutschsprachigen ,Gebildeten‘ des 18. Jahrhunderts vertraut gewesen sein; Englisch kommt erst später hinzu. So soll etwa Edelmann seine Kenntnis englischer Deisten ironischerweise nicht zuletzt aus kritischen Referaten einer deutschen theologischen Zeitschrift bezogen haben. Zudem gibt es eine rege Übersetzungspraxis; so hat etwa Johann Christoph Gottsched (1700-1766) nicht nur Bayle, sondern auch Leibniz, Fontenelle und Helvétius übersetzt.80 Der letztlich sehr geringen Anzahl der Texte, die den westeuropäischen Prozess einer Dechristianisierung aufgeklärter Eliten einleiten, steht freilich ein gigantisches Vielfaches an theologischer Literatur gegenüber: Zwischen 1600 und 1622 sollen allein in Frankreich 11, zwischen 1623 und 1640 31 „apologetische Werke gegen die Ungläubigen“81, zwischen 1670 und 1802 pro Jahr durchschnittlich 7 Apologien, insgesamt also ca. 950, zwischen 1715 und 1789 ca. 750 Apologien des Christentums erschienen sein.82

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So etwa Bodin 1593, zwei der drei Texte Knutzens von 1675, Shaftesbury 1705, Tindal 1730, Morgan 1737ff., Mendelssohn 1767, Diderot 1774, Hume 1779. So etwa Toland 1704, Fréret 1720er, d’Holbach 1768. 1726 Übs. von Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes (1686), 1730 Übs. von Fontenelles Histoire des oracles (1686), 1741-1744 Übs. von Bayles Dictionnaire (1697), 1744 Übs. von Leibniz’ Théodicée (1710), 1760 Übs. von Helvétius’ De l’esprit (1758). Minois: Geschichte des Atheismus (wie Anm. 1), S. 203. Patrick Graille/Mladen Kozul (Hgg.): Discours antireligieux français du 18ième siècle du curé Meslier au Marquis de Sade. Paris 2003, S. 13.

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3. Aspekte der antichristlichen Argumentationen 3.1 Die Relativierung des Christentums im Religionsvergleich: ethnohistorisches Wissen und Wandel der moralisch-juristischen Normen Ich komme damit zum Hauptteil meines Beitrags. Wie argumentieren die Texte, die den antichristlichen und/oder antireligiösen Diskurs repräsentieren?83 Wir können uns kaum mehr vorstellen, welche Relevanz die jeweilige Religion, in die man zufällig hineingeboren ist, in den frühneuzeitlichen Gesellschaften hatte; allenfalls heutige fundamentalistische Gruppierungen sind in dieser Hinsicht vergleichbar. Die jeweiligen theologisch-politischen Institutionen verlangen nun im Prinzip von den ,Untertanen‘, ihre Dogmen unreflektiert und kritiklos anzunehmen, paradoxerweise selbst die diversen Protestantismen, die ja einst eben mit dem Anspruch auf ein Recht selbständiger Prüfung angetreten waren. Gerade aber diese Relevanz des Religiösen erlaubt es nun, nicht nur ein Recht auf rationale Prüfung, sondern sogar die Pflicht dazu zu postulieren, wie es z. B. exemplarisch Collins in A Discourse of Free-Thinking 1713 tut:84 Gerade weil es um die ranghöchsten Fragen gehe, müsse man sich vergewissern, dass die eigene Religion die ,wahre‘ sei, womit man natürlich bewusst Abweichungen von christlicher Theologie legitimiert. Auch ansonsten innovative Intellektuelle wie z. B. Leibniz oder Locke sind einerseits tief der tradierten Religion verhaftet, sehen sich andererseits aber als Repräsentanten des neuen Rationalismus verpflichtet, die Kompatibilität ihrer Religion mit der Vernunft zu erweisen: vgl. Leibniz’ Discours de la conformité de la foi avec la raison in seinen Essais de Théodicée (1710) und Lockes The Reasonableness of Christianity (1695); Stosch verspricht 1692 ebenfalls eine Concordia rationis & fidei, die freilich genau das Gegenteil zu beweisen sich anschickt. Locke bietet ein hübsches Beispiel, wie leicht der Versuch eines solchen Nachweises direkt in

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Um nicht einen allzu umfänglichen Anmerkungsapparat zu erzeugen, werde ich nicht jeweils alle Belege auflisten, sondern immer nur einige charakteristische Beispiele erwähnen. Da mein Korpus ein sehr selektives ist, hat es auch keinen Sinn, auf intertextuelle Abhängigkeiten einzugehen, zumal übereinstimmende Thesen oder sogar Formulierungen zweier Texte auf der gemeinsamen Referenz auf einen dritten beruhen mögen. „The Subjects of which Men are deny’d the Right to think by the Enemys of Free-Thinking, are of all others those of which Men have not only a Right to think, but of which they are oblig’d in duty to think […].“ (Anthony Collins: A Discourse of Free-Thinking, Occasion’d by The Rise and Growth of a sect call’d Free-Thinkers [1713], S. 32). Und du Marsais erklärt schon im ersten Satz: „Il doit nous être permis, même il est nécessaire que chacun examine sa religion“ (César Chesneau du Marsais: Examen de la religion ou Doutes sur la religion dont on cherche l’éclaircissement de bonne foi [1720er], S. 144). So auch, um nur einen weiteren Text unter vielen zu zitieren, Reimarus in seiner Apologie (wie Anm. 70), Bd. II, S. 11: „Wir sind es Gott und uns selbst schuldig, daß wir uns bei reiffen Gemüthskräften, in einer so wichtigen Sache, welche unser ewiges Wohl und Weh betrifft, mit eigener freyen Einsicht und Wahl determiniren, und was wir bisher ohne Verstand und Überlegung gefasset, mit Verstand und ohne Furcht untersuchen.“

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Heterodoxie führt: zu Recht hat ihm ein zeitgenössischer Kritiker sofort vorgeworfen,85 dass bei ihm die ,Erbsünde‘, die ,Göttlichkeit Jesu‘, die ,Trinität‘, die ,Erlösung‘ durch den Tod einer Teilgottheit abhanden gekommen seien; und da Locke zudem setzt, für das ,Heil‘ all derer, die keine Kenntnis der Bibel hätten, reiche die natürliche Religion aus, ist ein solches ,Christentum‘ nur mehr schwer vom Deismus zu unterscheiden, obwohl Locke, der sich offenbar sehr intensiv mit Bibellektüre und Theologie befasst hat, sich sicher für einen Christen gehalten haben dürfte. Sehen wir uns zunächst die Argumente gegen das Christentum an, die in allen nichtchristlichen (deistischen, atheistischen, agnostizistischen) Texten vorkommen können, dann die Argumente, die von den Nicht-Deisten (Atheisten und Agnostikern) gegen Christentum und Deismus vorgebracht werden. Spätestens im frühen 18. Jahrhundert steht für Nicht-Christen schon eine große Menge an Argumenten zu Verfügung, die aus unterschiedlichsten Quellen stammen: aus der Antike, aus der philologisch-historischen Textkritik der Renaissance und von Teilen des Protestantismus (den katholischen Theologen ist derlei natürlich verboten), aus den Einwänden inner- und außerchristlicher Abweichler, aus den Versuchen, ,Glauben‘ und ,Vernunft‘ als kompatibel zu erweisen, aus – nicht zuletzt – den von Bayle im Dictionnaire zusammengestellten Materialien zur Kirchen- und Theologiehistorie usw. – auf solche Fragen der Herkunft von Argumenten kann ich sowohl aus Umfangs- wie aus Kompetenzgründen kaum eingehen.86 Die Frühe Neuzeit und mehr noch die Aufklärung verfügen über ein umfängliches ethnohistorisches Wissen: ein Wissen über fremde Kulturen der Antike, tradiert durch griechische und lateinische Texte, und über fremde Kulturen der eigenen Gegenwart, basierend auf unzähligen Reiseberichten seit Columbus, solchen von ,Entdeckern‘, solchen von ,Missionaren‘. Man besitzt also eine breite Kenntnis anderer Religionen und anderer Wert- und Normensysteme. Man weiß daher erstens, dass viele fremde Kulturen jahrhunderte- oder gar jahrtausendelang keine Möglichkeit hatten, je etwas von der Bibel zu hören,87 deren Mitglieder also, wenn denn die Unterwerfung unter die ,heiligen Schriften‘ des Christentums ,heilsrelevant‘ ist, ausnahmslos ,verdammt‘ sein müssen. Zweitens aber hat sich spätestens im 17. Jahrhundert ein Wandel des Rechtsbewusstseins und des Moralbewusstseins vollzogen (dessen Ursachen hier nicht Thema sind):

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Vgl. Locke 1695, p. li. Viele Informationen dazu bieten die Herausgeber der Ausgaben der Texte meines Korpus, worauf ich hier pauschal verweise. Die Übersetzung der ‚jüdischen Bibel‘ ins Griechische, die sog. Septuaginta, wird z. B. erst zwischen dem 3. und 1. Jahrhundert v. u. Z. in Alexandria erstellt; zum jüdischen Mythos von deren Entstehung vgl. den antiken Aristeas-Brief (Aristeas: Der König und die Bibel. Griechischdeutsch. Übs. und hg. von Kai Brodersen. Stuttgart 2008). Und erst im 16. Jahrhundert werden die armen Indios Mittel- und Südamerikas (die Kulturen der Azteken, Inkas usw.) zwangsweise durch die Gewalt der Eroberer, erst im 17. Jahrhundert die chinesischen und japanischen Kulturen, diesmal mangels militärischer Macht ohne Gewalt, mit AT und NT behelligt: in China, Japan, auch Indien mit bekannt geringem Erfolg.

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,Tugend‘ und ,Laster‘, also die Erfüllung bzw. Verletzung eines Normensystems, werden zwar auch in den intellektuell-elitären Milieus, um die es hier geht, immer noch weitgehend am Normensystem der eigenen Kultur gemessen, aber unter Absehung vom religiösen Überbau. Wo dem traditionellen Christentum die ‚Tugenden der Heiden‘ nur ‚glänzende Laster‘ waren, tritt hier folglich das Problem der ‚tugendhaften Heiden‘ auf,88 unter die man etwa Philosophen wie Sokrates oder Seneca (den einige ,Kirchenväter‘ der Antike ohnedies schon posthum quasi getauft hatten) oder auch Cicero, zudem römische Imperatoren wie Titus, Trajan, Hadrian, Marc Aurel subsumierte; hinzu kommen noch Vorstellungen von der Moralität der chinesischen Oberschichten. Demnach kann man also ein ,moralisches‘ Leben führen, ohne ,Christ‘ zu sein. Ein als ,gütig‘ angenommener ,Gott‘ kann aber – dem neuen Rechts- und Moralbewusstsein zufolge – nicht Personen fremder Kulturen, die nie von seinen Dogmen gehört haben, aber ,tugendhaft‘ gelebt haben, zu ,ewigen Höllenstrafen‘ verdammen. So argumentiert nicht nur der heterodoxe Christ Locke, so argumentieren auch die Deisten, denen zufolge die ,natürliche Religion‘ zum ,Heil‘ ausreicht, die angeblich jedes vernunftbegabte Subjekt einzusehen vermag. Denn der neue Gott kann nicht so ungerecht sein, sich einzig einem ,auserwählten Volke‘ zu ,offenbaren‘ und der absoluten Mehrheit der Menschheit solches ,heilsrelevante‘ Wissen vorenthalten zu haben. Drittens kommt noch eine weitere Erfahrung hinzu: So selten sich im Allgemeinen Christen zu Judentum oder Islam bekehrten (woraufhin man sie auch sofort als vom ,wahren Glauben abgefallen‘ juristisch abgeschlachtet hätte), so wenig ließen sich Juden oder Moslems oder Mitglieder der asiatischen Hochkulturen zum Christentum bekehren. Das ethnohistorische Wissen konfrontiert somit die intelligenten Europäer, also eine verschwindende Minorität, mit dem Faktum, dass alle anderen Kulturen ihre jeweilige Religion für ebenso ‚wahr‘ halten wie die Christen die ihre und dass sie ebenso ‚unbekehrbar‘ wie die Christen sind. Daraus resultieren zwei Probleme. Erstens: Von mehreren, einander widersprechenden Religionen kann – bestenfalls! – nur eine ,wahr‘ sein: Wem an seinem ,Heil‘ liegt, muss also (siehe oben), gegen den Willen seiner Kirche, diese Religionen einer ,rationalen Prüfung‘ unterziehen. Dazu muss er diese Religionen vergleichen, was in den Texten zu Ansätzen einer komparatistischen Religionswissenschaft führt.89 Zweitens aber fragt sich, wieso denn Subjekte, selbst bei Kenntnis anderer Religionen, an der ihren festhalten.90 Die empirisch zutreffende Antwort darauf war natürlich der –

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Das Problem der ‚tugendhaften Heiden‘, die unmöglich ‚zur Hölle verdammt‘ sein könnten, tritt schon 1593 im Colloquium (wie Anm. 8), etwa S. 320, auf. Vgl. zu diesem Thema im 17. Jahrhundert z. B. Jacques Solé: Christliche Mythen. Von der Renaissance bis zur Aufklärung. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1982. Exemplarisch etwa in Nicolas Frérets Lettre de Thrasybule à Leucippe (1720er), wo der fiktive Briefschreiber, dessen antiker, griechischer Text hier angeblich übersetzt wird, alle seinerzeit bekannten Religionen vergleicht und nach Ähnlichkeiten zu Klassen zusammenfasst. Schon die an der ,wissenschaftlichen Revolution‘ im frühen 17. Jahrhundert beteiligten Intellektuellen, so ein Galilei, Bacon und andere, standen vor dem Problem, wieso eine Majorität an Posi-

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in den Texten massiv belegte – Verweis auf die frühkindliche Sozialisation,91 in der intellektuell Unmündige, „ihre Schwäche missbrauchend“92, autoritär indoktriniert werden; welche Religion jemand glaubt, ist somit eine Funktion des Zufalls: des Raumes, in dem man geboren ist. Die emotionalen Zwänge, die dabei ausgeübt werden, die Ängste, mit denen jede Abweichung besetzt wird, haben die antichristlichen Autoren, die sich ja selbst vermutlich oft nur unter Qualen von den ihnen als Kindern verabreichten Ideologemen befreien konnten, gelegentlich intensiv beschrieben.93 Alle NichtChristen (Deisten, Atheisten, Agnostiker) folgern nun, dass keine der vorhandenen Religionen, insbesondere weder Judentum noch Christentum noch Islam, ‚wahr‘ seien, wobei die Deisten ihr System der ,natürlichen Religion‘ für wahr halten, die Atheisten und Agnostiker aber nicht einmal dieses. Folglich kann das Theorem, Religionsstifter seien ,Betrüger‘, die Herrschafts- und Machtinteressen vertreten, auftauchen, solange man über keine quasi-psychologische Theorie verfügt, die auch nicht-rationale Faktoren der menschlichen Psyche kennt; es scheint, dass erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts neben dem bewussten ,Betrüger‘ häufiger der unbewusste unter dem Namen des ,Fanatikers‘, des ,Enthusiasten‘, des ,Schwärmers‘ als psychischer Typ genannt wird, der sich selbst betrügt und sich ,Offenbarungen‘ einbildet, die er dann überzeugt verkündet. Was die ‚Betrüger‘-These anlangt, so ist es natürlich eine besondere Pointe, dass sie eine christliche Erfindung ist, die sich nun gegen das Christentum selbst wendet. Aus christlicher Sicht konnten die Gründer anderer Religionen, so etwa – besonders

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tionen festhielt, die sie falsifiziert zu haben glaubten, und sahen sich daher zu Ansätzen einer Ideologie-Theorie gezwungen. Vgl. dazu etwa Titzmann: Die Emanzipation der Wissenschaft (wie Anm. 10). Mit fast schon zynischer Offenheit hat etwa Luther zugegeben, dass die Kindstaufe notwendig sei, weil man Erwachsene schwerlich noch überzeugen könnte: „Dass man durch die ganze Christenheit in aller Welt die unmündigen Kinder tauft, und nicht harret bis sie gross werden oder zur Vernunft kommen, düncket mich aus sonderlichem Rath und Vorsehung Gottes geschehen und aufkommen sein. Und wo man jetzt sollte die Grossen und Alten taufen, halte ich wahrlich, dass sich das zehnte Theil nicht liesse taufen, ja wir wären gewisslich, so viel an uns läge, längst, längst eitel, eitel Türken worden.“ (zitiert nach David F. Strauß: Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft [1841], S. 556f., Anm. 22) – für besonders groß hielt er die Überzeugungskraft seiner Religion offenbar nicht. So etwa Robert Challe: Difficultés sur la religion proposées au Père Malebranche (1710er), S. 152: „abusant de leur faiblesse“. Vgl. auch ebd. S. 113; du Marsais: Examen de la religion (wie Anm. 84), S. 148; Fréret: Lettre de Thrasybule (wie Anm. 89), S. 253 usw. So auch schon die Quatrains (wie Anm. 29), S. 1336: „De même le bigot suit la religion / Dont il est allaité dès sa première enfance.“ („Ebenso folgt der Frömmler der Religion / Mit der man ihn seit seiner frühen Kindheit gesäugt hat.“) Die Relevanz der Sozialisation ist in diesem ,pädagogischen Jahrhundert‘ nicht nur durch Texte wie Claude A. Helvétius’ De l’Esprit (1758) und De l’Homme, de ses facultés et de son éducation (1772), sondern auch durch Jean-Jacques Rousseaus Emile, ou de l’Education (1762) belegt. So etwa Reimarus: Apologie (wie Anm. 70) auf vielen Seiten.

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verhasst – Mohammed, nur, im besten Falle, ,Betrüger‘, im schlimmsten aber vom Satan höchstselbst inspiriert sein. In der komparativen Sicht auf die Religionen, etwa die drei vorderorientalischen Monotheismen,94 erkannte aber, wer sich rational mit diesen Religionen beschäftigte, unvermeidlich, dass sie sich alle auf dieselben Klassen vorgeblicher ,Wahrheitsbeweise‘ beriefen: auf ,heilige Schriften‘, die eine Gottheit ,glaubwürdigen Zeugen‘ ,geoffenbart‘, also inspiriert oder diktiert hätte, auf die ,Wunder‘, die die jeweilige Lehre ,beglaubigen‘ würden, auf die ,Prophezeiungen‘, die sich erfüllt hätten, auf die ,vortreffliche Moral‘, die aus dieser Lehre folge, oder – obwohl offenkundig absurd, so doch im Christentum verbreitet und noch im 18. Jahrhundert vertreten – auf die Vielzahl der ,Märtyrer‘, deren Tod die ,Wahrheit‘ bezeuge, oder gar auf die Schnelligkeit, mit der sich diese Religion ausgebreitet habe. Was die beiden letzteren Pseudoargumente betrifft, so hat man schon im 17. Jahrhundert darauf hingewiesen, nicht nur alle Religionen, sondern auch der Atheismus habe ,Märtyrer‘, die für ihn gestorben seien (so z. B. Bayle in den Pensées diverses […] à l’occasion de la comète […]1683), und der Islam habe sich schneller ausgebreitet als das Christentum. Wenn aber die ‚Wahrheitsbeweise‘ in allen Fällen dieselben sind, sind sie kein Kriterium für Wahrheit: Wenn die einen Stifter angeblich Betrüger sind, dann können es die anderen genauso gut sein. Die Diskussion der Religionen gewinnt den Charakter eines Prozesses mit Zeugenbefragungen: „Man kann die Angelegenheit der Religion wie einen Prozess betrachten, wo jede Religion als Kläger fungiert und alle anderen zusammen als Verteidiger.“95 3.2 Kritik an Bibel und Theologie: philologisch-historisch – moralisch-juristisch – logisch-rational Das System der Dogmen der jeweiligen christlichen Fraktion basiert nun immer auf zwei Fundamenten: zum einen den ,heiligen Texten‘ (= Bibel = AT + NT), die – mit in meinem Kontext unerheblichen Abweichungen – bei Katholiken und Protestanten im Wesentlichen dieselben sind; zum anderen den von der jeweiligen Fraktion vorgenommenen Deutungen dieser Texte – ich nenne sie im Folgenden (theologische) Exegese, um sie von (wissenschaftlicher) Interpretation zu unterscheiden.96 Für den Katholizismus hat das Konzil von Trient festgelegt, nur die katholische Kirche habe das Recht, die Bibel zu interpretieren; im Protestantismus hingegen bilden sich die – seit Dann-

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Sofern man das Christentum denn überhaupt ,monotheistisch‘ nennen kann. Challe: Difficultés (wie Anm. 92), S. 157: „On peut regarder l’affaire de la religion comme un procès où chaque religion est le demandeur et toutes les autres ensemble le défendeur.“ Inzwischen gibt es natürlich – in Früher Neuzeit und Aufklärung von einigen Protestanten und vielen Heterodoxen eingeleitet – Interpretationen biblischer Texte, die wissenschaftlichen Normen genügen (wogegen sich der Katholizismus ja lange heftig gesträubt hat).

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hauer 165497 auch explizit so genannten – Hermeneutiken heraus: Interpretationstheorien, die, abgesehen von ihren theologischen Prämissen, durchaus logisch-rational argumentieren. Solche – konfessionsübergreifenden – Vorannahmen theologischer Exegese sind nun: H 1: Die biblischen Texte sind das ,Wort Gottes‘: Was in ihnen steht, ist von ,Gott‘ (wahlweise vom ,heiligen Geist‘) ,inspiriert‘, wo nicht gar ,diktiert‘; die menschlichen Urheber der Texte hätten demnach diese göttlichen Eingebungen nur schriftlich fixiert. H 2: Angenommen wird, dass ,Gott‘ weder seine Meinung ändern noch sich irren noch lügen könne; daraus folgt dann H 3 und H 4: H 3: Alle Texte des Bibel genannten Korpus – in wie verschiedenen Epochen bzw. Kulturen sie auch entstanden sind – können exegetisch als ein Text behandelt werden, da infolge von H 2 die biblischen Texte sich nicht widersprechen können bzw. dürfen. H 4: Jede aus diesen Texten exegetisch abgeleitete Proposition muss folglich, soweit sie eine Behauptung über die Realität aufstellt, eine wahre bzw., soweit sie eine Norm formuliert, eine verbindliche sein; das impliziert auch, dass alle in der Bibel erzählten Geschichten, inklusive sämtlicher ,Wunder‘, historisch wahr sind und dass die Gestalten, denen jeweils die Autorschaft eines biblischen Buches zugeschrieben wird, tatsächlich deren Urheber bzw. von ,Gott‘ benutzte Sprachrohre sind. Schon in der Antike begriff man freilich, dass diese Annahmen, konsequent gehandhabt, desaströse Folgen für die theologischen Wahrheitsansprüche haben würden, weshalb man zur Immunisierung der Texte bzw. der Exegese etliche Hilfskonstruktionen erfand:98 etwa Strategien, um Stellen, die für wahr gehaltenen Dogmen widersprechen, um- bzw. wegzuintepretieren. Von zentraler Relevanz für das Christentum ist natürlich die behauptete dogmatische Übereinstimmung von AT und NT: Der Protagonist der Evangelien präsupponiert in seinen Äußerungen die Kenntnis und die Wahrheit des AT und legitimiert durch die Berufung auf dessen Gott die eigenen Wahrheitsansprüche. Wichtig für die Anhänger des Christentums wie für dessen Gegner ist, dass man noch im 18. Jahrhundert nicht die altägyptischen Texte und die aus den vielen sukzessiven Kulturen des mesopotamischen Raums seit den sumerischen und akkadischen Anfängen

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Johann C. Dannhauer: Hermenevtica Sacra Sive Methodus exponendarum S. Literarum. Straßburg 1654. Vgl. dazu auch Michael Titzmann: Herausforderungen der biblischen Hermeneutik in der Frühen Neuzeit: Die neuen Diskurse der Wissenschaft und der Philosophie. In: Geschichte der Hermeneutik und der textinterpretierenden Disziplinen. Hg. von Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt. Berlin 2005, S. 119-156. Vgl. z. B. Titzmann: Herausforderungen der biblischen Hermeneutik (wie Anm. 97); ders.: Die Emanzipation der Wissenschaft (wie Anm. 10).

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kennt bzw. entziffern kann, weshalb zumindest die Theologen glauben, die Moses zugeschriebenen Bücher, der Pentateuch, seien das älteste Buch der Welt.99 Aus der Sicht der Kritiker setzen nun aber die theologischen Prämissen H 1 bis H 4 schon voraus, was erst noch zu beweisen wäre: es würden die meisten den Grundsatz aufstellen (nach dem die Schrift verstanden und ihr wahrer Sinn ermittelt werden soll), sie sei an allen Stellen wahr und göttlich. Also das, was sich erst aus ihrem Verständnis und ihrer genauen Prüfung ergeben müßte, und was man weit besser aus ihr selbst entnehmen würde, die keiner menschlichen Erdichtung bedarf, das stellen sie von vornherein als Regel für ihre Auslegung auf.100

Bis zu diesem Beweis aber kann man, in dieser Logik, die Bibel zunächst nur wie jedes andere Buch behandeln,101 was die Nicht-Christen denn auch tun werden. Die neue rationale Hermeneutik ohne die theologischen Vorurteile H 1 bis H 4 liefert nun Spinozas Tractatus theologico-politicus von 1670. Nach der notwendigen philologischen Textkritik und angemessener Rekonstruktion der alten Sprachstände handle es sich darum, die Bedeutung des jeweiligen biblischen Textes bzw. der Textstellen interpretatorisch zu rekonstruieren, und zwar unabhängig davon, ob diese Bedeutung auch eine Aussage ist, die man für wahr hält.102 Dazu ist Denk- und Redefreiheit erforderlich:

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Über die gut 2.000 Jahre älteren Kulturen Ägyptens und des irakischen Raums und deren Einflüsse auf die Bibel werden erst ab dem 19. Jahrhundert Forschungsergebnisse eingehen; bis dahin sind die älteste Quelle, die man über diese Räume hat, wohl Herodots Historien (5. Jh. v. u. Z.; Übs. von C. Bähr. Hg. von Lars Hoffmann. Wiesbaden 2007). Der ‚Kirchenvater‘ Augustinus hat behauptet, was sich an ,Wahrem‘ in der griechischen Philosophie fände, insbesondere bei Platon, habe man von Moses abgeschrieben (schon Josephus behauptet in Contra Apionem, die Gesetzgeber der anderen Kulturen hätten sich an den ,mosaischen Gesetzen‘ orientiert); das intellektuelle Gefälle zwischen Platon und dem Pentateuch scheint Augustinus nicht aufgefallen zu sein. Spinoza: Tractatus (wie Anm. 73), S. 14: „[…] plerique tamquam fundamentum supponunt (ad eandem scilicet intelligendum ejusque verum sensum eruendum) ipsam ubique veracem et divinam esse; id nempe ipsum, quod ex ejusdem intellectione et severo examine deberet constare, et quod ex ipsa, quae humanis figmentis minime indiget, longe melius edoceremur, in primo limine pro regula ipsius interpretationis statuunt.“ (Übs. von Günter Gawlick). Vgl. z. B. John Toland: Christianity not Mysterious (1696), S. 44: „Nor is there any different rule to be follow’d in the Interpretation of Scripture from what is common to all other Books.“ Thomas Morgan: The Moral Philosopher. In a Dialogue between Philalethes a Christian Deist, and Theophanes a Christian Jew (1737-1740) Bd. III, S. 140: „[…] had this sacred History been read critically, and interpreted by the same rules of natural and rational Probability and Credibility, as we read all other History.“ Georg C. Lichtenberg: Aus den Sudelbüchern 1765-1799. Hg. von Hannah Arnold und Heinz L. Arnold. Frankfurt a.M. 2008, J 17: „[…] die Bibel ist ein Buch, von Menschen geschrieben, wie alle Bücher. […]. Je mehr eine Erklärung die Bibel zu einem ganz gewöhnlichen Buche macht, desto besser ist sie.“ Spinoza: Tractatus (wie Anm. 73), S. 236: „De solo enim sensu orationum, non autem de earum veritate laboramus.“

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Im übrigen sei einem jeden zugestanden, sowohl zu denken, was er will, als auch, was er denkt, zu sagen.103

Damit wird erstmals eine ‚vorurteilsfreie‘ Interpretation der Bibel möglich: was gravierende Konsequenzen haben wird. ,Vorurteil‘ (praeiudicium) ist ein zentraler Begriff schon des Rationalismus und erst recht der Aufklärung (vgl. z. B. d’Holbachs Essai sur les préjugés von 1770): Ein ,Vorurteil‘ – nicht zufällig wieder ein auch juristischer Begriff – ist eine Proposition, die man bei einer Argumentation als selbstverständlich wahr voraussetzt, ohne sie rational geprüft zu haben. Und wer garantiert nun aber, dass die Bibel ,göttliche Offenbarung‘ sei? Z. B. Rousseau lässt im Emile 1762 die Frage stellen: Und woher wissen Sie, dass Ihre Sekte die richtige ist? Weil es Gott gesagt hat. Und wer sagt Ihnen, dass Gott es gesagt hat? Mein Pfarrer, der es sicher weiß.104

An die ‚Offenbarung‘ glaube man also im Vertrauen auf die ,Autorität‘ einer Kirche:105 „Sie ist also Richter in eigner Sache“106 – das aber ist im neuen juristischen Denken, das in der antichristlichen Religionsphilosophie zentrale Bedeutung erlangt, nicht akzeptabel. Noch einmal Rousseau in einem fiktiven Mini-Dialog: Gott hat gesprochen! Wahrlich ein großes Wort. Und zu wem hat er gesprochen? Er hat zu den Menschen gesprochen. Warum habe ich dann nichts davon gehört? Er hat andere Menschen beauftragt, Ihnen sein Wort zu übermitteln. Ich verstehe! Es sind Menschen, die mir sagen werden, was Gott gesagt hat. Ich hätte lieber Gott selbst gehört; es hätte ihn nicht mehr gekostet, und ich wäre sicher vor Verführung gewesen. Er schützt Sie davor, indem er die Mission seiner Gesandten bestätigt. Wie das? Durch Wunder. Und wo sind diese Wunder? In den Büchern. Und wer hat diese Bücher gemacht? Menschen. Und wer hat diese Wunder gesehen? Menschen, die sie bestätigen. Was! Immer menschliche Zeugnisse! Immer Menschen die mir berichten, was andere Menschen berichtet haben!107

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Spinoza: Tractatus (wie Anm. 73), S. 620: „[…] caeterum unicuique et sentire quae velit, et quae sentiat, dicere concedatur.“ Die Formulierung scheint übrigens aus den Historien des Tacitus zu stammen: Dieser spricht von der „rara temporum felicitate, ubi sentire quae velis et quae sentias dicere licet“ (P. Cornelius Tacitus: Historien. Hg. und übs. von Helmuth Vretska. Stuttgart 2009, S. 8 = I,1,4). Jean-Jacques Rousseau: Emile, ou de l’Education (1762), S. 386: „Et comment savez-vous que votre secte est la bonne? Parce que Dieu l’a dit. Et qui vous dit que Dieu l’a dit? Mon pasteur qui le sait bien.“ Schon der vermutlich folgenreichste antike ‚Kirchenvater‘, Augustinus, schreckte offenbar nicht vor der Absurdität des logischen Zirkels zurück: „ego vero evangelio non crederem, nisi me catholicae ecclesiae conmoveret auctoritas“ (zitiert nach Roland Kany in: Friedrich W. Graf/Klaus Wiegandt [Hgg.]: Die Anfänge des Christentums. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2009, S. 459). Du Marsais: Examen (wie Anm. 84), S. 184: „Elle est donc juge en sa propre cause.“ Rouseau: Emile (wie Anm. 104), S. 387f.: „Dieu a parlé! Voilà certes un grand mot. Et à qui a-t-il parlé? Il a parlé aux hommes. Pourquoi donc n’en ai-je rien entendu? Il a chargé d’autres hommes de vous rendre sa parole. J’entends! ce sont des hommes qui vont me dire ce que Dieu a dit. J’aimerais mieux avoir entendu Dieu lui-même; il ne lui en aurait coûté davantage, et j’aurais été à l’abri de la séduction. Il vous en garantit en manifestant la mission de ses envoyés. Comment cela? Par des prodiges. Et où sont ces prodiges? Dans les livres. Et qui a fait ces livres? Des

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Folglich unterwerfen die Nicht-Christen die Bibel einer Art juristischer Zeugenbefragung. John Lockes Erkenntnistheorie im Essay Concerning Human Understanding (1690) führt zurecht aus, dass wir für Erkenntnisse, die wir nicht aus eigener rationaler Überlegung und/oder eigener empirischer Erfahrung gewonnen haben, auf das Zeugnis anderer angewiesen sind, für deren Glaubwürdigkeit somit Kriterien formuliert werden müssen.108 Nun sei zwar eine ,göttliche Offenbarung‘ immer wahr und also zu glauben: Ob aber etwas eine solche sei, könne nur die Vernunft entscheiden, die hier alleinige Richterin sei. Keine ‚Offenbarung‘ könne einem aus der Vernunft oder der Erfahrung gewonnenen, gesicherten Wissen widersprechen. Die Behauptung, der Inhalt jeder ‚Offenbarung‘ müsse mit der Vernunft kompatibel sein, kann Locke sich leisten, weil er Antitrinitarier ist, also ohne die These auskommt, Gott sei einer und auch drei. Sein Versuch, in einer auf Vernunft und Erfahrung gegründeten Erkenntnistheorie zugleich ein (wenn auch rationalisiertes) Christentum aufrecht zu erhalten, bringt ihn naturgemäß in logische Probleme: Zur Beglaubigung einer ‚Offenbarung‘ als ‚göttlich‘ bleibt er letztlich auf ,Wunder‘ angewiesen. In A Discourse of Miracles (1706) definiert er: Unter Wunder verstehe ich also eine sinnlich wahrnehmbare Operation, die, da sie das Verständnis des Betrachters übersteigt und nach seiner Meinung dem etablierten Lauf der Natur widerspricht, von ihm für göttlich gehalten wird.109

Diese Definition lässt natürlich offen, ob, was jemand für ein ,Wunder‘ hält, tatsächlich eines ist: Und für diese Entscheidung kann er keine befriedigenden Kriterien anbieten, zumal zwischen ,wahren‘ und ,falschen Wundern‘ unterschieden werden müsse, da ja alle Religionen sich auf ,Wunder‘ beriefen. Nun hatte die neue Naturwissenschaft schon bei Galilei postuliert, die „Natur“ sei „unerbittlich und unveränderlich und überschreite nie die Grenzen der ihr [von Gott] auferlegten Gesetze“110. Aus diesem latenten Konflikt zwischen dem Konzept von ,Naturgesetzen‘ und dem des ,Wunders‘ zog Spinoza 1670 im Tractatus eine radikale Konsequenz: […] ich werde zeigen, 1. daß nichts gegen die Natur geschieht, daß diese vielmehr eine ewige, feste und unveränderliche Ordnung einhält, und zugleich, was man unter einem Wunder zu verstehen hat; 2. daß wir aus den Wundern weder das Wesen noch das Dasein und folglich

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hommes. Et qui a vu ces prodiges? Des hommes qui les attestent. Quoi! toujours des témoignages humains! toujours des hommes qui me rapportent ce que d’autres hommes ont rapporté.“ Vgl. hierzu und zum Folgenden John Locke: An Essay Concerning Human Understanding (1690), Buch IV, Kap. XV-XX. In John Locke: The Reasonableness of Christianity, As delivered in the Scriptures (1695), S. 44: „A miracle then I take to be a sensible Operation, which being above the comprehension of the Spectator, and in his Opinion contrary to the establish’d Course of Nature, is taken by him to be Divine.“ So Galilei in der Lettera a Cristina di Lorena 1615: „essendo la natura inesorabile ed immutabile, e mai non trascendente i termini delle leggi impostegli“ (zitiert nach Titzmann/Steinhauser [Hgg.]: Galilei [wie Anm. 10], S. 108).

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auch nicht die Vorsehung Gottes erkennen können, daß vielmehr all das weit besser aus der festen und unveränderlichen Ordnung der Natur begriffen werden kann.111

Spinoza leugnet die Möglichkeit von – als Verstoß gegen die Naturgesetze konzipierten – ,Wundern‘ und entzieht damit den geoffenbarten Religionen ein zentrales Fundament: Hume kommentiert in den Philosophical Essays Concerning Human Understanding (1748) daß die christliche Religion […] von keinem vernünftigen Menschen ohne Annahme eines Wunders geglaubt werden kann.112

Nun hat Hume aber gleichzeitig Lockes Kriterien für die Glaubwürdigkeit bzw. Wahrscheinlichkeit von Zeugenaussagen, darunter eben auch solche über ,Wunder‘ und ,Prophezeiungen‘, logisch präzisiert und verschärft,113 was ich hier leider nicht ausführen kann. Das Ergebnis: Da „Wunder“ „eine Verletzung der Naturgesetze“ seien,114 müsse gelten, daß kein Zeugnis genügt, um ein Wunder zu konstatieren, es sei denn, das Zeugnis sei solcher Art, daß seine Falschheit wunderbarer wäre als die Tatsache, die es zu konstatieren trachtet.115

Woraus er schließlich wiederum folgert: daß kein menschliches Zeugnis so stark sein kann, ein Wunder zu beweisen und es zu einer berechtigten Grundlage für irgendein solches Religionssystem zu machen.116

Doch mit der generellen erkenntnistheoretischen ‚Wunder‘-Kritik hat man es nicht bewenden lassen, sondern auch die in der Bibel erzählten ,Wunder‘ im einzelnen diskutiert – hier nur einige wenige Beispiele. Das AT berichtet von einer universellen ‚Sintflut‘, durch die Gott die Menschheit mit Ausnahme Noahs und seiner Familie ausgerottet habe; Noah habe sie in der ‚Arche‘ überlebt, in die zudem ein Paar jeder Tierart aufgenommen worden sei. Diese – schon im 17. Jahrhundert bezweifelte – Story

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Spinoza: Tractatus (wie Anm. 73), S. 190: „[…] ostendam I. Nihil contra naturam contingere, sed ipsam aeternum fixum et immutabilem ordinem servare, et simul, quid per miraculum intelligendum sit. II. Nos ex miraculis nec essentiam nec existentiam, et consequenter nec providentiam Dei posse cognoscere, sed haec omnia longe melius percipi ex fixo et immutabili naturae ordine.“ (Übs. von Gawlick/Niewöhner, ebd., S. 191). David Hume: Philosophical Essays Concerning Human Understanding (1748), S. 167 (Übs. von Herring). Ab 1758 erscheint der Text unter dem Titel An Enquiry Concerning Human Understanding. Ebd., Kap. X: Über Wunder – unbedingt lesenswert! Ebd., S. 147. Ebd., S. 149. Engl. Text nach Christopher Hitchens (Hg.): The Portable Atheist. Philadelphia 2007, S. 35: „[…] that no testimony is sufficient to establish a miracle, unless the testimony be of such a kind, that its falsehood would be more miraculous, than the fact, which it endeavours to establish.“ Hume: Philosophical Essays (wie Anm. 112), S. 162. Engl. Text nach Hitchens: Atheist (wie Anm. 115), S. 42: „[…] that no human testimony can have such force as to prove a miracle, and make it a just foundation for any such system of religion.“

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wird z. B. in Diderots Encyclopédie (ab 1751) diskutiert.117 Abgesehen von der Frage, woher denn so viel Wasser gekommen sein soll, dass es zu einer Überschwemmung selbst der höchsten Bergesgipfel ausgereicht hätte, wird die Frage aufgeworfen, wie denn Tiere aller Kontinente – noch dazu rechtzeitig – zu Noahs Arche hätten kommen können, und scheinbar allen Ernstes wird diskutiert, wie viel Raum für alle dieser Tierarten, wie viel unterschiedliche Nahrungsmittel, welche Mengen an Süßwasser erforderlich gewesen seien, welche Probleme die Belüftung und das Ausmisten aufgeworfen hätte, womit am Ende die Geschichte ad absurdum geführt ist. Reimarus, der die Sintflut-Erzählung nur mehr ironisiert,118 hat in der Apologie (1767/68) am Beispiel jener ,Wunder‘, die Jahwe getan habe, um den Pharao zu veranlassen, die Juden aus Ägypten abziehen zu lassen,119 und der ,Wunder‘, mit Hilfe derer das jüdische Volk das rote Meer durchquert habe und das Heer des Pharao vernichtet worden sei,120 noch einmal exemplarisch vorgeführt, wie eine textinterne historische Kritik zeigen kann, dass sich das, was erzählt wird, unmöglich so ereignet haben könne, wie es erzählt wird: Mein Gott! ists möglich, daß Menschen, die sonst gesunde Vernunft haben, solche Geschichte, die so voll von Wiedersprüchen [sic] ist, ohne alles Nachdenken lesen und blindlings annehmen können? […] Und bisher habe ich mich bloß an die inneren Wiedersprüche der Wunder gehalten. Aber die äusseren Umstände geben uns nicht wenigere an die Hand.121

So rechnet Reimarus en détail vor, welche Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten die jüdische Flucht und der Durchzug durch das rote Meer aufweist. Solche historische Kritik mag heute kleinlich erscheinen: Sie war notwendig, solange die biblischen Berichte als mehr oder minder wörtlich wahr galten.122 Auch das NT lebt natürlich von den ,Wundern‘, die Jesus zugeschrieben werden und seine Rolle als ,Messias‘ oder gar als Gott beglaubigen sollen, wobei die ,Auferstehung

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Siehe die Stichwörter Arche de Noé und Déluge. Reimarus: Apologie (wie Anm. 70), Bd. I, S. 205-210. Ebd., S. 286-294. Ebd., S. 295-326. Ebd., S. 293f. Aus der Sicht der heutigen Ägyptologie ist Moses offenbar nur eine legendäre Gestalt, und eine ägyptische Versklavung der Juden samt anschließendem Auszug aus Ägypten habe es nie gegeben (vgl. z. B. Jaroslav Cerny: Das Neue Reich in Ägypten II. In: Die altorientalischen Reiche II. Das Ende des 2. Jahrtausends. Hg. von Elena Cassin, Jean Bottéro und Jean Vercoutter. Frankfurt a.M. 1966, S. 260-293, hier S. 277 und Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt a.M. 2000); die Archäologie hat bestätigt, dass es keinerlei Spuren eines Moses, eines Aufenthalts in Ägypten und eines ,Exodus‘ über den Sinai gebe (vgl. Finkelstein/Silberman: Jericho [wie Anm. 1]). Bei dieser mythischen Erzählung scheint es sich um eine Transformation der zeitweiligen Herrschaft der (semitischen, aber nicht jüdischen) Hyksos (ca. 1650-1540 v. u. Z.; Chronologie nach Jan Assmann: Ägypten. Eine Sinngeschichte. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2003, S. 547) über Ägypten und deren Vertreibung zu handeln. Ein kleines Land oder Volk Israel wird offenbar erstmals auf einer Siegesstele des Pharao Merenptah ca. 1207 v. u. Z. erwähnt, wo er den Sieg über diverse palästinensische Kleinststaaten feiert.

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von den Toten‘ nicht nur das größte, sondern auch das entscheidende ,Wunder‘ wäre.123 Die nicht-christlichen Texte – sehr systematisch etwa Reimarus in der Apologie 1767/68 oder d’Holbach in seiner Histoire critique de Jésus-Christ 1770 – konstatieren nun (zutreffend), dass laut den Evangelien 1) Jesus seine ,Wunder‘ immer in ländlichen Gegenden, vor dem ,einfachen Volk‘, aufgeführt habe, niemals hingegen – auch dann nicht, wenn er dazu aufgefordert worden sei – in den städtischen Zentren wie Jerusalem, etwa vor dem jüdischen Klerus oder den politischen Machthabern, dem römischen Statthalter Pilatus oder dem Tetrarchen Herodes, obwohl sie dann wirkungsvoller gewesen und besser – etwa durch die jüdische oder römische Geschichtsschreibung – bezeugt worden wären, 2) diese ,Wunder‘ meist nicht einmal deren angebliche Zeugen überzeugt hätten und 3) Jesus gelegentlich die Zeugen oder Nutznießer zum Verschweigen seiner ,Wunder‘ aufgefordert habe, 4) gerade die größten ,Wunder‘, die ,Auferstehung‘ und die ,Himmelfahrt‘, sich angeblich nur vor Anhängern ereignet hätten, statt sie etwa öffentlich den Einwohnern Jerusalems vorzuführen (womit sie wiederum auch dank unabhängiger Zeugen von der Historiographie hätten tradiert werden können), 5) selbst die den Tod des Helden begleitenden auffälligen ‚Wunder‘, immerhin eine Sonnenfinsternis und ein Erdbeben, von keinem Historiker tradiert worden seien. Und natürlich konstatiert man, dass weder der jüdische Philosoph Philo aus Alexandria noch der jüdische Historiker Flavius Josephus, der z. B. von den zeitgenössischen jüdischen Sekten – Sadduzäern, Pharisäern, Essenern – berichtet und sowohl ,Johannes den Täufer‘ als auch etliche ,Messiasse‘, aber keinen Jesus kennt, noch die römischen Historiker Tacitus und Suetonius auch nur das Geringste von einem Jesus und seinen eindrucksvollen ,Wundern‘ wissen.124

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So jedenfalls der ‚Apostel‘ Paulus im Ersten Brief an die Corinther (1 Cor 15,14): „Jst aber Christus nicht aufferstanden / So ist vnser Predigt vergeblich / So ist auch ewer glaube vergeblich.“ Das sog. „Testimonium Flavianum“ in den Antiquitates Judaicae (Flavius Josephus: Jüdische Altertümer. Mit Paragraphenzählung nach „Flavii Josephi opera“ recognovit Benedictus Niese [Editio minor]. Übers. von Heinrich Clementz. Berlin 1888-1895. Neudruck. Neu gesetzte und überarb. Aufl. Wiesbaden 2004, dort 18. Buch, 3. Kap., S. 878) des Josephus war schon im 17. Jahrhundert als – noch dazu überaus plumpe – Fälschung erkannt. Vgl. auch sein Bellum Judaicum (Flavius Josephus: Geschichte des jüdischen Krieges. Übs. von Heinrich Clementz. Halle a.d.S. 1900. Neudruck. Neu gesetzte und überarb. Aufl. Wiesbaden 2005; darin auch der wichtige Text Contra Apionem). Tacitus berichtet in den Annalen im Kontext von Neros Brandstiftung in Rom von einer Sekte der „Chrestiani“ und weiß darüber aber nur, dass deren Urheber unter Pilatus hingerichtet worden sei (Tacitus: Annalen. Lateinisch und deutsch. Hg. und übs. von Erich Heller. 2. Aufl. München/Zürich 1992, S. 748 = XV,44); die Information ist so unspezifisch, dass sie auf späterem Hörensagen beruhen mag, sofern es nicht auch eine Fälschung ist. Und Sueton berichtet in seinen Leben der Caesaren in der Claudius-Vita gar, „da die Juden auf Initiative des Chrestos hin beständig Unruhe stifteten“, habe man sie aus Rom vertrieben (Übs. von André

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Das Christentum versuchte, seinen Helden aus dem AT zu legitimieren, indem man behauptete, der ,Erlöser‘ sei in den ,Prophezeiungen‘ des AT vorhergesagt worden: Aber schon die Origo von 1587 weist systematisch nach, dass die fraglichen Aussagen zu Unrecht und gegen ihren Kontext auf Jesus bezogen worden seien. Aus einer dieser Stellen (Jesaia 7,14) habe man zudem die ,Jungfrauengeburt‘ abgeleitet, indem man fälschlich hebräisch almah (,junge Frau‘) griechisch als parthenos (,Jungfrau‘) übersetzt habe;125 ein zentrales Dogma basiert also auf einem Übersetzungsfehler. Und erst im Kontext der sog. ,Babylonischen Gefangenschaft‘126 sei die Hoffnung auf einen ,Messias‘ aufgekommen, der aber als innerweltlicher, menschlicher ,Erlöser‘, als König aus der Familie Davids gedacht worden sei, der ein mächtiges jüdisches Reich127 (wieder)herstellen werde. Daher habe man dann, wie die Nicht-Christen hervorheben, Jesus in den ,Matthäus‘ (1,1-16) und ,Lukas‘ (3,23-38) benannten Evangelien eine Abstammung vom König David angedichtet, wobei freilich in dieser Genealogie weder die Namen der angeblichen Vorfahren noch die Anzahl der Generationen übereinstimmen. Zudem gäbe eine solche Abstammung nur dann Sinn, wenn Jesus tatsächlich Sohn des Joseph sei128 und wenn es

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Lambert: Sueton. Leben der Caesaren. Reinbek 1960, S. 206; C. Suetonius Tranquillus: Opera. Vol. I: De vita Caesarum libri VIII. Hg. von Maximilian Ihm. Stuttgart 1978, 5,25,4: „Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantis Roma expulit“; das lateinische Original verdanke ich den Herausgebern dieses Bandes), was nun wohl eher totales Unwissen belegt: Selbst am Ende des ersten Jahrhunderts weiß man in Rom noch so gut wie nichts von ‚Jesus Christus‘ und ,Christen‘, obwohl Palästina römisch beherrscht war und die Statthalter wesentliche Ereignisse sicherlich dem jeweiligen Caesar berichtet haben werden. Wenn der jüngere Plinius Kaiser Trajan ca. 111/112 u. Z. über seine Untersuchung gegen Christen in Kleinasien berichtet, scheint auch er nichts Genaueres über diese Religion zu wissen; als Ergebnis seiner Befragungen konstatiert er: „Nihil aliud inveni quam superstitionem pravam et immodicam.“ (Plinius: Epistulae/Sämtliche Briefe. Übs. und hg. von Heribert Philips und Marion Giebel. 2. Aufl. Stuttgart 2010, S. 808: „Ich fand aber nichts anderes als verworrenen maßlosen Aberglauben.“). Dass die These einer Geburt durch eine Jungfrau auf einen Übersetzungsfehler nicht erst bei Matthäus, wie die Origo meint, sondern schon der Septuaginta zurückgehe, bestätigt auch der (protestantische) Theologe Gertz in Graf/Wiegandt (Hgg.): Anfänge des Christentums (wie Anm. 1), S. 244. D. h. ab 586 v. u. Z.: nach der Zerstörung auch des südlichen jüdischen Staates Juda 587 v. u. Z. durch die Babylonier unter Nebukadnezar; das jüdische Nordreich Israel wurde schon um 720 v. u. Z. durch die Assyrer unter Salmanassar V. oder Sargon II. zerstört. Das Exil der von Nebukadnezar umgesiedelten jüdischen Teilgruppe endet, als die inzwischen in Mesopotamien herrschenden Perserkönige ab Kyros die Rückkehr erlauben. Vgl. dazu Finkelstein/Silberman: Jericho (wie Anm. 1). Wobei der biblische Bericht von einem frühen, einheitlichen (Juda plus Israel) jüdischen Großreich unter einem König Salomo selbst wohl nur eine historisch nicht belegbare Wunschphantasie ist. Vgl. ebd. Schon Celsus hatte übrigens in seinem Alethes Logos behauptet, Jesus sei das Produkt eines ehebrecherischen Koitus Mariens mit einem Soldaten namens Panthera. Friedrich Maximilian Klinger hat die These in einem kleinen bösartig-witzigen Roman Die Geschichte vom Goldenen Hahn. Ein Beytrag zur Kirchen=Historie (1785) verarbeitet.

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ihm um die Herstellung eines unabhängigen, also von der römischen Herrschaft befreiten, jüdischen Reiches gegangen wäre, was die Christen ja bestritten. Die Nicht-Christen konstatieren bei der Lektüre der Evangelien nun erstens Differenzen derart, dass im Extremfall nur einer der ,Evangelisten‘ bestimmte, für das Christentum zentrale Ereignisse berichtet, zweitens Widersprüche zwischen den Evangelien, so z. B. was ,Auferstehung‘ und ,Himmelfahrt‘ des Protagonisten betrifft, drittens Widersprüche in jedem Evangelium selbst; den erschöpfendsten Katalog solcher Probleme dieser Texte haben Reimarus in der Apologie und d’Holbach in der Histoire critique, übrigens mit weitgehend übereinstimmenden Ergebnissen und Folgerungen, geliefert. Diese philologisch-historische, textkritische Arbeit führt nun zu der Erkenntnis, dass 1) jener Jesus durchaus irdische – soziale und/oder politische129 – Ziele verfolgt habe130 und keineswegs als Religionsstifter aufgetreten sei,131 2) jener Jesus nach seinem – von seinen Anhängern nicht erwarteten Tod – vom irdisch-materiellen zum jenseitig-spirituellen Heilsbringer uminterpretiert worden sei, bis er schließlich sogar im Laufe der Zeit zum Gott132 avanciert, 3) daraus in den Evangelien die Widersprüche zwischen den – vielleicht133 – authentischen Aussagen dieses Jesus und den posthumen Interpretationen seiner Anhänger resultierten. Man weiß schon, dass die Evangelien Jahrzehnte nach den angeblichen Geschehnissen verfasst worden sind, was denn auch Prophezeiungen wie die vom Untergang Jerusalems und der Zerstörung des Tempels (70 u. Z. durch Titus) als solche post festum er-

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Für eine angestrebte politische ‚Messias‘-Rolle spräche ja auch die angebliche Inschrift des Kreuzes „I[esus]N[azarenus]R[ex]I[udaeorum]“ (so z. B. Johannes 19,19) als auch die Verurteilung durch die Römer, die an innerjüdischen Sektendifferenzen herzlich uninteressiert waren. Auch bejaht Jesus die Frage des Pilatus, ob er der König der Juden sei (Matthäus 27,11; Markus 15,2; Lukas 23,3); erst Johannes ist so klug, ihn antworten zu lassen, sein Reich sei nicht von dieser Welt (18,36), versäumt es aber, die Kreuzinschrift zu tilgen. So auch die protestantische Theologin Merz in Graf/Wiegandt (Hgg.): Anfänge des Christentums (wie Anm. 1), die übrigens Reimarus zustimmend erwähnt (S. 24). Es ist signifikant für die ideologischen Vorurteile der Historiographie der Denkgeschichte, dass nach den von Lessing 17741778 publizierten Auszügen aus Reimarus’ Apologie und nach einer weiteren sehr selektiven Auswahl durch Wilhelm Klose (1814? 1841?; 494 S.) erst 1972 [!] eine Gesamtausgabe des Textes (ca. 1.500 S.) erschienen – und seit langem wieder vergriffen – ist. So auch der protestantische Theologe Schnelle in Graf/Wiegandt (Hgg.): Anfänge des Christentums (wie Anm. 1), S. 170: „Jesus von Nazareth war nicht der erste Christ und wollte auch keine neue Religion oder Kirche gründen.“ Nicht erst Autoren wie Reimarus weisen darauf hin, dass eine Familienmetaphorik, etwa Formulierungen wie ,Sohn Gottes‘, im NT zunächst nur schon im AT belegte Metaphern für eine privilegierte Relation zwischen Jahwe und seinem ,auserwählten Volk‘ oder zwischen Jahwe und auserwählten Individuen seien. Vgl. dazu auch den protestantischen Theologen Lüdemann: Jesus (wie Anm. 1).

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kläre.134 Auch habe Jesus angeblich vorhergesagt, er werde am dritten Tage von den Toten auferstehen (so schon Markus 8,31 und 9,31): Er habe sich laut Evangelien aber nicht daran gehalten und sei schon am zweiten Tage aus dem Grab verschwunden. Natürlich versagt man sich auch nicht, darauf hinzuweisen, dass die NT-Prophezeiung, der von den Toten auferstandene Jesus werde noch zu Lebzeiten der Zeitgenossen wiederkehren, um sein – irdisches oder himmlisches? – Reich zu errichten (so wiederum schon Markus 13,30), durch die Historie falsifiziert worden sei. Auch sieht man, dass selbst der Religionsgründer Paulus noch die meisten christlichen Dogmen nicht gekannt habe. Und die Lektüre der ‚Kirchenväter‘ bzw. ‚Kirchenlehrer‘ belege, dass selbst diese wichtigste Dogmen noch im 2. und 3. Jahrhundert nicht gekannt hätten, die erst im 4. und 5. Jahrhundert auf den sog. Konzilen erfunden worden seien. Nach Abzug all der Uminterpretationen, die Jesus ,Jünger‘ nach seinem Tod, also nach seinem Scheitern als ,Messias‘ vorgenommen hätten, hätte er nichts von dem gesagt, was christliche Theologie ihm später unterstellt hat; was Autoren wie Reimarus und d’Holbach – unabhängig voneinander – des Langen und Breiten ausgeführt haben, fasst Voltaire im Artikel Christianisme seines Dictionnaire philosophique 1764, wie immer ironisch, zusammen: […] er predigte nur Moral; er enthüllte nicht das Geheimnis seiner Inkarnation [= die ‚Menschwerdung Gottes‘]; er sagte den Juden nie, dass er von einer Jungfrau geboren sei; […] er taufte nie jemanden; er sprach nicht von den sieben [= katholischen] Sakramenten, er errichtete zu seinen Lebzeiten keine kirchliche Hierarchie. Er verbarg seinen Zeitgenossen, dass er der Sohn Gottes sei, seit Ewigkeit gezeugt, substanzgleich mit Gott, und dass der Heilige Geist aus dem Vater und dem Sohne hervorginge [= ,nicaenokonstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis‘]. Er sagte nicht, dass seine Person aus zwei Naturen [= einer göttlichen und einer menschlichen] und [folglich] zwei Willen zusammengesetzt sei.135

Kaum einer der für das Christentum spezifischen Glaubenssätze ließe sich also auf den ‚historischen‘ Jesus zurückführen. Somit kann schon du Marsais resümieren:

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Nach heutiger theologische Annahme wären die Paulus-Briefe, soweit sie authentisch sind, in den 50er Jahren u. Z. verfasst; die Evangelien hingegen Jahrzehnte später: Marcus nach ca. 70 u. Z. (Klauck [kath.] in Graf/Wiegandt [Hgg.]: Anfänge des Christentums [wie Anm. 1], S. 72; Lindemann [prot.], ebd., S. 278), Lukas und Matthäus ein bis zwei Jahrzehnte später (Lindemann, ebd., S. 278) oder Lukas gar erst zwischen 90 und 100 u. Z. (Schnelle [prot.], ebd., S. 194), Johannes jedenfalls um 100 u. Z. (Lindemann, ebd., S. 278); wäre also der ,Jünger‘ Johannes Autor des Johannes-Evangeliums, hätte er ein stattliches Alter erreicht – und sich merkwürdig spät zur Niederschrift entschieden… Voltaire: Dictionnaire (wie Anm. 41), S. 116: „[…] il ne prêcha que la morale; il ne révéla point le mystère de son incarnation; il ne dit jamais aux Juifs qu’il était né d’une vierge; […] il ne baptisa jamais personne; il ne parla point des sept sacrements, il n’institua point de hiérarchie ecclésiastique de son vivant. Il cacha à ses contemporains qu’il était fils de Dieu, éternellement engendré, consubstantiel à Dieu, et que le Saint-Esprit procédait du Père et du Fils. Il ne dit point que sa personne était composée de deux natures et de deux volontés […].“

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Er ist gekommen, sagt man, um uns zu unterrichten und um uns zu retten. Indessen hat er weder das eine noch das andere getan; er hat uns nicht belehrt, er hat niemanden bekehrt. […]. Wenn wir unterstellen, es sei möglich, dass Gott sich zum Menschen mache, um die Menschen zu belehren, könnte man Jesus Christus nicht vergeben, dass er sich seiner Pflicht so schlecht entledigt hat. […] Er hat kein einziges Religionsdogma gelehrt […]. Niemals hat er das Wunder seiner Geburt gepredigt, er hat niemals von der Trinität, von den Sakramenten, von der Erbsünde gesprochen.136

Schon im Colloquium 1593 werden nun auch die zentralen christlichen Dogmen rational geprüft: ,Trinität‘, ,Inkarnation‘, ,Sündenfall‘, ,Erbsünde‘, ,Erlösung‘, ,Ewigkeit der Höllenstrafen‘ usw. werden als solche, unabhängig von der Frage, ob sie im NT belegt sind, kritisch diskutiert und von den nicht-christlichen Diskutanten verworfen. Das setzt sich in den Folgetexten mit mehr oder minder großer Systematizität fort. Da nun gilt, dass nur die Vernunft entscheiden kann, ob eine Behauptung eine ,Offenbarung‘ ist, kann logischerweise nichts ,Offenbarung‘ sein, was der Vernunft widerspricht; also betrachtet man das Dogma der ,Trinität‘ (3 ist gleich 1) als absurd. Ein apartes Problem wirft auch der ,Sündenfall‘ auf: Denn wenn Gott ,allwissend‘ ist, musste er voraussehen, dass Adam und Eva der Versuchung erliegen würden,137 da er selbst, obwohl ,allmächtig‘, sie so ,schwach‘ geschaffen hat. Diesem Problem hatte die Theologie mit verschiedenen Hilfskonstruktionen – nicht eben erfolgreich – abzuhelfen gesucht; für die Nicht-Christen folgt daraus, dass ein gerechter und gütiger Gott den ,Sündenfall‘ nicht strafen dürfe. Als juristisch gänzlich inakzeptabel erscheint auch das Dogma der ‚Erbsünde‘: Delikte einer Generation können unmöglich von einem ,gerechten Gott‘ den folgenden Generationen angelastet werden.138 Und noch absurder sei die ‚Erlösung‘ durch den ,Tod Gottes‘: Wenn es einer ,Erlösung‘ bedürfe, könne sie ein ,allmächtiger Gott‘ jederzeit durch seinen bloßen Willensakt herbeiführen:

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Du Marsais: Examen (wie Anm. 84), S. 168: „Il est venu, dit-on, pour nous instruire et pour nous sauver, et cependant il n’a fait ni l’un ni l’autre: il ne nous a point instruits, il n’a converti personne. […]. En supposant qu’il fût possible que Dieu se fît homme pour instruire les hommes, on ne saurait pardonner à Jésus-Christ de s’être si mal acquitté de son devoir. […]. Il n’a enseigné aucun dogme de religion […]... jamais il n’a prêché le miracle de sa naissance, il n’a jamais parlé de la Trinité, des sacrements, du péché originel.“ Der ,Sündenfall‘ wird schon im Colloquium 1593 sexuell interpretiert: Er bestehe darin, dass der Koitus mit „unangemessener“ Lust vollzogen worden sei („Quid enim est peccatum originis, nisi quia mater in conceptu paterve plus aliquando libidini ac voluptati, quam decuit, indulsit?“, S. 298); in Adrian Beverlands Peccatum originale kat’exochen nuncupatum (1678) besteht er im Vollzug des Koitus selbst, was der Autor sehr amüsant ausgemalt hat. Und Jahwe dekretiert denn auch: „Die Veter sollen nicht fur die Kinder / noch die Kinder fur die Veter sterben / Sondern ein iglicher sol fur seine sünde sterben“ (Deuteronomium = 5 Moses 24,16).

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Ohne seinen lieben unschuldigen Sohn so grausamen Qualen auszusetzen, konnte Gott, sein Vater, mit einem einzigen Wort den schuldigen Menschen verzeihen, sie seinen Absichten anpassen, ihnen ihre Fehler erlassen.139

Auch könne der Tod eines ,Unschuldigen‘ nicht die ,Schuldigen‘ entlasten. Da alle drei christlichen Götter auch irgendwie eins sind, bestrafe zudem der Gott nicht die Menschen für ihre ,Sünden‘, sondern sich selbst. So schon das Colloquium: Das aber ist noch absurder, dass Gott, im Zorn auf die Menschen, dafür von sich selbst Rache fordere, nicht anders, als wenn jemand, der schwer verletzt worden ist, nicht seinen Feind, sondern sich selbst bestrafen und wie ein Verzweifelter sein Leben durch Erhängen beenden würde.140

Diderot hat das dann auf die Formel gebracht: „Dieser Gott, der Gott sterben lässt, um Gott zu befrieden.“141 Und übereinstimmend meint man im neuen juristischen Denken auch, ,ewige Strafen‘ seien für die Delikte von begrenzten Wesen unangemessen, zumal Strafe ja auch einer ,Besserung‘ dienen solle (so schon die Quatrains). Während das Christentum seine Zentraldogmen – wenn eben auch mittels ,theologischer Exegese‘ – auf das NT projizieren zu können glaubte, zeigen die nichtchristlichen Texte leicht und zutreffend, dass man im AT nicht nur nichts von einem ,Sohn Gottes‘, einer ,Erbsünde‘, einer ,Erlösung‘ gewusst habe, sondern bis zur sog. ,babylonischen Gefangenschaft‘ auch nirgendwo in den AT-Texten eine ,Unsterblichkeit der Seele‘ und ,Lohn‘ bzw. ,Strafe nach dem Tode‘ belegt sei; aus Flavius Josephus weiß man zudem, dass die Sadduzäer, die nur den Pentateuch, die ,fünf Bücher Moses‘, als ,heilige Schriften‘ anerkannten, im Gegensatz zu den Pharisäern diese Annahmen ebenfalls nicht gemacht haben. Somit also widersprächen sich in ideologisch zentralen Punkten AT und NT, die beide ,Offenbarungen Gottes‘ sein sollen. Das aber erklärt man für unmöglich, denn erstens sei Gott ,unveränderlich‘ und könne folglich nicht in AT und NT verschiedene Meinungen geäußert haben, zweitens sei er ,gerecht‘ und könne folglich nicht im AT seiner Klientel ,heilsrelevante Wahrheiten‘ verschwiegen haben. Noch bleibt freilich das biblische Normensystem, das – nach Meinung der Anhänger – so herausragend ist, dass es quasi selbst als Beweis der ,Offenbarung‘ gelten kann. Die Moral dieser Texte wird nicht zum ersten Mal, wohl aber besonders wirkungsmächtig im europäischen Raum, in Bayles Dictionnaire historique et critique (1697) atta-

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Paul Thiry d’Holbach: Histoire critique de Jésus-Christ ou Analyse raisonné des Evangiles (1770a), S. 183: „Dieu, son Père, sans exposer son cher fils innocent à des tourments si cruels, pouvait d’un seul mot pardonner aux hommes coupables, les rendre conforme à ses vues, leur remettre leurs fautes.“ Bodin: Colloquium (wie Anm. 8), S. 293: „Id autem absurdius est, Deum hominibus iratum a se ipso ultionem exigere, non aliter quam si quis vulneratus graviter vindictam non ab hoste, sed a seipso deposceret, ac veluti desperatus suspendio vitam finiret.“ Denis Diderot: Additions aux Pensées philosophiques (1770), S. 65: „Ce Dieu qui fait mourir Dieu pour apaiser Dieu.“

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ckiert: so im Artikel „David“, welcher – reale oder mythische – jüdische König laut biblischem Zeugnis ein „Mann nach dem Herzen Gottes“ gewesen sei, also ein exemplarischer „Glaubensheld“, nach menschlichen moralischen und juristischen Normen freilich ein Schwerverbrecher, zeitweilig auch Chef einer Räuberbande. Die moralischjuristische Besichtigung anderer Helden des AT – systematisch etwa bei Reimarus 1767/68 – ergibt eine Verbrecherkartei: Je heiliger Männer im AT dargestellt werden, desto grausamer scheinen sie zu sein,142

resümiert Tindal in seiner Christianity von 1730. Schon der Juden, Christen und Moslems wichtige Abraham beginnt nach dem Urteil der Nicht-Christen die Serie der Delinquenten schon ganz eindrucksvoll: Nicht nur ist er mit seiner Halbschwester inzestuös verheiratet, er prostituiert die Gattin gleich zweimal und kassiert den Hurenlohn.143 Richtig große Verbrecher sind dann z. B. Moses, Josua, David und viele andere.144 Man schlachtet, wenn sie sich religiös unbotmäßig verhalten haben, auch in großen Mengen Mitglieder der eigenen Gruppe ab (so 2 Moses 32,27-28); auch der Völkermord, bei dem man Männer wie Frauen, Greise wie Kinder niedermetzelt, erscheint als Gott wohlgefällig (so Moses145; so Josua146). Auch das an eigenen Kindern geplante (Abraham) oder vollzogene (Jephta) Menschenopfer findet die neue moralische Sensibilität schockierend. Durchaus seltsam findet man auch Lot: Obwohl er gewusst haben müsse, dass die Sodomiter homosexuelle Neigungen hatten, lade er „drey fremde Gäste in sein Haus, die er vielmehr hätte warnen sollen“; um sie zu retten, „bietet [er] seine beiden Töchter diesem Pöbel als Straßen-Huren zur Nothzüchtigung an“:147 Jahwe – selbst reichlich rachsüchtig, ungerecht und mordlüstern – findet nicht nur alle diese Ver-

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Matthew Tindal: Christianity as old as the creation: Or the Gospel, A republication of the Religion of Nature (1730), S. 240: „The holier Men in the Old Testament are represented, the more cruel they seem to be.“ So z. B. ebd., S. 204-207; Reimarus: Apologie (wie Anm. 70), S. 227-233. Ihre Gott erfreuenden Taten kann ich aus Umfangsgründen nicht auflisten: Lesen Sie das AT oder die Zusammenfassungen in Reimarus: Apologie (wie Anm. 70). Zur Amoralität des AT vgl. auch im Detail Buggle: Denn sie wissen nicht, was sie glauben (wie Anm. 56), Richard Dawkins: Der Gotteswahn. 2. Aufl. Berlin 2007, Christopher Hitchens: Der Herr ist kein Hirte. Wie die Religion die Welt vergiftet. München 2009, Schleichert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert (wie Anm. 1). 4 Moses 31,17-18. Man hat sämtliche Männer der Midianiter abgeschlachtet, ohne Gefangene zu machen, aber Frauen und Kinder leben lassen, was Moses empört: „So erwürget nu alles was menlich ist vnter den Kindern / vnd alle Weiber die Menner erkand vnd beygelegen haben. Aber aller kinder die Weibsbilde sind vnd nicht Menner erkand noch beygelegen haben / die lasst fur euch leben“: wofür wohl? Josua 6,21: „[…] vnd verbanten alles was in der Stad war / mit der scherffe des schwerts / beide Man vnd Weib / jung vnd alt / ochsen / schafe vnd esel.“ Reimarus: Apologie (wie Anm. 70), Bd. I, S. 244. Noch brutaler ist eine Variante derselben Story (Richter 19, 22-28): Statt eines Mannes wird hier dem Pöbel ein „Kebsweib“ die ganze Nacht zu einer Massenvergewaltigung ausgeliefert; sie stirbt daran.

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brechen gut und fordert ihren Vollzug ein, wenn sich die AT-Helden zieren, sondern begeht selbst amoralische bzw. juristisch ungerechte Taten. Nur ein Beispiel: Wenn der Pharao gebeten wird, die Juden aus Ägypten abziehen zu lassen, ist es Jahwe, der das „Herz des Pharao verhärtet“148 und das Land mit furchtbaren Plagen bestraft, obwohl die armen Ägypter doch weder die Entscheidung ihres Herrschers noch die widersinnige Manipulation Jahwes zu verantworten haben. Natürlich gibt es den Dekalog (die ‚Zehn Gebote‘)149, an den sich freilich die Glaubenshelden nicht halten und der im Umgang mit andersgläubigen Völkern ohnedies nicht zu gelten scheint. Aber die NichtChristen merken an, dass diese angebliche mosaische Gesetzgebung den Gesetzen der bekannten Hochkulturen keineswegs überlegen sei150 und zudem nur dem – allen Menschen qua Vernunft zugänglichen – ,Naturrecht‘ entspreche. Da all dies nicht gut zu leugnen war, berief man sich theologischerseits dann auf die ‚erhabene Moral‘, die Jesus verkündet habe. In der Einschätzung dieser Moral differieren die Nicht-Christen: Einige loben diese Moral als herausragend;151 andere finden in ihr nichts, was nicht auch z. B. auch die antike oder die chinesische Moralphilosophie gelehrt habe;152 Dritte erklären diese Moral für nicht praktikabel.153 Auch für die, die die Moral von Jesus loben, folgt daraus freilich nur, er sei ein großer Morallehrer, nicht aber ein Gott gewesen. Auch die philologisch-historische Textkritik setzt in unserem Zeitraum ein (worin ihm schon die Renaissance, etwa Erasmus, vorangegangen war), was ich hier nur andeuten kann. Es geht dabei etwa um 1) die historischen Prozesse der Kanonisierung: um die Umstände, unter denen manche tradierte Texte für authentisch, andere aber für apokryph erklärt wurden. So kennt

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So z. B. 2 Moses 4,21; 7,3; 10,1; 14,4. 2 Moses 20,1-17; 5 Moses 5,7-21. Von den vielen Speise-, Sexual-, Ritualgesetzen über den Dekalog hinaus (vgl. Exodus und Deuteronomium) hat sich schon das Christentum weitgehend verabschiedet, obwohl Jesus selbst gesagt haben soll, er sei gekommen, das Gesetz zu erfüllen, nicht aber, es abzuschaffen. So z. B. Johann C. Edelmann: Abgenöthigtes Jedoch Andern nicht wieder aufgenöthigtes Glaubens-Bekentniß (1746) oder Reimarus: Apologie (wie Anm. 70). So findet sich z. B. eine Aufforderung zur allgemeinen Menschenliebe in der Tat in Ciceros De legibus: „[…] wir sind von Natur aus geneigt, die Menschen zu lieben, was Grundlage des Rechts ist.“ (M. Tullius Cicero: De legibus/Über die Gesetze. Paradoxa stoicorum/Stoische Paradoxien. Lateinisch und deutsch. Hg., übs. und erl. von Rainer Nickel. 3. Aufl. München 2004, S. 46 = 1,43: „[…] natura propensi sumus ad diligendos homines, quod fundamentum iuris est.“). Für die menschliche Elite – und nur durch sie einlösbar – gelte sogar, „was manchen unglaublich erscheint, aber notwendig ist, dass man sich um nichts mehr als den anderen liebe.“ (Ebd., S. 38f. = 1,34: „[…] quod quibusdam incredibile videatur, sit autem necessarium: uti nihilo sepse plus quam alterum diligat.“). Tindal etwa findet die Moral des Konfuzius mindestens ebenso gut, dabei aber klarer formuliert als die von Jesus: „I am so far from thinking the Maxims of Confucius and Jesus Christ to differ: that I think the plain and simple Maxims of the former will help to illustrate the more obscure ones of the latter […]“ (Tindal: Christianity [wie Anm. 142], S. 314). So z. B. d’Holbach: Histoire (wie Anm. 139).

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man schon viele apokryphe Evangelien (die auch ediert wurden154) und den komplexen Prozess, in dem man sich im Laufe der Jahrhunderte auf vier von ihnen als authentische geeinigt hat. Und nicht erst – wie ein germanistisches Gerücht will – Herder hat erkannt, dass das Salomo zugeschriebene sog. Hohe Lied nichts als eine erotische Dichtung ist, die es geschafft hat, in den Kanon des AT aufgenommen zu werden, und dem folglich unzählige Theologen in gewaltsamer Allegorese notgedrungen eine religiöse Bedeutung zu verabreichen suchten. 2) Datierungen und Überlieferungsprozesse der biblischen Bücher. So erkennt man z. B. schon damals, dass das angeblich unter dem König Josia von Juda (639 v. u. Z.) wieder aufgefundene ,Buch des Gesetzes‘ das Deuteronomium (= 5. Buch Moses) sein müsse, das hier entstanden sei und somit nicht von Moses stamme, oder dass eine definitive Redaktion der – bis dahin vorliegenden – AT-Bücher erst in oder nach der Zeit der ,babylonischen Gefangenschaft‘ stattgefunden habe;155 als Urheber dieser Redaktionen glaubt man, in breitem Konsens, einen gewissen Esra (vgl. im AT das Buch Esra) identifizieren zu können (so z. B. schon Spinoza 1670 und noch Reimarus 1767/68). Und man kann aus den textinternen Widersprüchen der Evangelien erschließen, dass nach dem für seine ,Jünger‘ offenkundig überraschenden Tode ihres Anführers diese ,Jünger‘ sich gezwungen sahen, dessen ursprüngliches Programm radikal umzuinterpretieren, also seine ,Botschaft‘ fälschten – wenn auch nicht sehr gekonnt, da sie eben diese Widersprüche stehen ließen. 3) die Authentizität der Autorzuschreibungen, die die Bibel den diversen Büchern angedeihen ließ. Besonders folgenreich ist etwa die Behauptung, Moses könne nicht der Autor des Pentateuch sein, die schon Hobbes im Leviathan (engl. 1651, lat. 1668) aufgestellt hatte; die These wird z. B. von La Pereyre (Systema theologicum, 1655156) übernommen und von Spinoza (Tractatus, 1670, Kap. 9 und 10) systematisch ausgebaut und für alle mit Eigennamen benannten AT-Bücher generalisiert; Spinoza erkennt, dass diese Namen nicht Autoren, sondern Hauptgegenstände des jeweiligen Buches bezeichnen. Wenn die Texte aber nicht von ihren Protagonisten verfasst sind, bricht natürlich der Anspruch einer Verbürgung des Berichteten durch den Täter und Augenzeugen selbst zusammen. Als der vergleichsweise sehr brav katholische Oratorianer Richard Simon in seiner Histoire critique du Vieux Testament (1678) selbst nur für Teile des Pentateuch die Autorschaft Moses bezweifelt, zieht

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D’Holbach: Histoire (wie Anm. 139), S. 17, Anm. 7 verweist etwa auf Johann Albert Fabricius: Codex apocryphus Novi Testamenti. Hamburg 1719. Vgl. heute zu diesen Punkten: Levin: Altes Testament (wie Anm. 1) und Finkelstein/Silberman: Jericho (wie Anm. 1). La Pereyre zeigt im Übrigen, wohin es führen kann, wenn man die Bibel wörtlich nimmt: Aus dem zweifachen Bericht der Erschaffung des Menschen in der Genesis schließt er, Gott habe zweimal Menschen geschaffen: beim zweiten Male Adam als Stammvater der Juden, beim ersten Male alle anderen Menschen. Das hätte natürlich verheerende Folgen für die christliche Theologie.

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er sich die heftige Verfolgung durch den Bischof Bossuet zu;157 in der Folge muss sich Simon vielfältiger Verdächtigungen wegen angeblichen Spinozismus’ erwehren.158 Die philologischen Befunde erweisen sich jedenfalls als wichtige Argumentationshilfen der Nicht-Christen. Nicht wenigen erscheint die Bibel nur als „ziemlich schlecht abgestimmter Roman“, als „absurder Roman“.159 Vor dem Gerichtshof der Vernunft war jedenfalls die christliche (und mit ihr jede andere ‚Offenbarungs‘-) Religion zum Tode verurteilt; dass das Urteil nicht vollstreckt werden konnte, hat nicht-rationale Ursachen.

4. Aspekte der antireligiösen Argumentationen Während nun die christliche Theologie das Problem hatte, wie sie das Postulat eines ‚gerechten und gütigen Gottes‘ mit der zweifelhaften Moralität der Bibel, zumal des AT, vereinbaren sollte, kann der deistische Gott scheinbar problemlos als ‚moralisch‘ gedacht werden, wobei dieser Bewertung in aller Unbefangenheit das eigene zeitgenössische Normensystem zugrunde gelegt wird. Soweit die protestantische Theologie sich unter dem Druck der Aufklärung verändert, verabschiedet man sich auch dort von dem fürchterlichen, angsterregenden Gott Luthers und Calvins: Hier wird der christliche Gott, den die Nicht-Christen, spätestens seit den Quatrains von 1624, immer wieder als ,schlimmsten der Tyrannen‘ beschrieben hatten, dem deistischen Gott angenähert und insofern leidlich humanisiert. Nun hat sich der Deismus zwar einen rationaleren und humaneren Gott konstruiert, dessen Existenz aber, da keine ‚Offenbarung‘ mehr akzeptiert wird, zu beweisen blieb. 4.1 Defizite von Christentum und Deismus: ‚Gottesbeweise‘ und ‚Théodicée‘-Problem Doch schon im Christentum hatten sich Theologie und Philosophie um die Produktion von ‚Gottesbeweisen‘ bemüht, die das ,Offenbarungs‘-Postulat unterstützen sollten. Hier ist ein kleiner Exkurs nötig (bei dem ich vereinfachen muss). Man hat grob drei Klassen solcher ‚Beweise‘ unterschieden:160

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Simons heutiger Herausgeber (laut diesem übrigens die erste Ausgabe des Textes seit 1685), Pierre Gibert, S.J., meint, dieses habe zu massiver intellektueller Verspätung des Katholizismus gegenüber dem Protestantismus in Sachen biblischer Textkritik geführt. Vgl. seine Lettre sur l’inspiration von 1686; Text im Neudruck von Richard Simon: Histoire critique du Vieux Testament (1678), S. 853-914. Simon Tyssot de Patot: Voyages et avantures de Jacques Massé (1710), S. 14: „un roman assez mal concerté“; d’Holbach: Histoire (wie Anm. 139), S. 211: „cet absurde roman“. Zur Widerlegung aller von ihnen vgl. Mackie: Theismus (wie Anm. 1) und Hoerster: Gott (wie Anm. 1). Zudem Dawkins: Gotteswahn (wie Anm. 144).

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1) der ,ontologische Gottesbeweis‘, den erstmals Anselm von Canterbury (ca. 10331109) formuliert (und schon sein Zeitgenosse Gaunilo von Marmoutiers widerlegt) hat: Man könne sich ein Wesen denken, dass alle (nach menschlicher Ansicht) ‚positiven‘ Merkmale in optimaler Form aufweise, also ,vollkommen‘ sei: zur ‚Vollkommenheit‘ gehöre aber auch, dass ein solches Wesen tatsächlich existiere – et voilà; die Absurdität solcher Argumentation muss wohl nicht erörtert werden. Varianten dieses Typs hat noch Descartes (in den Meditationes de prima philosophia von 1641 und in den Principia philosophiae von 1644) abgeliefert. Ernster zu nehmen sind die beiden folgenden ,Beweise‘, die auch in den Diskursen, um die es hier geht, relevant wurden. 2) der ,kosmologische Gottesbeweis‘. Er setzt (als übrigens unbewiesenes und unbeweisbares) Postulat voraus, jeder Sachverhalt müsse eine Ursache haben (,Prinzip des zureichenden Grundes‘) und jede Ursache sei wiederum die Folge einer anderen. Somit würde man, von Ursache zu Ursache schreitend, in einen ,unendlichen Prozess‘ (regressus ad infinitum) geraten, also müsse eine ,erste Ursache‘, ein – und nur ein – ,Gott‘, angenommen werden, der die Gesamtheit aller Sachverhalte, also den ,Kosmos‘, ursprünglich geschaffen habe. Dieser ,Gott‘ existiere ,notwendig‘, d. h., er habe ,seinen Grund in sich‘ bzw. sei ,seine eigene Ursache‘ (causa sui ipsius).161 Weil er so sei, existiere er von aller und für alle ,Ewigkeit‘. In dieser Argumentation gilt es folglich als illegitim, zu fragen, woher denn dieser ,Gott‘ komme und was seine ,Ursache‘ sei. Man darf bezweifeln, dass je jemand diese Argumentation verstanden hat und sich tatsächlich ein Wesen denken konnte, welches ohne jede vorangehende Verursachung ,aus sich selbst heraus‘ ,notwendig‘ existiere. Dieser Typ findet sich etwa in Clarkes Demonstration (1705), Leibniz’ Theodicée (1710), Wolffs Vernünfftige Gedancken (1719), Gottscheds Erste Gründe (1734) usw. 3) der ,teleologische Gottesbeweis‘, der zunächst, mindestens scheinbar, den Vorteil hat, sich, statt auf pseudologischer metaphysischer Spekulation wie die beiden ersten zu beruhen, auf empirische Daten zu beziehen. Er scheint denn auch in der Aufklärung der am ehesten akzeptierte zu sein.162 Man könne in der wahrnehmbaren Welt ein verblüffendes Ausmaß an ,Ordnung‘ feststellen; Ordnung ist ein zentrales Konzept schon des Rationalismus des 17. Jahrhunderts: etwas, was die politologischen, rechtstheoretischen, poetologischen, naturphilosophischen usw. Diskurse in ihren Gegenstandsbereichen zu finden meinen, herstellen, fordern; ,Ordnung‘ bedeutet hier, dass es rational einsehbare ,Gesetze‘ gibt, die den jeweiligen Realitätsbereich

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So z. B. Christian Wolff: Vernünftige Gedancken Von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen (1719), S. 578: „Das selbständige Wesen hat den Grund, warum es ist, in sich selbst.“ Er ist wohl auch der einzige, der heute noch eine – wenn auch peinliche – Rolle spielt: Von dieser Art sind die albernen Versuche der (vorzugsweise US-amerikanischen) ,Kreationisten‘ und Vertreter des ,Intelligent design‘, die die Bibel gegen die Evolutionstheorie zu verteidigen suchen. Vgl. dazu etwa auch Titzmann: Die Emanzipation der Wissenschaft (wie Anm. 10), Kap. 8, und natürlich Dawkins: Gotteswahn (wie Anm. 144).

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regeln. Die ,Ordnung‘ der materiellen Welt könne nun nicht durch ,Zufall‘ entstanden sein, so wenig wie man – ein im Untersuchungszeitraum ungemein beliebter und häufiger (freilich unzutreffender) Vergleich – Vergils Aeneis oder Homers Ilias durch zufällige Kombinationen aus den Buchstaben des Alphabets herstellen könne. Dass diese Ordnung eine beabsichtigte sei, zeige sich nicht zuletzt in der biologischen Welt: in der Zweckbestimmtheit der Organe und ihres Zusammenwirkens in Lebewesen und deren Relation zu ihrer Umwelt. Aus der teleologischen Ordnung der Welt lasse sich also auf einen Urheber schließen; beliebt ist auch der Vergleich der Welt mit einem Uhrwerk dessen komplexe Strukturen nicht durch ,Zufall‘ entstanden sein könnten.163 Diese Argumentation profitiert sozusagen parasitär von der neuen Naturwissenschaft, insbesondere der Physik und Astronomie, die seit Kepler, Galilei, Newton, usw. ,Naturgesetze‘ formuliert hat, aber auch den vielen neuen Beobachtungen im biologisch-medizinischen Bereich. Schon der Begriff des ,Naturgesetzes‘, wie er ja schon bei Galilei auftritt, ist natürlich wiederum eigentlich eine juristische Metapher und impliziert einen Gesetzgeber (,Gott‘). Systematisch findet sich die teleologische Argumentation vor allem in der sog. ,Physiko-Theologie‘, in meinem Korpus etwa Derhams Physico-Theology (1713), Reimarus’ Vornehmste Wahrheiten der natürlichen Religion (1754), Paleys Natural Theology (1802). Die Argumentation richtet sich übrigens nicht zuletzt gegen den atomistischen und mechanizistischen Materialismus, den man einerseits aus Epikur und Lukrez’ De rerum natura – ein viel zitierter Text! – kennt und der andererseits in der neuen Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts als Potential angelegt war. Sowohl die theistische wie die antitheistische Gruppe – vgl. z. B. La Mettries L’Homme machine (1748), oder d’Holbachs Système de la nature (1770), aber auch Humes Dialogues (1779) – berufen sich dabei auf die neue Naturwissenschaft, wobei erstere sich mehr auf die neue Biologie beziehen, in der sich, zumindest scheinbar, teleologische Argumente (die ,finalen Ursachen‘, die Aristoteles in seiner Physik eingeführt hatte) verteidigen lassen; letztere berufen sich eher auf die Epistemologie der neuen Physik, die schon im 17. Jahrhundert teleologische Argumente ausgeschlossen hatte.164 Ein zugestandenermaßen eher skurriler Text, Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde (1808), wird denn auch dem ,Mechanizismus‘ der neuen Physik die Schuld am von ihm beklagten ,Unglauben‘ zuschreiben.165 Ein wichtiger Punkt sei gleich festgehalten: Alle diese ,Gottesbeweise‘, selbst wenn sie – so bei Descartes, Clarke, Leibniz, Wolff, tatsächlich oder angeblich – der Stützung des Christentums dienen wollen, ,beweisen‘ allenfalls einen ,philosophischen Gott‘, etwa den des Deismus, nicht aber einen der ,geoffenbarten Götter‘, also auch nicht den

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Der Vergleich ,Gott‘ als ,Uhrmacher‘ ist schon in der Prima Narratio von Rheticus (1540) belegt, in der dieser als Erster das neue Weltmodell des Copernicus bekannt macht. Vgl. dazu Titzmann: Die Emanzipation der Wissenschaft (wie Anm. 10). Johann H. Jung-Stilling: Theorie der Geister=Kunde (1808), S. 20.

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christlichen. Denn was von diesem philosophischen Gott behauptet wird, deckt sich in den ihm zugeschriebenen Merkmalen zwar weitgehend mit der Merkmalsmenge, die die Theologie zu Recht oder Unrecht aus der Bibel ableitete: Aber dem philosophischen – und damit auch dem deistischen – Gott fehlen alle Merkmale, die spezifisch für den christlichen sind. Selbst wenn der philosophische Gott also ,bewiesen‘ wäre, würde daraus nicht die Existenz des christlichen Gottes folgen. Diese fundamentale Differenz zu verschleiern, lag nun sowohl im Interesse solcher Deisten, die um ihre Akzeptanz und Tolerierung kämpften, wie im Interesse jener Theologen, die sich der Schwäche ihrer Argumente bewusst waren und Verstärkung suchten: Also wird immer wieder illegitim der ,philosophische Gott‘ als Bestätigung des ,theologischen‘ gehandelt. So wird Clarkes Demonstration zuerst 1704 als Vorlesung in einer von Robert Boyle an der Universität Cambridge gestifteten Vortragsreihe zum Zwecke des „Beweises der christlichen Religion gegen notorische Ungläubige, nämlich Atheisten, Deisten, Heiden, Juden und Mohammedaner“166 gehalten: Der Gott, den er ,beweist‘, ist aber nur ein deistischer. Logisch nutzen die ,Gottesbeweise‘ aus der ,Vernunft‘ (so der kosmologische) oder aus der ,Natur‘ (so der teleologische) also am Ende nur dem Deismus, was zu dessen erfolgreicher Verbreitung in der Aufklärung beigetragen haben dürfte. Der ‚philosophische Gott‘ behält also die Prädikate, die man dem ,theologischen‘ zugeschrieben hatte, nur ist er um vieles humaner. Im Gegensatz zum Gott Spinozas sind beide freilich als anthropomorph gedacht: Ihre Eigenschaften sind solche, die unter Menschen als positiv gelten, nur eben ins Unendliche gesteigert (,allmächtig/-wissend/-gerecht/-gütig‘ usw.). Nun hat Leibniz für seinen halb-theologischen, halb-philosophischen Gott in der Théodicée postuliert: Gott hat dabei [= in seinem ,Schöpfungsakt‘] alles im Vorhinein ein für alle Mal geregelt, er hat die Gebete, die guten und die bösen Handlungen und alles andere vorhergesehen […].167

Wenn Gott nun in der ,Schöpfung‘ der Welt Gesetze gegeben hat und alle späteren Ereignisse vorhergesehen hat, dann ist er zwar ,allwissend‘ und ,allmächtig‘ und es bedarf keiner späteren Eingriffe Gottes in die Welt mehr: damit freilich auch keiner ,Wunder‘; aber vor allem fragt sich, wo dann die ,menschliche Freiheit‘ – Voraussetzung dafür,

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Zitiert nach dem Herausgeber von Clarke: Demonstration (wie Anm. 61), S. X: „proving the Christian Religion against notorious Infidels, viz., Atheists, Theists, Pagans, Jews, and Mahometans“. Im Rahmen dieser „Boyle Lectures“ wird denn auch Derhams Physico-Theology erstmals vorgetragen. ,Theist‘ ist im 18. Jahrhundert – vgl. auch Voltaires Dictionnaire, Stichwort „Théiste“ – synonym mit ,Deist‘; erst Kant hat hier eine Unterscheidung versucht. Gottfried W. Leibniz: Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal (1710), S. 108f: „[…] Dieu y a tout réglé par avance une fois pour toutes, ayant prévu les prières, les bonnes et les mauvaises actions et tout le reste […].“ So auch, neben anderen, Reimarus: Wahrheiten (wie Anm. 69), S. 575: „Demnach kann auch in der ganzen Welt, in allen Zeiten, nicht das geringste seyn und geschehen, was Gott nicht von Ewigkeit vorher gesehen hätte, oder was nicht in seiner Absicht und in seinem Rathschlusse mit befasset wäre […].“

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dass es ,Sünde‘ geben kann – bleibt, und Gott gerät in Gefahr, auch der Urheber der Übel zu sein. In seiner brieflichen Kontroverse mit Newtons ,Stellvertreter‘ Clarke, in der so ziemlich alle metaphysischen Probleme des Rationalismus bis zur Absurdität abgehandelt werden, protestiert Leibniz denn auch als Erstes gegen Newtons (christlichen) Gott, der immer wieder in den Mechanismus der von ihm geschaffenen Welt eingreifen müsse, um die Aufrechterhaltung ihrer Funktionen zu garantieren:168 Es mangle ihm also an seiner „Vorsehung“. Im Deismus, scheint mir, hat sich Leibniz’ Gott in der Regel gegen den Newtons durchgesetzt: Er hat alles vorhergesehen und vorhergeplant und greift in seine Welt nicht mehr ein. Ein weiteres Problem erwies sich folglich als zentral, vor dem schon das Christentum stand und vor dem der Deismus a fortiori steht, weil sein Gott das Glück der ‚Geschöpfe‘ will: das Problem, dem Leibniz den Namen der Théodicée (1710) gegeben hat und das – einmal mehr – als Rechtsfall abgehandelt wird: „Es ist die Sache Gottes, die man hier verteidigt.“169 Worum es geht, nämlich die Existenz des physischen (Krankheiten, Seuchen, Hungersnöte, Naturkatastrophen) und des moralischen Übels (Leiden durch normverletzendes Handeln des Selbst oder anderer), hat, nach dem Zeugnis des ‚Kirchenlehrers‘ Lactantius, schon Epikur optimal formuliert: Gott, sagt er [= Epikur], will entweder die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er will es weder noch kann er es, oder er kann es sowohl und will es auch. Wenn er will und nicht kann, ist er unbedarft, was zu einem Gott nicht passt; wenn er kann und nicht will, ist er missgünstig, was Gott gleichermaßen fremd ist; wenn er weder will noch kann, ist er unbedarft und missgünstig und folglich auch kein Gott; wenn er sowohl will als auch kann, was allein einem Gotte ziemt: woher kommen dann die Übel oder warum beseitigt er sie nicht?170

In den antireligiösen Texten, vom Cymbalum mundi bis zu Humes Dialogues, wird die Stelle oft zitiert oder paraphrasiert. Leibniz’ Antwort auf Epikurs Frage ist bekannt:

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Leibniz in Samuel Clarke (Hg.): A Collection of Papers which passed between the late Learned Mr. Leibnitz [!] and Dr. Clarke in the years 1715 and 1716 relating to the Principles of Natural Philosophy and Religion (1717), S. 11: „Sir Isaac Newton, and his followers, have also a very odd opinion concerning the work of God. According to their doctrine, God Almighty wants to wind up his watch from time to time; otherwise it would cease to move. He had not, it seems, sufficient foresight to make it a perpetual motion. Nay, the machine of God’s making, is so imperfect, according to these gentlemen; that he is obliged to clean it now and then by an extraordinary concourse, and even to mend it, as a clockmaker mends his work […]“. „C’est la cause de Dieu qu’on plaide.“ (Leibniz: Théodicée [wie Anm. 167], S. 39). Lactantius: De ira Dei. Vom Zorne Gottes. Lateinisch und deutsch. Eingel., hg., übs. und erl. von Heinrich Kraft und Antonie Wlosok. Darmstadt 1974, S. 46: „Deus, inquit, aut vult tollere mala et non potest, aut potest et non vult, aut neque vult neque potest, aut et vult et potest. Si vult et non potest, imbecillus, quod in Deum non cadit; si potest et non vult, invidus, quod aeque alienum est a deo; si neque vult neque potest, et invidus et imbecillus est ideoque nec deus; si et vult et potest, quod solum deo convenit, unde ergo sunt mala aut cur illa non tollit?“ (Übs. M.T.). In den Pyrrhonischen Hypothesen des Sextus Empiricus (Frankfurt a.M. 1985, S. 225f.) findet sich, teils fast wörtlich, eine ähnliche Argumentation, die aber nicht Epikur zugeschrieben wird.

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Gott sind alle logisch möglichen Welten bewusst, und aus dieser Menge hat er die beste der möglichen ausgewählt. Da in jeder Welt jeder Teil mit jedem anderen logisch bzw. kausal verknüpft sei, sei dabei eine bestimmte Menge von Übeln als unvermeidlich in Kauf zu nehmen gewesen; die beste Welt habe sozusagen ein Maximum an Gutem und ein Minimum an Übeln. Das Problem dieser Rechtfertigung Gottes vor dem Richterstuhle der Vernunft liegt auf der Hand: Da Gottes Verteidiger selbst nicht alle aus der Sicht Gottes logisch möglichen Welten kennt, ist das Argument nur eine gänzlich unbewiesene Behauptung; auch lässt sich natürlich nicht beweisen, dass in jeder logisch möglichen Welt Übel unvermeidlich seien. Das 18. Jahrhundert erlebt eine Serie von Théodicéen (zu denen auch die teleologischen bzw. physikotheologischen Gottesbeweise explizit oder implizit beitragen); Kant wird 1791 (Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee) ihrer aller intellektuellen Bankrott erklären, was weitere Versuche nicht verhindert hat. 4.2 Die neue Norm: Beschränkung auf das logisch oder empirisch Ableitbare Zur sprachlichen Vereinfachung fasse ich im Folgenden, wo es um die Einwände der antireligiösen Gruppe, also der Atheisten und Agnostiker, partiell auch der Pantheisten,171 gegen Christen als auch Deisten geht, diese als Theisten zusammen; sie unterscheiden sich darin, dass die Deisten alle rational nicht einsehbaren oder moralisch bzw. juristisch verwerflichen Dogmen der Christen, wie oben ausgeführt, getilgt haben, mit diesen aber den Katalog der Merkmale einer – jetzt freilich tatsächlich monotheistischen – Gottheit ohne Familie teilen. Das Argument des kosmologischen Gottesbeweises, es müsse eine ,erste Ursache‘ geben, scheitert natürlich an zwei Einwänden: zum einen ist nicht einsehbar, warum die Kette der Verursachungen nicht eine unendliche sein dürfe;172 zum anderen wird eingewandt, dass, ähnlich wie Epikur oder Lukrez dachten, die Grundbestandteile des Universums (z. B. also ,Atome‘) und ihre Bewegung (samt der neuen ,Naturgesetze‘) selbst diese ewige ,erste Ursache‘ sein könnten. Ausnahmsweise sei ein literarischer Text – Cyranos de Bergerac Estats et Empires de la Lune (1657) – zitiert:

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Die heimliche, meist nicht eingestandene Anziehung des Spinozismus das ganze 18. Jahrhundert hindurch, von z. B. Stoschs Concordia (wie Anm. 7), John Tolands Letters to Serena (1704), Diderots früher Phase bis hin zu Goethe usw., scheint mir nicht zuletzt daran zu liegen, dass jener ,Pantheismus‘ in seiner Ambiguität zumindest sprachlich einen (logisch natürlich unmöglichen) Kompromiss zwischen Theismus und Atheismus verspricht, indem das Universum mit seinen Gesetzen und Gott identifiziert werden. Auch ein rational-skeptischer Geist wie Georg C. Lichtenberg konstatiert in seinen Sudelbüchern (wie Anm. 101; 1789-1793, J 292), dass „Spinoza den größten Gedanken dachte der noch in eines Menschen Kopf gekommen ist“. Noch Einstein, wenn er nach seiner (Ir)Religiosität befragt wurde, zog sich gern höflich auf Spinoza zurück (vgl. die Zitate in Hitchens [Hg.]: Atheist [wie Anm. 115], S. 155-165). So schon, wenn ich recht sehe, Bacon im Novum Organum (1620) und Hobbes in De corpore (1655) – vgl. Titzmann: Die Emanzipation der Wissenschaft (wie Anm. 10).

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Da wir gezwungen sind, wenn wir auf den Ursprung dieses großen Ganzen zurückgehen wollen, drei oder vier Absurditäten in Kauf zu nehmen, ist es sehr vernünftig, den Weg zu nehmen, der uns am wenigsten murren macht. Das erste Hindernis, das uns anhält, ist die Ewigkeit der Welt. Und da der Geist des Menschen nicht stark genug ist, sie zu denken, und sich auch nicht vorstellen kann, dass dieses große Universum, so schön, so gut geordnet, aus sich selbst entstanden sein kann, haben sie ihre Zuflucht zur Schöpfung genommen. […]. Doch dadurch retten sie sich noch nicht; denn diese Ewigkeit, die sie der Welt wegnehmen, weil sie sie nicht verstehen konnten, geben sie Gott, als ob es ihnen leichter wäre, sie sich im einen als im anderen vorzustellen.173

Ob nun „Ewigkeit“ Gottes oder der Welt: in beiden Fällen wäre eine solche Größe ohne Herkunft selbst unvorstellbar und unerklärlich. Aus theistischer Sicht wurde nun natürlich konstatiert, es sei unbegreiflich, wie allein aufgrund der Materie und ihrer (bis dahin bekannten) Gesetze komplexe Strukturen entstehen könnten: erst ein Universum, dann Lebewesen, dann gar das Denkvermögen. Die antitheistischen Argumente sind aber noch gravierender: Niemand kann sich eine ‚immaterielle Substanz‘ wirklich vorstellen, die zudem ‚einfach‘ wäre, keine ‚Teile‘, also keine Struktur hätte, aber dennoch denken und handeln kann,174 zumal in der Realität nichts auch nur entfernt Vergleichbares bekannt ist, während man mit Materie und Gesetzen Erfahrung hatte. Niemand kann sich die christliche ,creatio ex nihilo‘ tatsächlich vorstellen; niemand kann sich vorstellen, wie die Entität ,Gott‘ die komplexen Strukturen unserer Welt geschaffen haben soll. Und logisch ergibt sich noch ein weiteres Problem: Warum sollte dieser ,ewige‘ Gott irgendwann beschlossen haben, das Universum zu schaffen, und zu welchem Zweck? Die Antworten darauf – außer der Spinozas – sind absurd; ich erörtere sie hier nicht. Die Antitheisten können folglich mit Recht festhalten, dass der Erklärungswert der Gotteshypothese gleich null sei und sie selbst mehr Fragen aufwerfe, als sie beantworte. Soweit man selbst eine ,materialistische‘ Antwort auf das Problem der Entstehung von Komplexität durch ,Zufall‘ oder durch ,Notwendigkeit‘ (also der Materie inhärente Gesetze) zu geben sucht,175 muss eine solche, beim Stande des verfügbaren Wissens, not-

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Savinien de Cyrano de Bergerac: L’Autre Monde ou les Estats et Empires de la Lune (1657). Hg. von Madeleine Alcover. Paris 1996, S 160f.: „Puisque nous sommes contraints quand nous voulons remonter à l’origine de ce grand tout, d’encourir trois ou quatre absurdités, il est bien raisonable de prendre le chemin qui nous faict moins broncher. Le premier obstacle qui nous arreste, c’est l’éternité du monde: et l’esprit des hommes n’estant pas assez fort pour la concevoir, et ne pouvant non plus s’imaginer que ce grand univers si beau, si bien réglé, peut s’estre faict de soy mesme, ilz ont eu recours à la création. […]. Encor ne s’en sauvent-ilz pas; car cette eternité qu’ilz ostent au monde pour ne l’avoir peu comprendre, ilz la donnent à Dieu, comme s’ilz leur estoit plus aisé se l’imaginer dedans l’un que dans l’autre.“ Vgl. dazu heute auch Dawkins: Gotteswahn (wie Anm. 144). Z. B. Toland: Letters (wie Anm. 171), Julien Offray de la Mettrie: L’Homme Machine (1748), d’Holbach: Système (wie Anm. 45).

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wendig ebenfalls unbefriedigend bleiben.176 Die einzige vernünftige Folgerung daraus hat schon der Atheist Fréret gezogen: Da, wo jede Datenbasis für rational vertretbare Folgerungen oder auch nur Hypothesen fehlt, empfiehlt er Urteilsenthaltung statt sinnloser, willkürlicher, unbestätigbarer Spekulation; er schließt: […] ich werde im Recht sein, sie [= die Gotteshypothese] zu verwerfen, obwohl ich nicht alles erklären kann und es viele Sachverhalte im Universum gibt, bezüglich derer ich in Unwissenheit verbleibe. […] So ertrage ich ohne Schmerz die Leere, die die Theisten durch die Annahme einer intelligenten Ursache, unendlich in Dauer, Kraft, Eigenschaften und Handlung, zu füllen glauben.177

Die wohl eindrucksvollste Kritik der kosmologischen wie der teleologischen ‚Gottesbeweise‘ hat Hume in seinen Dialogues Concerning Natural Religion (posthum 1779) geliefert;178 sein Text mag hier aus Umfangsgründen alle anderen vertreten. Wie das Colloquium von 1593 präsentiert sich der Text als Dialog, hier dreier Sprecher, des orthodoxen Christen Demea, des Deisten Cleanthes, des ,Skeptikers‘ (hier im Sinne des

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Das gilt primär für den Bereich der Biologie bis zur Evolutionstheorie ab Darwin (On the origin of species [1859]); ,Vorspiele‘ zum Evolutionsgedanken hat es freilich im 18. Jahrhundert, u. a bei Diderot, gegeben – massiver dann in Lamarcks Philosophie zoologique (1809). Im Bereich Physik/Astronomie hingegen werden auf der Basis von Newtons Physik (Philosophiae naturalis principia mathematica [1687]) schon im 18. Jahrhundert rationale Modelle, wie Sonnensysteme bzw. Galaxien entstehen könnten, entworfen: so Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) und Laplaces Exposition du système du monde (1796). Wo Kant – ernst gemeint oder als pragmatisches Zugeständnis – noch einen (deistischen) Gott als – wenn auch nur – ,erste Ursache‘ setzt, haben wir bei Laplace die berühmte Anekdote, er habe auf Napoleons Frage, wo in seinem System Gott bleibe, geantwortet: „Sire, je n’ai pas eu besoin de cette hypothèse“ („Majestät, ich habe dieser Hypothese nicht bedurft“). Nicolas Fréret: Lettre de Thrasybule (wie Anm. 89), S. 353f.: „[…] je serai en droit de la rejetter, quoique je ne puisse rendre raison de tout et qu’il y ait bien des choses, dans l’univers, aux sujet desquelles je demeure dans l’ignorance. […]. Ainsi je supporte sans douleur le vuide que les théistes croyent remplir par la supposition d’une Cause intelligente, infinie en durée, en force, en propriétés et en action.“ Der bedeutende Physiker und Astronom Pierre-Simon Laplace wird sich 1796 in seiner Exposition du système du monde ähnlich vernünftig äußern: „[…] es ist weiser, die Unwissenheit einzugestehen, als an ihre Stelle – allein aus dem Bedürfnis, unserer Unruhe über den Ursprung der Dinge abzuhelfen – imaginäre Ursachen zu setzen […].“ (Zitiert nach dem Neudruck Paris 1984, S. 544: „[…] il est plus sage d’avouer l’ignorance, que d’y substituer des causes imaginées par le seul besoin de calmer notre inquiétude sur l’origine des choses […].“) Das wird in der Folge die rationale Einstellung der Naturwissenschaften sein. Dazu das Zeugnis James Boswells, der Hume 1776 besucht hat, als dieser ‚just a-dying‘ war: „He [= Hume] said he never had entertained any belief in religion since he began to read Locke and Clarke.“ (zitiert nach Hitchens: Atheist [wie Anm. 115], S. 46). Die Lektüre von Locke und Clarke als Motiv für die Abkehr von Religion anzugeben, war sicher eine ironische Bosheit Humes, da beide Autoren sich zu Verteidigern des Christentums aufgeworfen hatten. Humes Dialogues sind übrigens auch heute noch, wie es scheint, philosophisch relevant; vgl. dazu Mackie: Theismus (wie Anm. 1), Hoerster: Gott (wie Anm. 1), Bromand/Kreis (Hgg.): Gottesbeweise (wie Anm. 1).

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‚Agnostikers‘: s. o. 1.4) Philo, die argumentativ wechselnde Koalitionen eingehen; aufgezeichnet sei das Ganze vom jungen, philosophisch unerfahrenen Pamphilus, seinerseits Schüler des Cleanthes. Die spannende Diskussion kann hier nicht nachgezeichnet werden; ich konzentriere mich auf die Argumente, die unwiderlegt bleiben, die also solche nicht einer Figur, sondern des Textes sind. Pamphilus postuliert zwar am Ende eine argumentative Hierarchie Demea < Philo < Cleanthes; nach meinem Kriterium ergibt sich, wie zu erwarten, eindeutig Demea < Cleanthes < Philo; auch hat Philo in der Diskussion das letzte Wort. Die Diskussion der ,Gottesbeweise‘ ist mit der des Postulats der ,Théodicée‘ engstens verknüpft. Wo die Vertreter des letzteren im späten 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorzugsweise (eine sinnvolle und dem Menschen nützliche) ‚Ordnung‘ und ‚Harmonie‘ in der Welt wahrnahmen und dazu tendierten, das physische oder moralische Übel, wo nicht zu leugnen, so doch zu minimieren, scheint sich um die Jahrhundertmitte ein Wandel vollzogen zu haben, bei dem der Optimismus179 der ‚besten aller möglichen Welten‘ durch einen größeren diesbezüglichen Pessimismus substituiert wird. Es scheint mir, dass, wenn mit dem ‚teleologischen Gottesbeweis‘ Empirie – nach dem Vorbild der neuen Naturwissenschaften – in religionsphilosophischen Diskussionen als Argument zugelassen wird, dabei zunächst selektiv nur Daten wahrgenommen werden, die die eigene These zu bestätigen scheinen; man ist so sehr von ihrer selbstverständlichen Wahrheit überzeugt, dass man zu sehen außer Stande ist, was ihr widerspricht. Solche Überzeugtheit ist natürlich Produkt der eigenen Sozialisation: Man ist mit christlich-theologischem Denken aufgewachsen, und auch philosophische, auch deistische Argumente, ‚Gottesbeweise‘ und ‚Theódicéen‘, beziehen ihre scheinbare Plausibilität für Zeitgenossen nur daraus, dass sie an ältere Positionen anschließen (selbst wenn sie Dogmen dabei transformieren): dass sie also letztlich nur Gewohntes und Bekanntes modifizieren. Ich komme darauf zurück. Wenn aber Empirie einmal als Argument zugelassen ist, setzt man sich dem Risiko aus, dass andere Daten sammeln, die die jeweilige These falsifizieren. Der Druck solcher falsifizierenden Daten scheint allmählich zugenommen zu haben: Bei Hume (und nicht erst bei ihm) jedenfalls kann – unter Verweis auf Epikur, der unwiderlegt sei – das ‚Übel‘ in der Welt nicht mehr hinweg geredet werden. Damit steht aber der wohlwollende Gott des Deismus als Welturheber infrage, und Philo entwickelt denn auch alternative Hypothesen. Da die Welt (aus der Sicht menschlicher Interessen) nicht ,vollkommen‘ sei, könnte, wenn man denn einen Urheber annehme, die Welt das Produkt sein a) eines noch kindlichen oder schon altersschwachen Gottes; b) eines untergeordneten Gottes [so argumentierten ja schon Teile der antiken Gnosis]; c) eines mehr oder weniger erfolgreichen Teamworks mehrerer Götter;

––––––– 179

Arno Schmidt sprach vom „ruchlosen Optimismus“.

188

Michael Titzmann

d) eines Konfliktes zwischen einem guten und einem bösen Gott [so argumentierte schon der antike Manichäismus].180 e) einer Größe, die bezüglich der menschlichen Wertungen völlig indifferent ist: Die zutreffende Schlußfolgerung ist die, daß die ursprüngliche Quelle aller Dinge all diesen Prinzipien gegenüber völlig gleichgültig ist und das Gute dem Übel ebenso wenig vorzieht wie die Hitze der Kälte, die Trockenheit der Feuchtigkeit oder die Leichtigkeit der Schwere.181

Diese Ursache hätte demnach „weder Güte noch Bösartigkeit“.182 Philo lehnt generell den „Anthropomorphismus“ ab,183 der der Gottheit menschliche Merkmale zuschreibe, wie dies sowohl die Theologie als auch der Deismus tun. Wenn man, wie schon die Quatrains (1624) und ausführlich Spinoza in der Ethica (1677), setzt, Gott habe alles gewollt, was existiere, folgt ebenfalls eine moralische Indifferenz Gottes; Spinoza führt aus, dass Konzepte wie „Ordnung“ oder „Verwirrung“, wie „gut“ oder böse“ menschliche Konstrukte seien, die man zu Unrecht auf die Welt (und Gott) projiziere;184 Gott habe überhaupt keine Affekte.185 Aber Philo kann sich offenbar auch eine Welt ohne personalen Urheber vorstellen (wie sie die Atheisten entwerfen): Mit Sicherheit wird alles von konstanten, unverletzbaren Gesetzen beherrscht. [Und:] …selbst wenn man Ordnung als eine untrennbare Eigenschaft der Materie ansieht, schließt das nicht aus, daß die Materie in den endlosen Zeitabläufen der Ewigkeit viele gewaltige Umwandlungen durchgemacht hat […] [und] daß sämtliche Veränderungen und Verfallserscheinungen, von denen wir je Erfahrung gewonnen haben, bloß Übergänge von einem Zustand der Ordnung zu einem anderen sind und daß die Materie niemals in totaler Gestaltlosigkeit und Unordnung beharren kann.186

Da nun Hume zwar teleologische Ursachen ablehnt, aber natürlich noch nicht über die Evolutionstheorie verfügt, lässt er Philo gegen Ende an den Deismus das Zugeständnis machen:

––––––– 180

181 182 183

184 185

186

Analog Lichtenberg in den Sudelbüchern (wie Anm. 101): „Zu untersuchen und zu lehren, in wie weit Gott aus der Welt erkannt werden kann. Sehr wenig, es könnte ein Stümper sein.“ (F 872) Und: „Schon vor vielen Jahren habe ich gedacht, daß unsere Welt das Werk eines untergeordneten Wesens sein könne […]. Wenn ich Hunger, Armut und Pestilenz betrachte, so kann ich unmöglich glauben, daß alles das Werk eines höchst weisen Wesens sei […].“ (K 69). David Hume: Dialogues Concerning Natural Religion (1779), S. 119. Ebd. Ebd., S. 59. Hierzu nochmals Lichtenberg: Sudelbücher (wie Anm. 101), J 944: „Es ist doch fürwahr zum Erstaunen, daß man auf die dunkeln Vorstellungen von Ursachen den Glauben an einen Gott gebaut hat, von dem wir nichts wissen, und nichts wissen können, denn alles Schließen auf einen Urheber der Welt ist immer Anthropomorphismus.“ Spinoza: Ethica (wie Anm. 58), „Pars I“, „Appendix“; ebd., z. B. S. 92 oder 102. Ebd., „Pars V, propositio XVII“; ebd., S. 652; dazu auch (ebd.) das zugehörige „Corollarium“: „Deus proprie loquendo neminem amat, neque odio habet.“ („Im eigentlichen Wortsinne liebt Gott niemanden noch hasst er.“). David Hume: Dialogues (wie Anm. 181), S. 66f.

Antichristliche und antireligiöse Diskurse

189

Die Ursache oder die Ursachen [!] der Ordnung im Universum besitzen wahrscheinlich [!] irgendeine entfernte [!] Ähnlichkeit mit menschlicher Intelligenz […]187,

woraus aber keine weiteren Folgerungen gezogen werden könnten, zumal keine, die menschliches Denken und Handeln beträfen; was übrig bleibt, hat nicht einmal eine ‚entfernte Ähnlichkeit‘ mit einer der tradierten Gottesvorstellungen. Sowohl die kosmologischen (z. B. Clarke 1705) als auch die teleologischen (z. B. Reimarus 1754) ‚Gottesbeweise‘ haben nicht nur gemeint, eindeutig einen ‚Gott‘ erschließen zu können, sondern auch dessen Merkmale, die die des christlichen bzw. deistischen Gottes sind (also: allwissend, allmächtig, allgütig, allgerecht, ewig, unendlich, immateriell, einfache Substanz); genau genommen, hat der christliche (wohl auch der deistische Gott) zudem ein Geschlecht: ,männlich‘ (,Vater‘!), worüber sich schon Spinoza geärgert hat.188 Wie man sich selbst bei so intelligenten Autoren wie Clarke und Reimarus leicht überzeugen kann, folgt keines dieser Merkmale logisch aus den von ihnen angenommenen Prämissen bzw. Datenmengen. Dass diese Folgerungen dennoch ihre Anhänger überzeugen konnten, basiert einzig und allein wiederum darauf, dass diese Merkmale genau jene sind, die man aufgrund der eigenen kulturellen (christlichen) Sozialisation als selbstverständlich erwartet hat. Auch hier lässt Hume Philo vernichtend eingreifen: Wenn man von einer „Wirkung“ auf eine „Ursache“ schlösse, dürfe man der „Ursache“ allenfalls genau die Merkmale zuschreiben, die zur Erklärung der „Wirkung“ unbedingt notwendig sind – und alle die christlichen oder deistischen Gottesmerkmale erfüllten aufgrund der Datenlage diese Bedingung nicht. Der Analogieschluss vom Wissen über den Menschen auf die gänzlich unbekannte „erste Ursache“ (so es sie denn gebe) sei, moniert er zu Recht, logisch gänzlich illegitim. Schwächer noch als die „Beweise Gottes“ sind in diesen „Gottesbeweisen“ die Versuche, auch eine „immaterielle Seele“ des Menschen und deren „Unsterblichkeit“ abzuleiten, die man, wie der Deist Cleanthes meint, als „Garantie der Moral“ benötige.189 Womit Hume also noch ein letzter, in der zeitgenössischen Diskussion zentraler Punkt abzuhaken blieb. Natürlich merkt Philo, wie so viele andere Antitheisten, an, dass erstens Religion keineswegs Moralität garantiere; natürlich fehlt hier auch der in solchen Texten rekurrente (und leider immer noch aktuelle) Verweis auf Mord und Totschlag und Krieg aus religiöser Motivation nicht. Zweitens aber und wichtiger – und diesen historischen Prozess und seine Begründungen kann ich hier nicht ausführen – wird die alte Hierarchie Religion > Moral zu Religion < Moral umgekehrt; die Moral hat sich von der Theologie emanzipiert, womit auch die alten Unterstellungen einer wesensmäßigen Amoralität des Atheisten (und des Agnostikers) hinfällig geworden sind.

––––––– 187 188

189

David Hume: Dialogues (wie Anm. 181), S. 141. In seiner Antwort auf einen Brief (vom 21.09.1674) eines gewissen Hugo Boxel spricht Spinoza von der „Vorstellung des einfachen Menschen, dass Gott von männlichem Geschlecht ist, nicht von weiblichem“. (Siehe Baruch Spinoza: Oeuvres. Bd. IV. Hg. von Charles Appuhn. Paris 1966, S. 290). David Hume: Dialogues (wie Anm. 181), S. 130.

190

Michael Titzmann

Mit den Dialogues sind Christentum und Deismus alle Rationalität beanspruchenden Begründungen entzogen.

Korpus der Primärtexte: chronologisch geordnet Verw. A. = verwendete Ausgabe; wenn nichts anderes angegeben ist, wurde die Erstausgabe benutzt. Autornamen in [ ] = anonym erschienen. ? = nicht gesicherte Angabe.

1516

Pietro Pomponazzi (1462-1525): Tractatus de immortalitate animae [Verw. A.: Hg. von Burkhard Mojsisch. Hamburg 1990].

1573

Geoffroy Vallée: La Beatitvde des Chrestiens ov le Fleo de la Foy, par Geoffroy Vallée [Verw. A.: Hg. von Alain Motha und Patrick Graille. Orléans 2005].

1587?

[Martin Seidel?:] Origo et fundamenta religionis Christianae [Ms.; Text aus dem deutschsprachig-protestantischen Gebiet; verw. A.: Text in: Zs. für die historische Theologie. Leipzig 1836, Bd. 6, 2. Stück, S.180-259].

1593?

[Jean Bodin? (1529/30-1596):] Colloquium Heptaplomeres [Mss.; verw. A.: Reprint der Ausgabe von Ludwig Noack 1857. Stuttgart/Bad Cannstatt 1966].

1623

François Garasse: La doctrine curievse des beavx esprits de ce temps, ov pretendus tels. [Verw. A.: Hg. von Jean Salem. Paris 2009].

vor 1624

[Anonym:] L’Anti-Bigot, ou les Quatrains du Déiste [Mss.; 1624 terminus ante quem, da ausgiebig zitiert in Marin Mersenne 1624; verw. A.: Libertins du XVIIe siècle. Hg. von Jacques Prévot. Bd. 2. Paris 2004, S. 1329-1344].

1624

Marin Mersenne: L’impiété des Déistes, Athées et Libertins de ce temps [Verw. A.: Reprint. Stuttgart/Bad Cannstatt 1975].

1624

Herbert Edward, baronet of Cherbury (1583-1648): De Veritate, prout distinguitur a Revelatione, a Verisimili, a Possibili, & a Falso [Verw. A.: De veritate. Editio tertia (1645). Hg. von Günter Gawlick. Stuttgart/Bad Cannstatt 1966, S. 1-251].

1645

Herbert of Cherbury: Religio laici [Verw. A.: wie De veritate 1624, dort im Anhang zu De causis errorum, S. 127-162].

ca. 1650

[Mitte 17. Jh.; anonym:] Theophrastus Redivivus [Mss.; Text aus Frankreich].

1651

Thomas Hobbes: Leviathan, or the Matter, Form and Power of a Commonwealth, Ecclesiasticall and Civil [Verw. A.: Hg. von K. R. Minogue. London 1979; lat. Fassung 1668].

1655

[Isaac de la Peyrère:] Systema theologicum ex Praeadamitarum hypothesi.

Antichristliche und antireligiöse Diskurse

191

1657

Savinien de Cyrano de Bergerac: L’Autre Monde ou les Estats et Empires de la Lune [Verw. A.: Hg. von Madeleine Alcover. Paris 1996].

1670

[Baruch Spinoza (1632-1677):] Tractatus Theologico-Politicus […]. [Verw. A.: Hg. von Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner. Darmstadt 1979].

1675

Matthias Knutzen: Amicus Amicis Amica. [Plus:] Ein Gespräch zwischen einem Lateinische Gastgeber / und drey ungleicher Religions-Gästen [Plus:] Gesprech Zwischen einem Feld-Prediger Nahmens D. Heinrich Brummer / und einem Lateinischen Munster-Schreiber [Die drei Mss. abgedruckt in: Johannes Musaeus: Ableinung Der ausgesprengten abscheulichen Verleumbdung / Ob wäre In der Fürstl. Sächsischen Residentz und gesambten Universität Jena eine neue Secte der so genannten Gewissener entstanden […]. Jena 1675; verw. A.: Matthias Knutzen: Schriften. Dokumente. Hg. von Winfried Schröder. Stuttgart/Bad Cannstatt 2010].

1677

Baruch Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata [Verw. A.: Die Ethik. Lateinisch – deutsch. Übs. von Jakob Stern, hg. von Bernhard Lakebrink. Stuttgart 1977].

1678

Richard Simon: Histoire critique du Vieux Testament. Paris [Die erste Auflage wird auf Anstiften Bossuets verboten und verbrannt; 1680 von Simon nicht autorisierter, 1685 von Simon autorisierter Neudruck in den Niederlanden; verw. A.: Hg. von Pierre Gibert, S.J., Montrouge 2008].

1678

[Adrian Beverland:] Peccatum originale kat’exochen nuncupatum. Eleutheropoli.

nach 1677, vor 1700

[Anonym:] L’Esprit de Mr. Benoît de Spinoza/Traité des trois imposteurs [28 Mss.; Druck 1719; verw. A.: Neudruck Paris 2008].

1683

[Pierre Bayle (1647-1706):] Pensées diverses […] à l’occasion de la Comète qui parut au mois de decembre 1680. [Verw. A.: Libertins du XVIIe siècle. Hg. von Jacques Prévot. Bd. II. Paris 2004, S. 765-1186].

1686

[Pierre Bayle:] Commentaire philosophique sur ces Paroles de Jésus-Christ, Contrainsles d’entrer […]. [Verw. A.: Pierre Bayle: De la Tolérance. Hg. von Jean-Michel Gros. Paris 1992].

1686

[Fontenelle:] Histoire des Oracles. Paris [Verw. A.: Hg. von Louis Maigron. Paris 1971].

1688 oder früher

[Johann Joachim Müller:] De Imposturis Religionum [Ms.; erster Beleg des Gerüchts von einem Buch De tribus impostoribus 1688; Druck 1753; verw. A.: Hg. von Winfried Schröder. Stuttgart/Bad Cannstatt 1999].

1690

John Locke: An Essay Concerning Human Understanding [Verw. A.: Dt. Übs. 2 Bde. 4. Aufl. Hamburg 1981].

nach 1692, vor 1720

[Anonym:] Cymbalum Mundi Sive Symbolum Sapientiae [17 Mss.; Text aus dem deutschsprachig-protestantischen Gebiet; verw. A.: Edizione critica a cura di Guido Canziani, Winfried Schröder, Francisco Socas. Milano 2000].

1692

[Friedrich Wilhelm Stosch (1648-1704):] Concordia rationis & fidei, sive harmonia Philosophiae Moralis & Religionis Christianae. Amsterdam [Verw. A.: Hg. von Winfried Schröder. Stuttgart/Bad Cannstatt 1992].

1693

Charles Blount: The Oracles of Reason [darin: A Summary Account of the Deist’s Religion]. London.

192

Michael Titzmann

1695

[John Locke:] The Reasonableness of Christianity, As delivered in the Scriptures [Verw. A.: John Locke: Writings on Religion. Hg. von Victor Nuovo. Oxford 2002].

1696

[John Toland:] Christianity not Mysterious; or, A Treatise Shewing, That there is nothing in the Gospel Contrary to Reason, Nor Above it: And that no Christian Doctrine can be properly call’d A Mystery. London [Verw. A.: Hg. von Philip McGuinness, Alan Harrison, Richard Kearney. Dublin 1997].

1697

Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. Rotterdam [2. vermehrte A. 1702; verw. A.: ].

1704

John Toland: Letters to Serena [Verw. A.: Briefe an Serena. Hg. von Erwin Pracht. Berlin 1959].

1705

Samuel Clarke (1675-1729): A Demonstration of the Being and Attributes of God. More particularly in answer to Mr. Hobbes, Spinoza, and their followers [Verw. A.: Hg. von Ezio Vailati. Cambridge 1998].

1705

Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury: The Sociable Enthusiast. London [ab 1709 u. d. T.: The Moralists; verw. A.: Ein Brief über den Enthusiasmus/Die Moralisten. Hg. von Wolfgang H. Schrader. Hamburg 1980].

1706

John Locke: A Discourse of Miracles [Verw. A.: Writings on Religion. Hg. von Victor Nuovo. Oxford 2004, S. 44-50].

1710

Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal [Verw. A.: Hg. von Jacques Brunschwig. Paris 1969].

1710

[Simon Tyssot de Patot:] Voyages et avantures de Jacques Massé. [Verw. A.: Reprint hg. von Raymond Trousson. Genf 1979].

1710-1712?

[Robert Challe:] Difficultés sur la religion proposées au Père Malebranche [Mss.; (uminterpretierender) Druck Amsterdam 1768; verw. A.: Edition nouvelle, d’après le manuscrit complet et fidèle de la Staatsbibliothek de Munich par Frédéric Deloffre et François Moureau. Genève 2000].

1713

Anthony Collins (1676-1729): A Discourse of Free-Thinking, Occasion’d by The Rise and Growth of a sect call’d Free-Thinkers [Reprint hg. von Günter Gawlick. Stuttgart/Bad Cannstatt 1965].

1713

William Derham (1657-1735): Physico-Theology. Or, a Demonstration of the Being and Attributes of God, from His Works of Creation [Reprint. Hildesheim/New York 1976].

1717

Theodor Lau: Meditationes philosophicae de Deo, mundo, homine [Verw. A.: Reprint hg. von Martin Pott. Stuttgart/Bad Cannstatt 1992].

1717

Samuel Clarke (Hg.): A Collection of Papers which passed between the late Learned Mr. Leibnitz [!] and Dr. Clarke in the years 1715 and 1716 relating to the Priciples of Natural Philosophy and Religion. London [Verw. A.: On-demand edition 2009 der von H. G. Alexander hg. Ausgabe. Manchester 1956].

1719

Christian Wolff (1679-1754): Vernünftige Gedancken Von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen. [Verw. A.: Hg. von Charles A. Corr. Hildesheim/Zürich 1983].

Antichristliche und antireligiöse Diskurse

193

1720er? (nach 1705, vor 1735)

[César Chesneau du Marsais:] Examen de la religion ou Doutes sur la religion dont on cherche l’éclaircissement de bonne foi [58 Mss.; Drucke ab 1745; dt. Übs. durch Johann Lorenz Schmidt 1747; verw. A.: Edition critique par Gianluca Mori. Voltaire Foundation: Oxford 1998].

1720

[John Toland (1670-1720):] Pantheisticon, sive formula celebrandae sodalitatis socraticae [Verw. A.: Pantheisticon: Or, the Form Of Celebrating the Socratic-Society. Divided into Three Parts.[…]. Written Originally in Latin, by the Ingenious Mr. John Toland. And now, for the first Time, faithfully rendered into English. London 1751. Verw. A.: Reprint. LaVergne/USA 2009].

1723

Pierre-Daniel Huet (1630-1721): Traité philosophique de la Foiblesse de l’esprit humain. Amsterdam [Verw. A.: Reprint der Ausgabe von 1777 nach Vorlage der University of Michigan. Leipzig: Amazon o. J.].

1720er (nach 1720, vor 1740)

[Nicolas Fréret:] Lettre de Thrasybule à Leucippe [16 Mss.; 8 Drucke zwischen 1765 und 1796; verw. A.: Edizione critica a cura di Sergio Landucci. Florenz 1986].

1729

Jean Meslier (1664-1729): Mémoire des pensées et des sentiments de Jean Meslier, prêtre […] [Posthum hinterlassenes Ms. in dreifacher Ausfertigung; 1762 eine kürzende und deistisch uminterpretierende Edition des Ms. durch Voltaire: Le Testament de l’Abbé Meslier; 1772 gibt d’Holbach eine Mesliers Atheismus wiederherstellende Bearbeitung heraus: Le bon sens du curé Meslier; verw. A.: Das Testament des Abbé Meslier: Hg. von Günther Mensching. Frankfurt a.M. 1976].

1730

[Matthew Tindal:] Christianity as old as the creation: Or the Gospel, A republication of the Religion of Nature [Verw. A.: Reprint der verbesserten Auflage von 1731. London 2005].

1734

Voltaire (= François-Marie Arouet [1694-1778]): Lettres philosophiques [Verw. A.: Hg. von René Pomeau. Paris 1964].

1734

Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit [Verw. A.: Neudruck der Ausgabe. 7. Aufl. 1762. 2 Bde. Berlin/New York 1983].

1737-1740

Thomas Morgan (?-1743): The Moral Philosopher. In a Dialogue between Philalethes a Christian Deist, and Theophanes a Christian Jew. London [Verw. A.: Reprint hg. von Günter Gawlick. Stuttgart/Bad Cannstatt 1969].

1746

Johann Christian Edelmann: Abgenöthigtes Jedoch Andern nicht wieder aufgenöthigtes Glaubens-Bekentniß [Verw. A.: Hg. von Walter Grossmann. Stuttgart/Bad Cannstatt 1969].

1746

[Denis Diderot (1713-1784)]: Pensées philosophiques [Verw. A.: Œuvres philosophiques. Hg. von Paul Vernière. Paris 1964, S. 8-49]

1748

[Julien Offray de la Mettrie (1709-1751):] L’Homme Machine [Verw. A.: Œuvres philosophiques. Berlin 1774, Bd. I, S. 285-356. Reprint. Hildesheim/New York 1970].

1748

David Hume: Philosophical Essays Concerning Human Understanding [Ab 1758 u. d. T.: An Enquiry Concerning Human Understanding; verw. A.: Übs. und hg. von Herbert Herring. Stuttgart 1967].

194

Michael Titzmann

1751-1772

Denis Diderot/Jean le Rond d’Alembert (Hgg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Paris [28 Bde.; 1776-1780: 7 Ergänzungsbde.; verw. A.: Reprint. Stuttgart/Bad Cannstatt 1968-1995].

1754

Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion [Verw. A.: 4., verbesserte und stark vermehrte Aufl. Hamburg 1772].

1758

Claude Adrien Helvétius (1715-1771): De l’Esprit [Verw. A.: Oeuvres complètes. Bd. II. Londres 1777].

1761

[Johann Christian Edelmann:] Von den Betrügereyen der Religionen [Ms.; ausführlich kommentierte Übs. bzw. Bearb. von De imposturis religionum von 1688; verw A.: Abgedruckt in der von W. Schröder hg. Ausgabe von De imposturis. Stuttgart/Bad Cannstatt 1999, S. 141-229].

1762

Jean-Jacques Rousseau (1712-1778): Emile, ou de l’Education [darin die Profession de foi du vicaire savoyard; verw. A.: Hg. von Michel Launay. Paris 1966].

1764

[Voltaire:] Dictionnaire philosophique portatif [wesentliche Erweiterungen in 2. Aufl. 1765 und 4. Aufl. 1767; weitere Ausgaben: 1769, 1770, 1773, 1776, …; verw. A.: Hg. von René Pomeau. Paris 1964].

1766?

[Paul Thiry d’Holbach (1723-1789)?:] Le Christianisme dévoilé, ou Examen des principes et des effets de la religion chrétienne. Par feu M. Boulanger [Verw. A.: d’Holbach: Religionskritische Schriften. Hg. von Manfred Naumann. Berlin/Weimar 1970, S. 51-171].

1767

[Paul Thiry d’Holbach?:] Théologie Portative, ou Dictionnaire abrégé de la religion chrétienne. Par M. l’Abbé Bernier [Verw. A.: d’Holbach: Religionskritische Schriften. Hg. von Manfred Naumann. Berlin/Weimar 1970, S. 173-293].

1767

Moses Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drey Gesprächen [2. Aufl. 1768, 3. Aufl. 1769; verw. A.: Hg. von Nathan Rotenstreich. Hamburg 1979].

1767/68

Hermann Samuel Reimarus (1694-1768): Apologie oder Schutzschrift der vernünftigen Verehrer Gottes [Mss.; verw. A.: 2 Bde., hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt a.M. 1972].

1768

[Paul Thiry d’Holbach?:] Lettres à Eugénie, ou Préservatif contre les préjugés [Verw. A.: d’Holbach: Religionskritische Schriften. Hg. von Manfred Naumann. Berlin/Weimar 1970, S. 295-467].

1770

[Denis Diderot:] Additions aux Pensées philosophiques [Verw. A.: Œuvres Philosophiques. Hg. von Paul Vernière. Paris 1964, S. 57-72].

1770a

[Paul Thiry d’Holbach:] Histoire critique de Jésus-Christ ou Analyse raisonné des Evangiles [Verw. A.: Hg. von Jean-Pierre Jackson. Paris 2007].

1770b

[Paul Thiry d’Holbach:] Essai sur les préjugés ou de l’influence des opinions sur les moeurs & sur le bonheur des hommes [Verw. A.: Hg. von Jean-Pierre Jackson. Paris 2007].

1770c

[Paul Thiry d’Holbach:] Système de la Nature, ou des lois du monde physique et du monde moral [Verw. A.: Hg. von Jean-Pierre Jackson. Paris 2008].

Antichristliche und antireligiöse Diskurse

195

1772

Claude Adrien Helvétius (1715-1771): De l’Homme, de ses facultés et de son éducation [Verw. A.: Vom Menschen. Hg. von Günther Mensching. Frankfurt a.M. 1972].

1773

[Nicolas Fréret?:] Recherches sur les Miracles [Verw. A.: Reprint from the collection of the University of Michigan Library. Leipzig o. J.].

1774

[Denis Diderot:] Entretien d’un philosophe avec la Maréchale de *** [Ms.; verw. A.: Œuvres philosophiques. Hg. von Paul Vernière. Paris 1964, S. 525-553].

1774-1778

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) (Hg.): Sukzessive Edition von Auszügen aus dem Werk eines „Ungenannten“ [= Hermann Samuel Reimarus 1767/1768; verw. A.: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. Bd. VII. München 1976, S. 313-604].

1777

[Nicolas Fréret?:] Examen critique du Nouveau Testament [Verw. A.: Reprint nach Vorlage der University of Michigan. o. O., o. J.].

1779

David Hume: Dialogues Concerning Natural Religion [Verw. A.: Dialoge über die natürliche Religion. Hg. von Norbert Hoerster. Stuttgart 1981].

1780

Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts [Verw. A.: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. Bd. VIII. München 1979, S. 489-510].

1783

Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [Verw. A.: Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. XI. Frankfurt a.M. 1964, S. 53-64].

1785

Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes [Verw. A.: Hg. von Dominique Bourel. Stuttgart 1979].

1790a

Friedrich Schiller: Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde [Verw. A.: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. Bd. IV. Müchen 8. Aufl. 1989, S. 767-783; Bezug auf Kant 1786].

1790b

Friedrich Schiller: Die Sendung Moses [Verw. A.: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. Bd. IV. München 1989, S. 783-804].

1791

Immanuel Kant: Ueber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee [Verw. A.: Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. XI. Frankfurt a.M. 1964, S. 103-124].

1792

Johann Gottlieb Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung [Verw. A.: Werke. Hg. von Immanuel H. Fichte. Bd. V. 1845; Reprint. Berlin 1971, S. 11-174].

1793

Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [Verw. A.: Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. VIII. Frankfurt a.M. 1968, S. 647-879].

1795

Thomas Paine (1737 -1809): The Age of Reason; Being an Investigation of True and Fabulous Theology. London [Verw. A.: Thomas Paine Collection. Leipzig 2007, S. 289-452].

1796

Denis Diderot: Supplément au Voyage de Bougainville [Verw. A.: Œuvres philosophiques. Hg. von Paul Vernière. Paris 1964, S. 454-516].

1798

Johann Gottlieb Fichte: Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung [Verw. A.: Werke. Hg. von Immanuel H. Fichte. Bd. V. 1845; Reprint. Berlin 1971, S. 177-189].

1798

Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten [Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. XI. Frankfurt a.M. 1964, S. 265-393].

196

Michael Titzmann

1799a

Johann Gottlieb Fichte: Appellation an das Publicum über die durch Churf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Äusserungen [Verw. A.: Werke. Hg. von Immanuel H. Fichte. Bd. V. 1845; Reprint. Berlin 1971, S. 193-238].

1799b

Johann Gottlieb Fichte: Der Herausgeber des philosophischen Journals gerichtliche Verantwortungsschriften gegen die Anklage des Atheismus [Verw. A.: Werke. Hg. von Immanuel H. Fichte. Bd. V; Reprint. Berlin 1971, S. 241-333].

1800

Sylvain Maréchal: Dictionnaire des athées anciens & modernes [Verw. A.: Hg. von Jean-Pierre Jackson. Paris 2008].

1802

William Paley: Natural Theology: Or, evidence of the existence and attributes of the Deity, collected from the appearances of nature. London.

1808

Johann Heinrich Jung-Stilling: Theorie der Geister=Kunde [Verw. A.: Reprint. Hildesheim 1979].

1811

[Percy Bysshe Shelley:] The Necessity of Atheism. London [Verw. A.: Dt. Übs. in: Ders.: Zastrozzi. Eine Romanze. Hg. von Manfred Pfister. Passau 2007, S. 181-188].

1819

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung [Verw. A.: 2 Bde. Zürich 1977].

1841

David Friedrich Strauß: Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft [Verw. A.: Neudruck. 2 Bde. Darmstadt 2009].

Misia Sophia Doms (Düsseldorf) Erkenntniswege und Übungsgelände. Raumdarstellungen zur Vermittlung praktisch-philosophischen Wissens in Moralischen Wochenschriften der Frühaufklärung

1. „Bekehrung eines Lasterhaften“. Das aufklärerische Programm zur Moralerziehung und die Moralischen Wochenschriften Im zweiten, ‚praktischen‘ Teil von Johann Christoph Gottscheds Ersten Gründen der gesammten Weltweisheit1 (1734) handelt das Hauptstück I,6 von der praktisch-philosophischen „Bekehrung eines Lasterhaften“. In enger Anlehnung an Christian Wolffs Vernünfftige Gedancken von der Menschen Tun und Lassen (1720) betont Gottsched, dass ein Mensch von bislang unzureichender moralischer Beschaffenheit nur auf dem Wege der Erkenntniserweiterung zur Tugend gelangen könne: „[D]ie Bekehrung“ müsse „von dem Verstande, und nicht von dem Willen“ ausgehen.2 Zwar seien viele Menschen bereits „mit einiger“ moralischer „Erkenntniß [...] versehen“, doch sei bei ihnen der moralische „Unterricht [...] noch nicht überzeugend genug gewesen“,3 so dass es gelte, die bisherige Verstandeserkenntnis „lebendig zu machen“.4 Zu diesem Zweck bedürfe der ‚Bekehrungswillige‘ eines „nachdrücklichen, und lebhaften“ sowie „ausführlichen Unterricht[s]“, etwa „recht sinnlich[er]“5 Schilderungen der sich aus Tugend und Laster ergebenden Glücks- und Unglückszustände.6 Da ihm dabei außerordentlich viele Wissensinhalte vermittelt werden müssten, habe man davon auszugehen, dass seine Be-

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2 3 4 5 6

Vgl. Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip Marshall Mitchell. Bd. V,2: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil). (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts) Berlin/New York 1983. Ebd., S. 133; Hervorhebungen hier und im Folgenden wie in der Zitiervorlage. Ebd., S. 132f. Ebd., S. 135. Ebd., S. 134f. All dies leistet nach Ansicht Ernst Stöckmanns die Gattung ‚Moralische Wochenschrift‘. Vgl. dazu Ernst Stöckmann: ‚Philosophie für die Welt‘ zwischen ästhetischer und sittlicher Programmatik. Zu einigen Aspekten popularphilosophischer Publizistik am Beispiel der Moralischen Wochenschriften G. F. Meiers und S. G. Langes. In: Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale. Akten zum Internationalen Kongress in Berlin 20. bis 22. September 1999. Hg. von Franz Simmler. (Jahrbuch für Internationale Germanistik 67) Bern u. a. 2002, S. 603-630, hier S. 611f.

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Misia Sophia Doms

lehrung „eine sehr langwierige Sache“ sei, die oft „viele Jahre“ dauere.7 Beständig müsse der neu für die Tugend gewonnene Mensch dadurch vor Rückfällen ins Laster geschützt werden, dass man ihn „so viel als möglich ist, bey solchen Betrachtungen“ erhalte, die seine bereits gewonnenen Einsichten „gewisser und lebendiger machen können“.8 Schließlich bestehe noch immer die Gefahr, dass er die „gute Erkenntniß im Verstande“ wieder vergesse, wenn er „an gewisse Wahrheiten nicht oft“ denke.9 Um das gewonnene Wissen nicht aus den Augen zu verlieren, sondern weiter auf dem Weg der Tugend voranzuschreiten, soll sich der moralisch Unerfahrene nach Ansicht Gottscheds nicht nur mit den „Schriften der alten und neuen Sittenlehrer“ beschäftigen und sich das „Exempel großer Leute“ vergegenwärtigen. Vielmehr empfiehlt Gottsched ausdrücklich auch die Lektüre in den „Schriften der besten Poeten“, also die Beschäftigung mit Literatur.10 In der Widmungsvorrede seiner Moralischen Wochenschrift Der Biedermann11 (1727-1729) bezeichnet Gottsched die Dichter gar als die „besten Lehrer der Weißheit und der Tugend“.12 In dieser wie auch in seiner früheren Wochenschrift, den Vernünftigen Tadlerinnen (1725-1726), vermittelt Gottsched selbst auf literarischem Wege praktisch-philosophisches Wissen und verfährt dabei so, wie er es in seiner sechs Mal nachgedruckten13 Weltweisheit zur Bekehrung eines Lasterhaften empfiehlt: Über mehrere Jahre gibt er seinen LeserInnen die Möglichkeit, Wissen aus den verschiedensten Bereichen der Sittenlehre zu erlangen, zu vertiefen und zu rekapitulieren: Woche für Woche bieten seine Wochenschriften anschaulich-lebendig präsentierte, kurze moralische Lektionen, in denen alle nur erdenklichen praktisch-philosophischen Themen nach und nach abgeschritten werden. Gottsched ist dabei weder der erste noch der letzte Zeitschriftenverfasser, der so verfährt. Vor und nach seinen Blättern erscheinen in Europa zahllose Moralische Wochenschriften14, die ebenso vorgehen. Ein wichtiges Instrument der anschaulichen und lebendigen Vermittlung moralischen Wissens in den Wochenschriften sind die zahlreichen fiktiven Exempelfiguren, die vielfach geradezu als Personifikationen einzelner Laster und Tugenden erscheinen. Sie

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Gottsched: Weltweisheit (wie Anm. 1), S. 134. Ebd., S. 136. Ebd., S. 138. Ebd., S. 154f. Vgl. Johann Christoph Gottsched: Der Biedermann. Faksimiledruck der Originalausgabe Leipzig 1727-1729 mit einem Nachwort und Erläuterungen hg. von Wolfgang Martens. (Deutsche Neudrucke, Reihe Texte des 18. Jahrhunderts) Stuttgart 1975. Ebd., unpaginierte Widmungsvorrede. Vgl. außerdem István Gombocz: „Es ist keine Wissenschaft von seinem Bezirke ganz ausgeschlossen.“ Johann Christoph Gottsched und das Ideal des aufklärerischen poeta doctus. In: Daphnis 18 (1989), S. 545-561, hier S. 551-554. Vgl. Gombocz: Gottsched und poeta doctus (wie Anm. 12), S. 546. Im Folgenden nur: Wochenschriften.

Erkenntniswege und Übungsgelände

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werden dem Leser nicht nur in Form sog. ‚Moralischer Charaktere‘ vorgestellt,15 sondern können dem fiktiven Autor auch bei den verschiedensten gesellschaftlichen Anlässen begegnen oder unfreiwillig ihren moralischen Zustand in fiktiven Leserbriefen enthüllen. Aber nicht nur die in den Wochenschriften auftretenden Figuren werden zu Werkzeugen der moralischen Belehrung, sondern – und darum soll es in den nachfolgenden Ausführungen gehen – auch die in diesen aufklärerischen Zeitschriften entworfenen Räume spielen bei der Vermittlung ethischen Wissens eine entscheidende Rolle. Das von den Wochenschriften wiederholt praktizierte Verfahren, Raumdarstellungen zur moralischen Belehrung zu instrumentalisieren, ist nicht neu: In den Emblemen16, allegorischen Erzählungen und Utopien der vorangehenden Jahrhunderte, aber beispielsweise auch schon in Platons (Unter-)Weltentwurf im Phaidon und am Schluss der Psychomachie des Prudentius wird ethisches Wissen über Raumdarstellungen vermittelt. Allerdings werden gerade an den Räumen, welche die frühaufklärerischen periodischen Sittenschriften zur moralischen Belehrung entwerfen, die Neuerungen des zeitgenössisch gültigen praktisch-philosophischen Wissens gegenüber der Ethik früherer Jahrhunderte besonders gut sichtbar. Zudem lässt die Untersuchung dieser Räume die mit dem Wandel der Morallehre einhergehenden Schwierigkeiten und das gelegentliche Festhalten an älteren Beständen ethischen Wissens deutlich erkennen. All dies soll im dritten Abschnitt an exemplarischen Untersuchungen einzelner Textpassagen aus dem Hamburger Patrioten (1724-1726)17 sowie in einem Fall auch aus Johann Jacob Bodmers und Johann Jakob Breitingers Discoursen der Mahlern (1721-1723)18 gezeigt werden. Zuvor sind allerdings einige grundsätzliche Vorüberlegungen zu den Formen unvermeidlich, in denen der Raum in den Wochenschriften zum Instrument der Tugendlehre wird.

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Vgl. dazu grundlegend Ute Schneider: Der Moralische Charakter. Ein Mittel aufklärerischer Menschendarstellung in den frühen deutschen Wochenschriften. (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 19) Stuttgart 1976. Zu deren Rezeption in frühaufklärerischen Wochenschriften vgl. grundlegend Dietmar Peil: Emblematisches, Allegorisches und Metaphorisches im ‚Patrioten‘. In: Euphorion 69 (1975), S. 229266. Vgl. Der Patriot. Nach der Originalausgabe Hamburg 1724-1726 in drei Textbänden und einem Kommentarband kritisch hg. von Wolfgang Martens. (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts) Berlin/New York 1969-1984. Vgl. Johann Jacob Bodmer/Johann Jakob Breitinger: Die Discourse der Mahlern. Vier Teile in einem Band (Reprograph. Nachdr. d. Ausg. Zürich 1721-1723). Hildesheim 1969.

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2. Fiktionen zweiter Stufe aus der Vogelperspektive – Klassifikatorische Vorüberlegungen zu den Räumen als Werkzeug der Vermittlung ethischen Wissens Eine erste grundlegende Differenzierung der Räume, die in den Wochenschriften zur moralischen Belehrung entworfen werden, ergibt sich aus dem ontologischen Status, der ihnen in diesen Blättern zugesprochen wird. In diesem Zusammenhang hat man sich zunächst zu vergegenwärtigen, dass die Wochenschriften schon durch die intratextuelle Präsenz ihrer jeweils titelgebenden fiktiven Verfasser fiktionale Texte darstellen. Innerhalb einer Wochenschrift entworfene Räume gehören selbst also immer der Fiktion an, sogar wenn sie – wie etwa die im Patrioten oft vorkommende Stadt Hamburg – ein reales Pendant besitzen. Zu unterscheiden sind allerdings zwei verschiedene Fiktionalitätsstufen. 1. Viele der Räume, die in den moralisierenden Periodika dargestellt werden, gehören aufgrund ihres Vorkommens in einem Traum oder einem eingeschobenen Stück Kurzprosa (Märchen, Erzählung usw.) einer Fiktion in der Fiktion (Fiktion zweiter Stufe) an. Dabei nehmen die Traumberichte und die in ihnen entworfenen Räume insofern eine Sonderstellung ein, als sie direkt auf die Fiktion erster Stufe bezogen sind: Zumeist wird die eigentliche Traumschilderung vom Bericht über das Einschlafen und Erwachen in der Fiktion erster Stufe gerahmt. Beschrieben werden innerhalb der Fiktionen zweiter Stufe neben bestimmten Gebäudetypen wie Tempeln und Bühnen19 auch Landschaften, Städte und ganze Länder.20 Insbesondere die hierbei häufige Verwendung allegorischer Räume zur Vermittlung praktisch-philosophischen Wissens hat große Vorteile: Jeder Raumteil kann in diesem Fall unmittelbar ein bestimmtes Element des zu vermittelnden komplexen moralischen Wissens symbolisieren21 und der Gesamtraum zu einem jener „enzyklopädischen Wissensräume des Geistes“ werden, wie sie Haiko Wandhoff ausführlich für das Mittelalter untersucht hat.22 Gottscheds Forderung nach sinnlich-anschaulicher moralischer Belehrung wird dadurch auf geradezu ideale Weise realisiert. 2. Die zweite Gruppe von Räumen, über deren Darstellung die Wochenschriften moralisches Wissen zu vermitteln suchen, gehört der Fiktion erster Stufe an: Für sie wird innerhalb der Fiktion Realität beansprucht. Der Leser kann hier prinzipiell noch

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22

Vgl. etwa Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 2, S. 176ff. Vgl. etwa Gottsched: Der Biedermann (wie Anm. 11), Teil 1, S. 57-64 und 69-74 (es handelt sich dabei um eine Teilnacherzählung von Joseph Halls Mundus alter et idem); ebd., Teil 1, S. 164. Vgl. ähnlich Susanne Niefanger: Schreibstrategien in moralischen Wochenschriften. Formalistische, pragmatische und rhetorische Untersuchungen am Beispiel von Gottscheds „Vernünfftigen Tadlerinnen“. (Medien in Forschung und Unterricht, Serie A, 45) Tübingen 1997, S. 119. Haiko Wandhoff: Von der antiken Gedächtniskunst zum mittelalterlichen Seelentempel: Literarische Expeditionen durch die Bauwerke des Geistes. In: Sprache und Literatur 94 (2004), S. 9-28, hier S. 21.

Erkenntniswege und Übungsgelände

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einmal zwei Untergruppen unterscheiden. Ein kleiner Teil dieser Räume weist ein außerfiktionales Pendant auf (ähnliches gilt im Übrigen auch für vereinzelte Räume der Gruppe 1). Der Großteil von ihnen gehört jedoch nur ins Reich der Literatur. Zur Vermittlung abstrakten ethischen Wissens ist die zuletzt genannte Gruppe von Räumen in der Regel besser geeignet als solche mit Realitätsbezug, da die Wochenschriften bei ihrer Gestaltung völlig freie Hand haben. In jenen Fällen, in denen weitläufigere Räume zur Vermittlung moralischer Lehren genutzt werden, macht es einen bedeutenden Unterschied, aus welcher Perspektive sie jeweils dargestellt werden. Allgemein kommen hier zwei, z. T. im Textverlauf ineinander übergehende Präsentationstechniken in Frage. a) Erstens kann der imaginäre Blick des Lesers auf die Landschaften, Städte oder Reiche so gelenkt werden, dass er sie gleichsam „im Überblick“ bzw. „aus der Vogelperspektive“23 wahrnimmt. Obwohl der Raum dem Leser hier nicht in der Gleichzeitigkeit der bildlichen Darstellung, sondern im Nacheinander der beschreibenden Sätze vor Augen tritt, weist diese Präsentationsform doch zumindest partielle Ähnlichkeiten mit der Verbildlichung eines Landstrichs auf einer fiktiven Landkarte auf. b) Die zweite Technik der Präsentation größerer Räume entwirft den Raum dagegen aus der „Feldperspektive“ einer „imaginäre[n] Wanderung“.24 In den nachfolgenden Untersuchungen sollen zunächst – paradigmatisch für die Räume der Gruppe 1 – fünf sehr unterschiedlich gestaltete erträumte Räume aus dem Patrioten bzw. (in einem Fall) aus den Discoursen der Mahlern untersucht werden (Abschnitt 3). Anschließend wird im vierten Abschnitt kurz darauf einzugehen sein, welchen besonderen didaktischen Nutzen jene Räume, die in der Fiktion erster Stufe vorkommen (Gruppe 2), für die Vermittlung ethischen Wissens haben können.

3. Schutzengel, Dichter und die Mühen der eigenständigen Orientierung. Erträumte Räume als Instrument zur Vermittlung moralischen Wissens Im Patrioten und anderen frühaufklärerischen Wochenschriften beginnen Traumerzählungen zumeist mit praktisch-philosophischen Überlegungen, die der fiktive Verfasser vor dem Einschlafen anstellt. Der Traum selbst nimmt dann in seinen Bildern und Ereignissen direkt auf diese Reflexionen Bezug. Seine einzelnen Bestandteile werden entweder vom Erzähler ausgedeutet oder sie sind für den Leser zweifelsfrei zu entschlüsseln.25 Thema der Träume, die – zeittypisch – kein „subjektbezogenes“, son-

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Kirsten Wagner: Wissensräume in der Computermoderne und ihre historischen Vorbilder. In: Sprache und Literatur 94 (2004), S. 29-49, hier S. 35. Ebd. Vgl. auch Niefanger: Schreibstrategien (wie Anm. 21), S. 288.

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dern „transsubjektiv gültiges Wissen vermitteln“,26 ist vielfach der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Handlungsoptionen, die sich einem Menschen im Laufe seines Lebens bieten, und den für ihn selbst daraus erwachsenden Folgen. Durch allegorische Landschaftsdarstellungen bietet sich in den Träumen die Möglichkeit, die Vielfalt der Handlungsoptionen und ihrer Konsequenzen in ein räumliches Nebeneinander zu bringen. Einander ausschließende Alternativen menschlichen Verhaltens können dabei z. B. als unterschiedliche Wege verbildlicht werden, die von einem einzigen Ausgangspunkt zu verschiedenen Endpunkten führen. Insgesamt kann die Raumgestaltung in den frühaufklärerischen Wochenschriften entweder ganz an traditionellchristliche Vorbilder angelehnt sein oder in der einen oder anderen Hinsicht von den überlieferten Mustern abweichen.27 In der Perspektive der Träumer auf den erträumten Raum kann sich moralische Orientiertheit oder aber – vorübergehende – Desorientierung ausdrücken. Wie sehr die frühaufklärerischen Wochenschriften bei der literarischen Verräumlichung praktisch-philosophischen Wissens bisweilen noch an die christliche Bildlichkeit der vorangehenden Epochen anknüpfen, lässt sich gut an zwei allegorischen Träumen im Patrioten zeigen, in denen ein Thema im Grenzgebiet zwischen praktischer Philosophie und Theologie behandelt wird: der Zusammenhang von diesseitigem Verhalten und jenseitigem Heil. Die erste der beiden Traumerzählungen findet sich im 14. Stück des Patrioten. Den allegorischen Landschaftsraum dominieren hier zwei Gewässer, ein Fluss und ein Meer, die – wie in der Metaphorik der frühneuzeitlichen Erbauungsliteratur28 – Zeit und Ewigkeit räumlich repräsentieren. Der Patriot wird von einem Schutzengel am Ufer des Zeitenflusses entlang bis zu dessen jäher, wasserfallartiger Einmündung ins „Grund= lose Meer der Ewigkeit“29 geführt. Von Orientierungsproblemen im unbekannten Gelände wie auch von Schwierigkeiten, das Gesehene zu deuten, bleibt er dank seines himmlisch-allwissenden Begleiters verschont. Als jenseits von Zeit und Ewigkeit stehender, vom Geschehen distanzierter Beobachter kann er zunächst das Treiben unzähliger Bootsreisender auf den letzten Metern des Zeitenstroms verfolgen und später aus der privilegierten Vogelperspektive zuschauen, wie es ihnen im Ewigkeitsmeer ergeht.

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28

29

Manfred Engel: Traumtheorie und literarische Träume im 18. Jahrhundert. In: Scientia Poetica 2 (1998), S. 97-128, hier S. 108. Vgl. Hubert Lengauer: Zur Sprache Moralischer Wochenschriften. Untersuchungen zur rhetorischen Vermittlung der Moral in der Literatur des 18. Jahrhunderts. (Dissertationen der Universität Wien 126) Wien 1975, S. 160. Hier beschreibt Lengauer die vielfache Überlagerung „weltanschaulich […] disparate[r] Momente“ in den Wochenschriften plastisch als Ausdruck ihres Erscheinens in einer Umbruchszeit. Ein gutes, allerdings aus dem katholischen Raum stammendes Beispiel für die spätbarocke Entfaltung der Bilder vom Fluss der Zeit und Meer der Ewigkeit ist die 37. Predigt in Wolfgang Rauscher: Oel und Wein Deß Mitleidigen Samaritans Für die Wunden der Sünder. 2. Teil. Dillingen 1690. Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 121.

Erkenntniswege und Übungsgelände

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Auf den ersten Blick scheint man mit dieser Traumschilderung einen spätbarocken Text vor sich zu haben, der abgesehen von seinem Erscheinungsort in einem frühaufklärerischen Periodikum30 wenig mit der Aufklärung zu tun hat. Doch passen immerhin die Argumentation am Beginn und am Ende der Traumerzählung und das in ihr gewählte Belehrungsverfahren durchaus zu dem in der Frühaufklärung propagierten Konzept moralischer Unterweisung, das eingangs am Beispiel von Gottscheds Weltweisheit skizziert wurde. Wie der Leser am Beginn der Traumerzählung erfährt, wundert sich der Patriot vor dem Einschlafen darüber, dass sich so viele seiner Mitbürger bei ihrer Lebensgestaltung kaum um ihr jenseitiges Los bekümmern, obwohl sie doch an das ewige Leben glauben.31 Die Erklärung für ein solches Verhalten sieht er darin, dass die Menschen, geblendet von der langen Spanne der mutmaßlich noch vor ihnen liegenden Jahre, „nur einen geringen und gar matten Begriff von der Ewigkeit haben, die hinter derselben [der langen Lebenszeit, M. D.] erst anfängt“.32 Der Patriot und der reale Verfasser des Blattes vermuten offensichtlich, genau wie Gottsched, dass viele Menschen zwar bereits über ein bestimmtes moralisches Wissen verfügen (d. h. in diesem Fall den Zusammenhang zwischen diesseitigem Tun und jenseitiger Strafe kennen), dieses aber nicht lebhaft genug vor Augen haben, um es in ihrem Handeln zu berücksichtigen. Der folgende Traumbericht sagt diesem Missstand im konkreten Fall den Kampf an, indem er sich, wie etwa von Christian Wolff und später von Gottsched gefordert,33 um eine sinnliche Verlebendigung bzw. „bildliche Konkretisierung“34 des ethischen Wissens bemüht. Das gewählte Verfahren der moralischen Unterweisung entspricht den späteren Vorschlägen Gottscheds für die Bekehrung eines Lasterhaften auch insofern, als am Ende des Traumes „sehr lebhafte Beschreibungen“35 des aus der Tugend folgenden Glückszustands gegeben werden. Der träumende Patriot lässt sich – darin gleichsam als Vorbild seiner Leser agierend – emotional stark von seinem Blick auf das Meer der Ewigkeit, insbesondere von einer Lichtvision berühren, die ihm vor dem Erwachen aus der Richtung der „glückseeligen Inseln“36 zuteilwird. Am Ende des Traumes erläutert der Schutzengel dem Träumenden die erzieherische Absicht hinter der intensiven Glückserfahrung, die mit dem Blick ins Licht jener Inseln einhergeht. Durch sie animiert soll der

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34 35 36

Zu beachten ist, dass der Traumbericht deutliche Parallelen zu Stück 139 des Spectator aufweist (vgl. Der Patriot [wie Anm. 17], Bd. 4, S. 78). Vgl. ebd., Bd. 1, S. 117-120. Ebd., Bd. 1, S. 119. Vgl. Christian Wolff: Gesammelte Werke. 1. Abt.: Deutsche Schriften. Bd. 4: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit (Reprographischer Nachdr. d. Ausg. Frankfurt/Leipzig 1733). Hg. und eingel. von Hans Werner Arndt. Hildesheim/New York 1976, S. 100-101 u. ö.; Gottsched: Weltweisheit (wie Anm. 1), S. 133. Niefanger: Schreibstrategien (wie Anm. 21), S. 287. Gottsched: Weltweisheit (wie Anm. 1), S. 135. Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 123.

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Patriot (und mit ihm der Leser) sich zukünftig „desto eiffriger den Tugend=Weg zu wandeln [...] bestreben“.37 Wenn im Patrioten zwei Jahre nach der zuletzt betrachteten Traumerzählung ein (realer) Leserbrief abgedruckt wird, der nochmals in Form eines allegorischen Traumes auf den Zusammenhang von diesseitigem Handeln und jenseitigem Befinden eingeht, so soll damit wohl verhindert werden, dass die Leser „an gewisse Wahrheiten nicht oft“ genug „gedenke[n]“ und auf diese Weise der früheren „gute[n] Erkenntniß im Verstande“ wieder verlustig gehen.38 Der Verfasser des Briefs ist der Schweizer Carl Friedrich Drollinger39, der seinen Beitrag allerdings mit dem Pseudonym „Uranophilus“ unterzeichnet. Der allegorische Raum, der in Drollingers Traumerzählung praktisch-philosophisches Wissen vermittelt, weist entscheidende Unterschiede zum Raum des vorangehenden Traumes auf. Insbesondere ist hier jener Raumteil, der das Diesseits repräsentiert, deutlich komplexer gestaltet. Er besteht nicht nur aus einem Fluss, dessen dahinschnellende Fluten die Bootsreisenden ohne Alternative ins Meer der Ewigkeit befördern, sondern aus einer von Pfaden durchzogenen und mit Gebäuden bestückten Landschaft, welche die Menschen auf ihrer Reise zum Schloss der Glückseligkeit zu durchqueren haben. Die Wanderung erweist sich vor allem deshalb als schwierig, weil die Reisenden sich selbst über die von ihnen einzuschlagende Richtung orientieren müssen. Besondere Verwirrung stiften dabei verschiedene menschliche „Wegweiser“, die suggerieren, dass die Glückseligkeit bereits in einer der am Wegesrand stehenden Herbergen zuhause sei. Etliche Reisende werden durch sie vom Schloss, ihrem wahren Ziel, weggelockt.40 Bei der Beschreibung der verschiedenen Herbergen, ihrer Binnenausstattung41 und ihrer relativen Lage zueinander verliert selbst der Leser bisweilen die Orientierung. So wird ihm augenfällig gemacht, wie leicht man den rechten Weg zum (jenseitigen) summum bonum im Labyrinth des Diesseits verlieren kann. Immerhin deutet sich dem Leser von Anfang an die Fragwürdigkeit der trügerischen „Welt-Herbergen“42 an. Die Reisenden selbst erkennen dagegen erst dann, wenn sie sich „auf dem Wege des Guten“ nahe genug an das hochgelegene Schloss der Glückseligkeit herangearbeitet haben, retrospektiv und aus der Vogelperspektive die wahre Beschaffenheit der unter ihnen liegenden Gebäude.43 Von ihrem neuen Standpunkt im Raum aus müssen sie nicht mehr, wie noch

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Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 124. Gottsched: Weltweisheit (wie Anm. 1), S. 138. Vgl. Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 4, S. 403. Vgl. ebd., Bd. 3, S. 164ff. Der Leser erfährt etwa, dass der „Pallast der Ehren“ über einen „Sahl der Herrschsucht“ verfügt (ebd., Bd. 3, S. 165). Ebd., Bd. 3, S. 168. Ebd., Bd. 3, S. 167f.

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am Beginn der Reise, über richtige und falsche Wege rätseln, sondern können Gut und Böse klar unterscheiden, wie Gottsched dies für den vom Laster Bekehrten fordert.44 Wie die vorangehend untersuchte Allegorie steht auch die Traumerzählung Drollingers noch ganz in der Tradition älterer christlicher Allegorien, in denen die schwierige Suche nach dem Heilsweg bzw. die Gefahr, sich auf Irrwegen zu verlieren, wiederholt thematisiert wird – man denke nur an John Bunyans The Pilgrim’s Progress. In den Kontext erbaulich-allegorischer Texte passt insbesondere auch das Auftreten einer mit Kreuz und Bibel versehenen Gestalt in der Traumerzählung, die als einzige den Menschen den richtigen Weg zum Schloss der Glückseligkeit zeigt.45 Zu Recht weist Wolfgang Martens darauf hin, dass die damit implizierte „Abwertung der natürlichen Vernunft des Menschen gegenüber den Weisungen der Religion“ der anderweitig im Patrioten vertretenen Haltung widerspricht.46 Insgesamt erscheint sie für ein Periodikum, das den Leser im Sinne der Aufklärung moralisch zu belehren sucht, eher untypisch. Obwohl die Traumerzählung keine aufklärungsspezifischen Wissensinhalte transportiert und sich in der Raum- und Handlungsgestaltung an traditionell-christlichen Mustern orientiert, hat man sie doch – zumindest auch – als eine Auseinandersetzung mit den geistigen Umwälzungen der Aufklärungsepoche, als allegorische Zeitdiagnose und -kritik zu lesen. Die im Text beschriebene Verwirrung und Orientierungslosigkeit vieler Menschen hinsichtlich des von ihnen einzuschlagenden Wegs verbildlicht auch die Verunsicherung, die mit dem Wandel ethischer Überzeugungen im Übergang zur Aufklärung, insbesondere mit der Säkularisierung der Ethik47 einhergeht. Dass das Zurücktreten christlicher hinter säkularen Entwürfen zur richtigen Lebensgestaltung im Traum des Uranophilus negativ beurteilt wird, zeigt sich schon daran, dass gleich die erste der erträumten trügerischen Herbergen das „Haus der Weisheit“48 ist. Ihm entstammen die Verwirrung stiftenden Wegweiser, die den Menschen vom rechten Pfad treuer Christusnachfolge abzubringen suchen und ihm zu Unrecht „eine Heimat“ und „ein Gefilde des Glücks“ bereits in dieser Welt versprechen.49 In dieser weltlichen Herberge mag der konservative Leserbriefschreiber insgeheim so manchen Aufklärer, der sich der ‚Weltweisheit‘ verschrieben hat, verortet haben. Anders als die beiden bisher untersuchten allegorischen Träume knüpft die nachfolgend zu betrachtende Traumerzählung im 43. Stück des Patrioten in ihrer Raumgestal-

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48 49

Vgl. Gottsched: Weltweisheit (wie Anm. 1), S. 132. Vgl. Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 3, S. 166. Vgl. ebd., Bd. 4, S. 401. Vgl. Wolfgang Martens: Die Flugschriften gegen den Patrioten (1724). Zur Reaktion auf die Publizistik der frühen Aufklärung. In: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag. Hg. von Wolfdietrich Rasch, Hans Geulen und Klaus Haberkamm. Bern/München 1972, S. 515-536, hier S. 526. Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 3, S. 164. Martens: Flugschriften (wie Anm. 47), S. 532.

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tung an die allegorische Tradition nur an, um mit ihr zu brechen.50 Der Erzähler ist hier, abweichend von seiner Situation in den vorangehend untersuchten Traumerzählungen, nicht nur Beobachter des Verhaltens anderer Menschen, sondern selbst zum Handeln gezwungen: Er gerät an die Kreuzung zweier Wege, von denen er einen auswählen und beschreiten muss. Dabei verfügt er nicht über die Vogel-, sondern nur über die Feldperspektive. Aus der Letzteren sieht er zwar noch ein kurzes Stück, nicht jedoch den Endpunkt der beiden vor ihm liegenden Wegalternativen. Zudem fehlen Begleiter und „Weg=Weiser“, die ihn über das jeweilige Ziel der beiden Pfade informieren könnten. Weil der ganz auf sich allein gestellte Träumende sich für Herkules hält und wie der antike Heros in Xenophons Erzählung von Herkules am Scheideweg den Weg der Tugend wählen möchte, glaubt er anfänglich, sich für jenen Pfad entscheiden zu müssen, auf dem sich „die meisten Dornen, Disteln, spitzige[n] Hecken und rauhe[n] Felsen“ ausmachen lassen. Nachdem er sieht, dass einer der Wege im weiteren Verlauf zunehmend von „Dornen und verworrene[n] Hecken“ überwuchert wird, die den in der Ferne wandelnden Personen blutende Wunden bescheren,51 beschreitet er folgerichtig zunächst diesen Pfad, wird aber bereits nach wenigen Schritten unschlüssig. Zögernd überschaut er den Verlauf des anderen Weges, der „immer lieblicher“ und anmutiger wird und in ihm ein „brünstiges Verlangen“ weckt, dorthin zu gelangen. Schließlich entscheidet er sich, vom dornigeren Weg auf diesen zweiten Pfad zu wechseln, der nur an seinem Anfang ein paar Dornsträucher und andere Hindernisse aufweist. Im weiteren Verlauf des Traumes zeigt sich, dass dieser Entschluss richtig war: Der Weg, der immer leichter begehbar wird, führt direkt zum Tempel der Tugend.52 Bei der als Wahl zwischen zwei Wegen verbildlichten ethischen Entscheidung erprobt der Patriot im virtuellen Übungsgelände des nur geträumten Raumes nacheinander zwei verschiedene Handlungsstrategien. Bei seinem ersten Versuch orientiert er sich an traditionellen Verhaltensmustern, wie sie neben Xenophons Erzählung auch das biblische Gleichnis vom schmalen und vom breiten Weg in Mt 7,13f. nahelegt.53 Da ihn diese jedoch, wie er selbst noch rechtzeitig merkt, keineswegs zu einem tugendhaften Menschen machen würden, vertraut er im zweiten Anlauf auf sein eigenes Urteilsvermögen, er folgt seiner „autonomen Vernunft“54 und kann auf diese Weise sein Ziel, den Tempel der Tugend, tatsächlich erreichen. Auch wenn die Traumerzählung im 43. Stück des Patrioten sich primär gegen die bereits im ersten Stück des Blatts55 bekämpfte Annahme richtet, dass ein tugendhaftes Leben mit Leid oder zumindest Unlust

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Vgl. dazu auch grundlegend Peil: Emblematisches, Allegorisches und Metaphorisches im ‚Patrioten‘ (wie Anm. 16), S. 256-260. Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 367. Vgl. ebd., Bd. 3, S. 368f. Vgl. auch ebd., Bd. 4, S. 169f. Lengauer: Zur Sprache Moralischer Wochenschriften (wie Anm. 27), S. 167. Vgl. Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 7.

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verbunden sein müsse, ist sie doch zugleich ein Plädoyer für selbstständige, nicht an der Tradition orientierte Entscheidungen. Der Patriot vollzieht in der Traumerzählung gleichsam im Zeitraffer die von den Wochenschriften angestrebten und in Gottscheds Programm zur „Bekehrung eines Lasterhaften“ anschaulich skizzierten Erkenntnisfortschritte auf dem Gebiet der praktischen Philosophie. Zu Beginn des Traumes verfügt er zwar über den guten Willen, sich für den Weg der Tugend zu entscheiden, welcher dies aber ist, entzieht sich seiner Kenntnis. In der konkreten Entscheidungssituation weiß er nicht, „was zu thun, oder zu lassen sey“56, weil es ihm noch nicht gelingt, „das Böse von dem Guten unterscheiden“57. Hier befindet sich der fiktive Zeitschriftenverfasser wenigstens vorübergehend auf derselben Stufe ethischen Wissens wie die von ihm besonders angesprochenen moralisch unerfahrenen Menschen und mag gerade dadurch das Vertrauen seiner Zielgruppe gewinnen. Während der sorgfältigen Betrachtung der beiden Wegalternativen realisiert der Patriot schließlich doch die entscheidenden Unterschiede zwischen den zwei Pfaden und macht damit bereits erste Fortschritte auf dem Gebiet des moralischen Wissens: Er nimmt am Ende des unrechten Weges „trübe Dunckelheit“, am Ende des Tugendweges eine „reine Heiterkeit“ wahr, die alle auf ihm wandelnden Menschen erleuchtet.58 Für die Wahl des rechten Pfades wird er noch auf der Wanderung selbst belohnt. So lernt er am eigenen Leibe, der Leser aber an seinem Exempel, dass moralisches Wohlverhalten sich unmittelbar auszahlt: Vielfältige „Schönheiten“ und „die herrlichsten Farben“ fallen dem Träumenden in der durchquerten Landschaft „in die Augen“. Mit ihrer unterhaltsam-anmutigen59 Beschreibung wird der Leser zugleich zum Weiterlesen verlockt und gelangt am Ende des Textes mit dem Patrioten in die Gefilde einer wörtlich verstandenen Aufklärung: Im „Tempel der Tugend“60 steht der Träumende in einem „heitere[n] aber zugleich sanffte[n] und liebliche[n] Glantz“, durch den seine „Augen nicht geblendet, sondern vielmehr gestärcket“ werden.61 Insgesamt stützt die zuletzt untersuchte Traumerzählung jene These, die Friedrich Vollhardt allgemein im Hinblick auf die Wissensvermittlung in den Wochenschriften formuliert hat: Nach Vollhardts Ansicht geht die sich um 1700 herausbildende „Individualität durch Exklusion“ mit „erhöhten Anforderungen an die Identitätskonstitution und Verhaltensorientierung“ einher:

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Gottsched: Weltweisheit (wie Anm. 1), S. 78. Ebd., S. 132. Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 3, S. 368. Zur Unterhaltung im Dienst der Belehrung in den Wochenschriften vgl. Elke Maar: Bildung durch Unterhaltung: Die Entdeckung des Infotainment in der Aufklärung. Hallenser und Wiener Moralische Wochenschriften in der Blütezeit des Moraljournalismus, 1748-1782. (Bochumer Frühneuzeitstudien 3) Pfaffenweiler 1995, S. 104-114 u. ö. Mit diesem Ort befasst sich auch Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 2, S. 354-359. Hier hat der Patriot einen Traum, der deutlich als Fortsetzung der Traumerzählung im 43. Stück konzipiert ist. Ebd., Bd. 1, S. 369.

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Um diesen [...] gerecht zu werden, stellen die Wochenschriften Angebote bereit, wobei selbstverständlich auf vorhandene Konstrukte und Modelle zurückgegriffen wird, die man den veränderten Situationen anpaßt; unübersehbar ist jedoch auch der Anteil des neuen, rein säkularen Wissens.62

Im Scheideweg-Traum wird die neuartige säkulare Ethik der Aufklärung, in der die autonomen Vernunftentscheidungen63 des Individuums eine zentrale Rolle spielen, durch minimale, in ihren Konsequenzen allerdings radikale Veränderungen eines traditionellen allegorischen Schemas vermittelt: Der Traum übernimmt aus der antik-biblischen Tradition sowohl das Bild des Pfades, der sich in einen bequemen und einen dornigen Weg gabelt, als auch dessen Ausdeutung als Scheideweg zwischen laster- und tugendhaftem Leben bzw. Verhalten. Nur die konkrete Zuordnung der sich bietenden Wegalternativen zu Tugend und Laster wird hier – folgenreich – variiert.64 Noch selbstständiger gegenüber der Tradition ist eine allegorische Traumerzählung im Stück II,1 der Discourse der Mahlern, in der ein ausführlich beschriebener Landschaftsraum dem Leser auf sinnlich-lebhafte Weise die Einsicht vermitteln soll, dass ein tugendhaftes Verhalten dem Menschen ein glückliches, ja paradiesisches Leben ermöglicht. Wie in der eingangs untersuchten Traumerzählung verfügt der Träumende auch hier über einen Begleiter, der ihm die Orientierung im Raum erleichtert und den Sinn des Geschauten deutend erschließt. Allerdings übernimmt in diesem Fall nicht ein Schutzengel, sondern ein Poet diese Rolle – ein Kunstgriff, mit dem im Text von Anfang an auf die literarische ‚Gemachtheit‘ des nachfolgend beschriebenen Raumes hingewiesen wird. Dem über der Lektüre von Martin Opitz’ Vielguet eingeschlafenen Rubeen erscheint im Traum der schlesische Dichter höchstpersönlich.65 Zum Dank für die Bewunderung, die Rubeen ihm entgegenbringt, möchte er ihn in eine „Gegend“ mitnehmen, „wo die FREUDE und ihre Begleiter das Lachen / die Anmuth / der Hymen / der Schertz / ihren ewigen Auffenthalt haben“.66 Die beiden machen sich auf den Weg und stehen bald auf dem Gipfel eines Berges. Von hier aus können sie in „das schönste Land der Erde“ blicken, das sich am Schluss des Traumes als das von der Freude regier-

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Friedrich Vollhardt: Die Bildung des Bürgers. Wissensvermittlung im Medium der Moralischen Wochenschrift. In: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 105) Tübingen 2006, S. 135-147, hier S. 142. Die Vorstellung, dass der Mensch durch sie „den rechten Weg [...] gehen“ und so zum Guten gelangen könne, ist eine jener Ansichten des Patrioten, gegen die sich in zeitgenössischen Flugschriften Widerspruch regt (Martens: Flugschriften [wie Anm. 47], S. 523). Zu hier nicht behandelten Abweichungen von und Übereinstimmungen mit der Tradition vgl. Peil: Emblematisches, Allegorisches und Metaphorisches im ‚Patrioten‘ (wie Anm. 16), S. 259f. Zu dessen positiver Beurteilung in den Discoursen der Mahlern vgl. Helga Brandes: Die „Gesellschaft der Maler“ und ihr literarischer Beitrag zur Aufklärung. Eine Untersuchung zur Publizistik des 18. Jahrhunderts. (Studien zur Publizistik, Bremer Reihe, Deutsche Presseforschung 21) Bremen 1974, S. 113 u. ö. Bodmer/Breitinger: Die Discourse der Mahlern (wie Anm. 18), Teil 2, S. 1f.

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te Reich der „Glückseeligkeit / eine[r] Tochter der Tugend“, erweisen wird.67 Überfordert durch die „Schönheit“ der im Tal vor ihm liegenden Naturkomponenten, weiß Rubeen kaum, wohin er den Blick wenden soll. Der Dichter Opitz muss hier mit seinen Worten die verwirrten Augen seines Begleiters lenken. Auf diese Weise weckt er in Rubeen schließlich das brennende Verlangen, in das vor ihnen liegende „Paradieß“ hinabzugehen.68 Damit, dass sich Rubeen die aus der Ferne überblickte Landschaft in ihrer Gestalt wie in ihrer Schönheit erst durch das Dichterwort erschließt, verweist der Text autoreflexiv auf die zentrale Bedeutung, die der Literatur bei der Belehrung der moralisch Unerfahrenen zukommt. Sie hat die Aufgabe, ihren Lesern die positiven Folgen eines tugendhaften Lebens so verlockend vor Augen zu stellen, dass diese sich nichts sehnlicher wünschen, als selbst tugendhaft zu werden. Im weiteren Traumverlauf begibt sich Rubeen leibhaftig in das Land, das den Tugenden – und damit zugleich den tugendhaften Menschen – vorbehalten ist.69 Dort werden ihm zahlreiche positive Sinneswahrnehmungen zuteil, die er aus der distanzierten Vogelperspektive noch nicht in dieser Intensität genießen konnte: In der fruchtbaren Landschaft, in der sich Blumen und Früchte zu gleicher Zeit finden, füllen sich die Sinne des von großer innerer „Freude“ ergriffenen Rubeen mit intensiven Wohlgerüchen, Vogelgezwitscher und herrlichen optischen Eindrücken zu gleicher Zeit.70 Durch die dichterische Vermittlung allein kann, so macht der zweite Teil von Rubeens Traum deutlich, nur ein schwacher Abglanz jener Glückseligkeit wahrgenommen werden, die der Mensch empfindet, wenn er selbst tugendhaft wird. Der Leser, den die Schönheiten der geschilderten Landschaft zur Nachfolge verlocken sollen, hat gegenüber dem Träumenden einen entscheidenden Nachteil: Er kann sich zwar mit Leib und Seele der Tugend verschreiben und dann auch mit seiner Physis wie mit seiner Psyche die Freuden eines tugendhaften Lebens genießen, doch wird er das von Rubeen erträumte bzw. von Bodmer und Breitinger entworfene Paradies und auch alle zuvor betrachteten allegorischen Traumlandschaften nie leibhaftig betreten können.71 Dabei ist es, wie das 23. Stück des Patrioten zeigt, durchaus möglich, Traumgefilde zu entwerfen, die ihren Lesern in gewisser Weise real zugänglich sind.

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Bodmer/Breitinger: Die Discourse der Mahlern (wie Anm. 18), Teil 2, S. 6f. Ebd., Teil 2, S. 3. Vgl. ebd., Teil 2, S. 7. Ebd., Teil 2, S. 4. Jesko Reiling weist in seiner Deutung des Traumes aus den Discoursen der Mahler zwar darauf hin, dass die von Rubeen auf dem Berg erblickte Landschaft frappierende Ähnlichkeiten mit einer realen Region, nämlich der Gegend um Zürich, aufweise – vgl. Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698-1783). (Frühe Neuzeit 145) Berlin/New York 2010, S. 95-97. Allerdings unterstreicht er selbst im weiteren Verlauf seiner Deutung gleichzeitig auch die Idealität – oder genauer: die topisch-utopische bzw. mythische Beschaffenheit – der amoenen Landschaft (vgl. ebd., S. 97-103). Der Traum-

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Schon der Beginn der Traumerzählung in diesem frühen Stück der Hamburger Wochenschrift erinnert in auffälliger Weise an die bisher noch nicht weiter berücksichtigte Einleitung des zuletzt betrachteten Textes. Hier wie dort hat der Erzähler auf einem Spaziergang einen baumbeschatteten Rastplatz aufgesucht und bewundert, bevor er einschläft, die Schönheit der ihn umgebenden Natur (Rubeen allerdings widmet sich, wie erwähnt, parallel dazu der Opitz-Lektüre).72 Hier wie dort sinkt der Erzähler frohen Mutes in den Schlaf, betont aber zugleich seine geistige Wachheit innerhalb des Traumes. So heißt es im Patrioten: „Meine Seele aber schien in diesem Schlaff fast noch wachsahmer zu seyn, als vorher“,73 während Rubeen beteuert: „Jch ware indessen nicht weniger lebhafft / als da ich wachend gewesen [...]“.74 Weiterhin setzen beide Erzähler im Traum zunächst ihre dem Einschlafen vorangehenden Beschäftigungen fort. Der Patriot nimmt seine Wanderung wieder auf („mich dauchte, daß ich noch beständig in dieser lustigen Gegend fort wandelte“75) und Rubeen stellt sich weiterhin das Gelesene vor sein geistiges Auge: „die Bildnissen die sich damalen in meine Jmagination gemahlet / stellten sich mir nacheinander wieder vor“.76 Auch die weiteren Traumverläufe weisen noch einige Parallelen auf: Beide Erzähler gelangen auf eine Bergspitze und können von dort aus eine liebliche Landschaft überblicken und einen wunderbaren Duft riechen.77 In beiden Fällen ist die von ihnen betrachtete, paradiesische Landschaft von Gewässern (einem Fluss und einer größeren Wasserfläche) geprägt.78 Nicht nur die Parallelen zwischen den beiden Traumerzählungen machen es wahrscheinlich, dass der später entstandene Text des Patrioten gezielt auf jenen aus den Discoursen der Mahlern anspielt,79 sondern auch die Unterschiede, von denen zwei besonders markant sind: Erstens wird der Patriot, anders als Rubeen, nicht von Opitz auf den Berggipfel geführt und in seinen Landschaftsbetrachtungen angeleitet. Er gelangt vielmehr ohne fremde Hilfe und ohne Begleitung an diesen Ort. Zweitens erkennt der Patriot beim Erwachen, dass sein „Traum kein blosser Traum, sondern wahr, gewesen“ ist.

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Erzähler Rubeen selbst betont, wie sich im Folgenden zeigen wird, den Traumcharakter und die Unerreichbarkeit der dargestellten Landschaft. Vgl. Bodmer/Breitinger: Die Discourse der Mahlern (wie Anm. 18), Bd. 2, S. 1; Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 192f. Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 193. Bodmer/Breitinger: Die Discourse der Mahlern (wie Anm. 18), Teil 2, S. 2. Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 193. Bodmer/Breitinger: Die Discourse der Mahlern (wie Anm. 18), Teil 2, S. 2. Vgl. ebd., Teil 2, S. 3; Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 194f. Vgl. Bodmer/Breitinger: Die Discourse der Mahlern (wie Anm. 18), Teil 2, S. 3; Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 195f. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis Jörg Scheibes, dass (mindestens) einer der Herausgeber des Patrioten, Johann Albert Fabricius, die Discourse der Mahlern besessen hat. Siehe dazu Jörg Scheibe: Der „Patriot“ und sein Publikum. Untersuchungen über die Verfassergesellschaft und die Leserschaft einer Zeitschrift der frühen Aufklärung. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 109) Göppingen 1973, S. 179.

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Das im Traum Geschaute ist „nicht ein eingebildetes Schatten=Werck, sondern eine natürliche und mit allen Umständen eintreffende Landschafft“, die sich geographisch gerade an jenem Ort lokalisieren lässt, an dem der Patriot eingeschlafen ist: Denn kurtz: ich befand mich auff dem Hamburgischen Wall, wo ich alles auffs genaueste vor mir sahe, und wo ein jeder mit wachenden Augen eben diese Vergnügung finden kann, die ich für dasmahl im Schlaff daselbst genossen.80

Rubeen hingegen realisiert nach dem Aufwachen „mit [...] Schmertzen [...] / daß alles was ich gesehen und empfunden ein blosses Werk der Jmagination / und ein falscher Traum gewesen“.81 Vor dem Hintergrund dieser zweiten Differenz der beiden Träume erscheint die erste Abweichung wenig überraschend. Die Begleitung des Träumenden durch einen Dichter wäre im 23. Stück des Patrioten unpassend, weil das darin geschaute Paradies – anders als das Land der Freude in den Discoursen der Mahlern – nicht einfach ein Produkt dichterischer Phantasie ist. Nicht nur für den Patrioten selbst, also innerhalb der Fiktion, existiert das im Traum geschaute Land rund um den „Hamburgischen Wall“ tatsächlich, sondern auch für den Leser. Letzteres ist, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, für die konkrete moralische Lehre, die der Patriot im weiteren Verlauf des 23. Stücks aus seinem Traum entwickelt, von entscheidender Bedeutung. Einige Tage nach seinem Traumerlebnis trifft der Patriot auf dem Wall einen Bekannten, dem er seine erträumten Landschaftseindrücke so schildert, als habe er sie „auff [...] Reisen“ gewonnen. Er bittet ihn zu raten, auf welche Landschaft sich seine Darstellung beziehe. Der selbst weit gereiste Mann kann zwar Ähnlichkeiten zwischen der Schilderung des Patrioten und von ihm besuchten Weltgegenden ausmachen, doch glaubt er, „so wenig diesen Ort selbst gesehen zu haben, als einen andern, der in allen so vortheilhafften Abbildungen damit überein käme“.82 Daraufhin zeigt ihm der Patriot „auff unserm eigenen Wall, und nur auff einer Seite desselben, alles von Stück zu Stück mit Fingern“ und belehrt ihn dadurch eindrücklich über die schädliche Gewalt der Tyrannischen Gewohnheit, welche uns aller gegenwärtigen Glückseligkeit beraubet, indem sie, durch die von ihr herrührende Unachtsamkeit, die Krafft unserer Seele dermassen schwächet, daß wir zwar Augen und Ohren haben, jedoch ohne zu sehen oder hören. [...] Aus dieser gifftigen Quelle fliessen 1.) der Undanck gegen GOTT, 2.) eine Vergessenheit Seiner Gegenwart, 3.) ein Mißtrauen zu seiner Allmacht und Weisheit,

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Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 196f. Bodmer/Breitinger: Die Discourse der Mahlern (wie Anm. 18), Teil 2, S. 8. Vgl. dazu – wie überhaupt zum Traum aus den Discoursen der Mahlern – Thomas Koebner: Zurück zur Natur. Ideen der Aufklärung und ihre Nachwirkung. Studien. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3 121) Heidelberg 1993, S. 14. Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 197.

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4.) eine beständige Unzufriedenheit, die uns unser gantzes Leben verdrießlich [...] macht, ja wol gar, durch anhaltende Verstockung, in den tieffsten Schlund einer ewigen Unzufriedenheit versencket.83

Alle diese moralisch weitreichenden Erkenntnisse, zu welchen der Patriot seinen Lesern in diesem Stück seiner Wochenschrift verhelfen möchte, können nur durch die Referenz auf einen Raum gewonnen werden, der einen jedermann zugänglichen Teil der göttlichen Schöpfung darstellt. Selbst der geistreichste allegorische Raum wäre – als bloße Fiktion – ungeeignet, ein Exempel für die Güte und Weisheit abzugeben, die Gott bei der Ordnung der Welt walten ließ bzw. lässt. Auch wenn die Belehrung für die Hamburger Leser des Patrioten die größte Anschaulichkeit besitzt, da sie den im Text angesprochenen Ort kennen und am leichtesten selbst in Augenschein nehmen können, hofft der kosmopolitisch eingestellte fiktive Verfasser84, nicht nur die Hamburger zur Dankbarkeit für ihr schönes Lebensumfeld zu bewegen, sondern alle Leser zur Reflexion über die Vorteile ihres jeweiligen Heimatorts zu bringen: Jeder „Ort von der Welt“ hat, so beteuert der Patriot, ebenso wie Hamburg durch die Güte Gottes „sein Gutes und seine Annehmlichkeit“.85 Die kosmopolitische Geisteshaltung des Patrioten wird auch an der Gestaltung des erträumten Raumes selbst deutlich: Im Traum wird Hamburg nicht etwa als ein in sich abgeschlossener städtischer Raum entworfen, sondern das Stadtgebiet ist durch sein Gewässernetz und die darauf fahrenden Schiffe innig mit der Welt verbunden, also im Wortsinne welt-offen. Insbesondere die Annehmlichkeiten der Hansestadt werden wesentlich auf ihre Verbindungen zum näheren Umland und zu entfernteren Weltregionen zurückgeführt. So erblickt der Patriot kurz vor dem Erwachen auf dem erträumten (Elb-)Fluss ‚schwimmende Inseln‘, also Schiffe, die „Oel und Wein“ transportieren. Zusammen mit „Butter und Milch“ von den nahe gelegenen Elbinseln werden sie in das fruchtbare, mit „Pallästen“ bebaute Tal transportiert, durch welches in der Traumerzählung Hamburg verkörpert wird.86 Der Reichtum Hamburgs und die durch ihn ermöglichte schöne Gestaltung der Hansestadt basieren, so lautet eine der Lehren der Traumerzählung, vor allem auf den Warenströmen, die in die Stadt einfließen. Für die Gegenwart und die Zukunft ergibt sich aus der Mitwirkung der Welt am Reichtum und an der Schönheit Hamburgs die Verpflichtung der Hamburger zum Kosmopolitismus. In einer Zeit, in der wohl auch in diesem Handelszentrum der „Horizont“ vieler Einwohner „über die Kirchtürme der Stadt und ihres Gebietes nicht hinausging“,87 ist eine solche implizite Argumentation durchaus bemerkenswert.

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Der Patriot (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 197f. Zu dessen Weltbürgertum vgl. auch ebd., Bd. 1, S. 1 u. ö. Ebd., Bd. 1, S. 198. Ebd., Bd. 1, S. 196. Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. Hamburg 1982, S. 273.

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Zu beachten ist, dass der erträumte Raum kein ganz realistisches, sondern ein leicht verschlüsseltes bzw. verfremdetes Bild der Stadt Hamburg entwirft. Durch auf den ersten Blick surreale Elemente wie die ‚schwimmenden Inseln‘ wird dem Leser vor allem die Deutungsbedürftigkeit des im Traum Gesehenen augenfällig gemacht. Er kann auf diese Weise leichter erkennen, dass der Raum trotz seiner Referenz auf eine real existierende Stadt zugleich allegorische (und zudem auch utopische) Züge trägt. So verweist die in einem Satz erfolgende Nennung von Wein und Milch auf den Bibelvers Jes 55,1, in dem Gott den Durstigen diese beiden Flüssigkeiten verheißt. Aber auch unabhängig voneinander lassen die genannten Flüssigkeiten Wein, Milch und Öl den christlich sozialisierten Leser an verschiedene, heilsgeschichtlich zentrale Bibelpassagen denken. Ein mit Palästen bebauter Ort, an dem sie in Fülle vorkommen, gemahnt an das gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen,88 aber in seiner Idealität und Üppigkeit auch an das Paradies und an das „neue Jerusalem der Apokalypse“89, das im Übrigen einen der klassischen Wissensräume des Christentums darstellt. Überlagert sich in der Traumschilderung die reale Topographie Hamburgs mit dem Bild jenseitiger bzw. endzeitlicher Heilsorte, so mag damit eine gewisse Säkularisierung der Letzteren angestrebt werden: Wer das Paradies betreten will, muss, so könnte eine implizite Botschaft der Traumerzählung lauten, damit nicht erst auf das Jenseits warten. Es existiert schon im Diesseits, und zwar gerade im alltäglichen Lebensumfeld vieler Leser des Patrioten. Zugleich allerdings dürfte die Darstellung der Stadt Hamburg als ein von Gott mit allen Vorzügen gesegnetes irdisches Paradies auch das Vertrauen des Lesers darauf zu stärken suchen, dass der bereits das Diesseits so paradiesisch gestaltende Schöpfer für den tugendhaften Teil der Menschheit auch im Jenseits einen Garten Eden vorsieht.

4. ‚Einrichtungsknigge‘ und ‚Wohnraumphysiognomik‘. Die Vorteile der Vermittlung ethischen Wissens durch nicht-erträumte Räume Alle bisher untersuchten Raumdarstellungen haben eine wesentliche Gemeinsamkeit: Der Träumende wie auch die anderen im Traum vorkommenden Menschen finden den erträumten Raum in all seinen einzelnen „Strukturen“ bereits fertig vor. Der Raum erscheint ihnen somit „als ein a Priori, als etwas Gegebenes“.90 Wo der Träumende die Traumlandschaft unter der Führung eines Begleiters durchschreitet bzw. überschaut, ist

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Vgl. 2 Mos 3,8 u. ö. Wandhoff: Von der antiken Gedächtniskunst zum mittelalterlichen Seelentempel (wie Anm. 22), S. 17. Sabrina Schrammel: Überlegungen zur räumlichen Analyse von Bildungs- und Erziehungsprozessen. In: Orte des Lernens. Lernwelten und ihre biographische Aneignung. Hg. von Rudolf Egger u. a. (Lernweltforschung 3) Wiesbaden 2008, S. 91-99, hier S. 97.

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er in seinem Verhältnis zum Raum noch weiter eingeschränkt: Es ist ihm in diesem Fall noch nicht einmal möglich, sich zum Raum auf unterschiedliche Weise zu „verhalten“.91 Blickt man auf die in der Fiktion erster Stufe dargestellten, also nicht-erträumten Räume der Wochenschriften so zeigt sich, dass es hier zu den in ihrer Gestalt vorgegebenen Räumen eine Alternative gibt. Um beide Raumtypen begrifflich zu trennen, empfiehlt sich die Unterscheidung zwischen ‚gegebenen‘ und ‚hergestellten‘ Räumen.92 Anders als in den soziologischen und pädagogischen Kontexten, in denen diese Terminologie erarbeitet wurde, sollen hier allerdings zu den ‚hergestellten‘ Räumen ausschließlich solche räumlichen Gebilde gezählt werden, deren Gestaltung den Vorgaben eines einzelnen Subjekts (und nicht etwa eines Kollektivs) folgt. Hierunter fallen in den Wochenschriften alle durch ihre Besitzer geprägten Häuser und größeren Liegenschaften, Wohnungen und einzelnen Zimmer. Durch den Entwurf solcher ‚hergestellten‘ Räume lassen sich die Leser auf vielerlei Weise belehren: Zunächst können diese dreidimensionalen Gebilde genau wie die ‚gegebenen‘ Räume der Traumerzählungen abstraktes ethisches Wissen allegorisch verbildlichen. Dies ist etwa bei der Schilderung der Bibliothek des Landadligen Sophroniscus im Biedermann der Fall,93 deren Ausgestaltung innerhalb der Fiktion alle Bewohner und Besucher des Landguts ethisch unterweist, während sie außerhalb der Fiktion den Lesern das frühaufklärerische Tugendprogramm anschaulich vor Augen stellt. Weiterhin bieten die muster- bzw. mangelhaft gestalteten Anwesen, Wohnungen und Einzelräume den Lesern ein Vorbild bzw. abschreckendes Exempel für die eigene Raumgestaltung. Die Rezipienten können also das Wissen über die hergestellten Räume innerhalb der Fiktion der Wochenschriften bei der ‚Herstellung‘ realer eigener Räume berücksichtigen und so aus den Raumschilderungen einen ganz praktischen Nutzen für ihren Alltag ziehen (besonders geeignet für diesen Zweck ist die Beschreibung der idealen Wohnverhältnisse bei der Familie des Sophroniscus,94 die zugleich eindrucksvoll die ethische Relevanz der Wohnraumgestaltung zeigt). Schließlich ermöglichen die ‚hergestellten‘ Räume in den Wochenschriften direkte Rückschlüsse auf ihre ‚Hersteller‘. In den Anwesen, Häusern und Zimmern, die in der Fiktion dieser Periodika als reale Räume entworfen werden, drückt sich unmissverständlich und für jeden Außenstehenden nachvollziehbar die individuelle95 psychische,

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Schrammel: Überlegungen zur räumlichen Analyse von Bildungs- und Erziehungsprozessen (wie Anm. 90), S. 97. Vgl. etwa ebd. Gottsched: Der Biedermann (wie Anm. 11), Teil 1, S. 7. Vgl. ebd., Teil 1, S. 5-11 passim. Genau betrachtet lässt sich hier allerdings, ähnlich wie bei den ‚Moralischen Charakteren‘, selten reine Individualität, sondern eher eine „Verbindung von Typischem und Individuellem“ nachweisen. Siehe dazu Gerhard Sauder: Moralische Wochenschriften. In: Deutsche Aufklärung bis zur

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insbesondere moralische Verfasstheit derjenigen aus, die sie bewohnen. Diese Räume haben damit eine ähnliche Funktion wie die zahlreichen vorgeblich naturwissenschaftlich-technischen oder magischen Instrumente, mit denen die aufklärerischen Wochenschriften ihren Lesern das verborgene Innere der Menschen zugänglich machen.96 Während allerdings der Gebrauch der geheimnisvollen Gerätschaften allein den Wochenschriftenverfassern vorbehalten bleibt, kann sich in der ‚Wohnraumphysiognomik‘, bei der aus dem Erscheinungsbild einer bestimmten Wohnung der moralischen Zustand ihres Besitzers abgeleitet wird, grundsätzlich jeder üben, der einen bestimmten Wohnraum vor Augen hat – insbesondere natürlich derjenige, der durch die Lektüre der moralischen Periodika in dieser Methode geübt ist. Die Technik, vom Wohnraum auf die Seele zu schließen, könnte vom sie beherrschenden Leser im Einzelfall sogar zur Selbsterkenntnis anhand der Betrachtung des eigenen Domizils eingesetzt werden.97

5. Synopsis Überblickt man abschließend noch einmal, auf welche Weise die Wochenschriften erträumte und nicht-erträumte, gegebene und hergestellte Räume für die Vermittlung moralischen Wissens instrumentalisieren, so wird man einer erheblichen Methodenvielfalt gewahr. Zwar gilt für alle Räume, die im Rahmen der Vermittlung moralischen Wissens entworfen werden, dass sie „nicht in ihrem Sein an sich […] relevant“, sondern nur insofern von Bedeutung sind, als „sie mit unseren moralischen Entscheidungen in Zusammenhang gebracht werden“.98 Letzteres allerdings kann auf unterschiedliche Weise geschehen. So können die Räume etwa als allegorischer Schauplatz des Handelns und Entscheidens selbst fungieren, sie können das Gelände darstellen, in dem die Menschen die Konsequenzen ihres Handelns (Lohn und Strafe) zu spüren bekommen, sie können die für das menschliche Handeln zentralen guten und bösen Eigenschaften einzelner Menschen oder Menschengruppen augenfällig machen oder ihre Betrachter durch ihre ideale Verfasstheit für eine moralisch bessere Grundhaltung zu gewinnen suchen.

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Französischen Revolution 1680-1789. Hg. von Rolf Grimminger. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 3) München 1980, S. 267-279, hier S. 276. Vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, S. 54f. Zur Propagierung der „vernünftige[n] Selbstkontrolle“ und „ständige[n] Selbstreflexion“ in den Moralischen Wochenschriften vgl. am Beispiel des Patrioten Hans-Gerd Winter: „Leide, meide und hoffe nach Vorschrift der Vernunft.“ – Aufklärung und Disziplinierung als Programm in der Moralischen Wochenschrift „Der Patriot“ (1724-1726). In: Hamburg im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Hans-Gerd Winter und Inge Stephan. (Hamburger Beiträge zur öffentlichen Wissenschaft 6) Hamburg 1989, S. 137-160, hier S. 145f. u. ö. Lengauer: Zur Sprache Moralischer Wochenschriften (wie Anm. 27), S. 183f.

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Wenn die Räume in den Wochenschriften so vielseitig zur Vermittlung moralischen Wissens instrumentalisiert werden, so erklärt sich dies zum einen daraus, dass die Aufklärung eine umfassende moralische Erziehung des Menschen anstrebt. Zum anderen aber gewährleistet der vielseitige Einsatz der Räume gemeinsam mit weiteren literarischen Strategien der frühaufklärerischen Periodika einen Abwechslungsreichtum, der überhaupt erst die Voraussetzung für die Erziehung durch Wochenschriftenlektüre schafft. Einem Blatt, das zusätzlich zu den pädagogisch unvermeidlichen inhaltlichen Wiederholungen99 auch in seiner Darbietungsweise von einer Wiederkehr des Immergleichen geprägt wäre, würde kein Leser über Jahre hinweg wöchentlich die Treue halten.

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Vgl. Sauder: Moralische Wochenschriften (wie Anm. 95), S. 269.

Medien der Wissensgenerierung und Wissen über Medien

Helmut Zedelmaier (München) Suchmaschinen in der Frühen Neuzeit

„Verstaatlicht Googles Buchmaschine“ – unter diesem Aufruf setzte sich Robert Darnton 2009 in der FAZ mit den Auswirkungen der neuen elektronischen Medien auf das Publizieren auseinander.1 Er stellte in dem Artikel das Monopol in Frage, das sich die Suchmaschine Google über das Einscannen von Millionen Büchern aufbaut. Darnton sieht durch Googles Geschäftsmodell die öffentliche Zugänglichkeit von Wissen in Gefahr, wie sie bislang öffentliche Bibliotheken garantierten. Als „Türhüter des Internets“, so Darnton, wird Google als „Zöllner“ fungieren, der die Maut für den Wissenszugang erheben kann, und, wenn man Google nicht Schranken setzt, ergänzt Darnton, auch wird. Darnton, Historiker und Bibliotheksleiter in Harvard, parallelisiert in seinem Artikel die Gegenwart des Internets mit der Erfindung des Buchdrucks. Er zitiert aus einem Brief aus dem Jahr 1471, zwanzig Jahre nach Gutenbergs Erfindung, den Niccoló Perotti (1429-1480) an Francesco Guarnerio schrieb. Darin feiert Perotti die „neue Art zu schreiben“ als „göttliches Geschenk“: „Ich habe sage und schreibe einen einzigen Mann in einem einzigen Monat so viel drucken sehen, wie früher von vielen Leuten kaum in einem Jahr geschrieben werden konnte“. Deshalb sei er zur Hoffnung verleitet worden, „dass kein einziges Buch mehr daran gehindert würde, in den Druck zu kommen“. Doch Perotti zeigt sich enttäuscht über die Auswirkungen der neuen Technologie: „Denn weil jetzt jeder weiß, dass er frei ist zu drucken, was immer er mag, wird nicht mehr nur geschrieben, was das Beste ist, sondern vieles nur, um zu unterhalten, und vieles, was besser vergessen würde und ausradiert aus all den Büchern. Und selbst wenn sie etwas schreiben, das es wert ist, verderben sie es so sehr, dass es besser wäre, auf diese Bücher zu verzichten als sie, übertragen in tausend Kopien, in allen Provinzen der Welt zu verbreiten […].“2

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Robert Darnton: Verstaatlicht Googles Buchmaschine. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 238 (14.10.2009), S. N5. Perottus, Nicolaus: Cornucopiae sive linguae latinae commentarii diligentissime recogniti atque ex archetypo emendati. Venedig 1513, Sp. 1033, (22. Juni 2011): „Solebam nuper aetati nostrae gratulari […] magnum quoddam ac vere divinum beneficium hac tempestate adepti essemus, ob novum scribendi genus e

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Helmut Zedelmaier

Soweit Darnton bzw. der von ihm aufgerufene Perotti. Perottis Aussage über den BuchBuchdruck wurde knapp 30 Jahre später in eine ‚Suchmaschine‘ eingespeist. „Nichts ist vergleichbar mit der neuen Art zu schreiben“, heißt es 1499 fast wörtlich wie bei Perotti in einem De inventoribus rerum überschriebenen Buch. An einem Tag könne jetzt ein Mann so viele Schriften drucken wie früher zahlreiche Personen kaum in einem Jahr schreiben konnten. Der Überfluss an Büchern führe laut Polydorus dazu, dass es kein Werk mehr gebe, das sich ein Mensch, sei er auch noch so bedürftig, noch wünschen könne.3 Der Verfasser ist der italienische Humanist Polydorus Vergilius (um 1470-1555). Sein Buch De inventoribus rerum ist eine Art Enzyklopädie der Ursprünge menschlicher Erfindungen. Mit weit über hundert Ausgaben gehört es zu den erfolgreichsten Druckwerken des 16. und 17. Jahrhunderts. Die meisten Ausgaben erschienen in lateinischer Sprache; aber auch über 30 Übersetzungen ins Deutsche, Französische, Italienische, Englische, Spanische und Holländische wurden gedruckt.4 Polydorus hat Perottis Aussage zum Buchdruck verkürzt, ohne seine Quelle nachzuweisen. Die beiden Kernaussagen sind aber klar zu identifizieren: Die „neue Art zu schreiben“ führt zu einer enormen Beschleunigung bei der Reproduktion von Büchern; die neue Technik und die dadurch veränderten (marktorientierten) Bedingungen der Buchproduktion setzen traditionelle Selektionsmechanismen der Wissensvermittlung außer Kraft. Die Aussage von Perotti bzw. Polydorus wird in zahlreichen Druckwerken des 16. und 17. Jahrhunderts wiederholt. Das hat auch mit dem großen Erfolg der Erfinderenzyklopädie des Polydorus Vergilius zu tun. Ich habe sie als ‚Suchmaschine‘ bezeichnet. In welcher Hinsicht man Werke von der Art, wie

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germania nuper ad nos delatum. videbam enim tantum uno mense ab uno homine hoc tempore imprimi literarum posse, quantum vix toto anno scribi alias a pluribus potuisset. […] ex qua re tantum brevi tempore librorum copiam sperabam, ut nullum superfuturum esset opus, quod vel ab inope atque egeno homine posset amplius desyderari. Hinc fore existimabam ut vigerent in dies magis ingenia hominum, et florerent studia literarum, omnesque ad capessendas praeclaras artes tanta librorum commoditate allicerentur. iam vero, o vanas hominum cogitationes, longe aliter, quam sperabam video rem succedere. nam cum liceat unicuique pro libidine animi sui quaecumque velit, imprimere, fit ut omissis saepenumero quae optima sunt, ea scribant placendi gratia, quae obliterari potius ac deleri ex omnibus libris deberent. Et siquid scribunt boni, ita pervertant atque corrumpant, ut melius sit his libris carere, quam in exemplaria mille transcriptos per orbis omnes provincias mittere, ne scilicet studiosis occasio detur tot mendacia legendi.“ Polydorus Vergilius: De inventoribus rerum libri tres. Venedig 1499, hier benutzt in der kritischen Edition von Brian P. Copenhaver: Polydore Vergil: On Discovery. (The I Tatti Renaissance Library 6) Cambridge (Mass.)/London 2002, S. 244 (deutsche Übersetzung vom Verfasser): „Fuit illud [sc. die Einrichtung bzw. Erweiterung von Bibliotheken] igitur omnino magnum mortalibus munus, sed nequaquam conferendum cum hoc […] reperto novo scribendi genere. Tantum enim uno die ab uno homine literarum imprimitur quantum vix toto anno a pluribus scribi posset. Ex quo adeo disciplinarum omnium magna librorum copia ad nos manavit ut nullum amplius superfuturum sit opus quod ab homine quamvis egeno desiderari possit.“ Vgl. die Dokumentation unter (25. August 2011) (dort auch die einschlägige Forschungsliteratur zu De inventoribus rerum).

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sie Polydorus Vergilius verfasste, als Suchmaschinen verstehen kann und wie sie funktionierten, diesen Fragen will ich im Folgenden nachgehen. Ein Instrument der Funktion ‚Suchen‘ ist in der Frühen Neuzeit konstitutiv: der index.5 Übersetzt bedeutet index ‚Zeige-Finger‘. So steht es noch in Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon.6 Der Begriff index steht damit eng mit den figurativen Verweisen in Verbindung, die Leser in mittelalterliche Manuskripte und noch in frühneuzeitliche Drucke zeichneten, um dadurch loci des Textes hervorzuheben. Indices, die als alphabetische Listen einem Buch voran- oder nachgestellt sind und den Inhalt des Buches erschließen, entstanden in der mittelalterlichen Scholastik.7 Schon das Wissen spätmittelalterlicher Enzyklopädien wird mit Hilfe von indices erschlossen. Dadurch verbesserten sich die Möglichkeiten des lautlosen und visuellen Lesens. Indices dienen der facilitas inveniendi, dem effektiven und schnellen Auffinden von Wissen, wie bereits der spätmittelalterliche Enzyklopädist Vincenz von Beauvais schreibt.8 Der Begriff index bezeichnet aber nicht nur den Buchindex, sondern auch unterschiedliche Formen und Methoden, auf Bücher und deren Inhalte zu verweisen. Inhaltsverzeichnisse von Texten (indices capitum) und etwa auch Resümees heißen indices. Sicherlich förderten die Standardisierung der (äußeren) Textform, die allmähliche Vereinheitlichung der Schrifttypen und die Identität gedruckter Texte die Rationalisierung der gelehrten Lektüre. Doch die neue Produktionstechnik mit beweglichen Lettern verfeinerte nur bereits eingeführte Verfahren einer rationellen Textorganisation und der ihr korrespondierenden, nicht mehr nur linearen Leseweisen, die sich über 300 Jahre vor dem Buchdruck an mittelalterlichen Universitäten verbreitet hatten. Im Verlauf der Frühen Neuzeit differenzierten sich die Buchindices. Insbesondere Enzyklopädien wurden nicht nur durch einen, sondern durch mehrere alphabetische indices erschlossen. Neben den index verborum tritt der index rerum (gebräuchlich ist auch die Unterscheidung von index grammaticus und index philosophicus), neben den index der lateinischen derjenige der griechischen Begriffe. Auch indices auctorum, indices locorum scripturae sacrae oder indices geographici entstehen. Viele Buchindices des Spätmittelalters und noch des 16. Jahrhunderts sind alphabetisierte indices capitum, d. h. sie verweisen allein auf die Überschriften der einzelnen Kapitel oder Paragraphen.9 Das trifft etwa auf die indices der frühen Ausgaben von De inven-

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Vgl. Helmut Zedelmaier: Facilitas Inveniendi. The Alphabetical Index as a Knowledge Management Tool. In: The Indexer 25.4 (2007), S. 235-242. Johann Heinrich Zedler: Grosses Vollständiges Universal-Lexikon. Band 14. Graz 1995, Sp. 635. Vgl. Mary A. Rouse und Richard H. Rouse: La naissance des index. In: Histoire de l’édition française. Hg. von Henry-Jean Martin und Roger Chartier. Bd. 1. Paris 1982, S. 77-85. Vgl. Vincenz von Beauvais: Speculum Historiale, zitiert nach Anna-Dorothee von den Brincken: Tabula Alphabetica. Von den Anfängen alphabetischer Registerarbeiten zu Geschichtswerken (Vincenz von Beauvais OP, Johannes von Hautfuney, Paulinus Minorita OFM). In: Festschrift für Hermann Heimpel. Bd. 2. Göttingen 1972. S. 900-923, hier S. 905. Vgl. Beispiele für diese Index-Typen in der in Anm. 4 angeführten Dokumentation.

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Helmut Zedelmaier

toribus rerum zu. Viele Buchindices sind zudem noch im 16. Jahrhundert nur nach dem ersten Buchstaben alphabetisiert. Auch hierfür sind die Indexeinträge zu deutschen Ausgaben von De inventoribus rerum ein Beispiel.10 Innerhalb der Buchstaben des Alphabets sind die Einträge nach der Seitenfolge geordnet, d. h. die Stichworte oder Sentenzen mit identischen Anfangsbuchstaben wurden so, wie sie im Text aufeinander folgen, ins Register gesetzt. Enzyklopädien des 16. und 17. Jahrhunderts sind überwiegend systematisch geordgeordnet. Doch besaßen große Enzyklopädien seit dem Spätmittelalter in pragmatischer Hinsicht eine doppelte Funktion: Sie waren nicht nur systematische Wissenschaftskunden und Wissenschaftstheorien, sondern (eben über ihre alphabetischen indices) immer auch alphabetische Nachschlagewerke. Die Ordnung des Wissens besaß damit seit den Anfängen enzyklopädischer Wissenssummen in der Scholastik einen alphabetischen index, auch wenn die Pragmatik der bloß alphabetischen Orientierung als unwissenschaftlich galt. Das veranlasste noch die französischen zyklopädisten, die alphabetisch geordnete Encyclopédie durch einen systematischen Vorspann sowie ein differenziertes Verweissystem wissenschaftlich abzusichern.11 che Verweise gibt es bereits in Enzyklopädien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Schon Albertus Magnus erkannte in der alphabetischen Ordnung einen „modus non philosophicus“, da die Ordnung nach dem bloßen Alphabet den Zusammenhang des Wissens zerreiße; doch liege die Anwendung des Alphabets, so verteidigt Albertus die Verwendung von alphabetischen indices, im Interesse der Nutzer.12 Buchindices erschließen das innere Wissen eines Buches. Sie tun das, wie gezeigt, auf unterschiedliche und zunehmend differenzierte Weise. Zugleich verselbständigt sich im 16. Jahrhundert die Funktion ‚Suche‘. Es entstehen nun Werke, die bloße indices sind. Das prominenteste Werk dieser Art ist die 1545 gedruckte Bibliotheca universalis von Konrad Gessner (1516-1565).13 Sie verzeichnet Informationen zu Autoren und ihren Büchern, alphabetisch geordnet nach den Namen der Autoren. Gessner verweist den Nutzer seines Werks, das er selbst index nennt, nicht auf die Informationen in seinem Buch, sondern auf externe Informationsquellen. Zu den einzelnen Autoren finden sich Nachrichten über deren Leben und Werke, Angaben zu Editionen und Handschriften, auch Inhaltsreferate, Kapitelüberschriften, Auszüge (besonders von Vorworten) und

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Vgl. z. B. das Register der ersten deutschen Ausgabe (Polydorvs Vergilivs Vrbinas. Uon den erfyndern der dyngen. Augsburg 1537) unter (24.1.2012). Vgl. Zedelmaier: Facilitas Inveniendi (wie Anm. 5), S. 239. Vgl. Albertus Magnus: De animalibus libri XXVI. Liber XXIII, zitiert nach Heinz Meyer: Ordo rerum und Registerhilfen in mittelalterlichen Enzyklopädiehandschriften. In: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 315-339, hier S. 322. Vgl. Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 33) Köln/Weimar/Wien 1992, S. 10-124.

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Beurteilungen. Insgesamt verzeichnet Gessner annähernd 3.000 Autoren mit ca. 10.000 Werken. Manchmal beschränkt sich die Information auf eine Zeile, manchmal erstreckt sich der Eintrag zu einem Autor über mehrere Folioseiten. Nicht alle Gesichtspunkte sind also gleichmäßig und systematisch bei jedem Autor bzw. Werk berücksichtigt. Gessner stellte einfach das Informationsmaterial zusammen, das ihm zur Verfügung stand. Das Material, schreibt er einleitend, habe er von überall her zusammengetragen: „aus Katalogen von Druckern [...], aus Verzeichnissen von Bibliotheken, auch aus den Bibliotheken selbst, öffentlichen wie privaten, die ich in ganz Deutschland und Italien sorgfältig eingesehen habe, aus Briefen von Freunden, aus Berichten von Gelehrten und schließlich aus Schriftstellerkatalogen“.14 Das in Gessners index verzeichnete Material verdankt sich also drei Praktiken: erstens der Verwertung von Informationen, die auf Lektüre, insbesondere von Bibliotheks- und Buchhandelskatalogen, gründen; zweitens der Inserierung vorliegender Schriftstellerkataloge und drittens der Autopsie. Wichtig ist Gessner, dass die Informationen möglichst exakt sind und für den Nutzer transparent hinsichtlich ihrer Quellengrundlage. Deshalb vermerkt er jeweils, wenn es sich um Informationen aus zweiter Hand handelt. Die Quelle, der er die Information entnahm, ist im Eintrag verzeichnet, als Kurztitel oder Sigle, welche auf eine Belegliste verweisen, die im Anschluss an das Vorwort verzeichnet ist. Finden sich im Eintrag exakte Informationen wie Druckort und Druckjahr oder die Anzahl der Blätter ohne weitere Quellenhinweise, zeigt das an, dass die Angaben auf Autopsie gründen. Einschränkende Bemerkungen wie „audio“ oder „ni fallor“ weisen hingegen darauf hin, dass die Informationen nicht gesichert sind.15 Wie gesagt: Gessners index verweist nicht auf seinen Inhalt, nicht auf sich selbst, vielmehr auf die externe Welt gelehrten Wissens. Er informiert über mögliche Lektüren, ist eine virtuelle Bibliothek. Im Unterschied zu realen Bibliothekskatalogen, die einen konkreten Bücherbestand repräsentieren, deren Suchfunktion allerdings in der Frühen Neuzeit erst schwach ausgeprägt war, sind die in der Bibliotheca universalis verzeichneten Bücher nicht an einem konkreten Ort vereint, und im Unterschied zu Buchhandelskatalogen geht es nicht um einen Ausschnitt bestimmter Bücher, sondern möglichst um deren Gesamtheit, zumindest der gelehrten Bücher, denn Gessner verzeichnet nur Bücher, die in Hebräisch, Griechisch und Latein verfasst sind. Gessner misst der genauen Angabe der Quellen seiner Informationen deshalb so großen Wert bei, weil er den Nutzer zu den Büchern selbst führen will. Ob sich dieser Weg für ihn lohnt, muss er selbst entscheiden. Gessner gibt nur möglichst exakte Informationen, die es erlauben,

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Konrad Gessner: Bibliotheca universalis, Zürich 1545, Epistola nuncupatoria, *Fol. 3r: „Materiam operis undecunque corrasi: ex catalogis typographorum […], ex Bobliothecarum elenchis, tum Bibilothecis ipsis passim, et publicis et privatis, in Germania, Italiaque diligenter inspectis, ex litteris amicorum, ex narratione doctorum hominum, denique ex Catalogis scriptorum […].“ Vgl. Zedelmaier: Bibliotheca universalis (wie Anm. 13), S. 24f.

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dies zu entscheiden, und möglichst exakte Adressen, damit der Weg zum gewünschten Ziel führen kann. 1548 publizierte Gessner einen weiteren Teil seiner Bibliotheca universalis, die sogenannten Pandectae. Die Pandectae sind nicht alphabetisch, sondern systematisch geordnet. Während im ersten Teil der Bibliotheca universalis nur nach Autoren gesucht werden kann, ermöglichen die Pandectae die Suche nach Sachen. Die Suche wird jetzt nicht vom formalen Alphabet regiert, sondern von den Strukturen der gelehrten Wissensordnung. Gessner setzt sie pragmatisch an, d. h. ausgehend von der Hierarchie der akademischen Wissensfächer seiner Zeit. Davon ist das oberste Ordnungsprinzip der Pandectae mit seinen 21 Wissensfächern deutlich geprägt. Jedes Wissensfach wird durch tituli weiter aufgegliedert. Die tituli repräsentieren die zentralen Kategorien oder die Namen von literarischen Gattungen des jeweiligen Wissensfachs. Listen solcher tituli sind der Darstellung der einzelnen Wissensfächer vorangestellt. Den tituli zugeordnet zugeordnet finden sich loci communes. Der Nutzer der Pandectae ordnet also seine spezielle Fragestellung zuerst dem entsprechenden Wissensfach zu, dann einem der diesem Wissensfach vorangestellten tituli. Schließlich arbeitet er den passenden titulus auf der Suche nach seiner Frage durch. Trifft er auf einen locus communis, der seiner Frage korrespondiert, findet er diesem zugeordnet einen oder auch mehrere Autorennamen, meist mit Verweisen auf bestimmte Kapitel ihrer Werke. Diese Belege kann er im ersten Teil der Bibliotheca universalis nachschlagen und erhält so das dort verzeichnete Informationsmaterial zu seiner Fragestellung oder zumindest eine Adresse, um es auffinden zu können. Loci communes bezeichnen in den Pandectae allgemeine thematische Gesichtspunkte und Stichworte, d. h. spezielle Themen aus dem Feld der gelehrten Überlieferung. Solche loci communes, schreibt Gessner, sammeln die Gelehrten während ihrer Lektüre in „commentarii“ oder „libri chartacei“, d. h. in Exzerptbüchern, und zwar unterteilt nach bestimmten Titeln und Klassen.16 Eigentlich habe er, heißt es im Vorwort der Pandectae, alle Werke, die der erste Teil der Bibliotheca universalis verzeichnet, nach loci communes gliedern wollen. Doch dieses Projekt sei nicht einlösbar gewesen.17 Gessner dachte an eine möglichst umfassende Aufschlüsselung der im ersten Teil der Bibliotheca universalis verzeichneten Texte nach den in ihnen behandelten Themen und Gegenständen. Dieses Material wollte er dem Kategoriennetz der Pandectae zuordnen, damit dem Nutzer eine möglichst große Vielfalt an Gesichtspunkten zu seinen Fragestellungen zur Verfügung steht. Schon allein die Anzahl der 10.000 Werke, die der erste

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Konrad Gessner: Pandectarum sive partitionum universalium libri XXI, Zürich 1548, Fol. 24r (recte: Fol. 23r): „Huiusmodi locos plaerique studiosi in Commentarios seu chartaceos libros, certis titulis et generibus rerum distinctos, varia lectione colligunt [...].“ Ebd., Praefatio, *Fol. 3r: „Sciendum est igitur, eadem omnia authorum scripta, quae primo Tomo recensentur, secundum authorum nomina alphabeti ordine, repetita hic esse, et pro argumenti ratione per locos communes disposita: quanquam non ea qua vellem diligentia, omnia ex primo Tomo descripta sint [...].“

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Teil der Bibliotheca universalis verzeichnet, lässt den utopischen Anspruch dieses Projekts ermessen, unmöglich zu bewerkstelligen von einem einzelnen Gelehrten in einem überschaubaren Zeitrahmen. So behalf sich Gessner mit einer Methode, die der Komposition enzyklopädischer Literatur seit ihren Anfängen in der Spätantike zugrunde lag, von ihm jedoch auf eine neue, indexgestützte Weise durchgeführt wurde. Gessner wertete vor allem enzyklopädische Werke aus Antike, Mittelalter und Humanismus aus. Daraus ergaben sich etwa 37.000 loci communes. Das auf die Ordnungskategorien verteilte Themenmaterial der Pandectae ist also nicht bzw. genauer: nur sehr selten mit bestimmten Werktiteln identisch. Das zeigen schon die den Stichworten jeweils zugeordneten Autorennamen, die auf die Artikel des ersten Teils der Bibliotheca universalis verweisen. Sie sind nämlich meist mit Zahlen versehen, die sich auf bestimmte Bücher oder Kapitel eines Werks beziehen, in denen das jeweils verzeichnete Thema behandelt wird. Diese Belegangaben verweisen aber überwiegend auf enzyklopädische Literatur. Am häufigsten hat Gessner die Lectiones antiquae des Humanisten Caelius Rhodiginus ausgeschöpft, an antiken Werken u. a. die Naturalis historia von Plinius dem Älteren, an mittelalterlichen u. a. Vincenz von Beauvais. Auch die Erfinderenzyklopädie von Polydorus Vergilius gehört zu seinen hauptsächlichen Quellen. Vergleicht man die in den Pandectae aufgelisteten und belegten Themen und Stichwörter mit ihren Quellen, dann zeigt sich deutlich Gessners Arbeitsweise. Gessner wertete vor allem die diesen Büchern beigegebenen indices aus und verteilte die Einträge dann als loci communes auf die tituli der einzelnen Wissensfächer. Der Nutzer konnte sich dadurch im Feld des gelehrten Wissens orientieren: Seinen Fragen korrespondierte ein Netz von Fachbegriffen, die diesen zugeordneten loci communes verwiesen ihn auf diejenigen Stellen der gelehrten Überlieferung, die mögliche Antworten auf seine Fragen anboten. Die Notwendigkeit seiner Suchmaschine begründet Gessner programmatisch mit der unüberschaubar angewachsenen Buchproduktion. Sein index soll es dem Nutzer ermöglichen, in der Fülle der gelehrten Überlieferung das für ihn Brauchbare finden zu können. Der Suchprozess selbst bleibt ihm überlassen.18 Da die Suchmaschine den Nutzer auf die Bücher selbst verweist, um Antworten auf seine Frage zu bekommen, ist Gessner auch ein Programmatiker der Bibliotheksorganisation. Denn wenn die Bücher selbst nicht auffindbar sind, läuft auch das am besten organisierte Suchsystem ins Leere. Bibliotheken, argumentiert Gessner, sind deshalb als öffentliche, nicht als private Bibliotheken zu organisieren, damit der gelehrte Nutzer (und eben nur an diesen denkt Gessner) frei über die darin versammelten Wissensschätze verfügen kann. In dieser Hinsicht ist Gessner ein Vertreter des open access, den die Möglichkeit, sein Suchsystem mit einer Volltextsuche zu verknüpfen, gewiss begeistert hätte. Die durch den Buchdruck geschaffenen Bedingungen der Buchproduktion hat Gessner allerdings wie der eingangs zitierte Perotti kritisch gesehen. Zwar scheine die Druckkunst, die ars typographica, zur Erhaltung der Bücher wie geschaffen, heißt es im

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Vgl. Zedelmaier: Bibliotheca universalis (wie Anm. 13), S. 99-107.

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Vorwort der Bibliotheca universalis, doch erschienen viele Lappalien und unnütze Schriften –unter Vernachlässigung alter und besserer Schriften. Deshalb sei es notwendig, jene „verwirrende und schädliche Vielzahl der Bücher“ einzuschränken. Doch die Entscheidung darüber, wie die „ungezügelte Lust des planlosen Schreibens“ gestoppt werden könne, wolle er Gelehrteren, geeignete Maßnahmen aber Königen und Fürsten überlassen.19 Gessner fordert also regulierte, institutionell gesicherte und kontrollierte Bedingungen der Buchproduktion. Seine Open-access-Initiative beschränkt sich auf Gelehrte. Ihnen soll sein Suchsystem den Weg in offene Bibliotheken weisen. Dagegen beanspruchte die katholische Kirche die Kontrolle sowohl über die Produktion der Bücher als auch über die Systeme, die Nutzern den Zugang zu Büchern eröffnen, also über die Suchsysteme. Als sich allerdings Institutionen der katholischen Kirche daran machten, mit Hilfe von indices den Zugang zu Büchern zu kontrollieren, waren sie technisch hoffnungslos unterlegen.20 Sie konnten nicht auf neuere Kataloge katholischer Gelehrter über den Buchbestand zurückgreifen. So mussten sie vor allem den Suchsystemen der Gegner, die sie bekämpfen wollten, vertrauen, für die Orientierung über den Gesamtbestand gelehrter Bücher auf Gessners Bibliotheca universalis (und seiner Fortsetzer). Die Indices librorum prohibitorum des 16. Jahrhunderts schöpften ihr Wissen zu wesentlichen Teilen aus den Suchmaschinen protestantischer Gelehrter (die wiederum als besonders gefährliche Bücher auf den Index kamen). Doch produzierte der Wille zur umfassenden Kontrolle der Bücher präzise Identifikationen. Besonders die gedruckten Indices expurgatorii zeichnet eine bestechende, gleichsam moderne Präzision der Verzeichnung aus. Mit alphabetischen indices universales und internen Verweisnetzen ausgestattet, verzeichnen sie zu expurgierende Ausgaben mit Angaben zu Autor, Titel, Erscheinungsort und Erscheinungsjahr, häufig auch zum Verleger. Sie geben exakte Hinweise zur Identifikation der Stellen, die getilgt, verbessert oder durch andere Formulierungen ersetzt werden sollen. Auch die zu tilgenden Worte und Satzteile in Inhaltsverzeichnissen, gedruckten Randglossen und alphabetischen Registern sind penibel vermerkt. Und die Indices expurgatorii verweisen durch

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Gessner: Bibliotheca universalis (wie Anm. 14), Epistola nuncupatoria, *Fol. 3r-4r: Quamvis enim ars typographica librorum conservationi nata videatur, ut plurimum tamen nostri temporis hominum nugae, et inutilia scripta, vetustis et melioribus neglectis, in lucem eduntur [...]. Sed quomodo fieri possit ut confusa et noxia illa librorum multitudo circumcidatur, et in singulis disciplinis optima certaque volumina deligantur, quod Iustinianus imperator in Iure suo tempore fecit: et cum aliunde tum ex barbaris praecipue selectis quae insunt bonis, caetera seponantur: et arguantur authorum furta, ac millies repetita, tollantur: denique in posterum temere scribendi libido coerceatur, aliter in infinitum progressura: doctioribus deliberandum, regibus deinde et principibus perficiendum relinquo. Ego quod labore magis quam ingenio praestare potui, omnibus velut in campum eductis, eligendi copiam feci.“ Vgl. Helmut Zedelmaier: Das katholische Projekt einer Reinigung der Bücher. In: Autorität der Form – Autorisierungen – Institutionelle Autorität. Hg. von Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn und Winfried Schulze. (Pluralisierung & Autorität 1) Münster 2003, S. 187-203.

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die Verwendung von Folio- und Seitenangaben auf bestimmte Ausgaben, d. h. sie beschränkten sich nicht auf die bis dahin übliche gelehrte Praxis des bloßen Verweisens auf Buch und Kapitel. Paul Saenger hat deshalb den Antwerpener Index expurgatorius von 1571 als Ursprung „of the modern system of scientific reference in scholarly discourse“ beschrieben.21 Gessners Bibliotheca universalis ist sicherlich ein prominentes Suchsystem mit nachhaltiger Wirkung. Doch es ist keineswegs das einzige, das sich frühneuzeitlichen Nutzern anbot, um sich in Zeiten des „information overload“22 orientieren zu können. Ein anderes System entwickelte etwa Theodor Zwinger mit seinem Wissenstheater.23 Zwingers indices bestechen durch die Raffinesse des Verweisens auf die internen Wissensschätze seines Wissenstheaters, das in der Ausgabe von 1586, der letzten zu Zwingers Lebzeiten publizierten Ausgabe, 4.500 Seiten im Folioformat umgreift.24 Zwinger privilegiert die innere Erschließung, nicht, wie Gessner, den Verweis auf externe, virtuelle Bücherwelten. Andererseits versteht er sein Unternehmen als Modell eines interdisziplinären und internationalen Gemeinschaftsprojektes, in das nach Art von Wikipedia jeder Gelehrte sein gesammeltes Wissen einspeisen soll.25 Moderne Suchmaschinen wie Google und Internetplattformen wie Wikipedia funktionieren sicherlich technisch ganz anders als ihre frühneuzeitlichen, buchgestützten Gegenstücke. Doch ermöglichten bereits indices wie derjenige Gessners raffinierte Zugänge zum Wissen der gelehrten Bücherwelt ohne mühseliges Konsultieren vieler Bücher. Die indices verweisen, schreibt Mitte des 17. Jahrhunderts Georg Philipp Harsdörffer über ihre Notwendigkeit und Funktion, „gleichsam mit dem Finger“ darauf, „wo eines oder das ander zu finden“, da doch „keiner die Zeit hat / alle und jede Bücher zu durchlesen“.26

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Paul Saenger: Benito Arias Montano and the Evolving Notion of Locus in Sixteenth-Century Printed Books. In: Word & Image 17 (2001), S. 119-137, hier S. 137. Vgl. dazu Ann Blair: Reading Strategies for Coping with Information Overload ca. 1550-1700. In: Journal of the History of Ideas 64 (2003), S. 11-28. Theodor Zwinger: Theatrum vitae humanae. Basel 1565 u. ö. Vgl. zu Zwinger jetzt: Ann M. Blair: Too Much To Know. Managing Scholarly Information before the Modern Age. New Haven/London 2010, S. 193-202, S. 239-250. Vgl. Helmut Zedelmaier: Navigieren im Textuniversum. Theodor Zwingers Theatrum vitae humanae. In: metaphorik.de 14 (2008), S. 113-135, unter (24.1.2012). Zwinger: Theatrum (wie Anm. 23), Praefatio, S. 29: „Rogatos interim volo omnes doctos et eruditos viros, qui Rempub. literariam studijs suis promovere possunt atque volunt, ut si quos vel exemplorum, vel sentantiarum reconditos habent thesauros, eos in commune depromere, et universo orbi in huius Theatri structura perficienda operam locare velint.“ Georg Philipp Harsdörffer: Delitiae Philosophicae et Mathematicae. Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden Dritter Teil. Hg. und eingel. von Jörg Jochen Berns. Neudruck der Ausgabe Nürnberg 1653. (Texte der frühen Neuzeit 3) Frankfurt a.M. 1990, S. 57.

Rosmarie Zeller (Basel) Das Gespräch als Medium der Wissensvermittlung

1. Gespräch und neues Wissen Die Frühe Neuzeit hat eine besondere Vorliebe für das Gespräch als Medium zur Vermittlung von Wissen und hat zu dessen Rechtfertigung einen eigenen Diskurs entwickelt, der im Folgenden kurz dargestellt werden soll, bevor auf einige konkrete Beispiele der Umsetzung von Wissen im Gespräch näher eingegangen werden soll. Wie immer im 16. und 17. Jahrhundert, wenn es um die Legitimierung einer Gattung geht, beruft man sich auf ein antikes Vorbild, in diesem Fall auf Platons Dialoge. Allerdings fehlt Platons Dialogen der Aspekt des geselligen und höflichen Umgangs, der für die Gespräche des 16. und 17. Jahrhunderts kennzeichnend ist, weshalb die italienische Forschung zurecht darauf hingewiesen hat, dass das eigentliche Vorbild der zahlreichen Gesprächstexte Baldessare Castigliones Il Libro del Cortegiano ist.1 Dieses Muster wurde im Europa der Frühen Neuzeit v. a. durch die italienischen Akademien des 16. Jahrhunderts übernommen, die das Gespräch als Medium der Wissensvermittlung gepflegt haben und auch als Begründer des Diskurses über das Gespräch als Art der Wissensvermittlung betrachtet werden müssen. Der Mensch, so schreibt Bargagli in seinem Lob der Akademien, ist ein sprechendes Tier, ein dialogisierendes Tier („animal conversevole“), welches im geselligen Umgang nach der Wahrheit und dem Guten sucht.2 „Das Wissen beginnt in der Konversation und endet in der Konversation“, schreibt Stefano Guazzo in seiner 1574 erschienenen Civil conversazione3, und er ist überzeugt, dass die Wissenschaft sich nur entwickeln

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Amedeo Quondam: L’Accademia. In: Letteratura Italiana. Il letterato e le istituzioni. Hg. von Alberto Asor Rosa. Turin 1982, S. 823-898, S. 837. Scipione Bargagli: Delle lodi dell’Accademie. In: ders.: Dell’ Imprese. Venedig 1598, S. 511-545, S. 516. „[…] ‘l sapere comincia dal conversare e finisce nel conversare.“ (Stefano Guazzo: La civil conversazione. A cura di Amadeo Quondam. 2 Bde. Modena 1993, S. 30) Marginalie: „Conversazione & principio, & fine del sapere“. Zu Guazzo in Deutschland, aber nicht unter dem Aspekt des Wissens siehe Emilio Bonfatti: La „Civil Conversazione“ in Germania. Letteratura del comportamento da Stefano Guazzo a Adolph Knigge 1574-1788. Udine 1979.

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kann, wenn der Gebildete in der Konversation, im Umgang mit anderen Gebildeten sich seines Wissens versichern kann, wenn er sich mit anderen Gebildeten unterhalten und mit ihnen diskutieren kann und so sein Wissen überprüfen kann.4 Die Argumentation erinnert an das Verfahren der Disputation, wo es ja auch darum geht, im Dialog die Wahrheit zu finden.5 Guazzo betont, dass die Konversation nützlicher sei als das einsame Lesen von Büchern, weil man besser durch die Ohren als durch die Augen lerne, da sich die lebendige Stimme besser im Gedächtnis eindrücke. Die Einsamkeit des Bücherlesens mache melancholisch und hochmütig. Zudem könne man ein Buch nie fragen, wenn es dunkel sei, so dass man es unzufrieden verlasse. Der Umgang mit den Lebenden sei weit nützlicher als der mit den Toten.6 Dass es sich bei dieser Aufwertung des Gesprächs, das, wie es an einer anderen Stelle heißt, der gemeinsamen Wahrheitsfindung dienen soll, um eine neue (Wissens-)Kultur handelt, zeigt sich an Guazzos Abwertung der Buchgelehrsamkeit und des (Stuben-)Gelehrten, die man auch bei anderen Autoren finden kann, welche sich an der Wissensvermittlung in der Form des Gesprächs beteiligen.7 Deshalb kommt er zum Schluss, dass die Konversation das Ziel und die Perfektion des Wissens sei.8 Die deutschen Autoren bedienen sich derselben Argumentation, um die offensichtlich noch neue Art des Gesprächs als Medium der Wissensvermittlung zu rechtfertigen, so z. B. Georg Philipp Harsdörffer, der als weiteres Argument die besondere Rolle von Gebärden und Stimme für die Unterweisung hervorhebt: Die Art in den Gesprächen zu unterweisen / ist von Anfang der Wissenschaften / zu Zeit der Hebreer und Griechen bekant gewesen / und deswegen füglicher als keine andere / weil man

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„[…] non può il letterato assicurarsi del suo sapere, infin che non viene ad accozzarsi con altri letterati, con i quali discorrendo, e disputando, si certifica del suo valore; […]“ (Guazzo: La civil conversazione [wie Anm. 3], S. 30). Martin Girl: Korrespondenzen, Disputationen, Zeitschriften. Wissensorganisation und die Entwicklung gelehrter Medienrepublik zwischen 1670 und 1730. In: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. von Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 417-438, S. 423. „E voglio dirvi di più, che sarebbe errore il credere, che la dottrina s’acquisti più nella solitudine fra i libri, che nella conversazione fra gli uomini dotti, perciocché la prova ci dimostra, che meglio s’apprende la dottrina per le orecchie, che per gli occhi […] e ricever per l’orecchie quella viva voce, laquale con mirabil forza s’imprime nella mente. Oltre che abbattendovi nel leggere in qualche oscura difficoltà, non potete pregare il libro che ve la dichiari, e vi conviene tal’ ora partirvi da lui malcontento […]. Dal che potete riconoscere quanto più util cosa sia il parlar coi vivi, che coi morti.“ (Guazzo: La civil conversazione [wie Anm. 3], S. 30). Siehe z. B. auch Johann Rist; vgl. dazu Anne-Charlott Trepp: Im „Buch der Natur“ lesen: Natur und Religion im Zeitalter der Konfessionalisierung und des Dreißigjährigen Krieges. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hg. von Anne-Charlott Trepp und Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, S. 103-143, S. 130f. „[…] la conversazione è il vero affinamento, & l’intera perfezione della dottrina […].“ (Guazzo: La civil conversazione [wie Anm. 3], S. 32); „[…]‘l principio e ‘l fine delle scienze dipende della conversazione.“ (ebd., S. 29).

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allerhand Aufgaben / nicht nur mit ja / und nein / sondern auf so vielerley Weise / als der Gesellschafter / oder Gesprächgenossen sind / beantworten kan: Zu geschweigen des Nachdrukks der lebendigen Stimme / der anmuhtigen Geberden / der vielmögenden Bewegungen der Lippen / der holden Mitwürkung der Augen / vnd beschäfftigen Händen […].9

Zesen wiederum betont, er habe das Gespräch gewählt, um nicht langweilig zu sein, was der Fall wäre, wenn er seine Materie auf „schulfüchsische art“ behandelte. […] damit ich also alle verursachte / diese Gespräche zu lesen; damit ich also allen mit solchen süßen und anlokkenden verzukkerungen meinen zweg / (der für sich / wan ich auf schuhlfüchsische art darvon handelte / allen / ich schweige / jungen und lustigen gemühtern / langweilig und verdrüßlich fallen würde / und im lesen einen alzu frühen ekel gebähren /) nicht allein zu vernehmen gäbe / sondern auch die edle Hochdeutsche Zunge zugleich annehmlich machte.10

Es geht also einerseits um ein didaktisches Problem, nämlich, wie man auf angenehme Weise belehren kann. Dieses tritt aber überhaupt erst auf, weil mit dieser Art Literatur ein neues Publikum anvisiert wird, dem eine andere Art von Wissen vermittelt werden soll, als dies im Schulunterricht bzw. an der Universität der Fall ist. Das Bewusstsein, dass es hier um eine neue Art und Funktion des Wissens geht, wird von den Autoren dieser Art von Literatur immer wieder thematisiert. So schreibt etwa Harsdörffer: Wer aus Noht / sich auf eine Haubtwissenschaft begibt / muß seinen Fleiß anderst anwenden / als der / welcher zum Lust studiret / was ihm beliebt / und begierig ist von allen fremden Sachen einen Bericht zu haben / und solchen andern mitzutheilen.11

Und der Pastor Johann Rist beklagt sich darüber, dass die Jugend nicht das Richtige lerne, um sich in Gesellschaft zu bewegen. Ob es gnug sei / und ein Knabe damit bei gelehrten Leuten passiren könne / wen er durch viel Jährige Unterweisung es so weit gebracht / das er auß der Grammaticâ, Terentio, Plauto, und / wie die Heidnische Fabeldichter / (wil nicht sagen lasterhaffte Leute) etwan mehr heissen / so viel Latein gelernet / das er es zur Noht kan reden und schreiben? Jch sage nein / es ist bei weitem damit nicht genug / es wird ein junger Mensch / wen er anders nichtes gelernet hat / als einen Spruch auß dem Terentio, oder etwan ein Exempel auß seinen Grammaticalischen Regulen bei Geselschafften fürzubringen / nur damit außgelachet / den / das sind Reden und Phantaseien / die nirgends zu nützen.12

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Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer-Gesprächspiele (1641-1649). Hg. von Irmgard Böttcher. 8 Bde. Tübingen 1968-1969. Zit. als FZG I-VIII mit den Seitenzahlen des Neudrucks, hier FZG VI, S. 104. Zitiert aus der Einleitung zum Rosen-mând (1651): Philipp Zesen: Sämtliche Werke. Hg. von Ferdinand van Ingen. Bd. 11: Sprach-Übung; Rosen-Mand; Helikonische Hechel; Sendeschreiben an den Kreutztragenden. Bearb. von Ulrich Maché. Berlin/New York 1974, S. 90. Harsdörffer: FZG VIII, S. 36. Siehe auch: „Damit nun gleichwol die libe Jugend / nicht nur blos / durch die Grammaticalische Anweisunge geplaget / sondern auch zu Erlernung mancherlei feiner Wissenschafften bei Zeiten / und zwahr mit Lust möge angeführet werden; So verrichten die Jenige / meines Bedünkens eine sehr feine und nützliche Arbeit / welche jungen Leuten allerhand guhte und erbauliche Sachen / in

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Höhren sie / das man bald von disen / bald von jennen schönen und nützlichen Wissenschaften eine Unterredung anstellet / so sitzen sie da / wie die unvernünfftigen Rinder und Schöpsen / sperren Nase und Maul weit auff / höhren es zwahr an mit Verwunderung / wissen aber / wie andere / das allergeringste dazu nicht zu sagen / oder derogleichen etwas fürzubringen.13

In Rists Ausführungen wird deutlich, dass er eine neue Art des Wissens anstrebt, denn er betont an mehreren Stellen, dass die alte Art des Wissens, welche vor allem aus der Kenntnis der Grammatik und der Schulautoren der Antike stammt, unnütz sei, während die Kenntnis von Geschichte und Staatslehre insbesondere den Adligen nützlicher sei. So erzählt er das Beispiel eines Reichsfürsten, der in seiner Jugend nur lateinische Verse gelernt habe, statt dass er „auß den Bücheren der alten und neuen Geschichtschreiber / Staats- und Weltleüte mit der Zeit sollen erlernen / wie ein fürnehmer Herr / nicht allein recht Fürstlich leben; sondern auch Lande und Leute vernünfftig solte regiren“.14 Stattdessen hätten ihn diese unverständigen Leute und „Schuhlfüchsische Pedanten“ mit Grammatik und Ähnlichem geplagt. Wenn er andere sich von „mancherlei schönen Wissenschafften“ vernünftig unterhalten höre, wünsche er, dass er das auch gelernt hätte. In der Tat ist Rist einer jener Autoren, der in seinen Monatsgesprächen auch Wissen über die Natur vermittelt.15 Die neue Wissenskultur wird vor allem in den italienischen Akademien des 16. Jahrhunderts verkörpert, deren Nutzen Guazzo nicht hoch genug ansetzen kann, sind sie doch Institutionen, die es ermöglichen, die Wissenschaft durch das Gespräch und den geselligen Umgang direkt durch die Ohren in die Seele einfließen zu lassen. Hier hört man nicht nur von einer Wissenschaft etwas, sondern von vielen, hier würden die einen von der göttlichen, die anderen von der menschlichen Geschichte sprechen, die einen von Philosophie, die anderen von Literatur und anderen Materien und ließen so alle an ihrem Wissen teilhaben, das sie sich mühsam und durch ausführliches Studium erworben haben. Obwohl Guazzo sich gegen die Stubengelehrsamkeit ausspricht, ist diese letztlich doch die Voraussetzung dafür, dass in den Akademien das gelehrte Gespräch bzw. die Verbreitung von Wissen überhaupt stattfinden kann. In den Akademien wurden nicht nur die neuen Erfindungen wie Fernrohr und Mikroskop besprochen, es wurden auch alle Arten von Wissenschaften wie Alchemie, Chiromantie und Ähnliches, die

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anmuhtigen Geschichten / lehrreichen Gedichten und wolgesetzeten Gesprächen fürtragen und gleichsahm unvermerket beibringen / das sie also / wen sie schon noch jung sind / gleichwol fast von allen Dingen etwas mit zu reden / und wen sie befraget werden / feine Antwohrt zu geben wissen.“ (Johann Rist: Die Alleredelste Torheit der ganzen Welt […]. Die Alleredelste Belustigung. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5. Hg. von Eberhard Mannack. Berlin u. a. 1974, S. 21f.). Ebd., S. 14f. Ebd., S. 15. Vgl. Misia Sophia Doms: Experiment im Gespräch – Gespräch als Experiment? Diskussionen über die Naturwissenschaften in der barocken Gesprächsliteratur. In: „Es ist nun einmal zum Versuch gekommen“. Hg. von Michael Gamper. (Experiment und Literatur 1, 1580-1790) Göttingen 2009, S. 169-195; Trepp: Im „Buch der Natur“ lesen (wie Anm. 7).

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nicht zu den akademischen Disziplinen gehörten, verhandelt.16 Dieser scheinbare Widerspruch weist darauf hin, dass es in dieser Art von Unternehmungen nicht primär um den Erwerb neuen Wissens geht, sondern um die Divulgierung von Wissen und um die Abgrenzung von jeder Art schulmäßigen Wissens bzw. schulmäßiger Wissensvermittlung, denn zum Adressatenkreis des Wissens gehören nicht länger nur die Gelehrten, sondern ein breiteres Publikum von Gebildeten, les honnêtes gens, wie sie in Frankreich genannt werden. Bezeichnend für diese neue Konzeption des Wissens, der Wissensvermittlung und der Adressaten ist die Rolle, die die Frauen dabei spielen. Sie treten häufig als Gesprächspartnerinnen auf und sind in dieser Eigenschaft, wie Riccardo Bruscagli in seiner Einführung zu Bargaglis Dialogo de’ Giuochi (1572) zurecht bemerkt, weniger sexuell als kulturell konnotiert.17 Ähnliches hat auch Strosetzki18 für Frankreich festgestellt. Frauen fungieren als eine Art Maske, indem sie für ein nicht spezialisiertes Publikum stehen. Sie können, wie Bruscagli sagt, als Bestandteil eines kulturellen Projekts verstanden werden, welches einen Grad tiefer liegt als die ‚seriösen‘ bzw. akademischen Studien der Theologie, Philosophie, der Medizin und der Jurisprudenz, die in dem uns interessierenden Zeitraum noch weitgehend nach scholastischen Prinzipien unterrichtet werden. Die italienische Akademie-Bewegung mit ihrem Einbezug des weiblichen Publikums ist demnach typisch für das Aufkommen eines breiteren Publikums von letterati, von allgemein gebildeten Menschen, welche ein möglichst breites kulturelles Wissen anstreben.19 Explizit erklärt dies ein Autor wie der französische Jesuit Pierre le Moyne, der ebenfalls den Dialog wählt, um in seinen Peintures morales von 1640 ein breites Publikum über die Affekte zu informieren. Die dialogische Form bezeichnet er als eine Art Maske, indem er sagt, er leihe einem anderen seine Stimme. Es ist ihm durchaus bewusst, dass das, was er zu sagen hat, nicht neu ist, wohl aber die dialogische Form, in der er es mitteilt. Er betont, dass er das Thema nicht auf schulmäßige Weise abhandle und dass er auf griechische und lateinische Zitate im Text verzichte und sie nur in den Marginalien anbringe. Seine Absicht ist es, und darin stimmt er mit den italienischen Autoren überein, in diesen Gesprächen die „Honnestes Gens“ zu repräsentieren, um jene, die ihnen gleichen, zu unterhalten und zu belehren.20

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Siehe z. B. die Accademia dei Lincei, die älteste naturwissenschaftlichen Akademie Europas oder die von Giovanni Battista Della Porta gegründete Accademia dei Segreti, welche vom Papst geschlossen wurde, weil sie sich angeblich mit Okkultem beschäftigte. Riccardo Bruscagli: Introduzione a Girolamo Bargagli: Dialogo de’ Giuochi che nelle vegghie sanesi si usano di fare. Hg. von Patrizia d’Incalci Ermini. Siena 1982, S. 19f. Christoph Strosetzki: Rhétorique et conversation. Sa dimension littéraire et linguistique dans la société française au XVIIe siècle. Paris 1984, S. 142. Zum Zusammenhang von weiblichem Publikum und Akademien siehe auch Italo Michele Battafarano: Die Frau als Subjekt der Literatur. Harsdörffer auf den Spuren der Intronati, Incogniti, Oziosi. In: ders.: Glanz des Barock. Bern u. a. 1994, S. 117-136. „C’a esté encore pour le diuertissement du Lecteur, que i’ay chosi le Dialogisme, qui est le genre d’escrire le plus ancien, le mieux authorisé, & le plus agreable. Il est aussi ancien que la Philoso-

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Die Frauen werden denn auch eingesetzt als Adressatinnen von Texten, welche Wissen divulgieren.21 So hat Alessandro Piccolomini sein Buch über die Fixsterne und jenes über die Sphären einer senesischen Dame gewidmet,22 nicht so sehr aus mondäner Galanterie, wie die Forschung bemerkt, sondern stellvertretend für ein Publikum, das weder die lateinische Sprache beherrscht noch mathematische Wissenschaften studiert hat. Typischerweise erzählt Piccolomini in der Vorrede zu Le Sfere del mondo, er habe die Dame einmal im Kreis anderer Damen im Garten beim scharfsinnigen Gespräch getroffen, und da habe sie sich beklagt, dass sie als Frau geboren wurde und nicht studieren konnte und so zu wenig über die Astronomie wisse, die sie so sehr interessiere. Piccolomini füllt also mit seinem Buch diese Lücke und obwohl er kein Gespräch inszeniert, so redet er doch die Dame im Text ständig an, scheint also mit ihr einen Dialog zu führen. Ein anderes berühmtes Beispiel in diesem Zusammenhang sind Fontenelles etwa hundert Jahre später erschienene Entretiens sur la Pluralité des mondes von 1687. Fontenelle thematisiert seine Divulgierungsabsicht in seinem Vorwort: Er befinde sich, schreibt er, in derselben Situation wie Cicero, welchem man vorgeworfen habe, dass seine Arbeit, die griechische Philosophie auf Lateinisch zu verbreiten, unnütz sei, da jene, die sich dafür interessierten, das griechische Original läsen und jene, die sich nicht dafür interessierten, weder lateinisch noch griechisch läsen. Er habe geantwortet, das Gegenteil werde geschehen. Jene, die keine Philosophen seien, würden sich für die Philosophie interessieren, weil die Bücher auf Lateinisch so einfach zu lesen seien, und die anderen, welche Philosophen seien, würden sich dafür interessieren, wie er die Sache auf Lateinisch dargestellt habe. Der Erfolg des Buches hat Fontenelle recht gegeben. Die Autoren solcher Gespräche sehen sich also als eine neue Art von Lehrern, die nicht schulmäßig unterrichten, sondern ein Wissen verbreiten, das nicht der beruflichen Qualifikation dient, sondern in der geselligen Unterhaltung gebraucht werden kann.

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phie, & a l’authorité de Platon, de Ciceron, de Bohece, & de tous les autres fameux Ecriuains, qui ont presté leurs paroles & leurs sentimens à d’autres […]. Quant aux agrémens, il est certain que cette façon d’escrire en doit auoir plus que toutes les autres. Elle a les graces de la Poësie, & n’est pas chargée de ses chaisnes : elle a les diuersitez & les euenemens de l’Histoire, & n’a pas ses seruitudes ny ses contraintes : elles est composée de la construction Oratoire & de la Dramatique : & l’on peut dire que c’est vne Scene ciuile & serieuse, où la conuersation des Honnestes Gens est representée, pour l’instruction & pour le divertissement de ceux qui leur veulent ressembler.“ (Pierre Le Moyne: Le Peintures morales, où les passions sont représentées par tableau, par charactères et par questions nouvelles et curieuses. Paris 1640, Advertissement nécessaire à l’instruction du Lecteur, unpag.). Vgl. Rosmarie Zeller: Die Rolle der Frauen im Gesprächspiel und in der Konversation. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Unter Mitwirkung von Knut Kniesant u. a. hg. von Wolfgang Adam. Teil 1. Wiesbaden 1997, S. 531-541 und dies.: Frauenbildung als Männerideal in der Frühen Neuzeit. In: Geschlecht und Wissen. Hg. von Catherine Bosshart-Pfluger, Dominique Crisard und Christina Späti. Zürich 2004, S. 133-142. Della Sfera del mondo libri quattro (Venedig 1561); Delle Stelle fisse (Venedig 1561; andere Ausgabe Venedig 1570). Gewidmet sind die Bücher Laudomia Forteguerri, Gentildonna Senesi.

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Dies zeigt sich auch deutlich im oben angeführten Beispiel von Rist. Es geht, wie es Harsdörffer ausdrückt, auch um den „Bericht von fremden Sachen“, also weniger um ein systematisches Wissen als um ein Wissen von Kuriositäten, aber auch, wie die wiederholten kritischen Bemerkung zu den Büchern zeigen, um ein Wissen, welches aus der praktischen Erfahrung stammt.23 Marc Fumaroli beschreibt in seinem schönen Beitrag zur Konversation dieses Wissen auf folgende Weise: La réussite d’une telle ‚conversazione‘ suppose en effet chez les interlocuteurs une familiarité préalable avec la sagesse des nations et avec celle qui vient des livres, confrontée à leur expériences propres: ils mettent ensemble et partagent ce savoir tâtonnant sur la vie humaine.24

Die Weisheit der Völker schlägt sich in den Sprichwörtern nieder, die häufig in Konversationsbüchern einen eigenen Index erhalten, aber auch in gewissen Werken, die das Wissen über die Vergangenheit, die Pflanzen und Tiere und das Verhalten der Menschen versammeln. Bezeichnenderweise sagt eine Figur in Harsdörffers Gesprächspielen auf die Frage, welche Bücher zu den Gesprächspielen dienen: „Alle und jede / weil nichts in den Wissenschaften begriffen / so zu den Gesprächspielen nicht solte gezogen werden können.“25 Die Autoren von Gesprächen, die der Wissensvermittlung dienen, bedienen sich ihrerseits meistens enzyklopädieartiger, polyhistorischer Quellen. So finden sich bei Harsdörffer, der seine Quellen anführt, Werke wie Tommaso Garzonis Piazza universale (1626), aus der bekanntlich auch Grimmelshausen ausgiebig geschöpft hat, Guarinonius’ Greuel menschliches Geschlechtes (1610), Pedro Mexías Silva de vario Lección (1603), die Erzählsammlungen von Belleforest, Jean Pierre Camus, Cervantes, Sammlungen von Sprichwörtern, von geographischen Werken, aber auch solche mit eher naturwissenschaftlicher Ausrichtung wie Des merveilles de nature et des plus nobles artifices (1622) eines René François oder die Verité des Sciences (1625) von Marin Mersenne.26 Der neue Rahmen dieser Wissensvermittlung spiegelt sich auch im Raum, in dem solche Gespräche stattfinden. Es sind dies weder Schulstuben noch Studierzimmer, sondern Orte der Geselligkeit wie z. B. Gärten; sie finden auf Spaziergängen und -fahrten oder etwa in einem Landhaus statt, an Orten, die den Charakter eines locus amoenus annehmen können. Die sozialen Unterschiede werden nivelliert, indem die Gesprächspartner für die Dauer des Gesprächs häufig Gesellschaftsnamen annehmen und jeder jedem von seinem Wissen und aus seiner Erfahrung mitteilt. Über die Gespräche als Form der Wissensvermittlung können wir nur reden, weil die Autoren diese wiederum verschriftlicht und ihnen so eine dauerhaft Form gegeben ha-

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Siehe Trepp: Im „Buch der Natur“ lesen (wie Anm. 7), S. 128f. Marc Fumaroli: Le genre des genres littéraires français: la conversation. Oxford 1992. S. 11. Harsdörffer: FZG I, S. 291. Die Aufarbeitung bzw. die Bibliographierung der Quellen von Harsdörffers Gesprächspielen ist nach wie vor ein Desiderat. Siehe die Zusammenstellung einiger Quellen unten im Anhang. Die im Gesprächspiel XLVII angeführten Werke haben alle Anthologie-Charakter.

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ben, welche den dem Gespräch inhärenten Eigenschaften des Spontanen und Vergänglichen widerspricht. Allerdings versuchen die Autoren eine gewisse Spontaneität insofern noch zu simulieren, als sie die Gesprächsgegenstände oft äußeren, scheinbar zufälligen Details entnehmen, die Gespräche durch das Hinzukommen neuer GeGesprächspartner oder durch andere Anlässe unterbrechen bzw. ihnen eine andere WenWendung geben.

2. Gespräche im Kontext der deutschen Kultur Am Beispiel dreier Autoren soll nun die Rolle des Gesprächs für die Vermittlung dieser neuen Art von Wissen an ein weiteres Publikum exemplarisch untersucht werden, an Harsdörffers Gesprächspielen, Zesens Sprachschriften (Hooch-Deutsche Spraachübung 1643, Rosen-mând 1651, Helikonische Hechel 1668) und Rists Monatsgesprächen. Im Gegensatz zu den späteren Autoren, welche sich des Gesprächs zur Wissensvermittlung bedienten, wie z. B. Erasmus Francisci und Eberhard Werner Happel, können die drei genannten Autoren zu den Pionieren derer zählen, die versuchen, eine in Italien eingeführte und in Frankreich weiterentwickelte Kultur der Wissensvermittlung nach Deutschland zu übertragen. Bezeichnenderweise haben alle drei Autoren auch sogenannte Sprachgesellschaften gegründet, deren Funktion für die Einführung neuer kultureller Konzepte des gesellschaftlichen Umgangs und der Wissensvermittlung leider von der Forschung noch immer stark unterschätzt wird, nach wie vor werden sie allzu sehr auf die Rolle der Durchsetzung von ‚Sprachrichtigkeit‘ reduziert: Harsdörffer war Mitbegründer und erster Vorsitzender des Pegnesischen Blumenordens, Zesen hat die Deutschgesinnte Genossenschaft gegründet und Rist den Elbschwanorden, wobei Rist auch Mitglied des Pegnesischen Blumenordens war und die Nürnberger (Harsdörffer, Sigmund von Birken und Johann Klaj) auch Mitglieder in Zesens Deutschgesinnter Genossenschaft. Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächspiele oder einfach Gesprächspiele, wie sie ab dem dritten Band heißen, sind zweifellos das Vorbild vieler deutscher Autoren des 17. Jahrhunderts geworden. Ihr großer Erfolg auch bei Adligen geht unter anderem auf das Bedürfnis zurück, in Deutschland eine neue Wissenskultur einzuführen. Harsdörffer geht es wie seinen Nachahmern darum, eine Anleitung zu geben, „wie bey Ehr- und Tugendliebenden Gesellschaften freund- und fruchtbarliche Gespreche aufzubringen / und nach Beschaffenheit aus eines jeden Sinnreichen Vermögen fortzusetzen. Eingedenk / daß gute Gesprech gute Sitten erhalten.“27 Das Wort ‚Spiel‘ im Titel scheint Harsdörffer nicht so ernst zu nehmen wie das Wort ‚Gespräch‘. Der Unterschied mag für ihn nicht ins Gewicht gefallen sein, wie sich an einer Äußerung von Charles Sorel

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Harsdörffer: FZG I, S. 17.

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zeigt, der in seiner Maison de Jeux, auf die sich Harsdörffer ebenfalls beruft, Gespräch und Spiel in eins setzt: On peut soustenir que tous les Ouurages de Platon ne sont proprement que des Ieux; Car d’introduire des personnes diuerses que l’on fait parler de plusieurs choses selon leur fantaisie, à dessein de rapporter differentes opinions des hommes, c’est vne espece de Ieu.28

Harsdörffer schließt jedenfalls mit seinem Werk direkt an die Publikationen der italienischen Akademien an, in deren Umkreis zahlreiche Spielbücher erschienen sind, die er auch zitiert (Guazzo, Bargagli, Ringhieri). Im Gegensatz zu den italienischen Spielbüchern, die in der Regel nur Anweisungen für die Spiele geben, hat Harsdörffer die Spiele inszeniert, was ein zusätzlicher Hinweis darauf ist, dass es ihm um die Form des Gesprächs und die damit verbundenen Vorteile, dass man verschiedene Meinungen aufeinandertreffen lassen kann, geht. Er lässt die Spiele von sechs Personen spielen, wobei die Gesellschaft in Bezug auf Alter, Geschlecht und Ausbildung eine relativ große Diversität aufweist.29 Hierdurch wird das Ideal, dass die Antworten „auf vielerley Weise“30 erfolgen sollen, garantiert. Varietas ist das Ziel solcher Unterhaltung. Die Titelkupfer zeigen die Gesellschaft in verschiedenen Situationen des Müßiggangs, auf einem Landsitz, auf einer Spazierfahrt, beim Betrachten von Gemälden oder Skulpturen. Diese Situationen geben oft die Inventio für die nachfolgenden Spiele bzw. Gespräche ab. Behandelt werden in den Spielen alle Themen, die man sich vorstellen kann. Diese reichen von den traditionellen Artes liberales, Musik inklusive Tanz, Malerei, Literatur inklusive Theater, Grammatik, Rhetorik, Astronomie, Mathematik bis zu Fragen der Moral, die häufig in narrativer Form abgehandelt werden. Behandelt wird aber auch das ganze neue Gebiet der Natur und ihrer Ausdeutung wie Physiognomik, Chiromantie, Fragen der Naturmagie mit einer Vorliebe für Naturwunder und technische Wunder. Dadurch dass die Spiele relativ kurz sind, wird der Aspekt noch zusätzlich betont, dass es nicht darum geht, ein gründliches Wissen zu vermitteln, sondern vielmehr darum, vieles und vor allem auch Kurioses und Seltsames zu wissen. Als Beispiel sollen die Spiele Nr. XCI und XCV dienen, die sowohl auf ein literarisches wie auch ein technisch-naturkundliches Wissen verweisen. Sie haben zudem einen besonderen Bezug zum ganzen Werk, da sie von Bestandteilen des Emblems, welches Harsdörffer in der Fruchtbringenden Gesellschaft zusammen mit seinem Gesellschaftsnamen bekommen hat, ihren Ausgang nehmen. In die Gesellschaft aufgenommen wurde Harsdörffer wie-

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Charles Sorel: La Maison des Jeux (1657). Avec une introduction, un commentaire, une bibliographie et un index par Daniel A. Gakda. Genf 1977, S. 477. Diese sind: Angelica von Keuschewitz / eine Adeliche Jungfrau, Julia von Freudenstein / eine kluge Matron, Cassandra Schönlebin / eine Adeliche Jungfrau, Reymund Discretin / ein gereistund belesener Student, Vespasian von Lustgau / ein alter Hofmann, Degenwert von Ruhmeck / ein verständiger und gelehrter Soldat. Zur Konzeption dieser Zusammenstellung siehe Zeller: Die Rolle der Frauen im Gesprächspiel (wie Anm. 21). Harsdörffer: FZG VI, S. 104.

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derum aufgrund seiner Gesprächspiele. Das Emblem zeigt u. a. einen Bienenkorb und eine Sonnenuhr. Das Spiel Nr. XCI bezieht sich auf die Zahl sieben, weil auf dem Emblem der Schatten der Sonnenuhr auf diese gerichtet ist, das zweite Spiel bezieht sich auf die Sonnenuhr selbst. Angelica schlägt das Spiel über die Zahl sieben vor, indem sie sagt, es sei leichter, etwas von der Zahl sieben zu erfinden als über die sieben Alter der Menschen zu reden, welchen das vorhergehende Spiel gegolten hat. Sie bemerkt zuerst, dass Gott die Welt in sieben Tagen geschaffen habe, dass er befohlen habe, das siebente Jahr als Sabbatjahr zu halten, und dass die Welt im September erschaffen worden sei. Für diese Aussagen werden in den Marginalien die folgende Bücher angeführt:31 Photius’ Bibliotheca, ein Verzeichnis der überlieferten antiken Bücher, das Buch des Zürcher Theologen Johann Wilhelm Stucki über Gastbräuche in der Antike, Francesco Alunnos Fabbrica del mondo, ein Wörterbuch, welches zugleich eine Art Enzyklopädie ist, Francesco Giorgio Venetos De harmonia mundi, ein Werk über die Weltharmonie in der neuplatonischen Tradition. Für die Aussage, dass Gott die Zeit höher als weltliche Güter geachtet habe, weil er jeden siebenten Tag für sich verlangt, von den Gütern aber nur den zehnten Teil, wird auf Bacons De dignitate et augmentatione scientiarum verwiesen. Cassandra weiß, dass etliche Gelehrte die Zahl sieben als Maßstab der Natur bezeichnet haben, wofür Erycius Puteanus’ Epistolae angeführt werden, eine Sammlung von Briefen über die verschiedensten Themen. Dazwischen wird auch noch auf einen Kalender von 1642 von Werve und auf die Sprüche Salomons verwiesen. Niemand wird meinen, dass die beiden jungen Damen Angelica bzw. Cassandra diese Bücher gelesen hätten, sondern es wird deutlich gemacht, dass Harsdörffer ihnen, wie es Le Moyne ausdrückt, die Stimme aller dieser Gelehrten geliehen hat und dass er am Rand mit den Hinweisen ebenfalls wie Le Moyne die eigene Gelehrsamkeit demonstriert.32 Bezeichnenderweise zitiert er im Literaturverzeichnis gewöhnlich die Werke in der Originalsprache. Im Falle des „weitgereisten“ Studenten Raimund ist dies etwas anders, er verweist darauf, dass das Wort ‚sieben‘ vom hebräischen Schibah herkomme, und bemerkt weiter: „und ist Merckwirdig / daß die Ebræer / wann sie etwas beteuren wollen / bei VII. als der Verknüpffung der gantzen Welt / geschworen.“33 Mit dieser gelehrten Bemerkung handelt er sich eine Strafe von der Spielleiterin Angelica ein: „Weil H. Raymund solche Sachen fürbringt / welche daher nicht gehören und wir nicht verstehen / als wolle er zur Straff ein Pfand darlegen.“34 Das Beispiel illustriert zugleich die Grenzen, die von den Frauen gesetzt werden. Obwohl Angelica selbst offensichtlich wusste, dass in ‚September‘ das Wort sieben steckt, kritisiert sie den Hinweis auf das Hebräische als zu gelehrt. Die Frauen mahnen

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Siehe das Literaturverzeichnis im Anhang. Siehe das Zitat Anm. 20. Harsdörffer: FZG II, S. 281. Der Hinweis stammt aus Hippolytus Guarinonius’ Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts. Ebd.

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immer wieder, wenn ein Gespräch auf Wissen rekurriert, welches zu spezielle Kenntnisse voraussetzt. Wo genau die Grenzen zwischen Spezialwissen, ‚Schulfüchserei‘ und erwünschtem Wissen liegen, kann in der vorliegenden Untersuchung nicht geklärt werden.35 Das Spiel XCV vom halben Umkreis wird von Frau Julia initiiert. Sie fragt, was alles einen halben Umkreis vorzuweisen hat. Es ist vom Regenbogen die Rede, vom Mond und dem Bogen der Diana. Raimund, der gelehrteste unter den Teilnehmenden, beschreibt ausführlich die Sonnenuhr des Ahas, die Gott – wie in Jesaja 38,8 berichtet – zehn Striche rückwärts laufen ließ, um zu beweisen, dass Jesaja wahr gesprochen hat.36 Die Literaturangaben in der Marginalie sind wiederum sehr zahlreich und beziehen sich auf die Beschreibung von besonderen Uhren oder von Uhrwerken generell. Für die Beschreibung der Sonnenuhr des Ahas wird ein Buch von Jacques Gaffarel mit dem Titel Curiosité inouies sur la sculpture talismanique des persans usw. zitiert, ein Buch, welches sich mit eher okkultem Wissen beschäftigt. Ebenfalls zitiert wird in diesem Kapitel de Guevaras Fürstenuhr, es gibt Verweise auf Plinius, auf Varros De lingua latina, auf Garzonis Piazza universale, auf Cardanus’ Opera philosophica, die allgemein von Uhren handeln. Die in diesen beiden Gesprächspielen zitierte Literatur ist sehr heterogen, sie reicht von der Bibel über literarische Werke, kulturgeschichtliche Abhandlungen, philosophische Kompilationen bis zu enzyklopädischen Werken aller Art, aber auch zu Werken von alternativen Wissenstraditionen wie Neuplatonismus und Kabbala, die als solche theologisch keineswegs unbedenklich sind wie z. B. Gaffarels Curiosités inouies.37 Dies zeigt, dass es offenbar weder ideologische noch theologische Barrieren des Wissenswerten gibt, dass alles in diese Art von Enzyklopädie oder Miscellanea, die die Gesprächspiele repräsentieren, aufgenommen werden kann. Es geht letztlich darum, bestehendes Wissen auf Unerwartetes, Kurioses hin zu prüfen und neu zusammenzustellen.38 Als zweites Beispiel sollen Zesens Sprachschriften Rosen-mând, Spraach-übung und Helikonische Hechel dienen, in denen Zesen seine Auffassung zur Entstehung der deutschen Sprache und zu allerhand anderen sprachlichen Problemen in der Form des Gesprächs darlegt. Bemerkenswert daran ist, dass man Themen, die im 17. Jahrhundert im

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Zur Kategorie des Maßes zwischen Gelehrsamkeit und Unterhaltung siehe Christoph Strosetzki: Die Norm und ihre Alternative in der Geselligkeitskultur des absolutistischen Frankreich. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Unter Mitwirkung von Knut Kniesant u. a. hg. von Wolfgang Adam. Teil 1. Wiesbaden 1997, S. 135-154 und Zeller: Die Rolle der Frauen im Gesprächspiel (wie Anm. 21), S. 537-539. „Siehe, ich will den Schatten an der Sonnenuhr des Ahas zehn zurückziehen, über die er gelaufen ist. Und die Sonne lief zehn Striche zurück an der Sonnenuhr, über die er gelaufen war.“ (Jesaja 38,8). Gaffarel musste dieses Werk widerrufen. Vgl. Markus Fauser: Wissen als Unterhaltung. In: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. von Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach. Köln 2004, S. 491-514, S. 498.

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weitesten Sinn zur Grammatik gehören, überhaupt für ein breiteres Publikum aufbereitet. Auch bei Harsdörffer sind viele Spiele solchen Fragen gewidmet. Zesen begründet denn die Gesprächsform auch damit, dass er „für alle“ schreibe. Es geht also wiederum um die Dilvugierung des Wissens und nicht um die Grammatik als eine Schul-Disziplin, wie Zesen in der Einleitung zum Rosen-mând ausdrücklich bemerkt: Wolte mich etwan ferner ein Wunderkopf tadeln / daß ich in diesen gesprächen so vielerlei untereinder mische / und nicht allzeit nach seiner runtzlichten stirne und starren boks-augen meine verfassung mache; so würd er im begin dieser vor-rede die uhrsache schon vernommen haben. Doch hastu mich noch nicht recht verstanden / so wisse; daß ich nicht für dich allein / sondern für alle / schreibe; daß ich allen belieben wil; und daher habe ich meiner feder / die ich sonst in zimlich-ängen schranken zu halten pflege / verhänget / tapfer aus zu schweiffen / und nicht allein das zu schreiben / was sprach-liebende; sondern auch was eingezogene / oder zur üppigkeit sonst ausgelaßene Gemühter / ja was Welt- und geistliche lieben; […].39

Im Rosen-mând ist die Rahmensituation breit ausgearbeitet. Es findet ein Fest zu Ehren von Rosemunds Geburtstag statt, das, der Metaphorik entsprechend, den ganzen Rosenmond lang dauern soll.40 Dargestellt wird aber nur eine Woche. Die Festivitäten selbst werden meistens nur kurz beschrieben, am Rand dieser Theaterspiele, Musikständchen, Tanzveranstaltungen und was sonst zu einem Fest gehört, unterhalten sich die Herren Deutschlieb, Liebwährt und Marhold mit „einem und dem andern Lustgespräche“41 über die Herkunft der deutschen Sprache, über die Entstehung der Buchstaben und was der Fragen in diesem Zusammenhang mehr sind. Das Gespräch wird von den Gesprächsteilnehmern so sehr geschätzt, dass sie meistens kaum auf die Fortsetzung warten können. Als man an einem Tag eine Schifffahrt nach Harlem unternimmt, bittet Rosemunde Marhold, seine Mitgefährten wieder auf nützliche Gespräche zu bringen, damit die Gesellschaft daraus lernen könne.42 In der Tat ist es charakteristisch für den Rosen-mând, dass die Frauen zwar zuhören, aber keinen Anteil am Gespräch haben. Die Helikonische Hechel, die, wie der Untertitel sagt, die zweite Woche des Rosenmohnd enthält,43 ist als eine Fortsetzung der Festivitäten gestaltet. Wiederum finden die Gespräche in der freien Zeit zwischen den Festivitäten statt, oft am Morgen, einmal bei einem Lustwandel übers Feld. Man hat das Gefühl, dass sich die Freunde die Zeit für das Gespräch öfters von anderen gesellschaftlichen Verpflichtungen abstehlen müssen.

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41 42 43

Zesen: Sämtliche Werke. Bd. 11 (wie Anm. 10), S. 90. Siehe den vollständigen Titel des Rosen-mând, in dem von 31 Gesprächen die Rede ist: „Rosenmând: Das ist in ein und dreissig Gesprächen eröfnete Wunder-schacht zum unerschätzlichen Steine der Weisen.“ Zesen: Sämtliche Werke. Bd. 11 (wie Anm. 10), S. 95. „[…] daß er ihnen die höchste freundschaft tähte / wan er seine Herren mit-gefährten auf solches nützliche gespräche brächte / daraus sie auch etwas zu lernen begierig weren […]“ (Ebd., S. 178). Filips von Zesen Hochdeutsche Helikonische Hechel oder des Rosenmohndes zweite woche: darinnen von der Hochdeutschen reinen Dichtkunst / und derselben fehlern […] gehandelt wird.

Das Gespräch als Medium der Wissensvermittlung

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Dass diese Gespräche ihren Teilnehmern eine große Lust bedeuten, ist unzweifelhaft. Diese rührt zum Teil von den „Geheimnissen“ her, die in diesen Gesprächen offenbart werden. Dazu muss man sich in Erinnerung rufen, dass der Rosen-mând nicht weniger als die Eröffnung eines „Wunderschachts“ und den „Stein der Weisen“ verspricht. Liebhold bittet denn auch in der Helikonischen Hechel Marhold inständig „ihnen etliche geheimnüsse der Dichtkunst zu offenbahren.“44 Das Wissen über die deutsche Sprache wird also als Schatzsuche, als Zugang zu einer Art Geheimwissen dargestellt. Zesen geht es viel mehr als Harsdörffer darum, ein bestimmtes Wissen zu vermitteln und nicht einfach geistreiche Unterhaltung zu simulieren bzw. eine Sache von vielen Seiten her darzustellen. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass Deutschlieb in der Spraach-übung und Marhold in den beiden anderen Schriften eine dominante Rolle in der Wissensvermittlung einnehmen. Letztlich verfügen diese beiden über das Wissen, auf das es ankommt, während die anderen Figuren größtenteils nur als Stichwortgeber auftreten, indem sie eine Frage stellen, auf die Marhold jeweils ausführlich antwortet. Wenn verschiedene Meinungen diskutiert werden, so nicht, um diese zur Unterhaltung nebeneinander anzuführen, sondern um letztlich doch zu sagen, welche Auffassung die richtige ist. Harsdörffer hingegen, dies wurde in der Forschung schon öfters festgestellt und auch manchmal missverstanden, lässt bei kontroversen Fragen Meinungen nebeneinander bestehen, so z. B. auch bei ideologisch-theologisch befrachteten Fragen wie der, ob die Erde sich um die Sonne drehe oder umgekehrt.45 Als Illustration für den verschiedenen Umgang mit Wissen soll ein Beispiel dienen, in dem Zesen direkt auf eine Stelle in Harsdörffers Gesprächspielen Bezug nimmt. Gleich zu Beginn der Spraachübung bemerkt Deutschlieb, dass Adelmund die deutsche Sprache zu Recht „redlich“ nenne, „weil sie so redlich / daß mann in derselben gar wenig viel-deutige Wort finden mag / derer doch in andern Spraachen ein überfluß ist.“46 Harsdörffers Gesprächspiel, auf das sich diese Passage bezieht, trägt den Titel „Die zweydeutigen Wörter“ (Nr. LXXXII). Es ist dem „Lustbetrug“ zweideutiger Wörter gewidmet, wobei allerhand Beispiele von doppeldeutigen Reden erzählt werden. Nach einigem Hin und Her meint Degenwert: „Unsere Teutsche Muttersprach ist so redlich / daß man in derselben wenig zweydeutige Wörter findet.“ Worauf Reymund sagt, indem er sich auf Gellius’ Attische Nächte beruft, dass es wenig Wörter gebe, die man nicht auf zweierlei Arten verstehen könne. Frau Julia versucht ihn zu widerlegen, indem sie das Beispiel „Schwester“ bringt, das man nur in einer Bedeutung auffassen könne, was Reymund wiederum bestreitet, worauf Angelica meint, auf diese Weise wisse man nicht mehr, was weiß und schwarz sei. Vespasian, der älteste unter den Teilnehmer, spricht schließ-

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Zesen: Sämtliche Werke. Bd. 11 (wie Anm. 10), S. 295. „Ob sich die Erde bewege / und der Himmel stillstehe? Diese Frage ist von den gelehrtesten Männern gestritten / aber noch nicht verglichen worden. Wir wollen unsrem Gebrauch nach / die Ursachen beeder Meinungen anführen / und dem verständigen Leser heimgeben / welche unter selben die stärksten.“ (Harsdörffer: FZG VIII, S. 545). Zesen: Sämtliche Werke. Bd. 11 (wie Anm. 10), S. 11.

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lich eine Art Urteil: „Es ist gewiß / daß fast alle Wörter einen Buchstaben und Ubertragungsverstand leiden.“47 Es komme auf den Gebrauch an, in der Dichtung und in der Redekunst dürfe man solche metaphorischen Bedeutungen gebrauchen, nicht aber in „Handel und Wandel“. Während Zesen Deutschlieb mit der Autorität, die ihm in der Spraach-übung eigen ist, feststellen lässt, dass die deutsche Sprache „redlich“ sei und darum wenig vieldeutige Wörter habe, lässt Harsdörffer über mehrere Seiten die Meinungen und Beispiele aufeinanderprallen und relativiert so die eindeutige Aussage und damit auch die moralische Wertung der deutschen Sprache. Wenig Beachtung in der Forschung haben bisher Rists Monatsgespräche gefunden, obwohl sie das erfolgreichste der drei hier vorgestellten Beispiele von Wissensvermittlung in Gesprächsform gewesen sein dürften, wurde die Reihe der Monatsgespräche doch nach Rists Tod von Erasmus Francisci fortgeführt.48 Rists Monatsgespräche beginnen stets mit einem Spaziergang im Garten, einem Gespräch über die verschiedenen, auch sehr seltenen Pflanzen, ihre Eigenschaften und Nützlichkeit. Danach wird meistens im Haus das Gespräch fortgeführt, wobei, wie die Titel zeigen, jeweils ein Thema mit der Formulierung „die alleredelste…“ im Mittelpunkt steht, das von den verschiedenen Gesprächspartnern, es handelt sich in diesem Fall ausschließlich um Männer, die unter ihrem Gesellschaftsnamen auftreten, aus verschiedenen Blickwinkeln abgehandelt wird. So ist die erste Unterredung dem alleredelsten Nass gewidmet, welches je nach Gesprächsteilnehmer der Wein, das Wasser, die Milch oder die Tinte sein kann. Es geht einerseits um eine rhetorische Übung, nämlich etwas scheinbar Unspektakuläres wie Wasser oder Milch zu loben, es geht aber auch darum, Eigenschaften dieser Flüssigkeiten zu beschreiben und dadurch ein Wissen über diese zu vermitteln. So finden sich in der Märtzens-Unterredung, welche den „Alleredelsten Torheiten“ gewidmet ist, Ausführungen zu den Kalendern, zur Astrologie, zur Alchemie, zur Chiromantia, zum Perpetuum mobile. In anderen Gesprächen geht es um technische Erfindungen, um Medizin, dann auch um Literatur, um Romane usw. Rists Absicht ist es offensichtlich, ein breites Wissen zu vermitteln, beklagt er sich doch, dass selbst Gelehrte von vielem nichts wüssten: Ja / wie viele tausend / (worunter auch wol fürnehme Academici und ansehnliche Studiosi) wissen von der Sternseher Kunst / von der Astrologiâ, oder Weissagung aus dem Gestirn / von den Mathematischen Wissenschafften oder Mechanischen Jnstrumenten / von Kräutern und Bluhmen / wie auch von der Chymiâ oder Scheidekunst weinig zu sagen; […].49

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Harsdörffer: FZG II, S. 248. Zweyer weltberühmten Gelehrten Herrn Johann Risten und Hn. Erasmi Francisci curieuses Recreations-Jahr: Wie alle 12. Monat desselbigen mit den erbaulichen Discursen von denen schönsten Erfindungen und nutzlichsten Wissenschafften der Welt von geist- und weltlich-Tügend- und Kunst-liebenden Autoren Johann Rist, Erasmus Francisci Verlag bey Kroniger und Göbels seel. Erben. 1703. Rist: Die Alleredelste Torheit (wie Anm. 12), S. 22.

Das Gespräch als Medium der Wissensvermittlung

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Bezeichnenderweise nennt er hier die ‚modernen‘ Wissenschaften, die nicht zur klassischen Ausbildung gehören. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass wir es hier offensichtlich mit drei Modellen der Wissensvermittlung zu tun haben. Harsdörffers Modell übernimmt die Art der Unterhaltung, wie sie in italienischen Akademien gepflegt und in den Spielbüchern abgebildet wurde, unter Einbezug der Frauen. Im Text der Gesprächspiele wird zwar sehr viel Literatur zitiert – allein das Literaturverzeichnis im zweiten Teil enthält ungefähr 225 Titel – sie vermitteln aber qualitativ weniger Wissen als die anderen beiden Autoren, weil die Themen relativ kurz behandelt werden. Die Gesprächspiele sind eher eine Art Enzyklopädie, die suggeriert, die am Gespräch beteiligten Personen hätten alle jene Bücher gelesen, die in den Marginalien angeführt werden. Zesen beschränkt sich in seinen Schriften auf die Vermittlung von Wissen über die Sprache und Dichtkunst, das er als richtiges und nicht mehr zu diskutierendes weitergeben will. Harsdörffers Absicht, verschiedene Meinungen miteinander zu konfrontieren, Scherz und Galanterie in die Unterhaltung einzuflechten, ist in Zesens Gesprächen trotz des Rahmenanlasses nicht vorhanden und beschränkt sich allein auf die die Gespräche begleitende Rahmenhandlung. Obwohl bei Zesen die Frauen keineswegs ungebildet sind, ganz im Gegenteil, so spielen sie als Gesprächspartnerinnen keine Rolle, sondern beschränken sich aufs Zuhören, haben aber wie bei Harsdörffer die Funktion, zu unterbrechen oder nachzufragen bzw. ab und zu ein Stichwort zu liefern. Bei Rist wird die Vermittlung eines sehr breiten Wissens angestrebt, das letztlich auch dem Dichter nützt, der in allen Wissenschaften beschlagen sein muss.50 Aber primär geht es Rist offensichtlich darum, einem breiteren Publikum, wobei er vor allem an die Jugend zu denken scheint, ein Wissen zu vermitteln, das betont nicht akademisch ist. Typisch für diese Art Wissen scheint mir bei allen drei Autoren, dass zu seiner Umschreibung immer wieder Wörter gebraucht werden wie ‚seltsam‘ oder ‚wunder‘. Rist spricht im Zusammenhang mit den Pflanzen, die er vorstellen will, man könne darüber „viele / zimlich frembde / auch

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„[…] den / ein rechtgeschaffener Poet mus von allen Dingen / welche unter der Sonnen befindlich / eine nicht schlechte oder nur gemeine Wissenschaft haben / er mus nebenst seinem Haubtstudiren / es sei in was Facultät es wolle / auch die Sprachkunst / die Vernunftkunst / die Redekunst / die Singekunst / die Rechenkunst / die Sternseherkunst / die Meßkunst / die Sehekunst / die Spiegelkunst / die Uhrkunst / die Wagekunst / die Schreibekunst / die Bewegkunst / die Feuerkunst / die Luftkunst / die Wasserkunst / die Baukunst / die Scheide- oder Schmeltzkunst / und in Summa / alles das jenige / was der Mensch mit seinen fünf Sinnen und Gedanken kan begreiffen zimlicher mahssen verstehen / den / diweil ein Dichter in seinen Schriften alles mus können berühren / was unter dem Himmel zu sehen / so mus er auch ja von allen solchen Dingen einen nicht geringen Verstand haben wie hievon der hocherleuchteter Skaliger / der weltberühmter Spielender / wie auch unser Rüstiger / nebenst noch etlichen anderen / in unterschiedlichen ihrer heraus gegebenen Büchern und Schriften weitläuffiger können gelesen werden.“ (Johann Rist: Das Alleredelste Nass […]. Das Alleredelste Leben. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 4. Hg. von Eberhard Mannack. Berlin u. a. 1972, S. 178 [der „Spielende“ ist G. Ph. Harsdörffer, der „Rüstige“ Johann Rist]).

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grössern theils unbekante / ja Verwunderungswürdige Anmerkungen lesen […] / andere Geheimnissen / so gleichmässig hieselbst fürfallen möchten / dises mahl zu geschweigen.“51 Es geht nicht um das Gewöhnliche, Alltägliche, sondern um das Besondere, das Ausgefallene, Wunderbare und insofern haben diese Gespräche große Ähnlichkeit mit Miscellanea-Sammlungen, die über Wunder der Natur, über technische Wunder und Ähnliches berichten. So kann man verstehen, dass Zesen seine Ausführungen zur deutschen Sprache mit alchemistischer Konnotation als „Wunderschacht“ verkauft. Durchaus typisch für das, was in dieser Art von Werken interessiert, scheinen mir die XXV. Merkwürdigen Fragen aus der Naturkündigung und Sitten- und Tugendlehre, die Harsdörffer im VIII. Teil der Gesprächspiele anfügt als Stoff für weitere solche Unterhaltungen. Es werden Fragen besprochen wie „Ob der Verstand oder der Leibe grössere und schwerere Arbeit ausstehen könne“, „Ob die Löwen das Hanengeschrey fürchten“, eine auf Plinius zurückgehende Frage, die in dieser Art Literatur immer wieder auftaucht und so auch dazu beiträgt, gewisse Vorurteile über das Verhalten von Tieren fortzupflanzen.

3. Strukturelle Eigenheiten der Wissensvermittlung im Gespräch Es soll zum Abschluss noch die Frage gestellt werden, welchen Vorteil Gespräche gegenüber anderen Formen der Wissensvermittlung haben. Man könnte pointiert sagen, ihr Vorteil besteht eben darin, dass sie das Gegenteil von ‚Schulfüchserei‘ sind, d. h., man muss im Gespräch ein Thema nie erschöpfend nach allen möglichen Argumenten behandeln, wie dies für die schulmäßige Disputation charakteristisch ist. Man muss auch keine strengen Regeln der Argumentation verfolgen, sondern kann sich seinen Einfällen überlassen. Man kann ein Gespräch beliebig beginnen und abbrechen lassen, indem man, da das Gespräch ja situiert ist, die verschiedensten Motivationen einführen kann: Entweder gibt es äußere Gründe wie terminliche Verpflichtungen der Beteiligten, etwa eine anstehende Mahlzeit o. ä., oder es gibt innere Gründe, z. B. dass das Thema einen Teilnehmer oder eine Teilnehmerin langweilt oder dass es die intellektuellen Fähigkeiten der Teilnehmenden übersteigt. Die Kürze wird immer wieder als eine Qualität solcher Unterhaltungen angeführt. So mahnt denn auch z. B. Adelmund in Zesens Spraach-übung: „Mein Herr will alles gar zu eigentlich ausführen; Er mach es nur / wo es ihm beliebet / auffs kürtzeste / alß er kann.“52 Liebhold meint etwas später: „Diese und dergleichen sachen dörfften vor das Frauenzimmer allzuschwer und verdrüßlich fallen / drum wolle Er Ihm belieben laßen von den folgenden auch zu reden.“53 Ähnliche Argumente gibt es auch bei Harsdörffer. Gespräche erlauben zudem beliebige Digressionen, die durch vielerlei Umstände veranlasst sein können. Auf diese Weise

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Rist: Das Alleredelste Nass (wie Anm. 50), S. 16. Zesen: Sämtliche Werke. Bd. 11 (wie Anm. 10), S. 50. Ebd., S. 56.

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wird Abwechslung und Variation in die Unterhaltung gebracht, was wiederum eines der grundlegenden Prinzipien dieser Art von Werken ist. Le Moyne betont in seiner Rechtfertigung des Gesprächs als Darstellungsmittel dessen Nähe zur Poesie: Das Gespräch übernehme von der Poesie deren Annehmlichkeiten ohne ihre Fesseln, d. h. ihre strengen Regeln, zu übernehmen. Nicht nur Harsdörffer verbindet mit dem Gespräch die Vorstellung des Spiels, diese findet sich auch bei Rist, der in der Vorrede der ersten Unterredung schreibt, die Jugend könne dadurch „gleichsahm mit Spielen der wahren Geschikigkeit […] teilhaft werden“,54 an einer anderen Stelle spricht er davon, dass diejenigen eine gute Arbeit verrichten, „welche jungen Leuten allerhand guhte und erbauliche Sachen / in anmuhtigen Geschichten / lehrreichen Gedichten und wolgesetzeten Gesprächen furtragen und gleichsahm unvermerket beibringen“.55 Das Zitat zeigt die Gleichsetzung von poetischen Formen mit Gesprächen. Rist ist offensichtlich der Meinung, dass das Wissen geradezu zur Glückseligkeit beiträgt, wenn er schreibt: Es bleibet demnach endlich ewig wahr / das keine grössere irdische Glükseligkeit sei unter der Sonnen / als Alles wissen / so viel gleichwol in diser Sterbligkeit uns armen Adamskindern zu wissen / oder zu lernen müglich.56

Das Gespräch, so könnte man mit Marc Fumaroli sagen, ist nicht nur „le genre des genres français“57, sondern auch ‚die‘ Gattung der Wissensvermittlung.

Von Harsdörffer in den Spielen XLVII, XCI und XCV zitierte Literatur Ausgabe nach dem Literaturverzeichnis in FZG II, S. 468-492; die mit * versehenen Titel figurieren nicht im Literaturverzeichnis. Alunno, Francesco: Fabbrica del mondo. Venedig 1575. Bacon, Francis (Franciscus Verulamus): De dignitate et augmentatione scientiarum. Strassburg 1635. *Belleforest, François de: Lieb Tugend und Ehrenspiegel. Von Newen in Zweyen Schönen Historien; 1. Von der Großmuthige[n] Clorinda 2. Liebseeligen Phoenicia. Auß dem Frantzösischen in Deutschen Sprach vorgestelt. Durch Wolfgangum Seidelium Zum Hoff. Coburg 1627. *Berchorius, Petrus: Der Welt Tummel: und Schaw-Platz. Sampt der bitter-süssen Warheit; Darinn mit Einführung viel schöner und fürtrefflicher Discursen / nicht allein die Natürliche [...] Eygenschafften unnd Geheimnussen der fürnembsten Creaturen [...] erkläret [...] werden. Acht Theil. Durch Aegidium Albertinum, Bayrischen Secretarium colligiert. Augsburg 1617. Cardanus, Hieronymus: Opera philosophica. Basel 1581.

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Rist: Das Alleredelste Nass (wie Anm. 50), S. 16. Rist: Die Alleredelste Torheit (wie Anm. 12), S. 21f. Rist: Das Alleredelste Nass (wie Anm. 50), S. 17. Siehe zu diesem Aspekt Trepp: Im „Buch der Natur“ lesen (wie Anm. 7). Vgl. Anm. 24.

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Francesco: Alunno: Della Fabrica Del Mondo Libri Dieci. Ne’ Qvali Si Contengono Le Voci Di Dante, del Petrarca, del Boccaccio, & d’altri buoni Auttori […]. Venedig 1575. Gaffarel, Jacques: Curiositez inouyes, sur la sculpture talismanique des persans. Horoscope des patriarches. Et lecture des estoilles. o. O. 1637. Garzoni, Tomaso: Piazza universale. Venedig 1626. *Hippolyt von Colli (Johann Werner Gebhart): Fürstliche Tischreden: auß vielen vornehmen Scribenten zusammen gezogen. Hiebevor unterschiedlich mit grossem Nutzen [...] in Truck außgangen. Und an jetzo In bessere richtigere Ordnung mit mercklicher Vermehrung [...] abermals an Tag geben. Frankfurt 1614. *Giorgio, Francesco Veneto (Francesco Zorzi): De harmonia mundi totius cantica tria. Venedig 1525. Guarinonius, Hippolytus: Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts : In sieben unterschiedliche Bücher und unmeidenliche Hauptstucken / sampt einem lustigen Vortrab / abgetheilt; Neben vor: mit: und nachgehenden / so wol Natürlichen / als Christlich: und Politischen / darwider streittbaren Mittlen; Allen / so wol Geist: als Weltlichen / Gelehrt: und Ungelehrten / hoch und nidern StandsPersonen / überauß nutz und sehr notwendig / wie auch gar kurtzweilig zu lesen. Innsbruck 1610. Guevara de, Antonio: Despertador De Cortesanos. Antwerpen 1605. [zit. als Fürstenuhr] *Kirchhof, Hans Wilhelm: Wendunmuth: Darinn allerhand höfliche und lustige Historien / Schimpffreden / Beyspielen und Gleichnuß begrieffen / nun mehr auffs new widerumb ubersehen / unnd in vier underschiedene Theil auß alten unnd newen probierten Scribenten abgetheilet / unnd trewlichen zusammen gezogen. Frankfurt 1602-1603. *Lauterbeck, Georg: Regentenbuch. Aus vielen trefflichen alten vnn newen Historien, mit sonderm fleis zusammengezogen; Allen Regenten vnd Oberkeiten zu anrichtung vnd besserung, Erbarer vnd guter Pollicey, Christlich vnd nötig zu wissen. Leipzig 1556. *Lehmann, Christoph: Florilegium politicum Auctum. Das ist: Ernewerter Politischer blumen-Garten. Darinn außerlesene Politische Sententz, Lehren, Reguln, und Sprichwörter auß Theologis, Jurisconsultis, Politicis, Historicis, Philosophis, Poeten, vnd eygener Erfahrung vnter 286. Tituln zu sonderm Nutzen vnd Lust, Hohen und Niedern im Reden, Rahten und Schreiben, daß Gut zu brauchen und daß Böß zu meyden, in locos communes zusammen getragen. o. O. 1630. *Messerschmidt, Georg Friedrich: Historischer Blumengarten. Gesprächs weyse zugerüst / und in Sechs unterschiedliche Theyler / ab- und eingetheylet. Darinnen werden Materien der Humanitet, Philosophy, Theology, Cosmography, und Geography, neben mehr anderen vielen fürwitzigen und anmütigen sachen / verhandelt. / Erstlich durch Herrn Antoni di Torquemada Hispanisch beschrieben / nachgehendt von Herrn Coelio Malaspina Wälsch: So dann jetzo Hochteutsch gemacht / Durch Georg Friderich Messerschmiden. Straßburg 1626. Photius: Bibliotheca. Augsburg 1606. *Poli, A.: Christlicher Fürst. [nicht identifiziert] *Poli, Thimotheus: Lustiger Schawplatz / Da allerley Personen / Aempter / Stände / Künste / Händel / Gewerbe und Handwercke / Wie auch derselben Anfänger / Erfinder und Vermehrer bei einander sind: Aus Bramero, Garzonio, Laurembergio, Camerario, Herbergero und anderen bewehrten Scribenten kurtz zusammen gezogen und nach dem ABC. in eine richtige Ordnung gebracht. Lübeck 1639. Puteanus, Erycius: Epistolae. Löwen 1611.

Das Gespräch als Medium der Wissensvermittlung

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Stucki, Johann Wilhelm: Antiquitatum convivialium libri III, in quibus Hebraeorum, Graecorum, Romanorum aliarumque nationum antiqua conviviorum genera, mores, consuetudines, ritus ceremoniaeque conviviales atque etiam alia explicantur. Frankfurt 1613. *Tomai, Tommaso: Hortvlvs Mvndi, Das ist / Ein sehr schönes vnd nutzliches Welt-Gärtlein: in welchem / beneben vielen Secreten vnnd Geheymnussen der Natur / ein ziemliche Anzahl außerlesener Frücht vnd Gewächs [...] verzeichnet sind / Erstlichen von M. Thoma Thomai einem fürtrefflichen Naturkündiger vnd Academico von Ravenna in Italienischer Sprach beschrieben. Nunmehr aber [...] in vnsere Hochteutsche Sprach versetzt. Franckfurt am Mayn 1620. [In Harsdörffers Literaturverzeichnis italienisch: Idea del Giardino. Venedig 1608] *Varro, Marcus Terentius: De lingua latina. Paris 1529. Werve, Hermann de: Kalender auf das Jahr 1642. [entweder: Newer astrologischer Postreuter / Und Kurtze Verfassung der vornemsten und berühmtesten Astronomorum und deroselben Prognostication auff instehendes Jahr Christi 1642. o. O. 1641 oder: Newer und Alter Schreib Kalender / Auff deß Heil. Römischen Reichs/ nunmehr mit 24. Jahr mit Zähren / Hertzbrechenden Seufftzen gewünschten unnd der Elenden / bedrängten Exulanten frewdenreiches unnd frieden-Jahr ...] M.DC.XXXXII. […] gestellet von Hermanno de Werve. Nürnberg 1641.

Hanspeter Marti (Engi) Wissensdiskurse und frühneuzeitlicher akademischer Unterricht

Für Antje Mißfeldt Der Beitrag gliedert sich in einen skizzenhaften Überblick, der, mit dem Schwerpunkt auf den frühneuzeitlichen Dissertationen, einzelne Gattungen der Historia literaria, Forschungsstand und -prioritäten vorstellt, sowie in einen Beispiele Kieler Universitätsschriften enthaltenden Teil, in dem die unterrichtsgeschichtliche Bedeutung des akademischen Kleinschrifttums behandelt wird. Wenn aus dem Folgenden hervorgeht, dass die Applikation durchaus heterogener methodischer Prämissen der Diskurstheorie auf diese Quellen lohnend sein könnte,1 haben die anschließenden Zeilen ihren heuristischen Zweck erreicht. Die Auswertung der im Umfeld der frühneuzeitlichen Universität Kiel entstandenen Kleinschriften steht in den Anfängen. Bleibt zu hoffen, dass die bibliographische Erschließung der einschlägigen Bestände in der Kieler Universitätsbibliothek2 fortgesetzt und das in der Klosterbibliothek Preetz lagernde Gelehrtenschrifttum, darunter viele frühneuzeitliche Königsberger Dissertationen, bald der internationalen Forschung zugänglich gemacht wird.

1. Hohe Schulen, unterrichtsnahe Literaturgattungen, Diskurse Soweit Universitätsgeschichte im Vorfeld und Nachgang von Gründungs- und anderen Jubiläen betrieben wird, entbehrt sie selten des Hangs zur Enkomiastik und grenzt manchmal an Hagiographie. Die Geschichtsschreibung, die frühneuzeitliche Professo-

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Zur Einführung in die historische Diskursanalyse vgl. Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. (Historische Einführungen 4) Frankfurt a.M./New York 2008, dem unser Aufriss wichtige Anregungen verdankt. Vgl. Richard Dölling/Else M. Wischermann. Kiel 2: Universitätsbibliothek. In: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Bd. 1: Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen. Hg. von Paul Raabe. Hildesheim u. a. 1996, S. 84-106, hier Abschnitt „Dissertationes et libri minores“, S. 96. Frau Dr. Klára Erdei, Universitätsbibliothek Kiel, danke ich für die Unterstützung bei der Textbeschaffung.

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ren-Persönlichkeiten und personale Aspekte generell in den Mittelpunkt stellt, hat eine lange Tradition, doch sie ist durch die Analyse anonymer Diskurse und allgemein gefasster Prozesse der Wissensgenerierung zu ergänzen. Auch müssten nonverbale, doch sprachlich vermittelte Kommunikationsformen frühneuzeitlicher Gelehrter, ferner Bildquellen und materielle Überreste aller Art, bei den Universitätsbauten angefangen, einbezogen werden, wie das in manchen Publikationen der letzten Zeit geschah.3 Hier folge ich aus verschiedenen Gründen diesem Forschungstrend nicht. Im Umfeld frühneuzeitlicher Hoher Schulen entstanden nämlich Textgattungen, die diskursanalytischen Fragestellungen sehr zugänglich sind, bis jetzt aber generell kaum, geschweige denn unter den skizzierten methodischen Prämissen, untersucht wurden. So lenken zum Beispiel die Vorlesungsverzeichnisse die Aufmerksamkeit nicht auf die Person eines Verfassers und dessen Biographie, sondern auf die angekündigten Lehrveranstaltungen.4 Die meist anonym erschienenen Beiträge der Gelehrtenjournale5 wie im Übrigen auch der moralischen Wochenschriften6 wurden, wie es scheint, vom Publikum, an das sie gerichtet waren, gerne gelesen, unabhängig davon, ob die Autoren der veröffentlichten Texte bekannt waren. Soweit aber die Geschichtsschreibung wie auch die Literaturwissenschaft sich mit den Höhepunkten geistigen Schaffens abgeben, bleiben das schöpferische Autorsubjekt und dessen Lebensumstände, wenn nicht der ausschließliche, so doch ein vorrangiger Gegenstand der Forschungsinteressen. Das ihnen zugrundeliegende methodische Credo soll nicht einfach überwunden und ersetzt, sondern der Blickwinkel angesichts des an Hohen Schulen produzierten und vermittelten Wissens erweitert werden. Nach wie vor fehlt es an Arbeiten zur Geschichte des frühneuzeitlichen gelehrten Unterrichts deutschsprachiger Länder, obwohl die sogenannte deutsche Schulphilosophie in der neu bearbeiteten Ueberwegschen Philosophiegeschichte, nach konfessionel-

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Vgl. mehrere Beiträge in Rainer A. Müller (Hg.): Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit. Bearbeitet von Hans-Christoph Liess und Rüdiger vom Bruch. (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 24) Stuttgart 2007 und Barbara Krug-Richter/Ruth-E. Mohrmann (Hgg.): Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa. (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 65) Köln u. a. 2009. Ulrich Rasche: Seit wann und warum gibt es Vorlesungsverzeichnisse an den deutschen Universitäten? In: Zeitschrift für historische Forschung 36 (2009), S. 445-478 (mit weiterer Literatur). Zu deutschsprachigen Rezensionszeitschriften vgl. Thomas Habel: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. (Presse und Geschichte – Neue Beiträge 17) Bremen 2007; lateinsprachige Periodika sind generell schlechter erforscht. Über Zeitschriftengenera allgemein Ernst Fischer/Wilhelm Haefs/York-Gothart Mix (Hgg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700-1800. München 1999. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971.

Wissensdiskurse und frühneuzeitlicher akademischer Unterricht

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len Einflussbereichen getrennt, einbezogen wird.7 Die Formen der Wissensvermittlung, lectio und disputatio, samt den meisten auf sie bezogenen Textgattungen bleiben dort aber, sieht man von Lehrbüchern ab, unberücksichtigt. Nicht besser steht es mit dem nur auf das deutsche Sprachgebiet bezogenen Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte8 und mit dem zweiten Band der geographisch nicht begrenzten Überblicksdarstellung zur Geschichte der Universität9. Immer noch ist Friedrich Paulsens erstmals 1885 erschienene Geschichte des gelehrten Unterrichts10 für die Hohen Schulen deutschsprachiger Länder die maßgebliche bibliographische Referenz. Doch auf die Bedingungen des Unterrichts in der Ständegesellschaft, auf die machtpolitischen Verhältnisse in den deutschen Territorialstaaten, in den Orten der alten Eidgenossenschaft und in österreichischen Ländern, auf die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vertretenen Denkrichtungen, auf die meisten philosophischen Einzeldisziplinen, die medizinischen, juristischen und theologischen Fakultäten sowie auf die Beziehungen der einzelnen Schulen untereinander und im europäischen Kontext geht Paulsen nur kursorisch oder gar nicht ein. Fast ganz ausgespart bleiben die Medien der Wissensvermittlung und -verbreitung, z. B. der Universitätsbuchdruck, ferner der akademische Alltag von Lehrern und Studenten, die Zensur, das universitäre Verwaltungspersonal und die nicht selten gespannte Beziehung der rechtlich teilweise autonomen Schulen zur politischen Obrigkeit. Im Mittelpunkt der Forschung standen bis jetzt die Geschichte der Institution, vor allem der durch den Humanismus und Melanchthon ausgelöste Gründungsboom von Universitäten im Alten Reich und, folgerichtig, die philosophischen Fakultäten und innerhalb dieser die philologischen Disziplinen (Latein und Griechisch). Für die Rekonstruktion von Argumentationsstrategien und Verhaltensmustern, von Machtkonstellationen innerhalb des hierarchisch organisierten Rechtsgefüges der Hohen Schulen und in deren Beziehung zum herrschaftspolitischen Umfeld blieb im Rahmen der Ideen-, bisweilen sogar der Institutionengeschichte, erstaunlich wenig Platz. Immerhin hob schon Paulsen den später unter dem umstrittenen Epochenbegriff ‚Frühaufklärung‘ subsumierten Paradigmenwechsel von der gelehrten Philologie zu einer stärker an den politischpraktischen Bedürfnissen des Hofes im Sinn von Christian Thomasius ausgerichteten

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Helmut Holzhey/Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hgg.) unter Mitarbeit von Vilem Mudroch: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nordund Ostmitteleuropa. (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neubearbeitete Ausgabe) Basel 2001. Notker Hammerstein/Ulrich Herrmann (Hgg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band II: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. München 2005. Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Band II: Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500-1800). München 1996. Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. Leipzig 1885.

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Bildung hervor. Die Universität Halle kam als Ausgangsort der frühaufklärerischen, Göttingen als Vorläuferin der neuhumanistischen Bildungsreform zu historischer Geltung. Die skizzierte ideen- und bildungsgeschichtliche Topologie Paulsens liegt, erweitert um die Einflusssphären des Wolffianismus, noch neueren Untersuchungen als historiographisches Dispositionsschema zugrunde.11 Das Lehren und Lernen an Hohen Schulen spielte sich auch in der Frühen Neuzeit, wie angedeutet, im Kommunikationsfeld bestimmter literarischer Gattungen ab.12 Zu ihnen bzw. zu den normativ ausgerichteten Quellen zählen die oft hundert oder mehr Jahre ohne substantielle Änderungen in Kraft bleibenden, heute selten genug in modernen Editionen vorliegenden Statuten ebenso wie die Lehrbücher, Programmschriften und Vorlesungsverzeichnisse. Die historische Aussagekraft von Normen wird von den Historikern oft unterschätzt, da sie ihnen von den tatsächlichen Unterrichtsabläufen ein zu wenig authentisches Bild zu vermitteln scheinen.13 Der Unterricht spielt sich aber meist in nicht überlieferten Interaktionen ab. Auch Vorlesungsnachschriften können das gesprochene Wort und andere situative Gegebenheiten nicht einfangen. Trotzdem stellen z. B. verbindlich erklärte Normen unter mentalitätsgeschichtlichem Blickwinkel historisch valable Fakten dar. Warum soll man aus den detaillierten Vorschriften über die Umgangsformen der Studenten, wie sie z. B. die ältesten, im Jahre 1575 entstandenen Statuten der Altdorfer Hohen Schule enthalten, nicht historiographischen Nutzen ziehen?14 Und warum soll man auf die Auswertung frühneuzeitlicher Vorlesungsverzeichnisse verzichten, nur weil sie während einer sehr langen Zeit einzig die von den Professoren abgehaltenen und den akademischen Courant normal wiedergebenden Veranstaltungen ankündigten, die nicht ordinarie abgehaltenen spärlich, unbestimmt und unvollständig sowie die von subalternem Lehrpersonal angebotenen Lektionen überhaupt nicht ankündigten? Die Überlieferungslücke füllen, wenn auch nicht für jede Hohe Schule ausreichend, gedruckte Programmschriften, welche die Studierenden zum Besuch von Privatkollegien einluden; sie wurden bis jetzt noch nie in Serie ausgewertet. Sogar die auf Personen fixierte Unterrichtsforschung bezog Programmschriften nicht ein, abgesehen von Ausnahmen wie der berühmt gewordenen deutschsprachigen Ankündigung des Gracián-Kollegs durch Christian Thomasius an der Universität

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Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. (Studien zur deutschen Literatur 75) Tübingen 1983. Ulrich Rasche (Hg.): Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven (Wolfenbütteler Forschungen 128). Wiesbaden 2011. Anders und verdienstvoll Ulrich Rasche: Norm und Institution. In: Rasche: Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte (wie Anm. 12), S. 121-170. Reinhold Vormbaum (Hg.): Die evangelischen Schulordnungen des sechszehnten Jahrhunderts. Gütersloh 1860; Altdorfer Schulordnung 1575, S. 606-630. – Die nur handschriftlich überlieferten, bis jetzt leider unedierten Altdorfer Statuten von 1582 befinden sich in der UB NürnbergErlangen (Altdorfer Universitätsarchiv).

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Leipzig.15 Die zahlreichen in Sammelpublikationen greifbaren, zu offiziellen Anlässen wie Promotionsfeiern oder Gedenkreden für Stipendienstifter einladenden Programmata seines Vaters harren, wie Hunderte Einladungsschriften von dessen Leipziger Kollegen, der systematischen unterrichtsgeschichtlichen Auswertung. Dasselbe gilt für alle lateinsprachigen Kleinschriften Johann Christoph Gottscheds, die in keiner neuen Ausgabe zugänglich sind und von denen, wie eine der sieben Programmschriften wolffianisch geprägter Spinoza-Kritik, bislang nicht einmal alle wieder aufgefunden werden konnten.16 Will man also der Bandbreite des Unterrichtsangebots Hoher Schulen näherkommen, werden sich eine bessere Erschließung und die wenigstens für einzelne Institutionen flächendeckende Auswertung der zahlreichen Programmvarianten aufdrängen. Da sie oft, im eigentlichen Wortsinn programmatisch, dem Unterricht neue Impulse gaben, spiegeln sie, zusammen mit den Vorlesungsverzeichnissen, die simultane Pluralität und die Konkurrenz von Inhalten und Methoden im höheren Unterricht gerade in Zeiten des Umbruchs wider, so das Vordringen und die Abwehr des Cartesianismus, der Naturrechtslehren von Grotius und Pufendorf oder der wolffschen Philosophie. Für einige Universitäten, z. B. Basel, ist das vollständige Textcorpus noch vorhanden, für andere, so Königsberg, größtenteils verloren, was die Anwendung komparatistischer Forschungsansätze erschwert, leider aber der Quellenlage bei anderen akademischen Kleinschriftengattungen entspricht. Unter ihnen sind allem voran die Dissertationen gemeint, die für das deutsche Sprachgebiet seit dem 17. Jahrhundert meist gedruckt vorliegen und den Schuldisputationen, zu denen sie einluden, den Periochen der Theateraufführungen vergleichbar, als thematischer Leitfaden dienten.17 Auch Dissertationen sind zu Tausenden, teilweise in Sammelausgaben, überliefert und in Bibliotheken oft geschlossen aufgestellt, wie aus den Dissertationenbibliographien einzelner frühneuzeitlicher Hoher Schulen, so der Universitäten Duisburg, Königsberg, Helmstedt und Basel,18 oder aus dem in einem alten handschriftlichen Bandkatalog verzeichneten riesigen Dissertationencorpus vielfältiger Provenienz in der Universitätsbibliothek Kiel hervorgeht. Unmittelbarer als die Lektionen bloß ankündigenden Programmschriften geben die Dissertationen Einblick in

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Es ist sogar in einer – mit zwar spärlichen Anmerkungen versehenen, aber bereits vor langer Zeit erschienenen – Reclamausgabe verfügbar: Christian Thomasius: Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle. In: Christian Thomasius. Deutsche Schriften. Ausgewählt und hg. von Peter von Düffel. Stuttgart 1970, S. 7-49. Zur Aufwertung von Gottscheds lateinsprachigen Werken vgl. Hanspeter Marti: Gottsched als Universitätslehrer (im Druck). Zur Einführung Hanspeter Marti: ‚Disputation‘ und ‚Dissertation‘ [Art.]. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 2: Bie-Eul. Tübingen 1994, Sp. 866-880 und Sp. 880-884. Erster Überblick zum Erschließungsstand bei Manfred Komorowski: Die Hochschulschriften des 17. Jahrhunderts und ihre bibliographische Erfassung. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 24/1 (1997), S. 19-42.

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den Unterrichtsstoff.19 Dieser wurde in der öffentlichen Disputation vom Respondenten in Thesenform vorgetragen und verteidigt, von den Opponenten der Kritik unterworfen und so, bisweilen unter Examensbedingungen, repetiert. Nur bei einer sogenannten Inauguraldisputation erwarb der Respondent einen akademischen Grad wie das Baccalaureat, das Lizentiat oder einen Doktortitel, nicht aber nach einer exercitii causa, also ,übungshalber‘ abgehaltenen Disputation, obwohl auch sie als Leistungsausweis zählte, den z. B. Stipendiaten zu erbringen und Stellenanwärter, etwa für den preußischen Verwaltungsdienst,20 bisweilen vorzuweisen hatten. Die Funktion der disputatio als Medium der Stoffrepetition ist vor allem an den Dissertationenreihen ablesbar, die sich aus Einzelstücken zusammensetzen, in denen kapitelweise der Lehrstoff eines Fachs, z. B. der Logik, der Politik oder der Naturphilosophie, durchdisputiert wurde und die insgesamt ein gedrucktes Lehrbuch ergaben, das dann die Grundlage für weitere Disputationsübungen bilden konnte. Andererseits ist Vorlesungsnachschriften nicht selten eine gedruckte Dissertation vorgebunden, deren Kurzthesen sich zu den handschriftlichen Notizen wie ein erweitertes Inhaltsverzeichnis zu dem im Lehrbuch vermittelten Stoff verhalten. Schon die Tatsache, dass der Autor von Dissertationen in den meisten Fällen nicht eindeutig feststeht – meistens war es der Präses, der Vorsitzende der Disputation, es konnte aber auch mit unterschiedlich hohem Anteil am Text der Respondent oder sogar eine Drittperson sein –, müsste eigentlich einen nicht autorzentrischen Interpretationsansatz begünstigen. Vor allem Bibliothekare, die unbedingt den Verfasser der Dissertationen kennen wollten, um diese in den alphabetischen Autorenkatalogen richtig einordnen zu können, konzentrierten sich einseitig auf Studien zur Autorschaft. Am Anfang der modernen Forschungen zum frühneuzeitlichen Disputationswesen stand denn auch Ende des 19. Jahrhunderts eine heftige Kontroverse über die Verfasserfrage, die noch knapp hundert Jahre später auf Kosten anderer Fragestellungen das Interesse der ohnehin spärlichen Beschäftigung mit alten Dissertationen stark beanspruchte.21 Erst in den letzten

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Hanspeter Marti: Philosophieunterricht und philosophische Dissertationen im 17. und 18. Jahrhundert. In: Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 1) Basel 1999, S. 207-232. Gertrud Schubart-Fikentscher: Untersuchungen zur Autorschaft von Dissertationen im Zeitalter der Aufklärung. Berlin 1970, Anhang 2: Königliches Rescript an alle Universitäten über die Pflicht zu disputieren (14. Mai 1735), S. 106. Vgl. Literaturverzeichnis bei Hanspeter Marti: Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660-1750. Eine Auswahlbibliographie, unter Mitarbeit von Karin Marti. München u. a. 1982, S. 70-77, Schubart-Fikentscher: Autorschaft von Dissertationen (wie Anm. 20) und Hanspeter Marti: Von der Präses- zur Respondentendissertation. Die Autorschaftsfrage am Beispiel einer frühneuzeitlichen Literaturgattung. In: Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 7) Basel 2007, S. 251-274.

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beiden Jahrzehnten hat die Forschung begonnen, sich Rechenschaft über die komplexe formale Struktur des mit ‚Dissertation‘ bezeichneten Ensembles von Haupt- und Paratexten sowie über deren historische Aussagekraft zu geben. Dissertationen sind bisweilen mit Widmungen, Vorreden und Gratulationstexten in Vers- oder Prosaform angereichert, die sich auf verschiedene Rollenträger und denselben Anlass, ein gesellschaftliches Ereignis, beziehen, in dem ökonomische, ständische und gesellschaftsethische Faktoren zusammenwirkten. Diese sind dank des gedruckten Texts historischer Analyse zugänglich. Sozialgeschichte und Konstellationsforschung ziehen aus ihr ebenso viel Nutzen wie die um apersonale Ansätze erweiterte, auf sprachliche Diskursformationen und auf Diskussionsfelder ausgerichtete Textinterpretation. Das kann an zwei Besonderheiten der frühneuzeitlichen Dissertationen veranschaulicht werden, zum einen am status controversiae bzw. an der ,Streitfrage‘, die in ihnen behandelt wird, zum anderen an der in ihnen aus präventiven Gründen oft antizipierten und gleich widerlegten Gegenposition. Die Kontra-Argumente, welche die Opponenten in der Disputation dann tatsächlich vorbrachten, sind nur in Ausnahmefällen überliefert.22 Denn der Ablauf des akademischen Streitgesprächs wurde auch wegen des verwaltungstechnischen Aufwands nur selten protokolliert und die Disputation ohnehin nur als eine Summe offiziell nicht schriftlich festzuhaltender Sprechakte verstanden. Dissertationen decken wie nicht aus dem Unterricht hervorgegangene Streitschriften, jedoch mehr als andere Gattungen gelehrter Literatur, diskursive Spannungsfelder auf, auch wo sie, was häufig der Fall ist, für eine unveränderte oder nur leicht modifizierte Weitervermittlung herkömmlicher Wissensbestände eintraten. Bisweilen stellte der Präses, der dem Respondenten oder Defendenten in der Regel Sukkurs leistete, innovative Thesen auf, was im historischen Rückblick oft erst an den im Laufe der Zeit veränderten Disputationsthemen und an thematischen Akzentverlagerungen ablesbar ist. Die frühneuzeitliche Dissertation genoss bei den Zeitgenossen in der Regel wissenschaftliches Ansehen: „Dann viele Gelahrten kommen bey Untersuchung der Warheit auf neue Gedancken, wollen aber deswegen nicht gleich gantze Bücher und Tractate schreiben, sondern geben ihre neue Meinung in forma Disputationis heraus.“23 An den einzelnen Hohen Schulen vollzog sich ideologischer Wandel, z. B. die Verdrängung der Autorität des Aristoteles, in verschiedenen zeitlichen Phasen, in mehreren Anläufen und in diversen Ausprägungen. Er veränderte die Zahl der Professuren und hierarchische Zuordnungen, ließ aber die Organisationsstruktur der Fakultäten und ihr Verhältnis zueinander, ihre Stellung im Organigramm der Hohen Schulen mit der Theologie an der Spitze bis um 1800 mehr oder weniger unangetastet.

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Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart/Weimar 2007, Kapitel 7: Der ausgescherte Opponent. Akademische Unfälle und Radikalisierung, S. 191-215. Sigmund Jacob Apin: Unvorgreiffliche Gedancken / wie man so wohl Alte als Neue DISSERTATIONES ACADEMICAS mit Nutzen sammlen / und einen guten INDICEM darüber halten soll. Nürnberg/Altdorf 1719, S. 24, Anm. c.

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Das Beharrungsvermögen der universitären Strukturen spiegelt sich auch in den seit dem Mittelalter beibehaltenen Unterrichtsformen und in der schwachen Position der in den frühneuzeitlichen Disputationen bisweilen unkonventionelle Meinungen vertretenden Opponenten wider. Die meist wirksame Disziplinargewalt der mit Machtbefugnissen ausgestatteten Instanzen, d. h. der theologischen Fakultät, des Rektors, der Dekane oder der politischen Obrigkeit, verstärkten einerseits zwar die Bindung an herkömmliche Lehren. Andererseits schuf die Pluralität der involvierten, oft unter sich zerstrittenen Machtträger, deren Kompetenzen nicht für jeden Fall klar festgelegt und daher juristisch nicht einklagbar waren, Freiräume, welche die Beteiligten zu ihren Gunsten auszunutzen verstanden. Die disputatio als Unterrichtsform des grundsätzlich tolerierten und dennoch in mancher Hinsicht beschränkten Widerspruchs wird in Auseinandersetzungen um die sogenannten ‚Corollaria‘ bezeugt. Diese wurden manchmal am Schluss der Dissertation als Thesenvorrat angefügt und bestanden in der Regel aus einem einzigen Aussagesatz, der nicht unbedingt auf das eigentliche Dissertationsthema bezogen war. Die der rhetorischen amplificatio entbehrenden, daher auch ‚Theses nudae‘ genannten Supplemente eröffneten den Disputationsteilnehmern, auch ab und zu unter dem Titel ‚Paradoxa‘, einen weiten Argumentationsspielraum und waren bisweilen ein beliebtes Mittel, Konventionen unter dem Vorwand des bloßen Übungszwecks provokativ in Frage zu stellen, obwohl, wie angedeutet, auch das Gegenteil, die Repetition und Festigung in der lectio vermittelter herkömmlicher Erkenntnis beabsichtigt und mit dem Fingerzeig des hinzugefügten nego oder affirmo auch unmissverständlich gefordert sein konnte. Einen historisch lehrreichen Fall, der wohl eher unbeabsichtigt eine große und langandauernde Kontroverse auslöste, erzählt in allen seinen Auswirkungen und Verästelungen Christian Thomasius,24 der von einem am Meinungsstreit beteiligten Kontrahenten als Autorität angerufen und indirekt in die Affäre hineingezogen wurde. In einem Corollarium der unter dem Vorsitz des Rechtsprofessors Ulrich Huber (1636-1694) im holländischen Franeker verteidigten Dissertation ging es um die Autonomie der Universität als Rechtskörper, welche Amtskollegen in Frage gestellt und der Macht der politischen Obrigkeit ausgeliefert sahen. Daher rissen sie die anrüchige Seite aus der schon gedruckten Dissertation heraus, warfen sie ins Feuer und ließen dieser handfesten, aber eigentlich hilflosen Protestaktion Entgegnungen in Form von Dissertationen und anderen Streitschriften folgen. Es ist dies ein Beispiel inoffiziell-universitärer Zensur, die sich zunächst in einem Akt legislatorisch unkontrollierten Zorns gegen die von Huber und dessen Respondenten wahrgenommene libertas philosophandi resp. disputandi entlud. Die an anderer Stelle aus diskurshistorischer Sicht eingehend zu analysierende Debatte spielte sich also bereits an ihrem Ursprungsort auf den divergentesten Handlungs-

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Christian Thomasius: Schertz= und Ernsthaffter Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken / über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen. Sechster Monat oder Junius. Jn einem Gespräch vorgestellet. Halle 1688, S. 873-901.

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ebenen und in verschiedenen Gattungen lateinsprachiger Gelehrtenliteratur ab, bevor sie durch das aufstrebende Medium des Gelehrtenjournals aus dem Einflussbereich der Universität Franeker in den deutschsprachigen Raum transferiert und auch einem der Gelehrtensprache unkundigen Publikum bekannt gemacht wurde. Ende des 17. Jahrhunderts wurde nämlich das traditionelle Gattungsrepertoire der frühneuzeitlichen Gelehrtenliteratur aufgebrochen und um die Periodika, allen voran die Rezensionszeitschriften, erweitert. Diese unterlagen zwar bisweilen einer strengen Zensur, sicherten aber trotzdem der in ihnen enthaltenen Literaturkritik eine große Breitenwirkung und schützten die ‚Journalisten‘ genannten Gelehrten stärker vor allfälliger öffentlicher Entrüstung, als dies die akademischen Kleinschriften vermochten. Man kann von einer Medienrevolution um 1700 sprechen, die übrigens auch wieder in Disputationen ihren thematischen Niederschlag fand. Zu ihnen standen die Periodika sowohl in einem Konkurrenz- als auch in einem Komplementärverhältnis. Das Auftreten der Gelehrtenjournale kann als historische Bruchstelle im Gelehrtendiskurs der Frühneuzeit charakterisiert werden, weshalb sie in letzter Zeit aufseiten der sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Forschung, hauptsächlich der Germanistik, vermehrt Beachtung fanden. Eine simultane Zäsur stellte das im deutschen Sprachbereich von Morhofs ‚Polyhistor‘ geprägte Aufkommen der Litterärgeschichten dar, das dann bald mit der Konjunktur der sie fortschreibenden Periodika zusammenging.25 Beide literarischen Gattungen, das litterärhistorische Kompendium und das Gelehrtenjournal, waren neue Plattformen der Ideologie des Wissensfortschritts, die früher vor allem in den akademischen Antrittsreden und in anderen gelehrten Kasualschriften verbreitet wurde und nun, vom Beiwerk situativer Rhetorik befreit, ihren Objektivitätsanspruch mit einem ausführlichen historischen Beweisgang anmelden konnte sowie, durch deutschsprachige Periodika gestützt, noch besser durchzusetzen hoffte. Da nun, so gesehen, anstelle identifizierbarer, handelnder Subjekte sektoriell zunehmend literarische Gattungen gleichsam als Agenten im Prozess der Wissenschaftsgeschichte auftraten und daher von den durch Autorsubjekte getragenen und verantworteten Texten partiell Abschied genommen werden kann, bleibt zum Schluss die Frage nach der Leistung von Diskurstheorien und -analysen im Kontext frühneuzeitlicher Gelehrtenliteratur und Universitätsgeschichte zu beantworten. Der diskursive Ansatz lenkt die Aufmerksamkeit auf die Medien und die Modi der sprachlichen Vermittlung gelehrten Wissens, auf dessen Produktion und Rezeption unter bestimmten gesellschaftlichen, kultur-, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Bedingungen sowie auf den Einflussbereich der auch Disziplinargewalt ausübenden, im Aussehen Klöstern bisweilen nicht unähnlichen Hohen Schulen. In der Metaphorik der Disputationslehrbücher begegnen überdies semantische Gemeinsamkeiten mit dem Vokabular von Kriegführung, von Taktik und Strate-

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Frank Grunert/Friedrich Vollhardt (Hgg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007.

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gie, auch dort, wo um 1700 in der ars disputandi irenische Tendenzen und Töne die Oberhand gewinnen.26 Die Voraussetzungen und Instanzen der Wissensvermittlung sind nicht zuletzt dank der ausgezeichneten Quellenlage bei der frühneuzeitlichen Gelehrtenliteratur vergleichsweise leicht fassbar. Die kurze Tour d’Horizon sollte gezeigt haben, dass das frühneuzeitliche Gelehrtenschrifttum zahlreiche Facetten einer rekonstruktionswürdigen historischen Wirklichkeit ins Blickfeld der Forschung rückt.

2. Person und Institution im Spiegel akademischer Kleinschriftengattungen Am Beispiel des Kieler Ethik- und Poetikprofessors Sebastian Kortholt (1675-1760),27 Sohn des Kieler Theologen Christian Kortholt (1633-1694) und Bruder des Gießener Rhetorikprofessors Matthias Nikolaus Kortholt (1674-1725), wird im Folgenden die diskursanalytische Bedeutung und Verflechtung akademischer Kleinschriftengattungen mit ausgewählten Texten skizzenhaft veranschaulicht, die vom Wintersemester 1706 bis zum Sommersemester 1710 erschienen. Im Zentrum steht nicht die Biographie Kortholts, sondern die prägende Wirkung universitärer Aktionsfelder sowie etablierter Formen akademischer Diskurse. Die hier behandelten Kieler Vorlesungsverzeichnisse kündigten – im Jahreszyklus – Lehrveranstaltungen aller Art (Vorlesungen, Disputationen, botanische Exkursionen und das Sammeln von Pflanzen, ferner Experimente, astronomische Beobachtungen, Sektionen von Tierleichen, Kenntnis und Anwendung von technischen Instrumenten) an und hatten – eine Besonderheit – die Funktion von Leistungsausweisen der Professoren, die in ihnen über ihre gesamte wissenschaftliche Arbeit periodisch Rechenschaft ablegten. Hin und wieder wurden Titel im Unterricht verwendeter Lehrbücher angegeben und solche von Dissertationen und Programmschriften aufgenommen sowie die Lehrveranstaltungen, nach der traditionellen Hierarchie der Fakultäten geordnet, in absteigender Folge (Theologie, Recht, Medizin, Philosophie) bekanntgegeben. Einzelne Professoren unterrichteten gleichzeitig an zwei Fakultäten, z. B. Samuel Reyher (1635-1714) an der juristischen und als Professor der Mathematik an der philosophischen. In den Naturwissenschaften und in der Medizin wurden auf die Praxis ausgerichtete Lehrinhalte, z. B. technologische Kenntnisse, vermittelt sowie zeitgemäße Unterrichtsformen und -methoden eingesetzt, in anderen Fächern Reform-

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Instruktiv zur Ausschöpfung des Metaphernfelds des Kriegs in kritischer Absicht im Zusammenhang mit der disputatio Christian Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre. Mit einem Vorwort von Werner Schneiders. Hildesheim 1968, Das 5. Hauptstück / Von der Geschickligkeit anderer Jrrthümer zu widerlegen, S. 264-295. Kurzbiographie bei Friedrich Volbehr/Richard Weyl: Professoren und Dozenten der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel 1665 bis 1915 (5. Oktober). Nebst einem Anhang: Die Lektoren, Lehrer der Künste und Universitäts-Bibliothekare. Kiel 1916, S. 94; ausführlicher mit weiterer Literatur Rudolf Bülck: Geschichte der Kieler Universitätsbibliothek. Hg. von Wilhelm Klüver. Eutin 1960, S. 15-19.

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postulate von Christian Thomasius übernommen (Pedantismus- und Metaphysikkritik, philosophische Eklektik, moralphilosophische Trias von iustum, honestum und decorum sowie ius publicum und Reichshistorie). In den Jahren 1706-1710 war die Kieler Universität, insbesondere deren philosophische Fakultät, ein wichtiger Umschlagplatz cartesianischer Philosophie, namentlich der Physik und der Affektenlehre.28 Im Universitätsjahr 1708/09, dessen erstes Semester, wie gewöhnlich, von Michaelis bis Ostern dauerte, zählte die philosophische Fakultät neun ordentliche Professuren: Rhetorik/Geschichte, Mathematik, Physik, Kirchengeschichte/Antiquitäten, Experimentalphilosophie, orientalische Sprachen, Ethik/Poetik, Politik, Logik/Ontologie. Das Lehrangebot in den Fachordinariaten wird im erwähnten Jahr durch Ankündigungen von drei Extraordinarien ergänzt, Lektionen von Mitgliedern des subalternen Lehrkörpers fanden keine Aufnahme, wohl aber Privatveranstaltungen der Professoren. In der Ethik befasste sich Sebastian Kortholt 1706-1710 entweder mit Einzelthemen (z. B. Pflichten des Menschen, summum bonum), griff auf einschlägige Werke (Cicero) zurück oder setzte sich mit einem neueren Kompendium, der Moralphilosophie von Johann Franz Buddeus, auseinander.29 Der Poetikunterricht war ganz der Lektüre und Interpretation von Vergils Georgica und Aeneis gewidmet. Als Universitätsbibliothekar führte Kortholt die Studenten zu den Büchern und in die Litterärhistorie ein; die Bibliothek war am Mittwoch und am Sonnabend von 13 bis 15 Uhr geöffnet.30 Im November 1709 lud er

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Index operarum in academia Christian-Albertina […] absolutarum. Kiel 1706/1707; 1707/1708: Affektenlehre (Johann Ludwig Hannemann); Index (diese Anm.) 1707/1708: Physik mit passenden Experimenten (Wilhelm Ulrich Waldschmidt). Vorlesungsverzeichnisse werteten punktuell aus Peter Rohs: Philosophie. In: Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel, 1665-1965. Bd. 5: Geschichte der philosophischen Fakultät. Teil 1. Bearb. von Peter Rohs u. a. Neumünster 1969, S. 9-104, Volker Kapp: Morhof und die Rhetorik. In: Mapping the World of Learning: The Polyhistor of Daniel Georg Morhof. Hg. von Françoise Waquet. Wiesbaden 2000, S. 121-137 und Charlotte Schmidt-Schönbeck: 300 Jahre Physik und Astronomie an der Kieler Universität. Kiel 1965, die sich zu Waldschmidts Experimenten, zum Vorbild Descartes sowie zur starken Position der Naturwissenschaften im Allgemeinen äußert (S. 30f.). – Zu Hannemanns Beziehungen zur Wittenberger Descartes-Rezeption (Johann Sperling; Lob des Experiments, Ablehnung von Autoritätsbeweisen) und seinem Bekenntnis zur eklektischen Philosophie: Index (diese Anm.) 1708/1709. Die Universitätsgeschichtsschreibung zeichnet von Hannemann das Bild eines egozentrischen, zänkischen Gelehrten, eines Günstlings des Gottorfer Hofs, der gegen den Willen der Universität im Lehrkörper Einsitz genommen habe (Schmidt-Schönbeck: 300 Jahre Physik und Astronomie [diese Anm.], S. 27). Eine kleine Monographie hätte der oft im Mittelpunkt von Auseinandersetzungen stehende, ambivalente Positionen vertretende Gelehrte trotz der über ihn gefällten negativen Urteile verdient. Index (wie Anm. 28) 1709/1710. Index (wie Anm. 28) 1706/1707: Kortholts Ankündigung erwähnt einen diesbezüglichen landesfürstlichen Erlass.

60 26

Hans Martti H speeterr M

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französische und italienische Raritäten umfasse. Letztere seien, wie der Handschriftensammler Marquard Gude (1635-1690) festgestellt habe,33 sogar in den Herkunftsländern selten anzutreffen. Das Programm war eine Werbeschrift für die nun auch mit neueren philosophischen Werken und überhaupt besser ausgestattete Bibliothek, eine Huldigung an das die Gelehrsamkeit und die Universitätsbibliothek fördernde gottorfsche Herrscherhaus, den Universitätsgründer, Herzog Christian Albrecht (16411694), und dessen Bruder, den Lübecker Fürstbischof August Friedrich von Schleswig-Holstein-Gottorf (1646-1705). Auch werden die übrigen Donatoren gewürdigt. Das Programm stellt eine wichtige bibliotheks- und universitätsgeschichtliche Quelle dar,34 aus der hervorgeht, dass Kortholt bestrebt war, die Buchbestände der gelehrten Öffentlichkeit leichter zugänglich zu machen und der Universitätsbibliothek ihren musealen Charakter zu nehmen. Schon einige Jahrzehnte vor der Gründung der Universität Göttingen und der bahnbrechenden Einrichtung der damals modernsten Universitätsbibliothek im deutschsprachigen Gebiet35 bemühte man sich an anderen Schulen, z. B. wie gezeigt in Kiel, die Büchersammlungen in Gebrauchsbibliotheken für ein gelehrtes Publikum umzuwandeln. Freilich scheint die Kieler Universitätsbibliothek um 1710 nach wie vor eine reine Schenkungsbibliothek gewesen zu sein.36 Sebastian Kortholts akademisch-bibliothekarische Öffentlichkeitsarbeit, die durch eine weitere Kleinschrift ausgewiesen wird,37 lag durchaus auf der Linie der späteren Aufklärer, die sich für eine bessere Bestandserschließung und breitere Distribution gelehrten Wissens einsetzten sowie entsprechende organisatorische Maßnahmen trafen. Daher war die Zäsur, welche die Gründung der Georgia Augusta auch bibliotheksgeschichtlich markiert, nicht ganz so ausgeprägt wie bisher angenommen. Die Geschichtsschreibung über die Universitätsbibliotheken wird, angeleitet auch vom Kieler Beispiel, fortan ihre Ergebnisse verfeinern und lokalen Besonderheiten vermehrt Rechnung tragen. Jedenfalls führte Sebastian Kortholt die Bibliothek der Kieler Albertina als Dienstleistungsforum in den öffentlichen akademischen Diskurs ein. Doch erst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, in der Amtszeit von Universitäts-

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Biographie Gudes: Wolfgang Milde: Gude, Marquard [Art.]. In: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon. Bd. 5. Hg. von Olaf Klose, Eva Rudolph und Ute Hayessen. Neumünster 1979, S. 102-106. Bereits hervorgehoben von Bülck: Geschichte der Kieler Universitätsbibliothek (wie Anm. 27), S. 18. Zur communis opinio der Bibliotheksgeschichtsschreibung stellvertretend Uwe Jochum: Kleine Bibliotheksgeschichte. Stuttgart 2007, S. 112. Bülck: Geschichte der Kieler Universitätsbibliothek (wie Anm. 27), S. 14, 23 (geschlossene Aufstellung der Bücher in der Bibliothek aufgrund von Schenkungskontingenten). Kortholts erste, unter dem vielleicht missverständlichen Gattungsbegriff ‚Dissertatio‘ 1705 veröffentlichte Propagandaschrift für die Kieler Universitätsbibliothek (Sebastian Kortholt: Dissertatio de bibliotheca academiae Kiloniensis, qua viros omnium ordinum litteratos, inprimis cives academicos in eandem officiosissime invitat Sebastianus Kortholtus. Kiel 1705).

62 26

Hans H speeterr M Martti

biibliothhekar W Wilheelm m Errnstt Chri C istiaanii (1731-1179 93), errreicchtte man m nm maß ßgebblicchee orrgaForrtscchriitte, soo 17 7866 diie Öff Ö fnun ng derr Bibliioth hekk ann viier Wo ochhenntaggenn.38 niisattorischhe F Im m Rück R kbllick k errwäähnnt ddas Voorleesunngssverrzeich hniss dees Win W ntersemeesteers 17008//09 diee im m Deze D em mberr 17 7088 unnter K Kortthoolts Voorsiitz verrteiidig gte Disseertattionn üüberr diie Fra F age,, ob b 3 deer Krit K tikeer sschö öneer Lite L eratu tur Dic D chteer sein s n müss m se.39 N ch der Nac d Dispu utattion n seeien n deen Zuhö örerrn Aut A toreen vorrgeestellt wo ordeen, diee übberr die Dich D htkkunsst aufs a s Best B te geur g rteiilt hätt h ten n. Nam men weerdeen kein k ne gennannnt.

Korth holts ts Disse D ertaation n Abb.. 2: Sebasstiann Ko A z F zur Frag ge, ob übeer D Dich htunng angeemesssen n u ilen urtei n könnnee, weer kkein n Diichteer sei. s K Kieel Ex.: Nieedersäcchsischhe Staa S ats- und d 1 8 (E 1708 U verssitättsbibbliootheek Götti Univ G ingeen).

D serrtatiionnstex xt zum z m Teil T l die Üb Ü erliiefeerun ngsslücckee im m Verz V zeichnnis derr Dochh füülltt deer Dis Leehrvverransstalltun ngeen. Bereitts im i Jahhre 17703 lieeß Seb S basttian n Kort K thollt uunteer sein s nem mV Vorsittz eine e e gegeen Jea J an Lec L lerccs Par P rrhasiianaa geri g chttetee Diisseertaatioon vert v teid digeen, in deer err sicch prin p nziipieell für f diee Nach N hah hmuungg deer aantikenn Mus M sterr in der Dich D htkuunsst einssetzzte uund d vo or alle a em auff die d vonn den d en nglischhen Liiterratuurkrritik kern rn erör e rterrte Strreitfrag ge über den n Vorzzug deer aalten ode o er der d neu uerren Diichttun ng eing e ging.400 In n eineer spättereen Ab A han ndluung g

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Schm S mid dt-K Künssem mülleer: Die D Uniiverrsitäätsb bibliioth hek (wie ( e An nm.. 31), S. S 21 16. S astiaan K Seba Korrtho olt (Prääses))/An ndreeas Fly ye ((Resspon ndent): Uttrum m dee po oetiica rectte iudiccaree poossiit q non qui n n estt poeta. Kiel 17088. S astiaan K Seba Korrthollt (P Prässes)/Wiilheelm Lud dwiig Hude H emaann (Reespo ondent)): Poetiicam m veeterrem m Roomaan m aeequee acc Grraeccam nam m [… …] a conteemp ptu scrripto oris Paarrhaasiaanorrum m [… …] vvind dicaabit [… …]. K Kieel merrkun 1 3. In 1703 nA Auszzügeen mit m Anm ngs--Ko omm mentar abg gedrruckkt bei Pete P er K. K K Kapitza:: Ein bürggerli-

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griff er dasselbe Thema erneut auf, diesmal unter stärkerer Bezugnahme auf die französische Querelle des Anciens et des Modernes und auf Charles Perrault, den er zum Nachfahren des Paracelsus und von Descartes sowie zum Vorläufer Leclercs erklärte.41 Ihnen sei der Irrtum gemeinsam, die eigene Weisheit höher einzuschätzen als die von den Alten überlieferten Wahrheiten. In der Dissertation über die Urteilskompetenz in Fragen der schönen Literatur stehen wiederum die Parrhasiana im Mittelpunkt von Kortholts Kritik.42 Er spricht den von Leclerc favorisierten Philologen, die am Wort hängen blieben und nicht zur Sache vorstießen, die Fähigkeit rundweg ab, Poesie beurteilen zu können, und erklärt auch die Philosophen in dieser Hinsicht für unzuständig, da die Dichtung nicht die Tochter der Philosophie, sondern umgekehrt deren Mutter sei. Dass dem einfachen Volk kein angemessenes Urteil über die Poesie zugetraut und die Kritik der schönen Literatur einem Experten überlassen wird, versteht sich aus der Warte des an der Universität etablierten poeta doctus von selbst. Von besonderem unterrichtsgeschichtlichem Informationswert ist der Schlussteil der Dissertation, der den angesprochenen poetologischen Autorenkanon enthält, Aufschluss über den fachlichen Horizont und das Stoffrepertoire des Kieler Poetikprofessors gibt und sich als litterärhistorischer Anhang zur Geschichte frühneuzeitlicher Poetik versteht. Trotz der Parteinahme für die Anciens nimmt Kortholt Fontenelles Abhandlung über das Schäfergedicht – wenn auch zurückhaltend und ohne Kommentar – in das Verzeichnis fachspezifischer Autoritäten auf.43 Zu ihnen zählt er im deutschen Sprachbereich Jakob Masen,44 Georg Fabricius, Martin Opitz, Johann Peter Titz, Christian Weise, Daniel Georg Morhof und Andreas Tscherning.45 Diese Reihe von Gewährsleuten kennt grundsätzlich keine konfessionellen Vorbehalte, obwohl fast ausschließlich Angehörige des lutherischen Protestantismus Aufnahme in den Kanon der Dichtungstheoretiker deutschsprachiger Gebiete fanden. Auch die Listen aus anderen europäischen Ländern stammender Autoren (Italien, Frankreich, England, Niederlande) bezeugen den poetologischen Eklektizismus Kortholts, der Leclercs Einsatz für eine neue Dichtung in den Volkssprachen missbilligte, den dann Gottsched besser zu würdigen verstand.46

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cher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981, S. 61-64. Sebastian Kortholt: Dissertatio de scriptoribus quorum virtus singularibus in morum doctrinam meritis illustratur. Kiel 1706. Teilabdruck bei Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg (wie Anm. 40), S. 65-67. Ergänzend zu Kapitza ein wichtiges Zeugnis zur Querelle-Rezeption und von Kortholts Kritik an Jean Leclerc. Kortholt/Flye: Utrum de poetica recte iudicare possit (wie Anm. 39), S. 45. Ebd. , S. 42, das große Lob auf den Jesuiten: „[…] e civibus nostris Iacobus Masenius cultissimus poeta Palaestra sua eloquentiae ligatae, atque arte nova epigrammatica harum amoenitatum studiosis summopere se commendavit.“ Ebd., S. 43. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg (wie Anm. 40), S. 131f.; Thomas Pago: Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. Untersuchungen zur Bedeu-

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Hanspeter Marti

Zusammenfassend ist noch einmal auf die wechselseitige Verflechtung der frühneuzeitlichen Kleinschriftengattungen, ihren Zeugniswert für die Rezeptionsgeschichte im Allgemeinen, für die frühneuzeitliche Poetik als Unterrichtsdisziplin und die Geschichte der schönen Literatur und der Literaturkritik hinzuweisen. In dieser Hinsicht ist die Universität Kiel, nicht nur im Blick auf Daniel Georg Morhof,47 ein geeigneter, da noch kaum entdeckter Forschungsgegenstand. Das DFG-Projekt „Wissenschaftshistorische Erschließung frühneuzeitlicher Dissertationen zur Rhetorik, Poetik und Ästhetik aus den Universitäten des Alten Reiches“ unter der Leitung von Robert Seidel (Universität Frankfurt a.M.) wird mehrere an der Christian-Albrechts-Universität entstandene Thesendrucke berücksichtigen.

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tung des Vorzugsstreits für die Dichtungstheorie der Aufklärung. Frankfurt a.M. u. a. 1989, S. 145f. Waquet (Hg.): Mapping the World of Learning (wie Anm. 28).

Ingo Berensmeyer (Gießen/Gent) „Divided and Distinguished Worlds“1: Zur Diskursivierung literarischer Wissensräume im England des 17. Jahrhunderts

Die britischen Inseln, insbesondere England, bieten im 16. und 17. Jahrhundert ein im westeuropäischen Zusammenhang herausragendes Beispiel für wirtschaftliche, soziale und politische Prozesse in der Frühen Neuzeit, die häufig als Paradigma der ‚Modernisierung‘ betrachtet worden sind. Schaut man genauer hin, bietet sich jedoch keineswegs ein einheitliches, geradliniges Bild der gesellschaftlichen Entwicklung, etwa im Sinne einer „Whig interpretation of history“2, hin zu einem immer größeren Maß an Liberalisierung, einem Mehr an kritischer Öffentlichkeit, bürgerlichen Freiheitsrechten, wirtschaftlicher Unabhängigkeit auf dem Weg zur wichtigsten europäischen und schließlich globalen See- und Handelsmacht im 18. und 19. Jahrhundert. In den letzten Jahrzehnten hat selbst die Episode der englischen Republik und des Protektorats unter Oliver Cromwell den Glanz eingebüßt, den sie für marxisierende Historiker wie Christopher Hill in den 1960er Jahren noch verströmt hat, und ihre politisch-sozialrevolutionären Ambitionen, die Hill zu einer ‚English Revolution‘ gut anderthalb Jahrhunderte vor der französischen hochstilisierte, werden von revisionistischen Historikern wie Kevin Sharpe und Norman Davies mittlerweile eher als eine lokale Episode in den ‚Kriegen der drei Königreiche‘ betrachtet, als welche der englische Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts heute mitunter firmiert.3 Für Spezialisten der politischen Ideengeschichte wie Quentin Skinner ist das England Hobbes’ und Lockes ein historisches Laboratorium, in dem das politische Denken sich in zwei Spannungsfeldern bewähren muss:4 in der Auseinandersetzung zwischen Mo-

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Thomas Browne: Religio Medici and Other Works. Hg. von Leonard C. Martin. Oxford 1964, 1.34, S. 33. Herbert Butterfield: The Whig Interpretation of History. New York 1965 (zuerst 1931). Vgl. Christopher Hill: Puritanism and Revolution. Studies in Interpretation of the English Revolution of the 17th Century. London 1958; ders.: Intellectual Origins of the English Revolution. Oxford 1965; ders.: Milton and the English Revolution. London 1977; Kevin Sharpe: Criticism and Compliment. The Politics of Literature in the England of Charles I. Cambridge 1987; ders.: Remapping Early Modern England: The Culture of Seventeenth-Century Politics. Cambridge 2000; Norman Davies: The Isles. A History. London 2000, S. 490-511. Quentin Skinner: Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes. Cambridge 1996.

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derne und Antike einerseits und in konkreten gegenwärtigen Machtkonstellationen andererseits. Auch in den Naturwissenschaften und in der Medizin gibt es einen regen Austausch mit kontinentaleuropäischen Gelehrten, der nicht nur zu wichtigen Entdeckungen wie der des Blutkreislaufs durch William Harvey (1628) und des Erdmagnetismus durch William Gilbert (1600) führt, sondern auch 1660 zur Gründung der Royal Society. Im kulturellen Bereich bemüht sich England seit dem 16. Jahrhundert in einer Art nationaler Aufholjagd um die Gleichwertigkeit seiner Sprache und Dichtung mit dem Italienischen, Spanischen und Französischen; es werden in großer Zahl Sonette, Romanzen und Epen geschrieben, die Theater florieren (bis sie 1642 im Bürgerkrieg geschlossen werden), es gibt Rhetorikhandbücher und Dichtungstheorien, Emblembücher und Pamphlete. Mit dem Bürgerkrieg und nach der Restauration 1660 erlebt das Druck- und Zeitungswesen eine zuvor nicht gekannte und auch im europäischen Vergleich beeindruckende Blüte – nämlich geschätzte 22.000 Flugschriften zwischen 1640 und 1660.5 Bei so viel kultureller Kreativität ist es ein wenig verwunderlich, dass zumindest die deutsche Anglistik die Epoche zwischen Shakespeare und dem ‚Aufstieg des Romans‘6 im 18. Jahrhundert in den vergangenen Jahrzehnten eher stiefmütterlich behandelt hat. Dass deutsche Anglistikstudenten im Laufe ihres Studiums vielleicht noch mit einigen wenigen Gedichten von Andrew Marvell oder John Donne, aber kaum je mit den Schriften von John Milton, Thomas Hobbes oder John Dryden in Kontakt kommen, kann nicht nur an ‚Bologna‘ liegen, sondern auch an einer lange währenden, nahezu systematischen Vernachlässigung dieser Epoche und vielleicht sogar an der Verkennung ihrer strukturellen Relevanz für die englische Literatur- und Kulturgeschichte. Eine polemische Vermutung sei gewagt: Die traditionelle, am Kanon des New Criticism und der werkimmanenten Interpretation orientierte Literaturwissenschaft konnte diesen Texten – mit Ausnahme einiger Gedichte – zu wenig abgewinnen; auch die Dekonstruktivisten interessierten sich selten für die Literatur vor 1700. Erst die durch Foucault und den New Historicism in den 1980er Jahren geprägte Generation hätte sich – mit dem Interesse für vorromantische Diskursformen und Medienformationen – dem 17. Jahrhundert verstärkt zuwenden können. Stattdessen gab es und gibt es aber eine nach wie vor fast monopolartige Konzentration auf Shakespeare und die fünfzig Jahre zwischen ca. 1580 und 1630. Auch der New Historicism hat die Jahre zwischen 1630 und 1700 weitgehend aus dem Blick verloren. Ich werde in diesem Beitrag versuchen, einige der Hauptlinien der Diskursivierung und Medialisierung von Wissen im England des 17. Jahrhunderts, notwendigerweise skizzenhaft und schlaglichtartig, vorzustellen. Für Einzelheiten verweise ich auf mein

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Vgl. hierzu Herbert Grabes: Das englische Pamphlet. Tübingen 1990; Sharon Achinstein: Milton and the Revolutionary Reader. Princeton 1994. Ian Watt: The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding. London 1957.

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Buch Angles of Contingency7, dessen Titel ein Zitat des englischen Arztes, Gelehrten und Schriftstellers Sir Thomas Browne aufnimmt,8 das für mich zu dem Schlagwort geworden ist, mit dessen Hilfe man – in groben Zügen – wesentliche kulturelle Entwicklungen des englischen 17. Jahrhunderts in Begriffe fassen kann: Kontingenzwinkel, Blickwinkel oder Perspektiven auf Kontingenz, die Entwicklung kontingenter, revidierbarer Perspektiven auf ein bewegliches, dynamisches Feld der Wissensexpansion und -explosion, in dem insbesondere ästhetische und literarische Wissensformen eine wichtige Funktion erhalten. Natürlich setzt diese Dynamik schon viel früher ein, bedingt vor allem durch die technischen Möglichkeiten des Buchdrucks und die Folgen der Reformation; auch der bereits 1603 ins Englische übersetzte, von Shakespeare nachweislich gelesene Montaigne ist ein Denker der Kontingenz im besten Sinne, der in der englischen Literatur des frühen 17. Jahrhunderts deutliche Spuren hinterlassen hat. Was aber im Fortgang des Jahrhunderts sich ereignet, ist eine immer deutlicher werdende kommunikative und ästhetische Überwindung von Kontingenzproblemen durch den Einbau von Kontingenz in den Kommunikationsprozess selbst. Das klingt sehr (system-)theoretisch; aber ich werde versuchen, diese These an einigen konkreten Beispielen zu erläutern. Anstelle einer vielleicht anschaulicheren Fallstudie präsentiere ich eine tour d’horizon, ein theoretisches Gerüst, eine mögliche Perspektivierungsform für kulturelle Dynamiken im englischen 17. Jahrhundert – ohne jeden Anspruch auf begriffliche Konsistenz oder historische Vollständigkeit. Auch eine präzise, hieb- und stichfeste Definition des Diskursbegriffs ist hier nicht zu leisten. Ich erachte die dynamisierte und mobilisierte Form ‚Diskursivierung‘ in der Tat für die bessere Alternative zum terminologisch entweder zu engen oder zu breiten Begriff ‚Diskurs‘, halte es aber für wichtig, den Diskursivierungsbegriff um die Ebene der Medialisierung zu erweitern, um schließlich zu einem multimedialen oder multimodalen Diskursivierungsmodell zu gelangen, etwa im Rahmen einer kulturellen Medienökologie.9

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Ingo Berensmeyer: „Angles of Contingency“. Literarische Kultur im England des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2007. Browne: Religio Medici and Other Works (wie Anm. 1), S. 124: „that infallible perpetuity, unto which all others must diminish their diameters, and be poorly seen in Angles of contingency“. Zu einer wissenschaftsgeschichtlichen Vorgeschichte dieses Ansatzes vgl. K. Ludwig Pfeiffer: Von der Materialität der Kommunikation zur Medienanthropologie. Aufsätze zur Methodologie der Literatur- und Kulturwissenschaften 1977-2009. Hg. von Ingo Berensmeyer und Nicola Glaubitz. Heidelberg 2009; Ingo Berensmeyer: Cultural Ecology and Chinese Hamlets. In: New Literary History 42.3 (2011), S. 419-438; ders.: From Media Anthropology to Media Ecology. In: Travelling Concepts for the Study of Culture. Hg. von Ansgar Nünning und Birgit Neumann. Berlin/New York 2012, S. 321-336.

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1. Moderne Kommunikation im englischen 17. Jahrhundert Mit dem wachsenden Einfluss der Schrift und des Buchdrucks in der Frühen Neuzeit nimmt nicht nur die Leserschaft zu, und mit ihr die Unsicherheit über die Annahme oder Ablehnung bestimmter Kommunikationen, sondern auch die Menge alternativer, konkurrierender Kommunikationen. Die Reaktionen von Schreibenden und Lesenden auf die Proliferation von Schrift bedingen Prozesse der Diskursivierung und Professionalisierung, die Clifford Siskin für das 18. und das beginnende 19. Jahrhundert sehr eindringlich beschrieben hat.10 Entscheidende Weichen für diese Entwicklung werden jedoch bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts gestellt: Der englische Neoklassizismus, so meine These, entwickelt ab etwa 1650 eine dieser Problematik adäquate Begriffssprache der Beweglichkeit, der Zirkulation, der Kontingenz und der Wahrscheinlichkeit, um mit diesen Problemen umgehen zu können. Weil literarische und andere Diskurse der Frühen Neuzeit nur transversal, nicht hierarchisch aufeinander bezogen werden können, muss die wissenschaftliche Erforschung literarischer Kultur die kontingenten materiellen (Gelingens- und Einschränkungs-) Bedingungen für literarische Kommunikation rekonstruieren, jenes Bedingungsgefüge, in dem literarische Kommunikation etabliert wird, in dem sie ihre performative Gültigkeit und/oder ihre Überzeugungskraft behauptet oder einbüßt. Die Anfänge dieser Problematik liegen bereits in der frühen Buchdruckkultur und in der Koexistenz von Buchdruck und handschriftlichen Publikationsformen; die Wege, damit umzugehen, werden erstmals im 17. Jahrhundert systematisch reflektiert. Die Buchdruckkultur fördert Kommunikationserfahrungen der Distanz, welche eine verstärkte Reflexion auf die spezifischen Unterschiede zwischen ‚literarischer‘ (als gedruckter und veröffentlichter) Kommunikation und anderen, weniger mittelbaren Formen sozialer Interaktion nach sich ziehen. Als z. B. Thomas Hobbes 1628 seine Thukydides-Übersetzung in Druck gibt, die ausdrücklich die Verbindung zwischen Sprache und Öffentlichkeit problematisiert, merkt er im Vorwort an: „there is something, I know not what, in the censure of a multitude, more terrible than any single judgment, how severe or exact soever“11. Hobbes artikuliert das Unbehagen, das entsteht, wenn man sich dem Urteil gänzlich Fremder über große räumliche und vielleicht sogar zeitliche Entfernungen ausgesetzt sieht und versuchen muss, diese Distanz und diese Unbestimmtheit der Kommunikation mithilfe auktorialer Strategien bereits im Vorfeld zu überwinden oder wenigstens erträglich zu machen. Für dieses „I know not what“, dieses der Kultur des Buchdrucks eigene Element der Ungewissheit und Unsicherheit, fehlt selbst dem sonst so wortgewandten Hobbes ein fester Begriff.

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Clifford Siskin: The Work of Writing. Literature and Social Change in Britain 1700-1830. Baltimore 1998. Thomas Hobbes: Thucydides. Hg. von Richard Schlatter. New Brunswick 1975, S. 6.

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Das Fehlen eines modernen Literaturbetriebs und -begriffs, die noch nicht erfolgte Professionalisierung und die damit einhergehende Vielfalt der Stimmen, die in der republic of letters um Aufmerksamkeit wetteifern, schärfen ein der frühneuzeitlichen Kultur eigenes Kontingenzbewusstsein. Ein Autor kann nie ganz sicher sein, ob das, was er in Druck gibt, so verstanden wird, wie er es verstanden wissen will; er kann nie die Gewissheit haben, dass er sein Zielpublikum und dessen Zustimmung erreichen wird. Im Gegenzug müssen Leser lernen, Zeichen der Manipulation und Propaganda zu erkennen, eigene Interpretationstechniken zu entwickeln und Texte ‚gegen den Strich‘ zu lesen – besonders in den Jahren des Bürgerkriegs, in denen sie durch eine gewaltige Flut von Flugschriften zu politischen Handlungen aufgerufen werden. In der Frage nach der kulturellen Bedeutung des Medienwechsels vom Manuskript zum gedruckten Buch scheint es keine einhellige Meinung gegeben zu haben.12 Hobbes etwa neigt dazu, sie herunterzuspielen; er nennt die Erfindung des Buchdrucks „though ingenious, [...] no great matter“ im Vergleich zur Erfindung der Schrift.13 Andere zeigen sich betroffener und wettern gegen die Auswirkungen der Druckkultur – in Texten, die sie dessen ungeachtet im Druck veröffentlichen. Um 1640 sieht Sir Thomas Browne sehr klar, dass die Druckerpresse eine wichtige Waffe in den politischen und religiösen Konflikten Englands geworden ist; sie sei, schreibt er, eine Erfindung, die in ihrer militärischen Anwendbarkeit dem Kompass und den Feuerwaffen gleichkomme und daher auch deren beklagenswerte „incommodities“ besitze, nämlich ihr Zerstörungspotential.14 Als Grundproblem proto-literarischer Kommunikation in der Frühen Neuzeit lässt sich die Unvereinbarkeit von Universalismus und Kontingenz ausmachen. Formale Folgen für Textkommunikation sind einerseits eine erhöhte Hybridisierung von Gattungen (Folge des Unsicherwerdens traditioneller Kommunikationsformen) und andererseits eine verstärkte appellative Aktivierung des Lesers durch Rhetorik (Versuch der Kompensation verlorener unmittelbarer Publikumsbindung und Wirkungssicherheit). Diese Veränderungen stehen in Bezug zu den veränderten Bedingungen des intellektuellen Lebens in der Frühen Neuzeit – verändert durch die Wissenstechnologien des Buchdrucks und die Wissensräume der Bibliothek und der Wunderkammer, die im frühen

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Zu Übergangsphänomenen der Manuskriptpublikation vgl. Harold Love: Scribal Publication in Seventeenth-Century England. Oxford 1993; Arthur F. Marotti: Manuscript, Print, and the English Renaissance Lyric. Ithaca/London 1995; Peter Beal: In Praise of Scribes. Manuscripts and Their Makers in Seventeenth-Century England. Oxford 1998; David McKitterick: Print, Manuscript, and the Search for Order, 1450-1830. Cambridge 2003. Vgl. allgemein zum Stellenwert der Handschrift in der Frühen Neuzeit Jonathan V. Goldberg: Writing Matter. From the Hands of the English Renaissance. Stanford 1990. Thomas Hobbes: Leviathan. Hg. von Richard Tuck. Cambridge 1996, S. 24. Browne: Religio Medici and Other Works (wie Anm. 1), 1.24, S. 25. Im Jahre 1620 führt Francis Bacon „printing, gunpowder, and the magnet“ als drei Erfindungen auf, die „have changed the whole face and state of things throughout the world“ (New Organon, Aphorismus 129. In: Collected Works of Francis Bacon. Hg. von James Spedding, Robert Leslie Ellis und Douglas Denon Heath. London 1875, Reprint London 1996. 12 Bde., Bd. 4, S. 114).

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17. Jahrhundert noch hochgradig flexibel und nicht vollständig institutionalisiert oder ‚diszipliniert‘ sind. Die Unterscheidung zwischen ‚privaten‘ und ‚öffentlichen‘ Räumen und Kommunikationen bleibt fließend. Mit der Ausdehnung und fortschreitenden Differenzierung einer Buchdruckkultur – und dem endgültigen Zusammenbruch der spätmittelalterlichen Korrespondenz zwischen Sein und Wissen15 – entsteht mehr und mehr die Möglichkeit alternativer, vergleichender Beobachtungen von Wirklichkeit, entsteht mithin die Grundform von ‚Kultur‘ im modernen Verständnis einer Relativierung von Beobachtungshaltungen und einer Befragung von Gegebenem auf alternative Möglichkeiten. Wenn etwa John Florio in seiner Montaigne-Übersetzung von 1603 schreibt „We have no communication with being“16, dann registriert er (auch) ein gesteigertes Kontingenzbewusstsein. Damit wird jedoch der enzyklopädische Anspruch an die textförmige Aufbereitung von Wissen doppelt infrage gestellt: zum einen durch die unmittelbar von der Ausdehnung der Wissensbestände motivierte Krise des Universalismus, zum anderen durch die gesteigerte Problematik der Kontingenz von Kommunikation selbst. In einer solchen Situation werden die durch die Medienkonfiguration des Buchdrucks ermöglichten Relationen zwischen Autoren, Druckern, Texten und Lesern vielfältiger und immer weniger überschaubar. In manchen Texten bildet sich die Tendenz zu einer Fiktionalisierung heraus, die den entpragmatisierten Spielcharakter des Textes hervorhebt und zugleich die Vorbildfunktion der mündlichen Interaktion für Schriftkommunikation in den Hintergrund drängt. Auktoriale Darstellungsstrategien werden komplexer und auch vordergründiger – ein Symptom für die schwindende Geltungskraft humanistischer Diskurse. In Robert Burtons Anatomy of Melancholy (1621) findet sich zum Beispiel ein kompliziertes Arrangement von z. T. fiktionalisierten Thematisierungen des hochgradig instabilen Verhältnisses zwischen Autor, Buch und Leser. In der theatralen Inszenierung der Akte des Schreibens und Lesens kommt ein unstillbarer Spielcharakter zum Ausdruck; Ziel des Textes ist die Aktivierung der Selbsterkenntnis des Lesers und dessen Verwandlung in einen Beobachter globaler Melancholie und eigener Narrheit. Melancholie wird bei Burton zu einem Aspekt, von dem aus die ganze Welt – einschließlich Autor und Leser als in dieser Welt lebende Personen – darstellbar und verstehbar wird. Es ist jedoch nur ein möglicher Aspekt neben anderen, die etwa auch durch die galenische Humoralpathologie vorgegeben werden könnten: Man stelle sich z. B. eine ‚Anatomie des Phlegma‘ vor. So steht die Welthaltigkeit der Bur-

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Eine für Mediävisten sicherlich inakzeptable Verallgemeinerung; vgl. jedoch Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a.M. 1996; ders.: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Nachahmung und Illusion. Poetik und Hermeneutik I. Hg. von Hans Robert Jauss. München 1960, S. 9-24 zu einem für das Mittelalter postulierten Wirklichkeitsbegriff der ‚garantierten Realität‘, der in der Neuzeit durch einen Wirklichkeitsbegriff des offenen Kontextes ersetzt wird. Michel Eyquem de Montaigne: The Essays of Montaigne. Done into English by John Florio Anno 1603. New York 1967, S. 329.

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ton’schen Anatomy unter dem Index einer strikten Aspekthaftigkeit; diese Welt ist immer auch anders möglich. Burton gebraucht zwar eine antike und mittelalterliche medizinische Vorstellung, aber seine Verwendung macht zugleich auf die in dieser Vorstellung angelegte Kontingenz menschlicher Befindlichkeiten aufmerksam, die zur Grundlage ganzer Weltentwürfe werden können. Der Universalismus der Anatomy wird so durch Kontingenz gebremst und gebunden.17 Die Frage nach der Funktion literarischer Kommunikation in einer sich (zunehmend funktional) differenzierenden Gesellschaft18 bleibt das 17. Jahrhundert hindurch und darüber hinaus wesentlich. Dazu werden jedoch andere Lösungen erforderlich. Es geht, entlang der Bruchlinie zwischen Späthumanismus und Neoklassizismus, um weit mehr als um binnenliterarische Probleme der Wissensvermittlung und Unterhaltung; die ‚Nützlichkeit‘ literarischer Kommunikation ist im 17. Jahrhundert äußerst weit gefasst. Wenn die Dichtkunst am Überzeugungspotential rhetorischer Techniken legitim teilhat, dann kann sie als noch effektiveres Mittel zur Verbreitung rationaler Werte und moralischer Lehrsätze zum Einsatz kommen. Aus diesem Grund fordert Hobbes im Leviathan19 eine Allianz zwischen Urteilskraft und Phantasie (wie auch zwischen Wissenschaft und Beredsamkeit), empfiehlt aber zur gleichen Zeit in seiner Antwort auf William Davenants Preface to Gondibert auch eine strategische Verbindung zwischen Philosophie und Dichtkunst20 – eine Verbindung, die in der Dichtungstheorie der Epoche schon angelegt ist, die Hobbes in seiner persönlichen Zusammenarbeit mit Davenant aber auch aktiv voranbringt und die sich in ihren Essays zum (Fragment gebliebenen) royalistischen Epos Gondibert21 materialisiert. Die gesteigerte Schwierigkeit literarischer Kommunikation ist eine Folge des Kontingentwerdens von Ordnungsvorgaben und Empirie. Sie ergibt sich aus der Notwendigkeit, sich als Autor mit der Meinung eines schwer einzuschätzenden Publikums auseinanderzusetzen und um dessen Einverständnis zu werben. Dieses Publikum zeichnet sich dadurch aus, dass es durch politische, räumliche, diskursive und proto-systemische soziale Trennlinien nicht nur binnendifferenziert, sondern fragmentiert und auch geographisch verstreut ist. Die konstitutionellen Umwälzungen des Bürgerkriegs und der ihm vorausgehenden langen Phase eines ‚kalten Kriegs‘ zwischen König und Parlament sind Faktoren, die zur Beschleunigung solcher Differenzierungsentwicklungen beitragen. Das insbesondere im Puritanismus als ein innerer, individualisierender Kern von Erfahrungsevidenz und Glaubensgewissheit immer wieder betonte ‚Gewissen‘ (conscience) bildet ein weiteres

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19 20 21

Vgl. Berensmeyer: „Angles of Contingency“ (wie Anm. 7), S. 63-80. Das Zitat meines Titels („divided and distinguished worlds“) aus der Religio Medici von Sir Thomas Browne (vgl. Anm. 1) ist in diesem Zusammenhang als Anspielung auf die beginnende (System-)Differenzierung der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts zu verstehen. Hobbes: Leviathan (wie Anm. 13), S. 51-52. „The Answer of Mr. Hobbes to Sir Will. D’Avenant’s Preface Before Gondibert“ (1650). In: William Davenant: Gondibert. Hg. von David F. Gladish. Oxford 1971, S. 45-55, S. 49. Siehe Davenant: Gondibert (wie Anm. 20).

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wichtiges Element in diesen Entwicklungen, da es zur Gruppenbildung von die gleichen Überzeugungen teilenden Individuen führt sowie zu radikalen Abgrenzungen gegen andere Gruppen und andere Überzeugungen. Derartige Individualisierungsschübe stellen ein traditionelles politisches Denken vor große Schwierigkeiten, denn in ihm ist eine ‚Freiheit‘ des Individuums stets nur innerhalb der als notwendig erachteten Grenzen des vom Souverän eingeforderten Gehorsams denkbar bzw. als aus dem Feudalrecht bekannter Gegensatz zur Leibeigenschaft,22 nicht jedoch als radikale Individualität einer verinnerlichten moralischen Autorität. Die Buchdruckkultur erweitert die Möglichkeiten literarischer Autorschaft und auch politischer Autorität, aber sie schwächt zugleich deren Geltung, indem sie sie entpersonalisiert.23 Mit dem wachsenden Unbehagen in der Kommunikation mit vollkommen fremden Menschen über gewaltige Entfernungen in Raum und Zeit, die im England der Bürgerkriegszeit potenziert werden durch eine „explosion of print“24 in den 1640er Jahren, werden neue auktoriale Strategien erforderlich, mit denen „die hermeneutischen Freiheiten von Lesern eingeschränkt werden können“.25 Die öffentliche Legitimierung und Autorisierung eines politischen Herrschers folgt immer seltener aus dessen eigenen Handlungen, sondern wird zur Aufgabe von Literaten, die akzeptable, offiziell sanktionierte Repräsentationen liefern: autoritative „fictions of state“26, deren strategischtaktische Ausrichtung kaum mehr verschleiert wird. Während König James I. (reg. 1603-1625) noch seine eigenen Werke (Works) im Folioformat herausgibt und noch dazu eine Bibelübersetzung mit seinem Namen autorisiert, ist bei Charles I. (reg. 16251649) schon ein Ghostwriter für das offizielle königliche Bild zuständig (Eikon Basilike, verfasst von John Gauden); gegen Ende des 17. Jahrhunderts, bei Charles II. und James II. (reg. 1660-1685 und 1685-1689), sind es die namhaften Dichter John Dryden (Astræa Redux) und Alexander Pope (Windsor Forest), die den Königen etwas mehr imperialen Glanz verleihen. Aufgrund dieser neuen Entwicklungen zollt man den persuasiven Kräften der Rhetorik verstärkte Aufmerksamkeit. In der Politik genügt es nicht, im Besitz der Wahrheit zu sein; man muss auch Erfolg haben, muss andere davon überzeugen (oder zumindest überreden), dass es sich in der Tat um die Wahrheit handelt. Zu diesem Zweck reicht die Überzeugung einzelner nicht aus, sondern es muss eine öffentliche Zustimmung er-

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Vgl. Richard Tuck: Natural Rights Theories. Their Origin and Development. Cambridge 1979, S. 97. Zur unklaren Unterscheidung zwischen Autorschaft und Autorisierung in der Frühen Neuzeit vgl. Sharpe: Remapping Early Modern England (wie Anm. 3), S. 28f.; vgl. auch Hobbes: Leviathan (wie Anm. 13), 1.16, S. 111-115 ; Paul Griffiths/Adam Fox/Steve Hindle (Hgg.): The Experience of Authority in Early Modern England. Houndmills/London 1996. Kevin Sharpe: Reading Revolutions: The Politics of Reading in Early Modern England. New Haven/London 2000, S. 55; vgl. Joad Raymond: Pamphlets and Pamphleteering in Early Modern Britain. Cambridge 2003, S. 162f. Kevin Sharpe: Reading Revolutions (wie Anm. 24), S. 44. Love: Scribal Publication in Seventeenth-Century England (wie Anm. 12), S. 164.

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reicht werden, und dies kann nur gelingen, indem man die ‚Demagogen‘ („demagogues“: Hobbes’ Begriff bereits in seiner Thukydides-Übersetzung von 1628)27 mit ihren eigenen Waffen schlägt: mit der Macht der Rede, die die Leidenschaften der breiten Masse anspricht – derjenigen, die weder über wit noch über judgment verfügen, die durch Bilder leicht beeinflussbar und des klaren Denkens, zumeist wohl auch des Lesens nicht mächtig sind. Als Folge eines solchen Gedankengangs überrascht es nicht, wenn Hobbes den ideologischen Gebrauch literarischer Texte für politische Zwecke legitimiert. In keinem anderen englischen Text aus dieser Zeit wird die politische Funktion der Literatur so deutlich herausgestellt wie im Dialog zwischen Davenant und Hobbes in den zwei Einleitungstexten zu einer wohl schon damals dem kulturellen Vergessen überantworteten epischen Dichtung, Davenants fragmentarischem Langobarden-Epos Gondibert. Tarnen und Täuschen ideologischer Vorgaben sind das Gebot der Stunde; die Dichtung hat eine wichtige propagandistische Funktion im Kampf um die emotionale und rationale Zustimmung des Volkes zu erfüllen. An diesen ideologischen Vorgaben für die Literatur ändert sich nach der Restauration 1660 zunächst nur wenig; das heroische Drama ebenso wie die Tragikomödie und die englische Halb-Oper transportieren meist ‚staatstragende‘ politische Botschaften. Obwohl in offiziellen Verlautbarungen nun wieder Legitimationsstrategien für absolute Herrschaft im divine right of kings gesucht werden,28 sieht die politische Wirklichkeit sehr viel weltlicher aus. Höflinge wie John Wilmot, Earl of Rochester, interessieren sich wenig für die göttliche Autorität ihres Königs; statt dessen persiflieren und zelebrieren sie seine Körperlichkeit und Sexualität in einer drastischen Unmittelbarkeit, die das überkommene Ordnungsschema der Zweikörpertheorie29 zugleich bestätigt, banalisiert und satirisch ummünzt: His Sceptter and his Prick are of a Length, And she may sway the one, who plays with th’other And make him little wiser than his Brother.30

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Hobbes: Thucydides (wie Anm. 11), S. 13. Vgl. etwa Robert Filmer: Patriarcha and Other Writings. Hg. von Johann P. Sommerville. Cambridge 1991. Ernst H. Kantorowicz: The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology. Princeton 1957. John Wilmot: [A Satire on Charles II]. In: The Poems of John Wilmot Earl of Rochester. Hg. von Keith Walker. Oxford 1984, S. 74f., V. 11-13. Zur pornographischen Literatur der Stuart-Zeit vgl. Roger Thompson: Unfit for Modest Ears. A Study of Pornographic, Obscene and Bawdy Works Written or Published in England in the Second Half of the Seventeenth Century. London/Basingstoke 1979; Harold Weber: Carolinean Sexuality and the Restoration Stage. Reconstructing the Royal Phallus in Sodom. In: Cultural Readings of Restoration and EighteenthCentury English Theater. Hg. von Douglas J. Canfield und Deborah C. Payne. Athens (Georgia) 1995. In The Farce of Sodom or The Quintessence of Debauchery, einem John Wilmot zugeschriebenen pornographischen Stück, wiederholt König Bolloximian bereits in den ersten Zeilen

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Auch im politischen Bereich zeigt sich ein Auseinanderklaffen zwischen offiziellem Legitimationsanspruch und tatsächlicher Orientierungsschwäche. Der Hof scheint mehr Zeit und Geld für Skatologisches als für Eschatologisches aufzuwenden; seine Zentrierung auf sexuelle Selbstreferenz ist denn auch als ein Symptom seiner Isolation von der gesellschaftlichen Welt außerhalb der unmittelbaren Grenzen des Hofstaats gedeutet worden.31 Immerhin wird nach 1660 nicht mehr mit Musketen und Kanonen geschossen. Wissensdiskursivierung beinhaltet im England des 17. Jahrhunderts nicht nur eine Separierung von Wissensformen in neu entstehende Diskursordnungen (über die sicher noch mehr zu sagen wäre), sondern auch eine Disziplinierung und Zivilisierung öffentlicher Auseinandersetzungsformen. Nach der Restauration bekämpfen befeindete Gruppen einander nicht mehr mit militärischen, sondern mit virtuellen, künstlerischen Waffen. Man macht Gebrauch von elaborierten sprachlichen Strategien der Täuschung und Verstellung, ähnlich wie es Hobbes’ Schriften vorwegnehmen. In einer auf Kompromisse gegründeten Gesellschaft32 ist nur eine begrenzte Auswahl von Handlungsmotivationen akzeptabel; daher gilt es oft als wirksamer, seine wahren Gründe zu verheimlichen und ein offenes Bekenntnis der eigentlichen Absichten zu vermeiden. So entsteht ein weiterer Individualisierungsschub, gleichsam als Kehrseite zur Innerlichkeit des puritanischen Gewissens: Individualität und Innerlichkeit sind das, was man vor den anderen geheim halten muss, um sozial erfolgreich handeln zu können. Zur vereinzelnden Sprache des Gewissens tritt die stärker sozialisierte, die Gruppenbildung fördernde Sprache des Interesses und der Interessen. So ist die Literatur der Restaurationszeit voller kodierter Sprachhandlungen, häufig – zumindest ohne sorgfältige Kontextualisierung – „unmöglich zu entziffern“.33 Verstellung und Heuchelei sind typische Kommunikationsformen, vermutlich auch notwendige Überlebenstechniken für Einzelne sowohl in der City als auch bei Hofe. Hofdichtung und city comedy sind die beiden Gattungen, in denen diese Kommunikationstechniken durchgespielt und virtuell erprobt werden. Hinzu kommt eine Flut von courtesy books als Ratgeber für den Einzelnen, wie er seine Ehrlichkeit wohlportioniert einzusetzen und die Künste der Konversation und Dissimulation richtig, d. h. gewinnbringend anzuwenden habe.34 Die-

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die Gleichsetzung von Phallus und Zepter (John Wilmot: Complete Poems and Plays. Hg. von Paddy Lyons. London/Vermont 1993, S. 129, V. 6-8). Vgl. Rudolf Schweikart: Der Konstitutionsprozeß von Gesellschaft im vorindustriellen England. Historische Hermeneutik und soziologische Rekonstruktion. Frankfurt/New York 1986, S. 46-53. Vgl. John Spurr: England 1649-1750. Differences Contained? In: The Cambridge Companion to English Literature 1650-1740. Hg. von Steven N. Zwicker. Cambridge 1998, S. 3-32. Maximillian E. Novak: Introduction. In: Politics as Reflected in Literature. Papers Presented as a Clark Library Seminar 24 January 1987. Hg. von Richard Ashcraft und Alan Roper. Los Angeles 1989, S. vii-xi, hier S. vii. Vgl. Dieter A. Berger: Die Konversationskunst in England 1660-1740. Ein Sprechphänomen und seine literarische Gestaltung. München 1978, S. 77-111; James Thompson: Lying and Dissem-

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se Umstände sind in Literaturtheorie und -praxis der Restaurationszeit wohlbekannt und wirken auf die spezifische Prägung der literarischen Kultur nach 1660 zurück. Die Gesellschaft wandelt sich in der zweiten Jahrhunderthälfte von einer Gesellschaft der Ehre und der Klientelbeziehungen zu einer weitgehend kommerzialisierten Gesellschaft, die auf Selbstpromotion und vertraglich geregelte Austauschbeziehungen gegründet ist.35 Politische Semantik stellt von mittelalterlichen Ideen des commonwealth auf eine rationalisierte Ideologie des state um; der Diskurs der Ritterlichkeit wandelt sich in den Diskurs der politeness und des good breeding, die das Verhalten und die Eigeninteressen von Individuen sozialkonform konditionieren. Machiavellis Göttin Fortuna wird ersetzt durch Daniel Defoes Lady Credit. Die langfristigen Veränderungen in der literarischen Kultur des 17. Jahrhunderts lassen sich als eine graduelle ‚Entzerrung‘ von Diskursen auffassen. Literarische Kommunikation wird dabei zunehmend zu einem Medium der Unterhaltung: nicht mehr der Arbeit, sondern der Muße zugeordnet. Aber diese neue, enger angelegte Funktion des Literarischen ist zunächst nicht autonom, sondern ihrerseits kontingent, weil sie in hohem Maße von externen sozialen und wirtschaftlichen Faktoren bestimmt ist und bleibt. Die Regeln, nach denen ein Text gelesen wird, werden nicht vom Text selbst oder von seinem Autor festgelegt, wie stark auch immer eine auktoriale Kontrolle begehrt und in Vorworten und Widmungen behauptet werden mag. Literaturgeschichte vor 1700 ist daher notwendigerweise eine Geschichte vor ‚der Literatur‘,36 weil ihr Gegenstand, wie wir ihn kennen – Literatur als ästhetische Kommunikation –, als solcher noch nicht existiert. In einem weiter gefassten europäischen Kontext gehören diese proto-systemische Verzweigung und Trennung von Diskursen – der Weg vom Humanismus zum Neoklassizismus und Empirismus – zur Vorgeschichte aufklärerischer Einstellungen zur Öffentlichkeitskommunikation. Sie gehören auch zur Vorgeschichte der Emergenz des Romans als eines massenkompatiblen Mediums – eines der wohl faszinierendsten kulturellen Objekte, die aus dem diskursiven Rauschen des 17. Jahrhunderts hervorgehen und deren intellektuelle und kulturelle Grundlagen in der Medien- und Diskurskonfiguration des englischen Neoklassizismus zu finden sein dürften. Als einer solchen Konfiguration gelingt es dem englischen Neoklassizismus, das Verhältnis von Kontingenz und Kommunikation neu zu regeln; dabei gewinnen das Lesen und die Rolle des Lesers im Kommunikationsprozess eine Schlüsselfunktion in der Reflexion auf Wahrnehmungs- und Kommunikationsvorgänge im Allgemeinen. Lesen wird zu einem zentralen Paradigma für menschliche Orientierung und für kulturelle

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bling in the Restoration. In: Restoration. Studies in English Literary Culture, 1660-1700 6 (1982), S. 11-19. Kevin Sharpe/Steven N. Zwicker (Hgg.): Refiguring Revolutions. Aesthetics and Politics from the English Revolution to the Romantic Revolution. Berkeley/Los Angeles/London 1998, S. 7. Siehe hierzu auch Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tübingen 2001.

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Prozesse des Umgangs mit Kontingenz im Rahmen der Etablierung einer neuen normativen Ordnung neoklassizistischer civility vor und nach 1689. Diese Ordnung regelt nicht zuletzt die Bedingungen, unter denen sich ‚Kultur‘ im systemtheoretischen Sinn einer innergesellschaftlichen Vergleichsperspektive entwickeln kann. Sie kann ganz allgemein definiert werden als eine neue Autoritätsverteilung zwischen ‚Individualitäten‘ und ‚Textualitäten‘, Innerlichkeit und Öffentlichkeit, die für textuelle Kommunikationsprozesse entscheidend und stabilisierend wirkt, indem sie – auf der Grundlage von epistemischer Skepsis, rationaler Methode und Wahrscheinlichkeitskalkül – perspektivisch integrierte, d. h. alternative und kontingente Möglichkeiten der Wahrnehmung von Wirklichkeit stets mit berücksichtigende Kommunikation fördert und fordert. Dieses Modell formiert sich im späten 17. Jahrhundert zu einer hegemonialen Diskursordnung, die bis weit ins 18. Jahrhundert hinein – und z. T. darüber hinaus – Bestand hat. Wie unterschiedlich die Konturen im Einzelnen auch ausfallen, die Diskursordnung bleibt stabil – gerade weil es gelingt, in ihr mit Phänomenen der Instabilität, Unwahrscheinlichkeit und Kontingenz zu rechnen. ‚Kultur‘ wird so zu einem reflektierten und reflexiven Begriff, der das praktiziert, was er beschreibt: Er perspektiviert Beobachtungen und erzeugt beobachtungsleitende Perspektiven. Die Geschichte des Neoklassizismus in England ist auch die Geschichte dieser diskursiven Dynamik.

2. Für eine Neubestimmung des Begriffs ‚Neoklassizismus‘ In der neoklassizistischen Diskursformation werden Bestimmungen dessen, was als rational und natürlich gelten soll, auch durch politische und historische Kontingenzen konturiert, etwa durch Vorstellungen vom Naturzustand im politischen Imaginären und in der literarischen Kultur. In diesen Diskussionen werden Konflikte zwischen visuellen, verbalen und auditiven Kommunikationsformen nicht gelöst, sondern auf eine andere Argumentationsebene transponiert, die sich speist aus dem gesteigerten Bewusstsein einer wohl nicht mehr auflösbaren, durch den Bürgerkrieg und seine gesellschaftstheoretischen Reflexionen bestätigten und zugleich verstärkten Gegensätzlichkeit zwischen natürlichen und politisch-gesellschaftlichen Ordnungsvorgaben. Die Natur wird bei den Royalisten zu einer dem Politischen entgegengesetzten Gegenwelt. In der royalistischen romance und auch in Davenants Gondibert sind diese fiktiven Welten zwar noch politisch konnotiert, aber nur in Absetzung von der ‚echten‘ Politik, die auf ganz anderen Schlachtfeldern stattfindet. Hieran kann auch Davenants Vorwort mit seiner geradezu brachialen Betonung der politischen Funktion epischer Dichtung nichts mehr ändern. Die langobardische Ritterwelt des Gondibert mit ihren höfischen Tugenden wird zu einer Allegorie im Leerlauf, ohne Kontakt zur politischen Wirklichkeit um 1650. Der in diesen Texten reflektierte Bruch zwischen Natur und civitas lässt sich nicht mehr kitten. Das höfische System Charles’ II. isoliert sich zusehends von seiner städtischen, parlamentarischen und nicht-aristokratischen Umwelt, die sich als weitaus fle-

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xibler, heterogener und dynamischer erweist. Diese konträre Entwicklung, deren Ausgang in einem offenen politischen Konflikt zwischen Hof und Parlament vorprogrammiert erscheint, gipfelt literarisch einerseits in der hermetisch geschlossenen PornoWelt eines Rochester (Sodom), andererseits in den auf Offenheit und Revidierbarkeit, Kontingenz und Wahrscheinlichkeit angelegten – und in diesem Sinne ‚neoklassizistischen‘ – Weltentwürfen John Miltons (Paradise Lost) und John Lockes (Two Treatises of Government). Vor dem Hintergrund des Geltungsverlustes traditioneller Ordnungsmodelle wird auch eine Neuorientierung des Verhältnisses zwischen einzelnen Menschen, Menschenmengen und Gesellschaftsstruktur immer dringlicher. Wie lässt sich öffentliche Kommunikation mit der Heterogenität diverser Publika und nicht zuletzt mit den partikularen Interessen jedes einzelnen Subjekts (als Untertan oder Bürger, als Element der Masse oder der Nation) vermitteln? Das Problem stellt sich mit verschärfter Dringlichkeit in den 1680er Jahren. In dieser Zeit politischer Krisen, vor einer systematischen Neufundierung und Konsolidierung nach 1688, werden viele der älteren Ängste und Begierden noch einmal wachgerufen, stehen die Fundamente des Gesellschaftlichen zur Disposition. Literatur kann hier jedoch keine überzeugenden Lösungen mehr anbieten, sondern wird selbst zu einem Teil des Problems. Sie kann eine politisch und konfessionell gespaltene Gesellschaft nicht mehr versöhnen und muss sich auf einer Seite der politischen Bruchlinie zwischen Whig und Tory positionieren. Das 17. Jahrhundert verzeichnet den endgültigen Zusammenbruch antiker und mittelalterlicher Vorstellungen gesellschaftlicher und menschlicher Einheit. Andere Fragen, andere Antworten als diejenigen, die sich der Tradition entnehmen lassen, werden notwendig: Bacon und Descartes begründen neue Epistemologien, Hobbes und Locke neue Theorien der Politik – in weitgehender Emanzipation von, aber durchaus noch in Kontakt mit der Tradition.37 Dabei verändert sich auch der Begriff der Person: Person was no longer nexus of multiple communal circles, exemplary figure or divine instrument, nor fraught erratic mover. Person was becoming universal actor and knower in a rational universe, whose agency could intervene in and resolve the very sources of conflict.38

Mit der Umstellung auf eine mechanistische und materialistische Metaphorik für Körper und Staat wird auch das Verhältnis von privaten und öffentlichen Tätigkeiten, von Person und Staat, von Individuum und Kommunikation neu konzipiert – weniger mystisch-partizipatorisch als rational, atomistisch und dynamisch.39 Die neue Metaphorik

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Aufschlussreich sind hierzu die Descartes-Kapitel in: Timothy J. Reiss: Mirages of the Selfe. Patterns of Personhood in Ancient and Early Modern Europe. Stanford 2003, S. 469-518. Reiss: Mirages of the Selfe (wie Anm. 37), S. 519. Die theoretische Rede von einer „circulation of social energy“ (Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. Chicago 1988, S. 1) hat erst mit dieser semantischen Umstellung eine sachliche Grundlage – für die Shakespearezeit ist sie, wie bereits festgestellt, kaum brauchbar. Vgl. John Rogers: The Matter of Revolution. Science, Poetry, and Politics in the Age of Milton. Ithaca/London 1996, S. 16-27.

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des Kreislaufs bietet ein genuin modernes, die Moderne durchziehendes Bildrepertoire.40 Vorbereitet wird eine diskursive Vermittlung (nicht länger: Einheit) unterschiedlicher Ebenen, eine normative Ordnung, die bereits im späten 17. Jahrhundert, aber durchschlagend im 18. Jahrhundert (dann unter dem Signum der Aufklärung) zu beobachten ist. Der Neoklassizismus vermittelt Einzelwahrnehmung und gesellschaftlichen Sinn: in der Erkenntnistheorie mit dem rationalen Werkzeug des Begriffs, in der Politik mit dem des Vertrags und in der Ästhetik mit dem des Geschmacks.41 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts implementiert die ‚Glorreiche Revolution‘ eine relativierte, konstitutionelle Monarchie einschließlich religiöser Toleranz (für Protestanten zumindest). Damit sind die Voraussetzungen geschaffen für eine Neufundierung des schwierigen Wechselverhältnisses zwischen Metaphysik, Politik und Epistemologie. Beispielhaft für das neue Denken sind die Philosophie und die politische Theorie John Lockes. Lockes empirisch-praktischer Rationalismus ermöglicht eine Entflechtung der Dimensionen von Religion, Politik, Selbst- und Weltbezug. Locke geht davon aus, dass die menschlichen Wahrnehmungsorgane den irdischen Erfordernissen genau angepasst seien und das Streben nach darüber hinausreichender Erkenntnis daher sinnlos sei. Im Essay Concerning Human Understanding (1690) heißt es dazu: „The infinitely wise contriver of us, and all things about us, hath fitted our senses, faculties, and organs, to the conveniences of life, and the business we have to do here.“42 Die Anspannung der vorangegangenen Glaubenskriege wird deistisch entkrampft, was sich auf alle Bereiche menschlichen Handelns auswirkt. Man findet gesellschaftliche Lösungen für gesellschaftliche Probleme. Obwohl Hochzeiten noch in der Kirche stattfinden müssen, werden Ehen nicht mehr im Himmel geschlossen, sondern beruhen auf menschlichirdischen Interessen und Abmachungen (vgl. die proviso scene in William Congreves Way of the World von 1700). Die problematischen Erlebensdimensionen von Vernunft, Natur und Glauben werden korreliert und entschärft in den moralphilosophischen Begriffen common sense und politeness. Diese Begriffe lassen sich übersetzen in lebenspraktische Handlungsanweisungen, wie diskursive Differenzen in der Konversation zu handhaben seien, einschließlich der notwendigen Stoppregeln für die Kommunikation. Literarische Interessen werden dem dominanten Diskurs der polite conversation mehr und mehr untergeordnet. Die Entpolitisierung und Entpragmatisierung literarischer Kommunikation nach 1689 befördert einen Funktionswandel literarischer Kultur, der zum einen aus ihrer Ästheti-

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Noch Robert Musil schreibt 1919 von der Kultur als „Energie“ eines Staates und von der „Stromstärke seines Blutkreislaufes“ (Buridans Österreicher [14. Februar 1919]. In: Robert Musil: Gesammelte Werke II: Essays und Reden. Kritik. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1983, S. 1030-1032, hier S. 1031). Vgl. Reiss: Mirages of the Selfe (wie Anm. 37), S. 524-26. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Hg. von Peter H. Nidditch. Oxford 1979, 2.23.12, S. 302.

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sierung,43 zum anderen aus ihrer Einbindung in eine neue Kontextur der polite conversation resultiert. Literatur wird im späten 17. Jahrhundert zu einem Spielraum, in dem soziale Verhaltensmuster im Umgang mit Kontingenzen und Wahrscheinlichkeiten trainiert und reflektiert werden können. Literarische Kommunikation bietet einen Ausblick auf alternative Lebensmöglichkeiten, wodurch ein Vergleich zwischen verschiedenen, unterschiedlich determinierten Wahrnehmungsmodalitäten und Funktionsbereichen (Geld, Liebe, sozialer Status, Gender) – gerade auch auf deren Limitierungen hin – möglich wird. Sie spielt deshalb eine wichtige Rolle in der Evolution eines Begriffs von ‚Kultur‘ als Kultivierung perspektivisch integrierter vergleichender Beobachtungen.44 Ganz anders als noch bei Davenant um 1650 geht es dieser Literatur – die sich im 18. Jahrhundert vor allem im Roman realisiert – nicht mehr um die Darstellung einer Einheit, die allen sich ausdifferenzierenden Funktionssystemen zugrunde läge, sondern um das Aufweisen ihrer jeweiligen Orientierungsdefizite, Unbestimmtheitsstellen, Spielräume und blinden Flecke. Der kulturelle Ort und das gesellschaftlich-räumliche Modell des neoklassizistischen Diskursideals ist nicht mehr die humanistische Bibliothek oder die Wunderkammer, sondern das öffentliche Kaffeehaus, das die unverstellte Sprechweise und die „native easiness“45 in der Gesellschaft von Menschen aus unterschiedlichsten Berufen und Schichten kultiviert.46 Diese neue kulturelle Konfiguration zeichnet sich zudem durch eine klare hierarchische Trennung zwischen den Bereichen der Kognition und des sinnlichen Erlebens aus. Die Idealvorstellung eines reinen und natürlichen Stils beruht nicht auf einer einfachen, unproblematischen Referentialität der Sprache, sondern – innerhalb

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Vgl. etwa Joseph Addison: Critical Essays from the Spectator, with Four Essays by Richard Steele. Hg. von Donald F. Bond. Oxford 1970; Timothy J. Reiss: The Meaning of Literature. Ithaca/London 1992, S. 89, S. 162. Zum exemplarischen Wandel der Paradise-Lost-Rezeption von einem politischen Anti-Stuart-Manifest mit heterodoxen religiösen Elementen zu einem zeitenthobenen christlichen Epos von primär ästhetischem Wert vgl. Steven N. Zwicker: The Constitution of Opinion and the Pacification of Reading. In: Reading, Society and Politics in Early Modern England. Hg. von Kevin Sharpe und Steven N. Zwicker. Cambridge 2003, S. 295-316, hier S. 306f.; siehe auch Anne-Julia Zwierlein: Majestick Milton. British Imperial Expansion and Transformations of Paradise Lost, 1667-1837. Münster 2001. Niklas Luhmann: Kultur als historischer Begriff. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt a.M. 1995, S. 31-54. Thomas Sprat: The History of the Royal-Society of London, For the Improving of Natural Knowledge. London 1667. S. 113. Der Einfluss der Kaffeehäuser auf die Entwicklung demokratischer Ideen und Strukturen ist vielleicht überbetont worden; aber ihre Attraktivität als Modell intelligenter Konversation (und damit auch als Idealtyp literarischer Kommunikation) für Zeitschriften wie den Spectator ist unbestreitbar. Vgl. etwa Wolfgang Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel. München 1980, S. 25-95; Richard W. F. Kroll: Pope and Drugs. The Pharmacology of The Rape of the Lock. In: English Literary History 67.1 (2000), S. 99-141; Steven Pincus: “Coffee Politicians Does Create”: Coffeehouses and Restoration Political Culture. In: The Journal of Modern History 67.4 (1995), S. 807-834.

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einer Hierarchie kommunikativer Ebenen – auf einer komplexen Strategie der Vermeidung rhetorischer Extreme.47 Innerhalb dieser hierarchischen Schichtung wird die Vernunft im plain style zum Medium der Wahrheit, während Leidenschaft (und in der Erweiterung auch figuratives, poetisches Sprechen) zum Medium des Trugs erklärt wird. In einem Kapitel über den Missbrauch der Sprache vollzieht Locke im Essay (3.10.34), ähnlich wie Hobbes, eine saubere Trennung diskursiver Stile, indem er unterscheidet zwischen „Discourses, where we seek rather Pleasure and Delight“ und jenen, die „Information and Improvement“ liefern. Nur in ersteren seien die „Ornaments“ der Rhetorik legitime Kommunikationsmittel; in den letzteren sei Rhetorik nichts als ein „powerful instrument of Error and Deceit“: But yet, if we would speak of Things as they are, we must allow, that all the Art of Rhetorick, besides Order and Clearness, all the artificial and figurative application of Words Eloquence hath invented, are for nothing else but to insinuate wrong Ideas, move the Passions, and thereby mislead the Judgment; and so indeed are perfect cheat.48

Und bei Dryden heißt es, auf den Punkt gebracht: „A Man is to be cheated into Passion, but to be reason’d into Truth.“49 Für Locke und andere können und müssen Stilfragen dem Decorum, der propriety und der Wahrscheinlichkeit gemäß entschieden werden, in Übereinstimmung mit bestehenden Gattungsregeln. In einem solchen Entscheidungsvorgang werden unentscheidbare Fragen um des öffentlichen Friedens willen ausgeklammert: ‚public peace‘ wiegt mehr als ‚private reason‘. Diese neue Vermittlung zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit formiert sich als „civic humanism“50 zu einer neuen Art des Umgangs mit Kontingenz. Politisch institutionalisiert im Regimewechsel von 1688 und seiner Interpretation durch die Whigs, wird dieser Diskurs kodifiziert und popularisiert in den Schriften Lockes, Defoes und Shaftesburys. Bestimmte Differenzen (insbesondere katholischer Art) werden dabei strategisch ausgeschlossen. Auch für Kontingenz selbst gibt es normative Stoppregeln. Es handelt sich mithin um ‚kultivierte Kontingenz‘, die wiederum kultivierend (zur Kondensierung und Konfirmierung sozialer Verhaltensregeln) eingesetzt werden kann. Der Neoklassizismus wird im 18. Jahrhundert so erfolgreich und hegemonial, dass alternative (politische, soziale, ästhetische) Möglichkeiten oder Gegentraditionen zunächst kaum in den Blick geraten51 – und erst in der Romantik voll durchschlagen.

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Vgl. Richard W. F. Kroll: Introduction. In: ders.: Philosophy, Science, and Religion in England 1640-1700. Hg. von Richard Ashcraft und Perez Zagorin. Cambridge, S. 1-28, hier S. 21. Locke: An Essay Concerning Human Understanding (wie Anm. 42), S. 508. John Dryden: Religio Laici or A Laymans Faith. A Poem. The Preface. In: The Works of John Dryden. Bd. 2: Poems 1681-1684. Hg. von Hugh T. Swedenburg, Jr. Berkeley/Los Angeles/London 1972, S. 98-109, hier S. 109. John G. A. Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975, S. 51 u. ö. Ronald Paulson: The Beautiful, Novel, and Strange. Aesthetics and Heterodoxy. Baltimore/London 1996, S. xvi.

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Im politischen Bereich belohnt der neoklassizistische Diskurs die Vermeidung von Gewalt und den Einsatz von „degrees of assent“.52 In Bezug auf die Sprache fördert er einen Antideterminismus: Aus der Arbitrarität der Zeichen folgt, dass Sinn nicht a priori, sondern erst im Diskurs festgelegt werden kann. Die neoklassizistische Poetik „respektiert die Individualität des Lesers“,53 da literarische Kommunikation unter diesen Bedingungen nur mit einer Kooperation des Rezipienten gelingen kann. Kommunikation wird enthierarchisiert: Der Leser wird nicht mehr als „prisoner“,54 sondern als Partner verstanden, dessen kontingente Individualität zur Norm von Verständigungsprozessen wird. Dies hat auch eine Schwächung religiöser Sinnmonopole zur Folge. Die graduelle Verschiebung von der Heiligen Schrift zu den antiken Klassikern als hochkulturellem Referenztext – von Miltons Bibelepos zu Drydens Vergilübersetzung – ist ein Indikator für diesen Wandel. Wissen ist im späten 17. Jahrhundert ein Prozess ständigen Urteilens und Filterns. Literarische Inszenierungen und Perspektivierungen von Selbst- und Weltbeobachtungen haben an dieser Entwicklung eines neoklassizistischen Kontingenzdiskurses entscheidenden Anteil. Literarische Kultur entwickelt sich im 17. Jahrhundert zu einem speziellen Beobachtungstyp, der, wie ihn Niklas Luhmann55 – in der Nachfolge der MacCannells56 – spezifiziert, auf einem Vergleich von Perspektiven und der Akzeptanz der Kontingenz unterschiedlicher Beobachterpositionen basiert. Ich möchte im Anschluss daran neoklassizistische literarische Kultur als die Herausbildung perspektivisch integrierter Kommunikation definieren, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in England zur diskursiven Norm einer ‚gepflegten Semantik‘ wird und als Verhaltenskultur der politeness bis ins frühe 19. Jahrhundert gesellschaftlich relevant bleibt. Der Begriff des Neoklassizismus für diese Diskursordnung empfiehlt sich zunächst durch seine historische Reichweite. Er erfährt durch die hier vorgestellte Perspektive eine wesentliche funktionsgeschichtliche Erweiterung. Er gerät hier weniger als eine literaturtheoretische Doktrin in den Blick denn als ein Diskurs, innerhalb dessen auch Literarisches eine wichtige Rolle spielt: als öffentliche Debatte über die Artikulationsmodalitäten möglicher kultureller Perspektiven und Darstellungen. Der englische Neoklassizismus ist mehr als bloß ein Trend zur Betonung der aristotelischen Einheiten und der distinkten Eigenschaften unterschiedlicher literarischer Gattungen. Es handelt sich vielmehr um einen außerordentlich erfolgreichen (und damit hochgradig unwahrscheinlichen) kulturellen Kompromiss, dessen Implikationen weit über die Grenzen der Literaturkritik hinausgehen. Er etabliert einen Kanon von Prinzipien, um die in der

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Locke: An Essay Concerning Human Understanding (wie Anm. 42), S. 657f. Richard W. F. Kroll: The Material Word. Literate Culture in the Restoration and Early Eighteenth Century. Baltimore 1991, S. 77. Davenant: Gondibert (wie Anm. 20), S. 17. Luhmann: Kultur als historischer Begriff (wie Anm. 44). Dean MacCannell/Juliet Flower MacCannell: The Time of the Sign. A Semiotic Interpretation of Modern Culture. Bloomington 1982.

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Buchdruckkultur erfahrene Unsicherheit von Autor- und Leserbeziehungen abzufedern, und erweist sich so als langfristige Strategie zur Absorption des Medienumbruchs der Frühen Neuzeit. Der Neoklassizismus verankert literarische Kommunikation in einer sich entwickelnden Zivilgesellschaft, indem er an politeness orientierte, entpolitisierte normative Diskursregeln aufstellt. Er dient als „Stabilisierungsmodus“, der sich „als Bedingung aller Änderbarkeit“ behauptet und damit „zugleich Tradierbarkeit und Bedingungen möglicher Variation und Selektion“ innerhalb einer kulturellen Semantik gewährleistet.57 In der Übergangsphase von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung, etwa zeitgleich mit der Umstellung von einer spätmittelalterlichen Begrifflichkeit des commonwealth zu einer politischen Theorie des state, verschiebt sich ‚Literaturpolitik‘ in England von nationalen auf internationale Differenzen (Kulturvergleich).58 Mit dieser Verschiebung verfestigen und institutionalisieren sich eine Reihe funktionaler Veränderungen im Umgang mit und in der Theoretisierung von ‚Literatur‘: 1. eine Individualisierung von Lesern und Lektüren; 2. eine nichtdeterministische Einstellung zu Sprache und Textbedeutung (Verlust religiöser Deutungsmonopole); 3. die Erhebung der Wahrscheinlichkeit zur epistemischen und literarischen Norm; 4. die Tendenz zur normativen Unterscheidung von Gattungen. Dem Neoklassizismus gelingt mithin eine enorm erfolgreiche Reduktion sozialer und politischer Komplexität – nicht zuletzt durch Etablierung einer ‚literarischen Kultur‘ im hier vorgestellten Verständnis. Er bewirkt eine langfristig stabile Vermittlung zwischen kontingenten Einzelperspektiven und einer – nach wie vor hierarchisch aufgebauten – Diskursordnung, einem „isomorphism of knowledge, literary structure, and implied procedures of interpretation“59. Diese Ordnung beherrscht die frühen Formen des Romans und wird auch auf der Bühne inszeniert und reflektiert. Sie bleibt in einigen Bereichen und in manchen Fällen bis ins 19. Jahrhundert hinein relevant, steht dann jedoch bereits unter dem Index der Auflösung, nachdem im späteren 18. Jahrhundert, im Zuge weiterer politischer und gesellschaftlicher Modernisierungsschübe, die Möglichkeit einer unity of expression von der ‚Urteilskraft‘ (judgment) zur assoziativen imagination verlagert und damit von vertikal-hierarchischen auf horizontal-sequentielle Diskursstrukturen umgestellt wird. Patey verweist in diesem Zusammenhang auf William Beckfords Dreams, Waking Thoughts, and Incidents (1783), Archibald Alisons Essays on the Na-

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Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1980, S. 51. Zur Tendenz der Entpolitisierung und Demokratisierung von Lektüre im 17. Jahrhundert vgl. auch Barbara M. Benedict: Making the Modern Reader. Cultural Mediation in Early Modern Literary Anthologies. Princeton 1996, S. 10f., S. 29; Zwicker: The Constitution of Opinion (wie Anm. 43), S. 297-299. Douglas L. Patey: Probability and Literary Form. Philosophic Theory and Literary Practice in the Augustan Age. Cambridge 1984, S. 175.

„Divided and Distinguished Worlds“

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ture and Principles of Taste (1790) und den philosophischen Assoziationismus (Hartley, Knight, Lord Kames).60 Von dort ist es dann nicht mehr weit zu Wordsworth, Coleridge, Godwin, Wollstonecraft, also zu dem literarhistorischen Komplex, der gemeinhin als die englische Romantik bekannt ist. Aber das ist eine andere Geschichte …

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Patey: Probability and Literary Form (wie Anm. 59), S. 256.

Hans-Joachim Jakob (Siegen) Vom Umgang mit Wissen im Wissenstheater. Aspekte von Wissenskonstituierung und Wissensetablierung in der Theatrum-Literatur des 17. Jahrhunderts

1. Die Theatrum-Literatur im Rahmen der Wissensforschung zur Frühen Neuzeit Mediale Revolutionen brauchen mal längere oder mal kürzere Zeiträume, um in die Lebenswelt der Menschen einzudringen und ihren Umgang mit dem jeweils neuen Medium zu prägen. Die Kritik am innovativen Medium begleitet diesen Vorgang nahezu notwendigerweise. So freudenvoll etwa der Eintritt in die Gutenberg-Galaxis aufgenommen wurde, so skeptisch klingt Mitte des 16. Jahrhunderts doch der Stoßseufzer des italienischen Bibliographen Anton Francesco Doni: „Es gibt so viele Bücher, daß uns die Zeit fehlt, um nur die Titel zu lesen“, so übersetzt Helmut Zedelmaier.1 Doch nicht nur der frühneuzeitliche Gelehrte schreckt angesichts der sich bedrohlich auftürmenden papiernen Datenmassen zurück. Die einschlägige Forschung, die sich mit der Vermehrung des Wissens über das Wissen in der Frühen Neuzeit befasst, scheint zumindest seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts ähnlich unüberschaubare Textgebirge hervorgebracht zu haben wie der Untersuchungszeitraum selbst. Und auch die Kritik daran existiert be-

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Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 33) Köln/Weimar/Wien 1992, S. 13. Es handelt sich um Anton Francesco Doni: La Libraria. 2 Bde. Venedig 1550-1551, Bd. II, fol. 4v. – Vgl. zur frühneuzeitlichen Kritik am Übermaß an Informationen auch die einschlägigen Beiträge der Nr. 1 des Journal of the History of Ideas 64 (2003) mit dem Schwerpunkt „Early Modern Information Overload“, hier insbesondere Ann Blair: Reading Strategies for Coping with Information Overload ca. 1550-1700. In: Journal of the History of Ideas 64/1 (2003), S. 11-28; außerdem Paul Michel: Nihil scire felicissima vita. Wissens- und Enzyklopädiekritik in der Vormoderne. In: Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Hg. von Theo Stammen und Wolfgang E. J. Weber. (Colloquia Augustana 18) Berlin 2004, S. 247-289; zuletzt Dirk Werle: Die Bücherflut in der Frühen Neuzeit – realweltliches Problem oder stereotypes Vorstellungsmuster? In: Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität sozialer Vorstellungsmuster. V. Jahrestagung der Internationalen Andreas Gryphius Gesellschaft Wroclaw 8. bis 11. Oktober 2008. Hg. von Miroslawa Czarnecka, Thomas Borgstedt und Tomasz Jablecki. (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongressberichte 99) Bern u. a. 2010, S. 469-486.

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reits schwarz auf weiß. So schreibt der Rostocker Historiker Markus Völkel am Ende seines Forschungsberichts zum Thema aus dem Jahre 2007: „Dieser Sammelrezension liegen gerade einmal 104 Aufsätze und zwei Monographien zugrunde. Geht man davon aus, daß allein in Deutschland in jedem Jahr mindestens zehnmal so viele Aufsätze in Sammelbänden und zehnmal so viele Einzelstudien erscheinen, dann wird deutlich, daß bereits über die deutsche Forschungslandschaft kein Überblick zu erlangen ist.“2 Damit ist das eigentliche Problemfeld allerdings keinesfalls auch nur ansatzweise umrissen: „Von der europäischen Gesamtproduktion der ‚history of knowledge‘ ist dabei noch nicht die Rede; und dabei ist die Wissensgeschichte nur ein kleiner, wenngleich wichtiger Teil der kulturgeschichtlichen Forschung!“3 Dabei nimmt die historische Abteilung des respektheischenden Handbuchs Wissenssoziologie und Wissensforschung, etabliert in dem abschließenden Kapitel „Wissensgeschichte und Wissensordnung“, mit gut sechzig Seiten angesichts des fast 900-seitigen Handbuchs doch einen vergleichsweise bescheidenen Raum ein.4 Die Forschung zur frühneuzeitlichen Wissenskultur expandiert indes auf anderen Feldern. Nimmt man insbesondere wissenschaftliche Tagungen und die aus ihnen hervorgehenden Kongressbände als Gradmesser für die aktuelle Forschungsintensität, so haben allein die letzten Jahre in der Tat einiges zu bieten. Ohne Vollständigkeit auch nur ansatzweise anstreben zu wollen, seien an dieser Stelle nur folgende Werke genannt, die Völkel teilweise auch schon erwähnt hat. Anzuführen sind etwa die vier Bände der von dem Theaterwissenschaftler Helmar Schramm als Hauptherausgeber betreuten Reihe „Theatrum Scientiarum“ 5. Als einschlägig erweisen sich weiterhin einige der vom Sonderforschungsbereich 573 „Pluralität und Autorität in der Frühen Neuzeit (15.-17. Jahrhundert)“ der

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Markus Völkel: ‚Lob des Blüthenstaubs‘ oder ‚musivisches Werk‘? Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Wissensgeschichte. In: Archiv für Kulturgeschichte 89 (2007), S. 191-216, hier S. 213. – Vgl. auch die Forschungsberichte von Barbara Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften und ihre Vermittlung in den Medien und Künsten. Ein Forschungsbericht. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 26 (1999), S. 3-35 und Albert Schirrmeister: Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit. Literaturbericht zu Praktiken, Ordnungen, Denkformen, Institutionen und Personen des Wissens. In: Frühneuzeit-Info 15 (2004), S. 66-78. Völkel: ‚Lob des Blüthenstaubs‘ (wie Anm. 2), S. 213. Rainer Schützeichel (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. (Erfahrung – Wissen – Imagination 15) Konstanz 2007. – Vgl. im wissensgeschichtlichen Kapitel (S. 795-856) insbesondere Helmut Zedelmaier: Wissensordnungen der Frühen Neuzeit (S. 835-845). Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hgg.): Kunstkammer – Laboratorium – Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. (Theatrum Scientiarum 1) Berlin/New York 2003; Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hgg.): Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert. (Theatrum Scientiarum 2) Berlin/New York 2006; Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hgg.): Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. (Theatrum Scientiarum 3) Berlin/New York 2006 sowie Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hgg.): Spuren der Avantgarde: Theatrum machinarum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich. (Theatrum Scientiarum 4) Berlin/New York 2008.

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Ludwig-Maximilians-Universität München herausgegebenen Bände der Reihe „Pluralisierung & Autorität“6. Aber auch außerhalb von Reihen, die sich speziell der Wissensund Informationshistorie verschrieben haben, erschienen zahlreiche Sammelbände.7 Abschließend sei noch auf den seit sechs Jahren angekündigten, inzwischen auf unbestimmte Zeit verschobenen Band Erschließen und Speichern von Wissen in der Frühen Neuzeit verwiesen. Wohlgemerkt: das als Spitze des Eisbergs, monographische Einzelstudien und unselbstständige Veröffentlichungen wären separat zu erheben. So resümiert denn auch Völkel nicht gänzlich unironisch: „Noch die abgelegenste Wissensordnung, jede längst zerstreute Wunderkammer, noch die exotischste mündliche Überlieferung findet ihren Weg in die Wissensgeschichtsschreibung.“8 Nun erscheint eine derartige Forschungssituation auf den ersten Blick doch äußerst begrüßenswert zu sein. Eventuell auftretenden Befürchtungen, man könne nun selbst von den Papierbergen der frühneuzeitlichen Quellen und den anhängigen Dutzenden von Studien verschüttet werden, begegnet man mit der traditionellen logistischökonomischen Vorentscheidung der praktikablen Eingrenzung des Untersuchungsfeldes. Aus den vorhandenen Optionen sei hier nur ein Modell herausgegriffen, wie man die Wissensbestände des 16. und 17. Jahrhunderts weiter parzellieren kann. Gerade das folgende Modell hat in den letzten Jahren eine derartig atemberaubende Dynamik entwickelt, dass es die der gesamten frühneuzeitlichen Wissensforschung sogar noch übertrifft. Es handelt sich um die Fokussierung der Untersuchung auf Publikationen, die das

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Vgl. Frank Büttner/Markus Friedrich/Helmut Zedelmaier (Hgg.): Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik der Frühen Neuzeit. (Pluralisierung & Autorität 2) Münster 2003; Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hgg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. (Pluralisierung & Autorität 16) Berlin 2008 und Martin Schierbaum (Hg.): Enzyklopädistik 1550-1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens. (Pluralisierung & Autorität 18) Berlin 2009. Vgl. Achim Landwehr (Hg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens. (Documenta Augustana 11) Augsburg 2002; Wolfgang Detel/Claus Zittel (Hgg.): Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit. Ideals and Cultures of Knowledge in Early Modern Europe. (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 2) Berlin 2002; Helmar Schramm (Hg.): Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst. Berlin 2003; Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hgg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln/Weimar/Wien 2004; Stammen/Weber (Hgg.): Wissenssicherung (wie Anm. 1); Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006; Frank Grunert/Friedrich Vollhardt (Hgg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007; Thomas Frank/Ursula Kocher/Ulrike Tarnow (Hgg.): Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts. (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 1) Göttingen 2007; Katharina Bahlmann/Elisabeth Oy-Marra/Cornelia Schneider (Hgg.): Gewusst wo! Wissen schafft Räume. Die Verortung des Denkens im Spiegel der Druckgraphik. (Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 5) Berlin 2008 und Wolfgang Dickhut/Stefan Manns/Norbert Winkler (Hgg.): Muster im Wandel. Zur Dynamik topischer Wissensordnungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 5) Göttingen 2008. Völkel: ‚Lob des Blüthenstaubs‘ (wie Anm. 2), S. 213.

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Wort ‚Theatrum‘ im Titel tragen. Als Minimalkonsens der bisherigen Untersuchungen lässt sich festhalten, dass es sich dabei um Kompendien handelt, die ein Wissensgebiet möglichst vollständig darlegen und sich dabei in unterschiedlich starkem Ausmaß performativ-veranschaulichender Praktiken bedienen, die sich etwa in einer Vielzahl expliziter Abbildungen – sowohl in Form von Bildern als auch in Form von Diagrammen und Tabellen – niederschlagen. Auf ältere Studien zum metaphorologischen Stellenwert des Begriffs Theatrum mundi im Barockzeitalter9 folgten die Vorüberlegungen von Erika Fischer-Lichte zur Rekonstruktion von kultureller Theatralität außerhalb des Theaters in den 1990er Jahren.10 Genau diese Konstellation wurde im DFG-Symposion „Theatralität und die Krisen der Repräsentation“ und im dazugehörigen, 2001 erschienenen Berichtsband insbesondere vom bereits erwähnten Helmar Schramm weitergetragen und in den Bänden des „Theatrum Scientiarum“ weiter verhandelt. Ein Jahr später sondierte William N. West das gesamteuropäische Umfeld der frühneuzeitlichen Theatra und konnte die Publikationen somit in den Forschungszweig der von Völkel erwähnten ‚history of knowledge‘ einbetten.11 Weitere zwei Jahre später entwickelte der Frankfurter Historiker Markus Friedrich eine ausführliche Phänomenologie des TheatrumBuchtitels, situiert im Kontext des bereits erwähnten Sonderforschungsbereichs 573 der LMU München, wiederum in Verbindung mit dem Teilprojekt B 1 „‚Schauplätze‘ des Wissens und ihre Grenzen in frühneuzeitlicher Geschichtsschreibung, Astrologie und Wissenskompilatorik“.12 Als bislang sicherlich vielseitigste Veranstaltung zum Thema

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Vgl. nur einige neuere Untersuchungen, in denen auch die ältere Forschung verzeichnet ist: Peter J. Bräunlein: Theatrum Mundi. Zur Geschichte des Sammelns im Zeitalter der Entdeckungen. In: Focus Behaim Globus. Hg. von Gerhard Bott. Teil 1: Aufsätze. Nürnberg 1992, S. 355-376 (speziell zum frühneuzeitlichen Sammlungswesen), als häufig zitiertes Resümee Hans Holländer: Theatrum Mundi. Die Welt als Theater. In: Alles Theater. Meisterwerke der Weltliteratur. Hg. von Kaspar Spinner und Helmut Siepmann. Bd. VII. Ringvorlesung der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen im Wintersemester 1993/1994. (Abhandlungen zur Sprache und Literatur 109) Bonn 1997, S. 143-163 und als vorläufigen Abschluss Christel Meier: Enzyklopädie und Welttheater. Zur Intertheatralität von Universalwissen und weltpräsentierender Performanz. In: Schierbaum (Hg.): Enzyklopädistik 1550-1650 (wie Anm. 6), S. 3-39. Erika Fischer-Lichte: Theater als kulturelles Modell. In: Germanistik: Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Vorträge des deutschen Germanistentages 1994. Hg. von Ludwig Jäger. Weinheim 1995, S. 164-184, hier S. 171f. William N. West: Theatres and Encyclopedias in Early Modern Europe. (Cambridge Studies in Renaissance Literature and Culture 44) Cambridge 2002, ergänzend aus jüngerer Zeit William N. West: Knowledge and Performance in the Early Modern Theatrum Mundi. In: Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentation von Wissen. Dimensions of the Early Modern Theatrum-Metaphor. Order and Representation of Knowledge. Hg. von Flemming Schock, Oswald Bauer und Ariane Koller. (metaphorik.de 14/2008) Hannover 2008, S. 1-20. – Vgl. aus dem angloamerikanischen Raum auch den Überblick von Ann Blair: The Theater of Nature. Jean Bodin and Renaissance Science. Princeton 1997, S. 153-179, 282-295. Markus Friedrich: Das Buch als Theater. Überlegungen zu Signifikanz und Dimensionen der Theatrum-Metapher als frühneuzeitlichem Buchtitel. In: Stammen/Weber (Hgg.): Wissenssicherung (wie Anm. 1), S. 205-232.

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darf das interdisziplinäre Symposion „Ordnung und Repräsentation von Wissen – Dimensionen der ‚Theatrum‘-Metapher in der Frühen Neuzeit“ gelten, das vom 14. bis 16. März 2007 am Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg abgehalten wurde. Flemming Schock grenzt sich in der „Einführung“ zum Tagungsband13 von den vorliegenden Forschungen ab: „So widmet sich der Projektbereich Theatrum Scientiarum des Berliner SFB Kulturen des Performativen der ‚[…] theoretischen und historischen Erforschung der Performanz von Wissen‘, die historischen Spezifika der Metapher und Denkfigur des Theatrums werden dabei jedoch nur peripher berührt.“14 Schließlich dürfte der Zugriff auf die per se schwer zugänglichen Quellentexte in Zukunft durch das von Nikola Roßbach unlängst an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel installierte Erschließungsprojekt „Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit – Welt und Wissen auf der Bühne“ beträchtlich erleichtert werden. In der Projektbeschreibung wird zunächst der besondere Status der Theatrum-Literatur gewürdigt, die „ein Kernsegment der enzyklopädischen, kompilatorischen und polyhistorischen Wissensliteratur in der Frühen Neuzeit“ bildet.15 Im Projekt sollen eine Bibliographie aller nachweisbaren Theatrum-Werke, ein Quellenkorpus und ein Repertorium für 200 repräsentative Theatra, ein Forschungsportal und eine Verlinkung von digitalisierten Primärtexten und Forschungsergebnissen erarbeitet werden. So scheint ein Segment der frühneuzeitlichen Wissensliteratur fassbar zu werden, das im Text zum Wolfenbütteler Projekt dezidiert mit einem herausgehobenen Stellenwert in der barocken Textlandschaft versehen wird, zumal hunderte von Publikationen überliefert sind. ‚Theatrum‘ war allerdings keinesfalls die einzige metaphorisch aufgeladene Titelei für Wissenskompilationen. Noch im frühen 18. Jahrhundert, als die Erfolgsge-

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Schock/Bauer/Koller (Hgg.): Theatrum-Metapher (wie Anm. 11). Flemming Schock: Einführung: Theater- und Wissenswelten in der Frühen Neuzeit. In: Schock/Bauer/Koller (Hgg.): Theatrum-Metapher (wie Anm. 11), S. IX-XVIII, hier S. X. Vgl. auch die im Tagungsband versammelten weiteren 17 Beiträge, die als Download im Bd. 14 (2008) der Internet-Zeitschrift metaphorik.de unter (Abruf 13.10.2011) verfügbar sind. Die Paginierungen der Druck- und der Netzversion stimmen leider nicht überein (wie in der Druckversion S. IV behauptet wird), daher werden alle Beiträge nach der Druckfassung zitiert. Vgl. die Homepage der HAB unter (Abruf 13.10.2011). Und weitergehend: „Im Zeitraum zwischen 1500 und 1800 wurden hunderte von lateinischen und volkssprachlichen Theatrum-, Schauplatz- und Schaubühnen-Titeln publiziert, die sich der räumlichen Titelmetapher zur Konstruktion, Disposition und Kommunikation von Wissen bedienen.“ – Vgl. außerdem die dazugehörige Seite der Universität Kassel unter (Abruf 13.10.2011) mit den aktuellen Forschungsergebnissen und ergänzend Nikola Roßbach: Theatermetaphorik in Wissenschaft und Wissenschaftstheorie um 1700: Gottfried Wilhelm Leibniz. In: Begegnungen: Bühnen und Berufe in der Kulturgeschichte des Theaters. Hg. von Ariane Martin und Nikola Roßbach. (Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur 3) Tübingen 2005, S. 15-29 sowie Nikola Roßbach: Gynaeceum, sive theatrum mulierum. Modellierung von Weiblichkeit in enzyklopädischen Wissenstheatern. In: Schock/Bauer/Koller (Hgg.): Theatrum-Metapher (wie Anm. 11), S. 153-179.

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schichte der Theatra sich bereits ihrem Ende näherte, verzeichnet Johann Peter von Ludewig 1732 im ersten Band von Zedlers berühmtem Universal-Lexikon mit einiger Verdrossenheit die spektakulären Titelvarianten einschlägiger Werke, die sich als Konkurrenz zum nüchternen Titel ‚Lexikon‘ profilieren: Dann andere Bücher, welche / nach dem Alphabet / jedoch nur eine Art, von so vielerley Artickeln, die alhier beysammen, ausmachen / prangen mit weit mächtigern Nahmen; die man / zu solchem Ende / theils von den Griechen, oder den Lateinern erborgen müssen / um denselben ein besonderes Ansehen in dem Titel zu machen. Sie heissen: THEATRA; THESAVR; POLIANTHEAE; BIBLIOTHECAE; MUSEA; ARMAMENTARIA; FORA; ARCHIVA; PALATIA; PROMTVARIA; PANDECTAE; SPECVLA; POLYMATHIAE; ARISTARCHI; CRITICI; ADVERSARIA; und so weiter. Welche also von Schauplätzen; Schaubühnen; Schatzkammern; Rüst- und Bücherkammern; Zeughäusern; Gärten, Märckten; Messen; Archiven; Pallästen; Speisekammern; Alles in allem; Spiegeln; Vielaugen; Säälen u. s. w. genommen / und folglich mehr Aufsehen erwecken / als das schlechte Wörtgen LEXICON oder Wörterbuch.16

Angesichts dieses zeitgenössischen Befundes sei ein kurzer Ausflug in die empirische Kulturwissenschaft erlaubt. Auch Ludewig scheint den besonderen Einfluss der Theatrum-Literatur zu betonen, wenn er die „THEATRA“ an die erste Stelle seiner Aufzählung setzt. Ein Blick in das VD 17 liefert denn auch eindrucksvolle Ergebnisse. In der allgemeinen Suchkategorie erscheinen 579 Werke mit dem Titel „Theatrum“ und noch 362 bibliographische Einheiten mit dem verwandten Titel „Schauplatz“. Noch etwas zahlreicher treten allerdings Bücher mit dem Titelei-Element „Speculum“ auf, zugegebenermaßen nicht nur ein Titel unter vielen, sondern ein nicht nur im Mittelalter, sondern auch noch in der Frühen Neuzeit gleichfalls sehr beliebter Buchtitel: 583 Werke mit „Speculum“-Titelei und sogar 1267 bibliographische Einheiten mit dem Textbaustein „Spiegel“ lassen sich ermitteln, wobei die Nennungen von Nachnamen abzuziehen wären.17 Die hervorragende Position der Theatra in der Wissenskompendien-Landschaft des 17. Jahrhunderts relativiert sich somit zumindest in quantitativer Hinsicht. Damit ist

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Johann Peter von Ludewig: Vorrede über das Universal-Lexicon. In: Johann Heinrich Zedler. Grosses vollständiges Universal-Lexikon […]. Bd. 1 (ND der Ausgabe Halle, Leipzig 1732). Graz 1961, S. 1-16, hier S. 1f. Der Hinweis auf diese Stelle findet sich bei Zedelmaier: Bibliotheca universalis (wie Anm. 1), S. 295, Anm. 899. – Vgl. auch die Titeltypologie zur Kompendienliteratur bei Wolfgang Brückner: Historie und Historien. Erzählliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts als Forschungsaufgabe. In: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hg. von Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 13-123, hier S. 83. Vgl. zur Speculum-Literatur des englischsprachigen Raums etwa Herbert Grabes: Speculum, Mirror und Looking-Glass. Kontinuität und Originalität der Spiegelmetapher in den Buchtiteln des Mittelalters und der englischen Literatur des 13. bis 17. Jahrhunderts. (Buchreihe der Anglia 16) Tübingen 1973, bes. seine Titel-Phänomenologie S. 21-64 („Der Spiegel als Titelmetapher“). – Vgl. zum Verhältnis von wissensmetaphorischen Titeln wie Buch, Spiegel, Kreis, Theater und Historia in der Frühen Neuzeit Udo Friedrich: Weltmetaphorik und Wissensordnung in der Frühen Neuzeit. In: Schierbaum (Hg.): Enzyklopädistik 1550-1650 (wie Anm. 6), S. 193-248.

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allerdings über den gegebenenfalls besonders durchdacht, anschaulich und eingängig präsentierten Inhalt der Theatra noch nichts ausgesagt. Hat man also doch nur ein durchschnittlich großes Areal unter vielen Unterabteilungen der Wissenskompendien-Literatur zu fassen bekommen und noch nicht einmal ein besonders repräsentatives? Weitere Schwierigkeiten bereitet die Inhaltsanalyse der Theatra, die idealiter Auskünfte über die Konstituierung, Ordnung und spezifisch performative Präsentation des zwischen den Buchdeckeln versammelten Wissens geben sollen. War die Bandbreite der erwähnten Augsburger Tagung ihr Vorteil, so erweckt die Vielzahl der erwähnten Theatra doch eher den Eindruck, dass man gerade kein praktikabel eingegrenztes Untersuchungsfeld mehr vor sich hat. Die beliebte wissenschaftspolitische Forderung nach Interdisziplinarität entwickelt sich zum Gebot der Stunde, man wünscht sich am besten gleich die mentalen Kapazitäten eines barocken Polyhistors. Die Kompetenzen eines Technik- und Physikhistorikers sind gefragt, wenn man etwa ein Theatrum machinarum, also „eine Art Enzyklopädik des frühneuzeitlichen Maschinenparks in Darstellungen und Konstruktionserläuterungen gleichermaßen praktikabler wie auch phantastischer Apparaturen“18, vor sich liegen hat. Die Kenntnisse eines Theaterhistorikers können nicht schaden, wenn es um ein Theatrum mit dem Thema Bühnentechnik gehen soll. Der Geschichtswissenschaftler hat Interesse am chronikalischen Theatrum historicum, der Geschichts- und Militärwissenschaftler am Kriegstheater, wie es sich etwa in das berühmte Theatrum Europaeum eingeschrieben findet. Die Geschichte der Rechtswissenschaft findet sich repräsentiert in der Genese von Verhörmethoden und Hinrichtungsritualen, die auf dem frühneuzeitlichen „Theater des Schreckens“ zelebriert werden und in Folianten mit dem Titel Theatrum poenarum schriftlich niedergelegt sind. Der Medizinhistoriker ermittelt Zusammenhänge zwischen dem realen Theatrum anatomicum als Stätte der kunstvollen und hochrituellen Sektion und dem Anatomieatlas mit Theatrum-Titelei. Schließlich ist es dem Literaturwissenschaftler um die Poetologie derjenigen blutrünstigen Kurzerzählungen zu tun, die sich etwa in einem Theatrum tragicum kompiliert finden.19 Spätestens an dieser Stelle splittert sich die inhomogene Theatra-Menge wieder in die Kompetenzen der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen auf.20 Nur diese sind dazu in der Lage, den wissenschaftsgeschichtlichen

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Jan Lazardzig: Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin 2007, S. 53. Vgl. prononciert Christian Weber: ,Theatrum‘ Mundi. Zur Konjunktur der Theatrum-Metapher im 16. und 17. Jahrhundert als Ort der Wissenskompilation und zu ihrer literarischen Umsetzung im „Großen Welttheater“. In: Schock/Bauer/Koller (Hgg.): Theatrum-Metapher (wie Anm. 11), S. 341-368, hier S. 341-347. Einen guten Überblick über die vorhandenen Forschungsarbeiten zu den Theatren gibt die Bibliographie in dem erwähnten Theatrum-Portal der Universität Kassel (wie Anm. 15), ausgewählte Studien sind versammelt in dem Band von Schock/Bauer/Koller (Hgg.): Theatrum-Metapher (wie Anm. 11). Vgl. ergänzend zum Maschinentheater Jan Lazardzig: Theatermaschine (wie Anm. 18), Helmut Hilz: Theatrum Machinarum. Das technische Schaubuch der frühen Neuzeit. München 2008, bes. S. 18-25, 50-59, 76-83, 102-107, 112-136; zum Geschichtstheater Ina-Maria Greverus:

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Standort des jeweiligen Theatrum in der Gesamtsumme des jeweiligen Fachwissens im 16. und 17. Jahrhundert verorten zu können und somit Aussagen über Wissenskonstituierung und -etablierung artikulieren zu können und weitergehend Aussagen über Offenheit und Geschlossenheit der jeweiligen Wissenssammlung abgeben zu können.21 Diese Erkenntnis klingt zunächst ernüchternd, zumal das mustergültig eingegrenzte Forschungsfeld sich wieder in ein Sammelsurium heterogener Folianten verwandelt hat, die gerade einmal den Titel gemeinsam haben und deren rätselhaften Inhalt lediglich eine Handvoll ausgewiesener Spezialisten entschlüsseln kann. Vielleicht lohnt sich aber dennoch die Suche nach möglichen Gemeinsamkeiten, die sich vielleicht sogar in einer zeitgenössischen Theatrum-Theorie andeuten, die wiederum im Laufe der Zeit modifiziert und den aktuellen Erfordernissen angepasst werden konnte. Zu diesem Zweck sollen drei universaltheatralische Texte aus unterschiedlichen Zeiträumen von ganz unterschiedlichen Vertretern der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit in den Blick genommen werden. Es handelt sich um einen frühen eher sammlungstheoretisch akzentuierten

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Die Chronikerzählung. Ein Beitrag zur Erzählforschung am Beispiel von Chr. Lehmanns „Historischem Schauplatz“ (1699). In: Volksüberlieferung. Festschrift für Kurt Ranke zur Vollendung des 60. Lebensjahres. Hg. von Fritz Harkort, Karel C. Peeters und Robert Wildhaber. Göttingen 1968, S. 37-80; zum Kriegstheater Walter Sperling: Cyriak Blödner und sein „Theatrum Belli Rhenani“ (1713). In: 4. Kartographiehistorisches Colloquium Karlsruhe 1988. 17.-19. März 1988. Vorträge und Berichte. Hg. von Wolfgang Scharfe, Heinz Musall und Joachim Neumann. Berlin 1990, S. 179-182; zum Straftheater Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. (Beck’sche Reihe 349) München 1985 und Jürgen Martschukat: Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2000, S. 12-53, 251-264; zum Anatomietheater Anna Bergmann: Massensterben und Todesangst im 17. Jahrhundert: Zur rituellen Leichenzergliederung im Anatomischen Theater. In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Hg. von Erika Fischer-Lichte. (Germanistische Symposien Berichtsbände XXII) Stuttgart/Weimar 2001, S. 316-336, Daniela Bohde: Pellis Memoriae Peccatorum. Die Moralisierung der Haut in Frontispizen und Anatomietheatern der Niederlande im 17. Jahrhundert – ein blinder Fleck in der Medizingeschichte nach 1945. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 9 (2005), S. 327-358, Stefanie Stockhorst: Das frühneuzeitliche theatrum anatomicum als Ort der Affektenschulung. Überlegungen zum Verhältnis von Anatomietheater und Schaubühne. In: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Hg. von Johann Anselm Steiger. Bd. 2. (Wolfenbütteler Forschungen 43) Wiesbaden 2005, S. 1091-1104, sowie Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hgg.): Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich. (Theatrum Scientiarum 5) Berlin/New York 2011; zur Theatralität im Theatrum tragicum Hans-Joachim Jakob: Die Schauplatz- und Theater-Bildlichkeit in Georg Philipp Harsdörffers Grossem Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte. In: Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem uomo universale des Barock. Hg. von Stefan Keppler-Tasaki und Ursula Kocher. (Frühe Neuzeit 158) Berlin/New York 2011, S. 83-113. – Außerdem existieren Forschungen zu geographischen, rhetorischen, mnemonischen, emblematischen und panegyrischen Theatern, zum Gelehrten-, Affekten-, Zeremonien- und Hexentheater. Vgl. dazu auch Schock: Einführung (wie Anm. 14), S. XII: „Anthologisch-offene Formen des Wissens konnten unter der Metapher ebenso subsumiert werden wie abgeschlossen-finite Formen des Wissens.“

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Text, um einen aufgrund seiner schwierigen Überlieferung wenig rezipierten Text und um einen den Erfordernissen der erfolgreichen Vermarktung in besonderer Hinsicht angepassten Text. Es sind dies Samuel Quicchebergs (1529-1567) Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi (1565), die Vorrede von Jan Amos Comenius’ Theatrum universitatis rerum (begonnen 1616) und die Vorrede zum zweiten Band des Theatrum Europaeum (1633). Insbesondere die Paratexte bieten dabei die idealtypische Plattform für die Erläuterung der Konzeption des vorliegenden Theatrum und der in der Folge präsentierten Wissensbestände.22

2. Samuel Quiccheberg. Eine Theatrum-Theorie als Sammlungsarchitektur und ihre frühneuzeitlichen Einflussgrenzen Quicchebergs Traktat Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi konstituiert sich im Sinne einer hochgradig repräsentativen Sammlungsutopie.23 Dieses virtuelle Theater ist eben kein materiales mit Bühne, Vorhang, Zuschauerraum und einem weitgehend immobilen wissbegierigen Publikum, sondern ein diffizil ausgewähltes Szenarium zeigenswerter Exponate. Diese sind in mehreren Stockwerken nach dem Vorbild der Münchner Kunstkammer angeordnet und können nach und nach von den Zuschauern abgeschritten werden: „Auch der Name ‚Theater‘ wird ihm hier nicht uneigentlich bei-

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Vgl. zum Paratext in der Frühen Neuzeit den Sammelband: Frieder von Ammon/Herfried Vögel (Hgg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. (Pluralisierung & Autorität 15) Berlin 2008. In der Folge wird die lateinisch-deutsche Ausgabe von Harriet Roth zugrunde gelegt (Harriet Roth [Hg.]: Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat „Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi“ von Samuel Quiccheberg. Lateinisch-Deutsch. Berlin 2000). Vgl. allerdings die harte Kritik an dieser Edition von Stephan Brakensiek: Samuel Quicchelberg: Gründungsvater oder Einzeltäter? Zur Intention der „Inscriptiones vel Tituli Theatri amplissimi“ (1565) und ihrer Rezeption in Europa zwischen 1550 und 1820. In: Schock/Bauer/Koller (Hgg.): TheatrumMetapher (wie Anm. 11), S. 237-258, hier S. 238, Anm. 1: „Leider fehlt bis heute eine angemessene Übersetzung. Die Dissertation von Harriet Roth, die sich diese zu ihrem zentralen Anliegen machte, ist diesbezüglich nicht ausreichend.“ – Vgl. als Ausgangspunkt Friedrich: Das Buch als Theater (wie Anm. 12), S. 207-211; aus der Fülle der bei Roth verzeichneten Forschung (Roth [Hg.]: Inscriptiones [diese Anm.], S. 330-355) ist direkt zu den Inscriptiones weiterhin hervorzuheben: Klaus Minges: Das Sammlungswesen der Frühen Neuzeit. Kriterien der Ordnung und Spezialisierung. (Museen – Geschichte und Gegenwart 3) Münster 1998, S. 62-76, darüber hinaus grundlegend Stephan Brakensiek: Vom „Theatrum mundi“ zum „Cabinet des Estampes“. Das Sammeln von Druckgraphik in Deutschland 1565-1821. (Studien zur Kunstgeschichte 150) Hildesheim/Zürich/New York 2003, S. 40-81. – Manuela Kahle konstatiert neuerdings sogar eine regelrechte Quiccheberg-Konjunktur (Manuela Kahle: Samuel Quiccheberg „Disputatio Medica Ingelstadij“. In: Sol et homo. Mensch und Natur in der Renaissance. Festschrift zum 70. Geburtstag für Eckhard Kessler. Hg. von Sabina Ebbersmeyer, Helga Pirner-Pareschi und Thomas Ricklin. [Humanistische Bibliothek. Reihe I. Abhandlungen 59] München 2008, S. 207-226, hier S. 207).

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gelegt, sondern vielmehr wegen des großen, mit Bögen errichteten, ovalen Baus in der Form einer Wandelhalle von der Art, die die Einheimischen selbst in Basiliken und Klöstern Umgänge nennen, von hohen Stockwerken auf den vier Seiten gebildet, in deren Mitte ein Garten liegt.“24 Bereits auf dem Titelblatt umreißt Quiccheberg Schritt für Schritt das Wissensgebiet, den Charakter seiner Exponate und die gewünschte didaktische Nutzanwendung des Theaters: „ÜBERSCHRIFTEN ODER TITEL DES UMFANGREICHSTEN THEATERS, welches einzelne Stoffe aus der Gesamtheit aller Dinge und herausragende Bilder UMFAßT“25, so der Haupttitel, in dem die Abhandlung – selbstbewusst mit dem Superlativ „umfangreichste“ versehen – zunächst in die Abteilungen der konkret existierenden und der qua Bildnis abstrahierten Dinge unterschieden wird. Dabei zeigt sich ein rigider Wertekanon: Nur „herausragende Bilder“ gelangen ins Theater. Auf die ausschließliche Verwendung des Begriffs ‚Theatrum‘ besteht Quiccheberg dabei keinesfalls, er nennt seine Schrift umgehend ein „Archiv [Promptuarium] kunstvoller und wundersamer Dinge“, in dem man „eines vollständigen seltenen Schatzes“26 ansichtig wird. Die Assoziation zur Schatzkammer- und Thesaurus-Titelei stellt sich wohl kaum zufällig her. Für seinen Sammlungsleitfaden skizziert er denn auch gleich die ideale Form der Erkenntnisaneignung angesichts der zusammengetragenen Artefakte. Durch die „häufige Betrachtung und die Beschäftigung damit“ kann eine anschließende „neue Kenntnis der Dinge sowie bewundernswerte Klugheit“27 nicht ausbleiben. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die besondere Rolle des Visuellen (der evidentia) in Quicchebergs Traktat,28 das durch weitergehende Informationsangebote etwa in Form von Bibliotheken29 unterstützt wird. Als Schutzpatron für die geregelte Abfolge und Ordnung seiner virtuellen Exponate installiert Quiccheberg zunächst Merkur.30 Klaus Minges hat daraus eine komplette Sammlungsordnung anhand der sieben Planeten entwickelt.31 Aber auch biblische Ordnungsmodelle erhalten eine besondere Repräsentanz, wenn direkt in der ersten inscriptio ein Bildarchiv der Geschichte des Christentums aufgestellt wird32 und auch in den späteren explikativen Kapiteln immer wieder die herausgehobene Stellung der sakralen Exponate zur Sprache kommt. Schließlich fungieren die Könige Salomo und Hiskias als exemplarische

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Roth (Hg.): Inscriptiones (wie Anm. 23), S. 107. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd. Vgl. dazu die Beiträge des Sammelbandes von Gabriele Wimböck/Karin Leonhard/Markus Friedrich (Hgg.): Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. (Pluralisierung & Autorität 9) Berlin 2007, aus jüngerer Zeit grundlegend Jörg Jochen Berns: Bildenzyklopädistik 1550-1650. In: Schierbaum (Hg.): Enzyklopädistik 1550-1650 (wie Anm. 6), S. 41-78. Roth (Hg.): Inscriptiones (wie Anm. 23), S. 89. Vgl. zur Konstruktion einer planetarisch-astrologischen Ordnung des Traktats ebd., S. 228-232. Vgl. Minges: Sammlungswesen der Frühen Neuzeit (wie Anm. 23), S. 65-68. Roth (Hg.): Inscriptiones (wie Anm. 23), S. 41.

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Sammler.33 Signifikant für frühneuzeitliche Wissenssammlungen ist dabei das Nebeneinander unterschiedlicher Ordnungsmodelle.34 So gliedert sich das Verzeichnis der virtuellen Exponate in fünf Abteilungen, die wiederum in zehn bis zwölf Unterabteilungen segmentiert sind. Die erste Klasse enthält abgesehen von den heilsgeschichtlichen Darstellungen z. B. auch eine Ahnengalerie des Theatrum-Gründers, Porträts, Stadtansichten aus dem regionalen Umfeld und Kriegsdarstellungen. Die zweite Klasse befasst sich mit dem typischen Inventar einer Kunstkammer, z. B. mit Statuen, Schmiedearbeiten, Werkzeugen und Geräten. Die dritte Klasse enthält die naturalia – nochmals untergliedert in Tiere, Pflanzen und Mineralien. Die vierte Klasse versammelt eine Leistungsschau von Objekten, die von Menschenhand mit größter Kunstfertigkeit geschaffen wurden – seien es Kleidungsstücke, Waffen, Musikinstrumente oder Puppen. Die fünfte Klasse fungiert schließlich als Bildergalerie und versammelt Kupferstiche, Ölgemälde, Porträts, Aquarelle und Stammbäume. Quicchebergs Ordnung der Dinge greift dabei immer wieder auf etablierte Strukturierungsmodelle und Autoritäten zurück, wenn er etwa in seinen Stammbäumen berühmte Wissenschaftler den Septem Artes Liberales zuordnet.35 Ohnehin ist der intertextuelle Vernetzungsgrad mit der europäischen Gelehrsamkeit ständig präsent, auch und gerade im Hinblick auf die Theatrum-Literatur: Guilio Camillo (1480-1544)36, Christoph Myläus (geb. um 1500)37, Conrad Lycosthenes (um 1518-1561), Theodor Zwinger

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Roth (Hg.): Inscriptiones (wie Anm. 23), S. 215ff. Vgl. ebd., S. 232: „Die Bibel steht in allen Abschnitten des Traktates an erster Stelle.“ – Vgl. zu Salomos Tempel als Theatrum sapientiae auch Lazardzig: Theatermaschine (wie Anm. 18), S. 201ff. Vgl. dazu instruktiv Paul Michel: Ordnungen des Wissens. Darbietungsweisen des Materials in Enzyklopädien. In: Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens. Hg. von Ingrid Tomkowiak. Zürich 2002, S. 35-83, der zwanzig verschiedene Dispositionstypen unterscheidet. Roth (Hg.): Inscriptiones (wie Anm. 23), S. 245. Vgl. zu Camillo und seiner einflussreichen Schrift L’idea del teatro (1550) Lina Bolzoni: Il teatro della memoria. Studi su Guilio Camillo. Padua 1984, Francis Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. Weinheim 1990, S. 123-161 und Barbara KellerDall’Asta: Heilsplan und Gedächtnis. Zur Mnemologie des 16. Jahrhunderts in Italien. (Studia Romanica 104) Heidelberg 2001, S. 185-279. Christophorus Mylaeus: Theatrum universitatis rerum. Basel 1557. Dabei handelt es sich um die graphische Darstellung eines Kapitels aus Mylaeus’ Enzyklopädie De Scribenda Universitatis Rerum Historia (zuerst 1551), vgl. neuerdings die instruktive Studie von Joseph S. Freedman, der das buchstäblich meterlange Flugblatt ausführlich gewürdigt und anhand von plastischen Schaubildern aufgeschlüsselt hat (Joseph S. Freedman: An Extraordinary Broadsheet on Natural Philosophy: The „Theatrum universitatis rerum“ [1557] by Christophorus Mylaeus. In: Ebbersmeyer/Pirner-Pareschi/Ricklin [Hgg.]: Sol et homo [wie Anm. 23], S. 241-315).

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(1533-1588)38 und Guillaume de La Perrière (1499-1565)39 erfahren explizite Erwähnung.40 Aller Ambitioniertheit zum Trotz scheint Quiccheberg in der sammlungstheoretischen Traktatistik des 17. und 18. Jahrhunderts nur wenig Spuren hinterlassen zu haben und konnte somit keine weitergehenden Prozesse der Wissensetablierung seines Modells auslösen, wie Stephan Brakensiek in einer rezeptionsgeschichtlichen Skizze

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Theodor Zwinger/Conrad Lycosthenes: Theatrum vitae humanae […]. Basel 1565, wobei lediglich zu vermuten ist, dass Quiccheberg das zeitgleich mit den Inscriptiones erschienene Theatrum vitae humanae kannte. – Zu diesem in der Frühen Neuzeit überaus einflussreichen Text vgl. grundlegend an neuerer Forschung Helmut Zedelmaier: Navigieren im Textuniversum. Theodor Zwingers „Theatrum vitae humanae“. In: Schock/Bauer/Koller (Hgg.): Theatrum-Metapher (wie Anm. 11), S. 115-137 und die auf S. 135ff. verzeichnete Forschung; außerdem Martin Schierbaum: Paratexte und ihre Funktion in der Transformation von Wissensordnungen am Beispiel der Reihe von Theodor Zwingers „Theatrum Vitae Humanae“. In: Ammon/Vögel (Hgg.): Pluralisierung (wie Anm. 22), S. 255-282, und Martin Schierbaum: Typen und Transformationen der Wissensspeicher in der Frühen Neuzeit – Zwischen Marktmacht, Praxisdruck und suisuffizienter Welterklärung. Am Beispiel der Reihen von Conrad Gesners „Bibliotheca Universalis“, von Theodor Zwingers „Theatrum Vitae Humanae“ und Christoph Besolds „Thesaurus Practicus“ mit einem Ausblick auf Francois Truffauts „Fahrenheit 451“ und Heiner Müllers „Germania 3“. In: Schierbaum (Hg.): Enzyklopädistik 1550-1650 (wie Anm. 6), S. 249-346, hier S. 283-305. – Die Zahl der Untersuchungen zu Lycosthenes – besser bekannt als Conrad Wolf(f)hart – ist hingegen ungleich geringer, vgl. nur Josef Heinic/Václav Bok: Gesners europäische Bibliographie und ihre Beziehung zum Späthumanismus in Böhmen und Mähren. Wien/Köln/Graz 1989, S. 10-17 und Wolfgang Harms: Conrad Wolfhart [Art.]. In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walther Killy. Bd. 12. Gütersloh/München 1992, S. 412f. Guillaume de la Perrière: Le Theatre des bons engins, auquel sont contenuz 100 emblemes moraulx. Paris 1539. – Vgl. dazu zunächst die monographischen Darstellungen von Irene Schwendemann: Probleme humanistischer Moralistik in den emblematischen Werken des Guillaume de La Perrière. München 1966, S. 67-111 und Greta H. Dexter: The earliest French Emblem Books. Source and Composition of „Le Théâtre des Bons Engins“ by Guillaume de la Perrière and the „Hécatomgraphie“ by Gilles Corrozet. Diss. masch. University of London 1980; außerdem an Einzelstudien Stephen Rawles: The Earliest Editions of Guillaume de la Perrière’s „Theatre des bons engins“. In: Emblematica 2 (1987), S. 381-386, Mary V. Silcox: The Translation of La Perrière’s „Le Theatre des bons engins“ into Combe’s „The Theater of Fine Devices“. In: Emblematica 2 (1987), S. 61-94, Alison Saunders: „The Theatre des bons engins“ through English Eyes (La Perrière, Combe and Whitney). In: Revue de Littérature Comparée 4 (1990), S. 653-673, Stephen Rawles: The Daedalus Affair: The Lyon Piracy of the „Theatre des bons engins“. In: Intellectual Life in Renaissance Lyon. Proceedings of the Cambridge Lyon Colloquium 14-16 April 1991. Hg. von Philip Ford und Gillian Jondorf. Cambridge 1993, S. 49-61, Alison Adams/Stephen Rawles: Jean de Tournes and the „Theatre des bons engins“. In: Emblems from Alciato to the Tattoo. Selected Papers of the Leuven International Emblem Conference 18-23 August, 1996. Hg. von Peter M. Daly, John Manning und Marc van Vaeck. (Imago Figurata Studies 1C) Turnhout 2001, S. 21-51 und David Graham: Pictures Speaking, Pictures Spoken To: Guillaume de La Perrière and Emblematic ‚Illustration‘. In: Visual Words and Verbal Pictures. Essays in Honour of Michael Bath. Hg. von Alison Saunders und Peter Davidson. Glasgow 2005, S. 69-87. Roth (Hg.): Inscriptiones (wie Anm. 23), S. 107ff.

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jüngst herausgestellt hat.41 Ob sich Quicchebergs anspruchsvolle Sammlungskonzeption eines „Theatrum mundi“ in den Theatra des 16. und 17. Jahrhunderts niedergeschlagen hat und wenn ja, wie, bleibt zu erforschen.

3. Jan Amos Comenius. Eine Theatrum-Konzeption auf der sicheren Seite Gottes Die exponierte Positionierung heilsgeschichtlicher und biblischer Materie bei Quiccheberg leitet direkt über zu Jan Amos Comenius’ fragmentarisch überlieferter, in Latein und Tschechisch verfasster Abhandlung Theatrum universitatis rerum, aus der Franz Hofmann 1992 einzelne Teile verdienstvollerweise ins Deutsche übersetzt hat.42 Comenius arbeitete an dieser Schrift jahrzehntelang seit seiner Rückkehr nach Mähren 1614. In der „Vorrede zum Theatrum“ gibt er Auskunft über seinen Bauplan des Wis-

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Brakensiek: Samuel Quichelberg (wie Anm. 23). – Vgl. zur weitergeführten Ideenskizze einer Sammlungsarchitektur und der Konzeption eines Theatrum naturae et artis bei Gottfried Wilhelm Leibniz im späten 17. Jahrhundert als Resümee seiner langjährigen Forschungen aber Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. 2. Aufl. Berlin 2008 (zum Theatrum-Begriff wiederum S. 34-39) und Lazardzig: Theatermaschine (wie Anm. 18), S. 217-238. – Aufschlussreich wäre auch ein Blick in die Architektur der Sammlungen eines Athanasius Kircher, vgl. dazu nur Lucas Burkart: Athanasius Kircher und das Theater des Wissens. In: Schock/Bauer/Koller (Hgg.): Theatrum-Metapher (wie Anm. 11), S. 259-279 und Angela Mayer-Deutsch: Athanasius Kirchers „theatrum naturae artisque“ als idealer, synoptischer Blick auf ein Wissenstheater. In: Schock/Bauer/Koller (Hgg.): Theatrum-Metapher (wie Anm. 11), S. 281-301. Jan Amos Comenius: Allweisheit. Schriften zur Reform der Wissenschaften, der Bildung und des gesellschaftlichen Lebens. Eingeleitet, ausgewählt, übersetzt und erläutert von Franz Hofmann. Darmstadt 1992, S. 61-76. Der gesamte überlieferte lateinische und tschechische Text inklusive der auf die „Vorrede“ folgenden 19 Kapitel findet sich in Johann Amos Comenius: Opera omnia. Bd. 1. Hg. von Antonín Skarka. Prag 1969, S. 95-181. – Vgl. zu der Schrift Franz Hofmann: Einleitende Studie: Die „Pansophia christiana“ – Kraftfeld und geistige Mitte im Schaffen des J. A. Comenius. In: Comenius: Allweisheit (diese Anm.), S. 9-47, hier S. 12-15 und den Hinweis auf die Überlieferung (Comenius: Allweisheit [diese Anm.], S. 61); ferner zu Comenius’ Enzyklopädiekonzeptionen Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. (Paradeigmata 1) Hamburg 1983, S. 139-154, zum Stellenwert des Theatrum im Kontext anderer früher Schriften Comenius’ Franz Hofmann: Theatrum – Labyrinth – Pansophia – Panthenosia. Peripetien im Lebensdrama J. A. Komenskýs. In: Emendatio rerum humanarum. Erziehung für eine demokratische Gesellschaft. Festschrift für Klaus Schaller. Hg. von Franzjörg Baumgart, Käte Meyer-Drawe und Bernd Zymek. (Studien zur Pädagogik der Schule 11) Frankfurt a.M./Bern/New York 1985, S. 13-29, generell zum Theatrum-Begriff bei Comenius Zdenek Kozmín: Comenius’ Philosophie der Pansophie. In: Russian Literature XXXIX (1996), S. 457-466 und zum theologischen Diskursumfeld der Zeit Stefan Laube: Verdichtung, Fragmentierung und Verdrängung. Die Theatrum-Metapher in der Wissenstradition des Pietismus. In: Schock/Bauer/Koller (Hgg.): Theatrum-Metapher (wie Anm. 11), S. 55-88, zu Comenius bes. S. 66-70.

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sens. Quicchebergs aufwendige Verzeichnung der Exponate mit einem mehrstufigen Erklärungsapparat weicht bei Comenius der unerschütterlichen Überzeugung, als Werkzeug Gottes zu agieren: „Was darum in meinem Theatrum über Gottes Werke in der Welt ausgeführt wird, das wird zum Ziel haben, Gott in seiner Macht, Güte und Weisheit zu erkennen und in uns Liebe, Furcht und Verehrung zu ihm, dem liebevollen Schöpfer zu entzünden.“43 Um die Rechtfertigung seiner Wissenskonstitution ist es Comenius durch die Berufung auf die höchste Autorität daher wenig zu tun. Jeglicher Wissenssystematik geht eine gelehrte Abhandlung über den Zusammenhang von Wissen, Weisheit und der Offenbarung Gottes in seiner Schöpfung voran. Der „heidnische Weise“44 Aristoteles und der „fromme Heide“45 Cicero erfahren eine exponierte Erwähnung gleich am Anfang. Dann blendet Comenius aber unumwunden zu seinen eigentlichen Autoritäten über: David, Salomo und Jesus Sirach. Ein erster leichter Anklang an Quiccheberg stellt sich mit der herausragenden Positionierung Salomos ein. Eine weitere Parallele deutet sich in Comenius’ Vorhaben an, „alles, was in der Welt und im menschlichen Wissen anzutreffen ist, unter bestimmten Titeln anzuordnen.“46 Die Erkenntnis Gottes in seiner wohlgeordneten Schöpfung vollzieht sich dabei zunächst – und hier verdichten sich die Gemeinsamkeiten mit Quiccheberg zusehends – auf der visuellen Ebene: „[Viele Dinge der Welt] kann der Mensch erblicken lernen.“47 Der ständig präsente Diskurs über die Vernetzung von Sichtbarkeit, Erkenntnis und Offenbarung kulminiert wiederum in der zweifachen Berufung auf Comenius’ Gewährsinstanzen. Beide werden demonstrativ mit visueller Wahrnehmung in Verbindung gebracht. „[D]er Mensch muß mit Sirach ausrufen: Ach, wer kann sich am Ruhm Gottes sattsehen (Kap. 42, 28)?“48, und zu David: „David, der sich im 104. Psalm die Werke Gottes in der Welt vor Augen führt und beschaut, ruft am Ende voller Inbrunst: Die Ehre des Herrn ist ewig; der Herr hat Wohlgefallen an seinen Werken.“49 Am Ende der „Vorrede“ schreitet Comenius zur Systematisierung seines Wissensgebäudes. Es ist vierteilig und gliedert sich zunächst in den Bereich des „Theatrum naturae“, in dem die Betrachtung der Werke Gottes ihren Platz hat. Das „Theatrum vitae humanae“ widmet sich hingegen den „menschlichen Angelegenheiten, Geschehnisse[n], Vorhaben und Werke[n].“50 Das „Theatrum orbis terrarum“ versammelt geographisches Wissen über die Weltteile. Das „Theatrum seculorum“ versteht sich nicht nur als historische Chrono-

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Comenius: Allweisheit (wie Anm. 42), S. 73. Ebd., S. 62. Ebd., S. 63. Ebd., S. 72. Ebd., S. 65. Ebd., S. 69. Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Georg Sauer: Jesus Sirach/Ben Sira. Übersetzt und erklärt von Georg Sauer. (Das Alte Testament Deutsch – Apokryphen 1) Göttingen 2000, S. 292 vielmehr 42,25: „Das eine wechselt mit dem anderen in seinem Wert ab, und wer könnte sich sättigen beim Anblick ihrer Pracht.“ Comenius: Allweisheit (wie Anm. 42), S. 69. Ebd., S. 75.

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logie, sondern führt seine Überlegungen über die Gegenwart hinaus bis zum Ende der Welt und der Zeit. Und so verdichtet sich Comenius’ Theatrum wie Quicchebergs Konzeption wieder zu einem „Theatrum mundi“. Quicchebergs explizite Berufung auf Theatrum-Autoritäten findet bei Comenius ihren weniger offenkundigen Gegenpart im Hinblick auf sein gelehrtes Umfeld: Sein Lehrer Johann Heinrich Alsted (1588-1638) veröffentlichte 1610 das Theatrum scholasticum51, der Brüderbischof Mataus Konecný 1616 das Theatrum divinum.52 Der ständige Rekurs auf Visualität dürfte einen eher offenbarungsmetaphorischen Charakter haben und schlägt sich in der Schrift selbst nicht in performativer Form nieder – es ist lediglich eine Abbildung vorhanden.53 Ein Höchstmaß an Wissensetablierung – allerdings für eine völlig andere Zielgruppe – konnte dann Comenius’ Orbis sensualium pictus (1658) erzielen, wobei das erkenntnisfördernde Potential des Visuellen nun zentral gesetzt ist.54 Die Wissensordnung ist im Vergleich zum Theatrum universitatis rerum deutlich modifiziert.55 Dennoch lassen sich einzelne Reminiszenzen an das Theatrum-Frühwerk aufspüren. Am Ende des vorredenartigen „Vortrags“ zum Orbis, also an recht exponierter Stelle, vermerkt Comenius: „Sodann würde diese Schule ein wahrhafftiger Schauplatz der sichtbaren Welt / und der Verstand-Schulen Vorspiel sein.“56 Das unmittelbar darauf folgende, auch typographisch hochgradig exponierte Motto der gesamten Schrift stammt von Jesus Sirach, der

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Johann Heinrich Alsted: Theatrum Scholasticum: In Quo Consiliarius Philosophicus proponit & exponit I. Systema & Gymnasium Mnemonicum ... II. Gymnasium Logicum ... III. Systema & Gymnasium oratorium ... Herborn 1610. – Zu Alsteds Position in der frühneuzeitlichen Wissenschaftslandschaft vgl. vorzüglich Schmidt-Biggemann: Topica universalis (wie Anm. 42), S. 100-139, zu Alsted und Comenius vgl. Jaromír Cervenka: Die Naturphilosophie des Johann Amos Comenius. Hanau 1970, S. 24-42, zum Theatrum universitatis rerum außerdem S. 42-45. – Vgl. zum Theatrum scholasticum punktuell Howard Hotson: Johann Heinrich Alsted 1588-1638. Between Renaissance, Reformation, and Universal Reform. Oxford 2000, S. 46-50. Vgl. Hofmann: „Pansofia christiana“ (wie Anm. 42), S. 13. Comenius: Opera omnia (wie Anm. 42), S. 166. Wobei eine dezidierte Abwendung vom Theatrum-Begriff recht auffällig erscheint: „Es bleibt bemerkenswert, dass bei Comenius die Zäsur des Visuellen in der bislang maßgeblich vom geschriebenen Wort dominierten Bildungssphäre mit der Ignorierung der visuellen Standardkategorie Theatrum einherging.“ (Laube: Verdichtung [wie Anm. 42], S. 70). Aus der inzwischen unüberschaubaren Forschung seien zu den performativen Aspekten des Orbis sensualium pictus hier nur herausgegriffen: Annette Graczyk: Repräsentativität und Performanz in der Bildenzyklopädie des ‚Orbis sensualium pictus‘ des Jan Amos Comenius. In: FischerLichte (Hg.): Theatralität (wie Anm. 20), S. 355-372, Renate Lachmann: Zwei Weisen der Wissensdarstellung im 17. Jahrhundert (Athanasius Kircher und Johann Amos Comenius). In: Poetica 38 (2006), S. 329-377, hier S. 359-377 und Bettina Bannasch: Zwischen Jakobsleiter und Eselsbrücke. Das ‚bildende‘ Bild im Emblem- und Kinderbilderbuch des 17. und 18. Jahrhunderts. (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 3) Göttingen 2007, S. 207-221. Johann Amos Comenius: Orbis sensualium pictus. (Die bibliophilen Taschenbücher 30) (ND der Ausgabe Nürnberg 1658). Dortmund 1978, „Vortrag“, unpag.

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aus dem Theatrum universitatis rerum wohlbekannt ist: „Sirach 25. 5. Wenn du / in der Jugend / nicht samlest: was wilstu / im Alter finden.“57

4. Matthäus Merian. Das Theatrum am Leitfaden der historia und die „Augen-Lust“ der Leserschaft Den Charakter einer Konzeptionsschrift wie bei Quiccheberg und eines ausführlichen Entwurfs wie bei Comenius haben die kiloschweren Folianten des Theatrum Europaeum hinter sich gelassen. Hier liegt ein materiales Theatrum vor, dessen Publikationsgeschichte bis ins 18. Jahrhundert reicht.58 Die Initiationspublikation von 1633, bei der es sich um den zweiten Band handelt,59 ist trotz der fast 700-seitigen Chronik mit einem lediglich zweiseitigen vorwortartigen Passus „An den Leser“ vom Verleger Matthäus Merian versehen. Immerhin bietet das Titelblatt erste Andeutungen über die Konzeption des Theatrum. Die Chronik der laufenden Ereignisse versammelt die „denkwürdigen Geschichten / so sich hin vnd wider in der Welt / meisten theils aber in Europa“60 zugetragen haben – somit konstituiert sich auch diese Publikation als ‚Theatrum mundi‘. In der Folge nutzt Merian seine Leseransprache geschickt zur Selbstdarstellung und zum Marketing. Eher topischen Charakter hat die Berufung auf die höchste Instanz: Merian betätigt sich deshalb als Verleger, „weil es Gott dem Herrn also gefallen hat“.61 Mit Erläuterungen zur tiefer gehenden Systematik und zur Wissenskonstitution seines Ge-

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Comenius: Orbis sensualium pictus (wie Anm. 56). Wiederum nach Sauer: Jesus Sirach/Ben Sira (wie Anm. 48), S. 188 vielmehr 25,3: „Wenn du in der Jugend nicht gesammelt hast, wie kannst du dann in deinem Alter finden?“ Vgl. zum Theatrum Europaeum zunächst die bei Hans-Joachim Jakob: Topographia Westphaliae. Grimmelshausens Westfalen in Landschaftsdarstellungen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Grimmelshausen und Simplicissimus in Westfalen. Hg. von Peter Heßelmann. (Beihefte zu Simpliciana 2) Bern u. a. 2006, S. 75-92, hier S. 87f., in Anm. 19 verzeichnete Forschungsliteratur, darüber hinaus die Aktualisierung bei Hans-Joachim Jakob: Notizen zur produktiven Rezeption unhandlicher Folianten. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch und das Theatrum Europaeum. In: Simpliciana XXXIII (2011), S. 297-318. – Die neuesten Erkenntnisse zum Theatrum Europaeum wurden am 12. und 13. März 2011 auf der Tagung „Das Theatrum Europaeum. Wissensarchitektur einer Jahrhundertchronik“ an der Universität Kassel verhandelt. In der Folge wird das 1646 gedruckte Exemplar der Universitäts- und Landesbibliothek Münster zugrunde gelegt: THEATRI / EVROPAEI, / Das ist: / Historischer Chronick, / Oder / Wahrhafftiger Beschreibung aller für- / nehmen und denkwürdigen Geschichten … / Der Ander Theil […]. Frankfurt 1646. Zu den ausführlichen Titeleien und Auflagen der einzelnen Bände vgl. Lucas Heinrich Wüthrich: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ae. Bd. 3. Die grossen Buchpublikationen I. Hamburg 1993, S. 121-128, speziell zur dritten Ausgabe des zweiten Bandes S. 125. THEATRI / EVROPAEI (wie Anm. 59), fol. 2r. Ebd., fol. 4r.

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schichtstheaters hält Merian sich nicht auf, die historia fungiert als unhinterfragbare Verbürgungs- und Ordnungsinstanz.62 Man wird ihr automatisch gerecht, indem man dafür Sorge trägt, dass „die Erzehlung der Geschichten an sich selbst“ mit dem „vesten Grund der vnlaugbaren blossen Wahrheit“63 fundiert ist. Dabei ist trockene Faktenakkumulation zum chronikalischen Selbstzweck gerade nicht Merians Ziel. Es soll auch Raum für die „Belustigung deß Lesers“ bleiben, der sich an „Land Tafeln / Contrafacturen / vnd andern Kupffernstücken / als Abriß vnd Entwerffungen der Vestungen / Schantzen / Belägerungen / Bataillen vnd Schlachten“64 delektieren kann. Der geschäftstüchtige Verleger rückt kurzerhand die ausgefeilte Visualität seiner mit Abbildungen gespickten Folianten in den Mittelpunkt, für die er sogar eine zweistufige Qualitätskontrolle eingerichtet hat. Die Authentizität der bildlichen Darstellungen kann er – so gibt er zumindest vor – entweder „durch selbst eyngenommenen Augenschein“ oder konkrete Autopsie vor Ort „von guten und verständigen Ingenieurn / die beydes dem Schimpff vnnd Ernst beygewohnet“65 garantieren. Auch die Qualitätskontrolle betont also den Aspekt der Visualität. Zudem ermöglichen die Abbildungen sowohl Abwechslung als auch großräumige Orientierung auf den vierspaltigen und eng gedruckten Folioseiten. Die mühselige Auffindung bestimmter historischer Ereignisse und genauer Datumsangaben, die nur durch eine kurze Information in den Randspalten erleichtert wird, findet ihre Gratifikation für den Leser in den wohlgeordneten Tableaus von Schlachtfeldern, Städteansichten und spektakulären Vorfällen. Die bildlichen Darstellungen führen zudem zu einer weitergehenden Hierarchisierung und Kanonisierung der chronologisch dargebotenen Vorfälle: Nur ganz besondere Ereignisse erscheinen auch im Bild, nur historisch besonders einflussreiche Persönlichkeiten sind auf einem repräsentativen Porträt dargestellt. Derartige Wertungen und Orientierungsangebote sind nicht zu unterschätzen, zumal das Wissensgebiet der historia ein ungleich unüberschaubareres und weitaus schwieriger eingrenzbares ist als etwa das einer Sammlung der kostbarsten und kunstfertigsten Exponate (Quiccheberg). Das Theatrum Europaeum verlässt dabei endgültig den funktionalen Rahmen eines Welttheaters und eines Buchs der Welt. Für eine kontinuierliche Lektüre sind die voluminösen Folianten kaum geeignet, das gezielte Auffinden von Informationspartikeln je nach Leserinteresse steht nun im Vordergrund. Ausgefeilte Register am Ende eines jeden Bandes erlauben einen ergebnissicheren Zugriff auf die relevanten Textpassagen und bildlichen Zeugnisse. Mit Problemen der Wissensetablierung hatten die Folianten des Theatrum Europaeum nicht zu kämpfen – die unhandlichen und kostspieligen Großpublikationen sind zu den zahlreichen Erfolgs-

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Vgl. zur frühneuzeitlichen Dignität der historia nur Zedelmaier: Bibliotheca universalis (wie Anm. 1), S. 225-308. THEATRI / EVROPAEI (wie Anm. 59), fol. 4r. Ebd. Ebd., fol. 4v.

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büchern aus dem Hause Merian zu rechnen und hinterließen deutliche Spuren in der Literatur- und Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts.66 So errichten alle drei Beispieltexte mit unterschiedlich großem Aufwand unterschiedliche Wissensordnungen und extrapolieren dabei besonders den Aspekt der Visualität, dem das Theatrum Europaeum auch eindrucksvoll Taten folgen lässt.67 Die leitende Fragestellung der Theatrum-Titelei führt konsequenterweise aber noch zu ganz anderen Publikationen, die sich weder einer auf den ersten Blick erkennbaren Wissensordnung noch der Funktionalisierung von Bildmaterial bedienen.68 Welche Systematisierungskriterien – wenn es denn welche gibt – etwa in Martin Zeillers Theatrum tragicum (1624) oder Georg Philipp Harsdörffers Grossem Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte (1649-1650) zum Tragen kommen, beschäftigt nun schon längere Zeit die Forschung.69

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Als prominenter Nutzer des Theatrum Europaeum hat etwa Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausen zu gelten. Vgl. nur die zahlreichen Verweise in Dieter Breuers Kommentar zu Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Werke I, 1. Hg. von Dieter Breuer. [Bibliothek der Frühen Neuzeit 4/I] Frankfurt a.M. 1989, S. 794-984, passim). Dabei nimmt Grimmelshausen noch weitere Theatrum-Texte als Informationsquelle in Anspruch, etwa Tomaso Garzonis PIAZZA VNIVERSALE von 1619, vgl. dazu nur Italo Michele Battafarano: Vom polyhistorischen Traktat zur satirischen Romanfiktion. Garzonis „Piazza Universale“ bei Albertinus und Grimmelshausen. In: Tomaso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der frühen Neuzeit. Hg. von Italo Michele Battafarano. (IRIS 3) Bern u. a. 1991, S. 109-124. Vgl. zur Rolle der Sichtbarkeit in wissenschaftlichen Publikationen der Frühen Neuzeit nochmals prononciert Claus Zittel: Demonstrationes ad oculos. Typologisierungsvorschläge für Abbildungsfunktionen in wissenschaftlichen Werken der frühen Neuzeit. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 9 (2005), S. 97-135. Vgl. dazu Sebastian Neumeister: Theatralität des Wissens als Raum und als Text. In: Schock/Bauer/Koller (Hgg.): Theatrum-Metapher (wie Anm. 11), S. 89-111, hier S. 93: „Das Museum und seine Vorform, die Kunstkammer […], haben mit dem Theater immerhin die Möglichkeit der anschaulichen Inszenierung und Visualisierung gemeinsam, wobei der Titel Theatrum oder Schaubühne gerade auch für solche Bücher gewählt wird, die diese Visualisierung nicht leisten und das Wissen nur verbal präsentieren.“ Vgl. zu Harsdörffers Kompilationsprinzipien allgemein Jörg Jochen Berns: Kompilation und Kombinatorik. Zusammenhänge und Grenzen von Harsdörffers naturwissenschaftlichen und ästhetischen Interessen. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. von Hans-Joachim Jakob und Hermann Korte. (Bibliographien zur Literaturund Mediengeschichte 10) Frankfurt a.M. u. a. 2006, S. 55-83, speziell zu den SchauplatzAnthologien Judit M. Ecsedy: Kompilationsstrategien und Transkriptionstechniken von internationalen Erzählstoffen in Georg Philipp Harsdörffers „Schauplätzen“. In: ‚Fortunatus, Melusine, Genofeva‘. Internationale Erzählstoffe in der deutschen und ungarischen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Dieter Breuer und Gábor Tüskés. (Beihefte zu Simpliciana 6) Bern u. a. 2010, S. 523-564.

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Derartige Theatra aus der Tradition der „Buntschriftstellerei“70 und der Kompilationsliteratur71 scheinen in erster Linie der varietas verpflichtet zu sein und scheinen sich um eine Ordnung oder um eine durchdachte, der evidentia gehorchende Inszenierung ihrer Texte durch Bilder nicht zu kümmern.72 Der nahezu topisch anmutende Reflex auf Visualität kann dennoch nicht unterbleiben. In der „Zuschrift“ seiner Mord-Geschichte beschreibt Harsdörffer ein Amphitheater – auch als Reverenz an eine seiner wichtigsten Quellen, L’amphithéâtre sanglant (1630) von Jean Pierre Camus –, in dem der geneigte Zuseher von allen Plätzen aus vollen Einblick in das blutige Treiben in der Arena genießt.73 In der dritten Ausgabe von 1656 hat Harsdörffer als Zusatzmaterial zudem hundert Sinn-Bilder hinzugefügt, die sich als Baukasten für zukünftige Embleme verstehen – materielle Bilder finden sich nicht.74 Es bleibt allerdings ohnehin zu fragen, inwieweit hier bereits die Kompetenz und auch das Auswahlinteresse desjenigen Lesers angesprochen werden soll, der gar kein „Theatrum mundi“ mehr erwartet geschweige denn durchblättern und betrachten will, sondern sich mithilfe des Registers das ihm Genehme und für ihn Interessante herauspicken kann. Und es stellt sich fast noch dringlicher die Frage, mit welcher Form von Wissen wir es in den tragischen und mörderischen Ge-

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Vgl. Wilhelm Kühlmann: Lektüre für den Bürger: Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhistorischen Reihenwerke Martin Zeillers (1589-1661). In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Hg. von Wolfgang Brückner, Peter Blickle und Dieter Breuer. Teil II. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13) Wiesbaden 1985, S. 917-934, hier S. 917, den einschlägigen Hinweis von Ina Timmermann: „löbliche Conversation“ als ‚Einübung ins Räsonnenment‘. Das Gespräch als Ziel und Funktion barocker Erzählsammlungen am Beispiel der „Lustigen Schau=Bühne von allerhand Curiositäten“ des Erasmus Francisci (16271694). In: Simpliciana XXI (1999), S. 15-40, hier S. 15-18, als Überblick die von Paul Michel instruktiv eingerichtete Seite „Buntschriftstellerei“ unter (Abruf 13.10.2011) und zuletzt Roßbach: Gynaeceum (wie Anm. 15), S. 154. Vgl. nach wie vor Brückner: Historie (wie Anm. 16), an neueren Überblicksdarstellungen hingegen Rainer Alsheimer: Kompilationsliteratur [Art.]. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. von Wilhelm Brednich. Bd. 8. Berlin/New York 1996, S. 111-114 und Hilmar Kallweit: Kompilation. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Harald Fricke. Bd. II. Berlin/New York 2000, S. 317-321. Die Bandbreite möglicher Publikationen betont auch Schock: Einführung (wie Anm. 14), S. XI: „Die Rede vom Theater diente der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert als variable Ordnungsmetapher. Wo immer im Kontext von Wissen architektonische (Bühnen-)Bilder implizit oder explizit präsent waren, ging es im Großen nicht nur um die Erschließung und Akkumulation von Wissen, sondern auch um die Frage seiner Organisation und Disposition, um Systematisierung oder Systemlosigkeit.“ Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte. (ND der Ausgabe Hamburg 1656). Hildesheim/New York 1975, „Zuschrift“, unpag. Ebd., S. (1)-(36).

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Hans-Joachim Jakob

schichten zu tun haben,75 ob es sich überhaupt um Wissen handelt oder bereits um Wissenspopularisierung, und wenn das wiederum der Fall sein sollte, was genau mit welchen Mitteln welche Form von Popularisierung erfährt.

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Im Sinne der neuesten Einführung zum Thema handelt es sich um anthropologisches Wissen. Vgl. Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008, S. 55. – Vgl. zum schillernden Charakter von Wissen in der Frühen Neuzeit besonders eindringlich Friedrich: Das Buch als Theater (wie Anm. 12), S. 232.

Irmgard Scheitler (Würzburg) Musikwissen in der Frühen Neuzeit

Im Jahr 1575 veröffentlichte Johann Fischart seine Rabelais-Bearbeitung Affentheuerlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung / Von Thaten und Rathen der vor kurtzen langen weilen Vollenwolbeschreiten Helden und Herren Grandgusier / Gargantoa und Pantagruel. Einen Großteil des satirischen Potentials gewinnt der Autor aus listenhaften Aufzählungen und Aneinanderreihungen, wobei sein Interesse nicht zuletzt Liedern gilt. Insgesamt sind in der Geschichtklitterung mehr als 100 Lieder zitiert. Allein das achte Kapitel des Buches enthält mehr als 50 Lieder, die Hälfte davon Trinklieder.1 Sie sind in unterschiedlicher Ausführlichkeit angeführt, manchmal nur das Incipit, also der Liedanfang, manchmal mehrere Zeilen oder Strophen, je nachdem, wie sich der Zusammenhang mit dem nachfolgenden Text am besten einstellt. Das Liedwissen dieses elsässischen Gelehrten verwunderte schon Johann Gottfried Herder.2 Woher kannte Fischart alle diese Lieder, da er doch selbst kein Berufsmusiker war? Offenbar sammelte er systematisch Liedblattdrucke aus Straßburger und Basler Offizinen, bediente sich aber auch aus Liederbüchern. Immerhin lässt sich eine Abhängigkeit von zwei Liedsammlungen nachweisen, weil der Autor aus ihnen kleine Gruppen von Liedern in seine Montage übernommen hat: Es sind dies die 1534 erschienenen Neuen Lieder des Nürnberger Buchführers Hans Ott3 und die Newen und lustigen weltlichen Deudschen Liedlein des in Dresden lebenden Antonio Scandello4 von 1570. Erstaunlich – gemessen an

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Johann Fischart: Geschichtklitterung (Gargantua). Synoptischer Abdruck der Fassungen von 1575, 1582 und 1590. 2 Bde. Neu hg. von Hildegard Schnabel. Halle 1969, S. 122-151. Zum Folgenden vgl. die Forschungen von Charles A. Williams: Zur Liederpoesie in Fischarts Gargantua. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 35 (1909), S. 395-404; ders.: Weiteres zu Fischarts Liedern. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 37 (1912), S. 262-272 sowie Rolf W. Brednich/Lutz Röhrich/Wolfgang Suppan: Handbuch des Volksliedes. Bd. 1: Die Gattungen des Volksliedes. München 1973, S. 181f. mit Verweis auf Williams: Zur Liederpoesie in Fischarts Gargantua (diese Anm.). Johann G. Herder: Sämtliche Werke. Bd. 25: Volkslieder. Nebst untermischten andern Stücken. 2. Theil. Hg. von Bernhard Suphan. Hildesheim/New York 1978, S. 327. Hans Ott: Der erst teil. Hundert und ainundzweinzig newe Lieder. Nürnberg 1534. Antonio Scandello: Nawe vnd lustige Weltliche Deudsche Liedlein / mit Vier / Fuenff / und Sechs stimmen. Dresden 1570.

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Irmgard Scheitler

heutigen Verhältnissen – ist der Verbreitungsgrad dieser und ähnlicher musikalischer Sammlungen. Gleichermaßen bemerkenswert ist aber auch die Begeisterung, mit der Bürger der Frühen Neuzeit Liedblätter horteten. Etliche dieser Sammler ließen ihre Schätze als Konvolute binden, wodurch sich viele der ansonsten schnell vom Untergang bedrohten Einzeldrucke für die Nachwelt erhielten.5 Aus Fischarts Text spricht eine verblüffend breite Kenntnis von Liedern. Allerdings lassen sich aus dieser Satire keine zwingenden und statistisch relevanten Rückschlüsse auf das Musikwissen breiter frühneuzeitlicher Bevölkerungskreise ziehen. Fischart war kein professioneller Musiker, sondern Jurist. Aber er hatte als Verleger Zugang zu Quellen. Gargantua ist ein anspruchsvoller, ironischer Text. Als solcher setzt er überdurchschnittlich gebildete Leser voraus. Als Satire lebt er notwendig davon, daß die Rezipienten wenigstens einen Teil der Zitate wiedererkannten, ansonsten hätten sie die Collage nicht goutiert. Unsicher und auch nicht nachprüfbar ist hingegen, wie hoch der Prozentsatz der von den Lesern wiedererkannten Lieder gewesen sein mag. Immerhin steht fest, dass zum Genuss der Geschichtklitterung bereits ein einfaches Wiedererkennen genügte. Es war nicht nötig, jeweils auch die Melodie und den vollständigen Text ergänzen zu können. Vollständige und zuverlässige Kenntnis setzt hingegen der Autor eines Dramas voraus, wenn er ein Lied oder ein anderes Musikstück in seinem Schauspiel aufgeführt haben will und es nicht mit vollem Text und Noten abdruckt. Die wenigsten Dramen enthalten Noten, denn deren Druck war umständlich und teuer. Daher begnügen sich sehr viele Spiele mit Verweisen. So außerordentlich viel Musikwissen bei Fischart auch gefordert zu sein scheint, Schauspieltexte sind als Grundlage einer Inszenierung besonders gute Indikatoren für die Verbreitung musikalischen Wissens. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Vertrautheit der frühneuzeitlichen Bevölkerung mit Musik, die hier zutage tritt, ist noch viel erstaunlicher als bei Gargantua. Grundlage der folgenden Darstellung ist die Dramenproduktion des 16. und 17. Jahrhunderts. Dabei kann ich mich auf die Forschungen meines DFG-Projekts Schauspielmusik in der Frühen Neuzeit stützen, für das ich ca. 700 Spiele auf ihre Musikverwendung hin untersucht habe. Freilich sind zunächst ein paar grundsätzliche Differenzierungen nötig. Die Versuchsanordnung ‚Musik im Schauspiel‘ ist v. a. geeignet, das Musikwissen derjenigen zu überprüfen, die Schauspiele schrieben und auf die Bühne brachten. Im Folgenden sollen Dramen nicht als Lesetexte, sondern als Grundlage einer Aufführung betrachtet werden. In dieser Funktion werden die genaue Entschlüsselung aller Lied- und Melodieangaben und das Ausfindigmachen der geforderten Musikstücke bei denjenigen vorausgesetzt,

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Als Beispiel sei das um 1515 zusammengestellte Liederbuch des Jörg Dürnhofer genannt, das in einer vorbildlichen Ausgabe vorliegt: Frieder Schanze (Hg.): Jörg Dürnhofers Liederbuch. Tübingen 1993. Besser erforscht und belegt sind die zahlreichen Liedsammlungen durch Drucker und Verleger, wie z. B. durch Peter Schöffer (1512), Erhart Oeglin (1522), Arnt von Aich (1522-1524) oder Georg Rhau (1542 u. 1544).

Musikwissen in der Frühen Neuzeit

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die das jeweilige Stück aufführen und es mit den Schauspielern und dem Chor einstudieren. Die Zuhörer sangen in den seltensten Fällen mit.6 Selbst dann, wenn gemeinsamer Gesang gefordert wurde, konnte das Publikum auf Unterstützung von der Bühne zählen, was die Kenntnis der Melodie und der Textstrophen anbetrifft. Daneben kann es freilich in den Texten auch rein verbale Anspielungen auf Musikstücke und Liedincipits geben, die bei den Zuhörern als bekannt vorausgesetzt wurden. Trotz der eben gemachten Einschränkungen können Schauspiele gleichwohl wichtige Informationen über das Musikwissen der Bevölkerung bereitstellen. So sind es doch gerade die für eine breitere, bürgerliche Rezipientenschaft bestimmten Stücke, die am ehesten Musikwissen voraussetzten, weil sie sich am wenigsten Notendruck leisten und auch selten Originalkompositionen einsetzen konnten. An einem Fürstenhof gespielte Dramen, die auf professionelle Kräfte zurückgreifen konnten, wurden eher mit Originalmusik versehen, und man sorgte, wenn ihre Aufführung dokumentiert wurde, auch für die repräsentativ wirkende Beigabe musikalischer Noten, die dann bei einer Wiederaufnahme zur Verfügung standen. Ein Beispiel dafür liefert Justus Georg Schottels Neu erfundenes Freuden Spiel genandt Friedens Sieg7. Die Musik stammt von Sophie Elisabeth Herzogin zu Braunschweig-Lüneburg. Professionelle Musiker sind auch im Zusammenhang mit der Aufführung von nichthöfischen Schauspielen anzutreffen. Es handelt sich um Kantoren und Organisten, die v. a. für Schulen, hin und wieder auch für Bürgerspiele im Einsatz waren. Daneben gab es bei den frühen englischen Wandertruppen des beginnenden 17. Jahrhunderts und wohl auch bei den späteren deutschen Schauspieltruppen Berufsmusiker. Die Autoren – und oft auch die Actoren – der meisten Schauspiele des 16. und 17. Jahrhunderts aber waren Schulleiter, Pfarrer oder Bürger jedweden Berufs. Nur für wenige Spiele konnte ich Musiker als Autoren oder Dramaturgen ausmachen. Viele Schauspiele insbesondere des 16. Jahrhunderts wurden hingegen von einfachen Schulmeistern der deutschen Schulen oder von anderen Stadtbürgern geleitet, nicht nur in der Schweiz, wie man bisher annahm, sondern auch in Deutschland.8 Und schließlich verfügte nur ein ganz geringer Teil der Dramendichter des 17. Jahrhunderts – von Beruf waren sie meist Juristen – über eine musikalische Ausbildung, die über das an der höheren Schule Vermittelte hinausging. Im Wesentlichen also ha-

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Beispiele dafür bei Irmgard Scheitler: Vom Bekenntnis bis zur Blasphemie: Kirchenlieder und liturgische Gesänge im Schauspiel der Frühen Neuzeit. In: Das deutsche Kirchenlied. Bilanz und Perspektiven einer Edition. Hg. von Hans-Otto Korth und Wolfgang Hirschmann. Kassel u. a. 2010, S. 118-131, hier S. 121f. Justus Georg Schottel: Neu erfundenes Freuden Spiel genandt Friedens Sieg. In gegenwart vieler Chur= und Fürstlicher auch anderer Vornehmen Personen, in dem Fürstl. Burg Saal zu Braunschweig im Jahr 1642. von lauter kleinen Knaben vorgestellet. Auf vielfältiges begehren mit kupfer Stücken gezieret. Wolfenbüttel 1648. In Heidelberg tat sich der Steinmetz Christoph Schmid in den 1570er Jahren mit wenigstens zwei Aufführungen hervor, die er dem Kurfürsten dedizierte und für die er außer den Bürgern der Stadt sogar zwei Hoftrompeter und die Studenten der Universität engagierte.

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ben wir es mit Laien zu tun, deren Musikwissen im Allgemeinen und deren Liedkenntnis im Besonderen hier zu überprüfen sind. Musikhinweise begegnen uns in Schauspielen in unterschiedlichen Formen. Sie sind verschieden schwierig aufzulösen. Untersucht werden sollen zunächst Zitate von Liedern und Gesängen (1.), wobei es sich meist um Anfangszeilen, manchmal auch um Titelanspielungen handelt. Hier ist die Kenntnis des ganzen Liedes oder Stückes, seiner Melodie bzw. seines mehrstimmigen Tonsatzes gefordert. Bei Melodieangaben (2.) verweist ein Text auf eine mit einem anderen Lied verbundene Singweise. Instrumentalstücke sind Schauspielen kaum je beigedruckt; der Actor war also darauf angewiesen, das geforderte, passende Stück zu kennen (3.). Die meisten Schwierigkeiten bereitet dem heutigen Leser bzw. Forscher die Verknüpfung von Strophen, die offensichtlich als gesungene Lieder gemeint waren, mit Melodien (4.). Die Singweisen anzugeben, hielt man nämlich für unnötig.

1. Liedzitate und Incipits Ähnlich wie Fischart, der sich mit Incipits begnügt, setzen auch Dramen des 16. und 17. Jahrhunderts die Kenntnis des ganzen Liedes voraus, wenn sie die Anfangszeile zitieren. In Jakob Ruffs schweizerischem Pfingstspiel Von des Herren Weingarten (1539) sollen die Winzer, aufgefordert vom Teufel, ein gottloses Schlemmerlied singen. „Sond die räbluit singen / stürtz [!] dich grettli stürtz dich / der win ist inhen thon / etc.“9 Gemeint ist das in verschiedenen Text- und Melodiefassungen seit dem 16. Jahrhundert geläufige „Nun schürtz [!] dich gretlin“10. Sehr früh verbreitet war der Einsatz von Kirchenliedern. Sie wurden auch, besonders zu Beginn der Konfessionalisierung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, bewusst durch Gesang im Drama unter das Volk gebracht.11 Das Schauspiel übernahm ausdrücklich die Aufgabe der religiös-musikalischen Bildung der Bevölkerung, indem es demonstrierte, dass etwa zu Beginn der Mahlzeit ein Tischlied angebracht ist, welche Lieder man in Bedrängnis singen kann, welche zum Lob Gottes oder welche zur christlichen Beerdigung.

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Jakob Ruff: Von des Herren Weingarten. Bearb. von Berhard Wyß. In: Schweizerische Schauspiele des sechzehnten Jahrhunderts. Bearb. durch das deutsche Seminar der Züricher Hochschule unter Leitung von Jakob Bächtold. Hg. von der Stiftung von Schnyder von Wartensee. Zürich 1893, Bd. 3, S. 137-309, hier Akt II nach Vers 1570. Ludwig Erk/Franz M. Böhme (Hg.): Deutscher Liederhort. Auswahl der vorzüglicheren Deutschen Volkslieder, nach Wort und Weise aus der Vorzeit und der Gegenwart. Hildesheim 1963, Nr. 113. Scheitler: Vom Bekenntnis bis zur Blasphemie (wie Anm. 6), S. 121.

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Joachim Greff, ein protestantischer Seelsorger der ersten Generation, der sich sehr für die Verbreitung der Lieder der Reformation einsetzte, klagt, dass die geistlichen Lieder noch nicht so bekannt seien wie die weltlichen. Man könne den Leuten durchaus auch zumuten, lange Lieder zu lernen. In der Leseradresse zu einem Spiel, an das er solch ein vielstrophiges Lied angehängt hat, schreibt Greff: Sintemal ein yederman dis sagen mus / das es vil Christlicher und seliger ist / den Christen auch vil löblicher an stehet / von solchen / das ist Geistlichen und Christlichen Historien zu singen / Sonderlich Frawen und Junckfrawen / ia auch noch wol Jungen gesellen / als das sie auswendig lernen und singen / die lieder von Herr Ditterich von Bern / vom alten Hildebrandt / von Hertzog Ernst odder von dem Ritter aus der Steyermarck / welche yetz erzalte lieder ia auch zimlicher lenge / Schweres thon und doch nur pul lieder und weltlich sein.12

Die Kenntnis der genannten Balladen, die weit mehr als 20 Strophen hatten, setzte Greff mithin in weiten Kreisen der Bevölkerung voraus. Sie will er durch Kirchenlieder verdrängen. Wir wissen aus Agenden, dass in den Gemeinden noch lange Zeit nur ganz wenige Kirchenlieder benützt wurden.13 60 Jahre nach Greffs Klage waren die alten Volksballaden immer noch geläufiger als die Kirchengesänge. In einer Stralsunder Musikkomödie aus dem Jahr 1606 mault ein Dummkopf über den Liedgesang in der Kirche: Mir sind die Gsenge nicht bekandt / Wens wehr von Alten Hillebrandt / Vom Falckenstein odr Lindenschmidt / Da wolt ich wol eins singen mit.14

Kirchenlieder sind die einfachste Form des Melodiewissens, zumal man ein Incipit im Gesangbuch nachschlagen kann. In den Schauspielen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts wurden die sehr häufig eingesetzten Kirchenlieder nicht nur zwischen den Akten

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Joachim Greff: Ein schoene newe Action auff das Xviij. vnd XjX. Capitel des Euangelisten Lucae gestellet / vnd Reimweis in drey Actus verfasset […]. Auch ein kurtz Summarium des Xj. Capitels Johannis / von der aufferweckung Lazari / gleich als ein Lied verfasset / Zu ende dieser Action angehenget. Zwickau 1546, Bl. G4v. Zu den genannten Balladen vgl. Gerd-Josef Bötte (Hg.): Berliner Liedflugschriften. Katalog der bis 1650 erschienenen Drucke der Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Bearb. von Eberhard Nehlsen. Baden-Baden 2008, S. 2142 bzw. 2133; John Meier: Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Bd. 1: Balladen. 1. Teil. Leipzig 1935, Nr. 1; Erk/Böhme: Deutscher Liederhort (wie Anm. 10), Nr. 25 und Nr. 36. Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. (Schriften zur Literaturwissenschaft 3) Berlin 1982, S. 85f. Elias Herlitz: Musicomastix. Eine Comoedia von dem Music Feinde / darinnen vermeldet wird / wie die herrliche und schöne Kunst Musica (so wol auch die andern freyen Künste) ob sie schon auffs höchst kommen ist / verachtet / und ubel belohnet wird. Allen Liebhabern dieser Kunst zu einer verehrung / und allen MusicFeinden und verächtern zur bekehrung / Reimsweise beschrieben. Alten Stettin 1606, Bl. E2v (Akt III, Szene 2). Zu den genannten Balladen vgl. Meier: Deutsche Volkslieder (wie Anm. 12), Nr. 1 und Nr. 21 sowie Erk/Böhme: Deutscher Liederhort (wie Anm. 10), Nr. 246f.

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vom Chor, sondern auch während der Szene von den Akteuren gesungen. In einem von den Bewohnern des Städtchens Butzbach für ihren Landesherrn aufgeführten biblischen Spiel sagt der alte Tobias zu seinem Sohn: Sorg nit / mein Sohn / wie singet man? Sing mit / ich will es heben an. Er will uns allzeit ernehren / Leib und Seel auch wol bewahren / Allem unfall will er wehren / Kein Leid soll uns widerfahren / Er sorget für uns / Er hüt und wacht. Es steht alles in seiner Macht. Sey wol zu fried / hab ein gut Hertz / Unser Wolfahrt ist Gott kein Schertz.15

Das Liedzitat wird im Original durch Fettdruck hervorgehoben: Der alte Tobias singt zusammen mit seinem Sohn aus Luthers Lied „Wir glauben all an einen Gott“. Sie beginnen mit der fünften Zeile der ersten Strophe, was eine gründliche Kenntnis von Text und Melodie erfordert. Noch höhere Anforderungen stellt Martin Rinckart, wenn er in seinem Indulgentiarius Confusus angibt, Luther, Religio, Veritas, Fides „singen Quatuor vocum: O Herre Gott dein Göttlich Wort / etc.“16 – Diese lapidare Angabe setzt nicht nur voraus, dass man wusste, um welches geistliche Lied es sich handelte, sondern auch, dass man einen vierstimmigen Satz zur Verfügung hatte. Dabei musste es sich um eine schlichte Komposition handeln, denn der Gesang war von Bühnenfiguren zu bewältigen. In der Tat war das Lied von Paul Speratus bereits 1526 mit einem vierstimmigen Satz erschienen.17 Aber wahrscheinlich griff Rinckart zurück auf die bekannte und ihm zeitlich näherliegende vierstimmige Komposition von Hans Leo Haßler. Diese war ausdrücklich „simpliciter gesetzt“, wie es im Titel heißt.18

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[Anonym:] Tobias. Ein Geistliche Lehrhaffte Comoedi Von Tobia und Seinem Sohn / Agirt Zu Butzbach. Marburg 1632, S. 7. Hervorhebung im Original. Martin Rinckart: Indulgentiarius Confusus, Oder Eißlebische Mansfeldische Jubel-Comoedia, Von der öffentlichen / Wundermächtigen Beschämung deß grossen und grewlichen Gottslesterers Johann Tezels: Sampt der unverschämbten / Bäpstischen Ablaß-Crähmerey; Wie noch des gantzen Römischen und AntiChristischen Bapsthumbs […]: Von Anno 1517. biß uff 1521 ein und angeführet / auch bey jüngstgehaltenem Jubelfeste / Vom Gr. Mansf. Gymn. zu Eißleben / in Volckreicher Versamlung agiret. Eisleben 1618, Akt IV, Szene 5. EdK: Das deutsche Kirchenlied. Kritische Gesamtausgabe der Melodien. Vorgelegt von Joachim Stalmann, bearbeitet von Karl-Günther Hartmann, Hans-Otto Korth u.a. Bd. III,1. Kassel u. a. 1993, B20. Wilhelm Lueken/Konrad Ameln: Das Lied „O Herre Gott, dein göttlich Wort“. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 3 (1957), S. 33-43, mit Faksimile des Liedsatzes. Hans Leo Haßler: Kirchengesäng, Psalmen und geistliche Lieder auf die gemeinen Melodeyen mit vier Stimmen simpliciter gesetzt. Nürnberg 1608. In: Sämtliche Werke. Hg. von C. Russell Crosby. Bd. 8. Wiesbaden 1966, S. 74, Nr. 64.

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Gegenüber der Zeit vor dem Notendruck hatte sich im 16. Jahrhundert der Zugriff auf mehrstimmige Musik bedeutend erleichtert. Durch die Aktivität einiger Verleger war der Musikmarkt geradezu revolutioniert worden. Allen voran ist Georg Rhau in Wittenberg zu nennen. Der Enthusiasmus, den die Publikationen hervorriefen, schlägt sich nieder im Einsatz zahlreicher Tonsätze in den Dramen des 16. Jahrhunderts. Verwendet wurden nicht nur die schlichten Kantionalsätze der protestantischen Kirchenlieder, wie sie der Wittenberger Kantor Johann Walter für Kirche und Schule zur Verfügung stellte. Auch Motetten, wie sie v. a. auf die lateinische Prosa der Antiphonen gebraucht wurden, waren nun in großer Zahl und von überall her zu haben. Begeistert schreibt 1545 der schon erwähnte Joachim Greff in der Vorrede zu seinem Schauspiel Lazarus: Nach dem den jetzund Gott lob die liebe heilige und liebliche kunst Musica / in so gar mancherley ja sogar unzehliches partes verfaßt / durch den druck ausgangen / so kan man ja die Psalmen / Mutteten / Reponsori und Geistlichs Lieder / so ich anzeigen will / wol uberal bekommen und anrichten. So ist es auch ehrlich / loblich und lieblich / so man in solche feine geistliche Actiones auch figurative singet / sintemal ja diese heilige kunst der Music / zu Gottes lob und preis furnemlich und am allermeisten / in unsern lieben Gott / darmit zu ehren erfunden und offenbart ist.19

Die folgenden Angaben zeigen, wie Greff in den neuen Möglichkeiten schwelgt. Dabei setzt er aber auch bei den Aufführenden einen gut bestückten Notenfundus und viel Musikwissen voraus: […] so sol man erstlich anheben zu singen / fur den Prologo die Mutet / Haec dicit Dominus vj. vocum darin der Vagant furet den text / Circumdederunt me dolores mortis etc. Danach auff den primum Actum / Si bona suscepimus v. vocum Philippi Verdelothi. Auff den secundum Actum / die Mutet oder Respons. In Pace simul dormiam der sind nu viel / nemlich / Ludowicus Senffel hat kostliche gesetzt / mit vj. v. iiij. stimmen.20

Der Text setzt seine Angaben noch fort. – Bei dem „Haec dicit“ mit dem darin enthaltenen „Circumdederunt“ handelt es sich um ein Werk von Josquin des Prés, das geistlich umtextiert wurde.21 Freilich erinnert sich Greff nicht ganz präzise: Es muß heißen:

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Joachim Greff: Lazarus Vom Tode durch Christum am vierden tage erwecket. Ein Geistliches schönes newes spiel / aus Latein in Deutsche Reim vertiert / zu sterckung des höchsten und nötigsten Artickels unsers heiligen Christlichen glaubens / von der letzten aufferstehung unsers fleisches oder der todten am Jüngsten tage andechtig / sehnlich / und tröstlich zu lesen / durch Joachimum Greff von Cwickaw / itzund Schulmeister zu Dessaw der Stad Halle in Sachssen dedicirt vnd zugeschrieben. Wittenberg 1545, Bl. T1v. Ebd., Bl. T2r. Vgl. Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Tischreden 4. Weimar 1916, S. 214, Nr. 4316: „canebant: Haec dicit Dominus, sex vocum, a Conrado Rupff compositum […] Duae voces querulae lamentantur: Circumdederunt me gemitus mortis etc.“ Das Stück entstammt Hans Otts Novum et insigne opus musicum, Teil I, Nürnberg 1537, gehört aber nicht Rupff, sondern Josquin. Vgl. Marcus van Crevel: Adrianus Petit Coclico. Leben und Beziehungen eines nach Deutschland emigrierten Josquinschülers. Den Haag 1940, S. 115-134; Helmuth Osthoff: Josquin Desprez. Bd. 2. Tutzing 1965, S. 94f.

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„Circumdederunt me gemitus mortis“, wobei dieser Text von zwei Stimmen gesungen wird.22 Die Motette von Philippe Verdelot findet sich in der gleichen Sammlung, dem ersten Teil von Hans Otts Novum et insigne opus musicum, wie das „Haec dicit“.23 Bei „In pace“ stößt der Forscher auf Schwierigkeiten. Zum einen ist der Text („In pace in idipsum requiescam“) nicht korrekt angeführt, zum anderen lässt sich keine sechsstimmige Version, sondern allenfalls eine vierstimmige Ludwig Senfl zuschreiben. Diese könnte sogar diejenige sein, die Senfl auf Luthers Bitte hin komponierte.24 Greff zitierte offensichtlich aus dem Gedächtnis – ein Beweis für den selbstverständlichen Umgang mit mehrstimmigen Kompositionen, Werken übrigens, die Luther mit seinen Freunden sang.25 Motetten wurden nicht nur im evangelischen, sondern auch im katholischen Kulturgebiet gebraucht. Im Solothurner St. Ursenspiel aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts liest man nach dem ersten Akt: „Vias tuas domine demonstra. quinque. Gombert.“26 Und nach dem zweiten Akt: „Domine deus exercitum. quattuor Clemens.“27 Bei Greff und im St. Ursenspiel wurden folgende Komponisten genannt: zwei französisch-italienische (Josquin des Prez und Philippe Verdelot), ein schweizerischdeutscher (Ludwig Senfl) ein flämisch-spanisch-französischer (Nicolas Gombert) und ein niederländischer Meister (Jacobus Clemens non Papa). Die Musik war international geworden und die Drucke verbreiteten sie über ganz Europa. Viel häufiger als Erwähnungen von Musikstücken mit Autorangabe sind jedoch lapidare Bemerkungen wie diese, die die Chöre nach den Akten I-IV eines Spiels aus dem 16. Jahrhundert bezeichnen: „Canitur: Magi veniunt ab Oriente 4v.“, „Canitur: Cum natus esset Jesus. 3. 1. pars.“, „Canitur: At illi dixerunt 2. pars 3.“, „Canitur: Et ecce Stella. 5. 3. pars.“28 Die Findigkeit des Forschers ist in solchen Fällen noch mehr herausgefordert. Für den ersten Chor könnte eine Komposition von Clemens non Papa passen. Mit der mehrteiligen Motette für die nächsten Akte ist höchstwahrscheinlich

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Vgl. Josquin des Prés: Werken. Uitgegeven door Dr. A. Smijers. Wereldlijke Werken. Bundel II. 4. Aufl. Amsterdam/Leipzig. 1924, Nr. 21. Van Crevel: Adrianus Petit Coclico (wie Anm. 21), S. 341. Vgl. Ole Kongsted: Ludwig Senfl’s Luther-Motetter. En forskningsberetning. In: Fund og Forskning 39 (2000), S. 7-41 (mit deutscher Zusammenfassung auf S. 41). Zu Senfl vgl. Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Tischreden 5. Weimar 1919, S. 527, Nr. 6247. Vgl. auch den Nachweis, dass Luther und seine Freunde aus Otts Sammlung sangen, in van Crevel: Adrianus Petit Coclico (wie Anm. 21), S. 112f. Johannes Wagner: Solothurner Sankt Mauritius- und Sankt Ursenspiel. Hg. von Heinrich Biermann. (Reihe Schweizer Texte 5) Bern 1980, S. 25. Die Motette ist nachgewiesen bei Joseph Schmidt-Görg: Nicolas Gombert. Kapellmeister Kaiser Karls V. Leben und Werk. Tutzing 1971 (=Bonn 1938), S. 368. Wagner: Sankt Ursenspiel (wie Anm. 26), S. 39. Vgl. Franz Commer (Hg.): Collectio operum musicorum Batavorum saeculi XVI. Berlin 1840-1857, Bd. X, S. 11-13. Johannes Leon: Tragoedia. Die Histori von der Götlichen Offenbarung des waren Messie unseres Heylandts Jesu Christi / den Weisen auß Morgenlandt geschehen. Auch wie Herodes die vnschüldigen Kindlein habe tödten lassen. Spielsweise in künstliche Rheimen verfaßt / Alleen Christen gantz nützlich unnd tröstlich zu wissen. Frankfurt a.M. 1566.

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ein Werk von Cristobal de Morales gemeint; in diesem Fall wäre dem Dramenautor – wie schon Greff – ein Fehler unterlaufen: Der erste Teil „Cum natus esset“ ist fünf-, nicht dreistimmig.29 Unter Umständen kommen in solchen Fällen Werke von mehreren Meistern in Frage. Wollte man genau wissen, aus welcher Auswahl von Vertonungen ein Autor oder Dramaturg schöpfen konnte, so müsste man die Musikalien des betreffenden Ortes durchforschen, deren Bestand aber nur in seltenen Glücksfällen durch ein Register bekannt oder gar noch am Ort vorhanden ist. Wenn der Hildburghausener Schulmeister Lucas Mai in seinem Spiel von der göttlichen Gerechtigkeit zu dem pantomimischen Engelskampf seines Dramenschlusses vorschreibt: „accini potest canticum, Concussum est mare, quinque vocum Clementis N. Papae“30, so muss er dieses Stück nicht nur selbst gekannt, sondern er muss die Existenz dieser Noten auch bei seinem Freund in Schleusingen vorausgesetzt haben, bei dem das Stück aufgeführt wurde.31

2. Melodieangaben Ein ambitionierter Dramenautor wird es vorziehen, Lied- und Chortexte selbst zu verfassen, statt sie aus Vorgefundenem, etwa dem Schatz geistlicher oder volksläufiger Lieder oder liturgischer Gesänge zu übernehmen. Falls er die Singweise nicht selbst neu komponieren will, übernimmt er sie und gibt sie an durch die Formulierungen: ‚Im Thon …‘, ‚Auf die Weise …‘. In solchen Fällen war vom Benützer also nur die Kenntnis der Melodie gefragt, der Text, eine neue Dichtung, die die vorausgesetzte Melodie kontrafazierte, stand zu lesen. Dieses Verfahren, das äußerst weit verbreitet war, verlangt Melodiekenntnisse, deren Umfang heute schwer vorstellbar ist. Dieser Fundus an Musikwissen bietet auch hochinteressante Einblicke in den Kulturtransfer (bei ‚Wanderungen‘ von Melodien), in die Schwerpunkte musikalischer Rezeption (bei häufig vorkommenden Angaben desselben Thons) und in die musikalische Bildung (gemessen an der Vielzahl der vorausgesetzten Weisen). Die Thonangaben stellen den Forscher vor schwierige Aufgaben, zumal es kein umfassendes Verzeichnis des Liedbestandes gibt.32

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In: Officiorum de nativitate tomus I. Wittenberg 1545 (erschienen bei Rhaw) und in: Evangelia dominicorum, et festorum dierum. Nürnberg 1554 (erschienen bei Montanus, Neuber). Lucas Mai: Schöne unnd newe Comedien / Von der wunderbarlichen vereinigung Göttlicher gerechtigkeit und barmhertzigkeit / wie dieselben in der seligkeit / und erlösung des Menschen / zusamenkomen / und in Gottes gericht vermischt werden / aus S. Bernhardo genomen / Samt derselben Predigt S. Bernhardi. Wittenberg 1562, Akt V, Szene 5. Weder der Bestand des berühmten Hennebergischen Gymnasiums in Schleusingen noch der von Hildburghausen lassen sich heute mehr rekonstruieren. Lediglich für die geistlichen Lieder liegt mit Johannes Zahn: Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder aus den Quellen geschöpft. 6 Bde. Hildesheim 1963 (= Gütersloh 18891893) ein Nachschlagewerk vor.

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Die anzitierten Thöne bleiben über die Jahrhunderte nicht die gleichen. Die ‚Haltbarkeit‘ von Liedern betrug damals zwei bis drei Generationen. Im 16. Jahrhundert findet man bei Thonangaben etwa die Weisen von „Venus, du und dein Kind“, „Nach Willen dein“, „Ich stund an einem Morgen“, „Fröhlich so will ich singen“, „Ach hertzigs Herz“, „Von edler Art“. Dazu kommen immer wieder Kirchenliedthöne, Melodien des Genfer Psalters oder einiger Volkslieder wie „Kuckuck hat sich zu Tod gefalln“ oder „Es wollt ein Baur ein Faltenrock schneiden“. Favorisiert wurden Jacob Regnarts Villanellen (1576 u. ö.), Georg Forsters Frische Liedlein (1539-1556) und die verschiedenen Sammlungen weltlicher und geistlicher Bergreihen. Bei Autoren, die dem Meistersang nahestanden, etwa Adam Puschman und Wolfhard Spangenberg, gibt es Verweise auf die Meisterthöne. Im 17. Jahrhundert ändert sich diese ‚Hitliste‘ radikal. Einzig die Trinklieder, allen voran die Runda-Gesänge, behalten ihre Gültigkeit bis zum angehenden 18. Jahrhundert. Mit Opitzens Reform kommen neue Lieder auf der Beliebtheitsskala nach oben. Vor allem sind es einige Dichtungen des ‚Vaters der deutschen Dichtung‘ selbst, die immer wieder parodiert werden, vornehmlich „Corydon der ging betrübet“ und „Wohl dem der weit von hohen Dingen“. Daneben gehört Johann Rists „Daphnis ging vor wenig Tagen“ zu den meistzitierten Weisen.33 Speziell in Schauspielen gerieten Thonhinweise aber offensichtlich in Misskredit. Sie galten wohl als pedantische Belehrung und als überflüssig angesichts der vorausgesetzten musikalischen Bildung. Bei dem undatierten, vielleicht aus der Mitte des 17. Jahrhunderts stammenden Ander Engeländisch Possenspiel von Pückelherings Dill dill dill steht auf dem Titelblatt ganz souverän: „Im Thon: Wie vielen / so er zu öfftern agirn gehört / bewußt.“ Dies ist allerdings schon wieder eine Ironisierung auf der Metaebene: Während man in der Tat Thonangaben in seriösen Spielen nur mehr wenig findet, wurden sie in Possenspielen und Satiren als Indikatoren drolliger Unbeholfenheit oder für spöttische Effekte eingesetzt. Der offensichtlich gelehrte Autor der 1675 erschienenen Satire Alamodisch Technologisches Interim verweist auf Lieder aus den Sammlungen von Johann Rist, Gabriel Voigtländer, Heinrich Albert und Adam Krieger und bietet damit ein durchaus repräsentatives Bild. Besonders Kriegers Tonsätze waren sehr beliebt; Christian Weise klagte sogar, sie seien so verbreitet, dass „Sackpfeiffer und Dorff=Fiedler / die herrlichen Melodeyen zerlästerten / und gemein machten.“34

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Verbreitete Vertonungen: „Corydon der ging betrübet“ bei Johann Nauwach: Erster Theil Teutscher Villanellen. Freiberg 1627, Nr. 10. „Wohl dem der weit“ geht ursprünglich auf eine Sarabanden-Melodie zurück, vgl. Zahn: Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder (wie Anm. 32), Nr. 2776. Rists Lied „Daphnis ging“ steht mit seiner eigenen Komposition in Johann Rist: Des Daphnis aus Cimbrien Galathee. Hamburg 1642, Bl. E1v. Christian Weise: Eine andere Gattung von überflüssigen Gedanken. Leipzig 1679, Bl. A6r. Vgl. die Klage bei Johann Georg Schoch: Neu=erbaueter Poetischer Lust= und Blumen=Garten / von Hundert Schäffer= Hirten= Liebes= und Tugend=Liedern / Wie auch Zwey Hundert […] Sonnet-

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Die Tatsache, dass Dramentexte mit der Beziehung zwischen Melodie und Text spielen, zeigt uns, dass auch die Zuschauer Kontrafakturen erkannt haben müssen. Sonst hätte sich der Autor die Pointe schenken können. V. a. kirchliche Melodien rufen, wenn sie im Kontrast zu ihrem Text stehen, eine satirische oder auch gezielt blasphemische Wirkung hervor. Gern werden zur Konfessionspolemik altkirchliche liturgische Gesänge karikierend verwendet oder bei Opferszenen den Heidenpriestern in den Mund gelegt.35 Es spricht für die Bekanntheit von Rists geistlichen Liedern, wenn das erwähnte Alamodisch Technologische Interim mit der Verwendung ihrer Melodien für närrische Intermedien komische Wirkungen erzielt. Aber auch Opitzens „Corydon“ und seine Melodie von Johann Nauwach waren einem Dramenautor für einen Scherz gut. 1651 verulkt Johan Heinrich Hadewig in Friede Erlangtes Teutschland die Allegorie der Trunksucht: „Darauff wird die trunkkenheit frölich und fängt an zusingen Im Thon: Coridon der ging betrübet: Lustig! Lustig! meine Sachen!“36

3. Verweise auf Instrumentalmusik Tänze spielen in allen Dramen eine große Rolle. Ihre Verwendung spiegelt die musikalischen Moden und das selbstverständliche Eindringen des Höfischen in bürgerliche Kreise. Georg Rollenhagen erwähnt die Galliarde schon 1591 in seinem von den Magdeburger Gymnasiasten aufgeführten Spiel vom armen Lazarus. Der reiche Prasser, der den Ärger über den lästigen Bettler Lazarus abschütteln will, sagt zu seiner Frau: Liebs Weib / mir und den Gesten alln / Tanz ein Galliart zu gefalln. Und laß den kleinen Son mitspringen / Er ist gar lustig zu den Dingen.37

Damals waren Galliarden sehr moderne Tänze; in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hatten sie sich von Frankreich und Italien her ausgebreitet.38 Die Galliarde wurde

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ten […] Zusammen gesetzet / Auch zur Belustigung der Lieb=gründenden Teutschen Jugend angeleget und herausgegeben. Leipzig 1660, Bl. A3v: „Es ist zu bedauren, in was für Gemeinschaft, ich sage was für Verachtung unsere Gedichte heute zu Tage geraten, daß sich nicht nur so herrliche und gute Lieder in allen Dorf-Schenken, Bier-Bänken und Wacht-Stuben herumher sielen, sondern auch leider! fest auf allen Klöppel-Kissen gefunden werden.“ Krieger hat Schoch-Lieder vertont, u. a. das berühmte „Amande, darf man dich wohl küssen“. Irmgard Scheitler: Vom Bekenntnis bis zur Blasphemie (wie Anm. 6), S. 118-131, hier S. 127. Johan Heinrich Hadewig: Friede Erlangtes Teutschland. In einem Schauspiel auffgeführet und beschrieben. Hannover 1651, Bl. F7r. Georg Rollenhagen: Vom reichen Manne / und armen Lazaro / Ein Deutsche Action. Zu Magdeburg gespielet / im Monat Augusto / etc. Itzund aber auffs newe uber sehen / Corrigiert / und an vielen orten gebessert. Eisleben 1591, Bl. J7v.

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seit 1620 von der Courante, dann der Sarabande verdrängt. Auch diese beiden Tänze kommen in Spielen vor. Vor allem am Dramenschluss wurde zu allen Zeiten gern getanzt. Martin Rinckart stellt an das Ende seines Indulgentiarius Confusus zwei Allemanden: „Alamanda Mour“ (d’amour) und „Alamanda Alphanse“.39 Freilich waren Tanzstücke nicht nur Begleitmusik zu tatsächlichem Tanzen (und meistens auch Singen), sondern dienten auch schlichtweg als Instrumentaleinlagen, wie bei Georg Neumarks Keuschem Liebesspiegel, einer städtischen Aufführung in Thorn. Hier liest man: „Hernach wird ein trauriges Stük musiciret / etwan das letzte aus Hammerschmids erstem Theile.“40 Gemeint ist die fünfstimmige Sarabande (Nr. 41) aus der Sammlung Erster Fleiß des Zittauer Organisten Andreas Hammerschmidt, einem überaus beliebten Buch mit instrumentaler Tanzmusik, zuerst 1636 in Freiberg bei Beuther erschienen. Häufiger als solche relativ präzisen Angaben finden sich freilich Hinweise, die einfach auf die Gattung oder den Charakter eines Instrumentalstückes verweisen und die genaue Auswahl der Regie überlassen. So wird bei lustigen Zechereien gefordert, es solle „ein Runda“ gespielt werden; traurige Szenen aber werden gern von „einer Lamente“ eingeleitet.

4. Verknüpfung von Strophenformen mit Melodien 1668 schreibt der Garnisonsprediger und angesehene Dramendichter Ernst Müller über die Einrichtung seines Dramas Schau=Platz Der Eitelkeit: „Die Lieder sind so gemacht / daß erfahrne Musici leichtlich Gesangs=Weisen / darauf finden werden. Darum man / bey diesem Druck / der Sing=Noten sparen wollen.“41 Dieses Prinzip befolgten die Autoren von Dramen mit Vorliebe. Nun ist uns allerdings heute die Fähigkeit, aus Strophenmustern die passende Melodie herauszuhören, verloren gegangen, eine Fähigkeit, die Menschen der Frühen Neuzeit in erstaunlichem Maß besessen haben müssen.

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Michael Lutz: Galliarde [Art.]. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 26 Bände in zwei Teilen. Sachteil, Bd. 3. 2., neubearb. Ausg. hg. von Ludwig Finscher. Kassel u. a. 1995, Sp. 991. Die „Allemande d’Amour“ steht in der Liederhandschrift des Petrus Fabricius, Bl. 97v (Roland Wohlfahrt: Die Liederhandschrift des Petrus Fabricius. Kgl. Bibl. Kopenhagen, Thott. 4 841. Eine Studentenliederhandschrift aus dem frühen 17. Jahrhundert und ihr Umfeld. [Volkskunde 5] Münster 1989, S. 694). Ferner in Lautentabulatur nachgewiesen bei Jenny Dieckmann: Die in deutscher Lautentabulatur überlieferten Tänze des 16. Jahrhunderts. Kassel u. a. 1931, S. 53. Georg Neumark: Keuscher Liebesspiegel das ist: ein bewegliches Schau=Spiel von der holdseligen Kalisten / und ihrem Treu=beständigen Lisandern / Laut der Historischen Beschreibung in gewisse Abhandlung und Auffzüge gebracht / mit Musikalischen Stükken und Bildlichen Stellungen außgeziehret. Thorn 1649, nach Akt III. Ernst Müller: Schau=Platz Der Eitelkeit / Worauff Der geehrt= gelährt= bethört= beschwert= und bekehrte Salomo / Auß Heiliger Schrifft Der heutigen Welt / Hoch=nützlich für gestellet wird. Giessen 1668, Bl. *7r.

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Hilfsmittel fehlen der deutschen Forschung weitestgehend. So ist jeder auf seine Intuition verwiesen. Manche Lieder freilich haben eine so charakteristische Strophenform, dass ihre Melodie auch heute noch einfach zu erkennen ist, zumal wenn auch die Situation ihrer Verwendung passt. Der Zittauer Rektor Gottfried Hoffmann ließ 1710 einen Schulactus aufführen. Nach der erster Abteilung heißt es: „Das Chor exprimiret dieser furchtsamen Hertzen ängstliche Passiones durch folgendes Lied.“ O Seelen=Noth! Wir sind halb todt! Wir müssen doch verderben / und ohn alle Hülff und Trost in dem Jammer sterben.42

Das vierstrophige Lied stellt eine Parodie von Johann Rists überaus verbreitetem „O Traurigkeit! o Hertzeleid!“43 dar. Die Erfahrung lehrt, dass Melodien die Tingierung ihres Ursprungstextes an sich trugen. Wie wir aus den Kompositionen Bachs wissen, können etwa Choräle selbstständig sinntragend eingesetzt werden.44 Ihre Melodie genügt, um die ihnen anhaftende Aussage zu übermitteln. So bleiben auch Parodien häufig im Affekt oder im inhaltlichen Sinnzusammenhang des Ausgangsliedes. In Georg Pfunds Speculum Puerorum. Eine newe Comoedia, Dem verlornen Sohne fast gleich (1596) kehrt der verlorene Sohn namens Willibald als fahrender Musikant heim – ein deutlicher Hinweis auf das niedrige Prestige dieses Berufsstandes. Im Haus seines Vaters singt er seine Lebensgeschichte. Sein Vortrag ist als Lied zu erkennen, weil der Text innerhalb des Reimspiels ohne lyrischen Zeilenumbruch gedruckt ist. Der Anfang spielt mit dem Namen Willibald: Wilbald jetzt singen ein gedicht / wie mir beschicht / mags noch manchem geschehen / so denn in meinen orden tritt / will folgen nitt / und niemand ubersehen / ob schon das glück / mit falschem blick / ihm geben thut / so grosses guth / durch sein arglistigs brechen.45

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Gottfried Hoffmann: Das Beste und Köstlichste der ietzigen Zeit / Das ist: Der Krieg und Sieg Der Gläubigen Hoffnung Über Die knechtische und sündliche Furcht für künfftigen Dingen / Wird in einem Actu Dramatico Von Der studirenden Jugend im Zittauischen Gymnasio […] vorgestellet […]. Zittau 1710 [Einladungsprogramm]. In: Johann Rist: Himlische Lieder Mit sehr anmuhtigen / mehreren theils von Herrn Johann Schopen gesetzten Melodeyen. Lüneburg 1641/42, Tl. I, S. 13f. mit seiner eigenen (aus katholischen Gesangbüchern stammenden) Melodie. Vgl. Kantate BWV 163, Satz 5 mit dem rein musikalischen Choralzitat: „Meinen Jesum laß ich nicht“. Georg Pfund: Speculum Puerorum. Eine newe Comoedia, Dem verlornen Sohne fast gleich / von eines Ritters Sohn / so anfenglich wol erzogen / aber hernach ubel gerathen: Zur Warnung der lieben Schuljugendt gedichtet und zugericht. Frankfurt a.d.O. 1596, Akt V, Szene 7.

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Die Strophenform, ein Hofweisentypus, ist wegen ihrer Prägnanz leicht zu identifizieren: Willibald singt sein Lebenslied auf die Melodie von „Mag ich Unglück nicht widerstan“46. Dieses beliebte Lied, das der Königin Maria von Ungarn zugeschrieben wird, lehrt die Ergebung in ein schweres Schicksal. Der ursprüngliche Text hat die Melodie semantisiert – und so passt sie genau für Willibalds Lebensbeschreibung. Johann Christian Hallmanns Die listige Rache Oder Der tapffre Heraclius (1684) ist zwar aus dem Italienischen übersetzt, wie der Titel angibt, verdankt seine zahlreichen Gesangseinlagen aber nicht dem Original, einer Venezianischen Oper.47 Vielmehr wird für die Komposition der Kantor bzw. Organist der Breslauer Magdalenenkirche gesorgt haben, wofern nicht der Autor selbst schon Melodien im Sinn hatte. Dies könnte leicht der Fall gewesen sein bei dem Lied der Theodosia gegen Ende des zweiten Akts (II,19). Die erste Strophe lautet: Sey nun zufrieden / O mein beklemmtes Hertz! Laß von dir fliehen den eisenharten Schmertz! Dein unbewegliches Verlangen Wird nun den süssen Lohn empfangen.48

Hier liegt eine alkäische Ode vor, wie sie im Kirchengesang bereits durch „Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit“ von Apelles bekannt geworden war.49 Allerdings zeigt der Text von Hallmann einen charakteristischen ‚Fehler‘: Er sollte als alkäische Ode eigentlich in der letzten Zeile 10 statt 9 Silben haben. Gerade dieser Fehler aber bringt uns auf den richtigen Weg: In der Breslauer Kirchen= und Hausmusik von 1644 stand in der gleichen Form das Lied „Wie bist du Seele, in mir so gar betrübt“, das der Breslauer Organist Tobias Zeutschner (†1675), zu seiner Zeit Hauskomponist des Magdalenengymnasiums, vertont hat.50 Genau dieses Lied, das eine ähnliche Aussage hat wie die Schauspielarie, dürfte Hallmann inspiriert haben. Ein besonders sprechendes Beispiel für die Affektanbindung der Textaussage an eine Melodie findet sich in einem Ulmer Gymnasialstück von 1680. In ihm kommt eine Schlaf- und Traumszene vor (I,5), die im Drama der Frühen Neuzeit obligatorisch mit Musik verbunden war. König Ahab schläft in seinem „Cabinet“. Ein Engel singt ihn aus den Wolken mit einem vierstrophigen Lied an:

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EdK: Das deutsche Kirchenlied (wie Anm. 17), B33A. L’Heraclio. Melodrama. Musik: Pietro Andrea Ziani, Text: Niccolò Beregan. Uraufführung: Venedig 1671. Johann Christian Hallmann: Die listige Rache Oder Der Tapfere Heraclius. Auß dem Italiänischen. In: Sämtliche Werke. Bd. III, 2. Teil: Vermischte dramatische Stücke: Adelheide. Heraclius. Hg. von Gerhard Spellerberg. Berlin/New York 1987, S. 571-659, hier S. 628. Zahn: Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder (wie Anm. 32), Nr. 4089a. Ebd., Nr. 4092.

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Jetzt ist es nicht Zeit zu schlaffen. König Ahab wache du.51

Die hier verwendete trochäische Strophenform ist geläufig und wurde oft verwendet.52 In unserem Fall hat aber wohl „Werde munter mein Gemüte“ von Johann Rist Pate gestanden,53 denn dessen Aufruf stimmt mit der Botschaft des Engels überein. Kontrafakturen waren in der Frühen Neuzeit sehr beliebt. Sie sind umso leichter zu erkennen, je deutlicher die wörtlichen Übereinstimmungen sind. Es hat den Anschein, dass das Drama des 17. Jahrhunderts auf die gemeinte Melodie statt durch das altmodische ‚Im Thon von …‘ lieber mittels einer erkennbaren Ähnlichkeit in der ersten Zeile hinwies, ja dass dieses Verfahren die Thonangaben bei Schauspielliedern weitgehend verdrängte. Der ungenannte Verfasser eines allegorisch-politischen Schauspiels von Krieg und Frieden, das ca. 1640 in Stettin gedruckt wurde, muss ein Liebhaber der Opitz’schen Lieder gewesen sein. In seiner ‚Comödie‘ singt Thalia eine Parodie von Opitz’ „Wohl dem der weit von hohen Dingen“: Wohl dem der sich auff Weißheit gründet Und meidet allen falschen Schein.54

Und die Weltlust Voluptas, die sich zur Büßerin Volupia gewandelt hat, lässt sich hören mit dem Lied: „Die Schnöde Lust mag bleiben wo sie will“. Bei diesem Lied stimmen ganze Zeilen überein mit Opitz’ „Asterie mag bleiben, wer sie will“.55 Beide Gedichte wurden selbstverständlich als Lieder rezipiert: „Wohl dem“ war schon von Opitz auf eine Tanzmelodie eingerichtet worden,56 „Asterie“ wurde 1627 von Johann Nauwach vertont.57

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[Anonym:] Der wunder=thätige und gen Himmel fahrende Elias / In einem offentlichen Schau= Spiel / Von der deß Löbl. Ulmischen Gymnasii Schul=Jugend / Anno 1680. den 19. Aprilis / vorgestellet. [S.1]. o. O. 1680, S. 21. Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. 2. durchges. Aufl. Tübingen/Basel 1993, Nr. 6.27. Rist: Himlische Lieder (wie Anm. 43), Tl. III, Nr. 8 mit seiner eigenen Komposition von Johann Schop. [Anonym:] Summarische Verfassung Eines Comischen Schauspiels / Darinn Des Kriegs Grausamkeit; Dahingegen des Liebwerten Friedens Vortreffligkeit allegorischer Weise vorgebildet wird. Praesentiert und Dedicirt, dem […] Herrn Carl Gustav Wrangelln […] Dann Dero Hertzgeliebten Frauen Gemahlin […] Von Seiner Excell. und Gnad. Underthänig= und gehorsamen geringen Diener J.P.B.P.C.F. Stettin [1640?], Akt II; vgl. Martin Opitz: Weltliche Poemata (1644). 2 Tle. Hg. von Erich Trunz. Tübingen 1975, Bd. II, S. 331. [Anonym:] Summarische Verfassung (wie Anm. 54), Akt III; vgl. Opitz: Weltliche Poemata (wie Anm. 54), Bd. II, S. 345. Siehe Anm. 33. Vgl. Werner Braun: Rubert, Zesen, Oldenburg. Musikalisch-poetische Konstellationen um 1650. In: Oldenburger Jahrbuch 96, S. 53-78, hier S. 58f. Nauwach: Erster Theil Teutscher Villanellen (wie Anm. 33), Nr. 5.

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Es versteht sich, dass diese versteckten Hinweise mehr Melodienwissen verlangten als Thonangaben. Sie finden sich, wie erwähnt, vornehmlich in Dramen, während Liedsammlungen weiterhin bereitwillig die Thöne benennen. Die Fülle der dort als abrufbar vorausgesetzten Melodien deutet an, welcher Fundus von Musikwissen auch den Autoren und Regisseuren von Dramen, ja offenbar großen Teilen der Bevölkerung zur Verfügung gestanden haben muss. Dem heutigen Leser eines Schauspiels der Frühen Neuzeit fehlt nicht nur der Wissensfundus, um intendierte oder mögliche Melodien zu Strophen zu erkennen, er bemerkt womöglich nicht einmal die Hinweise auf den Gesangseinsatz. Dafür zum Schluss zwei Beispiele. Sie demonstrieren den sehr häufigen Fall, dass Musiziertes vom heutigen Rezipienten schwer erkannt wird, weil es sich im Druck weder graphisch abhebt, noch durch Nebentexte gekennzeichnet wird. Im Fall von Christian Keimanns Zittauer Weihnachtsspiel von 1646 geht ein Gesang im Kontext des metrischen Dramentextes unter. MARIA: […] Daß wir itzt auff Bethlehm gehen, Da der Hertzog soll entstehn, Der sein Israel regiere, Und in wahre Freyheit führe. Drum ich billich keine Mühe, Keine schwere Reise fliehe, Auszurichten Gottes Rath, Der mich hochgewürdigt hat. Meine Seele Gott erhebt, Und mein Geist in Frewden schwebt, Der mir Heil und Segen bringt, Meinen Sinn zu Frewden zwingt. Denn Ihn hat sein arme Magd Gnedig anzusehn behagt, Daß hinfüro Kindeskind Mich zu preisen Ursach find.58

Lediglich der genaue Leser wird bemerken, dass ab der Mitte dieses Replikausschnittes nur mehr männlicher Zeilenschluss vorkommt. Für den Zeitgenossen aber war ganz klar, dass Maria ab „Meine Seele …“ das Magnificat singt und nicht mehr spricht.59 Ein zweites und letztes Beispiel ist einem lateinischen Schauspiel von 1529 entnommen. Es spiegelt die Zeit der Bauernkriege und endet mit einer Versöhnungsutopie.

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Christian Keimann: Der newgebohrne Jesus den Hirten und Weisen offenbahret / In Form eines Schawspieles dargestellet in Zittaw Im Jahr 1646. Görlitz 1646, Bl. B3r. Dem Spiel sind Kompositionen von Andreas Hammerschmidt beigegeben, freilich nicht zu allen Stellen, an denen Gesang vorausgesetzt ist; folglich bietet sich für diese Stelle die Verwendung von Hammerschmidts „Meine Seele Gott erhebt“ an, wie sie in dessen Fest= Buß= und Dankliedern / mit 5. und 10. Stimmen (Dresden 1659, Nr. 19) veröffentlicht wurde. Der Text folgt genau Keimanns Versifizierung des Magnificat.

Musikwissen in der Frühen Neuzeit

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Zum Zeichen ihrer Eintracht stimmen die ehemals feindlichen Gruppen am Ende in einen gemeinsamen Gesang ein. Der zu singende Text fällt wegen des fehlenden Zeilenumbruchs nicht auf, so dass der moderne Herausgeber seine Besonderheit übersehen hat. Die Zeitgenossen aber erkannten die Weihnachtssequenz „Grates nunc omnes“ sofort, zumal die Abweichungen vom Original äußerst gering sind. PRINCEPS. Signum letitiae et pacis denuo adeptae cantu detis. PLEBEI. Faciemus. Grates nunc omnes reddamus domino deo, qui sua benignitate nos liberavit de diabolica discordia. PRINCEPS. O vos equites nostri canemus et nos. EQUITES. Grates nunc omnes reddamus domino deo, qui sua benignitate nos liberavit a seditiosorum insania. PRINCEPS. Nunc simul canamus equites et plebei. [OMNES]. Quare oportet ut canamus cum pacificis Gloria in excelsis.60

Die Erforschung des frühneuzeitlichen Musikwissens steht ganz am Anfang. So lässt die vorliegende Untersuchung, die nur einen Einstieg bedeuten kann, mehr Probleme als Antworten zurück. Wie wurde der erstaunlich große musikalische Wissensspeicher erworben? Wer besaß ihn? Gibt es Klassenunterschiede? Gibt es regionale Unterschiede? Wie lange bleiben Lieder und Musikstücke in diesem Wissensspeicher? Wie sähe ein Zitationsindex für einzelne Lieder, Sammlungen, Autoren aus? Da für den deutschsprachigen Bereich nicht einmal alle wichtigen Lied- und Instrumentalsammlungen inhaltlich erfasst sind, wird es noch eine gute Zeit dauern, ehe wir diese Fragen werden beantworten können.

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Hermannus Schottennius Hessus: Ludus Martius sive Bellicus. Mars- oder Kriegsspiel. Hg. u. übersetzt von Hans-Gert Roloff. Frankfurt a.M. u. a. 1990, S. 132. Der Text der Sequenz lautet: „Grates nunc omnes / reddamus Domino Deo / qui sua nativitate / nos liberavit de diabolica potestate. / Huic oportet ut canamus cum angelis / semper sit gloria in excelsis.“

Angelika Linke (Zürich) Historische Semiotik des Leibes in der Kommunikation: Zur Dynamisierung von Körper und Sprache im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert

Die Wahrnehmung menschlicher Kommunikation ist historisch geprägt; entsprechend veränderlich sind die Normen und Werte, an denen kommunikatives Verhalten zu unterschiedlichen Zeiten gemessen wird. So führt die ,Entdeckung‘ der Multimodalität menschlicher Kommunikation in der gegenwärtigen Gesprächsforschung und die damit verbundene neue Aufmerksamkeit auf die Zeichenhaftigkeit des Körpers wie auf die Dimension des Raumes zu einem neuen Verständnis von Kommunikation und zu einer veränderten Beurteilung sprachlicher Phänomene. Doch schon in frühmoderner Zeit war der gesellschaftliche Blick auf den kommunizierenden Menschen in einer für heutige Maßstäbe bemerkenswerten Weise auf die „Beredsamkeit des Leibes“1 gerichtet. Sprachlichkeit wird als an Leiblichkeit gebunden wahrgenommen, als Teil eines komplexen, raumbezogenen kommunikativen Auftritts, der ständisch geregelt und normiert ist. Dies gilt für das 17. und auf weite Strecken auch noch für das 18. Jahrhundert – erst das bürgerliche Sprachprojekt löst in der Wahrnehmung die Sprache zunehmend vom Leib. Vom 17. ins 18. Jahrhundert hinein lassen sich allerdings Veränderungen im Beschreibungsvokabular für den körperlich-sprachlichen Auftritt beobachten, und in Text- wie Bildzeugnissen zeigt sich ein Wandel in diesem Auftritt bzw. im Blick der Zeitgenossen darauf. Diese Veränderungen werden im Folgenden als (kollektiv)stilistischer Wandel beschrieben und der Zeichenwert dieses Wandels wird als ‚Verschlankung‘ und ‚Dynamisierung‘ bestimmt. Und insofern diese (kollektiv)stilistischen Veränderungen als Medium der Selbstformierung der tragenden Sozialfor-

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1

Beim vorliegenden Aufsatz handelt es sich um den Wiederabdruck eines Textes, der unter demselben Titel bereits erschienen ist in: Arnulf Deppermann/Angelika Linke (Hgg.): Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. (Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 2009) Berlin/New York 2010, S. 129-162. Wolfgang Kemp: Die Beredsamkeit des Leibes – Körpersprache als künstlerisches und gesellschaftliches Problem der bürgerlichen Emanzipation. In: Städel-Jahrbuch Neue Folge 5 (1975), S. 111-134, hier S. 111.

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mation der Zeit, d. h. der Adelsgesellschaft um 1800, verstanden werden, wird der beobachtete Stilwandel als Prozess der Selbst-Dynamisierung der gesellschaftlichen Leitformation2 der Epoche gedeutet.

1. Einleitung Neuorientierungen in den Wissenschaften sind nicht selten mit technischen Neuerungen verbunden. Dies gilt auch für die ‚Entdeckung‘ interaktiver Multimodalität in der Gesprächsforschung. Die neue Aufmerksamkeit auf die kommunikative Zeichenhaftigkeit des Körpers, auf den Raum als Ressource und Produkt von Interaktion sowie auf die kommunikative Nutzung materieller Objekte ist nicht zuletzt ein Effekt neuer Technologien, die es Forschenden erlauben, in handlicher Weise die visuellen Aspekte von Interaktionen zu verdauern und der minutiösen Analyse zugänglich zu machen. Doch auch wenn technische Neuerungen dazu führen können, dass bestimmte Phänomene der wissenschaftlichen Untersuchung überhaupt erst oder aber zumindest einfacher zugänglich werden, werden dadurch nicht zwangsläufig neue Forschungsfragen ausgelöst oder unsere Wahrnehmung der untersuchten Phänomene verändert. Denn diese Wahrnehmung ist immer auch kulturell und historisch geprägt, in alltäglichen wie in wissenschaftlichen Kontexten. Dies gilt auch für die Wahrnehmung menschlicher Kommunikation. Die Ausblendung von Körper und Raum aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit menschlicher Kommunikation und die Fokussierung auf eine weitgehend körperfrei gedachte Sprache ist deshalb sicher nicht nur der Schwierigkeit geschuldet, die multimodale Komplexität von Face-to-Face-Kommunikation technisch zugänglich zu machen, sondern ebenso der Tatsache, dass – um eine Begriffsdichotomie von Hans Ulrich Gumbrecht aufzugreifen – Sprache und Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert zunehmend als sinnkulturelle und weniger als präsenzkulturelle Phänomene bzw. Konzepte modelliert wurden.3 Dass und in welcher Weise unsere Wahrnehmung des kommunizierenden Menschen kulturell definiert und geschult ist, wird nicht zuletzt dann deutlich, wenn wir uns mit historischen Texten – auch Bildern – beschäftigen, die uns erlauben, diese Wahrnehmung in früheren Epochen zu rekonstruieren und mit heutigen Wahrnehmungsmustern zu vergleichen. Etwas plakativ lässt sich sagen: Was in der Gesprächs- und Kommunikationsforschung gegenwärtig als Neuerung betrachtet werden muss, ist für die Gesellschaftsethik

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3

Ich spreche hier und an anderer Stelle von Formation, wenn ich in ‚neutraler‘ Weise auf eine gesellschaftliche Gruppierung referiere und dabei die ideologischen Konnotationen oder auch wissenschaftsgeschichtlichen Diskursbindungen vermeiden möchte, welche die Ausdrücke Stand, Klasse, Schicht immer schon mitführen. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt a.M. 2004, passim.

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und den gelehrten wie den populären Umgangsdiskurs der Frühmoderne selbstverständlich: Der gesellschaftliche Blick auf den kommunizierenden Menschen ist auch und oft als erstes auf den Körper gerichtet. Die Beredsamkeit des Mundes ist im Bewusstsein der Zeitgenossen stets mit einer „Beredsamkeit des Leibes“4 verknüpft; Sprachlichkeit wird als an Leiblichkeit gebunden wahrgenommen, als Teil eines komplexen, raumbezogenen kommunikativen Auftritts, der ständisch geregelt und normiert ist. Dies gilt für das 17. und auf weite Strecken auch noch für das 18. Jahrhundert – erst das bürgerliche Sprachprojekt löst in der Wahrnehmung menschlicher Kommunikation die Sprache zunehmend vom Leib. Trotz der grundlegenden und gleichbleibenden Körperorientiertheit der Umgangsund Kommunikationsethik des 17. und 18. Jahrhunderts – zu der auch die Rhetorik zu zählen ist – lassen sich in diesem Zeitraum Veränderungen im Beschreibungsvokabular für den körperlich-sprachlichen Auftritt beobachten, und in Text- wie Bildzeugnissen zeigt sich ein Wandel im Blick der Zeitgenossen auf das, was in den Ausdrücken der Zeit als ‚Conduite‘ und ‚Conversation‘ bezeichnet wird. Im Folgenden möchte ich sowohl der bemerkenswerten Körperorientierung des frühmodernen Umgangsdiskurses nachgehen als auch die Veränderungen dieses Diskurses vom 17. ins 18. Jahrhundert skizzieren und in ihrer Sozialsemiotik beleuchten. Die Quellen, auf die ich mich dabei stütze, sind in erster Linie normative bzw. reflexive Quellen: Umgangs- und Klugheitslehren, Complimentier-und Gesprächsbücher, zeitgenössische Berichte und Memoiren. Diese Quellen lassen die Rekonstruktion faktischen kommunikativen Verhaltens nur indirekt und mit großem Vorbehalt zu. Was sie aber zeigen, ist der kulturelle Blick, ist der Wahrnehmungsfilter, den zeitgenössische Beobachter anlegen. Wir können davon ausgehen, dass kommunikative Verhaltensweisen, die in normativ-reflexiven Quellen thematisiert werden, im Umgangsdiskurs der Zeit als sozial relevant und eben deshalb auch als kommentarwürdig gelten.5 Der Einblick, den uns diese Quellen ermöglichen, betrifft also nur selten das kommunikative Verhalten in unmarkierten Alltagssituationen, sondern in erster Linie Verhalten in förmlicheren bzw. öffentlichen sozialen Situationen, denen besondere soziokulturelle Aufmerksamkeit zukommt.

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Ich entlehne diese Formulierung aus dem Titel des Beitrages von Wolfgang Kemp zur „Körpersprache als künstlerisches und gesellschaftliches Problem der bürgerlichen Emanzipation“. Kemp (Beredsamkeit des Leibes [wie Anm. 1]) trifft mit dieser Formulierung sehr genau das Verständnis, welches im adlig geprägten Umgangsdiskurs des 17. und frühen 18. Jahrhunderts mit Blick auf die Funktion des Körpers in der Kommunikation zum Tragen kommt. Vgl. ausführlicher Angelika Linke: Sprachkultur und Bürgertum: Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 34ff.

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2. Die ‚Beredsamkeit des Leibes‘ Im Umgangsdiskurs des 17. wie auch noch des 18. Jahrhunderts kommt körperkommunikativen Praktiken eine aus heutiger Sicht oft befremdliche Aufmerksamkeit zu. „Galante Conduite“ und „recommendable Politesse“ – zeitgenössische Leitbegriffe idealen gesellschaftlichen Verhaltens – werden in den Klugheitslehren der Zeit nie nur an den „zierlichen Reden“ allein, sondern immer auch an den „wolanständigen Gebehrden“6 festgemacht. Es reicht nicht – wie es im 1703 in Leipzig erschienenen Commode[n] Manual, Oder Hand=Buch des gesellschaftlichen Umgangs heißt – „höffliche und glatte Worte zu geben“, sondern es gilt auch, „eine gute Mine / auch darneben eine freundliche stellage und liebreiches Ansehen zu machen“, ja, die Leser werden sogar aufgefordert, „ingleichen sich einen wohl=proportionierlichen Leib anzugewehnen“, eine Aufgabe, „worzu denn die öfftere Übung im Tantzen das meiste contribuiren kan“.7 Der Hinweis auf die Nützlichkeit der Tanzkunst für den Auftritt in der gesellschaftlichen Kommunikation begegnet in den Umgangslehren der Zeit immer wieder, eine Tanzkunst im Übrigen, in welcher der Mann im Mittelpunkt steht und die vom männlichen Part eine hohe Körperbeherrschung erfordert.8

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8

Formulierungen aus dem Titel von Johann Christian Wächtler: Commodes MANUAL, Oder Hand=Buch / Darinnen zu finden: I. Eine compendieuse Methode zu einer galanten Conduite / wie auch recommendablen Politesse in zierlichen Reden u. wolanständigen Gebehrden zu gelangen; II. Ein vollkömmliches Dictionaire / in welchem die meisten in civili vitâ vorkommenden Termini und gewöhnlichen Redens=Arten ordine Alphabetico eingerichtet / erkläret / und mit Exemplis illustriret seynd / nebst einem vollständigen Teutschen Indice. III. Die vornehmsten Heydnischen Nomina Propria, so in Romänen/Operen/Poesie, Mahlereyen / und sonst gebrauchet werden / gleichfals nach dem Alphabet eingerichtet und erkläret. IV. Le Secretaire d'Amour, oder : Ein Fascicul etlicher bey einer familieren Correspondence gewechselten und aus einem vertraulichen LiebesCabinet genommenen Brieffe / nebst andern nach heutiger façon stylisirten wiewohl ingesamt promiscuè gesetzten Missiven und unterschiedenen eingemischten Sorten derer so genannten Billets Doux; V. Allerhand mündliche Complimenten in Teutsch= und Frantzosischer Sprache […]. Leipzig 1703. Ebd., S. 6f. (Hervorhebung A. Linke). Auch Rudolf zur Lippe konstatiert in seiner dichten und gewichtigen Untersuchung zur „Naturbeherrschung am Menschen“ für das italienische 16. Jahrhundert, dass mit Blick auf die leiblichen Formen des gesellschaftlichen Auftritts „der choreographierte Tanz [...] offensichtlich als eine besonders pointierte, aber nicht grundsätzlich unterschiedene Form des Auftretens verstanden [wird]“ (Naturbeherrschung am Menschen. Bd. 2: Geometrisierung des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus. Frankfurt a.M. 1974, S. 236). Das hauptsächliche Zielpublikum war sowohl im Tanzunterricht als auch in den Umgangslehren ein männliches – in einer Anstandslehre von 1630 wird explizit und bedauernd vermerkt: „Es ist fürwar [...] ein grosse Schand / daß das Adelicht Frawenzimmer nicht eben sowol / als die jungen Adelspersonen tanzen lernen / damit ein Vnderschid seye vnder jhnen vnd dem gemainen Gesindel“ ([Anonym]: Alamodische Hobelbank. Daß ist: Ein sehr lustiger vnnd artlicher Discurs, zweyer Adelspersonen / welche sie von den Alamodischen / ja vilmehr von den jetzigen im schwung gehenden vnhöfflichen Sitten / närrischen Gebräuch vnd Mißbräuchen / als da ist in Klaidern / Ge-

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Die Darstellung eines tanzenden Paares aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Abb. 1 kann dies illustrieren.9

Abb. 1

Der kommunikative Auftritt wird im Umgangsdiskurs des 17. und 18. Jahrhunderts also als ein körperlicher Auftritt konstruiert – entsprechend häufig begegnet in der normativen Beschreibung kommunikativen Verhaltens die Zwillingsformel „Worte und Geber-

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bärden / gehen / vnd Basolaßmanos machen / so sie bey etlichen Völckern im Durchraisen / sonderlichen aber bey den vngewanderten Teutschen wargenommen / halten. Augsburg 1630, S. 49). Und noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermerkt Franz Theodor von Fürstenberg, „[nicht] um ein paar kleine Töchter [...] sondern wegen meiner Söhne habe ich ad tempus ein Sprachmeister [...] als wie ein Tanzmeister [...] in mein Haus aufgenommen“ (Archiv v. Fürstenberg-Opladen 23/10m, hier zitiert nach Heinz Reif: Westfälischer Adel: 1770-1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite. Göttingen 1979, Anm. 67 zu S. 146). Bei dieser Abbildung handelt es sich um einen Ausschnitt aus einem Gemälde des flämischen Malers Gonzales Coques, 1618-1684. Coques erhielt seine Ausbildung bei Pieter Brueghel dem Jüngeren und David II Rijckaert und war bereits zeitgenössisch vor allem als Maler von sog. ‚Conversationsstücken‘ bekannt und geschätzt. Die Abbildung habe ich Max von Boehn: Die Mode. Menschen und Moden im siebzehnten Jahrhundert. Nach Bildern und Stichen der Zeit, ausgewählt und geschildert von Max von Boehn. 3. Aufl. München 1923 entnommen (Abb. 26, ohne Pag.).

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den“ oder auch „Geberden und Worte“10 Die Aneignung geselliger Tugenden, manierlicher Tischsitten sowie der Kunst des Gesprächs erscheint eingebettet in die Ausbildung des leiblichen Anstands und ist im weitesten Sinne als Teil dieser Ausbildung zu verstehen.11 Ja, die „annehmliche Gesprächsamkeit“ selbst hat – so eine Umgangslehre von 1694 – „ihr Absehen auf drey Stücke / auf die Reden / auf die Leibesstellung und auf die Kleider“.12 Hier werden also Sprachlichkeit, Körperlichkeit und Kleidung im Begriff der „Gesprächsamkeit“ zusammengefasst. Entsprechend ist auch die Semantik des Begriffs ‚Conversation‘ im 17. Jahrhundert noch eine andere. Sie ist noch nicht auf die verbale Interaktion verengt – dies ist ein Prozess, der im Verlauf des 18. Jahrhunderts stattfindet – sondern umfasst extensional auch Interaktionsformen, die nicht zwingend vom Gespräch begleitet sein müssen, wie etwa die Promenade, das gemeinsame Musizieren, das Kartenspiel oder eben den Tanz.13 Ähnliches gilt für den Begriff des ‚Compliments‘, der als Programmbegriff im Umgangsdiskurs der Frühmoderne noch sehr unterschiedliche interaktive Praktiken subsumieren kann: Gruß, Höflichkeitsgeste, Aufmerksamkeitssignal oder Mitgefühlsbezeigung. Wo der Complimentbegriff auf die Mündlichkeit bezogen ist – im 17. und zum Teil auch noch im 18. Jahrhundert bezieht sich der Begriff auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit gleichermaßen –, verbindet sich in den damit bezeichneten Praktiken der sprachliche mit dem leiblichen Ausdruck,14 wobei

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Vgl. etwa für beide Reihenfolgen innerhalb kürzerer Textabschnitte: Galant Homme, oder Wie man sich in der Galanten Welt In Worten und Geberden / in Aufwarten / gehen / sitzen / essen / trincken / Habit etc. Manierlich aufführen und beliebt machen kann. Der zu Torgau Studierenden Jugend zum besten / und Model lebendiger Anführung / kürtzlich entworffen Von M.G.S. Leipzig 1694, A4v und A6v. Es geht, wie es der Titel des Galant Homme von 1694 formuliert, darum, „wie man sich in der Galanten Welt in Worten und Geberden / in Aufwarten / gehen / sitzen / essen / trinkken / Habit etc. Manierlich aufführen und beliebt machen kan“. [Joachim Trotti de La Chétardie]: Die Wohlerzogene Stands=Person Oder: Kurzer Unterricht / was einem jungen Herrn / vornehmenn Stands / zur Beförderung guter Erziehung und künfftigen klugen Verhaltens / beyzubringen. Allen Hoffmeistern / und denen Königl. Fürstl. und Gräffliche Kinder anvertrauet / hochnützlich zu gebrauchen. Nürnberg 1695, S. 177 (Hervorhebung A. Linke). Auch bei der näheren Erläuterung der „annehmlichen“ Rede werden die körperlichen Aspekte von Prosodie und Aussprache vor den inhaltlichen Aspekten gewürdigt bzw. reglementiert: „Die Rede soll rein und wollautend seyn / nicht geradebrecht / nicht allzu laut / auch allzu leisse / nit stammelnd / sondern deutlich; der Inhalt soll Erbar und verständig seyn / nicht gering noch gezwungen / sondern auff die Materie / davon man redet / klappend.“ (Ebd., S. 177f.). Vgl. zu dieser semantischen Entwicklung ausführlicher Linke: Sprachkultur und Bürgertum (wie Anm. 5), S. 132ff. Vgl. zudem Peter Burke: The art of conversation. Cambridge 1993, S. 95, der mit Verweis auf den Titel von Stefano Guazzos La civil conversazione von 1574 (einer der ersten und gattungsbegründenden Umgangslehren in der europäischen Literatur) die weite Semantik des italienischen Ausdrucks conversazione auch noch im 18. Jahrhundert hervorhebt und als mögliche Übersetzung soviel wie „Gesellschaft“ bzw. „gesellschaftlicher Umgang“ vorschlägt. So gibt auch das Zedler’sche Universallexikon die Definition: „Compliment, nennt man Höfflichkeiten, die man einem mit Worten und Geberden bezeiget“ (Johann Heinrich Zedler [Hg.]:

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die nonverbale Komponente die selbständigere ist:15 Complimente, „so in schicklichen Geberden und Stellung des Leibes bestehen“16 sind ohne weiteres möglich, während das ‚Wort-Compliment‘ ohne entsprechende Gebärde undenkbar ist.17 Wort und Gebärde, Leibesstellung und Kleidung bilden im 17. und frühen 18. Jahrhundert in der Wahrnehmung menschlicher Kommunikation ein semiotisches Ensemble. Dieses Ensemble allerdings ist ein ständisch markiertes. Umgangsdiskurs und Gesellschaftsethik sind im 17. Jahrhundert dezidiert adlig geprägt und noch weit ins 18. Jahrhundert hinein zumindest adlig grundiert18 – alle bisher zitierten Passagen beziehen sich auf einen höfischen Kontext, sind als Anleitungen zu einem ‚Habitus‘ im Sinne Bourdieus zu lesen, der adlig konnotiert ist, auch wenn zweifellos hofnahe bürgerliche Kreise daran partizipieren. Die Aufmerksamkeit, die in den Anstandslehren des 17. und 18. Jahrhunderts der „ehrbaren Stellung des Leibs“, der „geziemend ein-

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Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. 64 Bde., 4 Suppl. Bde. Halle/Leipzig 1732-1754 [Photomech. Nachdr. Graz 1961], Bd. 6, Sp. 874). Manfred Beetz (Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990, S. 19) weist darauf hin, dass bis ins 18. Jahrhundert hinein in den Umgangslehren kein Unterschied zwischen mündlichen und schriftlichen Complimenten gemacht wurde. Die Vorlagen für verbale Complimente zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten (Besuche, Geburtstage, Aufwartungen zu Feiertagen, Verabschiedungen vor längeren Abwesenheiten, Taufen, Hochzeiten etc.), wie sie in vielen Anstandslehren über manchmal hunderte von Seiten abgedruckt wurden, waren – allenfalls mit kleinen individuellen Abänderungen – sowohl für den schriftlichen wie für den mündlichen Gebrauch gedacht. [Anonym]: Das nach der neuesten Art und dem wahren Wohlstand eingerichtete ComplimentirBüchlein, Darinnen eine gründliche Anleitung gegeben wird, wie man mit hohen und niedern Standes=Personen, nicht weniger auch dem Frauenzimmer aufs höflichste sprechen, sich betragen und aufführen solle. Nebst einem Anhang von unterschiedenen guten Redens=Arten auch etlicher gewöhnlicher Sprüchwörter und anständigern Formuln. […] o. O./o. J. [1. Hälfte 18. Jahrhundert], S. 13. Auch Adelung definiert Compliment noch als „eine Verbeugung aus Ehrfurcht oder Hochachtung“ (Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 4 Bde. Leipzig 1793-1801 [Neudr. Hildesheim/New York 1970]). Vgl. zur Begriffsgeschichte von ‚Compliment‘ ausführlicher Linke: Sprachkultur und Bürgertum (wie Anm. 5), S. 104ff. Zum Teil macht schon der (oft sehr ausführliche) Titel von Umgangslehren klar, dass sie sich an „Adelspersonen“ (Hobelbank [wie Anm. 8]) bzw. an Personen „vornehmen Stands“ (Stands=Person [wie Anm. 12]) richten oder zumindest in erster Linie davon handeln, „wie man bey Hofe sich aufzuführen hat“ (Friedrich Wilhelm Scharffenberg: Die Kunst Complaisant und Galant zu Conversiren, Oder In Kurtzen sich zu einen Menschen von guter Conduite zu machen. Vorinnen auf das deutlichste gewiesen wird, [I.] Wie eine rechtschaffene Conduite müsse beschaffen seyn. [II.] Wie man bey Hofe sich aufzuführen hat. [III.] Wie man mit Ministern umgehen muß. [IV.] Was auf Reisen erfordert wird. [V.] Auf Universitäten. [VI.] Cum Eruditis. [VII.] Mit Leuten geringen Standes, und endlich wie man gegen Frauenzimmer sich complaisant und galant erzeigen soll. […] Chemnitz 1718) etc.

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Abb. 2

gerichteten“ Bewegung oder dem „abgemessenen“19 Gang zukommt – all dies gängiges zeitgenössisches Beschreibungsvokabular –, dokumentiert also eine aus heutiger Perspektive bemerkenswert scharfe Wahrnehmung (und Reglementierung) des Körpers als kommunikatives Medium und als Zeichen,20 gleichzeitig aber – und dies darf nicht übersehen werden – auch die Standesgebundenheit und damit die deutliche Sozialsemiotik dieser Beredsamkeit des Leibes.21 Dies wird exemplarisch greifbar auf einem Gemälde Antoine Watteaus (Abb. 2), das 1720 als Ladenschild für den Pariser Kunsthändler Edmé Gersaint ausgeführt und später von Friedrich II. erworben wurde und das heute in Schloss Charlottenburg in Berlin

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Alle Belegzitate aus: Der Allzeit fertige Complimentist, Darinnen deutlich und zierlich vorgestellt wird; Wie ein jeder bey Hohen und Niedern Stands=Personen / beederley Geschlechts / In allen vorfallenden Begebenheiten / sich zu verhalten habe. Alles der Galanten Welt zu besonderem Nutzen ans Licht gestellt von Ge. Heinr. Feyerabend. Rothenburg 1729, S. 287, 290, 291. Dies zeigt sich auch daran, dass häufig die ersten Kapitel von Klugheitslehren dem Körperverhalten gewidmet sind, vgl. Linke: Sprachkultur und Bürgertum (wie Anm. 5), S. 65f. Dabei darf man sich die adlige ‚Beredsamkeit des Leibes‘ nicht als ein völlig einheitliches, sondern muss sie sich vielmehr als in sich variables, nach sozialen Parametern ausdifferenziertes System vorstellen. Wie dies auch für sprachliche Ausdrucksformen gilt, haben wir sowohl mit regionalen ‚Varietäten‘ als auch mit einem gewissen Unterschied zwischen ländlichen und residenziellen Verhältnissen zu rechnen sowie auch mit spezifischen Traditionen einzelner Höfe. Auch ‚der‘ Adel ist – ebensowenig wie ‚das‘ Bürgertum – keine homogene Sozialformation, was gerade die neuere Adelsforschung vermehrt betont und berücksichtigt hat. Vgl. exemplarisch Heinz Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert. München 1999, S. 6ff.; Volker Bauer: Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie. (Frühe Neuzeit 12) Tübingen 1993.

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ausgestellt ist. Seinen Wert als historische Quelle erhält das Bild nicht zuletzt aus denjenigen Gründen, die der Auftraggeber auch als ausschlaggebend für den großen Erfolg des Gemäldes beim zeitgenössischen Publikum anführt, dass es nämlich, so Edmé Gersaint – „nach dem Leben gemacht [war]“ und „die Posen [...] so wahrheitsgetreu und so natürlich [waren]“.22 Mit Blick auf diese von Gersaint attestierte ‚Natürlichkeit‘ der Posen ist in unserem Kontext vor allem das Paar in der Bildmitte interessant (vgl. den Ausschnitt in Abb. 3), das im Figurenreigen des Gemäldes nicht nur durch den Hell-Dunkel-Kontrast der Kleidung hervorgehoben ist, sondern ebenso durch die ganz auf repräsentative ,Conversation‘ ausgerichtete Präsentation der Körper. Dies wird bei der männlichen Figur in ihrer Frontalstellung zum Betrachter hin besonders Abb. 3 deutlich. Sowohl Kopfhaltung, Körperbiegung, die angedeutete Armbewegung als auch die Standbein-Spielbein-Stellung des jungen Kavaliers verraten eine Körperspannung, die jedoch ohne einen augenfälligen äußerlichen Bezugspunkt, ohne praktisch-instrumentelle Funktion ist, der aber gerade in dieser vordergründigen Absichtslosigkeit (und damit auch Schmuckhaftigkeit) hohe soziokulturelle Zeichenhaftigkeit als Mittel der Selbstauszeichnung zukommt.23 Kontrastiert wird dieser Körperauftritt durch die stärker in sachfunktionaler Bewegung und Drapierung gehaltene Gruppe rechts davon sowie durch die männliche Figur links außen, in der vielleicht der Lastträger dargestellt ist, der später die Holzkisten auf

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Edmé F. Gersaint: Abrégé de la vie d'Antoine Watteau. Catalogue raisonné des diverses curiosités du cabinet de feu M. Quentin de Lorangère. Paris 1744, S. 183f., zitiert nach Pierre Rosenberg: Die Gemälde. In: Margaret M. Grasselli/Pierre Rosenberg: Watteau 1684-1721. Berlin 1985, S. 241-458, S. 447. Auf diesen Effekt verweist auch Rudolf zur Lippe für den italienischen Kontext, wenn er die grundsätzliche Bedeutung des quattrocentonischen Ideals des „ben portar la vita“, des ‚Tragens der Taille‘ für den „Benimm in der großen Welt“ (Lippe: Naturbeherrschung [wie Anm. 7], S. 236 mit Bezug auf Fabritio Caroso: Il ballerino. Venedig 1581) auch noch weit über das Quattrocento hinaus herausstellt. Die damit angesprochene Körperspannung und Körperbewusstheit kann als höfische Überformung des kriegerischen Körpers gedeutet werden, als Spielform im Sinne Simmels (Georg Simmel: Grundfragen der Soziologie. [Individuum und Gesellschaft]. 2. Aufl. Berlin/Leipzig 1920, S. 54ff.) und damit als ,Erinnerung‘ der Sozialformation an für die zeitgenössische Gegenwart kaum mehr relevante Körperfunktionen, deren ursprüngliche identitätsstiftende Funktion jedoch in symbolischer Form erhalten wird.

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sein Tragegestell laden wird. Die Darstellung dieses Mannes, seine ungespannte Körperhaltung mit durchgedrückten Knien, das Körpergewicht gleichmäßig auf beide Beine verteilt und zusätzlich auf einen Stock gestützt, sowie die einfache, nachlässig getragene und so die Körpersilhouette mehr verwischende als betonende Kleidung24 machen im Kontrast zum mittleren Paar die performative Potenz von Körperlichkeit in der ständischen Zuordnung deutlich und zeichnen den so Dargestellten als Angehörigen der unteren Mittelschicht aus, der – im Gegensatz zum Paar in der Bildmitte – im Bewusstsein der Zeitgenossen über keinen kulturell zeichenhaften Körper verfügt. Watteaus Gemälde ist als Programmbild zu lesen, das die kultur-und sozialgeschichtlichen Widersprüche der Zeit einfängt und das vielleicht noch mehr um dieser Spannung als um seiner naturalistischen Effekte willen den dokumentierten Erfolg beim zeitgenössischen Publikum hatte. Denn hier wird einerseits in beinahe schon karikaturhafter Weise der epochale Umbruch des 18. Jahrhunderts, die gesellschaftshistorische Verabschiedung der absolutistischen Adelsgesellschaft thematisiert – der Ladendiener versorgt soeben das Portrait Ludwigs des Vierzehnten in einer Holzkiste25 – und andererseits wird im selben Gemälde der ästhetischen Körperlichkeit adlig konnotierter Kommunikationskultur ein glänzender Auftritt gewährt.26 Angesichts solchen Körperzeremoniells erscheint es aus heutiger Perspektive zunächst doppelt unverständlich, wenn etwa Wilhelmine von Bayreuth, preußische Prinzessin und Lieblingsschwester Friedrichs des Großen, in ihren Memoiren nicht nur da-

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Diese Darstellung ist ebenso wie die des Kavaliers in erster Linie eine Interpretation Watteaus. Kunstgeschichtliche Studien konstatieren hier meist einen direkten Bezug zum berühmten Bild Ludwigs XIV. von Hyacinthe Rigaud, vgl. Rosenberg: Die Gemälde (wie Anm. 22), S. 450. Die Ansichten über die ständische Zuordnung des Paares in der Mitte gehen in der wissenschaftlichen Literatur zu Watteaus Bild auseinander. Marita Bombek identifiziert die Dame aufgrund des Mantelkleides (auch: Contouche) als „wohlhabende[] Frau des städtischen Bürgertums“ (Kleider der Vernunft. Die Vorgeschichte bürgerlicher Präsentation und Repräsentation in der Kleidung. Münster 2005, S. 280), eine ständische Verortung des Kavaliers erfolgt dagegen nicht, auch wenn Bombek festhält, dass seine Bekleidung vornehm ist. Thiel konstatiert die allgemeine Beliebtheit des Mantelkleides in der Zeit der Régence, in der auch Watteaus Gemälde entsteht, zitiert aber auch Liselotte von der Pfalz, welche die Contouche als „kammermegtisch“ ablehnt (Erika Thiel: Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart. 4. Aufl. Berlin 1987, S. 250). Worauf genau sich diese Charakterisierung bezieht, wird allerdings nicht klar. Die im Mantelkleid der Dame besonders prominenten, von Watteau oft gemalten und deshalb auch so genannten „Watteaufalten“ in der Rückenlinie des mantelartigen Obergewandes markieren besonders deutlich die durchgehende Form des Kleides, welche durch das Weglassen oder die optische Vertuschung der Taillennaht erreicht wird. Da diese durchgehende Stofflinie im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert für das adlige Damenkleid typisch war, könnte die Bekleidung der Dame aber auch eine entsprechende ständische Zuordnung der Trägerin signalisieren. (Diesen und weitere hilfreiche Hinweise auf relevante Entwicklungen in der Damenmode verdanke ich Julia Burde.) Unabhängig von dieser allenfalls auch zeitgenössisch gegebenen Unschärfe der exakten sozialen Verortung des Paares ist jedoch die adlige Konnotierung des dargestellten Körperausdrucks des jungen Kavaliers.

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von berichtet, wie sie als junge Prinzessin am preußischen Hof von ihrem Vater bei Auseinandersetzungen immer wieder geschlagen und an den Haaren gezerrt wird, sondern dass ihr Vater auch ihrem Bruder sowie seiner Gemahlin gegenüber im Zorn handgreiflich wird.27 Die kulturelle Konstruktion eines lesbaren Körpers ist ganz offensichtlich nicht mit dessen fleischlicher Unantastbarkeit verbunden, im Gegenteil: Im 17., aber auch noch im 18. Jahrhundert sind modern-westliche Körperschwellen noch nicht existent. Hinweise darauf, dass man im Gespräch dem Gegenüber nicht am Rock herumzupfen, nicht an dessen Knöpfen drehen28 und sich dem Gesprächspartner insgesamt nicht allzusehr nähern solle, weil nicht jedermann der Geruch fremden Atems angenehm sei,29 gehören ebenso zum Kanon der Umgangsregeln wie Anweisungen für die Durchführung einer galanten Reverenz, mit der sowohl der eigene wie der Status des Gegenübers bestätigt bzw. erhöht wird. Der von Norbert Elias geschilderte „Prozess der Zivilisation“30, d. h. die zunehmende, stark auf den Körper bezogenen Sozialdisziplinierung, die mit einer kontinuierlichen Erhöhung der Peinlichkeitsschwellen einhergeht, ist mit der semiotischen Aufladung und Nutzung des Körpers zwar wohl verschränkt, wird von dieser aber nicht etwa vorausgesetzt – der zeichenhafte und der biologische Körper sind in ihrer Funktionalität wenig interdependent. Eine wesentliche Voraussetzung des Körperbezugs adliger Kommunikationskultur hingegen ist der dezidierte Raumbezug adliger Identität: Ersterer ist ohne letzteren nicht zu denken.

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Wilhelmine führt in ihren Memoiren immer wieder entsprechende Szenen an (Wilhelmine von Bayreuth: Memoiren einer preußischen Königstochter. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Günter Berger. Bayreuth 2007, S. 86, 100, 104, 109, 137). Vgl. für ähnliche Berichte handgreiflicher familiärer Auseinandersetzungen gerade in höchsten Adelskreisen Boehn: Die Mode im siebzehnten Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 155. Und auch in Umgangslehren finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass ungebührliches Verhalten gegenüber Ranghöheren im schlimmeren Fall dazu führen kann, dass man von deren Entourage bei sich bietender Gelegenheit „ein wenig ausgeklopfft“ wird (Menantes [d. i. Christian Friedrich Hunold]: Die Manier Höflich und wohl zu Reden und Leben, so wohl mit hohen / vornehmen Personen, seines gleichen und Frauenzimmer / Als auch Wie das Frauenzimmer eine geschickte Aufführung gegen uns gebrauchen könne, […]. Hamburg 1738, S. 119). Die „Formalität-Informalitäts-Spanne“ (Norbert Elias: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1989, passim) ist gegenüber dem 19. und 20. Jahrhundert, wo sich diese, so die Diagnose von Norbert Elias, zunehmend verringert und deutlich „in die Richtung auf gleiches Verhalten in allen Lebenslagen“ (Ebd., S. 42) tendiert, also noch sehr groß. Vgl. beispielhaft für viele ähnliche Passagen in anderen Umgangslehren etwa Carl Mouton: La Civilité Moderne. Oder die Höflichkeit der heutigen Welt. Woraus man sehen kann, wie man sich zu verhalten habe, damit man in dem Umgange mit artigen Leuten beliebt seyn möge. Neue Auflage. Nachgesehen, verbessert und um ein vieles vermehret. Hamburg 1744, S. 93: „Allein es ist sehr lächerlich, wenn man mit jemandem redet, dessen Knöpfe anzufassen, und daran, wie auch an den Zipfelns des Schnuptuchs, an dem Wehr=Gehänge, an seinem Mantel zu ziehen, oder ihm einen Stoß mit dem Ellbogen zu geben [...].“ Vgl. Galant Homme (wie Anm. 10), § 11. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1976.

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3. Die Sozialsemiotik des Raumes Es ist die Dimensionalität des Raumes, die wie keine andere Dimension die adlige Lebenswelt in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen praktisch wie semiotisch prägt. Dies gilt bereits für die grundlegende Bedeutung der Herrschaft über den Raum in Form des adligen Grundbesitzes, und es gilt für die ornamental überhöhte Inszenierung von Raum in Schlössern, Parkanlagen und in residenzstädtischer Architektur.31 Raum und Raumbezüge werden zudem für die performative Herstellung und Darstellung gesellschaftlicher Hierarchie und sozialer Machtpositionen jenseits der Ausübung körperlicher Gewalt genutzt. Die adlige Raumsemiotik des 17. und 18. Jahrhunderts projiziert die traditionell durch Vertikalität symbolisierte Macht, das Oben und Unten, allerdings vermehrt auf die Horizontalität von Nähe und Distanz, d. h. auf den Raumbezug zum Herrscher als dem Zentrum eines Machtkreises – nicht zuletzt in der Architektur ist die mittelalterliche Machtsemiotik der „Burg auf dem Berg“32 und des hohen Turmes weitgehend ersetzt durch die Semiotik der ausladenden Pracht von Schlossanlagen in der Ebene.33 Die Zeichenhaftigkeit des Raumes gilt aber auch im kleineren Maßstab: Den Sitzordnungen bei zeremoniellen Mahlzeiten, der Frage, wer bei Empfängen das Anrecht auf einen Armsessel hat oder mit einem Taburett vorlieb nehmen muss und wer bei Zusammenkünften von weitgehend Ranggleichen den Vortritt hat, wird in Hofordnungen wie in Klugheitslehren, in Chroniken und Festbeschreibungen, in Tagebuchaufzeichnungen und Korrespondenzen entsprechend viel Aufmerksamkeit geschenkt – nicht nur im Kontext absolutistischer Machtformation des 17. Jahrhunderts, sondern zeitlich noch weit über die aufgeklärten Brechungen höfisch-monarchischer Selbst- und Fremddefinition hinaus. Was als Urszene höfischer Raumsemiotik des Mittelalters in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen ist – der Streit zwischen Kriemhild und Brünhild um den Vortritt beim Besuch der Messe im Dom zu Worms – findet noch in den Memoiren der bereits erwähnten Wilhelmine, Markgräfin von Bayreuth, seinen vielfachen Widerhall. Die gegenüber heutigem Maß höhere Sensibilisierung auf die Zeichenhaftigkeit von Körper und Raum in der Kommunikation dürfte zudem nicht zuletzt mit der Tatsache zusammenhängen, dass die „Territorien des Selbst“34, um einen Ausdruck Erving Gof-

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Vgl. ausführlicher Angelika Linke: Das Unbeschreibliche. Zur Sozialsemiotik adeligen Körperverhaltens im 18. und 19. Jahrhundert. In: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Eckart Conze und Monika Wienfort. Köln 2004, S. 247-268, S. 264ff. Werner Paravicini: Zeremoniell und Raum. In: Zeremoniell und Raum. Hg. von Werner Paravicini. Sigmaringen 1997, S. 11-27, S. 25. Diese Überlegung übernehme ich aus dem äußerst instruktiven, informationsdichten Beitrag von Paravicini, der vom „Pathos der Höhe und Ferne“ gegenüber dem „Pathos des symmetrischen Raums in der Ebene“ (ebd.) spricht. So der Titel des für den gegebenen Zusammenhang relevanten Kapitels in Erving Goffman: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Übersetzt von R.

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fmans zu verwenden, in einer ständisch strukturierten Gesellschaft anders konstituiert sind und entsprechend anderer performativer Stützen bedürfen, aber auch andere semiotische Nutzungen erlauben. So erstreckt sich etwa der von Goffman so benannte „persönliche Raum“35, im Gegensatz zu heutigen westlichen Standards, bei Angehörigen des frühmodernen Adels durchaus auch auf die im Rücken einer Person liegende Zone, und die einzelne adlige „Stands=Person“ erzeugt darüber hinaus immer auch eine Semiotisierung bzw. eine soziale Hierarchisierung des sie umgebenden Raumes, insofern linke und rechte Körperseite in ihrer ehrenden (und entsprechend auch attrahierenden) Potenz unterschiedlich besetzt sind. Diese hierarchische Strukturierung des Raumes durch die sich in ihm aufhaltenden „Stands=Personen“ sowie die Raum-Effekte, die sich in der Begegnung bzw. im Nebeneinander von dergestalt semiotisch aufgeladenen Körperterritorien ergeben, erfordern in der Interaktion vor allem beim bewegten Körper permanente Anpassungsleistungen und ein komplexes Raumperformativ. Dies kann z. B. die folgende Anleitung zum schicklichen Verhalten in Promenaden aus einer Umgangslehre von 1729 verdeutlichen, wo es heißt: Wann mehr Personen gleiches Standes nebeneinander spatziern / so erfordert die Höfflichkeit / daß die / welche währender Zeit / da man den Spatzier=Gang oder das Zimmer einmal auf= oder abgangen / in der Mitte gewesen / wenn sie am Ende sind / auf die Seite tretten / und die Mittelstelle denen / so am weitesten davon gewesen / überlassen; welches dann diese hinwiederum / wann sie auch zu Ende sind / gleichfalls zu beobachten haben / und so immer einer nach dem andern.36

Ein solcher „Spatzier=Gang“ ist also zwar einerseits eine rekreativ-gesellige Unternehmung, dient gleichzeitig aber auch praxeologisch-performativ der Herstellung bzw. Bestärkung sozialer Ordnung. Das Beispiel macht zudem deutlich, dass die semiotische Konstruiertheit des Raumes immer auch historisch wie sozial bestimmt zu denken ist.

4. Paradigmenwechsel Ich habe in meiner bisherigen Darstellung das 17. und 18. Jahrhundert quasi in einem Atemzug behandelt und herausgestellt, dass in der Wahrnehmung kommunikativen Umgangs dem menschlichen Körper ebenso wie der Dimension des Raumes in beiden Jahrhunderten ein Gewicht zukommt, das aus heutiger Perspektive nur noch bedingt nachvollziehbar ist. Im Rahmen dieser insgesamt stark ausgeprägten Körper-und Raumorientierung des frühmodernen Umgangsdiskurses zeichnen sich nun bei genaue-

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und R. Wiggershaus. Frankfurt a.M. 1974 [Originaltitel: Relations in public. Microstudies of the public order], S. 54-96. Ebd., S. 56. Complimentist (wie Anm. 19), S. 292.

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rem Hinsehen im Verlauf der hier untersuchten Periode doch semiotisch signifikante Veränderungen ab.37 4.1 Körper und Kleidung: Vom Positionalen zum Fließenden Diese Veränderungen demonstriert uns in ebenso komprimierter wie plakativer Weise das Frontispiz einer der wohl einflussreichsten Klugheitslehren des frühen 18. Jahrhunderts, der 1728 erschienenen Einleitung zur Ceremoniel=Wissenschafft der Privat=Personen von Julius Bernhard von Rohr38 (Abb. 4).

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Peter Burke, der in seinen kulturgeschichtlichen Studien wiederholt Umgangslehren als Quellen nutzt, betont, dass „a closer study of the manuals [gemeint sind Umgangs- und Klugheitslehren, A. Linke] reveals small yet significant changes over time, especially over the long term, changes in emphasis or ,inflections‘ which are well worth the attention of historians of language and social behaviour“ (Burke: The art of conversation [wie Anm. 13], S. 95). Julius Bernhard Rohr: Einleitung zur Ceremoniel=Wissenschafft der Privat=Personen. Berlin 1728. Julius Bernhard von Rohr (1688-1742) ist u. a. Schüler von Christian Wolff und Verfasser einschlägiger rechtswissenschaftlicher wie ökonomischer Werke, er gilt als einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten ‚Hausväterliteratur‘. Das Zedler’sche Universallexikon widmet von Rohr eine mehrere Seiten umfassende biographische Darstellung sowie ein ausführliches Verzeichnis seiner Schriften.

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In diesem Titelkupfer werden in Wort und Bild „alte Teutsche“ und „jetzige Teutsche“ einander gegenübergestellt, wobei sich die beiden Figurenpaare nicht nur in ihrem Äußeren, sondern auch in der architektonischen Ausgestaltung des Hintergrunds, vor den sie gestellt sind, unterscheiden. Das linke Paar, das die „alten Teutschen“ repräsentiert, trägt eine auf das frühe 17. Jahrhundert verweisende Tracht im sogenannt spanischen Stil,39 und dieser Rückverweis in der Zeit wird durch Haartracht, Hutformen sowie durch die gotisierende Stadtarchitektur des Hintergrundes noch zusätzlich akzentuiert.40 Die „jetzigen Teutschen“ dagegen, verkörpert im rechten Paar, entsprechen in ihren mit reicher Stickerei versehenen Justeaucorps sowie mit Allonge-Perücke und völliger Bartlosigkeit in vollkommener Weise dem Herrenmode-Ideal des frühen 18. Jahrhunderts,41 als dessen Kulisse dann auch eine französisierende Schlossanlage mit Laubengalerie und ornamentaler Gartenbepflanzung gewählt ist. Besonders frappant und im gegebenen Zusammenhang relevant ist jedoch, dass mit der unterschiedlichen historischen Verortung der Figurenpaare auch ein anderes körperkommunikatives Verhalten einhergeht: Zwar erscheinen beide Paare gesprächsweise einander zugewandt, doch während dies bei den Herren der linken Bildhälfte mit einer verhaltenen Gestik verbunden ist, bei der Arme und Hände von beiden Figuren beinahe spiegelbildlich auf Taillenhöhe gehalten werden, wird das rechte Paar in schwungvoller Körperbewegung gezeigt, mit ausladender (Gruß-)Gestik der Arme, die den Körperraum von der Hüfte aufwärts bis zur Scheitelhöhe ausnutzt.42 Damit deutet sich in

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Boehn beschreibt die spanische Tracht als „charakterisiert [...] durch enge und durch steife Formen, sie hindert die Beweglichkeit der Glieder und zwingt dem Körper eine unnatürliche Haltung auf“ (Die Mode im siebzehnten Jahrhundert [wie Anm. 9], S. 83). Boehns Urteil über die „Unnatürlichkeit“ der durch die spanische Tracht erzwungenen Körperhaltung ist eine ex postZuschreibung: Was aus heutiger Perspektive als „unnatürlich“ erscheint, war im zeitgenössischen Blick wohl in erster Linie eine kulturelle bzw. sozialdistinktive Errungenschaft und Medium eines ‚gravitätischen‘ Auftritts. Der Maßstab der Natürlichkeit ist zeitgenössisch kaum in Betracht zu ziehen, und wohl ebenso wenig wurde die Haltung zeitgenössisch als erzwungen empfunden. Wir haben es mit einer Stadtarchitektur zu tun, bei der noch „etwas Gotisches oder Altväterisches zu spüren“ ist, eine Charakterisierung, die Maximilien Misson in seinen Reisebeschreibungen 1687 auf Nürnberg anwendet (zit. nach Boehn: Die Mode im siebzehnten Jahrhundert [wie Anm. 9], S. 52, dort leider ohne genauere Quellenangabe), eine Architektur also, die bereits im späten 17. Jahrhundert als nicht mehr zeitgemäß gilt. Vgl. für diese Zuordnung Max von Boehn: Die Mode. Menschen und Moden im achtzehnten Jahrhundert. Nach Bildern und Stichen der Zeit, ausgewählt von Dr. Oskar Fischel. Text von Max von Boehn. 3., verb. Auflage. München 1923, S. 201ff., 212ff. Dieser Armgestik entspricht auch die Anweisung im Kapitel „Über die Arme, Ellenbogen und Hände“ in Franz Langs Abhandlung über die Schauspielkunst von 1727, wo es u. a. heißt: „[...] daß beide Arme sich nicht in gleicher Ausdehnung und in gleicher Weise bewegen sollen, sondern der eine sei höher, der andere gesenkter, der eine mehr gestreckt und gerade, der andere gebeugter, auch wenn er erhoben ist [...]“ (Franz Lang: Abhandlung über die Schauspielkunst. [Dissertatio de actione scenica]. München 1727 [Nachdruck übers. und hrsg. v. Alexander Rudin. Bern/München 1975], S. 179, hier zitiert aus der dem lateinischen Original angefügten Übersetzung des Werkes).

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den Leibesgesten der Figuren ein Paradigmenwechsel an, der in einer ersten groben Fassung als ein Wechsel von Ruhe zu Bewegung charakterisiert werden kann und der durch die Darstellung der Kleidung noch gestützt wird: Die spanische Tracht der „alten“ Deutschen fällt in schweren, unbewegten Linien an den Körpern herab, wogegen die auf Taille geschnittenen und mit schwingenden Rockfalten versehenen Justeaucorps der „jetzigen“ Deutschen die körperliche Bewegtheit der Gruppe unterstreichen. Die in diesem Frontispiz bildlich dargestellte Veränderung im Körperverhalten43 lässt sich nun auch im Spiegel des Umgangsdiskurses erfassen, unter anderem im Wechsel entsprechender Schlüsselwörter. Zentral ist dabei das der Gravität. Der Ausdruck lässt sich seit dem 16. Jahrhundert im Deutschen belegen44 und wird, wie das davon abgeleitete Adjektiv, in erster Linie zur Beschreibung eines körperkommunikativen Auftretens verwendet, seltener auch zur Charakterisierung verbalen Verhaltens.45 So wird etwa in einer „alamodischen“ Sittenlehre von 1630 von jungen Frauen gefordert, dass sie „fein züchtig / erbar vnd grauitätisch“46 tanzen sollen, und von einem jungen Kavalier wird erwartet, er solle „gerad mit dem Leib vnd Kopff daher gehen / und die Leuth frölich vnd redlich ansehen / mit einer schönen Grauitet“47. Geradezu phraseologische Qualität hat im 17. Jahrhundert die Wendung „gravitätisch wie ein Spanier“, die meist mit Bezug auf die Art und Weise des Gehens verwendet wird.48 Doch während vor allem in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Begriffe ‚Gravität‘ bzw. ‚gravitätisch‘ durchwegs positiv verwendet werden – als Synonyme finden sich ‚ansehnlich‘ und ‚ernsthaft‘49, ‚würdevoll‘, ‚gemessen‘, ‚gewichtig‘50 –, gilt dies schon gegen Ende

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Dass bei von Rohr die Veränderung der „Teutschen“ anhand männlicher Figurenpaare dargestellt wird und nicht anhand von männlich-weiblichen Paaren, liegt einerseits in der allgemein patriarchalen Struktur sowohl der deutschen als auch überhaupt europäischer Gesellschaften der Zeit begründet, verweist aber zudem auf das Faktum, dass in der sozialsemiotischen Selbstbewusstheit der Oberschichten dem Körperauftritt des Mannes ein besonderes Gewicht zugemessen wird. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbdn. Leipzig 1854-1960, Eintrag „Gravität“. Peter Burke (Die Sprache der Gestik im Italien der Frühen Neuzeit. In: Peter Burke: Eleganz und Haltung. Berlin 1998, S. 85-106, S. 98) belegt für das spätere 16. Jahrhundert die lateinische Formulierung „gestum gravem“ in der Beschreibung italienischer Körperkultur durch Hieronymus Turler. Hobelbank [wie Anm. 8], S. 49f. Ebd., S. 72. Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 44), Eintrag „gravitätisch“. Auch der Wörterbuch-Teil des Manual gibt als Beleg für „gravitätisch“: „er hat einen gravitätischen Gang an sich / wie ein Spanier“ (Wächtler: Manual [wie Anm. 6], S. 149. Ebd., S. 149. Vgl. auch Zedler: Universal-Lexicon (wie Anm. 14), Bd. 8, Sp. 1738: „Ernsthafftigkeit und Grauität ist denen Worten nach einerley“. Vgl. Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 44), Eintrag „Gravität“, wo unter anderem folgende Belege und Erläuterungen gegeben werden: „die ehrentänze, sonder hüpfen, mit stiller gravität verknüpfen, und par bey par in ordnung stehn: [...] hierauf mit wolanständgen grüssen, und ernsthaft fortgesetzten füssen, bedachtsam auf und nieder gehen poesie d. Niedersachsen (1721) 6, 140

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des Jahrhunderts nicht mehr unbedingt. So will zwar eine Anstandslehre von 1695, die an ein Zielpublikum königlich-fürstlicher und gräflicher Hofmeister gerichtet ist,51 „in der Gesprächlichkeit“ eine „Stand=mässige Hoheit und ziemende Gravität [nicht] ausgeschlossen haben“, mahnt aber bereits zu einem „Mittel=Weeg“ zwischen „Würdigkeit und Anmuth“.52 Und Julius Bernhard von Rohr selbst hält zwar einerseits fest, dass „manch ansehnlich geistlich und weltlich Amt [...] eine gravitaetische und ernsthaffte Mine“53 erfordere, andererseits rückt die Bezeichnung „gravitätisch“ auch bei ihm bereits in die Nähe von negativen Charakterisierungen des kommunikativen Auftritts wie „finster“ oder auch „albern“ (ebd., S. 194).54 Dieser Wandel in den Normen für körperkommunikative Praktiken zeigt sich zudem in der sich verändernden Wahrnehmung des Körpers in anderen Kontexten, wie dies etwa Rudolf Braun und David Gugerli für die Geschichte des Tanzes und Henning Eichberg für die adligen Exerzitien gezeigt haben.55 Das Geometrische, Ausladende und Positionelle, das im 17. und in Teilen auch noch bis weit bis ins 18. Jahrhundert hinein adliges Körperverhalten auszeichnet, wird allmählich durch die Ideale des Leichten, Schlanken und Bewegten ersetzt.56 Während

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Weichmann“; „ähnlich in der kennzeichnung würdevoller, gemessener, gewichtiger art zu reden: dasz du nicht durch eine spanische und pedantische gravität deine zuhörer verdruszlich machst THOMASIUS ausübung d. vernunfft-lehre (1699) 136“. Im Titel von Stands=Person (wie Anm. 12) heißt es mit Blick auf das Zielpublikum explizit: „Allen Hoffmeistern / und denen Königl. Fürstl. und Gräffliche Kinder anvertrauet / hochnützlich zu gebrauchen“. Ebd., S. 182f. Es ist eine beständige Gefahr, solche Belegstellen einer Überinterpretation zu unterwerfen. Dennoch soll hier angemerkt werden, dass in der Kontrastierung von „Würdigkeit“ und „Anmuth“ allenfalls auch der Gegensatz einer auf Distanznahme („Würdigkeit“) bzw. einer auf Nähe und personelle Attraktivität („Anmuth“) ausgerichteten sozialen Ordnung angesprochen ist. Rohr: Einleitung zur Ceremoniel=Wissenschafft (wie Anm. 38), S. 189. Noch in Kotzebues dramatischer Satire Die Kleinstädter, 1802 uraufgeführt, ist „Gravität“ das Hauptwort der die alte Generation verkörpernden Frau Staar, einer Exponentin eben jenes kleinstädtischen Bürgertums, das sich an überkommenen adligen Verhaltensidealen orientiert und sich auf diese Weise eine nach ‚oben‘ orientierte Identität zuweist (so etwa in der Äußerung: „Zu meiner Zeit ließ sich keiner malen, der nicht in Amt und Würden stand, oder wenigstens zehn Jahre verheiratet war. Dann geschah es aber auch mit der gehörigen Gravität, in Lebensgröße, einer Spitzenhalskrause, und einem Blumenstrauße in der Hand.“ August von Kotzebue: Die deutschen Kleinstädter. In: August von Kotzebue. Schauspiele. Hg. von Jürg Mathes. Frankfurt a.M. 1972, S. 399-466, S. 403. Dass Kotzebue noch am Beginn des 19. Jahrhunderts produktiv auf diesen Schlüsselbegriff zurückgreifen kann, ist ein Beleg für die epochenübergreifende Reichweite des alten Gravitas-Ideals und damit auch ein Beleg des ‚langen‘ kollektiven Gedächtnisses. Vgl. Rudolf Braun/David Gugerli: Macht des Tanzes, Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550-1914. München 1993; Hennig Eichberg: Leistung, Spannung, Geschwindigkeit, Sport und Tanz im gesellschaftlichen Wandel des 18./19. Jahrhunderts. Stuttgart 1978. Vgl. auch Angelika Linke: „Ich“: Zur kommunikativen Konstruktion von Individualität. In: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 105) Tübingen 2006, S. 45-67, S. 52f.

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es etwa zu Beginn des 18. Jahrhunderts zumindest für die Begrüßung einer vornehmen Person noch angemessen erscheint, dass man die Hand bei der Verneigung „bald bis zur Erden führet“57, so erscheint solches ausladende Körperverhalten den Zeitgenossen schon bald als übertrieben, und am Ende des Jahrhunderts gilt eine Verbeugung, bei welcher der Kopf unter die Taillenlinie fällt, auch gegenüber noch so hochstehenden Personen als unschicklich, ja als lächerlich.58 Es ist nun die „sanfte“59 Verbeugung, die gefordert ist, vertikal wie horizontal ausladende, „gewaltthätige Bewegungen“60 hingegen werden abgelehnt. Neben diesen eher quantitativen, auf das (Aus-)Maß der Körperbewegung bezogenen Veränderungen lassen sich aber auch solche qualitativer Art beobachten, die stärker auf die Form von Körperhaltung und Körperbewegung ausgerichtet sind. Dem einem veränderten ästhetisch-semiotischen Ideal verpflichteten Blick ist nun etwa der eckige Winkel des Armes ein „widerlicher Anblick“61, wogegen „die Wellenlinie als für die Schönheitslinie anerkannt“ gilt.62 Wenn wir nach dieser Wahrnehmungs-Anleitung nun nochmals die Darstellung der „alten“ und der „jetzigen Teutschen“ bei Julius Bernhard von Rohr betrachten, so zeigt sich, – dass beim linken Paar die Armhaltung eben eine solche „widerliche“ eckige ist, die zudem speziell herausgestellt wird (der Zeichner lässt den Mantel über die Schulter der Figur zurückfallen und gibt damit den Blick auf den Arm frei), – dass hingegen bei den beiden „jetzigen“ Deutschen die Armwinkel sogar dort, wo sie anatomisch unvermeidlich sind, in der Darstellung abgerundet erscheinen und auch ansonsten in der Darstellung der Figuren dem Ideal der Wellenlinie Genüge getan wird. Wie langlebig dieses neue Schreckbild des eckigen Winkels ist, zeigt sich auch noch in der im Göttinger Taschenkalender auf das Jahr 1789 veröffentlichten berühmten Kupferstich-Serie zu den „Handlungen des Lebens“ von Daniel Chodowiecki. Diese „Hand-

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Menantes [d. i. Christian Friedrich Hunold]: La Civilité moderne, oder die Höflichkeit der heutigen Welt. Nach der neuesten Französischen Edizion übersetzt […]. Hamburg 1724, S. 167. Vgl. Georg Karl Claudius: Kurze Anweisung zur wahren feinen Lebensart nebst den nöthigsten Regeln der Etikette und des Wohlverhaltens in Gesellschaften für Jünglinge, die mit Glück in die Welt treten wollen. Leipzig 1800, S. 116f. Ebd., S. 38. Ebd., S. 62. Claudius: Kurze Anweisung zur wahren feinen Lebensart nebst den nöthigsten Regeln der Etikette und des Wohlverhaltens in Gesellschaften für Jünglinge, die mit Glück in die Welt treten wollen (wie Anm. 60), S. 62. Ebd. Dieser Form-Gegensatz lässt sich auch auf den Wandel in der Gartenkunst vom Ideal des französischen Gartens mit seinen formal-ornamentalen Anlagen (mit dem Prototyp der Anlagen von Versailles) zum Ideal des englischen Landschaftsgartens, wie er etwa durch die Gartenanlagen von Wörlitz-Dessau repräsentiert wird, beziehen – ein Hinweis, den ich Arnulf Deppermann verdanke.

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Abb. 5

lungen“ werden, von bissigen Kommentaren Georg Christoph Lichtenbergs begleitet, in Doppelbildern illustriert, wobei jeweils „Natur und Affektation“63 gegeneinander gestellt werden.64 In dem in Abb. 5 wiedergegebenen Doppelbild, das die Handlung des Grußes zeigt, sind die eckigen Winkel als prägendes Charakteristikum des ‚affektierten‘, d. h. explizit abgelehnten Körperauftritts nicht zu übersehen. Das ‚natürliche‘ Paar hingegen entspricht vollendet dem Ideal der Wellenlinie – sowohl im Bewegungsverhalten als auch im Bekleidungsstil. Allerdings: Wir haben es hier – ein halbes Jahrhundert nach Er-

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Georg Christoph Lichtenberg: Handlungen des Lebens. Erklärungen zu 72 Monatskupfern von Daniel Chodowiecki. Vorwort von Carl Brinitzer. Neudruck. Stuttgart 1971, S. 33. Dieses Ideal der ‚Natürlichkeit‘ ist programmatisch bürgerlich konnotiert, auch in den Darstellungen Chodowieckis – in vielen Doppelbildern sind die ‚natürlichen‘ Paare entsprechend deutlich einfacher gekleidet als ihre Gegenstücke. Vgl. auch Linke: Sprachkultur und Bürgertum (wie Anm. 5), S. 77ff.

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scheinen der von Rohr’schen Ceremoniel=Wissenschaft mit ihrem Frontispiz – nicht mehr mit adliger, sondern mit bürgerlicher Selbstthematisierung zu tun,65 genauer: mit bürgerlicher Kritik an adligem bzw. als adlig konnotiertem Körperverhalten, die hier im Dienst der Karikatur allerdings auf ein bereits bei von Rohr als nicht mehr gültig formuliertes Ideal zurückgreift. Ich komme am Schluss meiner Überlegungen nochmals auf diesen Punkt zurück. Insgesamt ist jedoch zu konstatieren, dass sich in der Kleidermode bzw. in der Kostümgeschichte von der zweiten Hälfte des 17. ins 18. Jahrhundert hinein trotz des insgesamt wenig einheitlichen Bildes vor allem in der Herrenmode eine zunehmende Schmälerung und ‚Verkurvung‘ der Silhouette beobachten lässt. Dazu kommt der Wegfall von ausladenden Schmuckelementen an Kragen, Ärmeln, Kniebund, Wade und Schuh, in der Haartracht die Abflachung und Verkürzung der Perücken und in der Kopfbedeckung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zunächst der Ersatz des steifen und steilen Hutes, wie er auch auf dem Frontispiz bei von Rohr als Auszeichnung der „alten Teutschen“ zu sehen ist, durch den ausladendschwungvollen Plumagenhut der „jetzigen Teutschen“ und dann, an der Wende zum 18. Jahrhundert, durch den deutlich kleineren Dreispitz.66 Die Analogien zu dieser Verschlankung in der Damenmode sind weniger augenfällig, aber dennoch beobachtbar.67 Charakteristisch ist die Verkleinerung des Kopfes von der hohen Fontangefrisur zum Lockenkopf des Rokoko sowie vor allem für die Zeit nach 1715 eine Verfeinerung der Stoffe, der Ersatz großblumiger barocker Muster durch Ranken- und kleinere Blütenmuster sowie eine allgemeine Reduktion üppiger Schmuckelemente.68 4.2 Sprachliche Muster und Formen: Vom Ausladenden zum Schlanken Es fragt sich nun, ob sich zu den im Körperzeremoniell und in der Mode konstatierten Verschiebungen homologe Veränderungen im Sprachgebrauch finden lassen. Dies

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Dass wir in diesen primär an ein bürgerliches Publikum gerichteten Darstellungen nun auch nicht mehr männliche, sondern männlich-weibliche Paare vorgestellt bekommen, kann als Verweis auf die zunehmende sozialsemiotische Aufladung des weiblichen Körperauftritts gelesen werden. Vgl. Thiel: Geschichte des Kostüms (wie Anm. 26), S. 231f. sowie 236. Dies gilt allerdings nicht für die (auch am österreichischen Hof gepflegte) spanische Hoftracht, die bis weit ins 18. Jahrhundert hinein am großen Reifrock festhielt (Ebd., S. 224; Boehn: Die Mode. Menschen und Moden im achtzehnten Jahrhundert [wie Anm. 41], S. 136ff.). Der Reifrock, wie er dann im Rokoko in ganz Mitteleuropa – in recht unterschiedlichen Ausführungen – wieder typisch wurde, war insgesamt leichter und beweglicher und in erster Linie seitlich ausladend. Von der Seite betrachtet erscheinen die Kleider flach und besitzen kein Volumen. Vgl. Thiel: Geschichte des Kostüms (wie Anm. 26), S. 251. Insgesamt erscheint die (höfische) Herrenmode in ihrer Entwicklung ‚konsistenter‘ und in ihrem sozialsemiotischen Ausdruckswert eindeutiger als die Damenmode; und auch wenn sich einige Parallelen erkennen lassen, ist die sozialsemiotische ‚Besetzung‘ von Herren- und Damenmode nicht denselben Mustern bzw. Relationen unterworfen.

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scheint – gerade mit Blick auf bestimmte ‚Üppigkeiten‘ des Sprachgebrauchs – der Fall zu sein. So zeigt sich das 17. Jahrhundert in der Sprachgeschichte des Deutschen als die „Blütezeit des überlangen und mehrgliedrigen Satzgefüges“69, in dem zudem die Verwendung von Satz- und Satzgliedkonnektoren einen Höhepunkt erreicht.70 Gerade letzteres ist insofern interessant, als die einzelnen Konnektoren zum Teil noch wenig spezialisiert sind71 – ihre gehäufte Verwendung in sehr unterschiedlichen Textsorten lässt sich deshalb nur bedingt sachfunktional begründen, könnte aber der Effekt eines gewissen sprachlichen Schmuckbedürfnisses sein. Neben dem Satzgefüge nimmt zudem auch der durchschnittliche Elementarsatz im 17. Jahrhundert an Umfang deutlich zu.72 Und nicht zuletzt zeichnet sich die Literatursprache durch jene ‚Amplifikation‘ und ‚Steigerung‘73 aus, die zum stilistischen Signum der Epoche erhoben wird.74 Im Verhältnis dazu ist die Entwicklung der Literatur- wie der Kanzlei- und Wissenschaftssprache im 18. Jahrhundert gegenläufiger Natur, d. h. sie ist durch eine auffällige Umfangsverkürzung der Ganzsätze sowie eine Häufigkeitsverschiebung von Hypotaxe zu Parataxe cha-

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Wladimir Admoni: Syntax des Neuhochdeutschen seit dem 17. Jahrhundert. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hg. von Werner Besch, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger. 2. Halbbd. Berlin/New York 1985, S. 1538-1556, S. 1540. Vgl. Ebd. und Wladimir Admoni: Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich des neuhochdeutschen Satzgefüges, 1470-1730: ein Beitrag zur Geschichte des Gestaltungssystems der deutschen Sprache. (Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen 56/4) Berlin 1980, S. 352. Admoni: Syntax des Neuhochdeutschen seit dem 17. Jahrhundert (wie Anm. 69), S. 1538-1556, S. 1540 und Admoni: Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich des neuhochdeutschen Satzgefüges, 1470-1730: ein Beitrag zur Geschichte des Gestaltungssystems der deutschen Sprache (wie Anm. 70), S. 352. Vgl. Admoni: Syntax des Neuhochdeutschen seit dem 17. Jahrhundert (wie Anm. 69), S. 1540. Diese Termini benutzt unter anderen Manfred Kaempfert zur Beschreibung der Charakteristika der Literatursprache des 17. Jahrhunderts und subsumiert darunter etwa die „Verbreiterung des Ausdrucks“ durch „Erweiterung bzw. Umschreibung des Ausdrucks“ (Manfred Kaempfert: Die Entwicklung der Sprache der deutschen Literatur in neuhochdeutscher Zeit. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hg. von Werner Besch, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger. 2. Halbbd. Berlin/New York 1985, S. 1810-1837, S. 1815) oder die „Häufung, in meist asyndetischer Reihung gleicher Satzteile“ (ebd., S. 1816). Ein interessantes Phänomen bilden die von Admoni mehrfach beschriebenen „unpräzisen Konstruktionen“ des Satzgefüges (vgl. etwa Admoni: Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache [wie Anm. 70], S. 352 und ders.: Historische Syntax des Deutschen. Tübingen 1990, S. 196f.). Es handelt sich dabei um umfangreiche Satzgefüge aus mehreren Nebensätzen, die aber keinen Hauptsatz enthalten und die ohne einen solchen ‚architektonischen‘ Bezugspunkt entsprechend schwer verständlich sind. Eine mögliche Interpretation wäre auch hier, dass die Satzkonstruktion sich weniger dem Bemühen um logische Präzisierung des Inhalts verdankt, sondern vielmehr als ein spezifischer Sprachgestus mit einem bestimmten soziokulturellen Ausdruckswert zu lesen ist.

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rakterisiert, eine Veränderung, die Vilmos Ágel als „tendenziell epochentypisch“75 bezeichnet. Auch die Syntax wird also, wenn man das so formulieren will, schlanker. Und wenn Wladimir Admoni zur zusammenfassenden Beschreibung der von ihm erarbeiteten Charakteristika des Satzbaus in absolutistischer Zeit den Terminus „gespanntes Gestaltungssystem“76 wählt, so ist es sicherlich zu einem Teil, aber vielleicht doch nicht ausschließlich terminologische Verführung, wenn man hierin eine gewisse Parallele zum Körpermerkmal der Spannung in adliger Leibesgestik sieht. Die zunehmende Abkehr von dieser „gespannten“ und ausladenden Gestaltung des Sprachgebrauchs zeigt sich auch im Metadiskurs der Umgangslehren. Hier sind nun, so die Forderung in einer Conversationslehre vom Ende des 18. Jahrhunderts – „leichte aber feine Komplimente“77 gefragt, wer dagegen „keine Maaß hält / und zu sehr damit ausschweiffet“78 oder sich der „altfränkischen Perioden [bedient], denen man die ängstliche Drechseley ansieht“79, der passt nicht mehr in die Zeit.80 Die Forderung nach „Leichtigkeit“81 und „Feinheit“ im Compliment wird in der Ablehnung der „altfränkischen Perioden“ also auch im Umgangsdiskurs auf konkrete syn-

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Vilmos Ágel: Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hg. von Werner Besch, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger. 2. Halbbd. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin/New York 2000, S. 1855-1903, S. 1879. Wladimir Admoni: Die Entwicklung des Gestaltungssystems als Grundlage der historischen Syntax. In: Neuere Forschungen zur historischen Syntax des Deutschen. Referate der internationalen Fachkonferenz Eichstätt 1989. Hg. von Anne Betten. (Reihe Germanistische Linguistik 103) Tübingen 1990, S. 1-13, passim. Vgl. hierzu auch Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. II: 17. und 18. Jahrhundert. Berlin/New York 1994, S. 279. Umgekehrt spricht Admoni mit Blick auf die Entwicklung der Syntax des Deutschen seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert davon, dass die Sprache „biegsamer und beweglicher“ werde (Die Entwicklung des Gestaltungssystems [diese Anm.], S. 10). John Trusler: Anfangsgründe der feinen Lebensart und Weltkenntniß, zum Unterricht für die Jugend beiderlei Geschlechts, auch zur Beherzigung für Erwachsene. Aus dem Englischen übersetzt von Karl Philipp Moritz. Zweite Auflage, umgearbeitet, auch mit Zusätzen und einer Nachlese aus Chesterfield und anderen, imgleichen hin und wieder mit einigen Abänderungen versehen durch August Rode. Berlin 1799, S. 58f. Menantes: Die Manier Höflich und wohl zu Reden und Leben (wie Anm. 27), S. 8. Claudius: Kurze Anweisung zur wahren feinen Lebensart (wie Anm. 58), S. 136. Die Vokabel „altfränkisch“ begegnet im Umgangsdiskurs des 18. Jahrhunderts immer wieder als Negativcharakterisierung für alles Überholte. Die durchgängige Bedeutsamkeit dieser normativen Schlüsselwörter für das Sprachbewusstsein im 18. Jahrhundert belegen auch die von Gotthard Lerchner aus Christoph Martin Wielands Teutschem Merkur ausgezogenen sprachkommentierenden Ausdrücke, wo „Zierlichkeit“, „Glätte“ und „Leichtigkeit“ unter den häufig gebrauchten rangieren (Gotthard Lerchner: Deutsche Kommunikationskultur des 18. Jahrhunderts aus der Sicht Wielands im ,Teutschen Merkur‘. In: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 44 [1991] H. 1, S. 5260, S. 57). Lerchner führt auch Wielands explizite Forderung an den zeitgenössischen Sprach-

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taktische Muster bezogen. Vor allem aber bezieht sie sich auf den schieren Umfang von Complimenten und Redebeiträgen.82 So belegt Manfred Beetz in seiner gewichtigen Studie zur frühmodernen Höflichkeit83 eine deutliche Verkürzung von Tanzkomplimenten, d. h. von Aufforderungen zum Tanz, vom 17. ins 18. Jahrhundert84. Und da in Umgangslehren und Complimentierbüchern oft lange Listen mit ausformulierten Vorlagen für Complimente verschiedenster Funktion gegeben werden, serielle Untersuchungen hier also ohne weiteres möglich sind – im übrigen ein noch ungenutztes Feld historischer Soziopragmatik – lässt sich die Beobachtung von Beetz leicht an weiteren Beispielen überprüfen und bestätigen. Als plakatives Beispiel auf knappem Raum können die drei nachfolgenden Texte dienen, die aus unterschiedlichen Umgangslehren von 1729, 1736 und 1753 stammen, aber alle drei als Vorlage für ein sogenanntes Gratulationscompliment gegenüber einem vornehmen Herrn gedacht sind. Es wird bereits auf den ersten Blick deutlich, dass die in chronologischer Abfolge angeordneten Versionen (die sich inhaltlich und auch in einzelnen Formulierungen durchaus ähneln85) immer kürzer werden und der Vorlagentext von 1753 gegenüber der Version von 1729 nur noch knapp halb soviel Wörter umfasst. Beispieltexte für Gratulationscomplimente gegenüber einem vornehmen Herrn: I Hochgeehrtester Herr. Indem ich ihnen bißhero alle Jahre zu dessen Geburts=Tage gratuliret habe / so würde ich unrecht thun / wann ich solches heur unterlassen wollte. Es dürffte zwar derselbe aus diesen Worten den Schluß machen / als ob ich es nur aus Gewohnheit thäte / oder den angefangenen Gebrauch darum fortsetzen begehrete / damit derselbe nicht Ursach hätte / mich einer Hinläßigkeit zu beschuldigen; ich versichere aber dabey / daß es von Grund des Hertzens auch [!] Hochachtung und Liebe zu dero werthesten Person geschiehet / die ich we-

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gebrauch an, „leicht und nett“ zu sein. (Teutscher Merkur 1797, I, S. 77; hier zitiert nach Lerchner: Deutsche Kommunikationskultur [diese Anm.], S. 55). Interessant sind auch die jeweiligen Begründungen der Normen. Wie Manfred Beetz belegt, werden im 17. Jahrhundert durchaus auch vorkommende Hinweise darauf, dass man sich hohen Herren gegenüber eher kurz zu halten habe, im Kontext der Decorums-Vorstellungen begründet: Wer Untergebenen Zeit und Aufmerksamkeit widmet, schadet seinem eigenen Decorum. Im 18. Jahrhundert hingegen wird zunehmend mit sachbegründetem Zeitdruck argumentiert: Höhergestellte haben Wichtigeres zu tun als Untergebenen zuzuhören. (Beetz: Frühmoderne Höflichkeit [wie Anm. 15], S. 282f.) In gewisser Weise wird also im 17. Jahrhundert Zeit noch als symbolischer ‚Raum‘ verrechnet. Ich verdanke dieser detailreichen, immens dichten Arbeit, mit der Manfred Beetz den Grundstein für eine Kulturgeschichte der Höflichkeit vorgelegt hat, sehr viele Anregungen, auch über diejenigen hinaus, die sich in konkreten Textverweisen festmachen lassen. Vgl. ausführlicher Beetz: Frühmoderne Höflichkeit (wie Anm. 15), S. 281ff. Beetz spricht in diesem Zusammenhang ebenfalls von „ästhetischer Verschlankung“ (ebd., S. 281). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Verfasser von Umgangslehren (auch) im 18. Jahrhundert Vorgängertexte rezipieren und nutzen. Zum Teil lassen sich direkte Textübernahmen nachweisen. Gerade deshalb jedoch sind deutliche Abweichungen bei funktional/inhaltlich ähnlich orientierten Texten/Passagen aussagekräftig: Sie sind am ehesten veränderten Normen und Idealen verpflichtet.

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gen ihrer mit gewidmeten Wohlgewogenheit sehr hoch schätze / und mich dahero bey allen Gelegenheiten bestrebe / denselben die Ergebenheit meines verbundenen Gemüts kund zu machen. Hiervon nun abermal eine Probe abzuleben / bediene ich mich hierzu ihres morgenden Geburts=Tages / den der Allerhöchste ihn noch viele Jahr bey guter Gesundheit und aller selbst erwünschter Prosperität erleben lassen; auch ihn dabey allzeit mit neuer Zufriedenheit erfreuen wolle. Was meinem Wunsch an Worten und Nachdruck abgehet / das will ich in meinem Gebett von GOtt zu erbitten niemal aufhören.86 II Ew. Wolgeb. (Hochedelgeb.) erlauben gnädig, daß mich der Kühnheit unterfange Ihnen an Dero hoch-erfreulichen Geburtstags-Fest meinen unterthänigen Glükwunsch abzustatten. Die hohe Ehre, welche von Ew. Wolgeb. schon geraume Zeit hero ganz unverdient geniesse, treibet mich zur inbrünstigen Bitte gegen dem Höchsten, Selbige, wie bißhero, als auch hinfüro noch lange und undenkliche Jahre, in dessen Protection und gnädige Erhaltung zu befehlen. Damit sie dem gantzen Vatterland zu Nuz, ihren hohen Angehörigen zum reichen Trost und Vergnügen, deren sämtlichen Clienten, und mir insonderheit, zum gnädigen Schuz, bis an ihr spates Alter, in allem hohen Flor und gesegneter Prosperität, grünen und blühen mögen. Der ich mich Ew. Wolgeb. Gnade und hohen Gewogenheit fernerhin unterthänig empfehle.87 III Ew. HochEhrw. (HochEdelgeb.) HochEdl. etc. habe zu diesem Dero hocherfreulichem Geburts-Feste gehorsamst gratuliren und wünschen sollen, daß der grosse GOtt dieselben wie bißher, also auch ferner in seinen väterlichen Schutz nehmen, sie für allem Unglück gnädiglich behüten, und Ihnen noch lange Zeit diesen frohen Tag sehen lassen wolle, damit ich noch oft Gelegenheit habe, mich über das Glück meines Patrons zu erfreuen, und Dero Schutzes und unschätzbaren Gewogenheit ferner zu geniessen.88

Christian Friedrich Hunold, der in seiner 1738 erschienenen Manier, Höflich und wohl zu Reden und Leben ebenfalls Verkürzungen als Verbesserungen vorschlägt, vermerkt denn auch explizit, dass die „Weitläufftigkeit“ in Complimenten zu vermeiden sei und begründet: „Je weniger ein Compliment ausstudiret scheinet / desto bessere Grace hat es bey einem Patron“89. Es geht nun nicht mehr um Gravität, sondern um „Grace“, eine Verschiebung, die offensichtlich auch mit einem Ersatz von Quantität durch Qualität zu

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Complimentist (wie Anm. 19), S. 133f. [Anonym]: Kürtzliche Anweisung zu Complimenten und höflicher Condvite für Personen bürgerlichen Standes, Bey Geburten, Gevatterschafften, Kindtauffen, Anwerbungen, Verlöbnissen, Hochzeiten, Gastereyen, Geburts=Nahmens= und Neu=Jahrs=Tagen, Kranckheiten, Absterben, und Begräbnissen. Nebst einem wohl=eingerichteten Trenchier-Büchlein, in möglichster Deutlichkeit verfasset. Frankfurt/Leipzig 1736, S. 150f. Ethophilus: Neues und wohl eingerichtetes Complimentir= und Sitten=Buch. Darinnen gezeiget wird, Wie sich sonderlich Personen Bürgerlichen Standes, bey denen im gemeinen Leben vorfallenden Begebenheiten, als: Anwerbungen, Verlöbnissen, Hochzeiten, Geburten, Gevatterschafften, Kind=Tauffen, Kranckheiten, Absterben, Begräbnissen, Gastereyen, Geburts=, Nahmens=, Neu=Jahrs=Tagen, u.d. gl. In Worten und Wercken so klug als höflich verhalten, und durch gute Aufführung beliebt machen sollen. Alles durch geschickte Complimente, Anleitung zur guten Aufführung, und Höflichkeit überhaupt, als auch was jedes Orts ins besondere in Acht zu nehmen ausgeführet, und nebst Einem Trenchier=Büchlein mitgetheilet […]. Fünfte vermehrte Auflage. Mit Kön. Poln. und Churfürstl. Sächsis. allergn. Privilegio. Nordhausen 1753, S. 168. Menantes: Die Manier Höflich und wohl zu Reden und Leben (wie Anm. 27), S. 82.

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tun hat, sowohl in verbaler wie in körperkommunikativer Hinsicht, denn, wie es bei Hunold an anderer Stelle heißt: Eine gute Art / womit es [das Compliment: A. Linke] vorgebracht wird, und eine ehrerbietige Stellung / indem man so lange von seinem Stuhl sich mit gebogenem Leibe erhebet / gibt so wenigen Worten mehr Nachdruck / als weitläuffige Complimenten / die vornehme und gescheute Leute niemahls gern [...] hören.90

Die „gute Art“ und der „gebogene Leib“ ersetzen nun sowohl verbale Ausführlichkeit als auch die tiefe Verbeugung, körperliche wie verbale Geste sind damit verschlankt. Zur „guten Art“ scheint zudem auch eine gewisse ‚Entschmückung‘ der Rede zu gehören. So fällt beim Vergleich von Text III mit Text II der – wenn auch nicht ganz konsequent durchgehaltene – Verzicht auf Wort- bzw. Formulierungsverdoppelungen sowie die Streichung von amplifizierenden Adjektiven auf, so dass etwa aus lange und undenkliche Jahre (Text II, Z. 5) nun einfach lange Zeit (Text III, Z. 4), aus Protection und gnädige Erhaltung (Text II, Z. 5) der väterliche Schutz (Text III, Z. 3) und aus in hohem Flor und gesegneter Prosperität (Text II, Z. 8) das einfache Glück (Text III, Z. 5) wird – wir haben hier sozusagen ein zeitgenössisches Schulbuchexempel des Rückbaus barocker Amplifikation. Unter das Verdikt des „ausstudierten“ und „gedrechselten“ Sprachgebrauchs fällt im übrigen auch aus der Perspektive der Zeitgenossen der zu üppige Gebrauch von Konnektoren sowie deren Auswahl – so vermerkt gerade Hunold unter anderem, dass es ihm „ganz nicht [gefalle] / mit denen Bindungs=Wörtern: Zuvorderst / sintemahl / nachdem aber / hiernächst / im übrigen wie nun etc. also in Complimenten aufgezogen zu kommen“ – und zwar deshalb, „weil diese Connexions-Formuln auch in Briefen sparsam müssen gebrauchet werden / und es besser / wenn alles auseinander selber fliesset; wievielmehr in Complimenten.“91 Der Begriff des „Fließens“, zu dem Hunold hier greift, passt zu den bereits genannten neuen Schlüsselbegriffen des „Leichten“ und „Feinen“ sowie zur Ästhetik der Wellenlinie in der Körpergestik und stellt einen weiteren Gegenbegriff zum Gravitas-Ideal des frühen 17. Jahrhunderts dar. Gleichzeitig verweist Hunolds Bemerkung darauf, dass nunmehr, in Kontrast zum Anstandsdiskurs des 17. Jahrhunderts, wo bei Beispieltexten für zeremoniellen Sprachgebrauch nicht zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit getrennt wird, ein deutlicherer Unterschied zwischen geschriebener Sprache – „in Briefen“ – und gesprochener Sprache – „in Complimenten“ – gemacht wird und dass die neuen Anforderungen des Leichten, Feinen und Fließenden die Mündlichkeit stärker betreffen als die Schriftlichkeit.

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Ebd., S. 24. Menantes: Die Manier Höflich und wohl zu Reden und Leben (wie Anm. 27), S. 85. Die Ablehnung des übermäßigen Gebrauchs von Konnektoren sowie die Forderung nach einfachem Satzbau finden sich dann auch bei Gottsched (vgl. Polenz: Deutsche Sprachgeschichte [wie Anm. 76], S. 277).

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Des Weiteren sei an dieser Stelle auch noch kurz hingewiesen auf eine Veränderung in der Schriftlichkeit oder, um einen Begriff von Sybille Krämer für den hier gegebenen Kontext anzuwenden,92 in der ‚Schriftbildlichkeit‘ der beobachteten Epoche: Im 17. und frühen 18. Jahrhundert finden wir im Schriftbild bzw. in der Typographie geschriebener Texte noch eine (zweidimensionale) Raumsemiotik der Höflichkeit (bzw. des Machtgefälles), die sich auf die semiotische Nutzung von Raum und Körperabständen in der Face-to-Face-Kommunikation – v. a. unter Standesungleichen – beziehen lässt. Hierher gehört, um ein Beispiel zu geben, die Nutzung von Ehrenabständen zwischen der Anrede der in Widmungstexten von Büchern angesprochenen Ehrenpersonen und dem folgenden Widmungstext selbst oder auch der Ehrenabstand zwischen der Anredeformel und dem eigentlichen Haupttext in Briefen – ein Abstand, der bei höhergestellten Adressaten ganze Leerseiten umfassen konnte –, aber auch die Nutzung von Großbuchstaben wie von sehr großem Schriftsatz für die Schreibung von Titeln und Ehrenbezeichnungen sowie von ganzen Texten, die sich an Respektspersonen wenden. Diese Raumsemiotik der ehrenden Distanz bzw. der ‚Vergrößerung‘ des Adressaten verschwindet im Verlauf des 18. Jahrhunderts bis auf kleinere Relikte, wie wir sie etwa auch heute noch in der Großschreibung pronominaler Höflichkeitsanreden finden. Eine allgemeine Verschlankung und Reduktion also auch hier. Der Wechsel vom Ideal der Gravitas zu dem der Leichtigkeit, vom Positionalen und Ausladenden zum Fließenden und Schlanken lässt sich also sowohl mit Blick auf die Normen und Muster des Sprachgebrauchs, auf den Ausführungsmodus körperkommunikativer Praktiken wie auf die Linienführung und die Voluminosität des Kostüms beobachten. Die eingangs zitierten „drey Stücke“ der „Gesprächsamkeit“ – Reden, Leibesstellung und Kleider – bilden also auch mit Blick auf die skizzierten Veränderungen ein Ensemble. Dieser Ensemble-Effekt, genauer: die Transmedialität der beobachteten Veränderung lässt sich nun – dies meine erste abschließende These – als Stil bzw. als Stilwandel93 beschreiben. Und dieser Stilwandel wiederum ist – dies meine zweite These – Ausdruck und Medium einer (Selbst-)Dynamisierung der soziokulturell tragenden Schichten, die zu den gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit, v. a. aber auch zu den Entwicklungen

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Vgl. Sybille Krämer: Sprache, Stimme, Schrift: Über die implizite Bildlichkeit im Sprachgebrauch. In: Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. Hg. von Arnulf Deppermann und Angelika Linke. (Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 2009) Berlin/New York 2010, S. 13-28. Unter soziologischer Perspektive liegt hier auch der Begriff des ‚Habitus‘ im Sinne Bourdieus nahe. Mit dem Begriff des Stils hebe ich jedoch bewusst auf die beobachtbaren Ausdrucksgestalten ab, ohne dabei gleichzeitig eine soziale/soziologische Bindung in den Vordergrund zu rücken. Ich vermute vielmehr eine umfassendere kulturelle Dispositionsverschiebung, die im beschriebenen Stilwandel zum Ausdruck kommt, auch wenn sich solcher Stilwandel im Einzelfall an bestimmten (nicht notwendig an den hegemonialen) gesellschaftlichen Gruppierungen festmachen lässt.

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der Kultur- und Wissensgeschichte in einem engen Begründungszusammenhang steht. Diese beiden Thesen seien abschließend noch etwas ausführlicher erläutert.

5. Stilwandel und Dynamisierung Zunächst zum Stichwort ,Stil‘: Die skizzierte Entwicklung als eine stilistische zu beschreiben, ist einerseits sehr naheliegend, bedarf aber andererseits doch einer Begründung, zumal ,Stil‘ in der neueren Sprachwissenschaft ein prekäres Konzept ist – erst in neuerer Zeit wird es in der Textlinguistik sowie in der Variationslinguistik wieder diskutiert und als Beschreibungskategorie genutzt.94 Wenn ich nun im gegebenen Zusammenhang ebenfalls darauf zurückgreife, so verstehe ich ,Stil‘ hier immer schon als ,Kollektivstil‘ und bezeichne damit Ausdrucksmuster in den Hervorbringungen einer Kommunikationsgemeinschaft, die als kulturelle Muster mit sozialer Bindung und entsprechendem identitätsbildendem bzw. distinktiven Potenzial verstanden werden können und deren Wandel einen Akt der kulturellen Selbstveränderung einer Sozialformation darstellt. Wenn Peter von Polenz in seiner Beschreibung der Entwicklung der deutschen Schriftsprache festhält, dass der „langatmige deutsche Satzbau in der Zeit des Absolutismus“ nur sehr „wenig mit einem allgemeinen Strukturwandel der deutschen Sprache zu tun“ habe, sondern als „Variantenpräferenz“ und „ständisches Prestigesymbol“ einer sozialen Elite zu sehen sei,95 so stimme ich dieser Diagnose grundsätzlich zu, möchte aber den Terminus der ‚Variantenpräferenz‘ durch den des ‚Kollektivstils‘ ersetzen, da dieser stärker auf das sozialkonstruktivistische Potential solcher Stilisierungsprozesse verweist. Was allerdings nicht heißt, dass solche Prozesse intentional begründet oder überhaupt intentional begründbar sind. Im Gegenteil, die konzeptuelle Pointe am Begriff des Kollektivstils ist vielmehr, dass die beobachteten Ausdrucksmuster als ungesteuerter Effekt eines gleichartig-gemeinschaftlichen Welt- und Selbstverstandes der zugehörigen Kommunikationsgemeinschaft interpretiert werden und ihnen damit ein indexikalischer Charakter zugesprochen wird. Eben deshalb sind

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Vgl. hierzu exemplarisch (und mit zum Teil recht unterschiedlichen Interpretationen und Nutzungen des Stilbegriffs): Volker Hinnenkamp/Margret Selting (Hgg.): Stil und Stilisierung. Arbeiten zur interpretativen Soziolinguistik. (Linguistische Arbeiten 235) Tübingen1989; Margret Selting/ Barbara Sandig (Hgg.): Sprech-und Gesprächsstile. Berlin/New York 1997; Penelope Eckert: The meaning of style. In: Salsa 11. Proceedings of the 13th Annual Symposium about Language and Society. Hg. von Wai-Fong Chiang u. a. (Texas Linguistics Forum 47) Austin 2004, S. 41-53; Peter Auer (Hg.): Style and Social Identities: Alternative Approaches to Linguistic Heterogeneity. (Language, Power and Social Process 18) Berlin/New York 2007; Inken Keim: Die türkischen Powergirls. Lebenswelt und kommunikativer Stil einer Migrantinnengruppe in Mannheim. (Studien zur deutschen Sprache 39) Tübingen 2007. Polenz: Deutsche Sprachgeschichte (wie Anm. 76), S. 279.

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Kollektivstile – unabhängig von ihrer jeweiligen medialen oder praxeologischen Verankerung – immer auch als soziale bzw. kulturelle Stile zu lesen.96 So verstanden fungiert Stil-Praxis als Scharnier, als Transportriemen zwischen dem individuellen Subjekt als Träger-Akteur von Kultur und kulturellen Veränderungen einerseits und der kulturellen Gemeinschaft andererseits. Wenn ich schließlich den an Körpergestik, Sprachgebrauch und Mode beobachteten Stilwandel als Ausdruck und Medium einer ,Dynamisierung‘ der Gesellschaft im späteren 17. und beginnenden 18. Jahrhundert interpretiere, so geschieht dies natürlich nicht zuletzt mit Rückgriff auf unser historisches Wissen um den allmählichen Umbau der Adelsgesellschaft seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, der im Verlauf des 18. Jahrhunderts zum epochalen Wechsel von der adlig dominierten Standesgesellschaft zur Bürgergesellschaft führt, sowie mit Blick auf die Veränderungen in der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, die mit dem Label ‚Aufklärung‘ vielleicht noch zu kurz gefasst bzw. unzureichend beschrieben sind. Ich deute also die von mir exemplarisch vorgeführten stilistischen Veränderungen im Körperauftritt, im zeremoniellen Sprachverhalten wie in der äußeren Herrichtung des Körpers – allesamt Praktiken des Selbst,97 gleichzeitig aber auch Praktiken der Sozialität – als Ausdruck und Katalysator einer Dynamisierung des gesellschaftlichen Selbstund Weltverhältnisses der tragenden sozialen Schichten, welche die gesellschaftlichen, kulturellen und wissensgeschichtlichen Umwälzungsprozesse des 18. Jahrhunderts nicht nur begleitet, sondern über ihre stilistische Fassung als ausdrucksseitiges Formativ auch gleichsam die Bedingung der Möglichkeit dieser Prozesse mit konstituiert.98

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Vgl. ausführlicher Angelika Linke: Stil und Kultur. In: Rhetorik und Stilistik/Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung/An International Handbook of Historical and Systematic Research. Hg. von Ulla Fix, Andreas Gardt und Joachim Knape. 2. Teilbd. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft/Handbooks of Linguistics and Communication Science [HSK] 31/2) Berlin/New York 2009, S. 1131-1144. Die Assoziation zum entsprechenden Begriff bei Foucault ist beabsichtigt, ohne dass ich mich hier weitergehend auf Foucault beziehe. Interessant, wenn auch ohne detailliertere Untersuchungen in ihrem stilistischen Ausdruckswert nicht im Einzelnen zu klären, ist, dass die Tendenz zu Satzverkürzung und Parataxe, die das ganze 18. Jahrhundert auszeichnet, sich zwischen 1800 und 1850, d. h. in einer Zeit der politischen Restauration und Verstetigung, kurzfristig nochmals in ihr Gegenteil verkehrt, d. h., dass es in dieser Zeitspanne zu einer erneuten Zunahme von Hypotaxe und durchschnittlicher Satzlänge kommt, auch wenn „die barocken Werte nicht mehr wiederhergestellt“ (Ágel: Syntax des Neuhochdeutschen [wie Anm. 75], S. 1879) werden. Es erscheint jedoch problematisch, hierin einfach einen stilistisch markierten ‚Rückfall‘ in der historischen Entwicklung zu sehen, zumal gerade im Herrenkostüm dieser Epoche (das sich u. a. durch sehr enge Taillenführung von Frack und Weste wie durch kurvigen Schnitt der Männerhüte auszeichnet) kein Rückbezug auf ausladende und steife Formen zu erkennen ist, und auf der anderen Seite die soziale Zeichenhaftigkeit des Körperauftritts in der zunehmend bürgerlich dominierten Gesellschaft gleichzeitig deutlich zurückgenommen wird. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist damit eher eine Neukonfiguration der Bezüge zwischen den Ausdrucksdomänen des Körperauftritts, des Sprachgebrauchs und der Mo-

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6. Fazit In der historischen Rückschau auf länger zurückliegende Epochen ergibt sich zwangsläufig ein ,optischer‘ Verkleinerungseffekt, durch den, im Gegensatz zur Wahrnehmung eigener Lebensgegenwart, halbe und ganze Jahrhunderte in einer Weise überblickbar werden, dass wir – wie im hier vorgeführten Fall – auch weiter auseinander liegende Veränderungen einem Kohärenzbogen unterstellen können. Solche ‚Unterstellungen‘ müssen allerdings dem Generalverdacht der unzulässigen Entdifferenzierung ausgesetzt werden und bedürfen deshalb einer möglichst detaillierten Plausibilisierung, die hier nur in Ansätzen geleistet werden konnte. Dennoch seien abschließend die folgenden Punkte als vorläufige Ergebnisse der Untersuchung herausgehoben: – Die Adelsgesellschaft des 17. und auch noch des 18. Jahrhunderts zeichnet sich durch eine hochentwickelte Repräsentationskultur des Leibes aus, mit der auch eine hohe reflexive Aufmerksamkeit auf die sozialsemiotische Signifikanz körperkommunikativen Verhaltens sowie der äußeren Herrichtung des Körpers durch Kleidung und Körperschmuck einhergeht. Sprache erscheint in diesem Kontext als ein mit anderen körperkommunikativen Praktiken verschränktes Körpermedium,99 das zudem mit der Sozialsymbolik von Bekleidungsformen korrespondiert.100 – Die von mir nachgezeichneten stilistischen Veränderungen in den Ausdrucksdomänen von Rede, Leibesgestik und Kleidung, deren Zeichenwert ich als Dynamisierung bestimmt habe, ist in erster Linie auf das Kollektiv der tragenden Sozialformation der Zeit bezogen, d. h. auf die Adelsgesellschaft – allerdings unter Einschluss der auf diese Leitformation hin orientierten nicht-adligen Gruppierungen. Und insofern ich diese (kollektiv)stilistischen Veränderungen als Ausdruck wie als Medium der Selbstformierung des Träger-Kollektivs verstehe, postuliere ich damit eine Selbst-Dynamisierung der gesellschaftlichen Leitformation der Epoche. In welchem Verhältnis diese Selbst-Dynamisierung dann letztlich zum Umbau der adligen Standesgesellschaft zur bürgerlichen Klassengesellschaft steht (der sie vorausgeht), wäre noch näher zu bestimmen.

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de anzusetzen, deren Verständnis wiederum zum Verständnis der gesellschaftshistorischen Entwicklung der Zeit beitragen könnte. Entsprechend kommt der Stimme als dem körperlichsten Moment von Sprache eine hohe soziokulturelle Aufmerksamkeit zu, vgl. Angelika Linke: Mit schöner Stimme – von schöner Hand. Zur Sozialsemiotik von Sprechstimme und Handschrift im 18. und 19. Jahrhundert. In: Stimme und Schrift. Zur Geschichte und Systematik sekundärer Oralität. Hg. von Waltraud Wiethölter, Hans-Georg Pott und Alfred Messerli. München 2008, S. 75-90. Falls es heute nicht sowieso zum Grundverständnis der weitgehend konstruktivistisch orientierten Kulturwissenschaften gehörte, so ließe sich an der hier deutlich werdenden Historizität des Blicks auf Körper und Sprache der grundsätzliche Konstruktcharakter des Konzepts Körper wie des Konzepts Sprache aufzeigen.

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– Was mit einiger Evidenz festgehalten werden kann, ist, dass der Übergang zu einer kulturell bürgerlich dominierten Gesellschaft, der spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen ist, mit einer weiteren Reduktion des Raumbezugs in den Körperpraktiken sowie mit einer weiteren Verschlankung und Entschmückung des Körpers einhergeht, die nun allerdings – dies macht nicht zuletzt der bürgerliche Anstandsdiskurs deutlich – mit einem auffallenden Verlust der Aufmerksamkeit auf den Körper als kommunikativem Medium verbunden ist. Die weitere Verschlankung im gesamten Körperausdruck, wie sie auch die Chodowiecki’schen „Handlungen des Lebens“ programmatisch zeigen bzw. fordern, erscheint deshalb weniger als Fortführung der stilistischen Geste der Dynamisierung101 sondern vielmehr als Effekt einer Verlagerung der soziokulturellen Selbstformation und Selbstdarstellung weg vom Medium des Körpers auf das der Sprache, den ich an anderer Stelle ausführlicher dokumentiert und diskutiert habe.102 Es handelt sich damit um einen erneuten Paradigmenwechsel: Die Dominanz der Sozialsymbolik des Leibes wird im bürgerlichen Sprachprojekt durch eine Dominanz der Sozialsymbolik der Sprache bzw. des Sprachgebrauchs ersetzt. – Unabhängig von diesen Differenzierungen ist jedoch das aus den dargelegten Beobachtungen abgeleitete Postulat der Wirksamkeit (kollektiv)stilistischer Muster als Medium der Selbstversicherung und Selbstverständigung sozialer Gruppierungen. Die kollektive Ausbildung von semiotisch signifikanten Formen103 erscheint als wirkmächtiger Prozess in der kulturellen Selbstformierung einer Kommunikationsgemeinschaft.104 Dabei sind es nicht zuletzt die von sachfunktionalen Zusam-

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Andere Stiche derselben Serie zeigen sehr deutlich, dass ein betont schwungvoller Körperausdruck nur den adligen Figuren zugeschrieben wird, während die ‚natürlichen‘ Paare sich durch sehr gefasste und ruhige Körperhaltungen auszeichnen. Vgl. hierzu v. a. Linke: Sprachkultur und Bürgertum (wie Anm. 5) sowie zusammenfassend dies.: Integration und Abwehr. Standardsprachlichkeit als zentrales Moment bürgerlicher Selbstdefinition im 19. Jahrhundert. In: Das Deutsche und seine Nachbarn. Über Identitäten und Mehrsprachigkeit. Hg. von Ludwig M. Eichinger und Albrecht Plewnia. (Studien zur Deutschen Sprache 46) Tübingen 2008, S. 43-61. Plakativ zeigt sich dieser Wandel unter anderem in der signifikanten Reduktion nonverbaler Elemente von Gruß- und Komplimentverhalten vom 18. ins 19. Jahrhundert bei gleichzeitigem Ausbau der verbalen Elemente, in einer allgemeinen Aufmerksamkeitsverschiebung des Anstandsdiskurses vom Körperauftritt auf den sprachlichen Auftritt als dem genuinen Darstellungsmedium bürgerlicher ‚Bildungsreligion‘, sowie in der zunehmenden Hochwertung einer korrekten (standardsprachlichen) Aussprache bei gleichzeitigem Verlust der Aufmerksamkeit auf die ästhetischen Qualitäten der Stimme als der Körperspur der Sprache. Vgl. zum Terminus ‚signifikante Form‘ Linke: Stil und Kultur (wie Anm. 96). Auch Manfred Beetz spricht in seiner Studie über die frühmoderne Höflichkeit von der „Eingebundenheit ästhetischer Entwicklungen in gesellschaftliche Umorientierungen“ (Beetz: Frühmoderne Höflichkeit [wie Anm. 15], S. 281, Hervorhebung A. Linke). Dass die reflektierte und sprachlich explizite Selbstausdeutung der entsprechenden Gemeinschaften den beobachteten Stilphänomenen und ihrer möglichen Ausdeutung aus nicht-zeitgenössischer Sicht allerdings nicht unbedingt entsprechen muss, hebt Brigitte Schlieben-Lange in ihren Überlegungen zur sti-

Historische Semiotik des Leibes in der Kommunikation

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menhängen eher entlasteten Lebensbereiche und Ausdrucksdomänen, in denen sich entsprechende stilistische Veränderungen beobachten lassen – der Bereich der Mode erscheint hier prototypisch – und die als Zeichenorte der kommunikativen Herstellung kollektiver Dispositionen erscheinen. Stilistische Entwicklungen wären damit nicht nur als ‚irgendwie‘ in gesellschaftliche Umorientierungen eingebunden zu denken, sondern als deren ausdrucksseitiges Dispositiv und ihnen damit zum Teil auch vorgängig. – Richtet man den auf Ausdrucksmuster sensibilisierten Blick schließlich über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus weiter auf Körper und Mode, so zeigt sich, dass in der nun bürgerlich dominierten Gesellschaft vor allem die Bekleidung und äußere Herrichtung des Mannes von den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts durch dunkle Farben, gerade, schlichte Schnitte, kantige Formen und das weitgehende Fehlen von Schmuck gekennzeichnet ist.105 Deutlichere Veränderungen in dieser optischen Zurücknahme des männlichen Körpers zeigen sich erst wieder seit den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, wo – zunächst über jugendkulturelle Szenen – farbige Hemden, bunte Muster, körperbetonende Schnitte und Schmuck wie Halsketten und Armbänder wieder ins Spektrum des männlichen Kostüms aufgenommen werden.106 Inwiefern sich diese Veränderungen auf das Faktum beziehen lassen, dass in den Kulturwissenschaften ebenfalls seit den 60er Jahren ein neuartiges Interesse am Körper als Gegenstand wissenschaftlicher Aufmerksamkeit zu beobachten ist und mit Adam Kendons Studien107 die ersten grundlegenden Arbeiten zur Zeichenhaftigkeit körperkommunikativer Praktiken entstehen, kann hier nicht mehr beantwortet werden. Die Frage danach sei zumindest gestellt.

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listischen Selbstinterpretation der Revolutionsepoche in Frankreich hervor (Brigitte SchliebenLange: „Athènes éloquente“/„Sparte silencieuse“. Die Dichotomie der Stile in der Französischen Revolution. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a.M. 1986, S. 155-168, S. 164). Vgl. ausführlich Sabina Brändli: Der herrlich biedere Mann. Vom Siegeszug des bürgerlichen Herrenanzuges im 19. Jahrhundert. Zürich1998. Vgl. auch Thiel: Geschichte des Kostüms (wie Anm. 26), S. 425. Vgl. die in Kendon (Conducting interaction. Patterns of behavior in focused encounters. Cambridge u. a. 1990) zusammengestellten, meist in den späteren 60er und frühen 70er Jahren durchgeführten und publizierten Studien, so etwa die auch aus heutiger Perspektive noch innovative „Description of some human greetings“ (Kap. 6 in eben diesem Band).

Dagmar Schäfer (Manchester) Formen und Funktionen von Verschriftlichung im klassischen China: Objekte und funktionale Inschriften während der Ming Dynastie (1368-1645)

Mit der Verbreitung des Block-Buchdrucks im neunten Jahrhundert veränderten sich die Vermittlungs- und Tradierungslinien in der Wissenskultur des dynastischen Chinas. Leitideen manifestierten sich bis dahin in ihrer textlichen Abfassung in Form von handschriftlichen Manuskripten und Traktaten oder Epigraphen auf einer Vielzahl von Objektträgern mit unterschiedlichen Funktionen: Steinplatten, Holztafeln, Bronzegefäße und Keramiken, Höhlen-, Tempel-, Palast- und Grabwände, Schrift- und Bildrollen aus Seide, Papier oder Bambustafeln hatten gleichermaßen ihren Platz in dieser Landschaft. Der technische Fortschritt vereinfachte die Reproduktion von Text und Bild, und bald übernahmen Papier und Tinte eine führende Rolle in der Vermittlungstradition. Gelehrte der Song-Dynastie (960-1279) thematisieren eine grundsätzliche Veränderung im Verständnis von Text und Objekt und definieren die Funktion von Texten auf Objekten für den Wissenstransfer und dessen Kontrolle in der chronologischen sowie der zeitgenössischen regionalen Perspektive neu. In der letzten Dekade widmeten sich die Historiker diesem elementaren Wandel und seinem Einfluss auf epistemische Argumentationsschemata vornehmlich im Hinblick auf die Buchkultur und das Buch als materiellem Objekt und Wissensvermittler.1 Ein weiterer Schwerpunkt waren die neuen Ansätze dieser Periode zur Verwendung von Schrift und Bild, von textlichen und diagrammatischen Darstellungen, in der Buch- und Manuskriptkultur, die von Literaten wie Zheng Qiao 鄭樵 (1104–1162) theoretisch diskutiert wurden.2 Wie steht dieser textlichen Tradition mittels Papier und Tinte aber die Kultur der Wissensübertragung in ihrer Gesamtheit gegenüber? Welchen Einfluss hat die zunehmende Bedeutung des gedruckten Textes auf die Funktion anderer Objekte als Schriftträger und wie verändert sich mit dieser Verschiebung die epistemische Wahrnehmung dieser Inhalte, also dessen, was in der chinesischen intellektuellen Welt ‚Wis-

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Einen Überblick über die bisher erschienene Literatur zu diesem Thema gibt Cynthia J. Brokaw: Book History in Premodern China. The State of the Discipline. In: Book History 10 (2007), S. 253290. Vgl. Francesca Bray/Vera Dorofeeva Lichtmann/Georges Métailié (Hgg.): Graphics and Text in the Production of Technical Knowledge in China. The Warp and the Weft. (Sinica Leidensia 79) Leiden/Boston 2007, S. 8-12.

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Dagmar Schäfer

sen‘ ist – universal gültig und bewahrenswert oder individuell und daher theoretischepistemisch marginal? Diese Frage stellt sich insbesondere im Hinblick auf Wissensbereiche wie Handwerk und Technik, die von einer Kombination verschiedener Wissensformen sowie impliziten und expliziten Wissensvermittlungsstrukturen geprägt sind. Dieser Artikel greift die Frage anhand einer exemplarischen Untersuchung von funktionalen Inschriften – auch bekannt als Qualitäts- und Garantieinschriften oder Perioden- und Handwerkermarken – während der Ming Dynastie (1368-1645) auf.3 Funktionale Inschriften stellen eine wichtige Konstante in der Geschichte Chinas dar. Sie erscheinen auf Objekten der vor-kaiserlichen Zeit (die ältesten Funde reichen bis ca. 700 v. Chr. zurück) und werden bis hin zum Ende der Republikzeit (1949) verwendet.4 Während die schriftliche Diskussion Stabilität und Konstanz hervorhebt, verändern sich die Formen und Inhalte dieser speziellen Form der Inschriften in diesem langen Zeitraum wesentlich. Ein Funktionswandel ist impliziert. Schriftliche Quellen lassen dies aber weitestgehend unkommentiert. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass das Fehlen schriftlicher Dokumentation kein Ausdruck eines Desinteresses seitens der schriftkundigen Schichten ist. Vielmehr verwenden die zeitgenössischen Akteure sowohl im administrativen Ablauf als auch im intellektuellen Diskurs Verschriftlichung bzw. NichtVerschriftlichung über Methoden und Kontrollmechanismen zum Wissenstransfer als strategisches Instrument. Die Periode der Ming-Dynastie ist hierbei interessant, da sie den kumulativen Endpunkt einer Entwicklung darstellt, die in der Song-Zeit ihren Anfang nahmen. In der Nördlichen Song verwandelte sich die chinesische Gesellschaftsform in eine Meritokratie, in der durch Prüfungen ausgewählte Beamte die Elite stellten. Bildung sowie literarische und administrative Leistungen wurden hoch geschätzt. Während das Reich politisch schwach war und sich militärisch bald nicht mehr behaupten konnte, florierten die Produktion und der Handel von Gütern. In dieser Atmosphäre entwickelte sich der Buchdruck und sorgte für weiteren intellektuellen Stimulus. Führende politische Entscheidungsträger und Gelehrte wie z. B. der Polymath Shen Kuo (沈括; 1031-1095) forderten im Zuge der Veränderungen eine Neudefinition des Verhältnisses von Text und Objekt. Die Möglichkeit der Vervielfältigung individueller Ideen und Ideale durch den Buchdruck wurde dabei für die Kontinuität von Wissenstraditionen und die Bewahrung epistemischer Traditionen sowie für die Unterscheidbarkeit epistemischer von individuellen oder marginalen Ansätzen als problematisch erkannt. Der volle Umfang dieses ‚Medienumbruchs‘ macht sich dann erst in der Periode der Ming-Dynastie bemerkbar. Während der Ming-Dynastie setzte sich der Buchdruck quantitativ und qualitativ durch. Es kam zu einer Kommerzialisierung. Intellektuelle der Ming legitimierten

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In der chinesischen Literatur werden Inschriften, die der Verwaltung dienen, auch unter dem zusammenfassenden Begriff wule gongming 物勒工名 geführt. Diese Terminologie orientiert sich explizit an Akteurkategorien und vermeidet eine anachronistische Bezeichnung nach Funktionalitäten, wie z. B. Handelsmarken, Copyright etc. Vgl. Anthony J. Barbierie-Low: Artisans in Early Imperial China. Seattle 2007, S. 21.

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ihre Interessen durch die Referenzierung von Song-zeitlichen Texten und definierten ihre eigene Herangehensweise und Position entsprechend entweder im Einklang dazu oder gegen diese Diskurse. Dementsprechend diskutierten Ming-zeitliche Gelehrte die Rolle und Legitimität von funktionalen Inschriften in Anlehnung an Song-zeitliche Traditionen innerhalb eines eigenen Forschungsfeldes: der Epigraphik (jin shi xue 金石學).5 In der späten Ming-Dynastie werden die unterschiedlichen Standpunkte auch in historischen Texten sichtbar. Literaten führen einen differenzierten Diskurs über die Verwendung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit und die Rolle des Objektträgers für die Identifizierung, Bewertung und Klassifizierung von Wissen. Gelehrte analysieren die Formen und Funktionen von Text im Allgemeinen und stellen Fragen über die Legitimität von Verschriftlichung auf verschiedenen Objektträgern wie Bronzegefäßen, Steinstelen, Inschriften auf Alltagsgegenständen oder Porzellanvasen. Diesem differenzierten Diskurs über das Verhältnis von Schrift zu Bild und Objekt steht ein Fundus von Artefakten gegenüber. Dieser Fundus bietet einen Einblick in den realen Einsatz, die Praktiken der Wissensvermittlung. Erst in der Summe dieser Quellen zeigt sich die Vielschichtigkeit der chinesischen Wissenskultur. Im Fokus dieses Artikels steht außerdem die Diskrepanz zwischen der historischen Diskussion über funktionale Inschriften in textlichen Quellen und ihre zeitgenössische Kontextualisierung. Dem steht die praktische Anwendung gegenüber. Die zeitgenössische Verwendung von Inschriften kann anhand der materiellen Kultur untersucht werden.6 Der erweiterte Blick auf die Artefakte dient hierbei nicht nur der kritischen Frage nach der Sichtbarkeit von historischen Inhalten in textlichen Quellen. Hier zeigt sich zudem, dass dem materiellen Objekt in der historischen Bewertung der Epistemologie des Wissens und der Wissensvermittlung im vormodernen China insbesondere in dieser Phase des Umbruchs hohe Bedeutung beigemessen wurde.

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Vgl. Chen Juncheng 陳俊成: Songdai jinshi xuezhu shukao 宋代金石學著述考 (Untersuchungen über die Schriften der Epigraphik der Song Dynastie). Taibei 1976. Peter K. Bol: This Culture of Ours. Intellectual Transitions in T'ang and Sung China. Stanford 1992, S. 32-75. Den Begriff materielle Kultur verwende ich hier mit Referenz auf methodische Ansätze, die Objekte auch jenseits von Kunst (fine arts) und Architektur mit einbeziehen. Ziel ist eine Kontextualisierung der Produktion und Verwendung von Objekten in der Gesamtheit der materiellen Kultur. Hierzu werden kunsthistorische, wissenschaftstheoretische, anthropologische und soziologische Ansätze kombiniert. Die verschiedentliche Verwendung und die Bedeutungen, die Objekten im Zuge dessen beigemessen werden, sind damit Teil meiner Untersuchungen.

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1. Technik und praktisches Wissen: Objekte und Texte als historische Quellen für konzeptionelle Fragestellungen Während Ming-zeitliche Gelehrte die Konzepte und Modalitäten, die Mechanismen und Bedingungen, unter denen sich praktisches Wissen in der Periode vom zehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert entwickelten, in schriftlichen Quellen selten explizit thematisieren, sind deren Ergebnisse und Folgen sowohl an Artefakten als auch in Texten ablesbar. In dieser Lesart erhält die Frage, wie und wann Technik selbst zum ‚Objekt des Wissens‘ wird, als auch die, wie die Produkte technischer Vorgänge und praktischen Wissens, materielle Kultur im weiteren Sinne, wahrgenommen werden und welche Mechanismen zur Kontrolle des Wissensflusses eingesetzt werden, eine wichtige Dimension. In der Gesamtheit der Quellen werden die Theorien hinter den Geschichten, die textliche Quellen zu Technik und Artefakte erzählen, und die Theorien, welche hinter den Geschichten stehen, die über solche Texte und Artefakte erzählt werden, sichtbar. Methodisch siedelt sich die vorliegende Studie in der historischen Epistemologie an. Historische Epistemologie definiere ich hierbei als die Reflektion auf die geschichtlichen Bedingungen, „unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden“.7 Der Fokus auf Implementierung und praktische Anwendung bietet einen besonderen Blick auf die Geschichte Chinas. Er zeigt dessen Wissenslandschaft in ihrem Spannungsverhältnis zur politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung und lenkt den Blick in neuer Weise auf die Konstruktion und Diskursivierung von ‚Wissen‘ in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen: als formalisiertes und implizites, verschriftlichtes, mündliches und materialisiertes Wissen oder enthalten in Körpertechniken. Inschriften kommen hierbei als ein wichtiges Instrument des Staates zur Kontrolle handwerklicher Produktion und Techniken zum Tragen. Als solche geben Inschriften Auskunft über die konzeptionellen Strömungen, welche die Wissenskultur Chinas im Zeitraum zwischen dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert prägten. Der Vergleich von textlichen und materiellen Quellen zielt darauf ab, die Oberfläche der traditionellen Argumentationsstrategie zu durchbrechen, deren explizites Ziel es ist, Kontinuität und Stabilität zu erzeugen. Jenseits dieser Oberfläche werden vielschichtige Strukturen sichtbar, in denen technologische Entwicklung stattfand und Wissenstransfer organisiert wurde. Der Begriff ‚Inschriften‘ umfasst hierbei erst einmal allgemein jede Form von schriftlicher Information auf Objekten, von einem einzelnen Zeichen über Siegel bis hin zur Gravur ganzer Traktate. Dieses Untersuchungsfeld von Schrifttum in seiner materiellen Manifestation bezeichne ich mit Bezug auf Ramsay MacMullen als epigraphischer Habitus (epigraphic habit).8

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Hans Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung. Hamburg 2007, S. 11. Ramsay MacMullen: The Epigraphic Habit in the Roman Empire. In: The American Journal of Philology 103 (1982) H. 3, S. 233-246, hier S. 234, 246. Hier definiert MacMullen eine funktionale

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Voranstellen möchte ich einige Überlegungen zur Methodik. Grundsätzlich stehen für die historische Erforschung praktischer Wissensbereiche, der Technik und der Produktion materieller Güter, zwei unterschiedliche Arten von Quellen zur Verfügung: (1) textliche Quellen und (2) materielle Kultur. Textliche Quellen sind meist administrativer Natur und verfolgen eine buchhalterische Zielsetzung. Außerdem finden sich einige wenige dokumentarisch-archivarische Quellen sowie rechtshistorische Berichte. Historiographie und Literatur ergänzen das Bild. In all diesen Genres sind offizielle von privaten Reflexionen zu unterscheiden. Archäologische Untersuchungen und Kunstobjekte liefern materielle Daten und visuelle Eindrücke. Die Grenzen zwischen Text und Bild sind natürlich fließend. Texte beinhalten Abbildungen und sind auch selbst Objekte mit materiellen und visuellen Informationen. Zudem sind Definitionen von dem, was ein ‚Text‘ ist, also ein zusammenhängendes schriftliches Dokument oder ein Objekt mit fragmentarischen, schriftlichen Informationen, historisch wandelbar. Für chinesische Gelehrte hatte dabei nicht nur der Text selbst, sondern auch der Objektträger Einfluss auf die Klassifizierung. So unterschieden sie Texte in Büchern z. B. von solchen in Stein. Das Medium wies also nicht nur auf unterschiedliche Lese- und Dokumentationstraditionen hin (selbst wenn beide denselben Text vermitteln). Die Schriftunterlage, d. h. der Schriftträger sowie der Zustand des Textes entschieden über die Klassifizierung als textliche oder bildhafte Information, als kalligrafisch-ästhetisch oder inhaltlich gehaltvoll. Beschriftungen von Artefakten sind traditionell das Ressort der Kunstgeschichte, wo sie zur Datierung und Kontextualisierung des Objektes herangezogen werden. Ihre verschiedenen Formen und Motivationen, und ihre jeweiligen historischen Besonderheiten sind also bekannt.9 Wie das Verhältnis zwischen Beschriftung und Objekt intellektuell diskutiert und benutzt wurde oder wirkte, ist nicht im Fokus dieses Forschungsfeldes. Die Kombination von Text und Objekt ist eine bisher nicht wahrgenommene, wichtige Informationsquelle für die Untersuchung der Frage nach dem konzeptionellen Hintergrund für die Entwicklung von Wissensformen im Transferprozess. Welches Wissen wie, wo und warum auf dem Objekt festgehalten wird und welche Rolle und Funktion die Plazierung von schriftlicher Information in Form von Inschriften, Gravuren und Graffiti übernommen hat, liefert einen Einblick in die zeitgenössische Konzeptualisie-

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Differenzierung von Schrifttum anhand des Trägermaterials und entscheidet entsprechende Textfunktionen nach Adressat, Zugänglichkeit und Inhalt. Vgl. Xu Zhiheng 許之衡: Yinliu zhai shuci 飲流齋說瓷 (Diskussion der Porzellane des Yinliu Studio). Yangzhou 1992, Kap. 6, S. 77-81. Wilson Ming: Rare Marks on Chinese Ceramics. Percival David Foundation of Chinese Art and the Board of Trustees of the Victoria and Albert Museum. London 1998, S. 1-10. Feng Xianming 馮先銘 (Hg.): Zhongguo taoci jianchang 中國 陶瓷鑒賞 (Eine Bewertung und Analyse chinesischer Keramik). Shanghai 2007. Ma Xigui 馬希桂/Zhao Guanlin 趙光林 (Hgg.): Zhongguo Qinghua ci 中國青花瓷 (Chinesisches Blau-Weiß Porzellan). Shanghai 2005. Sun Yan 孙彦/Zhang Jian 張健/Wan Jinli 萬金麗: Zhongguo lidai taoci tiji 中国歷代陶瓷题記 (Inschriften auf Porzellan im Historischen China). Beijing 1999.

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rung von Wissen und historisches Wissensmanagement jenseits rein formalisierter Diskursfelder. In welchen Bereichen wurden Inschriften verwendet, und wie wurden diese Funktionen normativ, administrativ, politisch oder intellektuell eingebettet? Mit diesem Vorgehen versuche ich das Gebiet der Objektinschriften zu ‚triangulieren‘. In die Sozialwissenschaften wurde der Begriff ‚Triangulation‘ (Dreiecksvermessung) oder auch Multioperationalismus im Jahr 1970 von Norman Denzin eingeführt.10 Er stammt ursprünglich aus der Landvermessung, wo er eine exakte Positionsbestimmung eines unbekannten Punktes durch Vermessung einer Basisstrecke zwischen zwei Eckpunkten eines Dreiecks und der Ermittlung der anliegenden Winkel bezeichnet. In den Sozialwissenschaften wird die Metapher der Triangulation seither auch verwendet, um eine Kombination unterschiedlicher Erkenntnisstrategien, insbesondere quantitativer und qualitativer Methoden, zu bezeichnen. Die verschiedenen Methoden werden parallel angewendet, um einen Punkt bzw. eine Fragestellung genauer zu fassen oder um sich Fragestellungen zu nähern, die historisch aufgrund der Quellenlage nicht direkt zu fassen sind. Für historische Forschungen im Allgemeinen und meinen Forschungsgegenstand im Besonderen wende ich zusätzlich zu der Daten-Triangulation (also die Gegenüberstellung von Fakten, gewonnen aus Artefakten und offiziellen oder privaten Aufzeichnungen) auch den von Niegel und Jane. L. Fielding vorgeschlagenen Subtyp der Perspektiven-/Methoden-Triangulation an.11 Dabei geht es mir weniger um eine Absolutheit der Ergebnisse, als dass mit Hilfe der Triangulation die Vielschichtigkeit historischer Wissenskulturen nicht in einer eindimensionalen Struktur kollabiert. Statt positivistischer oder phänomenologischer Konstruktionen sozialer und historischer Phänomene können breitere, vielfältigere Erkenntnisse über das untersuchte Phänomen gewonnen werden. Subjektive Einschätzungen können im Verhältnis zu materiellen Tatbeständen analysiert werden, und gegenwärtige Kategorien lassen sich von historischen differenzieren. Im Falle der Inschriften zeigt diese Methode so die Diskrepanz zwischen zeitgenössischen Bewertungen und moderner Wahrnehmung. Während die moderne Kunstgeschichte die Regierungsmarken auf Porzellan als charakteristisch für die Ming-Dynastie betrachtet und ihre Implementierung und Verwendung als Zeichen eines autoritären Staatswesens und eines monopolistischen Anspruchs interpretiert, ig-

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„Triangulation or the use of multiple methods, is a plan of action that will raise sociologists above the personalistic biases that stem from single methodologies. By combining methods and investigators in the same study, observers can partially overcome the deficiencies that flow from one investigator or one method.“ (Norman Denzin: The research act. A theoretical introduction to sociological methods. New York 1978, S. 294). Die Anwendung multipler Methoden in der historischen Forschung diskutieren Matthew H. Nitecki/Doris V. Nitecki: History and evolution. Albany 1992, S. 24f. Vgl. Niegel Fielding/Jane L. Fielding: Linking data. Sage 1986, S. 33. Die Methoden-Triangulation greift auf unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen zurück, um eine von einer Methode allein nicht erfassbare Frage anzupeilen. Sie ermöglicht, die Wahrnehmung und Deutung von Subjekten mit den komplexen lebensweltlichen Kontexten und sozialen Strukturen, in denen sie historisch agierten, zu verknüpfen.

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norieren Ming-zeitliche Gelehrte die Funktion der Inschriften als Emblem kaiserlicher Macht in ihren Schriften weitestgehend. Ebenso zeigt sich, dass die schriftlich genau festgelegte und normierte Praxis der Garantie und Herkunftsinschriften nicht praktisch umgesetzt wurde. Regelungen, denen zentralstaatliche Ming-zeitliche Quellen eine hohe administrative Bedeutung zumessen und die sie explizit als unumgänglich erachten, sind in der materiellen Kultur also nicht nachweisbar.

2. Staatliche Institutionen und handwerkliche Produktion während der Ming-Dynastie Zahlreiche historische Studien haben in den letzten Jahrzehnten unser Wissen über die Entwicklung Chinas zur Zeit der Ming-Dynastie erweitert. Diese Studien zeigen einen Staat, der vom vierzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert China einheitlich regierte, und eine Gesellschaft, welche intellektuell, politisch und ökonomisch prosperierte, während die Welt im Handel und intellektuellen Austausch immer näher aneinander rückte. Ein autokratisches Staatswesen, Kommerzialisierung und Urbanisierung sind einige der Begriffe, welche diese Periode kennzeichnen.12 Die Ming-Dynastie war auch eine Periode, in der sich die Kaiser eingehend mit Kunst und Kunsthandwerk beschäftigten; in der literarisch ausgebildete Beamte die Produktion von Seide und Porzellan, Salz und Eisen organisierten und Gelehrte die zunehmende Professionalisierung der Gesellschaft und die wachsende Vielfalt materieller Güter beklagten. Den Hintergrund zu diesen Veränderungen bildete eine in ihrem Umfang beispiellose Integration handwerklicher Produktion in die staatliche Verwaltung.13 Diese Integration fand zum einen durch die Institutionalisierung von staatlichen Manufakturbetrieben (Porzellan oder Seide) und Produktionsstätten (Kohle, Kupfer, Salzbergbau) statt (siehe Abb. 1.).

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Einen Überblick zur Yuan und Ming Periode gibt Timothy Brook: The Troubled Empire. China in the Yuan and Ming Dynasties. Cambridge 2010. Fei Siyen argumentiert, dass die Urbanisierung in China punktuell war und als solche die Entwicklung in China während der spätkaiserlichen Phase elementar geprägt hat. Vgl. dazu Fei Siyen: Negotiating Urban Space. Urbanization and Late Ming Nanjing. Cambridge 2010. Li Bozhong betont die regionalen Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung der Ming und Qing Dynastie. Seine Studie konzentriert sich auf die prosperierende Region Jiangnan. Vgl. Li Bozhong 李伯重: Duo jiaodu kan jiangnan jingji shi 多角度看江南經濟史 (Beobachtungen zur Wirtschaftsgeschichte der Jiangnan Region aus verschiedenen Perspektiven 1250-1850). Beijing 2003. Vgl. Dagmar Schäfer: Des Kaisers Seidene Kleider. Staatliche Seidenmanufakturen in der Ming Zeit (1368-1644). Heidelberg 1998, S. 20-26.

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Abb. 1

Dies wurde ergänzt durch ein komplexes System von quotierten Steuererhebungen in Form von Naturalabgaben, als Rohstoffe oder fertige Produkte, oder in Form von Dienstleistungen. Innerhalb dieser Strukturen propagierten die Herrscher der Ming ‚Inschriften‘, d. h. das Aufbringen produktionsrelevanter Informationen auf die entsprechenden Artefakte, als ein wichtiges Mittel der Wahl zur Kontrolle der Steuerabgaben und für Garantieansprüche. Die offiziellen Statuten Da Ming huidian 大明會典 (Gesammelte Statuten der Großen Ming), die 1511 zusammengestellt wurden, enthalten de-

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363 3

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15

A Abb b. 2

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Ob es tatsächlich zu Regressforderungen auf der Basis von Inschriften kam, ist historisch nicht belegt. Die Vorgabe der Aufbringung von Inschriften zum Zwecke der Garantie wird jedoch regelmäßig im Schrifttum bestätigt. Inschriften wie die in Nanjing finden sich auf den Ziegeln vieler Ming-zeitlicher Stadtmauern, von der Provinz Hubei bis hinein in die Regionen Jiangnan und Zhili und die Provinz Sichuan, allerdings in unterschiedlicher Häufigkeit und in nicht gleichmäßiger Verteilung.16 Aus diesen materiellen Nachweisen können wir schließen, dass die Verwaltungsregel beim Bau von Stadtmauern griff. Tatsächlich scheint die Vielzahl der Ziegel mit Inschriften beim Stadtmauerbau sogar, oberflächlich betrachtet, zu bestätigen, dass die zuständigen Beamten die Verpflichtung, die Herkunft des Produktes nachzuweisen, zumindest in der Anfangsphase der Ming sehr ernst nahmen – mit einem gewissen Hang zur Übertreibung. In Form und Inhalt erweisen sich die Ming-zeitlichen Ziegel-Inschriften als eine Kombination zweier Formen und Methoden zur Herkunftsbestimmung von Produkten, welche in der Song-Zeit verwendet wurden: der Gravur des Handwerkernamens (wule gongming 物勒工名) und der Gravur des Beamtennamens (wule guanming 物勒官名).17 Diese Doppelverifizierung ist ein Ausdruck einer Überregulierung und auch eines autoritären Staatswesens, ein Aspekt, den Timothy Brooks Studie hervorhebt.18 Die detaillierte Dokumentation hatte aber darüber hinaus eine andere wichtige Funktion. Das Graffiti machte die Mauer zu einem Schaustück imperialer Souveränität und allgegenwärtiger Kontrolle im Ming-Staat.

3. Regelung und Reglementierung: Der normative Rahmen für die Produktion staatlicher Güter Die Gesammelten Statuten der Großen Ming bieten ein Kaleidoskop an Vorschriften zu Inschriften, die dem Herkunftsnachweis und der Qualitätskontrolle dienten. Die Produktionslinie bei Waffen musste z. B. genau protokolliert werden. Wie eine Thronein-

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Vgl. Xia Minghua 夏明華: Jingzhou gucheng leming yu wule gongming 荆州古城勒 名與物勒工名 (Diskussion der Ziegel mit Inschriften aus der klassischen Stadt Jingzhou). In: Jianghan kaogu 86 (2003) H. 2, S. 66-72, hier S. 67 sowie Wang Kechang 王克昌/Wei Liping 韋立平/Yang Xianwen 楊獻文: Ming Nanjing cheng qiang zhuan wen tu shi 明南京城 墙磚文圖釋 (Abriebe der Inschriften auf den Ziegeln der Stadtmauer von Nanjing aus der MingDynastie). Nanjing 1999 und Guo Jinhai 郭金海: Mingdai Nanjing chengqiang zhuan mingwen luelun 明代南京磚銘文略論 (Eine Diskussion der beschrifteten Ziegel der Nanjinger Stadtmauer). In: Wenwu yanjiu, Dongnan wenhua 141 (2001), S. 75-78, hier S. 75. Li Tao 李燾 (1115-1184): Xu Zizhi tongjian changbian 續資治通鑒長編 (Umfassender Spiegel zur Hilfe bei der Regierung). Faksimile der Ausgabe von 1881. Shanghai 1986, S. 2377; Xu Song 徐崧 (1781-1848): Song huiyao jigao 宋會要輯稿 (Rekonstruierter chronologischer Index zu den gesammelten Statuten der Song-Dynastie). Beijing 1957, S. 3570. Vgl. Timothy Brook: The Confusions of Pleasure. Commerce and Culture in Ming China. Berkeley 1998, S. 19-24.

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gabe aus dem Jahr 1628 (Regierungsperiode Chongzhen, 7. Monat) ausführt, betraf dies die in den Militärgarnisonen hergestellten Bögen, Pfeile, Schilde und Rüstungen ebenso wie die unter der Leitung der europäischen Jesuiten am Hof hergestellten Kanonen und Musketen.19 Auch für gegerbte Felle, Körbe, Kisten, Gürtelschnallen oder Silberwaren, Ochsenkarren und Sänften, kurzum für alles, was an den Staat geliefert wurde, musste laut dem Kodex der Ming ein Herkunftsnachweis auf dem Produkt angebracht werden. Im Falle des Ochsenkarrens z. B. sollten alle beteiligten Handwerker vom Schmied bis zum Wagner eingraviert werden ebenso wie die Beamten, welche die Wagen und Inschriften überprüft hatten. Die Beamten hatten eine Sorgfaltspflicht, und die Handwerker übernahmen die Garantieleistung. Alle waren für die Funktionstüchtigkeit der gelieferten Ware verantwortlich bzw. wurden im Schadensfall idealiter zur Rechenschaft gezogen: Die Beamten haben sicherzustellen, dass die Seriennummer (bianhao 編號) festgehalten wird. Die Inschrift muss eingebrannt werden und sie muss anschließend in die Registraturlisten übertragen werden, so dass es im Schadensfall oder wenn der Wagen sich als instabil erweisen sollte, möglich ist, die verantwortlichen Handwerker und Beamten zu verifizieren.20

Die Inschriften auf Wagen vereinigten also Herkunftsnachweis mit der Funktionalität einer modernen TÜV-Prüfung. Beispiele dieser Art lassen sich über die gesamte Bandbreite Ming-zeitlicher materieller Kultur finden. Alltagsgegenstände und Gebrauchswaren sind davon ebenso betroffen wie Großinvestitionsprojekte und Kunstgegenstände. Im Schiffsektor ebenso wie beim Speicherbau spielten Inschriften im gesamten Produktionsablauf eine zentrale Rolle. Alle ankommenden Baumaterialien wurden auf ihre Inschriften und Markierungen überprüft, um Steuerzahlungen abzugleichen. Nach der Fertigstellung mussten die „vollständigen Namen aller beteiligten Handwerker und die Beamten samt Titel und Ränge in das Schiffsheck (chuanwei 船尾) eingraviert werden“. Im Falle von Speichern mussten die Namen in Türnähe (men 門) angebracht werden.21 Grundsätzlich lässt sich für alle hier aufgeführten Bereichen sagen, dass normativ kein Unterschied zwischen in der Privatwirtschaft bestellter und staatlich kontrollierter Produktion gemacht wurde. Schwierig erweist sich in diesem Zusammenhang jedoch der Nachweis der praktischen Umsetzung der Regelungen anhand von Artefakten. Traditionell sind weniger Alltagsgegenstände als Kunstobjekte aus dieser Periode überliefert, wodurch sich das Bild verzerrt. Ebenso wenig kann daher bisher eine verlässliche

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20 21

Jin Risheng 金日昇: Song Tianlu bi 頌天臚筆 (Private Aufzeichnungen des Song Tianlu). Edition der Tianshun Periode 1628-1644. Ming-keben Ausgabe. Shanghai 2002, juan 3, zhaofeng, S. 41. Li Dongyang 李東陽 (1447-1516)/Shen Shixing 申時行 (1535-1614) u. a.: Da Ming Huidian 大明會典 (wie Anm. 14), Kap. 200 (gongbu 20), S. 1851. Ebd., Kap. 200 (gongbu 20), S. 1846, 1847, 1851. Liu Sijie 劉斯潔 (jinshi 1547): Taicang kao 太倉考 (Untersuchungen zum imperialen Speicher). Faksimile der Ausgabe von 1580. Beijing 1999, Kap. 27, S. 35b.

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Aussage über die tatsächliche Bedeutung von Inschriften für Garantiezwecke auf diesem Sektor gemacht werden. Für die Seidenproduktion ist, als einer der wenigen Bereiche, eine repräsentative Anzahl an Artefakten vorhanden. Die vorhandenen Stücke stammen allerdings allesamt aus der Produktion für den kaiserlichen Bedarf. Dennoch können hier wichtige Schlüsse auf die Umsetzung schriftlicher Reglementierung gezogen werden. Ähnlich wie bei den Mauerziegeln, aus welchen sich die Stadtmauer Nanjings zusammensetzt, zeigt sich bei Seidenballen, dass Inschriften nur in besonderen Fällen alle Verantwortlichkeiten genau aufschlüsselten, nämlich wenn die Produktion einem staatsrepräsentativen Zweck zugeführt wurde. Mehrere Seidenballen aus dem Dingling 定陵 Grab des Wanli 萬歷 Kaisers (1563-1620, reg. 1572-1620) zeigen außergewöhnlich ausführliche und detailreiche Inschriften mittels Tinte auf der Webkante. Ballen Nummer D65 benennt das Produkt und listet anschließend die gesamte administrative und handwerkliche Hierarchie für die Bestellung, Produktion und Lieferung auf. Die gesamte Inschrift lautet: Ein Ballen Hualu Seide in tiefrot und rotblau; Chen Suoxue, stellvertretender leitender Zensor zur Rechten des Zensorats des Provinzgovernats der Provinz Shanxi; Yan Tiaogeng, Bevollmächtigter der Provinzverwaltung von Shanxi, verantwortlich für den Kreis Ji’nan; Zhang Woxu, Magistratsassistent der Präfektur und aufsichtsführender Leiter der Verwaltungskommission der Manufaktur von Shanxi, sowie bevollmächtigter Berater zur Linken; Yang, Magistrat der Lu’an Präfektur, zuständig für die Stempel und Siegel. Das Siegel wurde von Fang, Siegelbeamter der Kreismandatur Chuangzhi untersucht […] [produziert vom] Webereihaushalt Xin Shoutai (dahong shanzhen zi xihua Luchou tai pi xunfu Shanxi duchayuan, you fu duyushi Chen Suoxue, Shanxi buzheng shi fenguan Ji’nan dao buzhengsi zuo canzheng Yan Tiaogeng, zongliguan benfu tongpan huangdao bianyan guan duzao tidiaoguan Shanxi buzheng sishi Zhang Woxu, jingzao zhangyin guan Lu’an fu zhifu Yang, jianyan zao zhangyin guan Changzhe xian zhexian Fang […] jihu Xin Shoutai). 大红闪真紫细花潞绸壹匹巡抚山西都察院右副都御史陈所学山西布政司分管冀南道布政 司左参政阎调羹总理官本府通判黄道辨验官督造提调官山西布政司左布政使张我续经造 掌印官潞安府知府杨检监造掌印官长治县知县方 [...] 机户辛守太).22

Die Inschrift hat eine Länge von insgesamt 120 Zeichen/Wörtern. In ihr werden detailreich alle beteiligten Beamten bis hin zur untersten Lokalebene aufgeführt (die hier ausgelassen wurden). Die Inschrift endet mit der Nennung des Webereihaushaltes Xin Shoutai, in dem der Stoff dann tatsächlich gewebt wurde. Im Vergleich dazu muten die Inschriften auf den Webkanten der Qing-zeitlichen (1645-1912) Seidenballen, die heute im Nanjinger Museum zu finden sind, dem Anlass entsprechend unangemessen bescheiden an. Sie bestehen nur aus der Nennung der Institution, welche die Steuern für die Produktion zuwies, sowie der Produktionsstätte (in der Regel sind sie in die Webkante eingewebt). Die Produktinformationen auf den Seidenballen im Dingling Grab sind eine Ausnahmeerscheinung. Die Details wurden festgehalten, weil die Ballen als

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Der Ballen ist im Palastmusem Beijing (Gugong bowuyuan 故宮博物院) zu finden. Die Inschrift liegt in Abschrift vor. Eine Photographie wurde nicht erlaubt.

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Grabbeigaben für den Kaiser bestimmt waren. Dies forderte nicht nur eine ideale Einhaltung und Umsetzung der Regelungen. Mit der Nennung erhofften sich die involvierten Personen auch einen dies- oder jenseitigen Gewinn. Im Falle der Nennung in den Inschriften der Ziegel stand dem Beteiligten der Ruhm und die Ehre zu, an der Staatsund Hauptstadtgründung beteiligt gewesen zu sein. Im Falle der Seidenballen mag der Gewinn auch darin bestanden haben, in eine rituelle Verbindung zum Kaiserhaus zu treten. Die Inschriften der Ming sind in Form, Funktion und Inhalt nicht gleichzusetzen mit Handwerker-, Gilden- oder Schutzmarken oder mit Künstlersignaturen, wie sie im vormodernen England oder deutschsprachigen Raum vorkamen. Ihre Funktion war die eines Garantienachweises und der steuerlichen Kontrolle. Ein Vergleich zwischen den detaillierten schriftlichen Regulierungen der Herkunftsinschriften und den tatsächlich vorliegenden Herkunftsinschriften dieser Zeit ermöglicht wichtige Einblicke in die fachliche und organisatorische Differenzierung handwerklicher Arbeit und erlaubt uns Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen Praxis und Theorie staatlicher Kontrolle im Ming-zeitlichen China. Während die schriftlichen Quellen den Eindruck von strikter Kontrolle und Durchführung vermitteln, kann eine tatsächliche Implementierung einer solchen Praxis anhand der Objekte nur punktuell nachgewiesen werden. In diesen Fällen aber ist die Ausführlichkeit der Inschriften beeindruckend. Die Ziegelinschriften der Nanjinger Stadtmauer oder die Herkunftsnachweise auf Seidenballen sind hierbei als Besonderheiten zu bewerten. In beiden Fällen lässt sich ein ritueller Hintergrund und die staatssymbolische Motivation als Ursache für die Ausführlichkeit der Inschriften vermuten. Die staatliche Implementierung von Inschriften als Instrument zur Kontrolle materieller Produktion und als Herkunftsnachweis in Bereichen wie der Waffen- oder Seidenproduktion steht in ihrer normativen Einbettung in einer langen Tradition von administrativen Maßnahmen zur Regulierungen handwerklichen Könnens für die Produktion von Ritualwaren. Das Liji 禮記 (Buch der Riten) legte fest, dass „Handwerker ihren Namen auf die Waren aufbringen müssen, damit die Qualität kontrolliert werden kann“ (wule gongming yi kao qi cheng 物勒工名一考其成). In dieselbe Tradition setzen textliche Quellen die Verwendung von den „Regierungsperiodenmarken“ (jinian hao 紀年號), welche während der Ming-Dynastie vor allem durch ihre Verwendung auf Porzellanwaren bekannt wurden. Tatsächlich handelt es sich inhaltlich bei den Regierungsmarken um verkürzte Zeitangaben. Jeder Kaiser benannte seine Regierungsperiode mit einer Regierungsdevise. Dieser Benennung folgte der Kalender. So konnte das Jahr der Produktion ermittelt werden. Da die Ming-Kaiser allerdings diese Bezeichnungen über den gesamten Zeitraum ihrer Regierungszeit (im Durchschnitt >10 Jahre) beibehielten, war eine genaue Datierung de facto für diese Zwecke gar nicht möglich. Auch für Steuererhebungen waren die vage Datierung der Waren anhand von Regierungsmarken wohl wenig hilfreich. Heute gehören Porzellanmarken zu den am weitesten bekannten Inschriften der chinesischen Kunstgeschichte. Sie werden dabei oft als

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repräsentativ für die kaiserliche Produktion im klassischen China angesehen. Ein kaiserliches Monopol für die Benutzung solcher Waren wurde lange impliziert.23 Tatsächlich sind die Regierungsmarken, also die sechs oder vier Zeichen lange Wiedergabe der Regierungsperiode, in der ein Porzellan hergestellt wurde, eine konzeptionelle Innovation, die sich erst mit der Ming-Dynastie in dieser Bedeutung durch praktische Anwendung manifestiert. Auf Porzellanwaren wird die Gravur der Regierungsperiode so zu einem Symbol des kaiserlichen Rechts und zum Zeichen eines herrschaftlichen Eigentumsanspruches über eine Produktionstechnologie. Einen Hinweis für diese Lesung ist die Tatsache, dass die Ming-zeitlichen Beamten ausschließlich Porzellanwaren, nicht aber Keramiken mit Regierungsdevisenmarken versahen. Kaiser Yongle 永樂 (13601420, reg. 1404-1424) führte dann auch Regierungsmarken auf Lackobjekten ein. Und erst im weiteren Verlauf tauchen die Regierungsmarken auf weiteren Objekten auf. Die visuelle Semiotik der Regierungsmarken unterstützt die Lesung als Zeichen mit proprietärem Anspruch: durch die Umrandung imitieren die Regierungsmarken ein Siegel, bzw. einen Namensstempel, also etwas, das eine ähnliche Rolle innehatte wie heute unsere Unterschrift. Ein Siegel autorisiert oder es erhebt, wie ein ex libris, einen Besitzanspruch. Für die Kunst- (und Kuriosa-)Sammler der späten Ming- und frühen Qing-Dynastie wurden Regierungsmarken zu einem wichtigen Produktmerkmal. Gelehrte betonen das strikte regulative Wirken des Ming-Staates und interpretieren die Allgegenwärtigkeit von Regierungsmarken in der Ming-zeitlichen materiellen Kultur als einen Beweis für die umfassende Präsenz des Herrschers und seinen monopolistischen Anspruch. Kaiserliche Produktion hatte höchsten Ansprüchen zu genügen. Spätere Generationen der Qing übertrugen diese Bedeutung auf die Inschriften, so dass diese bald selbst die Funktion eines Zeichens für höchste Qualität annahmen. Diese Interpretation findet weder in der offiziellen Dokumentation der Ming Zeit noch in zeitgenössischen Berichten eine Bestätigung. Tatsächlich werden Regierungsperiodenmarken nicht als eine Besonderheit erkannt. Untersucht man die Praktiken selbst, so bestätigt sich außerdem, dass es sich um ein sich kontinuierlich veränderndes und entwickelndes Konzept handelt. Anfänglich verwenden die Ming-zeitlichen Porzellanmanufakturen einen Drachen als Symbol und Markierung für die kaiserliche Produktion. Die ersten Inschriften, welche die Ming-Dynastie auf Porzellanen aufbringt, betonen dann, dass das Produkt explizit von und/oder für die Große Ming-Dynastie produziert wurde (zhi 制, zuo 作). Die Attribute ‚von‘ und ‚für‘ sind hierbei ein entscheidender Punkt, denn die chinesische Inschrift selbst bleibt vage und spezifiziert hier sprachlich nicht. De facto waren die Brennereien und Porzellanmanufakturen im Besitz des Ming-Staates und wurden von Beamten verwaltet. In anderen Fällen waren Beamte stark in die Organisation der Produktion eingebunden oder kontrollierten zentrale Bereiche regelmäßig. Ab der Regie-

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Vgl. Fang Chaoying: Some Notes on Porcelain of the Cheng-T’ung Period. In: Archives of Asian Art 27 (1973/74), S. 30-32, hier S. 30.

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rungsperiode des dritten Kaisers der Ming-Dynastie, Yongle, tauchen vermehrt Marken auf, welche die Regierungsperiode spezifizieren (für die Waren mit Hongwu Periodenmarken (1368-1398) ist nach Ansicht von Wang Guangyao und anderer Porzellanspezialisten in kaum einem Fall gesichert, dass sie tatsächlich aus dieser Periode stammen).24 Mit der Xuande-Periode (1425-1435) nimmt die Anzahl der Waren mit Regierungsmarken dann nachweisbar zu. Während frühe Marken zudem idiosynkratisch und damit aller Wahrscheinlichkeit nach vom Handwerker freihändig nach nur marginalen Spezifizierungen aufgebracht wurden, weisen Regierungsmarken einen Trend zur Vereinheitlichung auf. Viele spätere Beispiele sehen tatsächlich ‚gestempelt‘ aus. Sie wurden offensichtlich genau nach Vorlage aufgebracht. In den spät-Ming-zeitlichen schriftlichen Reflexionen über die Praxis der Regierungsmarken gibt es einen starken Trend zur retrospektiven Bestätigung. Das heißt je später die Berichte sind, desto ausführlicher und bestimmter legen diese Autoren die Motivation der historischen Protagonisten fest. Hier zeigt sich, wie Michael Rowlands in einer vergleichenden Studie zwischen archäologischen und schriftlichen Quellen feststellt, dass „Objekttraditionen“ eine zentrale Rolle bei der Konzeptionalisierung von Geschichte spielen.25 Objekte haben wie textliche Quellen großen Einfluss auf den Kontext und Symbolismus von Inbesitznahme (und Herrschaftsanspruch) bzw. darauf, wie proprietäre Rechte in einer Zeit definiert werden. Im Jahre 1607 führte Xie Zhaoliu 谢肇浏 in seiner Abhandlung Wu Zazu 五雜俎 („Über die fünf Gefäße“) folgendes aus: Die Longquan-Öfen 龍泉 wurden lange nicht benutzt. Was der Hof benötigt wird [derzeit?] nur noch in Jingdezhen 景德鎮 in der Präfektur Raozhou 饒州 produziert. Jedes Jahr erlässt der kaiserliche Hof der Ming ein Dekret und übermittelt den Stil für die Regierungsmarken. Das System der Xuande-Marken war sehr inspiriert und deshalb überdauerte es auch 150 Jahre. Waren mit Xuande-Marken reichen qualitativ fast an die Song Porzellane heran. Dann folgen (in Qualität) Waren versehen mit Marken der Jiajing- und Chenghua-Periode.26

Xie zieht seine Erkenntnisse über den historischen Ablauf aus der ihm vorliegenden materiellen Kultur, d. h. konkret den Sammlungen seiner Kollegen. Für ihn sind die Regierungsmarken Qualitäts-Indikatoren, die es zudem ermöglichen, die Waren zeitlich grob einzuordnen. Gao Shiqi 高士奇 (1645-1704) setzt etwa fünfzig Jahre später Regie-

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25 26

Wang Guangyao 王光堯: Qianlong shiqi Yu yaochang de guanli tizhi he guanyang zhidu 乾乾隆 時期御窯廠的管理體制和官樣制度 (The system of official models and the relation between the imperial and private kilns during the Qianlong period). In: Gongting yu difang: shiqi zhi shiba shiqi de jishu jiaoliu 宮廷與地方:十七至十八時期的技術交流 (The Court and the Locality: technical exchange from the the 17th until 18th century). Hg. von Dagmar Schäfer und der Forschungsguppe Palast Museum. Beijing 2010, S. 14-38. Michael J. Rowlands: The role of memory in the transmission of culture. In: World Archaeology 25 Oktober (1993) H. 2, S. 141-151, hier S. 144. Xie Zhaozhe 谢肇淛 (1567-1624): Wuza zu: wan Ming biji 五雜俎:晚明筆記 (Fünf Gefässe: Eine Private Aufzeichnung aus der späten Ming-Periode). Hg. von Jinxia ge zhu ren und Zhang Yiping 襟霞閣主人 und 章衣萍 (1902-?). Faksimile der Ausgabe von 1640. Shanghai 1935, juan 12 wubu si 物部四, S. 26.

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rungsmarken und ihre Anwendung in einen völlig anderen Zusammenhang. Für ihn hängt die Einführung von Regierungsmarken mit dem kaiserlichen Interesse an Lackwaren zusammen. Gao erklärt dazu in seinen privaten Aufzeichnungen Jin’ao tuishi biji 金鳌退食筆記 (Private Aufzeichnungen des Gao Shiqi nach seinem Rückzug in den Ruhestand), Yongle habe sich bei der Einführung der Regierungsmarken an den großen Lackkünstlern der Yuan-Dynastie orientiert. Er habe seine Lackwaren mithilfe der Regierungsmarken in eine Tradition mit den Lackwaren von Künstlern wie Zhang Cheng 張成 and Yang Mao (Mou) 楊茂 gesetzt.27 Gaos Interpretation lässt viele soziale und wissenstheoretische Deutungen zu, vor allem aber zeigt sie, dass für Gao der Yongle Kaiser nicht allein die Rolle des Besitzers und Nutznießers der staatlichen Manufakturen für z. B. Lackwaren einnahm. Gao setzte den Kaiser mit dem schaffenden Künstler gleich.

4. Schlussbemerkungen In der Gegenüberstellung von textlichen und materiellen Quellen zeigt sich der Facettenreichtum der Konzepte und Modalitäten, der Mechanismen und Bedingungen, welche die Wissenskulturen der Ming-Zeit geprägt haben. Der Ming-zeitliche Staat maß Inschriften eine zentrale Bedeutung in der Kontrolle und Verwaltung handwerklicher Produktion innerhalb und außerhalb des Staatswesens zu. Schriftliche Quellen sowohl privater also auch offizieller Natur versuchten hierbei eine Konsistenz in der Anwendung von Herkunftsnachweisen zu konstruieren. In der Praxis gewann ein ganz anderes Konzept, die Regierungsmarke, an Bedeutung. Sie entwickelte sich zu einem exklusiven Merkmal mit neuen Bedeutungsebenen. Triangulation erweist sich durch die Möglichkeit, Daten und Erkenntnisse zusammenzuführen, die durch verschiedene Methoden gewonnen wurden, als eine sinnvolle historische Methode, komplexe Strukturen sichtbar zu machen. Es zeigt sich aber auch, dass weitere Forschungen zu den verschiedenen diskursiven Ebenen und deren Interaktion und Bedeutungsebenen notwendig sind, um zu klären, in welchem Verhältnis die gewählten Form des Transfers (die Medialität) zum aktuellen Transfer von Wissen steht und zu der Interaktion von verschiedenen Wissensformen im Transferprozess.

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Gao Shiqi 高士奇 (1645-1704): Jin’ao tuishi biji 金鳌退食筆記 (Private Aufzeichnungen des Gao Shiqi nach seinem Rückzug ins Privatleben). Faksimile der Ausgabe von 1684. Taibei 1971, Kap. xia, S. 20.

Biographische Notizen

BARBARA BECKER-CANTARINO, Studium der Klassischen Philologie und Germanistik an der University of North Carolina, Chapel Hill und Göttingen; M.A., PhD (University of North Carolina). Lehrtätigkeit an der Indiana University, Bloomington, und der University of Texas, Austin. Seit 1990 Research Professor an der Ohio State University, Columbus, Ohio. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit, Aufklärung und Romantik, Gender-Forschung, Migration und Exil. Buchveröffentlichungen zu Martin Opitz, Daniel Heinsius, Anna Owena Hoyers, Sophie von La Roche, Anna Louisa Karsch, Freundschaft im 18. Jahrhundert, Frauen und Literatur in Deutschland 1500-1800. Zuletzt erschienen: Pietism and Women’s Autobiography. The Life of Lady Johanna Eleonora Petersen, Written by Herself (1689/1717) University of Chicago Press 2005; The Eighteenth Century: The Enlightenment and Sensibility. Bd. 5: The Camden House History of German Literature 2005 (Hg.); Ingeborg Drewitz im literarischen und politischen Feld der 50er bis 80er Jahre. Berlin. 2005 (hg. mit Inge Stephan); Meine Liebe zu Büchern. Sophie von La Roche als professionelle Schriftstellerin. Heidelberg 2008; Genderforschung und Germanistik. Perspektiven von der Frühen Neuzeit zur Moderne. Berlin 2010; Migration and Religion. Christian Transatlantic Missions, Islamic Migration to Germany. Amsterdam/New York 2012 (Hg.). INGO BERENSMEYER (geb. 1972 in Soest/Westfalen), Studium der Anglistik, Amerikanistik und Allgemeinen Literaturwissenschaft in Siegen und Galway (Irland); Promotion und Habilitation in Siegen. Weitere akademische Stationen in Berlin, Irvine (USA) und Gent. Seit 2009 Professor für Englische und Amerikanische Literatur an der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie Gastprofessor an der Universität Gent. Forschungsschwerpunkte: Shakespeare, englische Frühneuzeitforschung, Literaturtheorie, Autorschaft, britische Literatur und Kultur der 1950er Jahre. Buchveröffentlichungen: Der Enthusiast und die Materie. Von den „Leiden des jungen Werthers“ zur „Harzreise im Winter“. Frankfurt u. a. 1991; Science Fiction in der deutschsprachigen Literatur. Ein Referat zur Forschung bis 1993. Tübingen

372 1995; Deformierte Lebensbilder. Erzählmodelle der Nachkriegsautobiographie. Tübingen 2000; Schrift und Bild im Film. Bielefeld 2002 (hg. zus. mit Uli Jung); Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006 (hg. zus. mit Fotis Jannidis, Marianne Willems); Rhetorik und Film. Tübingen 2007 (Hg.); Literaturskandale. Frankfurt a.M. u. a. 2009 (Hg.); Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann. Berlin u. a. 2009 (hg. zus. mit Michael Ansel, Gerhard Lauer); Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Berlin u. a. 2011 (hg. zus. mit Wilhelm Haefs, Christian Soboth); Reden über die Schwierigkeiten der Rede. Das Werk Helmut Heißenbüttels. München 2011 (hg. zus. mit Sven Hanuschek). TOBIAS BULANG (geb. 1971 in Bautzen), Studium der Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaft in Dresden und an der Ohio State University, Columbus/Ohio (USA). M.A. (1998) und Promotion (2002) in Dresden, Habilitation 2009 in Zürich. 2010 bis 2012 Akademischer Oberrat und Lehrstuhlvertretung in München, seit 2012 Professor für Ältere deutsche Philologie mit dem Schwerpunkt wissensvermittelnde Texte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Dichtung und Wissen, wissensvermittelnde Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Johann Fischart. Buchveröffentlichungen: Barbarossa im Reich der Poesie. Verhandlungen von Kunst und Historismus bei Arnim, Grabbe, Stifter und auf dem Kyffhäuser. Frankfurt a.M. u. a. 2003; Enzyklopädische Dichtungen. Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Berlin 2011; Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Berlin/New York 2011 (hg. von Beate Kellner, JanDirk Müller, Peter Strohschneider unter Mitarbeit von Tobias Bulang und Michael Waltenberger). THORSTEN BURKARD (geb. 1967 in Freiburg/Br.), Studium der Klassischen Philologie, der Germanistik und des Mittellateinischen in Freiburg/Br., Wien und München. Promotion, Habilitation und mehrjährige Tätigkeit an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, seit 2005 Professor für Klassische Philologie an der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: römische Geschichtsschreibung (v. a. Sallust); Narratologie; Rhetorik; lateinische Syntax; Rezeption antiker Werke; neulateinische Dichtung und Dichtungstheorie. Buchveröffentlichungen: Jacob Balde: Dissertatio de studio poetico (1658). Edition, Übersetzung und Kommentar. München 2004; Jacob Balde im kulturellen Kontext

373 seiner Epoche. Regensburg 2006 (zus. mit Günter Hess, Wihelm Kühlmann und Pater Julius Oswald); Sallusts historische Schriften. Lateinisch – Deutsch mit Einleitung und Erläuterungen. Darmstadt 2010; Vestigia Vergiliana. Festschrift für Werner Suerbaum. Berlin 2010 (zus. mit Markus Schauer und Claudia Wiener); Politik – Ethik – Poetik. Diskurse und Medien frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2011 (hg. zus. mit Markus Hundt, Steffen Martus, Claus-Michael Ort); Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik. 5. Aufl. Darmstadt 2012 (zus. mit Markus Schauer). MISIA SOPHIA DOMS (geb. 1980 in Mainz), Studium der Deutschen Philologie, Medizingeschichte und Philosophie in Mainz; Promotion ebd. 2007 bis 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere deutsche Literatur an der Universität des Saarlandes, 2012 auch an der Universität Mannheim. Seit Ende 2012 Juniorprofessorin für Neuere deutsche Literatur an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 17./18. und 20. Jahrhunderts, Theorie und Geschichte der Gattung „literarischer Dialog“ (Habilitationsvorhaben), Literatur und Wissenschaft (u. a. Literatur und Medizin/Anthropologie, Literatur und Theologie), Geschichte der Zeitschriftengattung „Moralische Wochenschrift“, Metaphorologie. Buchveröffentlichungen: „Alkühmisten“ und „Decoctores“. Grimmelshausen und die Medizin seiner Zeit. Bern u. a. 2006; Die Viel-Einheit des Seelenraums in der deutschsprachigen barocken Lyrik. Berlin 2010; Periodische Erziehung des Menschengeschlechts. Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum. Bern u. a. 2012 (hg. zus. mit Bernhard Walcher). MARKUS HUNDT (geb. 1965 in Ulm), mehrjährige Tätigkeit an den Universitäten Freiburg/Br., Dresden, Chemnitz, Frankfurt an der Oder, seit 2006 Inhaber des Lehrstuhls für deutsche Sprachwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: deutsche Sprachgeschichte der Frühen Neuzeit, Wahrnehmungsdialektologie/Perceptual dialectology, Grammatik der Gegenwartssprache. Buchveröffentlichungen: Einstellungen gegenüber dialektal gefärbter Standardsprache. Eine empirische Untersuchung zum Bairischen, Hamburgischen, Pfälzischen und Schwäbischen. Stuttgart 1992; Modellbildung in der Wirtschaftssprache. Zur Geschichte der Institutionen- und Theoriefachsprachen der Wirtschaft. Tübingen 1995; „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin/New York 2000; „Perceptual Dialectology“. Neue Wege der Dialektologie. Berlin/New York 2010 (hg. zus.

374 mit Christina A. Anders, Alexander Lasch); Politik – Ethik – Poetik. Diskurse und Medien frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2011 (hg. zus. mit Thorsten Burkard, Steffen Martus, Claus-Michael Ort). HANS-JOACHIM JAKOB (geb. 1967 in Lemgo), Studium der Germanistik, Kommunikationswissenschaft und Philosophie in Göttingen und Münster, Promotion 2001; wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Projekten „Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts“ (Münster) und „Der deutsche Lektürekanon an höheren Schulen Westfalens von 1820 bis 1918“ (Siegen). Z. Zt. Tätigkeit am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Frühen Neuzeit, die Flugschriften und die Theaterpublizistik des 18. und die Schulprogramme des 19. Jahrhunderts, die Lesebücher und Schulschriften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Quellen der Theaterpublikumsforschung für das 18. und 19. Jahrhundert; Habilitationsprojekt zur schulischen Deklamationskultur im 19. Jahrhundert. Buchveröffentlichungen: ‚Die Folianten bilden Gelehrte, die Broschüren aber Menschen‘. Studien zur Flugschriftenliteratur in Wien 1781 bis 1791. Frankfurt a.M. u. a. 2001; „Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten“. Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. u. a. 2005 (hg. zus. mit Hermann Korte und Ilonka Zimmer); Harsdörffer-Studien. Frankfurt a.M. u. a. 2006 (hg. zus. mit Hermann Korte); Der deutsche Lektürekanon an höheren Schulen Westfalens von 1820 bis 1870/von 1871 bis 1918. Frankfurt a.M. 2007 und 2011 (zus. mit Hermann Korte und Ilonka Zimmer); „Das Theater glich einem Irrenhause“. Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2012 (hg. zus. mit Hermann Korte). ANGELIKA LINKE (geb. 1954 in Geislingen/Steige), Studium der Germanistik, Geschichte und Skandinavistik in Zürich und Stockholm. Promotion und Habilitation in Zürich. Seit 2000 Professur für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Zürich sowie ständige Gastprofessur am Forschungskolleg „Sprache und Kultur in Europa“ der Universität Linköping (Schweden). 2005 Gastprofessur an der Washington University in St. Louis (USA), 2009/10 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kommunikationsgeschichte der Neuzeit, kulturanalytische Linguistik, Zeichentheorie, Kulturgeschichte der Körpersemiotik. Buchveröffentlichungen: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1996; Themenschwerpunkt Linguistik und Kultur-

375 analyse. Zeitschrift für germanistische Linguistik 34, 2006 (hg. zus. mit Susanne Günthner); Attraktion und Abwehr. Die Amerikanisierung der Alltagskultur in Europa. Köln u. a. 2006 (hg. zus. mit Jakob Tanner); Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamische Gestalt. Tübingen 2009 (hg. zus. mit Helmuth Feilke); Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin 2010 (hg. zus. mit Arnulf Deppermann). MICHAEL LORBER (geb. 1975 in Hall), Studium der Theaterwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Berlin; M.A. (Berlin 2005); Promotion (Berlin 2012); 2005-2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB "Kulturen des Performativen"; seit 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theater- und Wissensgeschichte, forschung, Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters.

Performativitäts-

Buchveröffentlichungen: Destruction in the Performative. Amsterdam/New York 2012 (zus. mit Alice Lagaay); Spuren der Avantgarde: Theatrum alchemicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich. Berlin/New York (in Vorb., zus. mit Helmar Schramm, Jan Lazardzig); Zwischen Erlösung und Produktivität. Zur Performanz alchemischen Wissens und den Projekten Johann Joachim Bechers (16351682) in der Frühen Neuzeit. Phil. Diss. FU Berlin [Publikation in Vorbereitung]. HANSPETER MARTI (geb. 1947 in Glarus, Schweiz), Studium der Germanistik, der Geschichte des Mittelalters und der französischen Sprachwissenschaft in Basel, dort Promotion (Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660-1750. Eine Auswahlbibliographie, unter Mitarbeit von Karin Marti. München u. a. 1982). Mitarbeit an nationalen und internationalen Forschungsprojekten zur Geschichte der Frühen Neuzeit. Leiter der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, CH-8765 Engi/Glarus Süd. Forschungsschwerpunkte: Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, insbesondere Geschichte des Disputationswesens und des akademischen Kleinschrifttums, Bibliotheksgeschichte, interkonfessionelle Beziehungen in deutschsprachigen Gebieten (1600-1800), insbesondere Aufklärung in katholischen Regionen, radikaler Pietismus (Gottfried Arnold), Schweizer Zeitschriften der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Buchveröffentlichungen: Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660-1750. Eine Auswahlbibliographie unter Mitarbeit von Karin Marti. München u. a. 1982; Index der deutsch- und lateinsprachigen Schweizer Zeitschriften bis

376 1750. Basel 1998 (zus. mit Emil Erne); Klosterkultur und Aufklärung in der Fürstabtei St. Gallen. St. Gallen 2003; Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Köln/Weimar/Wien 2011 (hg. von Antje Mißfeldt). STEFFEN MARTUS (geb. 1968 in Karlsruhe), Studium der Deutschen Philologie, Soziologie und Philosophie in Regensburg; Promotion, Juniorprofessur und Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin; Professuren an den Universitäten ErlangenNürnberg und Kiel; seit Sommersemester 2010 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Literatur und Wissenschaftsgeschichte, Autor- und Werktheorien, die Praxeologie der Geistes- und Kulturwissenschaften. Buchveröffentlichungen: Friedrich von Hagedorn. Konstellationen der Aufklärung. Berlin/New York 1999; Ernst Jünger. Stuttgart/Weimar 2001; Schlachtfelder. Codierung von Gewalt im medialen Wandel. Berlin 2003 (hg. zus. mit Marina Münkler, Werner Röcke); Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Bern u. a. 2005 (hg. zus. mit Stefan Scherer, Claudia Stockinger); Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006 (hg. zus. mit Claudia Benthien); Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten. Bern u. a. 2006 (hg. zus. mit Andrea Polaschegg); Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin/New York 2007; Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 2009 (3. Aufl. 2010); Frühe Neuzeit – späte Neuzeit. Phänomene der Wiederkehr in Literaturen und Künsten ab 1970. Bern u. a. 2011 (hg. zus. mit Thomas Althaus, Matthias Bauer, Claudia Benthien, Markus Fauser und Alexander Košenina); Killy Literatur Lexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 13 Bdd. Hg. von Wilhelm Kühlmann in Zusammenarbeit mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Steffen Martus u. Reimund B. Sdzuj. Berlin/New York/Boston 2008-12; Politik – Ethik – Poetik. Diskurse und Medien frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2011 (hg. zus. mit Thorsten Burkard, Markus Hundt, Claus-Michael Ort); Literarische Räume. Architekturen – Ordnungen – Medien. Berlin 2012 (hg. zus. mit Martin Huber, Christine Lubkoll, Yvonne Wübben). STEFFEN OHLENDORF (geb. 1973 in Hannover), Studium der Neueren deutschen Literatur, Germanistik und Philosophie. 2006-2009 Tätigkeit als Lehrbeauftragter und ab 2009 als Koordinator des Forschungszentrums „Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit“ an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

377 Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur der Frühen Neuzeit und der Romantik, Literatur- und Wissensgeschichte. CLAUS-MICHAEL ORT (geb. 1956 in München), Studium der Neueren deutschen Literatur, der Soziologie und der Neueren und Neuesten Geschichte an der LudwigMaximilians-Universität München, Lehr- und Forschungstätigkeit und Promotion ebenda; Lehrtätigkeit in Kiel und Rostock, 1999 Habilitation und seit 2004 außerplanmäßiger Professor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts; literarische Diskursgeschichte von Verbrechen und Strafjustiz; Sozialgeschichte der Literatur und Literaturtheorie. Buchveröffentlichungen: Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus. Tübingen 1998; Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Tübingen 1999 (hg. zus. mit Joachim Linder); Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch. Kiel 2002 (hg. zus. mit Hans Krah); Medienwechsel und Selbstreferenz. Christian Weise und die literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts. Tübingen 2003; Politik – Ethik – Poetik. Diskurse und Medien frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2011 (hg. zus. mit Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus); Titzmann, Michael. Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte. Berlin/Boston 2011 (hg. zus. mit Wolfgang Lukas). DAGMAR SCHÄFER (geb. 1968 in Adenau), Studium der Sinologie, Japanologie und Politikwissenschaft in Würzburg; Promotion (1996) sowie Habilitation (2005) ebd. 2005 Juniorprofessorin an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, 2006 Gaststipendiatin am Department of History and Sociology of Science der University of Pennsylvania (USA). Anschließend Direktorin der Independent Research Group „Concepts and Modalities: Practical Knowledge Transmission” (China, 10.-18. Jahrhundert) am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin. Seit 2011 Research Professor für Chinese Studies & History of Technology sowie seit 2012 Direktorin des Instituts für East Asian Studies an der Universität Manchester (UK). Forschungsschwerpunkte: Wissenschafts- und Technikgeschichte Asiens mit besonderem Schwerpunkt auf China von der Song- bis zur Ming-Dynastie (960-1644), Wirtschafts- und Sozialgeschichte, materielle Kultur. Buchveröffentlichungen: Des Kaisers seidene Kleider. Staatliche Seidenmanufakturen in der Ming-Zeit (1368-1644). Heidelberg 1998; Weaving an Economic

378 Pattern in Ming Times (1368-1644): The Production of Silk Weaves in the StateOwned Silk Workshops. Heidelberg 2002 (zus. mit Dieter Kuhn); Gongting yu defang: Shiqi zhi shiba shiji de jishu jiaoliu. [The Court and the Localities: Technological Knowledge Circulation in the 17th and 18th century.] Peking 2010 (Hg.); The Crafting of the 10,000 Things: Knowledge and Technology in 17th-Century China. Chicago 2011; Cultures of Knowledge: Technology in Chinese History. Leiden 2012 (Hg.); Globalisierung und transnationaler Techniktransfer. Sonderheft zur Technikgeschichte. History of Technology, Zeitschrift der Gesellschaft für Technikgeschichte Juni (2), 2013 (hg. zus. mit Marcus Popplow); Rice: global networks and new histories. Cambridge 2013 (hg. zus. mit Francesca Bray, Peter Coclanis, Edda Fields-Black). IRMGARD SCHEITLER (geb. 1950 in München), Studium der katholischen Theologie, Germanistik und Byzantinistik in München. Promotion ebd., Habilitation an der Technischen Universität Dresden. Seit 2002 außerplanmäßige Professorin im Fach Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Forschungsschwerpunkte: Frühe Neuzeit, Gegenwartsliteratur, Hymnologie, Beziehung Musik und Literatur. Buchveröffentlichungen: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982; Johann Heermann: Sontags- und Fest-Evangelia durchs gantze Jahr auff bekandte Weisen gesetzt. Neudruck der Ausgabe Leipzig 1636. Frankfurt a.M. 1992 (hg. und eingel.); Gattung und Geschlecht. Reisebeschreibungen deutscher Frauen 17801850. Tübingen 1999; Geistliches Lied und Kirchenlied im 19. Jahrhundert. Tübingen 2000; Joseph Görres: Die Wallfahrt nach Trier. Paderborn 2000 (hg., komm. und eingel.); Deutschsprachige Gegenwartsprosa seit 1970. Tübingen 2001; Deutschsprachige Oratorienlibretti. Von den Anfängen bis 1730. Paderborn 2005; Schauspielmusik. Funktion und Ästhetik im deutschsprachigen Drama der Frühen Neuzeit. Bd. I: Materialteil. Mit MP3. Tutzing 2013. MICHAEL TITZMANN (geb. 1944 in Kahla/Thüringen), Studium der Germanistik und Romanistik in München; Promotion, Habilitation für das Fach „Neuere deutsche Literatur“ sowie Erweiterung der Habilitation für das Fach „Allgemeine Literaturwissenschaft“ ebenfalls an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1985 bis 2009 Professor für Neuere deutsche Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Literaturtheorie an der Universität Passau. Forschungsschwerpunkte: Methodologie der Textanalyse und Interpretation, Textlinguistik/Strukturalismus, Epochenbegriff/Literatursystem/Literaturgeschichts-

379 schreibung, Semiotik, Erzähltheorie, Literatur und Wissenschaften, Literaturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis ins späte 20. Jahrhundert. Buchveröffentlichungen: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. 3. Auflage. München 1993; Strukturwandel der philosophischen Ästhetik 1800-1880. Der Symbolbegriff als Paradigma. München 1978; Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991 (Hg.); Zeichen(theorie) in der Praxis. Akten des 6. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik. Plenarvorträge – Roundtables. Passau 1993 (Hg.); Zeiterfahrung und Lebenslaufmodelle in Literatur und Medien. (Kodikas 1996, Bd. 19, Nr. 3 [Hg.]); Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930. Stuttgart 1997 (hg. zus. mit Karl Richter, Jörg Schönert); Technik als Zeichensystem in Literatur und Medien. (Kodikas 2001, Bd. 24, Heft 1/2 [Hg.]); Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Tübingen 2002 (Hg.); Literatur und Wissen(schaften) 18901935. Stuttgart/Weimar 2002 (hg. zus. mit Christine Maillard); Realismus-Studien. Hartmut Laufhütte zum 65. Geburtstag. Würzburg 2002 (hg. zus. mit Hans-Peter Ecker); Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2006 (hg. zus. mit Hartmut Laufhütte); Galileo Galilei: ‚Lettera a Cristina di Lorena‘ (1615). Passau 2008 (hg. zus. mit Thomas Steinhauser); Realismus und Frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche. München 2009 (hg. von Lutz Hagestedt); Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte. Berlin 2012 (hg. von Wolfgang Lukas, Claus-Michael Ort); Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung. 3., stark erweiterte Auflage. Passau 2013 (hg. zus. mit Hans Krah). VOLKHARD WELS (geb. 1964 in Erlangen), Studium der Germanistik, Philosophie und Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin; Promotion dort 1999. Habilitation an der Universität Potsdam 2008. Zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter des Teilprojekts A06 „Formen der Paradoxie als Indikatoren epistemischer Umbrüche im 16. und 17. Jahrhundert“ im Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit“ an der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Literatur-und Wissensgeschichte von ca. 1450-1820, Rhetorik, Literaturtheorie, Religionsgeschichte, Alchemie. Buchveröffentlichungen: Triviale Künste. Die humanistische Reform der grammatischen, dialektischen und rhetorischen Ausbildung an der Wende zum 16. Jahrhundert. Berlin 2000; Philipp Melanchthon: Elementa Rhetorices. Grundbegriffe der Rhetorik. Berlin 2001 (hg, übers. und komm.); Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin/New York 2008.

380 HELMUT ZEDELMAIER, Studium der Geschichte, Germanistik, Politik und Soziologie in München und Berlin; 1989 Promotion, 1996 Habilitation in Neuerer Geschichte. 1998/99 und 2002/03 Vertretung der Professur für Wissenschafts- und Universitätsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München; 1999 bis 2004 Bearbeiter und Leiter von historischen Forschungsprojekten. Seit 2004 außerplanmäßiger Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft historischer Forschungseinrichtungen (AHF). Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts. Buchveröffentlichungen: Universität und Bildung. Festschrift Laetitia Boehm zum 60. Geburtstag. München 1991 (hg. zus. mit Winfried Müller, Wolfgang J. Smolka); Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 1992; Johann Lorenz Mosheim (1693-1755). Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte. Wiesbaden 1997 (hg. zus. mit Martin Mulsow, Ralph Häfner, Florian Neumann); Biographisches Lexikon der Ludwig-Maximilians-Universität München. Teil 1: Ingolstadt-Landshut 1472-1826. Berlin 1998 (hg. zus. mit Laetitia Boehm, Winfried Müller, Wolfgang J. Smolka); Skepsis, Providenz, Polyhistorie: Jakob Friedrich Reimmann (1668-1743). Tübingen 1998 (hg. zus. mit Martin Mulsow); Nilpferde an der Isar. Eine Geschichte des Münchner Tierparks Hellabrunn. München 2000 (hg. zus. mit Michael Kamp); Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2001 (hg. zus. mit Martin Mulsow); Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert. Hamburg 2003; „Gleich hinterm Hofbräuhaus waschechte Amazonen“. Exotik in München um 1900. Hamburg/München 2003 (hg. zus. mit Anne Dreesbach); Sammeln – Ordnen – Veranschaulichen. Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit. Münster u. a. 2003 (hg. zus. mit Frank Büttner, Markus Friedrich); Andere Körper – Fremde Bewegungen. Theatrale und öffentliche Inszenierungen im 19. Jahrhundert. Münster 2005 (hg. zus. mit Claudia Jeschke unter Mitarbeit von Anne Dreesbach, Gabi Vettermann); Hellabrunn. Geschichte und Geschichten des Münchner Tierparks. München 2011 (zus. mit Michael Kamp). ROSMARIE ZELLER (geb. 1946 in Zürich), Studium der Germanistik und Romanistik in Zürich und Genf, 1971 Promotion an der Universität Zürich, 1985 Habilitation an der Universität Basel. Lehrtätigkeit an den Universitäten Fribourg, Bern und Basel. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 17. Jahrhunderts (Harsdörffer, Buntschreiberei, Christian Knorr von Rosenroth), Gattungstheorie, Schweizer Literatur, besonders der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

381 Buchveröffentlichungen: Spiel und Konversation im Barock. Untersuchungen zu Harsdörffers Gesprächsspielen. Berlin 1974; Conrad Ferdinand Meyer und Johanna Spyri. Briefe 1877-1897. Kilchberg 1997 (hg. und komm. zus. mit Hans Zeller); Struktur und Wirkung. Zu Konstanz und Wandel der literarischen Normen im Drama zwischen 1750 und 1820. Bern 1988; Der Neue Roman in der Schweiz. Die Unerzählbarkeit der modernen Welt. Freiburg/Schweiz 1992; Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie 1688. 2 Bände. Tübingen 2000 (Hg.); Conrad Ferdinand Meyer im Kontext. Beiträge des Kilchberger Kolloquiums. Heidelberg 2000 (Hg.); In alle Richtungen gehen. Reden und Aufsätze über Hugo Loetscher. Zürich 2005 (hg. von Jeroen Dewulf unter Mitarbeit von Rosmarie Zeller).